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German Pages [288] Year 2003
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Historische Semantik
Herausgegeben von Gadi Algazi, Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Ludolf Kuchenbuch Band 1
Vandenhoeck & Ruprecht 2
Egon Flaig
Ritualisierte Politik Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom
2. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht 3
7H« $ ) Zum Gedenken an Pierre Bourdieu († Januar 2002)
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar. ISBN 3-525-36700-7 © 2004, 2003 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany. Druck: Hubert und Co., Göttingen. Umschlagkonzeption: Markus Eidt, Göttingen. Umschlagabbildung: Togatus Barberini © Universität Greifswald Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen . .
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Gehorsam gibt es nicht gratis . . . . . . . . . . . . Die Klientel und die Kontaktqualität . . . . . . . . Affektive Nähe bei sozialer Distanz – im Krieg und auf dem Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rangklassen: Hierarchie und Streitvermeidung . .
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13 17
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2. Der Triumph. Individuelle Aneignung kollektiver Leistung .
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Rituelle Übereignung und politischer Konsens . . . . . . . . Die Szenographie politischer Eintracht . . . . . . . . . . . . .
32 32
Der Triumph im Tableau der Prozessionen. Eine strukturale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was das Ritual verbirgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wer hat wem dankbar zu sein? Die semantische Entwaffnung der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die pompa funebris – das symbolische Kapital vorweisen . . .
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Das Atrium – Speicher des symbolischen Kapitals . . . . . . Das Fest des symbolischen Kapitals: Die pompa funebris . . . Die Parade der Ahnen – eine semiotische Analyse . . . . . . . Die Opfer der Konkurrenz oder: Zwei Register der Toten . . . Visualisierung und verbaler Kommentar . . . . . . . . . . . . Ahnenbilder und Konkurrenzvorteile . . . . . . . . . . . . . Ahnenbilder und matrimoniales Prestige . . . . . . . . . . . Taktische Variationen und politische Botschaften . . . . . . .
49 51 51 55 57 59 62 66
4. Politische Kultur und memoriale Praxis . . . . . . . . . . . .
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Ahnenparade und kollektiver Gedächtnisraum . . . . . . . . Exempel und inkarnierte soziale Normen . . . . . . . . . . .
69 74 5
Inhalt
Kollektives Gedächtnis – eine Addition von Familientraditionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplifizierung: Positiv wie negativ . . . . . . . . . . . . .
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Exemplum und annalistischer Erinnerungsmodus – eine Verlustbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnispolitik: Verdammte Memoria – und doch nicht vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Umorganisierung des kollektiven Gedächtnisses im Prinzipat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Zwingende Gesten in der römischen Politik . . . . . . . . . .
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Bittgesten bei inneraristokratischen Konflikten . . . . . . . . Zum Konsens nötigen: Die Plebs als Hüter der Eintracht . . . Weinende Feldherren vor meuternden Legionen . . . . . . . Bittgesten vor dem versammelten Volk . . . . . . . . . . . . Eine Taxonomie von Gesten und das Problem der Emotionen
99 104 110 116 120
6. Auf Narben weisen – Zur Kritik kultureller Semantik
89
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Ein enthüllendes Ereignis: Volkswille und entblößter Leib . . Narben – Semantik und interkultureller Vergleich . . . . . . Semantik und sozialer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leib als Schreibmaterial und die Narben als Text . . . . . Veto der Praxeologie: Semantik bedingt, sie determiniert nicht
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7. Negative Reziprozität: Die römische Rache
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Rituelle Akte vor der Rache . . . . . . . . . . . . . . . Ausgestellter Leichnam und Suspension der Ordnung Vergeltende Menschenopfer . . . . . . . . . . . . . . . Das Gericht – Stätte inszenierter Vergeltung . . . . . . Die Pflicht zur Rache – geregelt und abgestuft . . . . . Kummer über ausgebliebene Vergeltung . . . . . . . . Wie man Feindschaften beilegt . . . . . . . . . . . . .
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137 140 144 145 147 149 151
8. War die römische Volksversammlung ein Entscheidungsorgan?
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Kulturphilosophische Last auf der wissenschaftlichen Konzeptbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
6
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Inhalt
Neue Perspektiven öffnen – wozu Kritik gut ist . . . . . Die Entscheidungsqualitität von Abstimmungen . . . . . Die Comitien als Konsensorgan – die Abstimmung als Konsensritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verweigerte Zustimmung und Intensität der Präferenzen 9. Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
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167 175
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Abgelehnte Anträge und senatorischer Gesamtwille . . . Der abgelehnte Antrag 200 v. Chr. . . . . . . . . . . . . Der beinahe abgelehnte Antrag 167 v. Chr. . . . . . . . . Konsensorgan oder Entscheidungsorgan? Die Stärke der aristokratischen Präferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn die Comitien entscheiden, entsteht ein neues politisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präzedenzfall und plebejische Memorialkultur . . . . Die Erwartbarkeit des plebejischen Konsenses . . . . Bedingung für die Ablehnung: Schwache Präferenzen
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. . . . . . . . . . . . Syntaktische Regeln und die Messung der Präferenzstärke Contiones als Ort der Willensbekundung . . . . . . . . . . Meinungen ermitteln oder Präferenzen messen? Die contio
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Institutionelle Automatik? Die Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zurücknahme von Anträgen – taktisch und rituell . . . Politische Geschenke an die Nobilität . . . . . . . . . . . . . Die Risiken des sponsio-Rituals. Der Fall des Tiberius Gracchus Politische Opfer für die inneroligarchische Versöhnung . . . . Synopse: Handlungsspielräume und Optionen des Antragstellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10. Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden . . . . .
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Wie kollektive Aktionen auf den Segmenten des politischen Feldes wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . Präferenzmessung und kollektive Gewalt . . . . . . . . . . .
213 213
Kollektive Reaktionen binden das Volkstribunat an den Volkswillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristokratische Gewalt – oder wie tötet man einen Volkstribun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektive Gegenwehr und Kampf um die semantische Hegemonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 219 221 7
Inhalt
Willensbildung und außerinstitutioneller Druck: Eine politische Kartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willensbildung im interaktiven Raum zwischen den Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Chance, ein Entscheidungsorgan zu werden . . . . . .
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Wie man die Plebs ihrer politischen Macht beraubte . . . . . Die Aktionsfähigkeit der Plebs hing am Normenkonsens . . .
222 224 226 226
Entlegitimierte kollektive Reaktionen und plebejische Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. ›Spiele‹ und politische Integration . . . . . . . . . . . . . . .
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Die ludi als politische Zeremonien . . . . . . . Politische Einmütigkeit und sozialer Konsens Politik im Theater: Die Popularität testen . . . Das Auge-in-Auge mit dem Volk in der cavea .
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Politische Allegorese. Wie das Publikum im römischen Drama mitspielt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Gladiatur im römischen Imaginären . . . . . . . . . . . Der kollektive Beschluss im Amphitheater. Eine ›dichte Beschreibung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instabiles Ritual: Die Veränderungsdynamik in der Gladiatur . . . . . . . . . Zeremonielle Eingriffe und Umformung der politischen Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultureller Wandel, semantische Verschiebungen und das Verschwinden der Gladiatur . . . . . . . . . . . . .
232 234 237 237 239 242 246 251 251 257
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Vorwort
Dieses Buch betrachtet das Politische unter dem Aspekt der Ritualität; es fokussiert die semiotischen und sozialen Komponenten rituellen Verhaltens und ritualförmiger Prozesse. Ein Inventar römischer Rituale will es nicht bieten. Die performativen Elemente in der öffentlichen Kommunikation antiker Gemeinwesen zu beachten, hat Paul Veyne 1976 angeregt; sein Buch »Le pain et le Cirque« behandelt vielfältige politische Gesten. Seit 1979 hat vor allem Jean-Michel David unterschiedlichste »conduites symboliques« untersucht. Explosionsartig zugenommen haben Forschungen über diese Aspekte seit dem Ende der achtziger Jahre im mediävistischen und frühneuzeitlichen Zweig der Geschichtswissenschaft. Die Althistorie außerhalb des französischen Sprachraums ist dabei ins Hintertreffen geraten und darauf angewiesen, Fragestellungen und Konzepte zu entlehnen. Dabei ergeben sich methodische Probleme. Denn je mehr Historiker sich mit dieser Thematik beschäftigen, desto weiter driften die Forschungsansätze auseinander. Die Etiketten – Mentalitätengeschichte, Mikrohistorie, Kulturgeschichte, Historische Anthropologie – geben keine Auskunft mehr über die Methoden, bieten keine Garantie mehr für gleichsinnige Forschungen. Daher münden die Bemühungen, die Errungenschaften der vergangenen anderthalb Jahrzehnte zu bündeln, meist in eklektizistische Synthesen, oft inspirativ und voller überraschender Ergebnisse, dabei meistens additiv zusammengesetzt aus Ansätzen, die einander theoretisch entgegenstehen oder gar ausschließen. Dieses Werk folgt einem anderen Weg: Es streicht die Differenzen zwischen den jeweiligen Ansätzen heraus, fragt nach ihrer axiomatischen Vereinbarkeit und erprobt die jeweilige forschungspraktische Ergiebigkeit. Reflexion über die Erklärungskraft forschungsleitender Konzeptionen ist gefordert, weil Historie eine empirische Wissenschaft ist, wie sowohl Johann Gustav Droysen und Max Weber als auch Emile Durkheim und Marc Bloch behauptet haben. Hypothesen ausprobierend gewinnt unsere Disziplin ihre Erkenntnisse. Und es obliegt der geschichtstheoretischen Anstrengung, über das Wieso ungleicher Ergiebigkeit Rechenschaft zu geben; sie ist notwendiges Tun beim fachlichen Forschen. Die hier gebotene forschungspraktische Herangehensweise ist ›zentristisch‹ – sie lagert die Phänomene um eine zentrale Achse, nämlich 9
Vorwort
um die Regelung prekärer Regelhaftigkeit der politischen Kommunikation. Ich greife damit ein altes Anliegen auf: Claude Nicolet hat 1976 nach einer Grammatik der römischen Politik verlangt, Paul Veyne und Christian Meier desgleichen. Der Begriff ›Grammatik‹ impliziert ein – scheinbar unantastbares – Regelsystem; er verweist auf ein linguistisches Modell, nicht zuletzt auf die Semiologie, also auf denjenigen Wissenszweig, der kulturelle Vorgänge als kommunikative Prozesse auffasst und auf den Zeichencharakter der Kommunikation achtet (Umberto Eco). Nun eignet sich Politische Semiotik vorzüglich, politische Prozesse in die kulturelle Semantik einzulagern. Aber was heißt das? Wenn Kultur die semiotische und die semantische Dimension des Sozialen ist, dann macht die Trennung von Kultur und Gesellschaft keinen Sinn. Kultur ist kein eigener Bereich der Gesellschaft; sie ist eine Dimension, die in allen Bereichen notwendigerweise vorhanden ist. Denn »die Formen der Gesellschaft sind das Wesen der Kultur« (Clifford Geertz). Auf diese Aussage macht mein Buch die historiographische Probe. Die konkreten Analysen in den folgenden Kapiteln lassen die Semiotik stets in der kulturellen Semantik aufgehen: Der Zeichencharakter von Gebärden, Gesten und performativen Akten erfüllt sich in der Bezogenheit auf Normen und Werte, auf Sinngehalte, an welchen die Akteure sich orientieren. Dennoch ist die kulturelle Semantik – das Ensemble dieser Sinngehalte – keinesfalls der Schlussstein und der Schlüssel zur historischen Erklärung. Sie bildet kein transzendentales Himmelsgewölbe, an dessen Sternen die historischen Akteure jederzeit ihre Handlungen ausrichteten. Kulturelle Semantik stabilisiert zwar, doch sie hält sich von alleine nicht stabil. Sie wirkt – wie die Praxeologie von Pierre Bourdieu uns lehrt – nur im aktualisierenden Vollzug, rituell und institutionell. Sie zu reproduzieren, erfordert hohe soziale Anstrengungen; sie ›identisch‹ zu reproduzieren, ist unmöglich. Semantische Kämpfe und Verschiebungen der Kräfteverhältnisse verändern sie. Die Forderung nach einer ›Grammatik der römischen Politik‹ historiographisch einzulösen, heißt daher, diese ›Grammatik‹ unweigerlich in eine Pragmatik aufzulösen: Obschon auf der semiotischen Ebene das Handeln den Regeln einer strukturalen Grammatik zu folgen scheint, ergibt der pragmatische Gebrauch von regelhaft aufeinander bezogenen Handlungsmustern ein anderes Bild. Nimmt man die Kategorie des Kontextes ernst und achtet man auf die jeweilige politische Konjunktur sowie auf die soziale Situativität, dann werden die Spielräume des Handelns sichtbar und die strategische Qualität der Handlungsoptionen kommt zum Vorschein. Was eine strukturale Se10
Vorwort
miotik klassifiziert, lässt sich dynamisieren in Konzepten, die eher einer generativen Grammatik gehorchen. Damit verfolge ich jenen Ansatz weiter, den ich in meiner Studie über die Bedingungen, unter denen römische Kaiser ihre Akzeptanz verlieren oder erhalten (»Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich«, 1992), entfaltet habe: die politischen Verläufe sind systematisch umzugründen auf die Gehorsamsbeziehungen, welche sich in und durch kommunikative Prozesse verändern, weswegen der Politischen Semiotik eine zentrale forschungspraktische Rolle zusteht. Allenthalben drängen sich kontrafaktische Überlegungen auf: Wie verändert sich ein gegebener historischer Verlauf, wenn man gedanklich mal diesen mal jenen Faktor weglässt? Ein beliebiges »Was wäre geschehen, wenn?« wird zu einem Gedankenexperiment, welches – so Max Weber – das spezifische Gewicht einzelner Faktoren zunehmend präzise zu bestimmen erlaubt. Tatsächliche Geschehnisse logisch kontrastierend mit ausgebliebenen, gewinnen wir ein Raster von »objektiven Möglichkeiten«, innerhalb dessen das wirklich Gewordene als ein besonderer Fall erklärbar auftritt. Diese »denkende Konstruktion« von Hergängen hält Max Weber für das maßgebliche Merkmal, welches die Historie zur Wissenschaft macht. Dabei kommt Phantasie ins Spiel, gewiss. Dies freilich in einem Modus, der die Historie von der Kunst weiter entfernt als jemals und in dem sie mit fraktaler Mathematik zu liebäugeln beginnt. Das Buch ist in deutlich höherem Grade theoriegeleitet als in der Fachwissenschaft üblich. Indes, die Wissenschaftlichkeit unseres Faches hängt nicht zuletzt an seiner Theoriefähigkeit, d.h. an der Möglichkeit, die methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen auf diskursive Weise explizit zu machen und einer Kritik zu unterziehen, welche sich jederzeit gegen die eigene Argumentation wenden darf und soll. Daraus folgt, dass diese Darstellung selbst theoriegesättigt zu sein hat. Wie das? Immer wieder unterbrechen reflektierende Einschübe die Fallanalysen, um die Axiome des Forschens zu explizieren und zu prüfen. Das steigert die logische Transparenz und verlangt ein anderes Leseverhalten. Einen Sachverhalt diskursiv darzustellen verschafft dem Wissenschaftler den Vorteil, auf die Regeln seiner Zunft einzuwirken: So darf er sich in den Anmerkungen auf diejenigen Belege beschränken, die er tatsächlich argumentativ gebraucht. Gesteigerte Argumentativität erlaubt darum, die deutsche Fußnotenkultur aus ihren tragischen Ursprüngen herauszubrechen und sie von jenem Wiederholungszwang zu erlösen, welchen mythische Ursprünge auszuüben pflegen. An dieser Erlösung arbeite ich nach Kräften mit. 11
Vorwort
Dieses Buch ist langsam entstanden. Viele Anregungen und Hinweise sind über die Jahre eingeflossen; daher bleibt jegliche Danksagung unzulänglich. Zuvorderst danke ich Christine Rohweder; sie war mir ein intellektueller Widerpart, der mich zu Reflexion und Konsequenz antrieb. Die meisten Entwürfe und Vorarbeiten entstanden während meines vierjährigen Forschungsaufenthaltes am Max-PlanckInstitut für Geschichte, für den ich Otto Gerhard Oexle dankbar bin. Dank geht an die Freunde, mit denen ich dort wiederholt und ausgiebig diskutierte, insbesondere an Bernhard Jussen, Martial Staub, Olivier Christin, Joseph Morsel und Gadi Algazi; desgleichen an Martin Jehne, Karl-Joachim Hölkeskamp und Jochen Martin für freundschaftlichen innerfachlichen Austausch. Sehr bereichernd waren die Diskussionen während eines Aufenthaltes am Centre Gustave Glotz im Frühjahr 2000; dafür sage ich Jean-Louis Ferrary, Mireille Corbier, Florence Dupont und besonders Jean-Michel David einen grenzüberschreitenden Dank. In seinen druckfertigen Kokon verpuppte sich dieses Werk großenteils an der Universität Konstanz im Sommersemester 2001; für die Einladung dorthin danke ich dem Sonderforschungsbereich »Norm und Symbol«, für gastfreundschaftliche Großzügigkeit dem althistorischen Lehrstuhl, für anregende Gespräche im Anblick des Bodensees Kai Trampedach. Der VG Wort sage ich Dank für ihre Unterstützung. Sollte Kants Diktum, Begriffe ohne Anschauungen seien leer, Anschauungen ohne Begriffe blind, noch als erkenntnistheoretischer Grundsatz annehmbar sein, dann schuldet sich mein Forschen seit anderthalb Jahrzehnten einer an Bourdieuscher Soziologie geschulten Sehweise und Konzeptualisierung. Dieses Buch ist Pierre Bourdieu verpflichtet. Seinem Andenken ist es gewidmet. Greifswald, im April 2002
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Egon Flaig
Gehorsam gibt es nicht gratis
1. Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
Gehorsam gibt es nicht gratis Unter den politischen Systemen der Antike war das römische das expansionsfähigste. Letztlich verdankt sich dieser Umstand dem Vermögen, die römische Herrschaft so an die Gegebenheiten der unterworfenen Völker und Städte anzupassen, dass deren Oberschichten diese Herrschaft akzeptierten. Zunächst jedoch waren die Unterwerfungen zumeist militärische Akte, in denen Rom am Ende jedes Mal siegreich blieb. Selbst bei hohen Verlusten führte man die Kriege bis zum endlichen Sieg weiter. Das ging nur, weil die römische Bürgerschaft einen Grad an Durchhaltevermögen und an kriegerischem Opfermut aufbrachte, den wir sonst aus dem mittelmeerischen Raum nicht kennen. Hier treten wir in den Wirkbereich der eigentlichen Fragen. Die Erfolge Roms, so bemerkt Christian Meier, waren »zugleich durch die einzigartige Wehrbereitschaft und -kraft der italischen Bauern bedingt«, und er fügt hinzu, diese Wehrkraft sei »nur das Komplement der aristokratischen Leistung«.1 Ist dieses Komplement ein selbständiger Sachverhalt, der additiv noch zur aristokratischen Leistung hinzukommt? Oder taucht es erst in einem Ensemble von sozialen Beziehungen auf, das sich zwischen den italischen Bauern und der römischen Aristokratie hergestellt hat? Dann ist es ein Korrelat innerhalb einer Relation. Jene »Wehrkraft« ist kein unmittelbarer Sachverhalt, keine Gegebenheit, welche nicht historisch befragbar wäre. Die politische Opferbereitschaft – in Meiers Sprache die »Wehrkraft« – und die Gehorsamstiefe der Beherrschten (die ›Willigkeit‹, sich aristokratischer Führung ›anzuvertrauen‹) sind die wichtigsten Ressourcen jeglicher Herrschaft überhaupt. Diese Hauptressourcen der Politik sind nirgendwo unvermittelt vorhanden oder schlankweg gegeben. Es geht um das Ausmaß, in welchem die von einer straffen Aristokratie beherrschten Bürger Roms sich mit ihrem Gemeinwesen identifizierten. Setzt man die griechische Polis als Modell, ist man versucht, den maßgeblichen Faktor für die starke Bürgeridentität in der politischen Gleichheit der Bürger zu sehen und in ihrer Möglichkeit, an den politischen Entscheidungen zu partizipieren. Doch gemessen an die13
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
sem Kriterium hätte in Rom die Kohäsion der Bürgerschaft schwach sein müssen; und das Gemeinwesen wäre demzufolge militärisch nicht sehr belastbar gewesen. Denn die politische Ungleichheit unter den römischen Bürgern war – verglichen mit den griechischen Stadtstaaten – übermäßig groß. Ähnliches gilt für die Rechtsgleichheit; bei großen ökonomischen und sozialen Unterschieden ist sie illusorisch, wie die modernen westlichen Gesellschaften zeigen; denn die Chancen, zu seinem Recht zu kommen, sind mitnichten gleich, mag die Gleichheit vor dem Recht auch verfassungsmäßig postuliert werden. Bei expliziter politischer Ungleichheit, wie sie in Rom bestand, kann sie a priori nicht existieren.2 Indes, warum identifizierten sich die nichtadligen römischen Bürger mit dem Gemeinwesen, obwohl politische Ungleichheiten und wachsende soziale Distanzen dem entgegenwirkten? Gibt vielleicht die symbolische Dimension der römischen Politik die Antwort auf die Frage, woher die Willigkeit des römischen Volkes rührte, sich der aristokratischen Herrschaft anzuvertrauen?3 Damit nähern wir uns der Problematik des Gehorsams; diese erschließt sich am leichtesten über die Akte des Ungehorsams. Wie die Plebs sich zur Wehr setzte, zeigt eine lange Serie von Akten, mit denen sie den Gehorsam verweigerte und sich gewaltsam Recht oder Gehör verschaffte. In der frühen Republik wehrte sie Übergriffe der Patrizier häufig dadurch ab, dass sie geschlossen den Wehrdienst verweigerte; und auch das römische Heer meuterte immer wieder. Dreimal zog das Volk aus der Stadt aus, um den Adel zu politischen Zugeständnissen zu nötigen (secessio plebis), 494 und 449 v. Chr. und dann 287 v. Chr. Dieser Spielraum für außerinstitutionelles Handeln ergab sich, weil ein nennenswerter Erzwingungsstab, also eine ›Polizei‹, fehlte. In Rom waren Magistrate gegen eine Volksmenge, die nicht mehr gehorchte, machtlos und wehrlos. Die Lictoren, die mit Rutenbündeln in den Händen in abgestufter Anzahl die Magistrate begleiteten, hatten gelegentlich Ordnungsaufgaben, doch sie waren keine Polizei. Ihre Funktion war vor allem eine semiotische: indem sie im Gänsemarsch vor dem Amtsträger hergingen, signalisierten sie seine Ankunft und schufen um ihn herum einen respektvollen Abstand, somit jenen Leerraum, dessen die römische Herrschaft so sehr bedurfte, damit ihre reiche Symbolik wirkte. Denn erst die ehrerbietige Distanz ließ erkennen, ob den Magistrat zwei, sechs, zwölf oder gar 24 Lictoren begleiteten, ob deren Rutenbündel erhoben waren oder gerade gesenkt wurden. Dass die Bürger den Lictoren Platz machten, lag an der Autorität, die der aristokratische Amtsträger ausübte. Aber Autorität ist kein substan14
Gehorsam gibt es nicht gratis
tielles Ding, welches man hat oder nicht hat. Sie wird dem, der sie beansprucht, zugeschrieben. Sie büßt bei falschem Verhalten oder fehlerhafter Kommunikation; bei schimpflichen Vorkommnissen geht sie momentan verloren, im Grenzfall sogar dauerhaft. Respektierte die Menge die Autorität nicht, brach also der Gehorsam zusammen, dann nützten auch die Lictoren nichts mehr. Die Plebejer konnten die Autorität eines Amtsträgers in unterschiedlichen Grade missachten. Laute Schmähungen, nicht selten skandiert, gingen noch an. Wenn die Menge jedoch den Lictoren die Rutenbündel zerbrach, war seine Amtsausübung geschändet. Damit bescheinigten die beteiligten römischen Bürger dem Betroffenen, dass er nicht würdig sei zu herrschen. Es blieb auf seinem Namen ein Makel zurück, vielleicht für eine Zeit, vielleicht für immer, je nachdem, wer dieses Vorkommnis im Gedächtnis behielt, und auf welche Weise und bei welcher Gelegenheit man sich daran erinnerte. Unwürdigkeit galt schnell als Unfähigkeit.4 Die beiden französischen Historiker Claude Nicolet und Paul Veyne haben 1976 auf je verschiedene Weise diesen kollektiven Reaktionsformen ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Nicolet hat ihnen eine spezifisch politische Bedeutung zugemessen: Das römische Volk habe keineswegs nur diejenigen Ausdrucksmittel gehabt, welche ihm die traditionellen Institutionen boten: »Ganz im Gegenteil, Anlässe zu Interventionen unterschiedlichster Form, deren anwachsende Häufigkeit bemerkenswert ist, sieht man im letzten Jahrhundert der Republik entstehen oder neue Bedeutungen annehmen. Solche Interventionen entwickelten sich außerhalb der Sphäre der verfassungsmäßigen Sachverhalte im engeren Sinne und wurden in Wirklichkeit integrierte Bestandteile des zivischen und des kollektiven Lebens. Sie bilden am Rande des offiziellen zivischen Lebens eine Art Gegenpol, der andere Akteure in Szene bringt, unter anderen Formen, der aber darum nicht weniger wichtig ist. Kurz das, was man eine neue Sprache oder eine neue ›Grammatik‹ der Politik nennen könnte.«5 Für Nicolet sind also kollektive Reaktionen keine archaischen Überbleibsel, die neben der ›eigentlichen‹ Politik herlaufen, sondern ebenso wie die vielfältigen – auch neuen – Ritualformen eine politische Ausdrucksmöglichkeit, deren Legitimität von den Umständen abhing. Lässt man sich darauf ein, hierin Formen der Politik zu sehen, dann öffnet sich das Blickfeld, diese rituellen Ausdrucksweisen methodisch zu analysieren. So hat kürzlich Andreas Goltz herausgefunden, dass die römische Plebs sehr selten Amtsträger verwundete oder gar tötete.6 Es genügte den einfachen Bürgern meist, die inakzeptable Amtshandlung 15
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
zu blockieren, indem sie sich widersetzten. Für den Magistrat war das bereits eine beträchtliche Beschämung. Wurden auch noch die Rutenbündel zerbrochen, war in der Regel die Grenze erreicht; der Amtsträger war entehrt; und die widerspenstigen Bürger vermieden es, dem Amt selbst seine Würde zu nehmen. Die symbolische Wiederherstellung der ›gerechten Ordnung‹ war ihnen genug. Freilich geschahen auch solche Akte der Entehrung nicht oft. Was folgt daraus? Es wäre untunlich, ihre Seltenheit mit dem Wort »Ausnahme« erklären zu wollen; dieses Wort erklärt nichts, vielmehr schneidet es jegliche Erklärung ab. Die sogenannte Ausnahme lässt sich stets als Grenzfall auf der Skala möglicher Vorkommnisse begreifen. Jede »Ausnahme« tritt unter bestimmbaren Bedingungen ein. Wenn das so selten geschieht, dann deswegen weil die notwendigen Bedingungen meist nicht erfüllt sind. Der seltene Vorfall ist demnach logisch als »objektive Möglichkeit« zu konstruieren, indem man gedanklich das Gefüge wirksamer Bedingungen variiert. Wenn die Plebs gegen Magistrate selten zur Gewalt griff, dann weil die Magistrate ihr dazu sehr selten Anlass gaben. Anders gesagt, die Magistrate wussten: Wenn sie erwartungswidrig agierten, provozierten sie plebejische Reaktionen. Dieses Wissen warnte sie. Daher verhielten sie sich so, dass der befürchtete Fall nicht eintrat. Die Seltenheit jener überlieferten Vorfälle ist folglich ein Produkt der politischen Verhältnisse. Vorkommnisse dieser Art führen vor Augen, wie sehr die römische Ordnung dieser plebejischen Verweigerungs- und Gewaltakte bedurfte; sie waren geradezu konstitutiv für das Funktionieren der Adelsherrschaft: »Und gerade indem die Plebs sich kräftig zur Wehr setzte, trug sie viel mehr zur Erhaltung des Überkommenen bei, als sie es durch Gehorsam hätte tun können.«7 Diese Akte des Ungehorsams ereigneten sich in Rom vor allem dann, wenn Magistrate oder Teile der herrschenden Klasse sich ›Übergriffe‹ erlaubten. Das heißt umgekehrt: Die Gehorsamstiefe der römischen Bürgerschaft war desto größer, je mehr diese darauf rechnen konnte, dass die Aristokratie sich an die eingespielten Normen hielt und entlang der verbindlichen Werte handelte. Trifft das zu, dann musste die römische Aristokratie ständig ihre Normkonformität hervorkehren, ostentativ und in aufwendiger Weise. Die gegenseitigen Erwartungen waren aufeinander abgestimmt: Einerseits musste für den einzelnen Römer die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aller Römer einen hohen Wert darstellen, welcher ausreichte, um für die Res publica Opfer zu bringen und um der herrschenden Klasse immer wieder Vertrauen und Gehorsam entgegenzubringen – einen Ge16
Die Klientel und die Kontaktqualität
horsam, den wir leichter begreifen, wenn wir berücksichtigen, wie die hart definierten sozialen Rollen den Römern unentwegt eine hohe Disziplin abverlangten und sie ständig in Hierarchien einübten. Anderseits musste die Aristokratie dem Zugehörigkeitsbedürfnis der beherrschten römischen Bürger entgegenkommen, mit einem reichen Repertoire an gestischen, rituellen, zeremoniellen Mitteln, die akustisch und visuell wirkten. Die erste Bedingung betrifft die sozialen Institutionen wie z.B. die römische Familie und ihre Einbettung in das politische System; sie soll nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein.8 Die zweite betrifft die spezifische Ausrichtung des Adels auf die Kommunikation mit den Unterschichten und seine erstaunliche Fähigkeit, sich selbst zu disziplinieren. Wir müssen also nach Performanzen des Adels suchen, die darauf abzielten, der Plebs einsichtig zu machen, dass die adlige Herrschaft insgesamt gerechtfertigt und die augenblicklich eingeforderte Leistung angemessen und notwendig war. Dazu ist die typisch römische Institution der Klientel näher zu besehen.
Die Klientel und die Kontaktqualität Die ausgeprägte Klientel ist ein soziologischer Sonderfall. Überall, wo eine schmale Gruppe über wichtige Ressourcen, seien sie ökonomisch, politisch oder religiös, verfügt und den Zugang zu ihnen kontrolliert, und wo die Unterprivilegierten sich nicht organisieren, um als Gesamtgruppe die Mitverfügung über diese Ressourcen zu erstreiten, entsteht zwangsläufig ein Patronage-System; die Unterprivilegierten schließen sich an Mitglieder der herrschenden Klasse individuell an, um so Zugang zu den sozial unentbehrlichen Ressourcen zu bekommen: religiöse, ökonomische, soziale, unter die wichtigsten zählte in Rom der Rechtsbeistand. Die Nachfrage nach Patronage kommt von den Unterprivilegierten.9 Meistens kümmern sich die Herrschenden nicht weiter um die von ihnen Abhängigen, sondern verwenden einen Großteil ihrer Zeit und ihres Vermögens darauf, eine exklusive Kommunikation unter ihresgleichen aufrechtzuerhalten, eine klassenspezifische Kultur zu pflegen. Doch es kann historisch auch der Fall eintreten, dass die herrschende Klasse sich bemüht, der ständigen Patronage-Nachfrage der Beherrschten entgegenzukommen und die patronalen Leistungen ebenso wie die minimalen Pflichten der Klienten zu standardisieren. Die Herrschenden gehen damit deutlichere Verpflichtungsverhältnisse gegenüber den Abhängigen ein. Und damit entsteht eine neue soziale Figuration. 17
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
Zwar ist auch bei der üblichen losen Patronage der Patron vage gehalten, seinerseits Gegenleistungen für die Dienste zu erbringen, welche ihm die Abhängigen leisten in der Hoffnung, dass er sich für sie einsetzen werde. Aber er ist nicht durch einen kollektiven Druck der anderen Patrone genötigt, seine Versprechungen einzuhalten. Wenn einige Abhängige sich deswegen enttäuscht von ihm abwenden, um sich anderen Patronen anzuschließen, gefährdet dies seine Stellung kaum, solange die Nachfrage nach Patronage intensiv ist; und das ist sie bei starker politischer Hierarchie automatisch. Die Verlierer sind in jedem Falle jene enttäuschten Klienten, die den Patron wechseln. In der neuen Patronage-Pyramide, in die sie eintreten, haben die alten Freunde ihres neuen Patrons einen beachtlichen Vorsprung. Die neuen Klienten müssen sich sozusagen hinten anstellen. Das gilt auch dann, wenn sehr statushohe Klienten den Patron wechseln; denn obwohl sie große Chancen haben, in der Patronage-Pyramide ihres neuen Patrons auf Anhieb sehr weit oben eingestuft zu werden, konkurrieren sie an der Spitze der Pyramide mit statusgleichen Klienten, welche freilich ältere Rechte haben als sie. Dieses Risiko ist ein starkes Motiv für die Abhängigen, auch dann noch an ihrem Patron festzuhalten, wenn immer deutlicher wird, dass er sich keine Mühe gibt, ihnen zu helfen. Es fehlt freilich das feste Vertrauen darauf, dass der Patron auf geradezu zuverlässige Weise seine Leistungen erbringt. Dass Vertrauen eine enorme soziale und vor allem politische Ressource ist, tritt unter solchen Verhältnissen zwar zutage, aber nur in negativer Weise. Nämlich dann, wenn ein loses Patronage-System konkurrieren muss mit stabileren Vertrauensverhältnissen. Der Grad der Vergesellschaftung, der Konzentration sozialer Beziehungen auf verfügungsfähige Zentren, bleibt bei loser Patronage gering. Will nun eine herrschende Gruppe gesellschaftliche Ressourcen zur Machtsteigerung nach außen mobilisieren, die Organisationskompetenz der gesamten Gemeinschaft steigern, so gelingt ihr das nur, wenn sie den Grad der Vergesellschaftung erhöht. Falls die Unterschichten auch weiterhin aus dem Bereich der Ressourcenverfügung ausgeschlossen bleiben sollen, erreicht die herrschende Klasse dieses Ziel nur, wenn sie die Frequenz des Kontaktes zu den beherrschten Bürgern verstärkt und die Intensität dieses Kontaktes steigert. Das ist der Schritt zur Klientel. In Rom führten soziale Spannungen schon einige Zeit vor dem Zwölftafelgesetz dazu, dass der Adel eine Regularisierung dieses Abhängigkeitsverhältnisses akzeptierte. Die lose Patronage verwandelte sich dadurch in ein formalisiertes Verpflichtungsverhältnis, das auf Gegenseitigkeit basierte (clientela).10 Diese Beziehung blieb sozial asym18
Die Klientel und die Kontaktqualität
metrisch, wurde ein Herrschaftsverhältnis. Die Position des Abhängigen verbesserte sich dadurch materiell kaum; aber indem man die Ansprüche beider Seiten gegeneinander regularisierte, erhielt der Klient die Garantie, dass der Patron sich seiner annahm – wie gut oder schlecht auch immer. So wurde die Beziehung zum Patron verlässlich; und das erhöhte substantiell die soziale Sicherheit und wog vielfach die materiellen Kosten des neuen Verhältnisses für den Klienten auf. Dass in dieser asymmetrischen Beziehung langfristig die Patrone überproportional gewannen, war nicht zu verhindern, weil darauf jegliches Patronage-System beruht. Die Klientel ist demnach ein Sonderfall unter den Patronage-Verhältnissen. Sie setzt den expliziten Willen der Herrschenden voraus, sich der Anliegen ihrer Klienten anzunehmen. Und sie erreicht einen höheren Vergesellschaftungsgrad als die lose Patronage. Das hatte in Rom weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit den Beherrschten: 1. Die Kontaktfrequenz: Der Patron musste sich einem regularisierten Umgang öffnen; seine Klienten konnten sich zur morgendlichen salutatio bei ihm einfinden und ihre Anliegen vorbringen. Ging er aus, so begleiteten sie ihn. Mehrere Stunden täglich hatte der Adlige mit Abhängigen Umgang zu pflegen. Eine solche extensive Kommunikation zwischen Herrschenden und Beherrschten ist historisch selten. Diese Fürsorge disziplinierte den Adel:11 sie nötigte ihn, einerseits die Belange der Abhängigen mit den Praktiken und Werten der Adelsherrschaft in Einklang zu bringen und anderseits für sein eigenes Streben nach Ämtern und Ruhm das Engagement der Klienten zu gewinnen. 2. Die Wohnarchitektur: Sie war zugeschnitten auf die Bedürfnisse der morgendlichen salutatio, also auf spezifisch römische Kommunikationsformen. Das typische Haus der römischen Oberschicht enthielt einen Innenhof, das atrium, der uns aus der außeritalischen Architektur nicht bekannt ist. Das Atrium diente als Wartesaal für die Klienten, die ihren Patron sprechen wollten.12 3. Die Umgänglichkeit: Die hohe vertikale Kontaktfrequenz wirkte sich auf den adligen Habitus aus. Der Patron hatte zumindest Anteilnahme an den Belangen seiner Klienten zu zeigen, leutselig und fürsorglich zu sein. Im Klientelverhältnis herrschte ein paternalistischer und persönlicher Ton. Die Beziehungen waren über die formalisierten Verpflichtungen hinaus stark personalisiert. Diese Personalisierung lud das Herrschaftsverhältnis aufseiten der Abhängigen stark affektiv auf. Das hatte für den Patron den Vorteil, dass die Beherrschten für ihn das Äußerste leisteten, falls sie sich ›geliebt‹, d.h. geachtet wussten. Freilich hatte das den Nachteil, dass affektive Störungen den reglementären Ge19
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
horsam untergruben. Zu Hause wie im Felde beobachtete die Plebs aufmerksam die Gesten und Akte, d.h. die ›Performanz‹ der Herrschaftsträger. 4. Die Knappheit der Zeit für spezielle kulturelle Praktiken: Die den Senatoren verbleibende Zeit reichte nicht für die Ausbildung einer exklusiven Kultur außerhalb des Politischen. »Entsprechend beschäftigte eine Unsumme von unbedeutenden Fragen ständig die Gesamtheit oder doch große Teile der Aristokratie.«13 Hinzu kommen noch die horizontalen Kontakte, welche der Adlige zu Standesgenossen aufrechterhielt, um politische Fragen vorab zu beraten und sich abzusprechen. Die Exklusivität der römischen Adelskultur war zwar unerbittlich, doch sie bezog sich auf die Sphäre der Herrschaftsausübung; sie benötigte keine weiteren außerpolitischen Praktiken und Zeichen der Distinktion. Das wirkte zurück auf die Rolle des ostentativen Konsums in Rom: er erreichte bis ins späte erste Jahrhundert v. Chr. nicht die Bedeutung wie in anderen Adelskulturen. Die Senatoren verbargen eher ihren Reichtum – wenn man vom weiblichen Luxus absieht –; und sie hatten wenig Zeit, um ihn ›kultiviert‹ zu konsumieren. Die hohe Kontaktfrequenz disponierte die Senatoren dazu, auf spezifische Weise ›Nähe‹ zu zeigen. In konkreten Situationen vermochten sie diese ›Nähe‹ demonstrativ zu betonen. Wie taten sie das?
Affektive Nähe bei sozialer Distanz – im Krieg und auf dem Forum Um die Potentiale der vertikalen Beziehungen voll auszuschöpfen, verfügte der römische Adel über ein Repertoire von kulturell charakteristischen Gesten. Sie gehörten zu seiner politischen Performanz und waren einzusetzen, sobald es galt das Wohlwollen der Plebejer zu gewinnen oder sie zu Opfern anzuspornen. Als C. Marius 109 v. Chr. als Unterfeldherr am numidischen Krieg teilnahm, fiel er auf, weil er es verstand, sich in besonderer Weise beliebt zu machen: »Mit den Soldaten wetteiferte er in Anspruchslosigkeit und Ausdauer. So gewann er ihre ganze Zuneigung. Denn jeder, welcher sich hart mühen muss, ist getröstet, wenn ein anderer freiwillig seine Mühe teilt; plötzlich spürt er den Zwang nicht mehr. So sieht ein römischer Soldat nichts lieber als einen Feldherrn, welcher das gleiche Brot isst wie er selbst, auf gewöhnlicher Streue liegt oder Hand anlegt beim Ausheben des Grabens oder beim Einrammen der Schanzpfähle. Ein Befehlshaber, welcher mit Auszeichnungen und Geldgeschenken nicht kargt, wird wohl geschätzt, aber mit größe-
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Affektive Nähe bei sozialer Distanz
rer Achtung blicken die Soldaten zu einem Führer empor, der Not und Gefahr mit ihnen teilt. Und wer Übermut und Disziplinlosigkeit durchgehen lässt, findet weniger Liebe als ein Kommandant, welcher die Strapazen der Mannschaft mitträgt. Ein solcher Mann war Marius, Führer und Kamerad zugleich …«14
Marius beeindruckte die römischen Soldaten mit demonstrativen Handlungen, welche eindeutige Botschaften transportierten und auf bestimmte Erwartungen trafen – Erwartungen, die teils der sozialen Situation professionalisierter Soldaten entsprachen, teils aus der römischen Kultur herrührten. Marius vollführte ›performative Akte‹; diese bilden insgesamt ein Ensemble, das ich ›Performanz‹ nenne. Die Performanz eines Feldherrn hat selbstverständlich eine technische Dimension – denn er muss seine Aufgabe gut machen, seine Lagebeurteilung muss zutreffen, seine Optionen müssen klar und seine Befehlsgebung muss auf die Lage abgestimmt sein. Doch obendrein hat die Performanz immer eine symbolische Qualität; denn sie wird wahrgenommen, und der Feldherr ist sich dessen bewusst. Und er weiß, dass man ihn danach beurteilt, schätzt oder missachtet. Die symbolische Qualität ist bei einigen performativen Handlungen ganz offensichtlich. Wenn Marius vom Pferd stieg, um den Adler zu tragen, und wenn er neben dem Lagerfeuer auf Streu schlief, dann war allen klar, dass ein Befehlshaber diese Strapazen nicht dauernd auf sich nehmen konnte. Im Ernstfall sollte er ja völlig ausgeruht und im Vollbesitz seiner Kräfte sein, um seine Befehle ohne Hektik und mit überlegter Präzision geben zu können. Dennoch redeten sich die Soldaten ein, dass er grundsätzlich die üblichen Strapazen durchstehen könne, genauso wie sie selbst. Entscheidend freilich war, dass er es tat ohne es zu müssen; er verschmähte also die Mühen nicht, denen die Truppe sich unterzog. Dies galt römischen Befehlshabern als ein wirksames Mittel, um Vertrauen zu schaffen und Achtung zu gewinnen. Das Vertrauen und die Achtung ergaben sich aus demonstrierter Nähe. Marius übte soziale Mimesis; der Herrschaftsträger imitierte die Beherrschten. Diese Mimesis ist noch in der Moderne wahrscheinlich das wirkungsvollste Mittel, um riesige – und daher schmerzliche – soziale Distanzen zu überbrücken. Mit solchen Gesten signalisieren sozial weit entrückte Personen, dass sie ›nahe‹ sind. In einer Gesellschaft, in der ihr sozialer Status die unterschiedlichen Personengruppen scharf voneinander abtrennt, herrschen explizite oder unausgesprochene Verbote sozialer Mimesis, welche nicht nur Kleidung und Schmuck, sondern Sprechen, Gebärden, Tätigkeiten und sonstige Bereiche des Verhaltens betreffen. Diese Distanz mit ostentativen Gesten der Nähe 21
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zu überbrücken, ist daher nur der einen Seite möglich, nämlich den Herrschenden. Solcherart demonstrierte Nähe wirkt in dem Maße, wie der Vorschuss an Vertrauen, den Römer ihren Patronen oder Magistraten spontan gewähren, noch nicht gelitten hat. Paul Veyne hat dieses Verhältnis von sozialer Distanz und affektiver Nähe in der römischen Kultur eindrucksvoll analysiert: Wenn die soziale Distanz sich auf übermächtige Weise kundgibt, dann erschwert sie die Integration der sozial Minderprivilegierten, weil sie stets eine affektive Dissonanz erzeugt, das Bewusstsein, sozial abgetrennt und missachtet zu werden.15 Diese affektive Dissonanz bedroht den sozialen Konsens und senkt die Motivation der sozial Untergeordneten, sich für etwas Gemeinsames einzusetzen. Römische Adlige hatten daher mimetische Annäherung zu leisten, mittels sichtbarer und verstehbarer Gesten; das war ihr semiotischer Einsatz im interaktionalen Spiel, um starke affektive Bindungen der Untergebenen auf sich zu konzentrieren. Dennoch würde die Performanz des Marius nicht in jeder Kultur gut ankommen; sie könnte sogar irritieren und Störungen im reglementären Verhältnis zwischen Untergebenen und Vorgesetzten auslösen. Dafür mussten zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen mussten die Untergebenen ein starkes Bedürfnis haben, solche affektiven Bindungen zu sozial sehr überlegenen Personen einzugehen; zum anderen mussten diese darauf trainiert sein, auf das Angebot affektiver Bindung seitens der Untergebenen positiv zu antworten, mit Gesten von präziser Wertigkeit, die scheinbar selbstverständlich erfolgten. Beide Dispositionen waren im Klientelverhältnis korrelativ miteinander verzahnt. Was immer die Untergebenen dienstlich taten, das verrichteten sie – wenn die Beziehung stimmte – besonders gut, denn sie taten es stets auch für die herrschaftsbefugte Person selbst. Die Herrschaftsbeziehungen luden sich im römischen System affektiv auf. Und beliebte Feldherrn instrumentalisierten diese Aufladung, um die militärische Effizienz zu steigern. Freilich gelang das nur fähigen Kommandeuren; militärisch unfähigen nützten joviale Gesten nichts, sie verloren schnell die Achtung ihrer Truppen. Ein merkwürdiger Brauch römischer Befehlshaber mag das verdeutlichen. Metellus, der Oberbefehlshaber des römischen Heeres im numidischen Krieg, gewann 109 v. Chr. am Fluss Muthul eine Schlacht gegen den numidischen König. Sallust berichtet über sein Verhalten nach dem Sieg: »Metellus bleibt vier Tage im selben Lager, lässt die Verwundeten pflegen und zu Kräften kommen, beschenkt verdiente Kämpfer nach militärischem Brauch, belobigt alle in der Heeresversammlung und spricht seinen Dank aus (agit gratias).«16 22
Affektive Nähe bei sozialer Distanz
In den griechischen Heeren war das undenkbar. Und im römischen Heer, das erheblich strenger geführt wurde, regelten die Dienstordnung und der Militäreid gehorsames und tapferes Verhalten und forderten sie in umfassender Weise ein. Wofür also danken? Wenn Metellus zu seinen Soldaten eine rein reglementäre Beziehung gepflegt hätte – so wie das bei den hellenischen Bürgerheeren der Fall war –, dann hätte dieser Dank keinen Sinn gehabt, denn beide Seiten hatten ihre Pflicht getan. Anscheinend ist der Grund kein sachlicher, sondern er berührt das persönliche Verhältnis zwischen dem Feldherrn und seinen Soldaten. Griechische Soldaten waren – falls sie einen Militäreid zu leisten hatten – auf ihre Polis vereidigt. Römische hingegen hatten einen Eid auf ihren Imperator abgelegt, obwohl der ein Magistrat der Republik war, also ein Praetor oder ein Consul bzw. im Falle einer Kommandoverlängerung über die Amtszeit hinaus ein Propraetor oder Proconsul. Schickte der Senat einen neuen Kommandierenden, dann wurden die Truppen neu vereidigt. Die Beziehung der Römer zu ihrem Oberkommandierenden war also nicht rein reglementär, nicht rein ›zivisch‹ – wenn man unter cives den Bürger einer politischen Gemeinschaft versteht. Sie war immer auch persönlich. Inwiefern das Verhältnis sich tatsächlich personalisierte, hing davon ab, wie heftig die Soldaten das verlangten und wie bereitwillig der betreffende römische Senator die demonstrativen Gesten der Nähe auch übte. Nicht nur Metellus, die römischen Feldherrn überhaupt bedankten sich routinemäßig bei ihrem Heer, weil sie damit das personalisierte Verhältnis anerkannten. Sie taten so, als hätten die Bürger ihnen einen besonderen Beweis ihrer Zuneigung erbracht, indem sie mithalfen, unter ihrem Namen einen Sieg zu erfechten. Sie hatten nicht Unrecht. Nicht nur im Felde waren diese Gesten der Nähe wichtig, sondern auch auf dem Forum Roms. Jedes Jahr wurden dort die Magistrate gewählt, und Martin Jehne hat kürzlich aufgezeigt, wie die Bewerber sich im Wahlkampf abmühten (ambitus). Sie mussten ihren Unterstützerkreis in den Oberschichten ausweiten, weil diese Freunde ihrerseits wiederum auf einen verzweigten Bekanntenkreis einwirkten. Doch auch mit ärmeren Bürgern mussten sie unablässig in Kontakt treten, sie begrüßen, ihnen die Hände schütteln und ein paar Sätze mit ihnen austauschen. Dabei konnte man freilich Kredit verspielen. Das passierte Scipio Nasica Serapio in den vierziger Jahren des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Valerius Maximus berichtet über ihn: »Als sich Scipio Nasica in jungen Jahren um das Amt des kurulischen Aedils bewarb, drückte er – wie Kandidaten das tun – die Hand eines Mannes, die
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Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
durch Feldarbeit schwielig geworden war; im Scherz fragte er diesen Mann, ob er die Gewohnheit habe, auf den Händen zu laufen. Dieser Ausspruch wurde von den Umherstehenden gehört und im Volk verbreitet; aus diesem Grunde erlitt Scipio eine Wahlniederlage; denn alle ländlichen Tribus glaubten, er habe ihnen ihre Armut vorgeworfen, und ließen ihrem Zorn gegen seine beleidigenden Stadtmanieren freien Lauf.«17
Wenn Kandidaten ›ganz handgreiflich‹ die soziale Distanz zu den Wählern überbrücken mussten, dürfte mancher versucht gewesen sein, ähnliche Witze zu reißen. Nasica betonte eben jene soziale Distanz, die ohnehin riesig und augenfällig war und die es mit genauen Gesten zu überwinden galt. Seine städtische Zungenfertigkeit an einem Bauern auslassend, der außerstande war, sich auf dieser Ebene zu wehren, riss er den Graben noch weiter auf. Was das Wahlvolk einforderte, was die Standesgenossen von einem Senator erwarteten und was Nasica – vielleicht in einem unbedachten Moment – missen ließ, war demonstrative affektive Nähe.18 Martin Jehne hat ihr den passenden Namen »Jovialität« gegeben. Damit ist nicht ein persönlicher Charakterzug gemeint, sondern eine standardisierte und habitualisierte Befähigung, mit sozial niedriger stehenden Bürgern Umgang zu pflegen.19 Nasica verlor die Wahl deutlich. Sein Misserfolg wurde als negatives Exempel zitierfähig. Für die Selektion der herrschaftsbefähigten Personen in Rom war das nicht unwichtig. Da die Wahlen – und die Ämterlaufbahn überhaupt – sehr hohe Kosten mit sich brachten, fungierten sie als ökonomische Barrieren, die nur reiche Kandidaten überstiegen oder solche, die von begüterten Verwandten und Freunden großzügig gefördert wurden.20 So sicherten sich die Nobilitätsfamilien die Praeturen weitgehend und die Konsulate fast vollständig. Doch der Fall Nasica legt ein weiteres Kriterium der senatorischen Selektion offen: Die Wahlen garantierten, dass der allergrößte Teil der Amtsträger, also der Senatoren, eine sichtbare und wirksame Disposition mitbrachte, auf ›joviale‹ Weise mit den römischen Bürgern zu kommunizieren. Die herrschende Klasse als Ganze hatte ein starkes Interesse daran, dass die Herrschaftsträger nicht durch falsches Benehmen Konflikte mit der Plebs erzeugten, die das Ansehen der Senatorenschaft insgesamt schädigten. Senatoren bekundeten in der Öffentlichkeit regelmäßig Verachtung für den Schnickschnack der griechischen Kultur; und sie verleugneten häufig ihre diesbezüglichen Kenntnisse.21 So demonstrierten sie, dass sie Römer waren und der geringste Plebejer ihnen näher stand als ir24
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gendeine östliche Berühmtheit. Das war kein bloßer Diskurs; die römischen Feldherren behandelten den hellenisierten Osten mit derselben politischen Rücksichtslosigkeit wie alle anderen Feinde.22 Es hatte also einen kulturellen Preis, wenn man die sozialen Beziehungen auf diese Weise verdichtete, wie das in der römischen Klientel geschah. Das Verhalten der Senatoren unterlag spezifischen Anforderungen, je nachdem, ob sie als Patrone für ihre Klienten eintraten, ob sie auf dem Forum als Kandidaten umhergingen, ob sie zum Volk sprachen oder Legionen befehligten. Schon als Kinder und als Jugendliche mussten sich angehende Adlige darin üben, einen reibungslosen Umgang mit statusniedrigeren Personen zu pflegen, den angemessenen Ton zu treffen, wichtige Beziehungen so weit als möglich, weniger wichtige so weit als nötig zu personalisieren. Da die römische Politik den Senatoren stark personalisierte Formen der Kommunikation aufnötigte, mussten sie persönliche Beziehungen fingieren, auch wo realiter keine bestanden. Das ging so weit, dass sie einen nomenclator mit sich führten, einen Sklaven, der seinem Herrn die Namen derer zurief, die ihm auf der Straße begegneten und die er begrüßen wollte.23 Bewarben sie sich um ein Amt und standen die Wahlen bevor, dann war es ratsam, keinen Schritt mehr ohne nomenclator zu gehen. Das berührte die Techniken des Erkennens: es galt, sich nicht nur korrekt an die Namen zu erinnern, sondern noch weit mehr, jemanden schnell wiederzuerkennen; d. h., die Wahrnehmung des Gesichtes spielte in Rom eine viel größere Rolle als in Hellas. Und daraus ergab sich eine entscheidende kulturelle Differenz. Wenn sich in Rom die Bartlosigkeit durchsetzte und durchhielt, so mag zwar auch der Wille, sich von der nichtrömischen Umgebung erkennbar abzugrenzen, maßgeblich mitgewirkt haben, ja zunächst primär gewesen sein. Aber das bartlose Gesicht ist das direkte Korrelat der Anforderung, eine relativ große Menge an Personen zu erkennen und von ihnen erkannt zu werden. Die Namentlichkeit des mündlichen Umgangs erfordert einen solchen Grad der Kenntlichkeit des Gesichtes, wie er in anderen Mittelmeerkulturen nicht zu finden ist. Die Kenntlichkeit ist nicht allein darin begründet, dass in Rom eine schmale politische Elite darauf angewiesen war, sich am Gesicht zu erkennen – Kleidung und Hexis waren uniformiert – und sich mit Namen anzureden. Sondern die semiotische Nähe richtete sich an eben diese Plebejer, denen der Adel den sozialen Abstand vor Augen führte. Die Plebs legte auf individuelle Kenntlichkeit Wert; denn in dieser erwiesen sich die Mitglieder des Adels als ›nicht fremd‹. Namentlichkeit und Kenntlichkeit forderten von beiden Seiten entsprechende Dispositio25
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nen. Manche römische Feldherren feuerten ihre Unteroffiziere, einige sogar die Soldaten namentlich an. Das ist der historische Kontext, in dem das römische Porträt seine Besonderheiten entfaltete. Der hellenistischen Kunst kam es auf physiognomische Kenntlichkeit nicht an, weil diese kein Politikum war. Die römische Plebs hingegen hätte eine Stilisierung rundweg abgelehnt, die jene ›zufälligen‹ physiognomischen Merkmale unterdrückte, welche einem Gesicht sein ›naturalistisches‹ Gepräge verliehen. Der hohe Individualisierungsgrad erklärt sich aus der Besonderheit der Kommunikationspraktiken in Rom. Er sank in der augusteischen Epoche ab, die Stilisierung nahm zu.24 Gerade in dieser Zeit verschwanden wichtige politische Praktiken, wie z. B. der ambitus – das Umhergehen der Kandidaten vor den Wahlen, wobei sie sich zeigten, um Anhänger zu gewinnen und sich bekannt machten –; Praktiken des Erkennens und des Sich-zu-Erkennen-Gebens verloren ihre Bedeutung und damit fiel auch der politische Wert der Kenntlichkeit. Die politische Kommunikation mit der Plebs diktierte somit in Rom den Spielraum der Bildnisgestaltung. Wir fassen ab dem 4. Jh. v. Chr. in Rom eine Aristokratie, die in beachtlichem Maße auf ostentativen Konsum verzichtete und ihre Lebensführung von vielerlei Ästhetisierungen freihielt. Man hat dies als ›bäuerliche Kultur‹ bezeichnet; das ist soziologisch unsinnig. Die Senatoren pflegten eine hochgradig normierte Lebensführung, die mit einer bäuerlichen ebenso wenig zu tun hatte wie diejenige der griechischen Aristokraten.25 Freilich näherte sich die adlige Lebensweise desto mehr einer scheinbaren plebejischen Kargheit an, je mehr sie sich gegen ästhetisierte Stilisierungen sperrte. Aber diese Austerität war selbst kulturell stilisiert; man wuchs in sie hinein, indem man familialen, nachbarschaftlichen, zivischen und klassenmäßigen Disziplinierungen unterlag. Um sie aufrechtzuerhalten, benötigten die Senatoren eine nicht nachlassende soziale Kontrolle, die in den Maßnahmen der Censoren gipfelte, welche immer wieder Senatoren wegen Unwürdigkeit aus der Senatsliste strichen. Die verordnete und im Einzelnen immer wieder umkämpfte Austerität verminderte die adlige Konkurrenz auf den Feldern des ostentativen Konsums und tendierte dazu, den Wettbewerb auf das politische Feld einzuengen. Doch gleichzeitig ermöglichte sie eine glaubhafte demonstrative Nähe zu den Klienten. Um diese sozialen Performanzen überzeugend zu erbringen, musste der römische Adel auf sehr viele distinguierende soziale Praktiken verzichten. Es stellt sich die Frage, wie es der herrschenden Klasse gelang, 26
Hierarchie und Streitvermeidung
ihre Mitglieder so zu orientieren, dass sie diese Verzichte leisteten und stattdessen jene Pflichten auf sich nahmen, die Klientelverhältnisse mit sich brachten?
Rangklassen: Hierarchie und Streitvermeidung Sollte ein stilisierter Umgang mit den reicheren und ärmeren Bürgern auf Dauer gestellt werden, dann musste ein homogenisiertes Herrschaftsverhalten aufseiten der Senatoren den standardisierten Erwartungen der sozial abhängigen Römer an ihre adligen Patrone entsprechen. Die Herrschenden benötigten eine besondere Lebensführung, die ohne nachdrückliche soziale Kontrolle nicht aufrechtzuerhalten war. Diese soziale Kontrolle wirkte deswegen gut, weil der römische Adel auf eine besondere Weise organisiert war. Unter den historisch bekannten Adelstypen ist der römische seit dem 4. Jh. v. Chr. ein soziologisch seltener Fall, denn er besaß eine straffe Binnenorganisation; die Senatoren waren in Rangklassen eingeteilt. Wer Volkstribun gewesen war, galt als ranghöher als ein gewesener Quaestor; wer es zur Praetur gebracht hatte, befand sich in einer höheren Rangklasse als diejenigen Senatoren, die zuletzt das Aedilenamt bekleidet hatten; ehemalige Censoren beanspruchten, ranghöher als gewesene Consuln zu sein, was auch generell akzeptiert wurde, obzwar es ihnen nicht gelang, sich im Senat als eigene Rangklasse zu konstituieren. Diese Organisation blockierte Rangstreitigkeiten: Der Vorrang in einem Adel mit Rangklassen richtet sich nach den hierarchischen Beziehungen zwischen denselben, entlang unstrittiger Kriterien; er tendiert zur politischen Überordnung, ist umstandslos gültig und stabil. Der Vorrang in einem Adel ohne Rangklassen richtet sich nach dem individuellen Prestige; dessen qualitative Vielfalt macht jenen nicht eindeutig; deshalb ist der Vorrang fallweise neu festzulegen, weswegen er momentan und instabil bleibt und oft nur in einem Konflikt zu ermitteln ist. Im Einzelnen mögen diese Unterschiede vielleicht gar nicht auffällig in Erscheinung treten. Aber die sozialen Konsequenzen dieser kumulierten Unterschiede sind schwerwiegend. Rangklassen eliminieren sehr viele Anlässe für Missstimmigkeiten und Hader. Deutlicher gesagt: Der rangklassenmäßig differenzierte Adel ist auf vielen sozialen Gebieten Konkurrenz, Rivalität und Streit gar nicht oder kaum ausgesetzt. Das bedeutet keinesfalls, dass die Konkurrenz im römischen Adel schwächer war als etwa im griechischen. Aber es bedeutet, dass die Ge27
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
biete der Konkurrenz viel stärker eingegrenzt waren. Eingegrenzte Konkurrenz ermöglicht es, die individuellen Energien der herrschenden Klasse gezielter einzusetzen. Das Rangklassensystem bestimmte in hohem Maße die innere Struktur des römischen Adels. Es funktionierte nur, wenn es eine Ausnahme blieb, dass einzelne Adlige diese oder jene Ämterstufe übersprangen. Die Senatoren bewegten sich ständig in Über- und Unterordnungsverhältnissen und übten diese ein. Wie stark die Hierarchien tatsächlich waren, hing davon ab, wo man agierte, ob man sich im Felde befand oder in Roms Straßen magistratische Befugnisse ausübte, ob man im Senat seine Meinung äußerte oder zur Volksversammlung sprach. Die seltenen Fälle, in denen Magistrate gegen die Hierarchie der Ämter verstießen, wurden als böse Beispiele (mala exempla) überliefert: Als der Consul M. Aemilius Scaurus 115 v. Chr. am gerade Gericht abhaltenden Praetor P. Decius vorüberging und dieser sich nicht erhob, forderte er ihn auf, aufzustehen, ließ ihm das Gewand zerreißen und seinen Magistratsstuhl (sella curulis) zerbrechen; anschließend verbot er in einem Edikt, sich in Rechtsangelegenheiten an den respektlosen Praetor zu wenden. Der Großvater des späteren Kaisers Nero, Domitius Ahenobarbus, wurde zum schlechten Vorbild, weil er als Aedil 22 v. Chr. den Censor L. Plancus nötigte, ihm auf der Straße auszuweichen.26 Nun gelangte man nicht qua Erbrecht in eine Rangklasse, sondern man stieg von der einen in die andere auf, je nachdem, welches politische Amt man bekleidet hatte. Die Volksversammlung wählte alljährlich im Sommer die Amtsträger für das nächste Jahr, denn die Amtsdauer umspannte bei normalen Ämtern ein Jahr, bei den Censoren anderthalb Jahre. Die römischen Senatoren stellten soziologisch sowohl eine Aristokratie als auch eine Elite dar: nur Angehörige der höchsten Vermögensklasse konnten sich um diejenigen Ämter bewerben, welche die senatorische Laufbahn eröffneten; und diese familiale Voraussetzung verlieh der Senatorenschaft ihren aristokratischen Charakter. Doch nur wer sich in scharfen Konkurrenzkämpfen beim wählenden Volk behauptete, gelangte in die begehrten Ämter; und solche Selektion charakterisiert Eliten.27 Zwar lässt sich nicht nachzeichnen, wie sich aus der unstrittigen Hierarchie der Ämter ein Rangklassensystem – für die amtlosen Senatoren – historisch herausbildete.28 Aber die hierarchische Staffelung der Ämter war die soziologische Bedingung dafür, dass Rangklassen sich bildeten und perpetuierten. Die Amtvollmacht der Consuln war höher als die der Praetoren usw.; lediglich bei den Censoren und den Volkstribunen fielen Befugnisse und Status des Amtes auseinander. 28
Hierarchie und Streitvermeidung
Diese Ordnung hat im Laufe des vierten Jahrhunderts v. Chr. ihre bleibende Gestalt angenommen. Sie verlieh der römischen Aristokratie eine hohe Handlungsfähigkeit: die Konsulare bestimmten praktisch die Politik; die anderen Senatoren richteten sich de facto nach ihnen. Der Rang eines Senators bestimmte weitgehend, welches Gewicht seine Stimme im Senat hatte. Der geschäftsführende Consul rief die Senatoren zur Stellungnahme auf und hielt sich bis in die späteste Phase der Republik an jene Reihenfolge, welche die Censoren im Album für jeden Senator festgelegt hatten.29 Je straffer der Adel organisiert war, desto wirksamer mussten die Kriterien der Über- und Unterordnung sein: Zwischen Senatoren war die Rangklasse das erste Kriterium; zwischen zwei Senatoren innerhalb derselben Rangklasse entschied die Anciennität – wer das betreffende Amt zuerst angetreten hatte, dem gebührte der Vorrang. Unter den Senatoren, die im selben Jahr zum Praetor oder zum Consul gewählt wurden, galt die Reihenfolge, in welcher der jeweilige Bewerber die Mehrheit der Zenturien für sich gewann, als Prestigekriterium: der zuerst ausgerufene Consul-Anwärter übernahm auch als erster die Geschäftsführung und sein Name stand im Kalender an erster Stelle. Doch dieses Prestigekriterium entwertete sich schon nach Ablauf der Amtszeit. Stattdessen rückte der Ruhm und das Ansehen der Familie in den Vordergrund, wozu die Angehörigen vornehmer Familien eifrig beitrugen. Der Vorrang zwischen zwei Gleichrangigen, die ihr letztes Amt im selben Jahr bekleidet hatten, richtete sich – wenn ein paar Jahre vergangen waren – danach, wessen Familie das größere Prestige besaß. Das familiäre Prestige war – obschon nicht unangefochten – somit das dritte Gliederungsprinzip dieser strukturierten Gruppe. Eine derartige Hierarchie funktioniert dann, wenn es nur wenige Kriterien gibt, die über den Vorrang eines Individuums gegenüber einem anderen entscheiden, und wenn alle Angehörigen der herrschenden Klasse – oder fast alle – an einer strengen Reihenfolge dieser Kriterien festhalten. Und das traf in Rom zu: An erster Stelle stand der Rang, an zweiter die Seniorität, erst an dritter das Ansehen der Familie. Hätte z. B. das Ansehen seiner Familie einem patrizischen Aedilizier den Vorrang vor einem plebejischen Praetorier verschafft, wäre die politische Organisation des Adels zerfallen. Die Überordnungskriterien durften nicht miteinander konkurrieren, sondern mussten selbst hierarchisiert sein und zuverlässig bleiben. Freilich gab es Streitfälle. Im Jahre 209 v. Chr. haderten die Censoren darum, wen sie bei der Erstellung der Senatsliste (lectio senatus) zum princeps senatus bestimmen sollten. Beide Censoren waren sich darüber 29
Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen
einig, dass nur ein patrizischer Zensorier princeps senatus sein konnte. Das ist symptomatisch für die Bemühung der Zensorier, sich zu einer eigenen Rangklasse zu konstituieren, die noch über den Konsularen stand. Das wäre ihnen sicherlich gelungen, wenn dem nicht schlichte demographische Gründe entgegengestanden hätten: Die Zensorier waren – aus Altersgründen – viel zu wenige, denn nur alle fünf Jahre wurden zwei Censoren aus den Konsularen gewählt. Nach den strengen Kriterien der römischen Aristokratie hätte der Zensorier mit der höchsten Anciennität princeps senatus werden müssen, das war T. Manlius Torquatus. Die beiden Censoren entschieden aber anders. Sie machten Q. Fabius Maximus zum Princeps senatus. Sie stellten also die Anciennität hintan und gaben dem familiären Prestige den Vorzug; denn die Fabier galten als vornehmer als die Manlier.30 Schon diese Entscheidung war umstritten und erregte Aufsehen. Noch bedenklicher war es, als 125 und 115 v. Chr. – in zwei aufeinander folgenden Zensuren – die jeweiligen Censoren nicht nur die Anciennität übergingen, als sie die principes senatus ernannten, sondern sogar die Ränge missachteten. Zwar gab es im Senat Zensorier, allerdings aus plebejischen Geschlechtern. So ernannten die amtierenden Censoren beide Male patrizische Konsulare zum princeps senatus.31 Gewollt oder ungewollt schwächten die Censoren damit die Gültigkeit der maßgeblichen Kriterien für Über- und Unterordnung; damit beförderten sie eine Disposition bei Mitgliedern der alten Nobilitätsfamilien, Überordnungsverhältnisse infrage zu stellen, ja es eventuell auf Rangkonflikte ankommen zu lassen. Deswegen konnte es passieren, dass im Jahre 105 v. Chr. ein Proconsul sich weigerte, sich und sein Heer dem Oberbefehl des Consuls zu unterstellen: der Proconsul Q. Servilius Caepio aus dem ruhmreichen patrizischen Geschlecht der Servilier sah keinen Grund, sich dem Consul, Cn. Mallius Maximus, unterzuordnen; denn der war ein homo novus, d. h. ein Mann ohne senatorische Vorfahren. Dass es galt, gemeinsam die Kimbern abzuwehren, war für den ahnenstolzen Patrizier nachrangig. Beide Heere wurden getrennt geschlagen, wobei die Römer die höchsten Verluste ihrer Geschichte erlitten.32 Die aufgebrachte Bürgerschaft enthob den Proconsul seines Amtes; und im darauffolgenden Jahr verurteilte sie ihn wegen Hochverrats. Damit stellte die Plebs jene Maßstäbe wieder her, die der Aristokratie abhanden zu kommen drohten. Die interne Organisation der Senatorenschaft wirkte sich auf die Motivationsstruktur der Senatoren und ihrer Söhne aus. Denn jeder musste bestrebt sein, von seiner Rangklasse in die höhere aufzusteigen, also ins nächsthöhere Amt gewählt zu werden. Das gelang ihm nur, 30
Hierarchie und Streitvermeidung
wenn er eine große Schar von Wahlhelfern um sich sammeln konnte, die davon überzeugt waren, dass er bereits ansehnliche Leistungen für die Res publica erbracht hatte und noch weitere erbringen werde. Mit diesen zusammen hatte er dann die Wähler zu beeinflussen und weitgehend zu überzeugen. Das bedeutete, dass Senatoren einen sehr großen Teil ihrer Zeit in der politischen Öffentlichkeit verbringen mussten, deutlicher gesagt: dass sie ihr Handeln zum allergrößten Teil auf das politische Feld orientieren mussten. Das zog weitreichende kulturelle Konsequenzen nach sich. Denn üblicherweise pflegen ökonomisch und sozial privilegierte Schichten eine virulente Agonalität; sie üben den Wettkampf um Überlegenheit, welcher innerhalb der Gesellschaft sich spontan ergibt und auf jedes beliebige Gebiet übergreift, solange er nicht gebremst und geregelt wird. Agonalität und kompetitives Verhalten nicht ausufern zu lassen, sondern zu hegen, ist darum in jeder sozialen Ordnung ein vorrangiges Problem, dessen Gewicht zunimmt, je dichter sie sich organisiert. In der griechischen Kultur räumten unterschiedlichste soziale Gruppen der Agonalität sehr weite Bereiche ein – fast alles konnte in ihr zum Wettkampf anreizen: physische Qualitäten wie Schönheit, Stärke, Schnelligkeit, Gewandtheit, ferner rhetorische, musische und intellektuelle Fähigkeiten usw. Die römische Aristokratie hingegen duldete diese ausufernde Konkurrenz nicht und war ständig bemüht, sie einzudämmen. Das Rangklassensystem hierarchisierte nicht nur den Adel selbst, sondern das gesamte politische Aktionsfeld. Junge Adlige wollten möglichst weit nach oben kommen, die Ämterleiter – den cursus honorum – bis zum Oberamt hochklettern, und das noch möglichst schnell. Denn nur Consuln führten – in der Regel – die Kriege, errangen die großen Siege und feierten dafür Triumphe.
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Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
2. Der Triumph Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
Rituelle Übereignung und politischer Konsens Die Szenographie politischer Eintracht So sehr die römische Aristokratie sich abmühte, die soziale Distanz durch Performanzen zu überbrücken, letztlich verschafften sich die asymmetrischen Beziehungen immer Geltung. Jedes Ritual in Rom, selbst wenn es noch so intensiv auf die Gemeinschaft als ganze bezogen war, enthielt in sich Momente, die unter Umständen die Trennungslinien innerhalb der Bürgerschaft akut machten, ja sogar die Struktur der politischen Organisation gefährdeten – unabhängig davon, ob die Akteure es wollten oder darum wussten. Ausgerechnet jenes Ritual, in welchem die römische Bürgerschaft auf singuläre Weise ihre Eintracht feierte – nämlich der Triumph –, bezeugt diese semantische Widersprüchlichkeit am eindringlichsten.1 Einen Triumph zu feiern war die allerhöchste Ehre für einen Römer. Das konnten nur Feldherren, die unter eigenem Kommando einen großen Sieg errungen hatten – fast immer als Consuln oder in konsularischem Rang. Falls der Triumph ursprünglich ein Ritus der Beendigung des Krieges war, konnten vormals alle Feldherren, die siegreich heimkehrten, triumphieren. Doch je mehr Kriege Rom führte, je großräumiger die Operationen wurden, desto höher wurde die Messlatte gesteckt, sodass seit dem Beginn des dritten Jahrhunderts v. Chr. der Triumph zur höchsten Auszeichnung geworden war.2 Dem Senat oblag die Entscheidung, ob ein Sieg eines Triumphes würdig war; und die Volksversammlung fasste einen entsprechenden Beschluss. Dann fand Roms größtes zeremonielles Ereignis statt. Ende November 167 v. Chr. feierte der zweifache Consul Aemilius Paullus seinen zweiten Triumph. Er hatte im Jahre zuvor das makedonische Heer bei Pydna geschlagen; Makedonien war als staatliche Einheit aufgelöst. Dieser Triumph dauerte drei Tage und übertraf alle vorangegangenen Siegesfeiern. Das siegreiche Heer hatte auf dem Marsfeld – außerhalb der sakralen Grenze Roms (pomerium) kampiert; beim Triumph durfte es feierlich diese Grenze überschreiten und in die 32
Rituelle Übereignung und politischer Konsens
Stadt einrücken. Vom Marsfeld kommend, zog die Prozession durch ein dazu vorgesehenes Tor (porta triumphalis) entlang einer Wegstrecke von knapp vier Kilometer Länge über den Circus Maximus durch das Forum hinauf aufs Kapitol.3 Rom war geschmückt, das Volk stellte sich auf, um den Feldherrn, das siegreiche Heer und die ausgestellte Beute zu bewundern und damit sowohl den Sieg des Gemeinwesens als auch den Feldherrn zu feiern. Am ersten Tag wurden Bildnisse, Gemälde und Statuen auf 250 Wagen vorbeigetragen.4 Griechische Kunst war nichts weiter als Beute oder dekoratives Zubehör römischer militärischer Leistung. Die Kunstwerke gingen als Weihungen in die Tempel Roms oder der italischen Städte. Am zweiten Tag rollten zuerst lange Wagenkolonnen vorbei, angefüllt mit makedonischen Waffen. Anschließend kamen 750 Gefäße mit je drei Talenten gemünzten Silbers (was 13,5 Mio. Denaren entsprach); schließlich wurden silberne Gefäße aller Art gezeigt. Die feindlichen Waffen wurden den Göttern geweiht; das Silber und Gold ging in den Staatsschatz. Am dritten Tag eröffnete der Klang von Kriegstrompeten den Zug. Zuvorderst kamen 120 für das bevorstehende Opfer geschmückte Ochsen; davon konnte der Triumphator ein Opfermal für etwa 60 000 Bürger ausrichten. Dann trug man 77 Gefäße mit je drei Talenten geprägten Goldes vorüber (das entsprach 18 Mio. Denaren). Eine Schale aus zehn Talenten Gold folgte. Anschließend war das Tafelgeschirr von König Perseus zu sehen. Darauf folgte der Wagen des Königs mit seinen Waffen. Dahinter gingen die Kinder des gefangenen Königs, denen die römische Plebs lautes Mitleid entgegenbrachte. Ihnen folgte der verstörte König selbst. Hinter ihm wurden 400 goldene Kränze vorbeigetragen, welche die griechischen Städte dem siegreichen Feldherrn als Siegespreise überreicht hatten. Dann endlich erschien der Triumphator. Vor ihm schritten Senatoren und nahe Verwandte, die sich an der porta triumphalis in den Zug eingereiht hatten. Vor seinem Wagen gingen seine Lictoren; um deren Rutenbündel wanden sich an diesem Tage Lorbeerzweige. Er stand auf einem Wagen, das Gesicht zinnoberrot gefärbt, in ein Kostüm gekleidet, das nur Triumphatoren tragen durften und auch nur am Tag des Triumphes, eine purpurrote Toga über einer palmenbestickten Tunika. Auf dem Kopf trug er einen Lorbeerkranz; später trugen Triumphatoren in der Hand ein Adlerszepter.5 Hinter ihm marschierte in Formation das siegreiche Heer, lorbeerbekränzt. Der Zug nahm eine vorgeschriebene Route durch den Circus Maximus über das Forum Romanum hinauf aufs Kapitol. Dort übergab 33
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
der Triumphator im Tempel des Jupiter Optimus Maximus seinen Lorbeer und den der Lictoren der Statue des Gottes; und er opferte ihm einen weißen Stier, jenes Votum einlösend, welches Feldherren in demselben Tempel zu machen pflegten, bevor sie ins Feld zogen. Größere Opfer schlossen sich an. Die Rückkehr des Imperators zur selben Stelle und die Erfüllung seines Gelöbnisses (nuncupatio voti) beendete den Feldzug auf der sakralen Ebene. Üblicherweise wurde zuvor der besiegte Gegner im carcer, dem Gefängnis, getötet. Doch Paullus ersparte Perseus dieses Ende. Der ehemalige König wurde in milde Privathaft genommen, wo er bald verstarb. Der Triumph erforderte einen enormen organisatorischen Aufwand: Für die Gespanne waren Zugtiere mit Lenkern vonnöten; mehrere Hundert Tragegestelle (fercula) kamen, vielleicht mehrmals hintereinander, zum Einsatz. Falls die Gespanne überhaupt die Steigung zum Kapitol bewältigten, konnten sie dort, auf engem Raum, unmöglich warten, bis der ganze Zug eintraf. Die Opferung von 120 Stieren verlangte einen sehr genauen Rhythmus von Tötung, Zerlegung, Verbrennung, Beseitigung der Abfälle; sie dauerte mindestens einen halben Tag.6 Der Triumph im Tableau der Prozessionen. Eine strukturale Analyse Die Prozession selbst – die pompa triumphalis – war für die zusehenden Bürger der wichtigste Bestandteil der gesamten Veranstaltung. Das ist nicht selbstverständlich. Die großen römischen Feiern enthielten meist eine pompa, eine Prozession; so eröffnete eine pompa circensis die ›Spiele‹ im Zirkus, und die pompa funebris geleitete den Verstorbenen zur Bestattung. Es gab noch eine andere Prozessionsart in Rom, nämlich die supplicationes; das waren Bitt- und Dankumzüge, zu denen der Senat bei außerordentlichen Anlässen aufrief. Von diesen unterschieden sich die drei großen pompae deutlich; sie bildeten zusammen ein Tableau, das sich nach den Prinzipien der strukturalen Semiotik darstellen lässt: Pompa funebris:
1) Ahnenbildnisse 2) Bahre mit 3) Trauernde dem Toten Pompa circensis: 1) Männliche 2) Auftretende 3) Götter Jugend und Musiker Pompa triumphalis: 1) Beute 2) Triumphator 3) Heer Die Zusammensetzung einer pompa war standardisiert. Die Sequenz der Segmente lässt sich als syntagmatische Kette, als Syntagma, lesen. Aus neun unterschiedlichen Segmenten ergaben sich drei syntagmati34
Rituelle Übereignung und politischer Konsens
sche, horizontale, Ketten und drei paradigmatische, senkrechte, Spalten. Um eine pompa semiotisch zu analysieren, hat man zuvorderst auf die Oppositionen zu achten, welche sich in dieser rituellen Klassematik ergeben.7 Zunächst zur syntagmatischen Anordnung: Die Abfolge der Segmente war unveränderbar. Die geringsten Variationen ließ die pompa funebris zu, die meisten die pompa circensis. Beim Leichenzug und beim Triumphzug fungierte jeweils das erste Segment als Indikator des Prestiges. Dieses erste Segment konnte der Veranstalter jedoch nur in begrenztem Maße verändern; denn in beiden Fällen stand die jeweilige Obergrenze fest: Eine trauernde Familie besaß eine präzise Anzahl von Ahnenbildnissen, und sie konnte in der Ahnenparade maximal alle davon vorweisen; desgleichen vermochte ein Triumphator nicht mehr Beute zu zeigen, als er tatsächlich gemacht hatte. Hingegen indizierte in der pompa circensis das zweite und das dritte Segment, wie sehr der Spielgeber sich anstrengte, Prestige zu erwerben; niemand limitierte seine Prachtentfaltung, es sei denn seine eigene finanzielle Situation.8 So boten diese drei Prozessionstypen drei unterschiedliche zeremonielle Ordnungen mit festgelegten Elementen, die teilweise auch im anderen Prozessionstyp auftauchten, teilweise aber nicht transferierbar waren. Die Römer nahmen die einzelnen Prozessionen als differente zeremonielle Begängnisse wahr, nicht nur optisch, sondern auch, weil völlig andere akustische Signale die jeweilige pompa begleiteten: das Geklirre der erbeuteten Waffen, der Klang der Kriegstrompeten und die jubelnden Zurufen der Bürger tauchten die Stadt in eine andere akustische Atmosphäre als die Flöten und Waffentänze der pompa circensis oder die Klagerufe und schaurigen Töne aus den schweren Blasinstrumenten beim Leichenbegängnis. Alle drei Prozessionen durchdrangen den städtischen Raum in konträren Richtungen: Die pompa triumphalis endete dort, wo die pompa circensis ihren Ausgangspunkt nahm, nämlich beim Kapitol; d. h. diese beiden Prozessionen bewegten sich somit gegensinnig. Während der Leichenzug und der Triumphzug die Stadtgrenze überschritten, verließ die pompa circensis nicht die Stadt, sondern führte zum Circus Maximus. Diese Gegensinnigkeit gabelte sich weiter auf in der Kontrastierung von hinein/hinaus: Die pompa triumphalis führte durch ein Tor in die Stadt hinein; die pompa funebris führte – nach der Versammlung der Ahnen auf dem Forum – aus der Stadt hinaus zum Grab. Bei ›Spielen‹ war die pompa circensis nicht das rituell wichtigste Element; da die maßgeblichen Inszenierungen im Circus stattfanden, also nach der pompa. Anders beim Leichenbegäng35
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
nis und beim Triumphzug; hier war die Bürgerschaft in die anschließenden Inszenierungen nur in geringem Maße einbezogen; deshalb waren die Prozessionen selbst der politische Höhepunkt der Festivität.9 Folglich besaß im jeweiligen rituellen Zusammenhang die pompa circensis die geringste politische Intensität. Daher wohl wird sie selten erwähnt; man scheint sie nicht für ein wichtiges politisches Ereignis gehalten zu haben. Diese Klassematik beansprucht nicht, dass die Struktur der Oppositionen selbst die Bedeutungen generiert hätte; aber ohne diese Struktur hätten sich spezifische Sinngehalte kaum so eindrücklich ritualisieren lassen. Politische Semasiologie ist daher auf elementare Semiotik angewiesen.10 Alle drei pompae differierten hinsichtlich ihrer memorialpraktischen Ausrichtung: Die pompa circensis rief ein – oft weit – zurückliegendes historisches Ereignis ins Gedächtnis, welches zur Stiftung der Spiele geführt hatte; in der Regel war dies ein innenpolitischer Anlass, welcher den Zusammenhalt der Gemeinschaft berührte. Die pompa triumphalis bezog sich auf einen rezenten Krieg, welcher die politische Gemeinschaft aktuell außenpolitisch tangierte; darin ähnelte sie den supplicationes, die hier außer Betracht bleiben. Die pompa funebris hingegen thematisierte kein Ereignis, sondern präsentierte eine diachrone Serie von Leistungen für die Res publica, wie unten zu sehen sein wird. Im Tableau der römischen Prozessionen gehörte jede pompa in ein doppeltes Register. Einerseits standen diese Prozessionen in einem differentiellen Verhältnis zueinander wie unterschiedliche syntagmatische Ketten. Anderseits stand jede pompa funebris in einem differentiellen Verhältnis zu allen anderen Leichenzügen, jede pompa triumphalis zu allen anderen Triumphzügen. An dieser Stelle kommen die paradigmatischen Spalten ins Blickfeld, denn sobald die konkreten Prozessionen miteinander wetteiferten, richtete sich die Wahrnehmung automatisch auf besonders signifikante Segmente. Diese waren meist gleichartig, daher vergleichbar; aber sie waren nicht gleichwertig: die einzelnen Inszenierungen wetteiferten durch signifikante Hervorhebungen und Steigerungen; jede pompa funebris konkurrierte mit anderen Leichenzügen und desgleichen jeder Triumphzug mit anderen Triumphzügen. Diese differentiellen Segmente waren die Ahnenserie bei der pompa funebris und die Parade der Beute bei der pompa triumphalis. Jede Ahnenserie bezog sich auf alle anderen Serien, jeder Beutezug auf alle anderen, die noch im Gedächtnis der Zuschauer waren. In diesem semiotischen Arrangement fügt sich das Segment ›Beute‹ all jener Triumphzüge in eine paradigmatische Reihe ein, innerhalb derer es 36
Rituelle Übereignung und politischer Konsens
vergleichbar war und ›gemessen‹ wurde. Ein vielkomponentiges System von Verweisungen gestattete, jeden besonderen Triumphzug als ein Ensemble von Zeichen aufzufassen, welchem ein sehr genauer Platz im kulturellen Ganzen zukam. Wie die einzelnen Elemente des Triumphzuges einer politischen Semiotik gehorchten, also Botschaften transportierten, so hob die Anordnung der Segmente Bedeutungen hervor – visuell, akustisch oder durch die Zeitdauer. Die gemeinschaftsbezogene Semantik erschloss sich entlang von Oppositionen: sakral – profan, Krieg – Kriegsende, Anstrengung – Sieg, Verlust – Gewinn, Ausrücken – Heimkehr. Wenn Zeichenträger fehlten, dann hatte dies etwas zu bedeuten: Als im Jahre 189 v. Chr. Acilius Glabrio seinen Sieg in der Schlacht bei den Thermopylen über König Antiochos III . mit einem Triumph feierte, fehlte ein komplettes Segment im Triumphzug, denn hinter dem Wagen des Triumphators zog das siegreiche Heer nicht in Rom ein, weil Lucius Scipio es übernommen hatte, um den Krieg weiterzuführen. Zwar beteuert Livius, der Triumph sei großartig gewesen, und zählt die Beutestücke auf. Doch jeder zusehende Römer nahm war, dass dieser Triumph keine Heimkehr inszenierte; das Ritual führte allen vor Augen, dass der Sieg des Triumphators den Krieg nicht beendet hatte.11 Da der Zug 167 v. Chr. mehrere Tage dauerte, konnte man die symbolische Wichtigkeit auch zeitlich rhythmisieren: Was am ersten Tag an der hauptstädtischen Bürgerschaft vorbeigetragen wurde, wurde am zweiten überboten, und der dritte brachte den Höhepunkt. Daraus folgt: Den griechischen Kunstwerken kam nur ein geringer politischer Symbolwert zu; sie waren in der Sequenz der Segmente zeitlich am weitesten vom Höhepunkt des Rituals entfernt. Die syntagmatische Anordnung reihte die einzelnen Elemente nach Wichtigkeit auf. Dabei hatte nicht der sakrale Wert den Vorrang, sondern der politische. Was den Göttern zu weihen war, wurde nicht als kompaktes Segment am ersten Tag vorgezeigt; so waren die Waffen der Feinde zwar die symbolisch wichtigsten Weihungen an die Götter, doch sie waren erst am zweiten Tag zu sehen. Nichts von diesen riesigen Mengen an Waffen wurde verbrannt; denn die große Waffenverbrennung für die römischen Gottheiten (für Mars, Minerva und Lua Mater) hatte schon stattgefunden, in Amphipolis bei jener seltsamen Feier, als der siegreiche Feldherr mit der römischen Senatskommission ihre Urteile über alle im Kriege involvierten Städte und Bündnisse verkündete. Die im Triumphzug mitgeführten Waffen gingen allesamt an Tempel Roms oder bestimmter italischer Städte, um dort die Friese zu schmücken oder die Vorhallen zu füllen. 37
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
Es ist unklar, ob die Kunstwerke, welche am ersten Tag gezeigt wurden, alle den Göttern geweiht wurden. Falls der Feldherr verfügte, dass einige Statuen nicht als Weihungen in Tempel gingen, sondern auf öffentlichen Plätzen italischer Städte aufzustellen waren, dann war die Abfolge der Elemente im Segment ›Beute‹ nicht nach der Differenz sakral/profan geordnet; denn die Serie der zu weihenden Elemente war dann durchmischt mit Gegenständen, die im Profanen verblieben. Somit war der gesamte Zug nach politischer Wichtigkeit geordnet: Zuerst jene Kunstwerke; sie taugten sowohl zu Weihungen als auch dazu, im urbanen Raum als dekorative Denkmäler mit memorialer Funktion zu stehen und stets an das historische Ereignis zu erinnern. Dann kamen die Waffen als sichtbares Zeichen, dass der Feind entwaffnet, der Friede und die römische Oberhoheit dauerhaft waren. Anschließend kamen die ausmünzbaren Edelmetalle für den Staatsschatz, die augenfällig bewiesen, dass es sich lohnte, immer wieder Opferbereitschaft für das römische Gemeinwesen aufzubringen. Dann kamen selektierte Gefangene als sichtbare Zeugen dafür, dass der Ausgang des Krieges gerecht war und diejenigen strafte, die ihn verschuldet hatten. Dann erschien der Triumphator mit dem römischen Heer, das in die Heimat zurückkehrte, die zu verteidigen es ausgezogen war. Das Ritual bestand aus einer gigantischen Agglomeration von visuellen Zeichen, die Krieg und Sieg evozierten, auf standardisierte Weise den geübten Augen der römischen Bürger dargeboten. Wenn man noch die Schlachtengemälde hinzurechnet, die seit diesem Triumph 167 v. Chr. in wachsendem Umfang die Triumphe schmückten, dann wirkte das Ritual wie eine Schauschlacht, ausgedehnt zu einer »Orgie anschaulicher und konsumierbarer Gewalt«12 – als eine enorme Vergegenwärtigung durch Visualisierungen. Was das Ritual verbirgt Der Triumphzug legte offen, welche Reichtümer in die Tempel oder in die Staatskasse wanderten: Das in der pompa mitgeführte gemünzte Geld betrug 30 Mio. Denare; jene Silber- und Goldgegenstände, die Paullus nicht in die Tempel weihte, sondern an die Staatskasse aushändigte, wurden eingeschmolzen, so dass das deponierte Barvermögen des römischen Staates insgesamt um 75 Mio. Denare zunahm. Zudem bezog Rom fortan jährlich 100 Talente an Tributen aus Makedonien (d. h. 0,6 Mio. Denare). Seit diesem Jahr blieben in Italien sowohl die römischen Bürger als auch die Bundesgenossen frei von Kriegsbeiträgen, und das ungefähr 460 Jahre lang. Das Ritual zeigte somit eine Menge. Alles Zeigen ist freilich immer auch ein Nicht-Zeigen. Dieser 38
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semiotischen Schematisierung entgeht kein Ritual. Der besagte Triumphzug zeigte nicht, welche Reichtümer Aemilius Paullus nicht in die Staatskasse legte: 1. Hatte der Feldherr vor der Schlacht ein Votum abgelegt, also einer Gottheit versprochen, für sie Spiele abzuhalten, falls er siegen sollte, dann fanden die Spiele nach dem Triumph statt. Solche Spiele kosteten erhebliche Summen. Die dafür notwendigen Gelder hatte der Feldherr schon vor dem Triumph von der Beute abgesondert. 2. Ferner entnahm jeder römische Feldherr aus der Beute einen Anteil, den er seinen Offizieren, welche seine Freunde waren, schenkte. 3. Im Triumphzug waren diejenigen Waffen nicht zu sehen, die der Imperator für sich behielt, um damit die Frontseite seines Hauses zu schmücken. 4. Vor dem anschließenden Fest wies Aemilius Paullus dem Heer einen Beuteanteil zu: Die Fußsoldaten erhielten 100 Denare, die Zenturionen das Doppelte, die Reiter das Dreifache.13 Das war sehr großzügig. Dieses Donativ war im Triumphzug nicht mitgeführt worden. 5. Schließlich ist jener Anteil aus der Beute nicht zu vergessen, den der Triumphator für sich selbst abzweigte. Dieser Anteil ging direkt in sein Privatvermögen. Davon war im Triumphzug nichts zu sehen. Wechseln wir erneut den Gesichtspunkt und betrachten wir das Ritual in seiner Gesamtheit semasiologisch, also unter der Frage, welche Bedeutungen zugewiesen werden. Unter dem Aspekt der Reziprozität betrachtet, ergibt sich Folgendes: 1. Der Triumph choreographierte einen materiellen und einen symbolischen Tausch in gigantischem Ausmaß. Der Feldherr übergab der Res publica erstens einen stattlichen Beuteanteil, zweitens erlesene Gefangene und drittens das heimgekehrte römische Heer. Und was bekam er dafür? Die Senatoren und das Volk von Rom anerkannten auf zeremonielle Weise, dass das römische Heer unter den Auspizien des Triumphators gesiegt hatte. Noch mehr: Indem sie an den rituellen Vorgängen in ihrer Rolle als Zuschauer und Mitfeiernde teilnahmen, anerkannten sie, dass er, der Triumphator, den Sieg errungen hatte – einen Sieg für sie, für das Volk und den Senat. Das war nichts weniger als eine feierliche Übereignung des Sieges. Der Sieg gehörte fortan dem Triumphator; stets konnte er sich darauf berufen. Und vielleicht verfiel er irgendwann auf den Gedanken, dass der Sieg ihm ganz allein gehörte. 2. Sämtliche anderen Bürger, die mit ihm gekämpft hatten, wurden regelrecht symbolisch enteignet. Denn sie mochten noch so oft ihren Freunden und Nachkommen erzählen, wie sie einstmals unter sei39
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nem Kommando siegten. Doch dass sie gesiegt hatten, fand auf der Ebene der politischen Inszenierung keine Ausdrucksform. Sie wurden vergessen. Er aber blieb als Triumphator im offiziellen Gedächtnis Roms. Der Triumph choreographierte lauter semantische Bezüge auf die Anstrengung der Gemeinschaft, die Sieghaftigkeit des Feldherrn, die Opferbereitschaft der Truppen, den Fortbestand und das Gedeihen der römischen Ordnung. Die Inszenierung rief Erinnerungen an frühere Triumphe wach, forderte zu Vergleichen heraus und gewährleistete rituelle Wiederholbarkeit. Wie eine soziale Maschinerie erzeugte sie serienmäßig ›große Männer‹, die für immer als Triumphatoren in das kollektive Gedächtnis Roms eingingen. Beispielhaft dokumentiert dieses kollektive Ritual, wie der spontane Fetischismus des Sozialen sich vervielfacht und formt: ein soziales Produkt, nämlich ein Sieg der römischen Bürgerschaft, wandelte sich im Medium dieses Rituals um und erschien als Emanation einer individuellen, feldherrlichen Qualität; es wurde damit einer Person übereignet – in einer aufwendigen Zeremonie politischer Enteignung und semantischer Aneignung. Aber um welchen politischen Preis produzierte man diese so genannten großen Männer?
Wer hat wem dankbar zu sein? Die semantische Entwaffnung der Republik Treten wir einen Schritt zurück, um das Blickfeld makrohistorisch zu vergrößern. Der Hauptgrund für den Untergang der römischen Republik – so die althistorische opinio communis – war die anwachsende Unfähigkeit der Aristokratie, die so genannten großen Einzelnen zu kontrollieren und in den aristokratischen Konsens einzubinden. Die römische Republik ist zugrunde gegangen, weil die politischen Institutionen zusehends wehrloser wurden gegen die Konzentration riesiger Machtpotentiale in den Händen einzelner Nobiles. Stimmt das, dann berühren die Triumphe den Untergang der römischen Republik. Deutlicher: dann produzierten die Triumphe diejenigen historischen Akteure, welche die Republik zerstörten. Hier kreuzen sich Semasiologie und Sozialgeschichte. Denn sozialgeschichtlich gesehen konnten alle so genannten großen Einzelnen nur deshalb die anderen überragen, weil sie spezifische Ressourcen in einem überdimensionierten Ausmaß angehäuft hatten. In Rom ließen 40
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sich ökonomische Ressourcen mühelos in soziale Macht verwandeln; das Klientelsystem eignete sich dafür bestens. Wo aber machten römische Aristokraten ihre größten ökonomischen Gewinne? Nicht in der Landwirtschaft und nicht im Handel, sondern bei der Verwaltung von Provinzen und im Kriege. Die Kriegsbeute war erheblicher als die Gewinne, die ein Statthalter normalerweise aus seiner Provinz herauszog.14 Mit ihr erwarb der Feldherr schlagartig Reichtümer in einem solchen Umfang, dass andere Senatoren keine Chance hatten, durch eine allmähliche Optimierung ihrer landwirtschaftlichen Einkommen den Vorsprung aufzuholen.15 Aufholen konnte nur, wer ebenfalls die Gelegenheit erhielt, Kriege zu führen und in großem Stile Beute zu machen. Die inneradlige Konkurrenz fand zwar auf dem politischen Feld statt; doch spielte man dort fatalerweise mit hohen ökonomischen Einsätzen und um sehr hohe ökonomische Gewinne. Dass diese Gewinne wiederum investiert wurden, um die soziale und politische Macht zu vergrößern, änderte nichts daran, dass sie ökonomischer Natur waren und als solche akkumuliert wurden. Hier enthüllt die Semantik des Triumphes ihre verhängnisvolle Seite. Zwar gehörte alles, was ein Feldherr im Triumphzug mitführte, tatsächlich dem Staatsschatz, dem aerarium. Doch die Feldherrn pflegten die Beute aufzuteilen in vier Teile: einen Teil bekamen die Götter; einen zweiten Teil übergab der Feldherr der Res publica, d.h. dem aerarium; einen weiteren Teil gab er den Soldaten als Donativ; und einen letzten Teil behielt er für sich selbst. Niemand schrieb dem Feldherrn vor, wie hoch die jeweiligen Anteile zu sein hatten oder gemäß welchen Quoten die Beute aufgeteilt wurde. Darüber gab es weder Gesetz noch Vorschrift. Es stand also weitgehend im Belieben des Imperators, wie er die Beute auf die einzelnen Posten verteilte.16 Gab es ›Anstandsregeln‹, die dafür sorgten, dass die Imperatoren sich nicht allzu sehr bereicherten? Das wissen wir nicht. Falls es sie gab, waren sie leicht auszuhebeln; denn jeder Krieg war anders, die anfallende Beute war substantiell jedes Mal anders zusammengesetzt. Sogar wenn ›Anstandsregeln‹ funktioniert hätten: Die Kriegsbeute wurde immer größer, je öfter man im städtereichen hellenistischen Osten Krieg führte. Verschoben sich die Quoten, gemäß denen der Feldherr die Kriegsbeute auf die vier Standardposten verteilte, nur geringfügig, so brachte das dem Anteil des Imperators beträchtliche Zuwächse. Solange keine dazu befugte Kommission darüber wachte, war nicht einmal die Größe der anfallenden Beute zu kontrollieren. Denn seine senatorischen Offiziere beteiligte jeder Feldherr schon aus freundschaftlicher Rücksicht41
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nahme. Solange der Feldherr über die Beute verfügte, war nicht zu verhindern, dass jene Machtpotentiale anwuchsen, die das institutionelle Funktionieren der Republik irgendwann aushebelten. Familien, die häufiger einen Consul stellten als andere, vergrößerten demnach nicht nur ihren Vorsprung an symbolischem Kapital vor ihren Konkurrenten, indem sie vornehmere Ahnenmasken sammelten, sondern obendrein vermehrten sie rascher ihr Vermögen, dehnten folglich ihre Klientelen schneller aus und erhöhten dadurch überproportional ihre Chancen, bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls wieder einen Consul zu stellen. Diese Familien werden in der Forschung ›Nobilität‹ genannt. Diese Gruppe investierte einen hohen Anteil ihrer politisch bewirkten Vermögensgewinne wiederum in politische Karrieren – indem sie Spiele veranstaltete und Bauten stiftete –, trotzdem blieben ihr große Summen zur Verfügung, mit denen sie ihr immobiles Eigentum vergrößerte. Damit veränderte sie die Sozialstruktur der italischen Halbinsel wesentlich, denn sie trieb jene Landakkumulation voran, welche die Quote der freien, landbesitzenden Bauern in Italien so verhängnisvoll verminderte.17 Die Auswirkungen auf die senatorische Aristokratie mussten sich früher oder später zeigen: Wenn ein bestimmter Ausschnitt der aristokratischen Familien signifikant häufiger als andere große Vermögensgewinne machte, dann sprengte das die soziale Homogenität der gesamten Aristokratie. Aber nahmen die anderen dies auch so wahr? Und sahen sie die Grundlagen für das Funktionieren der Res publica gefährdet? Die Antwort kann nicht mehr eine bloß sozialgeschichtliche sein. Es geht um die kulturellen Dispositionen der römischen Aristokratie, die es ihr erschwerten oder gar verunmöglichten, sich gegen die Heranbildung dieser Machtpotentiale ausreichend zu wehren. Bis zum Zweiten Punischen Krieg scheint die Beute kein brisantes politisches Thema innerhalb der Aristokratie gewesen zu sein. Nach diesem Krieg erkannte ein Teil der Senatoren das Problem und versuchte, eine Lösung zu finden. Im Jahre 187 v. Chr. wurde Lucius Scipio angeklagt. Er war der jüngere Bruder jenes Publius Scipio Africanus, der Hannibal bezwungen hatte. Lucius hatte 190 v. Chr. als Consul das Oberkommando gegen König Antiochos III . innegehabt, den König bei Magnesia in Kleinasien entscheidend besiegt, ihm die Waffenstillstandsbedingungen diktiert und die Verhandlungen zum Abschluss eines Friedens (des 188 oder 187 abgeschlossenen Friedens von Apameia) eingeleitet. Lucius hatte seinen berühmten älteren Bruder als Legaten mitgenommen, dieser hatte an der Schlacht von Magnesia und an den anschließenden Verhandlungen teilgenommen. 42
Die semantische Entwaffnung der Republik
Zwar berichten einige antike Autoren, es habe zwei Prozesse gegen die Scipionen gegeben: einen gegen den berühmten Scipio Africanus, der im Sande verlaufen sei; und dann einen gegen seinen jüngeren Bruder Lucius.18 Doch wie Erich Gruen nachgewiesen hat, ist das eine Legende: Es gab einen einzigen Prozess; und dabei richtete sich die Hauptanklage gegen Lucius Scipio, der das Oberkommando innegehabt hatte. Denn Scipio Africanus hatte als Legat ohne eigenständiges Imperium unter den Auspizien des Consuls gedient. Er war nur Mitangeklagter; die Hauptklage richtete sich gegen Lucius. Allerdings trat Scipio Africanus vehement als Zeuge für seinen Bruder ein; so konnte im Nachhinein die Legende entstehen, er sei die Hauptperson des Prozesses gewesen.19 Die früheste, fragmentarische Nachricht darüber stammt von Polybios. Der berichtet von einem Auftritt des Scipio Africanus im Senat, als der Prozess gegen seinen Bruder politisch vorbereitet wurde oder bereits anlief:20 »Ein andermal, als jemand im Senat Rechenschaft von ihm forderte über das Geld, das er vor Abschluss des Vertrages von Antiochos zur Löhnung des Heeres erhalten hatte, erklärte er, er besitze zwar die Belege, habe es aber nicht nötig, jemandem darüber Rechenschaft zu geben. Als jener nicht lockerließ und die Herbeischaffung der Rechnungsbücher verlangte, bat er seinen Bruder, sie zu holen, und als dieser sie gebracht hatte, hielt er sie dem Senat hin und zerriss sie dann vor aller Augen: der Antragsteller solle sich die gewünschte Auskunft in den Fetzen suchen. Die anderen aber fragte er, wieso sie Rechenschaft verlangten über die dreitausend Talente, wie sie ausgegeben worden seien und durch wen, wegen der fünfzehntausend aber, die sie von Antiochos erhielten, nicht fragten, wie sie einkämen und durch wen, noch wie sie in den Besitz von Asien, Libyen und Iberien gelangt seien. Diese Worte machten einen tiefen Eindruck; alle waren beschämt, der Antragsteller schwieg stille.«
Scipio Africanus erlaubte sich demnach wuchtige Gesten im Senat. Wie haben wir sie zu deuten? Wollte er Beweismaterial vernichten? Oder wollte er mit einem spektakulären Akt dem Senat zeigen, dass die Forderung des Anklägers unerhört war? Das war sie ja in der Tat. Der Feldherr war bis dahin nicht rechenschaftspflichtig gewesen. Dass man plötzlich von seinem Bruder Rechenschaft forderte, fasste der Triumphator und Zensorier Publius Scipio Africanus als einen Affront auf, gegen den er seinen Bruder in Schutz nahm. Der Sieger über Hannibal verfolgte eine einfache Taktik: Er solidarisierte sich bedingungslos mit seinem Bruder und versuchte, sich selbst zum Angeklagten zu machen. Als Hauptangeklagter gedachte er sein enormes Prestige vor dem Volksgericht gegen 43
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
die Ankläger auszuspielen: gelang ihm das, dann neutralisierte er damit die Anklage gegen seinen Bruder. Die Legende, er sei der Hauptangeklagte des ersten Prozesses gewesen, entstand mithin, weil er sich als solcher aufspielte. Die demonstrative Geste nützte Scipio Africanus nichts, im Gegenteil. Im Senat war sein Bruder lediglich aufgefordert worden, Rechenschaft über die Gelder abzugeben, die Antiochos III . während der Dauer des Waffenstillstandes für den Unterhalt des römischen Heeres zahlte. Doch der Gesetzesantrag, den nun zwei Volkstribunen dem Volk zur Abstimmung vorlegten, war viel weitreichender; er sah vor, dass ein Praetor zu untersuchen habe, was mit denjenigen Geldern des Königs Antiochos passiert sei, die man erbeutet, weggeschafft und eingetrieben hatte, die aber nicht an die Staatskasse abgeliefert worden waren. M. Cato befürwortete den Antrag mit einer berühmt gewordenen Rede (»Über das Geld des Königs Antiochos«). Die Aristokratie war gespalten; zwei Volkstribunen drohten, die Abstimmung mit ihrer Interzession zu verhindern. Aber Cato – und mit ihm die römische Plebs – übte einen solchen Druck auf sie aus, dass sie ihre Interzession nicht aufrechterhielten. Darauf wurde der Antrag von allen 35 Tribus angenommen.21 Damit hatten die Scipionen eine massive politische Niederlage erlitten. Das Gesetz betraf nicht nur die Kosten des Waffenstillstandes, sondern sämtliche Einnahmen, die dem Feldherrn aus den Kriegshandlungen und den Verhandlungen zugeflossen waren. Der Antrag hob die Unterschiede zwischen den einzelnen Posten auf: egal, ob es sich um Kriegsbeute, Waffenstillstandskosten oder Kriegsentschädigungen handelte, es war Rechenschaft darüber abzulegen. Auf der Grundlage dieses Gesetzes begann der Prozess gegen Lucius Scipio, in welchem Scipio Africanus alle erdenklichen Mittel vor dem versammelten Volk aufbot, um seinen Bruder zu retten. Doch die Bürger sprachen Lucius schuldig und zwei seiner Legaten mit ihm. Die Taktik des Scipio Africanus scheiterte vollständig. Es gelang ihm zwar, die Bürgerschaft gegen den Ankläger einzunehmen. Doch das Volk unterschied unbeirrbar zwischen dem Mitangeklagten und dem angeklagten Imperator. Dass der große Africanus, welchem die Römer Achtung entgegenbrachten, sein Prestige vehement zugunsten seines Bruders in die Waagschale warf, stieß auf Sympathie; denn die Plebs sah darin eine Geste familialer, insbesondere brüderlicher Verbundenheit, und die kam gut an. Doch gegenüber Lucius übte das Volk keine Nachsicht. Freilich stellte jenes Gesetz keine generelle Regel auf, wer über die Beute verfügte und wer die Verfügung kontrollierte. Es sollte nur die44
Die semantische Entwaffnung der Republik
sen Fall regeln. Aber die Verurteilung, zu der es führte, konnte als Präzedenzfall dienen. Ob es dazu kam, hing davon ab, wie nachhaltig eine große Mehrheit der senatorischen Aristokratie wirklich wollte, dass die Kriegsbeute der Res publica gehören solle und nicht den Feldherren. Um diesen Willen war es übel bestellt. Warum? Blicken wir nochmals auf die Szene im Senat und nehmen wir jene spektakuläre Geste des älteren Scipio in Augenschein. Sie gibt uns Aufschluss über kognitive Schranken, welche römische Senatoren kaum übersteigen konnten, sobald es um die Kontrolle der Feldherren – und damit der Beute – ging. Auf den ersten Blick war die Geste des großen Africanus nur zu verständlich. Cato und seine Freunde versuchten seinen jüngeren Bruder als Sündenbock abzustrafen, damit man für die Zukunft ein Exempel hatte, wenn es um die Beute ging. Das wollte der ältere Scipio mit allen Mitteln verhindern. So zerriss er die Rechnungsbücher, um zu demonstrieren, dass der Ankläger etwas Unerhörtes forderte. Doch Scipio ließ es damit nicht auf sich beruhen. Er stellte eine Frage von höchster Brisanz. Indem er fragte, wer Spanien, Africa (gemeint ist das karthagische Kernland Tunesien) und Asien (gemeint ist Kleinasien) unterworfen habe, rechnete er diese Eroberungen bzw. Unterwerfungen den jeweiligen Imperatoren als individuelle Leistung zu. Er hatte Spanien erobert, er hatte Africa, d.h. Karthago, unterworfen; und sein Bruder hatte den seleukidischen König besiegt. Scipio Africanus behauptete schlicht und einfach, die riesige Summe, welche Rom von König Antiochos erhielt nach dessen Niederlage, sei eine Leistung seines angeklagten Bruders. Und wenn dem so war, dann verdankte Rom den Feldherren nicht nur die Beute, sondern auch die Herrschaft über die besiegten Völker. Deutlicher: Die direkte Herrschaft über Spanien, die indirekte Herrschaft über den nordafrikanischen Küstenstreifen und über Kleinasien verdankte Rom niemand anderem als den beiden Scipio-Brüdern. War es nicht lächerlich, von ihnen Rechenschaft zu fordern? Die expliziten Behauptungen in Scipios Frage wälzten die politischen Beziehungen innerhalb der Res publica um: Nicht der Imperator verdankte der Res publica alles, nämlich seine römische Erziehung, seine politische Karriere und nicht zuletzt den Umstand, dass er ein römisches Heer befehligte, d. h. ein Heer, das römisch sozialisiert war und normalerweise jedem Feldherrn einen außerordentlichen Gehorsam entgegenbrachte, ein Heer, bei dem der Feldherr sich zu bedanken pflegte, wenn die schwere Arbeit des Siegens vorüber war. Nein, umgekehrt: Die Res publica verdankte dem Feldherrn den Sieg und die Früchte des Sieges. Sie hatte dankbar zu sein, nicht er. 45
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
Wie konnte Scipio Africanus das im Ernst glauben? Dieser Glaube war nur möglich, weil die sozialen Inszenierungen ihn förderten. Scipio Africanus glaubte, was das höchste politische Ritual Roms anschaulich szenografierte: Der Triumph übereignete den Sieg dem Feldherrn; der Triumph enteignete gleichermaßen sämtliche anderen Akteure des Sieges. Die Frage Scipios ist daher von fundamentaler Bedeutung für diejenigen semantischen Operationen, mit denen die römische Kultur Leistungen zu- oder aberkannte. Polybios berichtet, die Senatoren hätten angesichts dieser Frage geschwiegen. Falls das zutrifft, dann weil sie überrascht waren: Noch nie hatte jemand den feldherrlichen Anspruch, den Sieg zu monopolisieren, so unverfroren aufgetischt; noch nie hatte jemand versucht, aus diesem Anspruch direktes politisches Kapital zu schlagen. Doch sie schwiegen auch, weil sie außerstande waren, diesem Anspruch mit Argumenten entgegenzutreten. Sie waren buchstäblich verstrickt in das soziale Netz selbstgesponnener politischer Bedeutungen. Sie waren unfähig zu antworten, weil ihre unausgesprochenen, impliziten Vorstellungen von der Rolle des Feldherrn in der Res publica sich deckten mit den expliziten Behauptungen, die der Frage Scipios ihre Wucht verliehen. Falls dieses Schweigen andauerte und falls die Senatoren sich nicht zu einer Erwiderung aufrafften, sei es im Senat, sei es vor dem Volk, war die römische Republik in diesem Augenblick des Jahres 187 v. Chr. in die semantische Agonie hinein geglitten. Denn sie hielt – auf der Ebene der politischen Bedeutungszuweisung – kein Mittel bereit, um die Unterordnung des Feldherrn unter die Res publica plausibel zu machen. Scipios Frage zielte direkt auf die Dankbarkeit. In der römischen Gesellschaft stiftete jede Gabe und jede Gefälligkeit eine soziale Beziehung, egal, wie intensiv diese war. Reziprozität wurde erwartet. Waren die Gaben und Gefälligkeiten der einen Seite überproportional höher als diejenigen der anderen Seite, wurde die soziale Beziehung sofort asymmetrisch. In Rom tendierten asymmetrische Beziehungen dazu, Herrschaftsbeziehungen zu werden. Unter dem Aspekt der Reziprozität gesehen, lässt sich das historische Dilemma folgendermaßen konturieren: Wenn es den Feldherren gelang, auf der symbolischen Ebene als die überlegenen Geber dazustehen, und wenn sie unangefochten beanspruchten, dass die gesamte Res publica ihnen zur Dankbarkeit verpflichtet war, dann hatten sie langfristig nicht nur die Beute gewonnen, sondern sie hatten eine politische Überlegenheit über die Res publica vorbereitet. Falls andere Scipio nachahmten, indem sie die ex46
Die semantische Entwaffnung der Republik
plizite Ideologie in der Choreographie des Triumphes wörtlich nahmen und diese Ideologie mit spiralförmig sich steigernden Anmaßungen gegen den Senat kehrten, dann konnten Triumphatoren dem römischen Staat ihren Willen aufzwingen, denn sie waren die überlegenen Geber, denen die Res publica Dankbarkeit zu erweisen hatte. Die Gemeinschaft verdankte ihnen mehr als sie der Gemeinschaft. Im römischen System sozialer Reziprozität hieß Dankbarkeit, verpflichtet zu sein – nötigenfalls zum Gehorsam. Die Triumphatoren waren dann der gesamten politischen Gemeinschaft überlegen. Genau diese Überlegenheit beanspruchte Roms erster Kaiser, Augustus, in seinem großen Tatenbericht, den Res gestae, und aus ihr leitete er seine Herrschaftsbefugnis ab.22 Spätere römische Kaiser folgten ihm darin. Scipios Anspruch sprengte – auf der Ebene der politischen Semantik – die Formen der Republik. Das war ihm nicht klar. Wenn freilich die Mitsenatoren nichts zu erwidern hatten, dann ging der römischen Republik damals der semantische Atem aus, 130 Jahre, bevor sie politisch zu Ende war. Das politische System funktionierte auch weiterhin. Aber die Funktionsweise musste sich verändern, wenn ein wichtiges Element – die Feldherren – immer weniger zu kontrollieren war. Zwar konnten sich die Machtpotentiale gegenseitig neutralisieren. Aber wenn das institutionelle Funktionieren des republikanischen Systems an solchen Neutralisierungen hing, dann war es nur eine Frage der Zeit, wann die Republik endete. Denn irgendwann waren riesige Machtpotentiale nicht mehr neutralisierbar. Die römische Aristokratie ging ihrem Schicksal wehrlos entgegen; denn sie hatte keine ›guten Gründe‹, keine durchgreifenden Diskurse zu ihrer Verfügung, mit deren Hilfe die geschlossene Senatorenschaft institutionelle Regeln schaffen und durchsetzen konnte, um die Heranbildung jener Machtpotentiale zu verhindern. Dieses Fazit ergibt sich, wenn man voraussetzt, dass die Senatoren im Jahre 187 v. Chr. tatsächlich aus dem selbstgesponnenen Gewebe ihrer politischen Bedeutungen nicht herausfanden, d. h. wenn man jenen viel zitierten Kulturbegriff von Clifford Geertz unterstellt und wenn man also das Geschehen wie eine Textur liest, die alle Akteure umfangen hielt. In Wirklichkeit war dem nicht so. Denn einzelne senatorische Gruppen kämpften darum, den Feldherrn – und vor allem die Beute – unter die Kontrolle der Res publica zu bringen. Und sie mussten selbstverständlich auf der Ebene der politischen Semantik um die moralische Hegemonie ihrer Argumente kämpfen. Weil wir aber wissen, dass sie diesen Kampf verloren, tendieren wir als Historiker dazu, den Senatoren eine fixe ›Mentalität‹ zuzurechnen, die 47
Individuelle Aneignung kollektiver Leistung
sie daran hinderte, auf die Gefahren zu reagieren, welche auf sie zukamen. Das ausweglose Netz selbstgesponnener Bedeutungen ist somit ein Konstrukt, das wir im Nachhinein – da wir um den Weitergang des historischen Prozesses wissen – den historischen Akteuren überstülpen.
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Speicher des symbolischen Kapitals
3. Die pompa funebris – das symbolische Kapital vorweisen
Das Atrium – Speicher des symbolischen Kapitals Drei Gliederungsprinzipien regelten den Vorrang innerhalb der Senatorenschaft: Rang, Seniorität, familiales Prestige. Die beiden ersten waren unstrittig; der Rang eines Adligen lag eindeutig fest, desgleichen die Seniorität. Die Seniorität der Konsulare war sogar für das ganze römische Volk am Kalender ablesbar, denn die Jahre wurden nach den beiden Consuln benannt. Aber wie vermochte man sich über das Prestige der Familie zu einigen? Dass patrizische Geschlechter – im politischen Raum – vornehmer waren als nichtpatrizische, war klar. Aber nach welchen Kriterien sollte man die sonstigen Prestige-Differenzen festlegen? Sie mussten kommensurabel sein, andernfalls drohte Kriterienkonkurrenz und mit ihr Konflikte. Die Aristokratie fand eine Lösung: Sie maß die akkumulierten Leistungen für die Res publica. Die Häuser vornehmer Römer besaßen einen Innenhof, Atrium genannt. Dieser Haustyp hat in der griechischen Architektur keine Vorbilder; er scheint genuin italisch zu sein und findet sich bei den Etruskern spätestens im 4. Jh. v. Chr., dürfte jedoch älter sein.1 Er erfüllte eine soziale Funktion, die wir ansonsten in der Mittelmeerwelt nicht kennen: Der Patron empfing ab den frühen Morgenstunden Klienten in seinem Haus; diese warteten im Atrium, bis sie an die Reihe kamen. Dort standen verschließbare Schreine, welche die Ahnenbilder des Geschlechts enthielten. Diese imagines waren ›realistisch‹ gestaltete Wachsmasken2 – mit sehr individuellen Zügen. Die römische imago ist – wie Harriet Flower betont – ein kulturell eigenes Phänomen, welches nicht ableitbar ist aus der griechischen Kunst; ihr Ursprung ist unbekannt; und sie bewahrte ihre Differenz zum Porträt griechischen Typs auch noch in der Kaiserzeit.3 Auf jedem Schrein befand sich eine Aufschrift, die den Namen, die Laufbahn und besondere Leistungen des Dargestellten verzeichnete – ob er es nur bis zum Aedil gebracht hatte, ob er Consul gewesen war, zweifacher Consul, Censor oder Triumphator. Solche konzisen Angaben über Laufbahn und Taten nannten die Römer titulus. Im Alltag 49
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
blieben die Schreine verschlossen; nur die tituli waren zu lesen.4 An familialen oder öffentlichen Festtagen öffneten die Familien ihre Schreine; nun waren die imagines zu sehen, und man schmückte sie.5 Im Alltag blieb der titulus der Signifikant des jeweiligen Ahnen; an den Festtagen nahm die imago diese Rolle ein. Eine imago zu betrachten war keine ästhetische Praxis, sondern eine zeremonielle, eingebettet in ein festliches Begängnis. Da die imago meist unsichtbar blieb, war ihr Anblick umso wirkungsvoller, zumal man sie genau an den Tagen zu sehen bekam, an denen die Familie oder die gesamte Res publica intensiver mit den Göttern kommunizierte. Diese zeitliche Akzentuierung erhob die imagines zu Referenzpunkten sozialer Vergewisserung einer familialen Gruppierung, welche, einer harten Konkurrenz ausgesetzt, im Medium genealogischer Rückbesinnung ihre Identität suchte. Im Atrium fanden sich also die erfolgreichen Ahnen einer Familie versammelt. Die Klienten, die morgens zur salutatio ihres Patrons erschienen, konnten bequem, während sie auf die Audienz warteten, die Ahnenserie ihres Patrons auswendig lernen; freilich hatten dabei einige mehr zu tun als andere: War der Patron ein homo novus – also ohne senatorische Vorfahren –, dann stand im Atrium kein einziger Schrein (zu den Ausnahmen später); war er hingegen ein Valerier oder Cornelier, ein Fabier oder Claudier, dann war das Atrium voller imagines. Auf einer großen Tafel am Eingang waren alle diese Ahnen in chronologischer Ordnung abgebildet; sie waren mit Linien untereinander verbunden, welche die Abfolge der Generationen angaben. Die Tafel zeigte also ein Stemma, einen komplexen Stammbaum, in welchem die ältesten Ahnen oben platziert waren, die jüngsten unten. Solche Stemmata waren in Hellas unbekannt; es ist nicht klar, wann sie aufkamen.6 Die Tafel war eine didaktische Hilfe: Die Besucher lasen auf ihr ab, welchen chronologischen und genealogischen Platz ein bestimmter Schrein mit seiner Maske einnahm.7 Das Stemma strukturierte das in Schreinen gespeicherte Maskenarchiv der Familie.8 Das Atrium war in Rom kein privater Raum, sondern ein öffentlicher; denn es stand allmorgendlich der Klientel offen. Die Schreine mit den Ahnenmasken und das Ahnen-Stemma waren daher Medien zur öffentlichen Demonstration des Status eines Adligen. Die Masken hingegen dienten vor allem dazu, die Ahnen regelrecht auftreten zu lassen. Wie das geschah, darüber berichtet uns der Historiograph Polybios als Augenzeuge aus der Zeit um 160 v. Chr.
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Das Fest des symbolischen Kapitals
Das Fest des symbolischen Kapitals: Die pompa funebris Die Parade der Ahnen – eine semiotische Analyse Als Nichtrömer hatte Polybios diejenige ›ethnologische Distanz‹, welche man braucht, um Sonderbares und Denkwürdiges zu bemerken, und als gebildeter Grieche verfügte er über die kognitiven Fertigkeiten, das Gesehene mit einem ziemlich präzisen Vokabular zu klassifizieren: »Bei öffentlichen Festen öffnen sie die Schreine und schmücken die Bilder mit Sorgfalt, und wenn ein angesehener Verwandter stirbt, nehmen sie sie im Trauerzug mit, indem sie sie Leuten aufsetzen, die den Toten an Größe und Erscheinung möglichst ähnlich sehen. Diese ziehen die entsprechenden Gewänder an, wenn der Verstorbene Consul oder Praetor war, eine Toga mit Purpursaum, wenn er Zensor war, eine Toga ganz aus Purpur, wenn er aber sogar einen Triumph gefeiert oder dergleichen vollbracht hatte, eine goldbestickte Toga. Sie fahren alle auf Wagen, vorangetragen aber werden ihnen Rutenbündel, Beile und die übrigen Amts-Insignien, je nachdem worauf ein jeder zu Lebzeiten in Staatsämtern Anspruch hatte. Wenn sie aber bei den Rostra angelangt sind, nehmen sie alle in einer Reihe auf kurulischen Stühlen Platz. Es gibt schwerlich ein schöneres Beispiel für einen jungen Mann, der sich für den Ruhm und das Gute begeistert. Denn die Bilder der wegen ihrer Trefflichkeit hochgerühmten Männer dort alle versammelt zu sehen, wie wenn sie noch lebten und beseelt wären, wen soll das nicht beeindrucken? Welcher Anblick könnte schöner sein als dieser? – Übrigens, wenn der Redner mit dem Lob des Mannes, der begraben werden soll, fertig ist, spricht er von den übrigen Toten, die anwesend sind, indem er bei dem Ältesten anfängt, und nennt ihre Erfolge und Taten. Da so der Ruf der Trefflichkeit tüchtiger Männer stets erneuert wird, ist der Ruhm derer, die eine edle Tat vollbracht haben, unsterblich, zugleich aber wird der Ruhm derer, die dem Vaterland gute Dienste geleistet haben, der Menge bekannt und den Nachkommen weitergegeben. Was aber das wichtigste ist, die jungen Männer werden dazu angespornt, für das Allgemeinwohl alles zu ertragen, um nämlich ebenfalls des Ruhmes, der verdienten Männern folgt, teilhaftig zu werden.«9
Das ist eine in der gesamten Antike einzigartige Praxis. Die senatorischen Familien choreographierten ihr Prestige in einem sehr aufwendigen und kostspieligen Ritual, indem sie vor den Augen der neugierigen und ehrfürchtigen Bürgerschaft ihre Ahnen vorbeidefilieren ließen. Der Forschung ist nicht entgangen, dass es sich hierbei um ein wichtiges Ereignis handelt; sie hat sich aber schwer getan, es zu gewichten. 51
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
Karl Schneider hat gemeint, die vorrangige Funktion der imagines gehöre auf die Seite des Ahnenkultes: »Die Ahnenbilder sollten ihre Geschlechtsgenossen auf dem letzten Gange begleiten; dies war der erste und vornehmste Zweck der imagines. Das Bilden der Ahnengalerie kam erst in zweiter Linie.«10 Doch dann hätten alle römischen Familien in der pompa funebris auch Ahnen mitführen müssen; denn alle Familien pflegten Ahnenkult. Indes, nur bei den Leichenzügen der Aristokratie erschienen imagines. Schneiders These wäre nur dann sinnvoll, wenn in Rom zwei verschiedene Arten von Ahnenkult existierten, einer für den Adel, einer für das Volk. Alles spricht dagegen. Die heutige Forschung hält dafür – wie Polybios –, dass die Parade der Ahnen dazu diente, den Ruhm der Familie zu bezeugen.11 Um dies aufzuweisen, ist eine Ritualanalyse notwendig. Aber erst ein konzeptuelles Instrumentarium, das ethnologisch angereichert und soziologisch präzisiert ist, hat erlaubt, die pompa funebris als semiotischen Vorgang und als politisches Ritual zu untersuchen.12 Die Römer scheinen die pompa funebris von den Etruskern übernommen zu haben; sie brauchten die Elemente lediglich gemäß den eigenen politischen Formen zu kombinieren. Wahrscheinlich gewann das Ritual seine endgültige Form, als der römische Adel im 4. Jh. seine feste soziale Kontur annahm. Leider fehlen uns bisher bildliche Darstellungen der adligen pompa funebris aus der römischen Republik.13 Eine semiotische Analyse muss daher den obigen Text von Polybios zur Grundlage nehmen: 1. Die Prozession der Ahnen im Leichenzug14 (agmen imaginum) stellte keine biologische Kette dar. Von den biologischen Vorfahren gelangten viele nicht zur kurulischen Aedilität15 und bekamen keine imagines. Eine Untersuchung des Scipionen-Grabes hat ergeben, dass beinahe alle Familienmitglieder des dritten und zweiten Jahrhunderts in diesem Grab Aufnahme fanden. Doch nur die Hälfte von ihnen taucht in den Verzeichnissen der Amtsträger auf.16 Die Scipionen gehörten zum erfolgreichsten Zweig der sehr vornehmen gens der Cornelier. Wenn sogar in dieser Familie jeder zweite Mann es nicht zu einer Ahnenmaske brachte, dann waren die Erfolgsaussichten bei den meisten anderen Familien der römischen Aristokratie erheblich schlechter. 2. Die Ahnenreihe visualisierte die politische Hierarchie. Die Ränge und der Status der Ahnen gaben sich genau zu erkennen – an Amtstracht und abgestufter Anzahl der Lictoren, die jeden Ahnen begleiteten. Über den bloßen Konsularen standen die Censoren; und die Triumphatoren überragten alle anderen. Solange eine Familie Leichenbegängnisse veranstaltete und ihre Ahnen vorbeidefilieren ließ, klaffte zwi52
Das Fest des symbolischen Kapitals
schen den einzelnen Vorfahren ein irreversibler Abstand: Für immer war der eine nur Praetor, der andere für immer Censor. Der hierarchische Aufbau war nicht nur im Diesseits gültig und notwendig; die Hierarchie galt über den Tod hinaus und ordnete die erinnerungswürdigen Toten. 3. Mit dem Tod war die Diskontinuität in die Familie eingebrochen. Dagegen beschwor das Ritual die familiale Kontinuität. Jeder Tod schlägt eine Lücke in einen Personenkreis, welcher sich nun neu strukturieren muss; insofern löst er immer eine Krise aus; und jede Kultur bewältigt diese anders. Im modernen Mitteleuropa besteht eine Prozession beim Leichenbegängnis aus Lebenden, die dem Toten die letzte Ehre erweisen und so von ihm Abschied nehmen; das Trauerritual inszeniert die Trennung. In Rom hingegen bestand die Prozession zuvorderst aus den erinnerungswürdigen Vorfahren, die den Verstorbenen abholten, um ihm das Geleit zu geben auf dem Weg zu ihnen. Je nachdem, ob eine Frau oder ein Senator verstorben war, bedeutete diese Heimholung etwas anderes: Eine Aristokratin konnte, da sie nicht amtfähig war, niemals eine Maske erhalten; die Vorfahren bekundeten mit ihrem Geleit die hohe Stellung der Verstorbenen. Einen verstorbenen Senator hingegen geleiteten die Vorfahren zu seinem neuen Platz in der Ahnenserie des Geschlechts.17 Nicht Trost war das Remedium, um die Krise zu bewältigen,18 sondern die manifestierte Kraft der Ordnung, sich über den Tod des einzelnen hinweg zu perpetuieren. Die Ahnen bestätigten die Gültigkeit der Ordnung; sie demonstrierten, wie integrationsfähig diese Ordnung war, indem sie deren zeitliche Verlängerbarkeit eindrucksvoll vor Augen führten. Allerdings nahmen sie den Verstorbenen nicht in ihre Mitte, sondern sie wiesen ihm seinen Platz ganz hinten an: Seine Bahre trennte die nachfolgende Prozession der Lebenden von den vorangehenden Vorfahren. Dieser Platz blieb hinfort immer derselbe: Die chronologische Wertigkeit dieses Platzes verschob sich in dem Maße, wie sich später Verstorbene hinter ihm einreihten; doch das relative Verhältnis dieses Platzes zu allen Vorfahren blieb absolut unveränderlich. 4. Wie die Prozession erfolgreiche Ahnen vorzeigte, so verwies sie auf jene Vorfahren, die nicht vorzeigbar waren, weil sie erfolglos geblieben waren. Junge Adlige wussten, dass nur ein Teil der Vorfahren vorbeidefilierte, dass eine stattliche Quote von Männern es nicht bis zu einem kurulischen Amt geschafft hatte und in der Vergessenheit versunken war. Diese Absonderung der unvergessenen Vorfahren von den vergessenen stellte eine Warnung dar. Sie schärfte allen zusehenden Römern ein, dass nur Leistungen für die Res publica Nachruhm ein53
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
brachten und das Anrecht auf ein politisch repräsentierbares individuelles Bildnis verschafften. Sie erinnerte daran, dass man sich abmühen und anstrengen musste, um ins Inventar der maiores zu gelangen. Nicht selten haben römische Adelsfamilien auch zur Bestattung von weiblichen Familienangehörigen eine pompa funebris zum Forum veranstaltet, obwohl diese kein qualifizierendes Amt bekleideten. Die Familie nahm auch solche Trauerfälle zum Anlass, um – so oft es ging – ihr politisches Prestige zu demonstrieren. Indes, es fehlt jeder Hinweis, dass auch erfolglose Adlige – also solche, die es nicht bis zu einem kurulischen Amt gebracht hatten – mit einem agmen imaginum, also einer Ahnenprozession, geehrt wurden;19 sie wurden demnach nur im familialen Rahmen beigesetzt. Dieser Kontrast verdeutlicht, wie rigoros man sie aus dem politischen Gedächtnis eliminierte. 5. Die vorbeidefilierenden Ahnen waren Vorbilder für die Familienangehörigen, wie Maurizio Bettini formuliert: »Die im Leichenzug mitgeführten imagines stellen die explizite Inkarnation der Verhaltensregeln dar, die von den Nachfahren gefordert werden.«20 Falls man die Leistungen der Ahnen weder übertreffen noch erreichen konnte, so sollte man mindestens bis zur Praetur gelangen. Mit diesem Minimum mussten sich viele Söhne sehr erfolgreicher Adliger begnügen. Sie konnten sich dann rühmen, wenigstens den Taten des Vaters nachgestrebt und der Familie keine Schande gemacht zu haben.21 Somit gaben die erfolgreichsten maiores eine Hohlform ab, die von den Nachfahren auszufüllen war.22 Je erfolgreicher eine Familie war und je mehr ihrer Mitglieder in höhere Ämter aufstiegen und je länger die Serie der Ahnenbilder wurde, desto mehr verstärkte sich der Druck auf die Nachgeborenen einer solchen Familie. Denn lange Ahnenserien enthielten eine ansehnliche Menge von Censoren und Triumphatoren, deren Zahl von Generation zu Generation wuchs. Ein junger Valerier oder Claudier war besessen davon, es auch so weit zu bringen wie die vielen Koryphäen seiner Familie. 6. Das Prestige eines Adelsgeschlechtes, einer gens, war ablesbar an der pompa funebris. Man brauchte bloß zu zählen: zwei Triumphatoren, fünf Censoren, sieben zweifache Consuln, zwölf einfache Consuln, 20 Praetoren – wenn eine gens diese Zahlen ins Feld führte, dann signalisierte sie, dass sie weit vorne lag im unaufhörlichen Kampf um familiales Prestige. Allerdings registrierte das mitzählende römische Volk den Rückstand zu den ganz großen gentes, zu den Valeriern, Corneliern, Fabiern, Claudiern und Aemiliern. Nun ist bei einem rangklassenmäßig stratifizierten Adel das Abzählen schwierig; ein Triumphator könnte mehrere Consuln ›aufgewogen‹ haben. Wahrscheinlich war zu54
Das Fest des symbolischen Kapitals
nächst die Anzahl der Triumphatoren, dann die der Censoren maßgeblich. Einige Triumphatoren mögen die anderen an Prestige weit übertroffen haben. Aber das Ritual homogenisierte diese Ungleichheit, genau wie das Rangsystem die Leistungsdifferenzen zwar nicht einebnete, aber doch kommensurabel machte. Die einzelne Familie hatte nicht oft Gelegenheit, ein Leichenbegängnis zu veranstalten. Trotzdem fanden Leichenbegängnisse mit Prozession der Ahnenbilder in Rom unablässig statt, weil es in der Gesamtheit der vornehmen Familien während eines Jahres genügend Todesfälle gab. Jede Ahnenserie, die bei einem solchen Anlass vorbeidefilierte, konkurrierte jedoch mit sämtlichen abwesenden Serien.23 Somit aktualisierte die jeweilige Prozession stets die Signifikanz der anderen Serien. Die Opfer der Konkurrenz oder: Zwei Register der Toten Untersucht man das Ritual auf die soziale Wertigkeit seiner Zeichen im Rahmen der römischen Adelskultur, eröffnen sich Einsichten hinsichtlich der Differenz zwischen dem Totenkult und der rituellen Demonstration des eigenen symbolischen Kapitals. Die Distanz zwischen diesen beiden kulturellen Sphären lässt sich nun präziser fassen: 1. Die Ahnenserie im Leichenzug war kein vollständiges Inventar der biologischen Ahnen, sondern eine Minderheit der biologischen Vorfahren, ausgewählt nach Kriterien, die für alle senatorischen Familien galten. Demnach erhielten die Ahnen ohne Masken auch keinen Schrein im Atrium. Die erfolglosen Vorfahren schieden aus der politischen Erinnerung aus; sie hörten ganz einfach auf, öffentlich zu existieren. Allerdings behielten sie ihren Platz im familialen Ahnenkult, falls sie Kinder hinterließen; dort blieben sie mindestens drei Generationen lang dei parentes, um danach aus dem Kreis der individuell benamten Ahnen auszuscheiden und in der Namenlosigkeit der Ahnen insgesamt aufzugehen.24 Viele Familien befolgten einen strengeren Erinnerungsmodus und bewahrten die Kette der parentes namentlich bis zum sechsten Ahn. Wenn in Komödien des Plautus Prahlhänse ihren Stammbaum bis zum sechsten Vorfahr hersagten, dann bezogen sie sich auf diesen Ahnenkult traditionsbewusster nichtadliger Familien. Das Publikum erkannte daran, dass die Prahler die beiden Register vermengten, weil sie über ein Register politisch relevanter Ahnen – also adliges Ahnenkapital – gar nicht verfügten.25 Wenn die Römer von ihren Vorfahren sprachen und sie maiores nannten, dann ist der Kontext zu beachten: Die maiores verteilten sich auf zwei unterschiedliche Register; im politischen Raum zählten nicht sämtliche Vorfahren überhaupt als maiores; maiores waren hier ausschließlich diejenigen Vorfah55
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
ren, die ihren Platz in der familialen und politischen Erinnerung erhalten hatten. 2. Folglich stellten Grab und Atrium einander semantisch entgegengesetzte kulturelle Sphären dar, weil ein erheblicher Teil der Ahnen zwar im Grab Platz fand, doch aus dem Atrium ausgeschlossen blieb. Zwei unterschiedliche Typen familialer Kommemoration sind auseinander zu halten: Die eine gehört zum Ahnenkult und ist eine innerfamiliale Angelegenheit; die andere gehört auf die Ebene des Kampfes um Prestige und ist eine Angelegenheit aller adligen Familien, ja der ganzen Res publica. Folgerichtig gehört die imago nicht auf die Seite der Toten, sondern der Lebenden, obwohl sie einen Verstorbenen abbildet: denn die imago wird im Haus aufbewahrt, ihr Schrein wird an den Festtagen geöffnet und sie spielt keine Rolle bei den parentalia und den feralia, d. h. bei den Hauptfesten des Totenkultes.26 3. Wenn die Erfolglosen keinen Schrein im Atrium erhielten, dann waren sie auch nicht im Stemma enthalten, das auf der Innenseite des Atriums angebracht war. Es ist folglich untunlich, das Stemma im Atrium mit der Tafel der parentes zu parallelisieren – d. h. mit der Tafel jener drei Generationen von Vorfahren, die ein Anrecht auf kultische Verehrung hatten: denn parentes waren die biologischen Vorfahren, gleichgültig wie erfolgreich sie politisch waren oder nicht, ob sie Frauen waren oder nicht; und sie blieben es, bis von ›unten‹ eine neue Generation nachrückte und ›oben‹ die Ahnen des dritten Grades ausschieden (sie wurden dann mit den maiores identisch). Diese Tafel der parentes ist also – vom familialen Gesichtspunkt her gesehen – vollständig, auch wenn die ›oberen‹ Namen im Rhythmus der Generationen verschwinden. Ganz anders das Stemma auf der Tafel an der Innenseite des Atriums: Keinesfalls versucht es, wie Maurizio Bettini meint, »alle Mitglieder der stirps zu bewahren«,27 sondern es bewahrt im Gegenteil nur die politisch erfolgreichen Ahnen. Das verhilft uns zu einer Neubestimmung der Lücken in jenen Stemmata, welche die Ahnen verzeichneten. Maurizio Bettini hat diese Unvollständigkeit mit dem »generativen Gedächtnis« sozialer Gruppen erklärt, d. h. mit den manipulatorischen Eingriffen der Familien: »Das mentiri imagines (imagines fälschen) ist gewissermaßen dem genealogischen Habitus wesensgleich … Die Stemmata und Genealogien gehören, wenn man das so sagen kann, zur Ordnung des Diskurses … Es geht nicht so sehr darum, die nackte und objektive genealogische Struktur einer Familie mitzuteilen, als vielmehr durch sie jenem abstrakten, kaum greifbaren, aber immer entscheidenden Phänomen des Familienansehens Ausdruck zu geben. Da das Familienansehen aber ein so56
Das Fest des symbolischen Kapitals
zialer Wert par excellence ist und damit ein eminent relationaler Wert, muss das privilegierte Symbol, das genealogische Stemma wandelbar sein …«28 Auf solche Weise lassen sich illegitime Hinzufügungen im Stemma erklären, aber eben nicht die Lücken. Bettinis Opposition von ›objektiver genealogischer Struktur‹ und ›kaum greifbarem Familienansehen‹ trifft den soziologischen Sachverhalt nicht. Denn die Ahnenparade brachte das ›Familienansehen‹ in eine kommensurable, ja quantifizierbare Darstellung und zeigte ein fixes, abzählbares symbolisches Kapital. Seinen relationalen Wert erhielt dieses symbolische Kapital freilich dadurch, dass es auf das symbolische Kapital anderer Senatorenfamilien bezogen war. Doch es war deswegen nicht substantiell wandelbar. Gewiss, weder im Stemma noch in der Ahnenparade fanden sich sämtliche biologische Vorfahren. Aber diese Divergenz hatte einen anderen Grund als Bettini annimmt: Nur ein Teil der Ahnen erreichte ein kurulisches Amt und erlangte damit eine imago. Die ›Unvollständigkeit‹ der Ahnentafel im Atrium war das Ergebnis politischer Selektionsprozesse beim Kampf um die knappen Ämter. Und über diese Selektionsprozesse hatten die einzelnen Familien keine Kontrolle.29 Das Stemma im Atrium war also kein Familien-Stammbaum der Art, wie europäische Adelsgeschlechter seit dem Spätmittelalter sie besaßen. Harriet Flower beachtet den Unterschied nicht und glaubt, das Stemma habe auch Frauen enthalten. Doch es enthielt exakt die maximale Menge derjenigen Ahnen, die im agmen imaginum einherschritten. Auf dieselbe Weise, wie in ihm die erfolglosen männlichen Vorfahren fehlten, blieben auch die Frauen ausgespart. Da es kein Verzeichnis aller Ahnen darstellte, bildete es meist keine direkte Abstammung ab, denn die Verbindungslinien ignorierten die erfolglosen Ahnen. Visualisierung und verbaler Kommentar Die semiotische Analyse des römischen Rituals führt zu zwei weiteren Schlussfolgerungen. Zum einen ist deutlich geworden, dass das Leichenbegängnis keineswegs der Verherrlichung des Toten dient, sondern dazu, das Prestige der Familie vor Augen zu führen.30 Nun sind Totenfeiern grundsätzlich Inszenierungen von sozialen Gruppen; sie dienen zuvorderst dem Gruppenzusammenhalt, das rituelle Gedenken an den Toten ist stets sozial instrumentalisiert. Die römische Kultur instrumentalisierte die Toten mit ungehemmter Ausdrücklichkeit. Die zweite Schlussfolgerung betrifft die einzelnen Segmente des adligen Leichenbegängnisses, d. h. Aufbahrung, Totenklage, Prozession, Leichenrede, Beisetzung. Welcher Stellenwert kam darin der Prozes57
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
sion der Masken zu? Wilhelm Kierdorf meint: »Im Zentrum der Zeremonie steht die Leichenrede (laudatio funebris).«31 Zu dieser Ansicht gelangt, wer das Leichenbegängnis herauslöst aus seiner Einbettung in die adlige Konkurrenz. Aus dem oben Ausgeführten ergibt sich ein anderer Schluss: Das Leichenbegängnis kombinierte die visuellen und die rhetorischen Elemente zu einem semiotisch durchstrukturierten Ganzen;32 die Wichtigkeit der einzelnen Elemente bemaß sich danach, welche symbolische Kraft sie hatten, um Unterschiede zu markieren und Normen zu beschwören. Nun hielt man auch für einfache römische Bürger eine Leichenrede – natürlich nicht auf dem Forum, sondern im Rahmen der privaten Feierlichkeiten. Masken personifizierter Vorfahren erschienen jedoch nur bei der senatorischen pompa funebris. So demonstrierten adlige Familien augenfällig ihren Anspruch auf Vorrang vor den nichtadligen und traten in Konkurrenz zu den rivalisierenden Familien. Das semiotisch differentielle Element ist daher das sozial distinktive. Folglich waren die imagines das wichtigste Element des Leichenzuges. Den Aufbau der laudatio funebris hat Kierdorf untersucht: Die Rede lobte zuerst den Toten, dann die Ahnen. Unter der Monarchie kehrte man die Reihenfolge um; in der laudatio, die Nero auf Claudius hielt, pries er zuerst die Ahnen und dann die Verdienste des verstorbenen Kaisers.33 Diese Umkehrung entsprach der veränderten Reihenfolge beim Leichenzug des Kaisers; denn der tote Kaiser kam zuerst, danach die imagines des ganzen römischen Adels. Das Lob des Verstorbenen zählte zunächst dessen Ämter auf und pries danach die Taten in chronologischer Reihenfolge.34 Es war aufgebaut wie ein titulus. Dem anschließenden Redeteil über die Ahnen legt Kierdorf keine Bedeutung bei, da dieser ›Anhang‹ ein wiederholbarer und unentwegt wiederholter Redeabschnitt war. So hatte bereits Cicero geurteilt: Das Lob der Ahnen bot dem Redner wenig Möglichkeiten zu variieren, wohingegen das Totenlob einer laudatio ausgiebig Gelegenheit gab, auf ausgefeilte Weise die Tugenden des aktuell Verstorbenen zu rühmen. Cicero ist allerdings ein schlechter Zeuge; denn er ist ein Senator ohne ein einziges Ahnenbild und daher bemüht, die individuelle Leistung gegen das ererbte symbolische Kapital herauszustellen. Unter dem literaturwissenschaftlichen Blick bleibt das Lob der Ahnen farblos. Indes, beachtet man – wie Maurizio Bettini – die semiotische Wertigkeit der rituellen Segmente, dann rückt dieser Teil der Rede in den Vordergrund. Zudem diktierte die schiere Menge der Ahnen den proportionalen Aufbau der laudatio: Je mehr Ahnen vor der Bühne Platz genommen hatten, desto knapper musste das Lob des soeben Verstorbenen ausfallen. Bei den 58
Ahnenbilder und Konkurrenzvorteile
großen gentes war es ganz unvermeidbar, dass das Ahnenlob den weitaus größten Teil der Rede beanspruchte. Die Wiederholbarkeit dieses Redeteils war für die Hörererwartung wichtig: Das Lob des Verstorbenen war auch bei anderen römischen Bürgern üblich; doch das Lob der Ahnen war eben bei senatorischen Familien mit Ahnenbildnissen zu hören und nur bei ihnen; dieser Redeabschnitt besaß einen hohen differentiellen Wert, denn er unterschied das aristokratische Totenlob vom nichtadligen. Florence Dupont kommt deshalb zu dem Schluss, das Lob des Verstorbenen sei ein Vorspann und die Preisung der gens der Hauptteil der laudatio funebris gewesen. Die jeweilige imago und der ihr gewidmete Redeabschnitt verwiesen aufeinander: »Die Worte des Redners werden hervorgerufen von der imago und können ohne sie nicht erschallen. Imago und Leichenrede sind untrennbar und komplementär.«35 Doch diese strukturalistische Komplementarität existierte nicht. Zwar konnte das Ahnenlob nicht erklingen, wenn die imagines nicht zur Stelle waren. Indes, die imago bedurfte nicht notwendigerweise einer Leichenrede; denn sie wurde auch bei anderen festlichen Anlässen zum Gegenstand von Verehrung und Besinnung. Somit war die Leichenrede der Kommentar zur Ahnenparade: sie fungierte als dienendes Element, um sich dessen verbal zu vergewissern und das zu benennen, was die Reihe der imagines zeigte. Im Zentrum des Rituals stand die Prozession und die Versammlung der Ahnenbilder, denn diese präsentierten das symbolische Kapital einer senatorischen Familie.
Ahnenbilder und Konkurrenzvorteile Bei jedem Leichenbegängnis evozierte die Prozession der Ahnen einer trauernden gens automatisch die Erinnerung an die Ahnenserien anderer großer Geschlechter. Die einfachen römischen Bürger waren gewohnt zu vergleichen und zählten zumindest die Triumphatoren und Censoren genau mit, um zu wissen, wie viel symbolisches Kapital ein Geschlecht innehielt. Jede Ahnenparade der großen gentes dokumentierte deren gewaltigen Vorsprung. Um ihn aufzuholen, mussten Generationen der anderen Familien hart arbeiten. Aber sobald sie die Parade genauer ansahen, durften sie Hoffnung schöpfen. Zwar folgten die Ahnen aufeinander, ohne eine Lücke zu lassen. Aber auf der Zeitachse folgten diese Ahnen nicht in regelmäßigen Abständen hintereinander; 59
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
abgesehen von den vier ganz großen gentes gab es bei allen Geschlechtern Phasen von dünn gesätem Erfolg. Die räumliche Lückenlosigkeit der Prozession entsprach keinesfalls einer stetigen Erfolgslinie in der Vergangenheit. Diejenigen Römer, die darin geübt waren, die Namen und Ereignisse der Vergangenheit auf einer imaginären Zeitachse zu situieren, konnten diese unsichtbaren Lücken erkennen. Ihnen enthüllte die chronologische Reihung der Ahnen, zu welchen Zeiten die trauernde gens besonders viele Triumphatoren oder Censoren hatte und wann nicht. In der harten Konkurrenz um Ämter hatten sich Angehörige von geringen Geschlechtern immer wieder gegen die Erben großer Ahnenserien durchgesetzt. Die römische Plebs mag das anders gesehen haben. Sie war beeindruckt von den langen Ahnenserien der großen Geschlechter. Und sie gab bei Wahlen gerne dem Sprössling eines berühmten Geschlechtes den Vorzug – vor allem dann, wenn es die Kandidaten nicht kannte. Und das traf auf die Bewerber um die niedrigen Ämter meistens zu. Beim normalen Einstiegsamt in die senatorische Laufbahn, also bei der Quaestur, hatten somit die Söhne der berühmten Geschlechter auf Anhieb eine größere Chance, gewählt zu werden. Die politische Wirkung der Ahnenbilder etablierter Familien bekamen insbesondere Aufsteiger zu spüren, also Senatoren, die selbst keine senatorischen Vorfahren hatten, homines novi genannt. Der ältere Cato, Consul 195 v. Chr., Censor 184, war ein solcher Aufsteiger. Trotzdem berief er sich öffentlich auf die Beispiele militärischer Tapferkeit, die sein Vater und sein Urgroßvater gegeben hatten. Wahrscheinlich als er das Konsulat erreichte, verkündete er, zwar sei er ein homo novus, was das Amt und die Berühmtheit angehe, doch wenn man die Leistungen und die Tüchtigkeit seiner Vorfahren besehe, dann stamme er aus einem uraltem Geschlecht. Bei einer sponsio – einem ritualisierten Wortgefecht – mit M. Cornelius verwies er auf die guten Taten (benefacta) seiner Vorfahren für die Res publica; und er ließ diese Wohltaten während eines Prozesses verlesen.36 Cato beanspruchte also aggressiv, die Ahnen zu haben, die er in den Augen der Nobilität gar nicht haben konnte. Er mühte sich vergeblich. Als der homo novus C. Marius im Januar 107 v. Chr. sein Konsulatsjahr antrat, griff er in einer Rede vor dem römischen Volk die Nobilität frontal an. Er verzichtete darauf, eigene Vorfahren überhaupt zu erwähnen, da Catos Versuch, seine nichtsenatorischen Vorfahren kraft ihrer bloßen Tüchtigkeit zitierfähig zu machen, gescheitert war. Er tat, was homines novi in Rom immer taten; er wertete die individuelle Tüchtigkeit auf – freilich auf eine bis dahin noch nie vorgekommene Weise. 60
Ahnenbilder und Konkurrenzvorteile
Grell kontrastierte er das aktuelle militärische Versagen von nobiles mit deren glorreichem Aufgebot an Ahnen. Auf ihn, den Aufsteiger, blickten sie mit Verachtung – und zwar, so sagte er: »natürlich, weil ich keine Ahnenbilder habe und weil meine Nobilität noch neu ist«. Marius erwiderte diese Verachtung, indem er den Begriff Nobilität umprägte; dieser bezeichnet in seiner Rede nicht mehr die effektive Zugehörigkeit zu konsularischen Familien, sondern die evidente moralische Berechtigung, die höchsten Ämter und Funktionen ausüben zu können: Seine Auszeichnungen und seine Narben seien seine Ahnenbilder und seine Nobilität.37 Daher habe das Volk zu Recht gegen den Willen des Senates beschlossen, ihn als Feldherrn nach Afrika zu schicken, um den Krieg gegen Numidien siegreich zu führen. Der gedankliche und rhetorische Aufwand enthüllt die Qualen des homo novus. Besessen kreiste seine Rede um die Ahnenbilder, die er nicht hatte. Nun lasteten die imagines auch auf den jungen Männern der hervorragenden gentes schwer; sie fürchteten sich davor, unter so vielen berühmten Vorfahren mit einem unwichtigen Ahnenbild unterzugehen. Aber ihnen verschafften just diese imagines bessere Startbedingungen als Marius. Ob man imagines besaß oder nicht, man litt unter ihnen. Aber die ahnenstolzen Sprösslinge und den homo novus bedrückte nicht dasselbe Leiden. Das bezeugen auch jene Zweige ruhmreicher Geschlechter, die über längere Zeit keinen Consul oder Praetor stellten oder überhaupt keinen Mann in den Senat brachten. Ihr sozialer Abstieg war sicherlich bitter; trotzdem waren sie besser dran als Familien, die immer neue Anläufe nahmen, um in den senatorischen Adel aufzusteigen, es aber nicht schafften oder auf den unteren Rängen stecken blieben. Mochte die Phase politischer Erfolglosigkeit noch so lange dauern, niemand konnte ihnen ihre ruhmvollen Ahnenbildnisse rauben. Der Begriff des symbolischen Kapitals bezeichnet in der soziologischen Literatur ein Gesamt an Prestige-Elementen, welche der Inhaber immer wieder einzusetzen hat, um sich damit soziale Vorteile zu verschaffen; dabei riskiert er stets, dass es sich vermindert.38 Dagegen stellten die imagines ein symbolisches Kapital besonderer Art dar – es war unverlierbar. Die Ahnen mussten zwar immer wieder ›vorgezeigt‹ werden, gingen aber nicht mehr verloren. Sie waren das ›geronnene‹ symbolische Kapital einer Familie.
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Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
Ahnenbilder und matrimoniales Prestige Eine adlige Römerin führte, sobald sie heiratete, Ahnenbilder in die Familie ihres Gatten mit. In der Forschung überwiegt die Meinung, die einheiratende Frau habe sämtliche imagines mitgebracht.39 Die Römer bekamen darum bei Ahnenprozessionen mehr zu sehen, als uns Polybios erzählt. Als die Schwester des Brutus und Gattin des Cassius, eine Iunia, 22 n. Chr. starb, da führte ihr Leichenzug die Ahnenbilder von 20 adligen Familien mit, darunter Manlier und Quinctier.40 Die gesamte Ahnenparade war also im Regelfall deutlich länger als derjenige Teil des Zuges, der die Ahnen der trauernden gens enthielt; denn das agmen imaginum enthielt kognatische Ahnen. Wir müssen unsere Ritualanalyse auf einer Ebene höherer Komplexität verfeinern: 1. Die kognatischen Ahnenbildnisse waren als solche zu erkennen; demzufolge hatten sie in der Prozession eigene Plätze inne. So unterschieden die Zuschauer die Serie der agnatischen und kollateralen Ahnen auf der einen Seite und die kognatischen Serien auf der anderen. Den Römern war mithin klar, dass diese durch Heirat erworbenen Ahnenbilder nicht zum symbolischen Kapital der gens selbst gehörten. 2. An diesen kognatisch erworbenen imagines konnten die Zuschauer ablesen, wie erfolgreich das trauernde Geschlecht seine Heiratsstrategien verfolgte. Der Aufbau der Ahnenserie zeigte deutlich den matrimonialen Erfolg, sozusagen das matrimoniale Prestige einer Familie. 3. Die pompa funebris ließ nicht erkennen, zu welchen Zeitpunkten sich welche Geschlechter der trauernden gens annäherten. Der lineare Ablauf der Ahnenprozession war strikt eindimensional und ließ szenographisch keine parallel nebeneinander defilierenden Serien zu. Doch das Stemma der maiores im Atrium erlaubte, diesen Sachverhalt abzubilden: man brauchte lediglich die kognatischen Serien wie Äste in den Stamm der eigenen Ahnenserie einmünden zu lassen, und zwar jeweils genau bei demjenigen Vorfahr, dessen Gattin die entsprechende Ahnenserie quasi als Mitgift in die Ehe gebracht hatte. So veranschaulichte das Stemma graphisch das familiale Ansehen durch die Bewegung der matrimonialen Allianzen. Maurizio Bettini drückt das so aus: »Im Stemma vermischen sich das agnatische, sozusagen offizielle Ansehen … und das kognatische Prestige … in einem einzigen Bild.«41 Friedrich Münzer erblickte in dieser Mitführung der kognatisch erworbenen Ahnen einen Missbrauch, der notwendig die Genealogien verfälscht hätte.42 Ähnlich wie er argumentierte Erich Bethe: »Schon im Beginn unserer Zeitrechnung kam es auf, um die Pompa ansehn62
Ahnenbilder und matrimoniales Prestige
licher zu machen, auch Ahnen aus den mütterlichen Linien mitgehen zu lassen … Kleine Schiebungen und Fälschungen waren in den weiblichen Linien nicht so schwer. Sie lohnten sich aber.«43 Solche Urteile beruhen auf der Annahme, es habe sich um eine neue Praxis gehandelt, die erst am Ende der Republik aufgekommen sei. Stillschweigend ist dabei vorausgesetzt, dass das römische Verwandtschaftssystem ein agnatisches war. Indes, neuere Forschungen haben gezeigt, dass das römische Verwandtschaftssystem nicht agnatisch war, sondern den Agnaten und den Kognaten unterschiedliche soziale Funktionen zuwies. Schon für die früheste Zeit ist ein starker Zusammenhalt kognatischer Verwandtschaftsgruppen anzunehmen.44 Dann ist es jedoch wahrscheinlich, dass man die kognatisch erworbenen Ahnen von Anfang an in der pompa funebris mitführte. Für die Ahnenserien bedeutete das: Jede günstige Heirat brachte einem bestimmten Zweig eines Geschlechts neue Ahnen. Diese Ahnen, die einem ganz anderen Geschlecht angehörten, konnte man – sobald die Praxis aufkam, die eigenen Ahnen vorzuzeigen – in das genealogische Stemma aufnehmen;45 und die Ahnenbilder, deren Kopien die Eingeheiratete mitbrachte, durfte man im eigenen Leichenbegängnis mitführen. Wie übte man soziale Kontrolle über das symbolische Kapital der Geschlechter aus? Bethe fragte kritisch, ob der Redner in der Leichenrede nicht ein paar Taten hinzudichten konnte. Seine Skepsis scheint begründet bei der laudatio funebris. Um Hinzudichtungen wahrnehmen zu können, hätten archivierte Tatenberichte zusammen mit den Masken an alle verschwägerten Familien gehen müssen. Davon ist uns nichts bekannt; die Leichenrede gab Spielräume – obzwar geringe – für ungedeckte Ansprüche. Und wie verhielt es sich mit den imagines ? Bethe fragt zu Recht: »Wer konnte kontrollieren, ob im Zuge der Ahnen nicht einer oder der andere mehr erschien, als berechtigt war?«46 Doch die Töchter brachten ihre Ahnenbilder bei der Heirat in die Familie ihres Gatten; und so multiplizierten sich die Ahnenserien im ganzen römischen Adel. Jede Familie konnte die Ahnenserie einer ihr verschwägerten Familie überprüfen, und zwar bis zum Zeitpunkt der Verschwägerung herunter. Diese ›Mitgift‹ schloss Fälschungen praktisch aus. Die Distribution der vervielfachten agnatischen Ahnenserien unter die anderen Familien machte die Bestände kontrollierbar. Das gilt für den Fall, dass die einheiratende Frau sämtliche Ahnen mitbrachte. Harriet Flower hält die Eingliederung der Kognaten ins Stemma für eine Ausweitung der familialen Gruppe und sieht in der Ahnenserie einen besonderen Darstellungsmodus einer Familie.47 Aber jene pompa 63
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
funebris der Iunia von 22 n. Chr. belegt, dass die Römer die Ahnensegmente verschwägerter Familien von den agnatischen und kollateralen Vorfahren unterschieden. Distinkte Ahnenserien zu kombinieren, hat nichts zu tun mit einer angeblichen ›Ausweitung einer familialen Gruppe‹. Die pompa funebris ist ohne den Kontext der römischen Familienstruktur eben nicht zu analysieren. Um das matrimoniale Prestige zu visualisieren, galt es, bei der pompa funebris die Verschwägerungen der eigenen agnatischen Linie mit fremden gentes sichtbar zu machen und auf diese Weise den matrimonialen Erfolg zu dokumentieren; dazu mussten die Zuschauer die Unterschiede zwischen diesen Segmenten erkennen. Die kognatischen Äste im Stemma bildeten daher ein eigenes Register des familialen Ansehens, nämlich das matrimoniale Prestige im Unterschied zum symbolischen Kapital, welches aus agnatischen imagines bestand. Die durch Heirat erworbenen Ahnenbildnisse hatten noch einen weiteren sozialen Wert: Ein homo novus hatte überhaupt keine imagines; er hätte sich lächerlich gemacht, wenn er einen verstorbenen Verwandten mit einem öffentlichen Leichenbegängnis auf dem Forum geehrt hätte. Er konnte ja nicht eine einzige imago im Zug mitführen. Selbst die Kinder eines homo novus konnten, sobald er gestorben war, nur eine Maske vorweisen; und damit konnte man keine pompa funebris zum Forum veranstalten. Heiratete derselbe homo novus jedoch eine Frau aus einer großen gens, welche ihm einige oder viele Ahnenbilder ins Haus brachte, veränderten sich die Chancen seiner Söhne erheblich. Seine Kinder waren künftig imstande, offizielle Leichenbegängnisse zu veranstalten, bei denen die einsame Maske des väterlichen Aufsteigers im stattlichen Geleit der mütterlichen Ahnen erschien.48 Jeder homo novus musste – falls nicht triftige Hindernisse entgegenstanden – eine Heirat anstreben, die imagines in sein Haus brachte. Die familialen Strategien berühmter Familien waren darauf abgestimmt. Die Heiratschancen ihrer Töchter hingen nicht zuletzt an der Menge und an der Hochwertigkeit ihrer Ahnenbildnisse.49 Der matrimoniale Wert einer Cornelia, einer Valeria, einer Claudia oder einer Fabia war folglich sehr hoch. Nicht jede matrimoniale Allianz mit ahnenreichen gentes führte zum Gewinn von imagines. Nur die Frau brachte Masken in die Ehe ein. Die Familie der Frauengeber gewann keine imagines. Die zu verheiratende Frau war also der entscheidende Faktor zur Multiplikation der imagines einer großen gens. Zwar nahmen auch Adoptierte ihre Ahnenserie in die neue Familie mit, aber die Chance, den Sprössling einer berühmten Familie adoptieren zu können, bestand nur für andere – ebenso berühmte – Familien. 64
Ahnenbilder und matrimoniales Prestige
Damit stellen sich neue Fragen hinsichtlich der laudatio. Lobte der Redner nur die eigenen agnatischen und kollateralen Ahnen oder auch die kognatisch erworbenen Vorfahren? Die Quellen geben uns darüber keine Auskunft. Falls kein fester Brauch galt, hing es von taktischen Erwägungen ab, was man tat oder unterließ. Jedenfalls benötigte ein Redner, der um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. die Ahnen der gens Claudia lobte, allein für die etwa 50 claudischen Consuln viel Zeit; er konnte die kognatisch erworbenen Ahnen nur erwähnen, wenn er dafür claudische Vorfahren vernachlässigte. Dasselbe gilt für die Cornelier, Valerier und Fabier – und in minderem Umfang für die Aemilier, Manlier und Quinctier. Umgekehrt riskierten Familien mit einer kurzen eigenen Ahnenserie, dass ihre Leichenrede schnell zu Ende war; es sei denn, die Redner lobten ihre Ahnen viel ausführlicher, als die großen gentes das vermochten. Falls eine solche prestigearme Familie jedoch eine oder gar mehrere Ahnenserien ruhmvoller Geschlechter kognatisch erworben hatte, konnte sie dieser Verlegenheit entkommen, indem der Redner diese kognatischen Ahnen – an genau definierten Stellen – ebenfalls pries. Das asymmetrische Verhältnis zwischen den ruhmreichen Geschlechtern und den prestigeärmeren verstärkte sich immer mehr: denn die großen gentes kamen aus Zeitgründen nicht umhin, nur sich selbst zu preisen; es sei denn, man wollte aus aktuellen Anlässen mit demonstrativen Akten politische Zeichen setzen. Ganz anders war die Situation der Redner prestigeärmerer Familien. Sie priesen hochkarätige kognatische Ahnen, weil ihr agnatischer Bestand zu knapp war. Bei Leichenbegängnissen einfacher senatorischer Familien erscholl Lob für die Ahnen großer gentes; aber nie oder kaum jemals umgekehrt. Berühmte cornelische, claudische oder fabische Ahnen wurden demnach viel häufiger auf dem Forum erwähnt, als es Sterbefälle in diesen Familien gab. Hier öffnet sich ein differenzierter Kommunikationsraum zwischen den senatorischen Familien. Leider vermögen wir über seine Struktur und Regeln nur zu mutmaßen. Aber das schiere Wissen um die Existenz jenes Kommunikationsraums verändert die Parameter unserer Analysen. Wir erschließen ein neues Motiv für Hypogamien: Vornehme Familien erlangten spezifische Vorteile, wenn sie einige ihrer Töchter nach ›unten‹ abgaben, sie also an erfolgversprechende Aufsteiger oder an Senatoren mit sehr kurzen Ahnenserien verheirateten. Damit sorgten sie dafür, dass ihre Ahnen häufiger durch Rom zum Forum zogen, um sich dort preisen zu lassen. Eine Tochter zu verheiraten, hieß in einer vornehmen Familie, eine Investition in die Zukunft zu tätigen. Die adlige Frau diente als Vektor, 65
Individuelle Die Aneignung pompa funebris kollektiver Leistung
um eine präzise umrissene Quantität von symbolischem Kapital in Form von Ahnenbildern einem ausgesuchten Ehegatten zuzuführen, ohne dass sich darum das eigene symbolische Kapital verminderte. Es war eine Mitgift ganz besonderer Art, die nichts kostete, aber beiden Seiten Gewinne brachte. Berühmte, aber aktuell erfolglose Familien konnten einem Aufsteiger mit ihren Ahnenbildern behilflich sein: Marius heiratete aus diesem Grund eine Iulierin;50 er wurde siebenmal Consul und triumphierte zweimal. Seine singuläre Karriere kam den Frauengebern zugute; im Windschatten seiner Erfolge kamen die Iulier wieder hoch. Der deutlichste Gewinner dieses matrimonialen Bündnisses war sein Neffe weiblicherseits, der Dictator C. Iulius Caesar. Eine solche Investition war freilich riskant; und sie war verloren, wenn der betreffende Ehegatte nicht die erwartete Karriere machte.
Taktische Variationen und politische Botschaften Adlige Familien ließen mitunter, wenn sie ihr agmen imaginum für einen Leichenzug zusammenstellten, ganze Segmente weg. Bei Spannungen und Gegnerschaft konnte man alte Verschwägerungen buchstäblich – vorübergehend – vergessen. So signalisierten sie der ganzen Aristokratie und dem Volk, dass man mit einem bestimmten Geschlecht – im Moment – nicht mehr in gutem Verhältnis stand. Man konnte also das matrimoniale Kapital – die durch Heirat erworbenen Ahnen – benutzen, um den Aufbau der Ahnenkette beim Leichenbegängnis syntagmatisch zu variieren. Diese Variabilität des matrimonialen Kapitals gestattete es, politische Botschaften zu versenden. Die kognatisch erworbenen Ahnenserien kombinierend und Ahnen preisend, die man eigens aus diesen Serien aussuchte, positionierte man die eigene Familie politisch, betonte Verbindungen oder verleugnete sie. Sehr erfolgreiche Geschlechter mit riesigen Ahnenserien konnten sich solche Weglassungen leisten. Die Pracht ihrer Leichenzüge litt deswegen kaum. Ein solch demonstrativer Akt tangierte ja nicht das offizielle Prestige, d. h. das symbolische Kapital, denn das bemaß sich an Menge und Güte der agnatischen und auch der kollateralen Ahnen. Man konnte noch einen Schritt weiter gehen. Wenn man nicht nur kognatische Ahnen ausließ, sondern auch kollaterale (die zu den Seitenlinien derselben gens gehörten), dann griff man in das Archiv des Geschlechtes ein. Ein solcher Eingriff hieß in der Tat, ein ›generatives Gedächtnis‹ spielen zu lassen. So beriet Cicero einen Freund aus dem 66
Taktische Variationen und politische Botschaften
Geschlecht der Papirii Paeti, welche Ahnenbildnisse dieser in seinem Atrium aufstellen solle. Seine Ratschläge illustrieren, wie das generative Gedächtnis der Aristokratie funktionierte. Cicero legte seinem Briefpartner nahe, eine ganze Reihe plebejischer Papirii – aus den Zweigen der Turdi und der Carbones – wegzulassen: die hätten sich schimpflich benommen. Er empfahl, die imagines dreier agnatischer Seitenlinien – der Mugillani, der Cursores und der Masones – in den Stammbaum aufzunehmen, denn diese waren Patrizier: »Alle diese Patrizier sollst Du als Deine Ahnen betrachten!«51 Man erfand seine Genealogie nicht, aber man manipulierte sie. Cicero zweifelte nicht daran, dass auch die Carbones und die Turdi zur gens Papiria gehörten; doch diese kollateralen Ahnen, als Protagonisten einer popularen Politik, verdienten nicht, im Archiv der Ahnen eines Papirius Paetus aufzutauchen. Er empfahl eine Selektion, die sich in der römischen Öffentlichkeit als politische Positionierung zu erkennen gab. Die Manipulation bestand nicht in illegitimen Hinzufügungen, sondern in Auslassungen. Umgekehrt verbot der als Redner berühmte Konsular M. Valerius Messala in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr., dass man eine imago der Laevinier, also des zweiten großen Zweiges der gens Valeria, in seine Ahnenreihe einfügte. Er wollte sich damit nicht vom laevinischen Zweig distanzieren. Sondern er vertrat den Standpunkt, dass die kollateralen Linien prinzipiell nicht zum symbolischen Kapital der Familie gehörten. Hätte sich Messalas Auffassung durchgesetzt, dann wäre die gens als ein in Linien untergliederter familialer Verband ein sinnloser Begriff geworden.52 Derselbe Messala fasste den Entschluss, ein Buch über die Genealogien zu schreiben, als er im Atrium des Scipio Pomponianus entdeckte, dass der Hausherr die beiden Scipiones Africani als Vorfahren beanspruchte. Scipio Pomponianius war – wie sein Name sagt – ein ehemaliger Pomponius, den ein Nachfahr der Scipionen per Testament adoptiert hatte.53 Die testamentarische Adoption galt dem Valerier anscheinend nicht als vollwertige Adoption – mit Recht, denn in einer Gesellschaft mit so ausgeprägter patria potestas machte es einen erheblichen Unterschied, ob ein Mann einen anderen als Sohn annahm oder ob er ihn als Erben des Namens und des Besitzes einsetzte. Dennoch war sie ein übliches Mittel, mit welchem Römer ihre Nachkommenschaft nach Gutdünken umbildeten; wurde doch auch Octavian, der spätere Augustus, durch die testamentarische Adoption seines Großonkels Caesar zu einem Iulier.54 Messala vertrat also eine ganz andere Auffassung als Cicero; er machte sich zum Fürsprecher eines agnatischen Rigorismus, der völlig 67
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vorbeiging an der seit langer Zeit geübten Praxis des pater familias, die Abstammungsgruppe eigenmächtig zu formieren. Man stritt im 1. Jh. v. Chr. also über die Regeln, nach denen man Genealogien zu bauen hatte. Zweifellos neigten viele Senatoren dazu, die Genealogie zu restringieren; denn die Stammbäume der altadligen gentes drohten im 1. Jh. v. Chr. völlig unübersichtlich zu werden. Das Inventar der Ahnen ›säubernd‹, d. h. sämtliche kollateralen Ahnen weglassend, gewann man Übersicht. Falls es gelang, einen agnatischen Rigorismus durchzusetzen, verschafften sich die alten und erfolgreichen gentes erhebliche Vorteile: Selbstverständlich verloren sie dabei viel mehr Vorfahren als die jüngeren Geschlechter; aber in der adligen Konkurrenz wogen nicht die absoluten Zahlen, sondern das Zahlenverhältnis. Restringierte man die Genealogie auf die agnatische ›Abstammungskette‹, dann trat die Überlegenheit der älteren gentes auf krasse Weise zutage. Daher dürften die Bemühungen, die sozial verbindlichen Regeln zur Konstruktion der Ahnenserie zugunsten einer rein agnatischen Linie zu verändern, wahrscheinlich erst in der späten Republik eingesetzt haben. Und es ist kein Zufall, dass gerade ein Valerier – er gehörte zu den Senatoren mit den längsten Ahnenserien – als Vorkämpfer der Restriktion auftrat.
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Ahnenparade und kollektiver Gedächtnisraum
4. Politische Kultur und memoriale Praxis
Ahnenparade und kollektiver Gedächtnisraum Eine semiotische Analyse der pompa funebris hat aufgewiesen, wie der römische Adel familiales Prestige maß und welche Rolle das symbolische Kapital auf dem Feld der Konkurrenz um Ämter spielte. Doch der Aufmarsch der Ahnen leistete weit mehr. Er bot die eindrucksvollste Inszenierung der politischen Erinnerung in Rom. Das wird ersichtlich, wenn man die zeitlichen Aspekte des agmen imaginum genauer betrachtet: 1. Nicht der Rang bestimmte die Reihenfolge der Ahnen in der Prozession, sondern die Chronologie: der älteste Ahn führte den Zug an, die Bahre des zu bestattenden Toten schloss ihn ab.1 Die imago des Verstorbenen wurde nach der Bestattung in einem Schrein im Atrium verwahrt; beim nächsten Leichenbegängnis nahm diese imago den letzten Platz in der Prozession der imagines ein, unmittelbar vor der Bahre des soeben Verstorbenen. 2. Die Prozession der imagines beim Leichenzug und die Ahnentafel im Atrium wuchsen also analog nach hinten bzw. nach unten. Die chronologische Abfolge der maiores – der Vorfahren – wurde medienlogisch in die räumliche Dimension übersetzt. 3. Der politische Status jedes einzelnen Ahnen war endgültig, und sein chronologischer Stellenwert war unverrückbar. Deswegen war der Ahnenzug fast identisch wiederholbar. Er veränderte sich bloß insoweit, als immer wieder eine einzelne Maske sich hinten in den Zug einreihte. Ordnete man die imagines nach Rängen, dann hätte sich die Sukzession der Ahnen und damit der Aufbau der pompa jedesmal leicht verändert. Indes, die Ahnenparade sollte sich noch viele Male genau auf dieselbe Weise wiederholen; was ein aktuell lebender hauptstädtischer Römer bei der Ahnenprozession einer bestimmten Familie zu sehen bekam, das war unverändert auch von seinem Urenkel so zu sehen; Variationen ergaben sich lediglich, wenn die Veranstalter kognatische Ahnenserien wegließen. Die chronologische Reihung der Ahnen choreographierte, wie die gens sich in die Tiefe der Zeit hinein verlängerte. Die pompa funebris szenographierte feierlich die Ewigkeit der römischen Ordnung. 69
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4. Die identische Wiederholung erhöhte die Einprägsamkeit der entscheidenden ›Botschaften‹ des Rituals. 5. Wie die Ahnen einer gens in chronologischer Reihenfolge vorbeidefilierten, so ging die Leichenrede – die laudatio – die Ahnen der Reihe nach durch und ließ ihre Taten Revue passieren.2 Die chronologische Ordnung der Prozession wiederholte sich in der chronologischen Ordnung der laudatio. Nacheinander rühmte die Leichenrede die politisch erfolgreichen Ahnen, pries ihre Taten, verwies auf sie als Vorbilder. Die gesamte Zuschauerschaft, ob adlig oder nichtadlig, frischte bei der pompa funebris eines prestigereichen Geschlechtes nicht nur das eigene Wissen über Namen und Taten auf, sondern memorierte deren zeitliche Abfolge. 6. Die Abfolge der Ahnen im agmen imaginum entsprach nur einer relativen Chronologie. Sie bot keinen Anhaltspunkt für das ›absolute‹ Alter der ersten und der späteren maiores. Erst die Verweise auf den Kalender und auf signifikante Ereignisse in der Leichenrede setzten die Ahnen auf eine genaue Stelle der römischen Zeitachse. 7. Die Vergangenheit war keine abstrakt bleibende verstrichene Zeit, sie materialisierte sich sichtbar in der Vielfalt der imagines, deren Namen verknüpft waren mit Daten und Taten. Im Bild einer Sukzession von imagines, nach Geschlechtern geordnet, brachte sich die zeitliche Tiefendimension sinnfällig zum Ausdruck. So lieferte die Prozession der Ahnen die Matrix für das historische Wissen in Rom. Die pompa funebris inszenierte einen kollektiven Erinnerungsraum, in den einzutreten hieß, historisches Wissen zu erwerben oder aufzufrischen. Um ein genealogisches Gedächtnis zu entfalten, brauchte man nicht selbst imagines zu besitzen; man musste nur die imagines bestimmter gentes gut kennen.3 Das beim Leichenbegängnis ausgebreitete historische Wissen war zwar genealogisch gerastert, aber es überstieg bei weitem ein bloß genealogisches Gedächtnis: Es nahm Bezug auf die Genealogie anderer Familien, zum einen deswegen, weil man die eigenen Vorfahren nicht chronologisch platzieren konnte, ohne auf den Kalender und auf die Consul-Listen zu verweisen, zum anderen, weil die Taten der eigenen Vorfahren immer Taten für das ganze römische Volk waren. Das historische Wissen, das die Teilnehmer aktualisierten und rememorierten, unterschied sich erheblich vom historischen Wissen, welches den Griechen zum politischen Handeln ausreichte. Jenes Spezialwissen, das sich bei den Historiographen wie Herodot, Thukydides und Xenophon entfaltete, berührte die politische Argumentation meist gar nicht.4 Das römische Wissen hingegen enthielt eine Menge 70
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präziser Daten, welche sich ziemlich gleichmäßig über ein lange Zeitstrecke verteilten, und die römische Politik operierte mit dieser Datenmenge. Damit sind einige bisherige Annahmen zur römischen Erinnerungspraxis zu verabschieden, unter anderem jene, die Römer hätten die Taten und Geschehnisse, die Res gestae, »zunächst einmal vor allem im privaten Bereich, in den gentes, erinnert«, wobei »solche Erinnerung in Ahnenruhm, Grab und Kult ihren wichtigsten Ort gehabt« hätte.5 Diese Annahme setzt eine Unterscheidung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ voraus, die für die römische Gesellschaft nicht taugt. Und sie unterscheidet nicht die Register des Gedenkens nach ihren sozialen Funktionen und funktionalen Grenzen. Denn was heißt ›Kult‹ in diesem Kontext? Der Totenkult scheidet weitgehend aus: Erstens waren in ihm politisch relevante Erinnerungen entweder von Anfang an irrelevant oder sie wurden es spätestens ab dem Augenblick, wo der Tote von seiner Position als sechster Vorfahr durch einen nachrückenden Ahn verdrängt wurde und in der Anonymität der maiores verschwand. Zweitens fand im Grab eine ausschließlich familiale Erinnerung statt; die Sarkophag-Aufschriften waren nicht öffentlich zu lesen. Sie lehnten sich an die tituli auf den Schreinen im Atrium an und waren über sie verbunden mit den jeweiligen Abschnitten bei der laudatio funebris. Trotzdem vollzog sich politisch relevante Erinnerung im Rahmen des Kultes, jedoch nicht am Grab, sondern bei den großen Feiern – regulär oder zu bestimmten Anlässen – mit den dazugehörigen ›Spielen‹. Das waren keine privaten Veranstaltungen, sondern die öffentlichen Ereignisse schlechthin. Der Rahmen politischer Erinnerung ist damit per se ein außerfamilialer. Auf den Ahnenruhm zu verweisen hilft nichts, wenn man nicht angibt, wo er seinen sozialen Ort hatte und wie man ihn rituell inszenierte. Das Atrium als wichtigster Ort des ständig präsenten Ahnenruhms war kein innerfamilialer Raum. Und die pompa funebris als das wichtigste Ritual des Ahnenruhms war ein Ritual für die Öffentlichkeit. Erst diese beiden Elemente machen erklärbar, wie die gentilizischen Erinnerungen sich – von Anfang an – nach kollektiven Regeln organisierten und so die geeignetsten Träger für gemeinschaftliche Traditionen wurden. Aber kann man Besonderheiten einer mündlichen Erinnerungskultur im römischen Arrangement der Leichenbegängnisse wiederfinden? Harriet Flower hat versucht, die in der pompa funebris vollzogene Erinnerungspraxis in das Schema der ›oral history‹ zu zwängen. Sie nimmt an, dass in der pompa funebris die ältesten Ahnen und die neuesten 71
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Leistungen besonders betont wurden.6 Alles spricht gegen diese Annahme. Zwar musste die trauernde Familie Schwerpunkte setzen, aber das konnte sie bei der Zusammenstellung der Ahnenprozession nicht tun, es sei denn, sie ließ einzelne Ahnen weg. Anders war es bei der Rede zum Lob der Ahnen. Hier musste man selektieren, denn die Zeitspanne, um einen Ahn verbal zu würdigen, konnte nicht proportional zum Zeitsegment sein, innerhalb dessen ein Vorfahr an einem Zuschauer vorbeiging. Die gentes mit langen Ahnenserien mussten sich genau überlegen, wo sie bei der laudatio funebris Schwerpunkte setzten. Dabei privilegierten sie weder die besonders ›alten‹ Ahnen noch die ›neueren‹ Erfolge. Ganz im Gegenteil. Die Münzmeister der republikanischen Zeit, welche auf Taten ihrer Vorfahren aufmerksam machen wollten, bezogen sich in über zwei Drittel aller Fälle auf Vorfahren, die in die Zeit nach etwa 366 v. Chr. gehörten.7 Also war es für die Familien dieser Münzmeister nicht wichtig, einen möglichst weit zurückliegenden Vorfahren zu zitieren; vielmehr bemühten sie sich, bestimmte große Erfolge ihrer Ahnen herauszustreichen. Doch solche markanten Ereignisse waren in der Regel weder besonders alt noch besonders neu. Sie waren notwendigerweise über die Zeitachse verstreut. Vereinzelt tauchten auf den Münzen mythische Vorfahren auf, die älter als die Republik waren. Aber auch dieses Phänomen bekräftigt Flowers These nicht; denn es gehört in einen völlig anderen Kontext. Die Versuche, der eigenen Familie eine mythische Genealogie zu geben und Ahnen zu ersinnen, die weiter zurück lagen als der erste senatorische Vorfahr, stammten fast alle von relativ erfolglosen Familien. Das ist kein Zufall. Ein jüngeres Geschlecht war einem älteren sichtlich überlegen, wenn es mehr Ahnen vorzuweisen hatte; so besaßen die plebejischen Licinier zu Anfang des ersten Jahrhunderts v. Chr. einen weiten Vorsprung vor den patrizischen, aber lange Zeit notorisch erfolglosen Iuliern. Gerade diese relative Erfolglosigkeit zwang die Iulier dazu, neuen genealogischen Formen akzeptablen Kurswert zu verschaffen, indem sie versuchten, sich eine mythische Genealogie zu geben. Die Erfolglosen trachteten danach, die Regeln der Generierung von symbolischem Kapital zu ihren Gunsten zu verändern. Das gelang ihnen nicht. Keine pompa funebris der republikanischen Zeit enthielt jemals einen Vorfahren, der nicht römischer Magistrat gewesen war. Ahnenstolze Familien wie die Claudier und Valerier verschmähten solche billigen Tricks. Das bedeutet, im tatsächlich anerkannten symbolischen Kapital einer Familie spielten die ältesten Ahnen keine besondere Rolle. Es kam auf den Glanz ihrer Taten an, nicht auf ihr Alter. 72
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Welche Leistung oder Person markant ist und welche nicht, hängt nicht an der Person und dem Ereignis selbst. Markanz wird sozial produziert. Die trauernde aristokratische Familie war gewiss bemüht, ihre weniger hervorragenden Ahnen nicht in Vergessenheit fallen zu lassen, musste aber dem Bedürfnis der Bürgerschaft entgegenkommen, sich an eminenten Daten zu orientieren. Diese Bürgerschaft war der Adressat des Rituals; sie musste ihr Gedächtnis ökonomisch einrichten und merkte sich diejenigen Daten besser, die sie mit herausragenden Geschehnissen verband. Je signifikanter ein Ereignis für das Volk war, desto einprägsamer war ein zitierter Name, der zum Ereignis gehörte. Die laudatio funebris sollte markante Eckdaten feierlich aufrufen und im individuellen Gedächtnis der Bürger reaktivieren. Die getreue Wiederholung dieser Eckdaten waren in den Ohren der römischen Bürger vordringlich. Daher brauchte man die laudatio funebris nicht rhetorisch auszuschmücken, worüber sich Cicero ärgerte. Die kunstlosen, katalogartig aufgebauten Aufzählungen im Ahnenlob erzielten beim Publikum eine Wirkung, die vor allem memorialer Natur war. Jene Memorialpraktiken, die in schriftlosen Kulturen vorherrschen und ›oral history‹ genannt werden, funktionieren radikal anders. Dort kommt Ereignissen oder Personen, die ›ganz alt‹ sind, eine besondere Bedeutung zu; ferner werden Geschehnisse beachtet, die noch in direkter mündlicher Weitergabe enthalten sind. Zwischen den ›Ursprüngen‹ und der unmittelbaren Vergangenheit klafft ein Loch – das so genannte ›floating gap‹ –, sofern nicht ein formiertes kulturelles Gedächtnis dem entgegenwirkt.8 Dieses Modell des ›floating gap‹ legt Flower für die in der pompa funebris ritualisierte römische Memorialpraxis zugrunde. Doch die römische Erinnerungskultur widersprach dem vollkommen. Andernfalls hätten die gentes darauf verzichtet, jene langen Abschnitte der Ahnenserie zwischen den ersten und den letzten imagines in der pompa funebris mitzuführen. Die Konsequenzen dieser Ausführungen richten sich gegen einen Kulturbegriff, der sich an der Materialität der Zeichenträger orientiert. Ahnenmasken waren aus einfachem Wachs gefertigt und haben sich nirgendwo erhalten, dagegen sind von den Ehrenstatuen, die in Rom allerorten standen, einige übrig geblieben. Letztere erscheinen dem modernen Forscher als wichtige Elemente der Memorialkultur. Doch die Ahnenmaske war bedeutsamer. Bei politischen Auseinandersetzungen beschwor man stets die imagines, kaum oder nie die Statuen.9 Achtet man auf die Besonderheit der Kommunikationsräume, verwundert das nicht: Ehrenstatuen schufen zusätzliche Distinktionen 73
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zwischen aristokratischen Personen im öffentlichen Raum, aber sie wurden niemals Gegenstand einer rituell gesteuerten kollektiven Aufmerksamkeit. Anders die Masken. Eingebettet in rituelle Veranstaltungen,10 übten sie eine weit größere symbolische Wirkung aus als jene. Die pompa funebris ist das semiotisch aufwendigste und szenographisch wichtigste kommemorative Ereignis der römischen Kultur. Sie re-memorierte und fixierte die römische Vergangenheit. Sie führte Ahnen vor, die – über eine lange Zeitstrecke verstreut – vom ersten politisch erfolgreichen Vorfahr bis in die jüngste Vergangenheit reichte. Die Höhepunkte lagen nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern bei den Triumphatoren und Censoren. Die Prozession der Ahnen machte die zeitliche Tiefe als lineare Aufeinanderfolge diskreter Momente mit präzisem zeitlichen Index in den Raum projizierbar. So strukturierte sie das politische Gedächtnis der gesamten römischen Bürgerschaft. Die pompa funebris funktionierte auf radikale Weise diesseits der ›oral history‹. Nirgendwo konnten die griechischen Bürgerschaften eine solche Visualisierung von Vergangenheit als serielle Abfolge von datierbaren Momenten erfahren. Diese römische Besonderheit kannte – nach unseren bisherigen Kenntnissen – nicht ihresgleichen im Mittelmeerraum.
Exempel und inkarnierte soziale Normen Grundkonsens und Memorialpraxis verschränkten sich im adligen Leichenbegängnis, weil die vorbeidefilierenden Ahnen eine Ansammlung von Vorbildern war, bedeutsam für die gesamte Res publica. Jeder Ahnenzug verwies auf die Ahnenserien der anderen Familien; die sichtbaren imagines setzten sich in Beziehung zu den abwesenden; und alle zusammen ergaben ein vollständiges Verzeichnis sämtlicher vorbildhafter Römer. Untereinander rivalisierend, bestätigten die gentes ihren Grundkonsens über die zentralen Normen und bekräftigten deren Geltung für die ganze herrschende Klasse. Jede senatorische pompa funebris betonte visuell, dass die römische Aristokratie eine Normengemeinschaft war.11 An den Ahnenbildern bekundeten sich die familialen Qualitäten, welche auf dieselbe Weise, aber vielleicht mit anderen Akzenten auch bei anderen Familien auftauchten. Geschickte Redner machten sich das zunutze: Geistesgegenwärtig reagierte der Ankläger Licinius Crassus mitten in seiner Rede gegen Brutus, als gerade der 74
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Leichenzug einer Iunia vorüberzog; auch der Angeklagte gehörte zu dieser gens, und so forderte ihn Crassus auf, seinen Ahnen ins Gesicht zu sehen, und fragte ihn, was die Verstorbene ihnen wohl über ihn berichten mochte.12 In heftigen Auseinandersetzungen trennten manche Redner entschieden die Erfüllung kardinaler Normen von ihrer familialen Verbürgtheit. Dieser Kunstgriff spielte ein radikal individualisiertes Leistungsethos gegen die Ahnenserie aus. Er lohnte. So betonte Cato, angemessen sei es, an Recht, Gesetz, Freiheit und am Staat gemeinsamen Anteil zu haben, jedoch an Ruhm und Amtsehre nur in dem Maße, wie jeder es sich verdiente.13 Die individuelle Leistung dermaßen aufzuspreizen, ist keine catonische Erfindung; es ist die einzige Chance für Aufsteiger, in einer traditionsreichen Gruppe ihren Anspruch auf Gleichwertigkeit geltend zu machen – ein Anspruch, der rasch in ein Bewusstsein von Überlegenheit umschlagen konnte: Cato brauchte bloß den aktuell lebenden Senatoren das idealisierte Bild ihrer Vorfahren vorzuhalten und die Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistung zu illustrieren. Das symbolische Kapital einer Familie ließ sich gegen die konkret erlebbaren nobiles kehren. Cato scheute sich nicht, diese Waffe zu benutzen.14 Freilich stabilisierten solche Angriffe die senatorische Herrschaft. Die elitären Aspekte des Normensystems gegen die aristokratischen ausspielend, verstärkte Cato die kompetitiven und leistungsorientierten Seiten des adligen Normensystems. Dasselbe gilt für jene Attacke, die der homo novus C. Marius gegen die Senatsspitze führte, als er im Januar 107 v. Chr. sein Konsulat antrat. Auch er wertete die individuelle Tüchtigkeit auf – freilich auf eine bis dahin noch nie vorgekommene Weise. Marius prägte schlicht den Begriff der Nobilität um: dieser bezeichnete in seiner Rede nicht mehr die effektive Zugehörigkeit zu konsularischen Familien, sondern die evidente moralische Berechtigung, die höchsten Ämter und Funktionen ausüben zu können: »Ich kann zu meiner Beglaubigung keine Ahnenbilder und auch keine Triumphe oder Konsulate meiner Vorfahren vorzeigen, jedoch, wenn es verlangt würde, Ehrenlanzen, eine Standarte, Orden und andere militärische Auszeichnungen, außerdem die Narben auf meiner Brust. Das sind meine Ahnenbilder, das meine Nobilität.« Er stellte dem militärischen Versagen seiner hochadligen Gegner ihre ruhmreichen Ahnen entgegen, und er vollendete seinen Angriff: »Was sie aufgrund fremder Tüchtigkeit für sich selbst beanspruchen, das gestehen sie mir nicht zu, in eigener Person zu erwerben.«15 Diese Versager begründeten ihren Anspruch einzig durch die Tüchtigkeit ihrer Ah75
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nen; aber das sei fremde Tüchtigkeit – aliena virtute. Das war eine ungeheuerliche Aussage. Marius spaltete die individuellen nobiles von ihren Ahnen ab: deren eigenen Ahnen waren ihnen ›fremd‹. In der Situation von 107 v. Chr. hieß das: Marius leugnete rundheraus, dass der princeps Senatus Aemilius Scaurus, der Hauptintrigant und Mitverantwortliche für die Niederlagen in Numidien, Anspruch auf die Ahnen der Aemilier hatte; der Ruhm dieser Ahnen gehörte ihm in keiner Weise, war ihm ›fremd‹. Marius trennte damit das symbolische Kapital einer Familie von den lebenden Trägern des Familiennamens: Das symbolische Kapital sollte pädagogisch anspornen; aber es bot nicht die geringste Garantie dafür, dass die Nachkommen sich ebenso anstrengten und ebenso viel leisteten wie die Vorfahren. Denn, so fuhr Marius fort, es sei fürwahr besser, seinen Adel selbst zu erringen als ihn geerbt zu haben und ihn zu verderben. Keine noch so lange Ahnenserie schützte davor. Solche Angriffe auf konkrete Ausschnitte der herrschenden Klasse appellierten an die Bereitschaft der Bürger, tüchtige Senatoren zu unterstützen, und bezeugten allen, dass solche bereit standen, um die anstehenden Aufgaben zu übernehmen; und so stärkten sie die Zustimmung zur Herrschaftsberechtigung der Gesamtklasse. Diesen Konsens zelebrierte die pompa funebris regelmäßig. Die Ahnenserien evozierten ein bestimmtes Wissen um Verhaltensmaßstäbe und Normen und sie dokumentierten, dass die Ahnen diesen Maßstäben gerecht wurden. Dieses Wissen stärkte das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der römischen Ordnung und stabilisierte die soziale Hierarchie. Es bestätigte den einfachen römischen Bürgern, dass die adligen Familien zur Gänze im Dienste der Res publica standen, dass der Adel wie eh und je sich den Normen der politischen Kommunikation unterwarf und seinem Ethos treu blieb. So half das Wissen mit, den einzigartigen Gehorsam der römischen nichtadligen Schichten auf Dauer zu stellen und die Adelsherrschaft zu stützen. Immer wieder aktualisiert und re-memoriert, diente dieses Wissen dazu, auf das adlige Verhalten Druck auszuüben, es normativ zu steuern. Politisches Handeln in Rom war prinzipiell auf den Konsens hin orientiert: auf den Konsens des einzelnen Adligen mit der gesamten Senatorenschaft und auf den Konsens des Senats mit dem Volk. Das berührte die Struktur dieses historischen Wissens ebenso wie seine politische Verwertung. Konsensorientierte Politik braucht viele unbestrittene und verbindliche Fixpunkte. In Rom waren das die exempla. Exemplum heißt hier: eine vorbildhafte und nachahmbare Handlung eines konkreten Individuums in einer bestimmten Situation – manch76
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mal auch ein Beispiel für ein schlechtes Verhalten, das man nicht nachahmen sollte. Exempla waren mit einem Namen verknüpft und trugen ein fixiertes Datum.16 Da man in den politischen Kontroversen mit exempla argumentierte, mussten diese verbindlich sein für den gesamten Adel. Was die Römer mos maiorum nannten – den ›Brauch der Vorfahren‹ – war im strengen Sinne nichts anderes als die durch Präzedenzfälle strukturierte Verbindlichkeit von sozialen Normen.17 Es darf nicht verwundern, dass bereits die ältesten literarischen Zeugnisse der römischen Kultur den mos maiorum beschworen, in demselben Sinne, wie noch Cicero und Kaiser Claudius dies später taten.18 Diese Verbindlichkeit war unverzichtbar. Indem alle auf dieselben exempla Bezug nahmen, war es fast ausgeschlossen, dass völlig entgegengesetzte politische Vorstellungen auftauchten. Die römische Manie, in allen politischen Fragen mit exempla zu argumentieren, verstärkte somit die Konsensfähigkeit. Das ist besonders dort zu sehen, wo römische Senatoren gegen die Senatsmehrheit Neuerungen durchzusetzen suchten. Als Tiberius Gracchus 133 v. Chr. den unerhörten Schritt tat und einen Volkstribun abwählen ließ, geriet er unter starken politischen Druck. Er rechtfertigte sich in einer Rede, doch er vermochte sich auf kein exemplum zu berufen, sondern musste sich mit Analogien behelfen.19 So wurde den Zuhörern deutlich, dass er sich in Argumentationsnot befand. Das politische Bedürfnis nach exempla war entsprechend stark; und die pompa funebris antwortete darauf. Wenn beim Leichenbegängnis die Ahnen mit ihren Wachsmasken vorbeidefilierten, dann wandelten auch exempla durch Rom. Für die alltägliche politische Debatte benötigte man eine schmale Quote von exempla aus der stattlichen Menge von vorhandenen Ahnen. Um in politischen Kontroversen mit exempla zu argumentieren, mussten diese verbindlich sein. Der Unterschied zu Hellas ist fundamental; dort genügte es in der rhetorischen Praxis, sich auf mythische Beispiele zu berufen; freilich besaßen diese praktisch keinen Verbindlichkeitswert, denn der Mythos war flexibel und poetisch gestaltbar. Erfanden Senatoren inmitten einer Debatte eigens exempla, um die eigene Position zu stärken, wären die Gegner ebenfalls dazu übergegangen, ihrerseits zu erfinden, was sie an exempla brauchten. Die Verbindlichkeit hätte sich geschwinde verflüchtigt; und eines der wichtigsten Instrumente senatorischer Argumentierkunst wäre damit unbrauchbar geworden. Daher unterließ es Tiberius Gracchus füglich, für die Abwahl eines Volkstribuns ein exemplum zu erfinden. Aber bis wohin reichte die Geltung von unbestrittenen exempla ? Das war nicht immer im Vorhinein klar. Als im Jahre 209 der Priester (fla77
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men) des Jupiter, C. Valerius Flaccus, den Senat betrat und sich auf das alte Recht der Priester berief, Senatssitzungen beizuwohnen, führte ihn der Praetor P. Licinius aus dem Gebäude: Das Recht dürfe sich nicht auf Beispiele – exempla – stützen, welche zwar aus alten Jahrbüchern entnommen, aber inzwischen außer Brauch gekommen seien; denn weder zur Zeit der Väter noch der Großväter habe ein Jupiterpriester von diesem Recht Gebrauch gemacht. Der Praetor leugnete also nicht, dass exempla vorlagen. Doch er hielt einen älteren Brauch nicht per se für den besseren. Die Amtsvorgänger des Valerius Flaccus hatten, von einem ehemals gültigen Brauch abweichend, selbst wiederum einen Brauch geschaffen, der zu respektieren war. Implizit setzte P. Licinius voraus, dass eine solche Abweichung einen Grund gehabt hatte; selbst wenn im Jahre 209 niemand sich mehr an diesen erinnerte, so musste es doch ein allgemein akzeptierter Grund gewesen sein. Der ausgesperrte Priester appellierte an die Volkstribunen. Diese entschieden, dass das Amt nicht deswegen ein Recht einbüßte, weil die Amtsinhaber es über einen langen Zeitraum nicht wahrnahmen; und sie führten den flamen in den Senat zurück, unter lautem Beifall des Volkes und unter Zustimmung der patrizischen Senatoren.20 Wenn ein auf alte exempla gestützter Brauch (mos maiorum) so große Chancen hatte, sich gegen Neuerungen und Abweichungen zu behaupten, dann war man gut beraten, für politische Innovationen den allerbreitesten Konsens zu suchen – am besten die Form des Volksbeschlusses –, und sie fest zu verankern. Man stritt nicht nur über die Geltung von exempla, man stritt auch über deren Einordnung in die verschiedenen memorialen Rubriken. Es gab nämlich auch Beispiele für ›schlechtes‹ Verhalten, z. B. Coriolan. Auch solche Gestalten wurden erinnert, aber nicht als ›Vorbilder‹. Ob ein bestimmtes Handeln ›vorbildlich‹ wurde oder nicht, ergab sich gelegentlich erst durch schwere Auseinandersetzungen. Als 340 v. Chr. der Consul Manlius Torquatus seinen Sohn, der gegen seinen Befehl gehandelt hatte, hinrichten ließ, gab er ein exemplum triste, das von der römischen Jugend zunächst nicht akzeptiert wurde.21 War dieser Kampf um die Bewertung einer Handlung jedoch entschieden, dann wog ein ›exemplarisches‹ Handeln schwer. Denn hinfort konnte man es immer wieder zitieren und für eigene Zwecke verargumentieren. Es konnte Handlungen mit Signifikanz versehen, die ansonsten schwerlich zu akzeptieren waren, wie ein markantes Beispiel zeigt: Im Jahre 140 v. Chr. fällte ein Manlius Torquatus im Rahmen eines Hausgerichtes ein anfechtbares Urteil, das aber dennoch als vorbildhaft überliefert wurde: T. Manlius Torquatus (Consul 165 v. Chr.) hatte seinen 78
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Sohn einem Iunius Silanus zur Adoption gegeben; dieser, D. Silanus, verwaltete 141 v. Chr. als Praetor die neu eingerichtete Provinz Macedonia, dabei muss er amttypische Vergehen begangen haben. Als Gesandte der Provinz Macedonia nach Ablauf seiner Amtszeit gegen D. Silanus vor dem Senat Anklage erhoben, erbat sich der alte Torquatus von den Senatoren, dass sie darüber nichts beschlossen, bevor er selbst die Sache der Makedonen und die seines Sohnes untersucht hätte. Manlius Torquatus genoss hohes Ansehen im Senat und war sehr rechtskundig. Nun gab es bereits seit neun Jahren einen ständigen Gerichtshof, der sich mit Übergriffen der Statthalter gegen die Provinzbewohner befasste. Normalerweise wäre die Angelegenheit, falls sich ein Senator bereit fand, die Sache der Provinz gegen den ehemaligen Statthalter zu vertreten, vor diesen Gerichtshof gekommen. Als Adoptierter unterstand D. Silanus nicht mehr der patria potestas seines leiblichen Vaters T. Manlius; daher war er dessen Hausgericht nicht unterworfen. Sein Adoptivvater war nicht mehr am Leben; demnach war er für sich selbst verantwortlich, sui iuris. Wie konnte ein bereits voll rechtsfähiger Römer dem Hausgericht seines leiblichen Vaters überstellt werden? Zum einen erteilte der Senat dem Vater nicht das Recht, wieder seine patria potestas auszüben, sondern überließ ihm den Fall lediglich zur Untersuchung. Der Vater konnte also zu einer Ansicht der Sachlage gelangen (›schuldig‹ oder ›nicht schuldig‹); er konnte aber – da er keine patria potestas ausübte – keine Strafe verhängen. Zum anderen konnte der rechtlich selbständige Silanus sich schwerlich weigern, den leiblichen Vater als Untersuchungsrichter zu akzeptieren, weil er damit in einem nachfolgenden Prozess vor dem Geschworenengericht seine Chancen drastisch verschlechterte. Seitdem nicht mehr die Volksversammlung über Amtsvergehen von Statthaltern richtete, sondern ein mit Senatoren besetzter ständiger Gerichtshof, wurde niemand mehr verurteilt, denn die Senatoren sprachen einander gegenseitig frei. Als die Makedonen sich im Senat über ihn beschwerten, konnte D. Silanus damit rechnen, dass ihm nichts passierte. Es ist möglich, dass T. Manlius ein Zeichen setzen wollte, denn die vorhersehbaren Freisprüche der senatorischen Gerichtshöfe unterminierten das Vertrauen des römischen Volkes auf den aristokratischen Willen, Gerechtigkeit zu üben, und damit ruinierten sie die Glaubwürdigkeit der Aristokratie. Was weiter geschah, berichtet Valerius Maximus:
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»Mit umfassender Zustimmung sowohl des Senates als auch derjenigen, die Anklage erhoben hatten, nahm er das Ermittlungsverfahren auf; er setzte sich allein zu Hause nieder und nahm sich für beide Parteien zwei volle Tage Zeit: am dritten Tag, nachdem er die Zeugen vollständig und gründlich angehört hatte, verkündete er: ›Da mir erwiesen scheint, dass mein Sohn Silanus von den Bundesgenossen Geld angenommen hat, erachte ich ihn sowohl des Staates als auch meines Hauses für unwürdig und befehle ihm, unverzüglich aus meinem Gesichtskreis zu verschwinden.‹ Niedergeschmettert von einem solch schmerzlichen Urteil des Vaters, ertrug es Silanus nicht, noch länger das Licht zu schauen und tötete sich in der folgenden Nacht durch Erhängen. Torquatus hatte somit die Aufgabe eines strengen und frommen Richters schon erfüllt, dem Staate war Genugtuung verschafft, Macedonia hatte seine Rache bekommen, ein solch respektvolles Ableben des Sohnes hätte die Härte des Vaters umbiegen können: doch dieser nahm auch an der Bestattung des Sohnes nicht teil, und als dessen Trauerzug hinausgeleitet wurde, da hörte er mit voller Aufmerksamkeit die Angelegenheiten jener an, die seinen Rat suchten. Er sah nämlich zu, dass er in demselben Atrium seinen Sessel einnahm, in welchem die von Strenge strotzende imago jenes herrischen Torquatus stand. Der kluge Mann machte sich den Umstand zunutze, dass man das Bildnis seiner Ahnen mit den Aufschriften zu dem Zwecke in den Vorderraum zu stellen pflegte, damit die Späteren deren Tüchtigkeit nicht nur läsen, sondern auch nachahmten.«22
Bei einem Hausgericht war der Vater gehalten, Verwandte als Beisitzer (consilium) heranzuziehen. Er musste deren Ansicht zwar nicht folgen, aber immerhin musste er sie zur Kenntnis nehmen. Auf diese Weise war sichergestellt, dass Väter nicht allzu willkürlich mit ihren Kindern umgingen. Vor allem den mütterlichen Anverwandten der Kinder, die einem Hausgericht unterworfen wurden, oblag es, für Milde und Schonung zu sorgen. Warum verzichtete T. Manlius auf das consilium ? Er konnte sich darauf berufen, dass – mangels patria potestas – gar keine Verurteilung vorgesehen war, es sich folglich nicht um ein richtiges Hausgericht handelte. Doch das war nur eine taktische Ausrede. T. Manlius wusste, dass selbst ein senatorischer Gerichtshof an seinem Schuldspruch nicht vorbeikam: die römische Plebs hätte rebelliert, wenn Senatoren einen Standesgenossen freisprachen, den sein leiblicher Vater – ein angesehener Konsular – für schuldig hielt. Doch ein häusliches consilium hätte verhindert, dass der Vater die Schuld feststellte. Daher organisierte er das Hausgericht wie einen Kognitionsprozess, in welchem der leitende Magistrat zugleich Richter ohne Beisitzer war: es gab keine Plädoyers, sondern lediglich die Anhörung der Kläger, die Vernehmung des Angeklagten und die Befragung der Zeugen. 80
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Als Manlius zur Überzeugung gelangt war, dass sein Sohn schuldig war, hätte es ausgereicht, dass er diesen Befund dem zuständigen Gerichtshof mitteilte – d. h. dem Praetor, dem die Zusammensetzung und die Einberufung des Gerichtshofes oblag. Doch er fügte noch ein weiteres Urteil hinzu: Sein leiblicher Sohn sei seines Hauses und des Staates unwürdig – d. h. er sei unwürdig, öffentliche Ämter zu bekleiden. Und er verhängte obendrein noch eine Strafe. Diese erscheint merkwürdig; aber eine andere konnte er schwerlich verhängen, da der Sohn nicht mehr in seiner Gewalt war. Diese Strafe erhält ihre ganze Wucht aus der Bedeutung, die der römischen Familie als Instanz gelungener Sozialisation zukam; sie traf empfindlich. Es ist zwar nicht mit Sicherheit zu sagen, ob D. Silanus sich tötete, weil er mit dem Bewusstsein, vor seinem Vater versagt zu haben, nicht mehr weiterleben konnte, oder weil er sich ausrechnete, dass ihn das ordentliche Gericht auf jeden Fall verurteilen musste. Allerdings liefert seine Todesart ein Indiz: Männer begingen in der römischen Kultur Selbstmord mit Schwert oder Dolch, Frauen mit der Schlinge. Indem Silanus die Schlinge wählte, erniedrigte er sich in einem aufsehenerregenden Maße; er entwertete die Tatsache, dass er ein Mann war; damit raubte er seinem leiblichen Vater den Sohn, der er selbst war. Es forderte damit symbolisch den Vater heraus, das Bekenntnis abzulegen, allzu streng gehandelt zu haben. Die Antwort des Vaters hätte nicht schroffer ausfallen können: Klienten zu empfangen, während das Leichenbegängnis seines leiblichen Sohnes stattfand hieß, diesen Tag zum normalen Alltag zu machen und zu demonstrieren, dass jemand zu Grabe getragen wurde, der sowohl seiner als auch der Res publica nicht würdig war. Manlius setzte sich, als er seine Klienten empfing, unter die imago jenes Manlius Imperiosus, der 200 Jahre vorher als Feldherr seinen Sohn hatte hinrichten lassen, weil dieser gegen den Befehl des Vaters verstoßen hatte. Damit gebrauchte er seinen Urahn als ein exemplum für die Strenge, die ein Vater gegenüber dem Sohn ausüben musste, damit die Res publica nicht auseinander fiel. Er signalisierte damit den Anwesenden, dass er genau wie jener Vorfahr die Belange der Res publica über die familialen Interessen stellte. Die Herausforderung, die Silanus mit seiner Todesart an ihn richtete, konterte er, indem er den Sohn gänzlich verleugnete. Auch wenn die meisten römischen Familienväter sich nicht so benahmen wie T. Manlius, schuf die bloße Tatsache, dass so etwas gelegentlich geschah, ein Wissen über mögliche Grenzfälle, welche sogar gutgeheißen und zu exempla wurden. Die innerfamiliale Disziplinie81
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rung schuf Dispositionen, die im politischen Bereich unmittelbar wirksam wurden. Sogar in den ärmeren Schichten, die auf der politischen Ebene nur schwach in die Res publica integriert waren, funktionierte die patria potestas unweigerlich als Sozialisationsmittel für die männliche Jugend. Wenn man diese Funktion der Väter berücksichtigt sowie die Verflechtung dieser Funktion mit klassenübergreifenden Normen der Sozialisation und dazugehörigen exempla, dann wird verständlich, wieso Rom selbst noch in der späten Republik ohne Polizei auskam. Dieser kulturelle Kontext disponierte die Römer dazu, Verhalten an exempla zu messen, und beförderte Wahrnehmungsschemata, die auch außerpolitisches Verhalten mit exempelartiger Signifikanz belegten, die also Verhalten zu exemplarischem machten. Vor allem in der politischen Pädagogik war das zu spüren. Junge Adlige trachteten danach ›sie selbst‹ zu werden, indem sie sich einem Vorbild annäherten. Diese Annäherung hieß nicht allein, dass sie die Einstellungen und die Lebensweise imitierten, sondern – wie Jean-Michel David herausarbeitete – dass sie versuchten, dem Vorbild auch physisch zu ähneln.23 Das nächstliegende Vorbild war der eigene Vater; doch viele junge Adlige wuchsen ohne Vater auf, weil die Verlustrate an Senatoren in manchen historischen Phasen sehr hoch war. Der Onkel väterlicherseits schied als Vaterersatz nicht selten deswegen aus, weil er gar keine politische Karriere gemacht oder es nicht weit gebracht hatte. So orientierten sich politisch ambitionierte Jugendliche häufig an berühmten Senatoren, was bei dem weit verzweigten Netzwerk von Verwandtschaften und Freundschaften nicht schwierig war. Cicero berichtet über diese Form von politischer Pädagogik: »Mein Vater führte mich bei Scaevola ein, sobald ich die toga virilis anlegte. So oft ich konnte und die Umstände es zuließen, blieb ich in Gesellschaft dieses Greises. So schrieb ich mir viele seiner gelehrten juristischen Argumentationen ins Gedächtnis ein, viele knappe und präzise Formulierungen, und ich bemühte mich, an seinem Umgang mit dem Recht mich zu bilden … Oft erinnere ich mich daran und wie er im Halbkreis in seinem Hause nach seiner Gewohnheit saß, als ich zusammen mit wenigen Vertrauten dabei war …« Das war eine grundsätzlich andere Form adliger und rednerischer Sozialisation als in Hellas: Zum einen war die Beziehung zwischen dem alten Konsular und seinen Zöglingen sehr personalisiert. Zum anderen erlernten die angehenden Senatoren etwas, was keine Rhetorikschule vermittelte: einen bestimmten Denkstil, eine bestimmte Weise, die Probleme anzugehen. Nicht auf die technische Seite des öffentlichen Auftretens kam es hierbei an, sondern auf die habituelle. Viele römi82
Kollektives Gedächtnis
sche Zuhörer achteten – vor allem wenn es ums Reden vor Gericht ging – weniger auf die Kunst der Argumentation als viel mehr auf den Habitus: ob der sich als ›echt senatorisch‹ erwies oder gegenüber den Erwartungen abfiel. Es blieb nicht aus, dass solche Zuhörer an der Gestik, an der Haltung, am Gesichtsausdruck und an der Aussprache Ähnlichkeiten und ›Verwandtschaften‹ zu erkennen suchten. Cicero behauptet, man erkenne diejenigen jungen Adligen am besten, »die sich berühmten und weisen Männern anschließen, solchen, die sich im Staat durch ihren guten Rat auszeichnen. Wenn sie mit diesen häufig zusammen sind, dann erwecken sie beim Volk die Ansicht, sie seien denen ähnlich, die sich selbst zum Vorbild erwählt haben.«24 Gerade für das Volk war die habituelle – im Idealfalle sogar die physische – Ähnlichkeit bedeutsam: diese sichtbare Äußerung des Habitus war ein symbolischer Garant dafür, dass die nachfolgende Generation des Adels in die Fußstapfen der Alten trat.
Kollektives Gedächtnis – eine Addition von Familientraditionen? Die Repräsentation der adligen Familien ist stark gentilizisch – auf die gens bezogen. Aber sie ist konnektiert mit dem senatorischen Klassenethos. Den Konnex bilden zum einen die Normen (mos maiorum), zum anderen die exempla. Vereinzelt haben deutsche Forscher gemeint, die römischen Aristokraten hätten ihre Vorbilder aus der eigenen familialen Vergangenheit genommen; somit seien maiores lange Zeit nur die Vorfahren des eigenen Geschlechts gewesen. Dementsprechend habe es auch innerhalb der gentes ein familieneigenes Normensystem – einen familialen mos maiorum – und folglich auch nur familiale exempla gegeben, ja manche Familien hätten zentrale Komponenten des mos maiorum vereinnahmt.25 Diese Ansicht ist zu befragen. Als Ausgangspunkt dient ein soziologisch wie historisch einfacher Sachverhalt: Die römische Aristokratie war eine soziale Gruppe mit einem zweiförmigen Reproduktionsmodus; teilweise reproduzierte sie sich mit familialen Instrumenten; d. h. wer es schaffte, Senator zu werden, war meist in einer aristokratischen Familie geboren oder durch Adoption in sie aufgenommen worden; dies war das aristokratische Merkmal der Rekrutierung dieser Gruppe. In jedem Falle rekrutierte sie sich jedoch über einen außerfamilialen, politisch institutionalisierten Selektionsmechanismus. Wer es nämlich schaffte, Senator zu werden, war immer vom Volk in ein Amt gewählt worden, egal, ob er ein homo novus war oder 83
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der Abkömmling einer vornehmen gens. Und den meisten Senatorensöhnen gelang es nicht, die Position ihrer Väter zu erreichen; viele schafften es nicht einmal in den Senat und stellten damit ein regelrechtes Reservoir an Absteigern dar. Das war das elitäre Moment am Reproduktionsmodus. Folglich ist es unrichtig, die römische Aristokratie als eine Addition von aristokratischen gentes aufzufassen; denn viele Mitglieder dieser gentes gehörten nicht zur senatorischen Aristokratie. Zwar war der Modus der Repräsentation, den diese Aristokratie bevorzugte, stark gentilizisch. Aber was heißt das? Jedes historische Phänomen gewinnt seine Bestimmungen erst innerhalb von konkreten Relationen.26 Deshalb ist jener Modus kein Ding, dem eine substantielle Qualität zukäme; er ist bezogen auf die Gruppe, die ihn gebraucht; und diese Bezogenheit bestimmt ihn. Er ist folglich den Mechanismen, welche den Zusammenhalt der herrschenden Klasse Roms herstellten, untergeordnet und in sie eingelagert. Andernfalls hätte sich die römische Aristokratie sofort aufgelöst oder gar nicht erst gebildet. Ferner kann keine soziale Gruppe ohne ein Normensystem bestehen. Daher verfügte die römische Aristokratie von Anfang an, und schon bevor sie die Republik installierte, über ein mos maiorum, das für die gesamte Gruppe verbindlich war. Die römischen exempla waren darum Elemente im Normensystem der Aristokratie. Ohne ein vorgängiges Normensystem gab es keine exempla. Erst Werte und Normen erlaubten, vorbildliches Handeln zu definieren; und nur so vermochte man, beispielhaftes Handeln aus der unendlichen Menge von Geschehnissen herauszufiltern. Historische Umbrüche ließen allerdings weder das Normensystem unberührt noch die zugehörigen exempla. Der aristokratische mos maiorum wandelte sich während der Ständekämpfe, um sich an die neuen Kräfteverhältnisse und an die neuen Kommunikationsformen anzupassen.27 Das Problem verdeutlicht sich, wenn man das Normensystem mit einem Verwandtschaftssystem vergleicht: Wie Lévi-Strauss in einer klassisch gewordenen Passage gegen Radcliffe-Brown gezeigt hat, kann kein Verwandtschaftssystem dadurch entstehen, dass man einzelne Familien addiert. Ganz im Gegenteil ermöglicht erst das Verwandtschaftssystem, klar zu definieren, was jeweils als Familie gilt. Das Verwandtschaftssystem konstituiert sich durch die Regeln der positionalen Zuweisung und durch die Regeln des Austausches, nicht durch die substantiellen Elemente selbst.28 Ebenso kann kein Normensystem funktionieren, wenn die Verhaltensweisen nicht ineinander verschränkt, wenn also die Erwartungen nicht aufeinander abgestimmt sind. Werden Verhaltensweisen standardisiert und erwartbar, werden sie zu Nor84
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men. Formuliert man sie als Ideale, denen nachzustreben ist, werden sie zu ›Tugenden‹; konkret realisiert werden sie ›vorbildlich‹. Wer sich auf eine strikt familieneigene Norm beruft, erzielt keine appellative Wirkung. Appelle wirken erst, wenn sie mit Erwartungen korrespondieren. Sind Appell und Erwartung korreliert, dann ist die Norm per se keine idiosynkratische mehr, sondern eine kollektive.29 Ein Normensystem mag bisweilen – in spezifischen Konfliktsituationen – nicht als kohärentes System, sondern als heterogenes Aggregat wahrgenommen werden, z. B. wenn Normen sich eklatant widersprechen oder wenn verschiedene Gruppen unterschiedliche Normen betonen. Indes, sollen sie verbindlich sein und tatsächlich gelten, dann setzen sie generalisierte Akzeptanz voraus; und die besteht nur, wenn alle – bzw. fast alle – danach streben, sie zu erfüllen. Niemals ergibt sich ein Normensystem dadurch, dass man normative Vorstellungen und Verhaltensweisen addiert, die besonderen Ausschnitten einer Gruppe zugehören. Das Normensystem einer Gruppe kann nur zusammen mit dieser Gruppe existieren, und die Gruppe nur mit ihrem Normensystem. Es ist niemals eine Addition von Elementen, sondern stets ein strukturiertes Ganzes, auch wenn es sich in jedem Augenblick restrukturiert und wandelt. Daher kann innerhalb einer handlungsfähigen Gruppe keine familiale oder gentile Gruppierung Normen okkupieren, d. h. sie monopolisieren. Wenn andere Familien nicht danach strebten, dieselben Normen zu erfüllen, dann wären diese nicht verbindlich. Dann existierte auch kein Normenkonsens; und dann löste sich die Gruppe auf bzw. sie könnte sich erst gar nicht bilden.30 Das symbolische Kapital der römischen Geschlechter, die Ansammlung ihrer vorbildhaften Ahnen, ergab folglich keine Familientradition, die sich als differente von anderen Traditionen abhob. Vielmehr bestand das Profil einer Familie darin, kommensurabel gemachte Leistungen – vorweisbar in Ahnenmasken – in quantitativ unterschiedlichem Ausmaß akkumuliert zu haben. Die Differenz zu anderen Familien ergab sich aus der unterschiedlichen Erfüllung identischer Werte. Aber stellten sich Senatoren, wenn sie sich lobten oder loben ließen, nicht häufig in Beziehung zu ihren Ahnen? Und ist das nicht ein Beweis für eine fast autistische Selbstbezüglichkeit der römischen gentes ? Nehmen wir das Beipiel des relativ unberühmten Gnaeus Cornelius Scipio Hispanus: Er hatte es bloß bis zum praetor peregrinus gebracht; in seiner Grabinschrift – um 130 v. Chr. – rühmt er sich, durch seine Lebensart (moribus) das Lob der Vorfahren erworben zu haben – maiorum optenui laudem.31 Doch vor wem verbeugte er sich, wenn er seine Ah85
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nen rühmend erwähnte? Scipio Hispanus bezog sich eben nicht auf die Ahnen seiner gens überhaupt, sondern auf jene erfolgreichen Ahnen, die selbst im ruhmvollen scipionischen Zweig der Cornelier etwa die Hälfte aller Ahnen ausmachten. Wer hatte diese Vorfahren selektiert und zu maiores im politischen Sinne gemacht? Niemand anderer als das Volk und der Senat: Die Bürger mit ihrer Wahl und die Mitsenatoren mit ihrer Kooperation machten die Vorfahren unseres Senators zu maiores. Die Autorität der maiores, ihn – den Nachfahren – zu loben, ist kein bisschen gentilizisch begründet, sondern stammt vollständig aus der Res publica. Indem Scipio Hispanus sich vor seinen maiores verbeugte, verneigte er sich vor der großen politischen Gemeinschaft, der sie angehörten und die sie zu dem gemacht hatte, was sie nun für ihn waren. Das große Kollektiv der Gemeinschaft aller Römer und das kleine Kollektiv der Aristokratie waren in den Ahnen selbst konstitutiv anwesend, denn sie hatten jeden einzelnen Ahn zu dem gemacht, was er fortan blieb. Die Ahnen waren ein historisch vermitteltes Produkt; darum war ihre Autorität – und damit ihre Befähigung, ›Lob‹ auszusprechen – politisch vermittelt. Ihr Lob drückte nichts anderes aus als das Lob des römischen Volkes. Scipio Hispanus bezog sich somit auf seine eigene soziale Klasse und auf das römische Volk; er tat das freilich in einem Bezugsmodus, der gentilizisch war. Die gentilen Ahnen waren Signifikanten der extra-gentilen kollektiven Anerkennung. Das Normensystem war nicht allein Sache des Adels; auch die Plebs kannte und teilte es, soweit es sie betraf. Es gehörte zur intensiven vertikalen Kommunikation in der römischen Gesellschaft; und es half mit, die weitgehende Fügungsbereitschaft des Volkes auf Dauer zu stellen. Zwar brauchte die Plebs spezifisch aristokratische Normen nicht zu befolgen, weil diese gar nicht auf ihre Lebensführung zugeschnitten waren. Aber diese spezifisch aristokratischen Normen wurden von der Plebs verstanden, gutgeheißen und eingefordert. Kurz: Auch derjenige Ausschnitt aus dem Ensemble der römischen Normen, der das Verhalten der Plebs nicht betraf, war trotzdem kommunikativ auf die Plebs ausgerichtet, rechnete mit ihr als Adressaten. Deswegen vermochte die Plebs sehr wohl zu sehen, ob Patrone, Feldherren, Gerichtsredner, Versammlungsredner ihre Sache gut oder schlecht machten; sie unterschied nach Kriterien, die ihr vertraut waren. Adliges Normensystem und politischer Gehorsam des Volkes waren miteinander verschränkt. Für die Plebs galt der mos maiorum also nicht weniger als für die Aristokratie – und zwar von Anfang an und besonders, seitdem die Ständekämpfe beendet waren. Dass die Plebs den mos maiorum immer wieder anders auslegte, als große Teile der Aristokratie es taten, ist selbstver86
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ständlich. Denn wenn Gruppen, die in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen, sich auf eine gemeinsame Tradition berufen, dann wird um deren Deutung gestritten.32 Die Normen griffen ineinander, weil die Erwartungen aufeinander abgestimmt oder weitgehend kompatibel waren. Ebenso mussten auch die exempla aufeinander abgestimmt sein. Denn die Römer beriefen sich unentwegt auf Präzedenzfälle. Das war keine folkloristische Eigenart, sondern ein intrikater Faktor der Willensbildung in römischen Gruppen – vom Senat in Rom bis zum Familienrat in einer Kleinstadt. Die Präzedenzfälle erleichterten die politische Kommunikation. Wenn es darum ging, in Kontroversen zu einhelligen Optionen zu kommen, dann war es ratsam, Präzedenzfälle – und damit exempla – zu verwenden, die nicht aus der eigenen Familie oder gentilen Tradition stammten. Ferner richteten Präzedenzfälle die Erziehung auf vorbildliches Handeln aus; hierbei lag es nahe, der eigenen Jugend exempla vor Augen zu halten, die aus der eigenen gens stammten. Wahrscheinlich schon in der frühesten Republik leisteten exempla politische Pädagogik. Das memorialkulturelle Problem in jener Epoche, als sich die patrizisch-plebejische Nobilität herausbildete, war nicht das, exempla zu bilden und zu sammeln. Das Problem war zuvorderst, in jeder Welle der Ständekämpfe den Bestand neu zu konfigurieren, ihn zu semantisieren und zu kanonisieren; und überdies waren Medien zu finden, welche die Geltungskraft der exempla aktivierten. Der Bestand tangierte direkt den politischen Konsens; und die Medien bevorzugten die einen, benachteiligten andere. Die einzige zweifelsfreie Kanonisierungsweise, die wir noch fassen können, war die pompa funebris; erst später stellte Augustus die Statuen selektierter Römer in seinem Forum auf. In den unterschiedlichen pompae funebres führte man riesige Bestände an potentiellen exempla mit. Aber diese Bestände waren viel zu groß, um argumentativ handhabbar zu sein. In der alltäglichen politischen Kommunikation war nur ein winziger Ausschnitt davon zu gebrauchen. Ganz einfach, weil ein exemplum nur wirkte, wenn die Zuhörer es gut kannten. Da keine Behörde die Kanonisierung regelte, vollzog sich die Selektion nach der Berühmtheit eines Ahnen und nach der Prägnanz von Taten und Ereignissen, die es zu vermeiden oder zu wiederholen galt. Der argumentative Zusammenhang filterte die möglichen Präzedenzfälle. Selbstverständlich zitierten Senatoren keine exempla aus der eigenen gens. Verläuft die Willensbildung konsensorientiert, ist es untunlich zu sagen: ›Unser Ahn X machte damals jenes, also ist es richtig, wenn ich heute etwas Ähnliches tue.‹ Auf diese Weise exempla zu zitie87
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ren, hieße, implizit die familialen Gruppierungen als differente und ungleiche herauszustreichen. So würden Handlungsmaximen von familialen Gruppierungen monopolisiert und quasi zum Privileg. Und das sprengte den Adel als Gruppe. Ganz anders verhält es sich, wenn man das eigene Tun damit begründet, dass Präzedenzfälle aus anderen Familien vorliegen: ›Was Euer Vorfahr Y damals vorgemacht hat, darf ich nun wiederholen.‹ Ein prägnanter Fall bietet das Vorgehen, mit dem P. Servilius Vatia Isauricus 57 v. Chr. den Consul Q. Metellus dazu brachte, seine Feindschaft gegen Cicero beizulegen. Als alter Konsular redete Servilius Isauricus dem Consul ins Gewissen, indem er ihn an metellische Consuln und an deren Politik erinnerte und ihn beschwor, dieser Linie treu zu bleiben und sich ihrer würdig zu zeigen. Er fügte dann hinzu, der verbannte Cicero befinde sich in derselben Situation wie Metellus Numidicus, den ein Volksbeschluss schließlich aus seinem Exil zurückrief. Q. Metellus war außerstande, sich diesem Appell zu entziehen; er selbst setzte im Senat die Rückrufung Ciceros auf die Tagesordnung. Servilius benutzte demnach die metellischen Vorfahren, um einen Meteller zu nötigen, sich einem inneradligen Comment zu fügen; er brauchte ein Gedächtnis, das auf die Senatorenschaft als ganze ausgerichtet war. Als maßgebliche Instanz fungierte in diesem Falle die gleichartige Verbindlichkeit der adligen Normen für alle Familien; und dementsprechend wirkte der Appell. So kräftigte sich der Zusammenhalt der Aristokratie. Der Modus der Repräsentation ist daher nicht zu verwechseln mit dem Inhalt des Repräsentierten. Das Klassenethos der römischen Aristokratie stellte sich tatsächlich in den Formen gentilizischer Repräsentation dar. Aber diese Darstellungsweise heißt mitnichten, dass ein gentilizisches Ethos existierte. Hätte es existiert, dann wäre jede gens eine eigene soziale und politische Einheit gewesen. Die römische Aristokratie hätte keine soziale Klasse gebildet. Die These von gentilspezifischen Normensystemen ist daher soziologisch wie memorialtheoretisch unhaltbar: Erstens ist das Normensystem der sozialen Gruppe zwingender und verbindlicher als die besonderen moralischen Orientierungen von familialen Segmenten, und es enthält überdies jene Orientierungen bereits in sich;33 denn eine soziale Gruppe ist keine Addition von kulturellen Segmenten. Zweitens gibt es keine handlungsfähige Gruppe, die nicht – von Anfang an – über ein gemeinsames kollektives Gedächtnis verfügte.
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Exemplifizierung: Positiv wie negativ
Exemplifizierung: Positiv wie negativ Exemplum und annalistischer Erinnerungsmodus – eine Verlustbilanz Um aus einer Person ein exemplum zu machen, war ihr tradierbares Bild auf wenige Striche zu reduzieren. Der annalistische Erinnerungsmodus leistete eine solche Reduktion. Er operierte mit spezifischen Ausblendungen, die – solange nicht andere Faktoren dem entgegenwirkten – zu einem Vergessen besonderer Art führten. Charakterisiert man diesen Erinnerungsmodus näher, dann zeigt sich, dass er der Herausbildung einer Geschichtsschreibung griechischen Typs nicht förderlich war, ja dass er sie geradezu verhinderte. Die Lobrede auf die Ahnen beim Leichenbegängnis sonderte aus der Menge des Wissens über eine Person einzig und allein das politisch Verwertbare aus: den Namen der Person, die erreichten Ämter, die chronologischen Daten ihres Handelns, die besonderen Taten und Ehrungen. Diese Daten dürften in der Regel exakt gewesen sein. Aber die Reduktion der Erinnerung auf diese Daten ließ von der jeweiligen Person nur noch eine Grobkontur übrig. Alles, was die Daten der Laufbahn, der ›Taten‹ und der Ehrungen überstieg, war im formalisierten Erinnern kaum aufzubewahren, ausgenommen spärliche Hinweise auf moralische Qualitäten, die politisch relevant waren. Wenige Daten, die von Vorfahr zu Vorfahr gleichartig aussahen, charakterisierten die Personen: sie wurden so gut wie immer erst Quaestor, dann Aedil, dann Praetor oder gar Consul; sie gewannen Schlachten, unterzeichneten Friedensverträge, verhandelten als Gesandte, organisierten Landzuweisungen und Ansiedlungen, und sie brachten Gesetzesanträge vor die Volksversammlung. Die Personen wurden einander verzweifelt ähnlich, nicht allein, weil man von ihnen wenige Daten rememorierte, sondern weil die überlieferten Daten gleichartig waren und alle demselben Register – Ämter und politische Leistung – angehörten. Sie wurden damit zu Skeletten, und Skelette ähneln sich. Hinzu kam das römische Namensystem: Wie sollte man 15 Valerii Flacci auseinander halten, wenn die eine Hälfte Marcus, die andere Gaius hieß? Und wenn das Cognomen weggelassen wurde, dann wurden ganze Serien von valerischen Consuln ununterscheidbar. Ein solcher Erinnerungsmodus erzeugte unter den gegebenen Bedingungen notwendigerweise Dubletten, denn die großen Taten des einen Ahnen wurden leicht auch einem anderen zugewiesen: Wenn z. B. mehrere namensgleiche Adlige zu unterschiedlichen Zeiten ähnliche erinnerungswürdige Handlungen vollbrachten und wenn man sonst nichts 89
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von ihnen erinnerte, dann waren diese als distinkte soziale Rollenträger nicht mehr zu fassen. Es ist also nicht nötig, Dubletten damit zu erklären, dass bestimmte Geschlechter zusätzliche Ahnen in ihr Archiv einschmuggelten; es genügt, sie schlicht als Ergebnis der allzu starken Anähnlichung der Personen zu betrachten. Dabei unterschieden sich alle diese Römer so sehr voneinander wie Caesar von Pompeius. Der annalistische Erinnerungsmodus folgt einer strengen Logik: Was für uns interessant ist, war wenig bedeutsam unter dem Blickwinkel der politischen Vorbildlichkeit und ging daher dem kulturellen Gedächtnis der Römer verloren. Und damit skelettierte sich die gesamte Vergangenheit. Dieses riesige, aber karge Gerüst mochte sich über 450 Jahre erstrecken und verhältnismäßig genaue Fixpunkte liefern; aber es eignete sich nicht für eine historiographische Darstellung dramatischer Art, mit Szenerien und Interaktionen. Erst als der biographische Erinnerungsmodus aufkam, meldeten sich neue Formen des Interesses an den Personen der Vergangenheit und erweiterte sich der Radius des Bedeutsamen. Der biographische Erinnerungsmodus entstand freilich auf dem literarischen Feld und funktionierte ganz anders als der annalistische: Er färbte die römischen Adligen ›individuell‹. Der annalistische Erinnerungsmodus geriet unter literarischen Druck, als diejenige Gruppe, die sich seiner bislang bedient hatte, nun noch zusätzlich zu den dürren Daten lebendige Schilderungen begehrte. Römische Historiographen standen dann vor einem Dilemma: Zwar sahen sie sich einer stattlichen Anzahl von namentlich bekannten Personen gegenüber, doch fehlten ihnen die farbigen Szenen fast völlig. Sie mussten also literarische Erfindungsgabe walten lassen, um sich einer Historiographie griechischen Typs anzunähern.34 Obsessiv betrachtete die römische Historiographie politisches Handeln unter dem Aspekt seiner Exemplarität; das änderte sich auch in der Kaiserzeit nicht. Da die Exemplifizierung darauf abhob, normative Verbindlichkeit zu personifizieren, widerfuhr ihr dasselbe wie dem typologischen Verfahren, mit welchem die jüdische Gedächtniskultur operiert: Die exempla gingen ihrer Einbettung in eine konkrete historische Situation verlustig, und zwar desto mehr, je mehr sie sich mit Bedeutsamkeit aufluden, an argumentativer Relevanz gewannen und zu Zitaten schlechthin aufstiegen. Der Zeitindex eines Exempels musste dabei nicht abhanden kommen, da die Zeitachse entlang der ConsulListen und der Jahreszählung jederzeit aktivierbar war. Aber er entwertete sich tendenziell, weil die postulierte Wiederholbarkeit des exemplarischen Verhaltens keine Rücksicht nahm auf die Verschiedenheit der historischen Situationen. Ein dermaßen von Ritualisierungen 90
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gezeichnetes Erinnern wie das Zitieren eines Exempels fördert keinesfalls das Verständnis der Vergangenheit, liegt weitab von jeglichem Motiv, Aufschlüsse über sie zu gewinnen. Das Zitieren enthistorisiert die Ereignisse.35 Die Römer haben ihre Vergangenheit nicht besser ›verstanden‹ als die Griechen, obschon sie in ihrem offiziellen politischen Gedächtnis präzisere Daten der Vergangenheit erinnerten und zitierten. Eher trifft das Gegenteil zu. Eben weil bei den Griechen das offizielle Gedächtnis von mythischen Schematisierungen organisiert, ungenau, widersprüchlich und umstritten war, deswegen war kein Bild der Vergangenheit herstellbar, das für alle Gruppen einer Polis verbindlich wurde, geschweige denn für alle kulturellen Gebiete (Bildniskunst, Poesie, Historiographie, politische Rhetorik). Es konnten immer neue Varianten auftauchen, andere Sehweisen zur Geltung kommen. Da es im politischen Raum kaum gelang, selektierte Elemente der Vergangenheit – ob fiktive oder reale – zu kanonisieren, eröffneten sich kommunikative Räume, in denen kritische Diskurse sich zu eigenen Wissensgebieten verfestigten – wie etwa die Historiographie und die politische Philosophie. Diese spezialisierten Wissensgebiete suchten die Vergangenheit methodisch zu erschließen, gemäß eigener Wahrheitskriterien. Genau das ist in Rom nie geschehen. Kein historiographischer Diskurs konnte auftauchen, der grundsätzlich vom senatorischen Selbstverständnis abwich. Auch die unter literarischen Gesichtspunkten entfaltete römische Historiographie – wie z. B. Sallust, Livius und Tacitus – blieb an den fundamentalen Maximen des senatorischen Selbstverständnisses haften; darum konnte sie nie die theoretische und methodische Ebene etwa von Thukydides oder Polybios erreichen. Anders gesagt: Der starke Vergangenheitsbezug des aristokratischen Selbstverständnisses verhinderte die Herausbildung einer relativ autonomisierten Geschichtsschreibung. Gedächtnispolitik: Verdammte Memoria – und doch nicht vergessen Wenn die herrschende Klasse sich darüber stritt, ob ein bestimmter Senator der Vergangenheit als gutes exemplum zitierbar war oder nicht, stellte sich gelegentlich kein Konsens ein. Dann existierten zwei Traditionen über eine Person nebeneinander. Das passierte mit C. Flaminius, der 232 v. Chr. ein Ackergesetz gegen den Widerstand der Nobilität durchbrachte. Und es geschah auch mit den beiden Volkstribunen Tiberius und Gaius Gracchus und in der unruhigen Zeit danach mit vielen anderen.36 Dissens über exempla tangierte den Vorrat an zitierbaren Figuren von symbolischer Prägnanz und schmälerte die argumentative 91
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Basis für die Konsensfähigkeit des römischen Adels. Denn es ging ja darum, welcher Bestand an exempla zitierfähig war. Von daher lässt sich begreifen, wieso die römische Republik bisweilen grob in die familiale Erinnerungspraxis eingriff, indem nämlich der Senat über erklärte Staatsfeinde eine damnatio memoriae verhängte. Die damnatio memoriae verbot je nach Einzelfall: den Toten zu begraben, seine Bildnisse aufzustellen oder überhaupt zu bewahren, seinen Namen auf offiziellen Dokumenten (Kalender, Inschriften) zu gebrauchen oder stehen zu lassen (daher die Rasuren in Inschriften), seinen Geburtstag zu feiern, seinen Vornamen künftig in der Familie zu verwenden. Bezeichnenderweise fehlte in den griechischen Poleis diese Praxis fast vollständig. Die damnatio memoriae tangierte direkt die pompa funebris der betroffenen gens; denn die Ahnenmaske des solcherweise Verurteilten durfte nicht erscheinen, sie existierte offiziell gar nicht mehr.37 Seltsamerweise war die damnatio memoriae aber kein verordnetes Vergessen. Es war sehr wohl möglich, den so Verfemten literarisch zu erwähnen, gelegentlich sogar seine Biographie zu schreiben. Die damnatio memoriae zielte also nicht darauf, diesen vollkommen vergessen zu machen. Sie strich ihn lediglich aus dem Inventar der zitierfähigen exempla. Sie machte aus ihm ein exemplum schlechten Verhaltens, wie z. B. Coriolan eines war. Schlechte exempla wurden negativ semantisiert, aber nicht per se aus der kollektiven Erinnerung getilgt. Anstatt negative Ereignisse oder Personen zu vergessen, wies ihnen die römische Memorialkultur einen eingehegten semantischen Ort zu. Im Unterschied zu den Griechen vergaßen die Römer wichtige verlorene Schlachten nicht, sondern luden die Tage, an denen sich ein solches kollektives Unheil zugetragen hatte, mit dunkler Bedeutung auf. Diese Unglückstage halfen, die Niederlagen im Gedächtnis zu bewahren.38 Ebenso behielt man in Rom schwere innenpolitische Zwiste – Umsturzversuche, Konfrontationen zwischen Adel und Volk – im Gedächtnis, und man veranstaltete offizielle Feiern, in denen man der Wiederherstellung der Eintracht gedachte. In diesem Sinne muss man auch die damnatio memoriae verstehen. Die damnatio memoriae war sozusagen jedesmal ein Zitiergesetz, welches das Inventar der positiv zitierfähigen exempla schützte.39 Bei schwerem Dissens nützte jedoch auch keine damnatio memoriae. Denn die momentan unterlegene senatorische Gruppierung akzeptierte derartige Zwangsmaßnahmen nicht, welche bezweckten, ihre politische Orientierung zu kriminalisieren. Vor allem seit Sullas erstem Marsch auf Rom 88 v. Chr. waren aktuell unterlegene Gruppierungen entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit eine solche damnatio memo92
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riae faktisch unwirksam und den Ausschluss ihrer Leitfigur aus dem Inventar der exempla rückgängig zu machen. So etwas tat der spätere Dictator Iulius Caesar, als er seine Tante väterlicherseits bestattete. Sie war die Frau des C. Marius gewesen; über den hatte Sulla eine damnatio memoriae verhängen lassen. Somit war es verboten, das Bildnis des Marius zu zeigen. Caesar ließ das Ahnenbildnis des Verfemten in der pompa funebris seiner Tante mitführen.40 Da diese Dame durch ihre Eheform nicht unter die familiale und häusliche Gewalt ihres Mannes gekommen war, war sie eine Iulierin geblieben, und deswegen oblag ihre Bestattung dem Neffen brüderlicherseits, also Caesar. Dieser konnte seiner Tante ein Leichenbegängnis ausrichten, in welchem die iulische Ahnenserie auftauchte. Er fügte die imago des Marius in die Ahnenparade ein. Das war ein doppelter Verstoß: Streng genommen konnten die Iulier die imago des Marius nicht besitzen: Die imagines von Kognaten gingen ja von der frauengebenden zur frauennehmenden Seite. Da die Iulier gegenüber Marius in der Rolle der Frauengeber gewesen waren, waren die Bildnisse der iulischen Ahnen an Marius und seine Familie gegangen; aber umgekehrt hatten die Iulier keinen Anspruch auf ein Bildnis von Marius. Jedoch ging die pompa funebris wahrscheinlich vom Hause der Verstorbenen aus; und dort befand sich die imago ihres Ehemanns Marius. Indem Caesar diese imago in die Ahnenserie der Iulier integrierte, stellte er die Zuschauer vor ein Interpretationsproblem: Falls er damit aus dem iulischen Leichenzug praktisch einen marischen machen wollte, war die Aufstellung korrekt, denn innerhalb eines marischen hatten die iulischen Ahnen tatsächlich ihren Platz. Der zentrale Ahnenzug hätte dann aus den Masken des marischen Geschlechts bestanden. Indes, davon gab es bis dahin offiziell bloß eine einzige, nämlich die eines Verwandten des C. Marius, welcher 102 v. Chr. als Praetor in Spanien gewesen war. Marius selbst, sein Sohn sowie Marius Gratidianus, Praetor 85 v. Chr., unterlagen der damnatio memoriae; ein marischer Zug mit einer einzigen agnatischen imago wäre automatisch zu einem iulischen geworden. Falls Caesar seine Tante in einen explizit iulischen Leichenzug einreihte, dann beging er, marische Ahnenbildnisse mitführend, einen Regelverstoß in der pompa funebris, für den die Zuschauer einen Grund finden mussten. Die gens Iulia in einer bis dahin unbekannten Weise rühmend, stellte Caesar klar, wie die Römer seinen Regelverstoß verstehen sollten: Unzweifelhaft handelte es sich um eine iulische und nicht um einen marische pompa funebris; die demonstrative Absicht trat scharf zutage: Der Neffe durchbrach die damnatio memoriae, welche Sulla über den toten 93
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Marius verhängt hatte. In den Augen der Plebs stellte er damit die familiale Solidarität über einen Senatsbeschluss; er erwies dem kognatischen Onkel seine Pietät. Zugleich gab er freilich damit eine politische Stellungnahme für den popularen Helden ab, und zwar auf herausfordernde Weise. Caesar hatte mit dieser politischen Manifestation Glück. Denn das Volk begrüßte jubelnd diesen spektakulären Angriff auf die sullanische Ordnung. Ein Sonderfall aggressivster Gedächtnispolitik war Catos Buch über die römische Vergangenheit: Der Autor ließ die individuellen Namen weg; die Namen der Consuln und die der Feldherren so vieler Schlachten kamen im Text nicht vor. Das Buch verhängte damit über die gesamte Spitze der römischen Senatorenschaft eine damnatio memoriae ganz besonderer Art. Dieser Affront gehörte sicherlich in den Kontext jenes Kampfes, den Cato lange Zeit führte, um den Feldherren die Kontrolle über die Beute zu entreißen. Die Botschaft dieser entnamten Historiographie ist eindeutig: Stets erbrachte das Volk die Hauptleistung, sowohl bei den Karthagern wie auch bei den Römern; die Römer taten übel daran, den Feldherren die militärischen Leistungen anzurechnen und sie mit Ruhm auszustatten; Feldherrnruhm war Anmaßung; die politischen Leistungen waren umzubuchen.41 Sein Angriff auf die Namen zielte direkt auf die Ahnenserien der römischen gentes. Die Namenlosigkeit brachte diese Ahnenserien um ihren Wert als symbolisches Kapital in den Wahlkämpfen. Sie entwertete die Vorfahren aber auch auf kulturell umfassende Weise: So büßten diese ihre Würde als exempla ein, als ständige Referenzpunkte in den Memorialpraktiken. Ging es nach Cato, musste sich die gesamte römische Memorialkultur vollkommen umstrukturieren. Freilich verlor der sittenstrenge homo novus auch seinen sittenwidrigen Kampf gegen die Struktur der römischen Memorialkultur.
Die Umorganisierung des kollektiven Gedächtnisses im Prinzipat Als die kaiserliche Herrschaft sich in Rom etablierte, musste das neue Regime das kollektive Gedächtnis umgestalten. Dieser Vorgang illustriert, wie sehr die römische Memorialkultur auf die Muster angewiesen war, welche die pompa funebris lieferte. Die ersten Kaiser tasteten nach standardisierbaren Formen, sobald ihnen die pompa funebris verstorbener Angehöriger dazu Gelegenheit bot. Über die Ahnenprozessionen der kaiserlichen Familie haben wir mehr Nachrichten als über 94
Die Umorganisierung des kollektiven Gedächtnisses
die republikanischen pompae funebres; und so lassen sich mehrere neue Kombinationen nachzeichnen, welche Augustus und auch Tiberius ersannen. Als Augustus im Jahre 2 v. Chr. das nach ihm benannte Forum einweihte, monopolisierte die kaiserliche Familie bereits die Siege und Triumphe Roms. Mit diesem Forum prägte er seine visualisierte Vorstellung von der römischen Vergangenheit regelrecht in das Stadtbild ein: In den beiden Portiken, die den Hof des Mars Ultor-Tempels umrahmten, waren die Statuen erinnerungswürdiger Römer in zwei Serien aufgestellt; diese Serien entsprachen einem agmen imaginum der pompa funebris. Das Ensemble lässt sich als riesiges Atrium deuten, in dem Statuen statt der Schreine zu sehen waren.42 Iulische Vorfahren zusammen mit ausgewählten Ahnen anderer gentes ergaben einen kompakten kanonisierbaren Bestand an maiores, der dem Betrachter eine Abbreviatur der römischen Geschichte zu sehen gab. Den pädagogischen Zweck dieser kanonisierten Segmente betonte Augustus öffentlich. Die Aufreihung markanter Gestalten aus der römischen Vergangenheit ließ den augusteischen Prinzipat als Vollendung der römischen Geschichte erscheinen. Augustus hatte bis zur Einweihung des Forums bei mehreren Leichenzügen ausprobiert, welche imagines aus dem gesamtrömischen Bestand sich besonders für eine kanonisierbare Auswahl eigneten. Diese Selektion war endgültig vollzogen, als man die Statuen im AugustusForum aufstellte. Harriet Flower mutmaßt, dass Augustus beim Leichenzug seines Neffen Marcellus 23 v. Chr. sich an Neuerungen wagte, welche er dann bei den Beisetzungen des Agrippa 12 v. Chr., der Octavia 11 v. Chr. und des Drusus 9 v. Chr. weiter ausgestaltete. Als im Jahre 9 v. Chr. Drusus, ein Stiefsohn des Augustus, beigesetzt wurde, zeigte die pompa funebris lediglich die Ahnenbildnisse der Iulier und der Claudier.43 Das optische Ungleichgewicht zwischen der gewaltigen Ahnenserie der Claudier und dem vergleichsweise bescheidenen iulischen Segment verschärfte sich noch durch die Diskrepanz in der politischen Wertigkeit; denn die claudische Serie enthielt viele qualitativ höchstwertige imagines, denen die Iulier nichts an die Seite stellen konnten. Überdies fehlte Caesars Maske im iulischen Zug, da er 42 v. Chr. vergottet worden war. Diese Weglassung indiziert, welche Aporien die Monarchie erzeugte: Die Zugehörigkeit der vergotteten Kaiser war unbestimmt; als rein politische Zeichenträger hätte man ihre Masken im agmen imaginum mitführen müssen; aber die Vergottung verunklärte ihren religiösen Status. Sie waren – religiös gesehen – keine Toten; wie konnten sie dann Ahnen 95
Politische Kultur und memoriale Praxis
sein?44 Das ehemals rein politische Ritual der pompa funebris musste nun neue politico-religiöse Sachverhalte berücksichtigen und verlor seine politische Eindimensionalität und klare Berechenbarkeit. Die Suche nach standardisierbaren Formen erwies sich als schwierig. Neue Arrangements tauchten auf. Nicht zufällig erschienen nun erstmalig mythische Ahnen in der pompa funebris, und nicht zufällig geschah dieser Regelbruch in den Leichenbegängnissen der kaiserlichen Familie. Dem ersten Kaiser stellte sich noch ein weiteres Problem: Wie konnte er die kaiserlichen Leichenzüge der Konkurrenz entziehen? Er musste sie mit Zeichen versehen, die von der kaiserlichen Familie monopolisierbar waren und die überkommenen Kriterien der quantitativen Vergleichbarkeit sprengten oder außer Kraft setzten. Falls der Monarch im Jahre 9 v. Chr. die imagines der ehemals oder aktuell verschwägerten Familien wegließ, um die Ahnenprozession ausschließlich aus Iuliern und Claudiern zu formieren, dann formulierte er eine kernige Botschaft: Die beiden genealogischen Linien, die zum Kaiserhaus führten, pflegten ersichtlich keine Nahverhältnisse zu anderen Geschlechtern. Anders gesagt, er löste das Kaiserhaus aus der genealogischen Verflechtung mit den anderen aristokratischen Familien heraus. So entfaltete die pompa des Drusus eine andere Semantik als die Leichenzüge von Marcellus und Agrippa, welche vermutlich die iulische Serie mit einer Auswahl von imagines aller anderen gentes verbanden.45 Doch als Augustus im Jahre 2 v. Chr. sein eigenes Forum einweihte, entschied er sich gegen jene Lösung, zu der er sieben Jahre zuvor bei der Bestattung seines Stiefsohns gegriffen hatte: Die hervorragendsten Römer fanden sich – ohne Rücksicht auf ihre Herkunftsfamilien – auf den Statuensockeln und signalisierten, dass alle römischen gentes auf die kaiserliche Familie zuliefen, ja geradezu in sie einmündeten – eine grundsätzlich andere Botschaft als bei der Bestattung von Drusus. Bei dieser Lösung blieb Augustus; und er formulierte ihre politische Aussage noch kategorischer, wie der Aufbau seines eigenen Leichenzuges 14 n. Chr. veranschaulicht: Die Bahre ging – wider alles Herkommen – an der Spitze; die Prozession der Ahnen folgte. Augenfällig nahm der Kaiser den ersten Platz vor sämtlichen Ahnen Roms ein. Augustus hatte damit das Muster für die kaiserliche pompa funebris kreiert.46 Die Ahnenparade setzte sich zusammen aus der Reihe der direkten Vorfahren – wobei wir nicht wissen, ob Augustus die Octavier ebenfalls unter seine Vorfahren zählte: diese erste Sequenz von imagines war möglicherweise zweigeteilt; und es ist nicht a priori sicher, dass die Iulier vorangingen –; darauf folgte eine zweite Serie, bestehend aus einer Auswahl vornehmer Römer aller Geschlechter, angeführt von 96
Die Umorganisierung des kollektiven Gedächtnisses
Romulus und den Königen Roms. Der Monarch schuf damit das Modell künftiger Leichenbegängnisse von Kaisern. Das war ein drastischer Eingriff ins konventionelle Aussehen der pompa funebris: Erstens enthielt die pompa der kaiserlichen Familie imagines, die weder durch Heirat noch durch Adoption in den matrimonialen und adoptionalen Ahnenbestand der Iulier und Octavier gekommen waren; damit wurde diese pompa zu einem choreographierten Abriss der römischen Geschichte insgesamt. Zweitens fanden sich in dieser pompa Ahnen, die gar nicht in die traditionelle klassematische Ordnung von Ahnenbildern passten: Wie war ein König gegen einen Triumphator aufzurechnen? Und wie war der vergottete Romulus einzuordnen? Die symbolische Integration gelang, weil diese Figuren optisch aus allen genealogischen Bezügen isoliert wurden: Romulus und nach ihm die Könige Roms führten den selektierten und kanonisierbaren Bestand aller herausragenden Römer an – ohne jede Rücksicht auf Verwandtschaft oder matrimoniale und adoptionale Verbindungen. Die pompa funebris des Kaisers evozierte die großartige Vergangenheit Roms und zelebrierte deren Vollendung in ihm, dem Kaiser. Damit brach das kaiserliche Leichenbegängnis mit den Gewohnheiten der senatorischen Repräsentation. Es befand sich definitiv außerhalb aller Konkurrenz. Eine pompa funebris dieses Typs war keine Schaustellung des symbolischen Kapitals einer gens mehr. Anders gesagt, bei diesem Arrangement wurde die eigene Familie des Kaisers unwichtig. Sogar Kaiser, die überhaupt keine Ahnenbilder besaßen, stellten mit einer solchen pompa funebris alles in den Schatten, was römische Familien aufzubieten hatten. Genau das geschah, als man 79 n. Chr. Kaiser Vespasian – einen homo novus – bestattete. Die neuartigen Leichenzüge der kaiserlichen Familie wirkten sich gewiss auf die Wahrnehmungsweise aus. Die funeralen Inszenierungen der kaiserlichen Familie leugneten den Bruch zwischen Republik und Prinzipat nicht, aber sie definierten ihn um, indem sie eine kontinuierliche Abfolge der römischen Vergangenheit in vier Etappen vorführten: erstens die Figuren und Ereignisse vor der Gründung der Stadt, zweitens die Königszeit, drittens die Adelsrepublik, und viertens die Zeit der iulisch-claudischen monarchischen Herrschaft. Erst als sich die Akzente verschoben – weg von der gens des Verstorbenen, hin zur kollektiven Vergangenheit der gesamten politischen Gemeinschaft –, tauchten mythische Gründer auf, die keine Amtsträger waren: die römischen Könige, Romulus, der sabinische Adel, die Könige von Alba, schließlich Aeneas. Gegen die Regelverstöße des Kaiserhauses konnten die großen gentes visuellen Protest einlegen, indem sie ihre Leichenbegängnisse vorsätz97
Politische Kultur und memoriale Praxis
lich traditionell gestalteten. Den Leichenzug der Iunia 22 n. Chr. interpretiert Harriet Flower als semantische Herausforderung an das Kaiserhaus.47 Iunia war die Schwester des Caesar-Mörders Brutus und die Gattin des Caesar-Mörders Cassius. Die Ahnenserie ihrer pompa enthielt die imagines von 20 verschwägerten gentes. Sie könnte damit an Länge dem agmen imaginum des Augustus gleichgekommen sein. Freilich besaßen die imperialen Leichenbegängnisse mit ihrer Selektion hervorragender Römer eine viel höhere ›Qualität‹. Im agmen imaginum der Verstorbenen defilierten lediglich Amtsträger; weder das Ahnensegment der Iunier (das symbolische Kapital der Familie) noch jene Segmente, welche die imagines von 20 großen gentes vorzeigten (das matrimoniale Kapital), enthielten einen mythischen Vorfahren. So stellte sie sich gegen diese vom Kaiserhaus eingeführte ›Unsitte‹ und bekundete ostentativ ihre Treue gegenüber den republikanischen Bräuchen bei der Ausgestaltung des agmen imaginum. Als Tiberius ein Jahr später seinen Sohn Drusus bestattete, erteilte er dem traditionalistischen agmen imaginum der Iunia eine imperiale Antwort. Er baute die mythische Vergangenheit Roms noch weiter aus: An der Spitze des Ahnenzuges ging nun Aeneas; Tacitus nennt dabei den Flüchtling aus Troja origo Iuliae gentis; das kann bedeuten, dass Aeneas die iulische Ahnenserie anführte. Das macht Sinn, weil die Bahre des Verstorbenen nicht den Anfang des Zuges bildete; Drusus war ja kein Kaiser gewesen. Die von Augustus eingeführte Zweiteilung blieb erhalten, denn es folgte eine zweite Ahnenserie. Indes, diese bestand nicht aus jenem kanonisierbaren Bestand hervorragender Römer, den Augustus selektiert hatte, sondern allein aus der Ahnenserie der Claudier. Damit glich Tiberius die pompa funebris seines Sohnes an jene des Drusus von 9 v. Chr. an. Allerdings fügte Tiberius einige Elemente hinzu: vor dem zweiten Ahnensegment, d. h. vor den imagines der Claudier, gingen die albanischen Könige und legendäre Figuren des sabinischen Adels. Die vorrepublikanischen Ahnen betonten nicht Abstammungen, sondern Zusammengehörigkeiten. Jährlich ritualisierten die Römer die zwiefältige Zusammensetzung ihrer Bürgerschaft aus einer italischen und aus einer außeritalischen Komponente; dieses Komposit drückte sich in den mythischen Figuren aus; die Stadt Alba und die Sabiner verwiesen auf italischen Anteil der römischen Bürgerschaft, Aeneas auf die Einwanderer.48 Tiberius zog eine Trennlinie zwischen den Angehörigen der kaiserlichen Familie und dem Kaiser selbst: Jene durften eine ähnliche pompa funebris wie Drusus 9 v. Chr. beanspruchen, ihm hingegen gebührte ein Leichenzug wie Augustus.
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Bittgesten bei inneraristokratischen Konflikten
5. Zwingende Gesten in der römischen Politik
Bittgesten bei inneraristokratischen Konflikten Der Volkstribun Tiberius Gracchus stellte 133 v. Chr. den Entwurf eines Ackergesetzes vor; es bezweckte, die Anzahl der wehrfähigen Bürger mit Ackerland zu erhöhen; dazu sollte es die enorme Akkumulation von Grundbesitz ein wenig rückgängig machen, welche eingetreten war, weil die römische und italische Oberschicht gewohnheitsmäßig römisches Staatsland okkupierte, um es dauerhaft in Besitz zu nehmen. Einen solchen Antrag musste erst der Senat gutheißen; fasste er einen entsprechenden Beschluss (senatus consultum), wurde ein Volkstribun oder ein Magistrat beauftragt, den Antrag (rogatio) auf contiones, d. h. auf Informationsversammlungen, bekannt zu machen und dann der Volksversammlung (den comitia) zur Abstimmung vorzulegen. Der Großteil der Senatoren stemmte sich gegen den Antrag des Volkstribuns; das war stets so bei Ackergesetzen. Tiberius Gracchus entschloss sich zu einem unerhörten Schritt: Er brachte den Antrag ohne senatus consultum direkt vor das Volk. Zunächst machte er den Inhalt des geplanten Gesetzes auf entsprechenden Versammlungen (contiones) bekannt. Dabei kündigte Octavius, einer der neun anderen Volkstribunen, an, er werde gegen die Beschließung dieses Gesetzes interzedieren. Eine solche Interzession machte jegliche Beschlussfassung unmöglich; Tiberius Gracchus konnte sich darüber nicht hinwegsetzen. Aber so wie seine Standesgenossen mittels einer tribunizischen Interzession seine Politik zu blockieren imstande waren, so vermochte er die ihrige stillzulegen: Er sistierte fast sämtliche Staatsgeschäfte; es konnte keine Gerichtsverhandlung mehr stattfinden, kein Geld aus der Staatskasse entnommen, kein Senatsbeschluss mehr gefasst werden. Plutarch berichtet: »Da zogen die Besitzenden Trauerkleider an und gingen klagend und niedergedrückt auf dem Forum herum.«1 Dass die herrschende Klasse sich auf solche Weise benahm, passt nicht gut ins Bild, das man sich von der römischen Adelsherrschaft gemacht hat. Der Volkstribun blieb angesichts dieser Demonstration ungerührt und hielt an seiner umfassenden Obstruktion der staatlichen Geschäfte fest. Als er gerade eine contio abhielt, kamen zwei Standesgenossen zu ihm auf die Tribüne, um ihn zu einer Senatssitzung zu bitten: »Da 99
Zwingende Gesten in der römischen Politik
stürzten zwei ehemalige Consuln, Manlius und Fulvius, auf Tiberius zu, fassten seine Hände und beschworen ihn unter Tränen« – und das vor mehreren tausend versammelten Bürgern. Tiberius hörte auf sie; wohl hoffend, die Senatoren seien nun zum Einlenken bereit und willens, die Gesetzesvorlage zu billigen, ging er mit zum Tagungsort des Senats. Dort passierte das Übliche: Einsprüche und verschleppende Reden. Die Geduld des Tribuns war erschöpft. Er wollte nun das Gesetz ohne die Zustimmung des Senats durchbringen. Dazu musste er freilich das Hindernis beseitigen. So kündigte er den versammelten Bürgern an, er werde sie am folgenden Tag darüber abstimmen lassen, ob sie Octavius, den interzedierenden Volkstribun, noch als Tribun haben wollten oder nicht. Noch nie war ein römischer Amtsträger – ob Magistrat oder Volkstribun – abgewählt worden; der Gedanke, das zu tun, war eine Ungeheuerlichkeit. Zuvor versuchte Tiberius den Octavius – auf der Rednertribüne – noch umzustimmen: »Zunächst jedoch ergriff er vor aller Augen seine Hände und bat ihn mit herzlichen Worten, er möge doch nachgeben und dem Volke diesen Liebesdienst erweisen; gerecht sei, was es fordere.«
Doch Octavius reagierte nicht. Am folgenden Tag traten die Bürger nach ihren 35 Tribus geordnet zur Abstimmung. Wieder bat Tiberius seinen Widersacher. Der blieb hartnäckig. Tiberius ließ nun den Antrag auf Abwahl des Octavius verlesen und rief die Bürger tribusweise in die Stimmpferche. Danach wurde nacheinander das Votum der einzelnen Tribus verkündet. Als die siebzehnte Tribus sich gegen Octavius ausgesprochen hatte und nur noch eine zur Amtsentziehung fehlte, unterbrach Tiberius das Procedere: »Er umarmte und küsste Octavius vor allem Volk und flehte ihn an, eine derartige Schande doch nicht gleichgültig hinzunehmen und ihm nicht die Verantwortung für eine so schwere und harte Maßnahme aufzubürden. Octavius war nun doch bewegt, er vermochte nicht, mit starrer Miene diese Bitten anzuhören. Seine Augen, so wird erzählt, füllten sich mit Tränen, und lange Zeit stand er schweigend da. Wie aber sein Blick auf die geschlossene Schar der reichen Grundbesitzer fiel, überkam ihn Scham und Furcht, er werde ihre Achtung verlieren.«2
Daraufhin ließ Tiberius das Votum der achtzehnten Tribus verlesen. Damit war Octavius seines Amtes enthoben. Nach der Abwahl war der Tribun nicht mehr sakrosankt. Man legte Hand an den Abgewählten und zerrte ihn von der Tribüne herunter. Die Bürger wollten ihn lynchen. Mit Mühe und Not und nur dank des persönlichen Einsatzes von 100
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Tiberius Gracchus konnten ihn seine Freunde retten. Danach verabschiedete die Volksversammlung den gracchischen Antrag ohne Widerstand. Wozu diese Rührszenen? Wie passten sie zu römischen Politikern? Indes, die römische Politik war voll davon. Es ist evident, dass diese Gesten etwas bewirken sollten und ebenso, dass sie ins Register erwartbaren Verhaltens gehörten. Weder waren die direkten Adressaten der Gesten darüber erstaunt noch die zusehende Öffentlichkeit als indirekter Adressat. Aber wirkten sie immer? Besehen wir die Gesten und die Abläufe näher. Als Tiberius wichtige staatliche Geschäfte lahm legte, zogen Teile der senatorischen Aristokratie und der begüterten Schichten Trauerkleidung an, um auf dem öffentlichen Platz – dem Forum – zu klagen. Diese harmlos anmutende Praxis nannte man squalor. Das war ein ritualisiertes Trauerverhalten, mit der bedrohte oder beleidigte Römer ostentativ ihr Leid ausstellten, um Solidarität und Sympathie zu gewinnen. Man scherte sich Haare und Bart nicht und legte dunkle oder gar zerlumpte Kleidung an. Das Repertoire solcher Vorfälle gerichtlicher und politischer Trauer ist üppig. Die Trauergebärde Ciceros – bevor die Volksversammlung für seine Verbannung stimmte (58 v. Chr.) – ist sicherlich der bekannteste Fall: Die römischen Ritter legten Trauerkleidung an wie der bedrohte Cicero; desgleichen taten die Senatoren; allerdings erlaubte der geschäftsführende Consul nicht, dass sie in Trauerkleidung zu den Sitzungen erschienen.3 Mit einem squalor protestierten Römer gegen das Handeln eines Mächtigen, wenn sie kein sonstiges Mittel einsetzen konnten. In einer gerichtlichen Redeübung Senecas trägt ein Sohn Trauer und folgt dem Feind seines ermordeten Vaters überallhin. Dieser squalor war voller semantischer Kippmomente; denn er antizipierte eine Rache, eine Anklage, die anzustrengen der junge Mann noch nicht die Mittel hatte. Dieses Verhalten war durchaus nicht ungewöhnlich; damit prangerte man den Leidverursacher an und erinnerte an seine Untat. So unterminierte man seinen Leumund (fama). Je nach den Umständen erlitt seine politische Karriere einen Rückschlag, weil viele Bürger bei seiner nächsten Kandidatur nicht für ihn stimmten.4 Ein squalor entfaltete häufig eine geradezu verletzende Macht. Und aus diesem Grunde stuften juristische Kontroversen einen hartnäckigen squalor umstandslos als iniuria ein. Die Aristokratie versuchte, den squalor gesetzlich einzuschränken, weil sie verhindern wollte, dass man mit diesem Mittel den Ruf einer vornehmen Person schädigte; allein dem Censor gestand sie das zu. Weil das Ritual so wirksam war, umkämpften Aristokratie und 101
Zwingende Gesten in der römischen Politik
Plebs die Bandbreite seines möglichen Einsatzes. Daher kam es später zu genauen Regelungen, wer zum squalor berechtigt war: ein juristischer Kommentar räumt lediglich den Verwandten und Verschwägerten das Recht ein, die vestis sordida (beschmutzte Kleidung) zugunsten eines Angeklagten zu tragen.5 Deswegen beendeten die römischen Oberschichten ihren squalor für Cicero, als die Volksversammlung über ihn die Verbannung verhängte; nur noch engste Familienangehörige machten damit weiter. Daher lobte Cicero nach der Rückkehr seinen Bruder dafür, dass dieser als einziger mit seiner Trauer die Erinnerung an den Verbannten wach gehalten hatte. Einen squalor zu übergehen, war jedenfalls riskant. Dennoch blieb Tiberius Gracchus stur. Warum war der squalor nicht imstande, ihn zu beugen? Der Volkstribun konnte dem Ritual trotzen, weil er die überwältigende Mehrheit der römischen Bürger auf seiner Seite wusste. Das Volk forderte die Rückgabe des okkupierten Staatslandes, und es unterstützte dessen Verteilung an ärmere Bürger. Der squalor lief also nicht nur dem unmittelbaren Interesse des Volkes zuwider, sondern er stellte sich einem Anliegen entgegen, das als unzweifelhaft gerecht galt. Daher traf er auf keinerlei Sympathie der breiten stadtrömischen und nichthauptstädtischen Bürgerschaft. Ein squalor, den die Bürger für ungerecht erachteten, verpuffte wirkungslos. Das wirkliche Gewicht dieses Trauerrituals hing davon ab, wie die Bürgerschaft sich zu ihm verhielt. Doch warum gab Tiberius nach, als die beiden Konsulare ihn baten, zum Senat zu kommen? Für Senatoren war es selbstverständlich, dass man aus einer verfahrenen Situation gemeinsam herausfand, indem man nochmals miteinander redete. Tiberius war ein junger Senator und hatte zu zeigen, dass er willens war, sich mit seinen Standesgenossen zu verständigen. Der ›natürliche‹ Ort, um das gegenseitige Einvernehmen herzustellen und einen Konsens zu erreichen, war der Senat. Außerdem hatte er das hierarchische Gefälle zu beachten. Obwohl er als Volkstribun sakrosankt war und über eine außerordentliche Blockademacht verfügte, gehörte er noch zur untersten Rangklasse. Wenn zwei Senatoren der höchsten Rangklasse ihn inständig baten, so kam er nicht umhin, ihnen Ehrerbietung zu erweisen. Zwar hatte Tiberius gegenüber dem Volk beteuert, er werde unnachgiebig bleiben. Und diese Haltung steigerte seine Popularität, je weiter sich die politischen Lager polarisierten. Doch die beiden Konsulare veränderten mit ihren Gesten die Sachlage: Seine Hände anfassend und die Tränen nicht zurückhaltend, setzten die beiden eine Bittgeste (supplicatio) ein, die beim Volk schwerlich auf Widerwillen stieß; verlangten 102
Bittgesten bei inneraristokratischen Konflikten
sie doch bloß, dass der junge Tribun mit sich reden ließ. Dagegen hatten auch die einfachen Bürger nichts einzuwenden. Die beiden brachten den Tiberius vor dem versammelten Volk in eine Situation, in der er sich als einsichtsvoller Senator zu erweisen hatte.6 Es ging nicht mehr nur allein um die Sache, es ging auch um das Bild, das man sich von ihm machte.7 Auf der anderen Seite eröffneten sie ihm mit dieser Geste den Weg, einzulenken und Verhandlungen zu akzeptieren, gleichgültig, was er zuvor gesagt hatte. Er konnte ihrer Bitte nachgeben, weil sie von ihm kein Zurückweichen in der Sache verlangten, sondern ein habituelles Einvernehmen. Auch Tiberius versuchte seinen Gegner mit mehreren Gesten zum Nachgeben zu bewegen. Am Tag vor der Abwahl fasste er dessen Hände und bat ihn. Das mag er unmittelbar vor der Abstimmung wiederholt haben. Als er die Verkündigung der Stimmabgabe unterbrach, steigerte er die Intensität der Gesten: Er umarmte den Octavius und er küsste ihn. Die Reaktion des Octavius mag literarische Ausschmückung durch die Geschichtsschreiber sein, aus denen Plutarch schöpfte. Dann wäre die Ausschmückung genuin römisch; sie richtete sich danach, was im Horizont römischer Politik erwartbar war. Offensichtlich erwartete man, dass der von Abwahl und vom endgültigen Scheitern seiner politischen Karriere bedrohte Tribun in diesem Augenblick sich auf die Loyalitäten und auf die Werte besann, die für ihn galten: ob er eher den politischen Selbstmord oder den Verlust der Sympathie eines Großteils der Aristokratie verkraften wollte. Nun war es für römische Tribunen selbstverständlich, ihre Interzession zurückzuziehen, wenn sie aussichtslos war und an stärkeren Machtmitteln abprallte. Niemand hätte es Octavius zum Vorwurf gemacht, sich gegenüber einem entschlossenen Volk genauso vorsichtig zurückzuhalten wie die acht anderen Tribunen. Der Sympathieverlust war darum nur vorübergehend. Der politische Tod hingegen war unwiderruflich; denn als halsstarriger und unbelehrbarer Feind der gerechten Interessen des Volkes war Octavius diskreditiert und ohne Aussichten, jemals wieder in ein Amt gewählt zu werden. Umarmung und Kuss des Tiberius hatten somit eine doppelte semantische Wertigkeit: Einerseits erleichterten sie es dem Gegner, seine verbissene Opposition aufzugeben, sie bauten ihm eine Brücke, auf der er seine unhaltbare Position verlassen konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Anderseits signalisierten diese Gesten dem Volk, falls sie zurückgewiesen wurden, dass Octavius nicht zu erweichen war, dass er einen moralischen Defekt hatte, weil er nicht nachgab. Denn er handelte im vollen Bewusstsein, keine gerechte Sache zu vertreten. Die 103
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Gesten des Tiberius zu übergehen hieß, dass er Grundregeln des römischen Benehmens nicht befolgte und Grundnormen des einträchtigen Zusammenlebens verletzte. Daher versuchte das Volk, den Octavius zu lynchen. Es war nicht deswegen empört, weil der Tribun dem Ackergesetz Widerstand geleistet hatte, sondern weil er diesen Widerstand aufrechterhielt, obwohl die überwältigende Mehrheit der Bürgerschaft vehement nach dem Gesetz verlangte. Vor aller Augen hatte Tiberius sich gemüht, ihn umzustimmen; und er hatte es überdies mit Bittgesten getan, hatte diese Gesten wiederholt und gesteigert und auf der Skala emotionaler Nähe hohe Werte angetippt. Das hätte Octavius dazu bewegen müssen, seine Loyalitäten gegenüber aristokratischen Freunden und Förderern zumindest kurzfristig zu suspendieren und ›nachzugeben‹.
Zum Konsens nötigen: Die Plebs als Hüter der Eintracht Fragt man nun, wie die Bittgesten zusammenstimmten mit dem politischen Feld im engeren Sinne, dann fallen Eigenarten dieses Feldes ins Auge, vor allem die exorbitanten Möglichkeiten, Initiativen zu blockieren und Obstruktion zu üben. Ganz wenige hierarchisch geordnete Magistrate übten die Regierungsfunktionen aus; auf jeder Rangstufe konnte jeder Magistrat eine Handlung seines Kollegen verhindern (intercessio), die Volkstribunen waren imstande, fast jede Amtshandlung überhaupt zu blockieren: »Zehn junge Männer haben die Macht, fast das ganze Leben der römischen Republik lahm zu legen.« Dass diese ›staatliche‹ Organisation mit dem modernen Verfassungsbegriff nicht zu erfassen und staatsrechtlich nicht zu erklären ist, liegt vor allem an diesem Umstand. Wenn ein politisches System der Obstruktion einen derartigen Umfang einräumt, dann nur, weil ihre Ausübung bedingt war: die Obstruktionsmittel wurden nicht als unbedingt geltendes Recht verstanden, wie das in modernen Verfassungen der Fall ist. Ob die Interzession akzeptiert wurde, war meist eine Frage des Kräfteverhältnisses. Der moderne Kompetenzbegriff ist demnach unangemessen.8 Obstruierend, Maßnahmen blockierend, nötigte man den Initiator, sich nochmals zu besinnen; er war gehalten, mit seinen Kollegen oder mit seinen Standesgenossen im Senat sich ins Benehmen zu setzen. Den Konsens herzustellen, war ein Gebot, das auf entzweiten senatorischen Politikern lastete. Die Senatoren mussten imstande sein, sich konsensorientiert zu verhalten. Eine habituelle Konsensorientiertheit 104
Die Plebs als Hüter der Eintracht
gehörte zum aristokratischen Klassenethos. Selbstverständlich trug man die Kämpfe keineswegs immer mit konsentischen Praktiken aus. Aber bei starkem Gegendruck musste man rechtzeitig aufhören zu insistieren. Ein Habitus, der darauf ausgerichtet ist, kritische Zuspitzungen zu vermeiden und rechtzeitig den Konsens zu suchen, beinhaltet notwendigerweise, dass die derart sozialisierten Individuen nachgeben können – sie müssen eine ›Disposition des Nachgebens‹ aufweisen. Das Nachgeben war nötig, damit dieses politische System überhaupt funktionierte. Doch dieser Habitus war nur dann dem politischen Feld angemessen, wenn ein Senator in politischen Fragen nachgeben durfte, ohne zu riskieren, dass die Öffentlichkeit oder der Gegner dies als Niederlage auslegten. Erschien Nachgeben als Niederlage, dann war es mit der ›Disposition des Nachgebens‹ rasch vorbei. Das Gegenteil musste der Fall sein: Sein Nachgeben sollte ihm sogar – vor einer spezifischen Öffentlichkeit – Ansehen und Achtung einbringen.9 Eine umfassende Untersuchung dieses Gegenstands steht aus, weil er erst jetzt – im Gefolge von Mikrohistorie und ›Historischer Anthropologie‹ – in den Blick gekommen ist. Vorbehaltlich einer umfassenderen Untersuchung lässt sich vorläufig die Hypothese formulieren: Solange keine Rachepflicht und keine familiale Feindschaft das Nachgeben erschwerte, war das Nachgeben in Rom – wenn es an der richtigen Stelle erfolgte – sogar eine politische Tugend, eine ethische Vorzüglichkeit, die im politischen Raum eine besondere Funktion erfüllte. Jetzt wird erkennbar, wie die ›nötigenden Gesten‹ sich in die Struktur des politischen Feldes in Rom einfügten. Sie gehörten in den Bereich des Konfliktes und der Obstruktion; und sie erfüllten in diesem Kontext drei Funktionen: 1. Die Gesten ermöglichten, die intentionale Stärke der Obstruktion zu prüfen. Denn bei jeder Konsensherstellung ist es vordringlich, zu erfahren, wie wichtig die Angelegenheit für denjenigen ist, der nicht zustimmen will. Es gilt, die Präferenzintensität zu ermitteln, d.h. die Stärke, mit welcher ein Opponent seine Absicht verfolgt. In Rom bot es sich an, Mittel mit abgestufter Intensität einzusetzen und Zeit aufzuwenden. Der Aufwand an Zeit und Gesten machte für die Beteiligten und für die Zuschauer mehr oder weniger deutlich, wie stark die Präferenzen jeweils waren. Und man konnte sich dann überlegen, ob es nicht zweckmäßiger war nachzugeben. 2. Man konnte die moralische und politische Stärke der Obstruktion testen. Je länger das rituelle Gebaren dauerte, je umfassender und je engagierter die Öffentlichkeit war, desto mehr wurde das Drama der 105
Zwingende Gesten in der römischen Politik
Gesten zu einem Anliegen aller. Das römische Volk war daran gewöhnt, politisches Verhalten moralisch zu beurteilen. Und je nachdem, ob ihm ein Anliegen berechtigt oder unberechtigt schien, begann es zu reagieren. Auf diese Reaktion kam es im Drama der Gesten an: sie entschied, welchen Erfolg die Geste hatte. 3. Diese Gesten dienten dazu, demjenigen, der zum Nachgeben bereit war, das Nachgeben leicht zu machen, indem sie dem Nachgeben selbst einen zeremoniellen Rahmen verschafften. Geschickte Senatoren verstanden es, ihr Nachgeben als praktizierte römische ›Tugend‹ zu inszenieren oder es gar als persönliches Opfer zum Heile der Res publica und für die concordia darzustellen. Diese Gesten ermöglichten eine Szenographie, in der beide Seiten gewannen. Berücksichtigt der Historiker nur die umstrittene Sache selbst und den Ausgang des Konfliktes, dann brachte das Nachgeben nur der anderen Seite Gewinn. Aber das wäre eine Momentaufnahme. Vom Standpunkt der inneradligen Interaktion gesehen war dieses Nachgeben ein Pluspunkt, der den Nachgebenden – wenn er sich nicht in einer inakzeptablen Angelegenheit verrannt, sondern substantiell nachgegeben hatte – in den Vorteil brachte, zu einem späteren Zeitpunkt die ›vertagte Gegenleistung‹ vom Gegner zu erwarten. Setzte man die fotografische Momentaufnahme quasi filmisch in Bewegung und verfolgte man die Interaktion über längere Zeitstrecken hinweg, dann müssten sich solche Gegenleistungen ermitteln lassen – auch bei knapper Quellenlage. 4. Das Nachgeben war kein Nullsummen-Spiel, bei welchem der eine verlor, der andere gewann; es war auch auf der sachlichen Ebene idealiter ein Positiv-Summenspiel, bei dem beide gewinnen sollten. Das ist offensichtlich, sobald man die Reaktionen des Volkes in den Blick nimmt. Es war jedes Mal gerührt über die öffentliche Versöhnungen von verfeindeten Senatoren. Und aus seinem Munde erntete sowohl derjenige Lob, der mit einer inständigen Bitte eine heilige – z. B. familiale – Pflicht oder eine gerechte Sache vertrat, als auch derjenige, der nach bedenkenschwerem Zögern unter Berufung auf das Heil der Res publica einer Geste seines Widersachers nachgab, sich nicht als Gegner oder Feind benahm, sondern der Eintracht zuliebe in den Konsens eintrat. Vom Standpunkt des Volkes konnten diese Senatoren keine wirklichen Gegner sein, solange sie bereit waren, die momentane, situative Gegnerschaft beizulegen, nötigenfalls mit einer nötigenden Geste. Nun wird deutlicher, wieso emotionalisierte Gesten einen solchen Stellenwert in der römischen Politik einnehmen konnten. Die emotionale Einwirkung korrespondiert mit der habituellen Konsensorien106
Die Plebs als Hüter der Eintracht
tiertheit. Genau an dieser Schnittstelle, wo der Adressat einer Geste nachzugeben hatte, damit der Konsens und die Eintracht sich wieder herstellte, genau hier hatte die plebejische Intervention in die inneradligen Konfrontationen ihren systematischen Ort. Denn die hauptstädtischen Bürger waren zugleich Zeugen des Geschehens, Hüter über das, was billig und gerecht war, und letztlich Wächter über Konsens und Eintracht. Die Senatoren wussten, dass die römische Bürgerschaft zu heftigen Reaktionen imstande war; und dieses Wissen veränderte das politische Feld, strukturierte dieses maßgeblich mit. Das politische System sah – unabhängig vom Beifall oder vom Unbehagen der betroffenen aristokratischen Gruppierungen – kollektive Aktionen, ja Übergriffe der Plebs vor. Indem das Volk die Gesten des Nachgebens honorierte, verpflichtete es seine Politiker dazu, den Konsens zu suchen, die Konflikte nicht in Feindschaften ausarten zu lassen. Auf eine Bittgeste oder deren Missachtung reagierend, veränderten die einfachen römischen Bürger fundamental deren Qualität. Sie bezogen das betreffende Ereignis – die Geste, ihre Wiederholung oder Intensivierung – auf den sozialen Grundkonsens und auf die Notwendigkeit, Grundnormen einzuhalten. So politisierten sie es. Diese Intervention der Plebs in die inneradligen Auseinandersetzungen konnte gewaltsam sein. Oben haben wir gesehen: Die Bürger wollten den abgewählten Tribun Octavius lynchen; er kam, obschon knapp, mit dem Leben davon. Es konnte auch anders ausgehen. Im Jahre 100 v. Chr hatte die Volksversammlung auf Antrag des Tribuns Apuleius Saturninus den Konsular Metellus Numidicus zum Exil verurteilt, weil dieser sich weigerte, den Eid auf ein von Apuleius eingebrachtes Ackergesetz abzulegen. Eine Exilierung war gleichbedeutend mit sozialem Tod. Nach dem Sturz des Tribuns änderte ein zunehmender Teil der Bürgerschaft seine Meinung über die Verbannung. Doch ein Volkstribun, P. Furius, interzedierte gegen jeden Versuch, einen Antrag vor das Volk zu bringen, um den Verbannten zurückzurufen: »Nicht einmal Metellus, der Sohn des (verbannten) Metellus, der ihn vor dem Volk anflehte, dabei weinte und sich ihm zu Füßen warf, konnte ihn erweichen. Wegen dieses Benehmens erhielt der junge Metellus den Beinamen Pius. Im folgenden Jahr verlangte der neue Volkstribun Gaius Canuleius deswegen Rechenschaft von Furius. Das Volk hörte aber seinen Entschuldigungen nicht zu, sondern zerriss ihn.«10
Ein Riss tat sich auf zwischen jenem Volkstribun und dem stadtrömischen Volk. Beide verstanden die Verbannung unterschiedlich. Einzelne populare Politiker wollten nicht nur die Person, die sich einer be107
Zwingende Gesten in der römischen Politik
stimmten Politik in den Weg stellte, vorübergehend aus dem Wege räumen, sondern sie beabsichtigten, ihre Gegner politisch zu vernichten. Die stadtrömische Bürgerschaft hingegen tötete oder verbannte niemals Senatoren aus dem bloßen Grund, dass diese eine andere politische Meinung vertraten. Die Römer waren bereit, die soziale Existenz eines Adligen zu vernichten oder drohten gar, ihn zu töten, dann und nur dann, wenn er eine soziale Grundnorm verletzte oder das Volk beleidigte. Es genügte den einfachen Bürgern, über den hochkarätigen Senator – einen Zensorier –, der den Eid auf ein vom Volk beschlossenes Gesetz nicht ablegen wollte, ein Verbannungsurteil zu verhängen. Damit warnten sie die gesamte Senatorenschaft: Auch Adlige der obersten Rangklasse hatten sich dem Volkswillen zu fügen. Aber die symbolische Dimension der Verbannung – als Demonstration der Volksmacht gegenüber der gesamten herrschenden Klasse – reichte im Falle eines Senators, der ansonsten nicht unpopulär war. Da der Betreiber der Verbannung, Apuleius Saturninus, im Vorjahr der Volkswut zum Opfer gefallen war, entkräfteten sich die Motive, an dem Verdikt über Metellus festzuhalten. Die Rückrufung aus dem Exil war demnach nicht nur erwartbar, sondern wurde für das Volk allmählich wünschenswert. Indem P. Furius sich dem widersetzte, verlängerte er in den Augen der römischen Bürger eine Feindschaft über ihren Zweck und über jenes moralische Maß hinaus, welches einzuhalten die Bürgerschaft von ihrer Führungsschicht forderte. Obschon an harte adlige Konkurrenzkämpfe gewöhnt und darin eine Normalität sehend, trachtete die Plebs danach, Gegensätze zu überbrücken, sobald deutlich wurde, dass die verfeindeten Senatoren die Grundnormen respektierten. Der Tribun schätzte daher seine Machtgrundlage völlig falsch ein. In dieser Phase innenpolitischer Entspannung der flehenden Geste des Sohnes nicht nachzugeben hieß, aus der Interzessionsbefugnis eines Tribuns eine Art ›verfassungsmäßige Kompetenz‹, also ein absolutes Recht zu machen, das unabhängig von Situation und Kräfteverhältnis galt. Das gleiche hatte Octavius 133 v. Chr. getan. Aber so funktionierte die römische ›Verfassung‹ nicht. Hätte der Volkstribun eine familiale Rachepflicht zu erfüllen gehabt, dann wäre sein Starrsinn für das Volk verzeihlich gewesen.11 Doch er konnte seine Unnachgiebigkeit mit keiner pietas-Pflicht rechtfertigen. Was der Tribun machte, konnte dem Volk nur als Missbrauch der Amtsbefugnis erscheinen.12 Falls Appian richtig berichtet und Furius tatsächlich ein Freigelassener war, dann lasen die römischen Bürger an seinem Benehmen ab, dass dieser ehemalige Sklave nicht gelernt hatte, ein richtiger Römer zu werden. 108
Die Plebs als Hüter der Eintracht
Nachdem P. Furius die Bittgeste zurückgewiesen hatte, belästigte ihn der junge Metellus wahrscheinlich mit einem squalor, indem er ihm überallhin in Trauerkleidern folgte. Der Tribun war zwar sakrosankt, aber dagegen hatte er kein Abwehrmittel. Und dieser squalor wirkte; er erregte bei der notorisch konservativen römischen Plebs eine besondere Sympathie, weil sich in ihm die familiäre pietas des Sohnes gegenüber dem Vater ausdrückte. Der Tribun überging einen inständigen und von breiter Sympathie getragenen squalor, ohne dafür einen moralisch akzeptierten Grund zu haben; und damit stellte er sich außerhalb der sozialen Grundnormen der römischen Gesellschaft. So erklärt sich die typische Form seiner Tötung. Gedungene Mörderbanden oder Schlägertrupps benutzten Knüppel und Dolche, sie handelten blitzschnell. Das Zerreißen hingegen war mühsam, es dauerte lange und war in höherem Maße eine kollektive Tötung als die Steinigung: Kein einzelner konnte die Tat für sich beanspruchen, es war eine gemeinsame Tat des Volkes. Es fällt bei diesen gewaltsamen Aktionen auf, dass das Volk sofort, geschlossen und massiv reagierte; das geschah, wenn es einen Angriff auf die Grundlagen der Res publica abwehrte. Die Plebs stellte die ›verletzte Ordnung‹ mit einer Gewalttat wieder her; sie korrigierte damit auch das Kräfteverhältnis zwischen ihr und der Aristokratie. So trug sie dazu bei, die Struktur jenes politischen Feldes annähernd identisch zu reproduzieren, auf dem die Senatoren sich auszeichneten und handelten. Der senatorische Habitus und seine Orientiertheit auf gruppalen Konsens war also nicht nur ein Produkt der inneradligen Sozialisation. Sondern die Zwänge des politischen Feldes halfen mit, diesen Habitus zu stabilisieren; denn auf diesem Feld hatten sich die habituellen Dispositionen der Senatoren zu bewähren. Doch die Zwänge auf diesem Feld ergaben sich nicht von selbst; immer wieder gelang es adligen Gruppierungen, diese Zwänge zu manipulieren oder abzuschwächen. Deutlicher: Die politische Ordnung perpetuierte sich nicht von alleine; sie war eine Resultante von Kräfteverhältnissen, welche die römischen Bürger nicht geschenkt bekamen. Letztlich lag es an der römischen Plebs, dafür zu sorgen, dass die Zwänge jenes Feldes galten und spürbar blieben. Sie musste dafür etwas tun, sich bemühen, kollektiv agieren, drohen und gegebenenfalls zu blutigen Akten schreiten, um buchstäblich Exempel zu statuieren. Die Senatoren hatten in ihrem kollektiven Gedächtnis gespeichert, wann und wie die römische Bürgerschaft heftig reagiert hatte; und sie antizipierten solche Reaktionen bei analogen Situationen. Dieses Wissen strukturierte das politische Feld maßgeblich mit. Nur so wurden die ›objektiven‹ Notwendigkeiten des konkreten Handlungsfeldes überhaupt 109
Zwingende Gesten in der römischen Politik
als wirksame Zwänge verspürt. Diese historische ›Arbeit‹ der römischen Plebs erforderte ein spezifisches Engagement. Die stadtrömische Bürger mussten aufmerksam das Benehmen der Senatoren verfolgen und gegebenenfalls rasch handeln. Das ging nicht ohne ein deutliches Bewusstsein davon, dass ihnen als Großgruppe eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des mos maiorum, des Brauchs und der Sitte, zukam.
Weinende Feldherren vor meuternden Legionen Im Jahre 68 v. Chr. meuterten mehrere Legionen in Kleinasien. Die Römer führten dort unter dem Oberbefehl des Lucullus erfolgreich Krieg gegen den pontischen König Mithridates. Diejenigen Legionen, die Lucullus aus Italien mitgebracht hatte, verhielten sich still. In Aufruhr traten jene Legionen, welche man im Jahre 85 nach Kleinasien geschickt hatte; sie hatten unter Fimbria gegen Mithridates gekämpft und danach unter Sulla gedient. Nach Italien zurückkehrend, hatte er sie in Kleinasien zurückgelassen, fürchtend, sie könnten im bevorstehenden Bürgerkrieg zur marianischen Seite überlaufen. Lucullus hatte, in Kleinasien eintreffend, diese Truppen vor Ort übernommen und in sein Heer eingegliedert. Diese ›Fimbrianer‹ standen nun bereits 17 Jahre unter Waffen; sie wollten nach Hause. Sie hatten erfahren, dass ein Senatsbeschluss bereits ihre Entlassung angeordnet hatte. Aber römische Soldaten waren auf ihren Feldherrn vereidigt; sie hatten zu gehorchen, bis er sie förmlich entließ. Mitten auf dem siegreichen Vormarsch verweigerten die fimbrianischen Legionen plötzlich den Gehorsam. Ihre Beschwerde lautete, ein Senatsbeschluss habe sie aus dem Heeresdienst entlassen und Lucullus sei nicht mehr befugt, ihnen Befehle zu erteilen, da sein Kommandobereich anderen zugesprochen sei. Plutarch berichtet: »Keine Entwürdigung gab es jetzt, die Lucullus nicht auf sich nahm. Er flehte die einzelnen Leute an, ging demütig und unter Tränen von Zelt zu Zelt und suchte den einen oder andern bei der Hand zu fassen. Aber die wiesen die bittende Hand zurück, warfen ihm ihre leeren Geldbeutel vor die Füße und sagten, er solle nur allein mit den Feinden kämpfen, an denen er sich ja auch allein zu bereichern verstanden habe. Da sich indes jetzt die anderen Soldaten ins Mittel legten, so erklärten sich unter diesem Druck die Fimbrianer bereit, den Sommer über noch zu bleiben; wenn aber in dieser Zeit kein Feind erscheine, um mit ihnen zu kämpfen, dann sollten sie entlassen sein. Hiermit musste Lucullus sich notgedrungen zufrieden geben.«13
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Weinende Feldherren vor meuternden Legionen
Ein römischer Imperator in Tränen? Es nützt nichts, solche Vorgänge beiseite zu schieben. Sie ereigneten sich häufig in der römischen Politik und waren ganz offensichtlich eines ihrer wichtigsten performativen Elemente. Dieser Vorgang und die eingesetzten Gesten verlangen nach einer Interpretation auf der Ebene historischer Anthropologie. Paul Veyne erkannte in solchen Gesten bedeutsame Interaktionsformen, mit denen man soziale Distanz überbrückte und affektive Nähe herstellte.14 Die Gesten des Lucullus beendeten die Meuterei nicht. Aber sie trugen dazu bei, dass sie endete. Sie wirkten. Der Ablauf illustriert, mit welcher feldherrlichen Performanz die Gesten zu choreographieren waren; und er lässt ersehen, ab welcher Grenze solche Gesten nicht mehr wirkten. Wie also entsprach die politische Semiotik dieser Gesten den Erwartungen und Normen der Legionäre, jener politischen Symbolik, an der römische Soldaten sich orientierten? Drei performative Handlungen sind näher zu betrachten. Die erste ist der Rundgang durch das Lager. Als ihm die fimbrianischen Legionen den Gehorsam verweigerten, war zu erwarten, dass Lucullus das tat, was Imperatoren in kritischen Augenblicken taten: eine Heeresversammlung (contio militaris) einberufen, dann auf die Tribüne steigen, eine Ansprache halten. Die Tribüne war der standardisierte Ort der feldherrlichen Kommunikation mit den römischen Soldaten bei einer contio im Feldlager. Dort stehend und redend brachten die Feldherrn die Dinge ins Lot. Konfrontiert mit meuternden Soldaten, versuchten manche, auf der Tribüne stehend, diese mit einer affektiven Geste zu beeindrucken. Lucullus verzichtete auf das Reden und entschied sich für affektive Gesten. Aber er wählte dafür eine diametral entgegengesetzte Choreographie; er entschloss sich, durch das Lager zu gehen, von Zelt zu Zelt. Warum? Als Römer verstand sich Lucullus auf politische Toposemiotik, auf das Spektrum der politischen Differenzen zwischen den Orten in einem definierten Raum. Die Tribüne war der symbolische Ort der politischen Hierarchie im Lager. Die Zelte befanden sich zwar im Lager, und dort herrschte überall militärische Disziplin, aber im Areal der Zelte zeremonialisierte man die politische Hierarchie nicht. Eine Rede von der Tribüne aus hatte den Nachteil, dass die entfernter stehenden Legionären meist den Imperator akustisch nicht verstanden; Tausende Soldaten hörten kaum oder gar nicht, was er sagte. Die Offiziere mussten daher den Inhalt der feldherrlichen Ansprache weitergeben und so unvermeidliche inhaltliche Verzerrungen korrigieren. Aber die emotionale Wirkung war nicht dieselbe, wie wenn man den Feldherrn selbst sprechen hörte. Nun befand sich Lu111
Zwingende Gesten in der römischen Politik
cullus in einer Lage, in der es genau auf die emotionale Wirkung ankam. Er konnte weder überzeugen – das taten römische Feldherrn ohnehin nie – noch befehlen, da die Meuterer nicht mehr gehorchten; er konnte nur noch emotional appellieren. Lucullus wechselte radikal den Ort der Kommunikation: er durchquerte die Lagerabschnitte, wo die meuternden Legionen ihre Zelte hatten. Damit vermied er eine politische Gefahr. Denn wenn er von der Tribüne aus sprach, also vom zeremoniellen Ort seiner feldherrlichen Autorität, dann fielen ihm die Meuternden womöglich ins Wort, schrieen ihn mit Sprechchören nieder, beschädigten seine Autorität vor dem gesamten Heer, auch vor seinen mitgebrachten Legionen. Stattdessen kam er zu ihnen, von Zelt zu Zelt gehend, und konfrontierte sie mit einer kommunikativen Nähe, welcher sie nicht leicht standhielten. Er vermengte dabei zwei rituelle Verhaltensweisen. Zum einen imitierte er eine ambitio – so heißt das Umhergehen der Kandidaten auf dem Forum, die sich persönlich an die Bürger wandten, um ihre Stimme bei der anstehenden Wahl zu erbitten.15 Zum anderen übte er eine supplicatio – einen Bittgang, normalerweise ein religiöses Ritual, bei welchem die Bürgerschaft einer bedrohten oder geplagten Stadt von Tempel zu Tempel zog, um zu danken oder um Bittopfer darzubringen. Die meuternden Soldaten sahen sich einem unerwarteten Druck ausgesetzt, den der Imperator aus nächster Nähe auf sie ausübte, indem er die räumliche Nähe zu ihnen suchte und die affektive demonstrierte. Die zweite performative Handlung des stolzen Lucullus war, dass er weinte. Wenn in einer modernen Armee ein Kommandeur vor seinen Untergebenen weinte, wäre das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Truppe sich in heller Auflösung befindet. Bei den Griechen war eine solche feldherrliche Performanz in Bürgerheeren undenkbar.16 Bezeichnenderweise spricht der griechische Historiograph Plutarch von ›Entwürdigung‹; er tut es, obwohl er die römische Kultur kennt und ähnliche Vorfälle anderswo in seinen Biographien berichtet. Er kennt die Geste, doch sie ist ihm als Griechen zuwider. Indes, bei den Römern geschah das nicht selten. Als Pompeius in Africa von Sulla den Befehl erhielt, alle seine Legionen zu entlassen bis auf eine und in Africa zu warten, bis man ihn vom Kommando ablöste, da weigerten sich die Legionen, sich aufzulösen, und verlangten, unter ihrem beliebten Imperator weiterzudienen. Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen; er verließ mit Tränen in den Augen die Tribüne und ging in sein Zelt. Darauf baten ihn die Soldaten wieder auf die Tribüne, doch sie lenkten nicht ein. Erst als er drohte, sich zu töten, falls sie den Befehlen nicht gehorchten, gaben sie nach.17 Pompeius war sich seiner Beliebtheit be112
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wusst und durfte mit dem Äußersten drohen. Wer sich meuternden Legionen gegenübersah und nicht so beliebt war, dem blieb das Weinen als letztes Mittel, sich Gehör zu verschaffen. Besäßen wir ein Register der senatorischen Verhaltensweisen im Umgang mit den einfachen Bürgern, dann ließe sich die Wirkung dieser Geste aus der Differenz zu anderen Verhaltensweisen und aus den situativ gegebenen semantischen Möglichkeiten erklären. Da ein solches ›Inventar von Differenzen‹ noch nicht besteht, sei hier die grobe Skizze für ein forschungspraktisches Modell entworfen, wie sich die semiotische Dimension und die situative Dynamik miteinander verflechten lassen. Zunächst ist nach den Kontrasten zu fragen, in denen die Geste strukturell steht. Zwei Oppositionspaare bilden das semantische Raster: einerseits die Selbstkontrolle und ihre Negation, anderseits die soziale Distanz und ihre Negation (familiäre Nähe). Ein römischer Senator, der als Imperator im Feld agierte, legte sein kontrolliertes und auf gravitas ausgerichtetes Auftreten in seiner militärischen Rolle nicht ab. Zwar musste er im Felde des öfteren zu paternalistischen oder mimetischen Gesten greifen, um ›Nähe‹ zu signalisieren; aber die Selbstkontrolle lockerte sich keinesfalls. Zu weinen hieß jedoch, die habitualisierte Selbstkontrolle weitgehend zu suspendieren. Das war ein Beweis größter Vertrautheit, einer quasifamilialen Nähe und hoher affektiver Bindung. Dabei konnte der Senator in diesem Moment die Kontrolle über sich behalten; die Tränen zeigten jedoch eine Emotion an, die für einen teilweisen Kontrollverlust gelten durfte. Fasst man die Jovialitätsgebärden ins Auge, von denen oben die Rede war, und nimmt man die mimetischen Akte, die Trauergebärden und die Bittgesten, noch dazu, dann ließen sich alle diese Phänomene links auf eine Skala der expressiver Stärke eintragen, rechts auf eine Skala der Wirkungsintensität. Nun hängt die Wirkung davon ab, wer in welcher Situation auf wen einzuwirken trachtet; sie ist konstellationsabhängig. Nicht so die expressive Stärke des Weinens. Sie bemisst sich zuallererst nach der Differenz zu allen anderen möglichen Gesten und an zweiter Stelle nach der dramatischen Virtuosität dessen, der zu weinen beginnt. Jovialitätsgebärden des Kandidaten auf dem Forum besitzen einen erheblich schwächeren Ausdruckswert als jene mimetischen Gesten, die manche Feldherrn übten, wenn sie auf Streu schliefen, den Adler trugen und mit dem Spaten schanzten. Aber mit dem Spaten in der Hand lockerte der Senator nicht die Selbstkontrolle, mit dem Weinen sehr wohl. Dieses war von höherer expressiver Stärke, beeindruckte – in gleichartigen Konstellationen – stärker. Die plebejischen Römer, ohnehin mehr oder weniger stark affektiv auf den Patron wie 113
Zwingende Gesten in der römischen Politik
auf den Feldherrn bezogen, konnten sich der Wirkung dieser emotionalen Äußerung schwerlich entziehen. Denn diese bewies ihnen, dass jene Nähe, die sie erhofften und einforderten, tatsächlich bestand. Das reichte in der Regel aus, um das kollabierte Gehorsamsverhältnis wieder greifen zu lassen. Freilich gelang das nicht, wenn die Soldaten daran zweifelten, ob die suggerierte Nähe überhaupt bestand. Hatte sich kein persönliches, d. h. affektives Band zwischen dem Imperator und den Truppen geknüpft, dann war das nie die Schuld der Soldaten. Am Ende der Republik waren einige Feldherrn militärisch relativ unfähig und deshalb des professionellen Respekts ihrer Truppen unwürdig. Andere hingegen hielten eine zu große Distanz zu ihren Soldaten ein. Das traf auf Lucullus zu. Seine Truppen achteten ihn als brillanten Kommandeur; aber beliebt war er nicht. Daher appellierte er vergeblich an die Vertrautheit und an die emotionale Nähe. Diese existierten überhaupt nicht. Wie wollte er jetzt auf eine Ressource zurückgreifen, die er gar nicht hatte entstehen lassen? Die Meuterer ließen sich nicht beeindrucken. Dem Ausdruckswert seiner Geste entsprach kein erwartbarer Wirkungsgrad. Die dritte performative Handlung, das Anfassen der Hände, gehört auch ins Repertoire der Bittgesten; man machte von ihr Gebrauch, um die hohe Dringlichkeit einer Bitte zu unterstreichen. Also nichts Unübliches; außergewöhnlich war freilich, dass der Imperator sie gegenüber seinen Soldaten benutzte. Lucullus gestand damit ein, dass für die Römer das Vertrauen unter den Bürgern die Basis der sozialen Hierarchie und die Basis der politischen Herrschaft war. Plutarch berichtet, dass die Soldaten die Hände ihres Feldherrn zurückstießen. Wieso? Den Volkstribun Octavius hatte sein Kollege Tiberius an den Händen gefasst; jener hatte es geschehen lassen; trotzdem ließ er sich nicht umstimmen. Die fimbrianischen Legionäre hingegen ließen nicht zu, dass Lucullus ihre Hände ergriff. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen galt der Handschlag als ein performativer Akt der fides, eines Treueverhältnisses. Nicht umsonst ist er zum ikonischen Zeichen der fides auf römischen Münzen geworden. Zudem hatten diese Soldaten mit erhobener Hand dem aus Italien ankommenden Lucullus den Militäreid – die Truppe nicht zu verlassen und dem Imperator zu gehorchen – geschworen, als er sie übernommen hatte. Derselbe Feldherr wollte nun die Schwurhände anfassen. Um jedem Appell an ihre fides und an den beschworenen Gehorsam auszuweichen, mussten die meuternden Soldaten, wenn ihnen irgend an ihrer Meuterei lag, die Hände des Lucullus zurückweisen. 114
Weinende Feldherren vor meuternden Legionen
Es mag sein, dass Lucullus auf die Konnotation der Hände mit dem Eid gar nicht abzielte, dass ihm vor allem oder ausschließlich am Bitten lag. Doch im Feldlager war diese Geste notwendigerweise zweideutig. Die Legionäre fassten sie so auf, als richtete sie sich auf die fides. Lucullus musste wissen, dass die römischen Bürger, die ihm den Gehorsam verweigerten, die Nuancen der Symbolik seiner Gesten zu entziffern wussten und dass sich sein Benehmen so auffassen ließ, wie sie es taten. Aber er hatte keine Wahl. Der zweite Grund, weshalb die Soldaten die feldherrlichen Hände schroff zurückwiesen, tritt zutage, wenn man jene Szene mit Tiberius und Octavius daneben hält: Die beiden Tribunen waren statusgleich; Soldaten und Feldherren waren es nicht. Ein Senator konnte zulassen, dass ein Standesgenosse seine Hände nahm, ohne sich verpflichtet zu fühlen, der Bitte nachzugeben. Wenn jedoch ein Senator konsularischen Ranges die Hand eines einfachen Soldaten ergriff, dann war das etwas anderes. Angesichts der beträchtlichen sozialen Distanz, welche beide voneinander trennte, war es für die einfachen Legionäre schwierig, der Bitte nicht zu willfahren, obwohl man die Geste zugelassen hatte. Die Geste zwang. Wollte man sich nicht zwingen lassen, dann blieb nur der Ausweg, die Geste nicht zuzulassen, also die Hände zurückzustoßen. Nun zum Ergebnis der Bemühungen. Lucullus scheiterte mit seinem Bittgang. Dennoch erreichte er damit das Ende der Meuterei. Es waren die anderen Legionen, die ihre meuternden Kameraden nötigten. Zwar empfanden auch sie für diesen Feldherrn keine besondere Sympathie; aber sie hatten mehrmals miterlebt, wie umsichtig er Krieg führte und wie entschlossen er seine Schlachten schlug; das gab für eine Truppe, die sich zunehmend professionalisierte, den Ausschlag. Dieser nicht meuternde Teil des Heeres wurde aktiv; diese Soldaten redeten ihren Kameraden ins Gewissen, die Bittgesten des Imperators nicht zu übergehen. Da sie sich der Meuterei nicht angeschlossen hatten, repräsentierten sie in gewisser Weise die römische Öffentlichkeit im Feldlager. Das ohnehin hohe Konsensbedürfnis römischer Bürger war im Felde noch stärker; die meuternden Einheiten widersetzten sich den eindringlichen Ermahnungen ihrer Kameraden nicht, sie akzeptierten die Intervention ihrer Mitbürger. Man handelte die Bedingungen aus, unter denen die Fimbrianer wieder in den Gehorsam traten. Lucullus musste einwilligen. Die Gesten wirkten – in diesem Falle – auf die Adressaten gar nicht. Sie entfalteten nur deswegen Wirkung, weil der größere Teil des Heeres sie anerkannte. 115
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Bittgesten vor dem versammelten Volk Bittgesten, wie Feldherren sie vor meuternden Soldaten übten, kamen auch vor Volksversammlungen vor. Nehmen wir einen bizarren Fall, den die Forschung zu übergehen pflegt. Im Jahre 22 v. Chr., nach Unruhen und Turbulenzen, teilweise verursacht von Engpässen bei der Versorgung Roms, trug die hauptstädtische Bürgerschaft dem Alleinherrscher Augustus die Diktatur an. Doch dieses Amt bestand nicht mehr. Man hatte es nach der Ermordung Caesars 44 v. Chr. abgeschafft, weil die Senatoren nach den Erfahrungen mit Sulla und Caesar erkannten, dass dieses alte republikanische Amt sich vorzüglich dafür eignete, in Rom auf legitime Weise eine Monarchie einzurichten, in der dem Senat keine politischen Funktionen blieben. Augustus nahm Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Aristokratie. Ihm schwebte eine Monarchie vor, in der die Senatorenschaft sich bequem einrichtete. Die Forderung des Volkes widerstrebte ihm ganz und gar. Aber die hauptstädtischen Bürger ließen nicht locker; sie brauchten einen Monarchen als Ansprechpartner, der sich nicht aus der Verantwortung stahl und sie auf andere abschob. Nun pflegten sie im zeremoniellen Rahmen der Spiele deutliche Forderungen zu äußern; davon machten sie jetzt Gebrauch. Sueton berichtet darüber: »Als ihm das Volk mit Vehemenz die Diktatur aufdrängen wollte, beschwor er es, sie ihm nicht aufzuerlegen, indem er auf die Knie fiel, die Toga von den Schultern riss und die Brust entblößte.«18 Sicherlich hatte Augustus nicht sofort zu diesem Mittel gegriffen, sondern zuvor auf andere Weise abzulehnen versucht; es ist anzunehmen, dass er in einer contio auf dem Forum dem Volk erklärt hatte, er sei nicht willens, die Diktatur zu übernehmen. Doch wie konnten die römischen Bürger wissen, ob Augustus nicht insgeheim trotzdem das Amt wünschte? Seine Ablehnung konnte eine Geste der Bescheidenheit sein; damit hatte man seit Pompeius genügend Erfahrungen gemacht. Vielleicht wollte Augustus mit Bescheidenheitsgesten sie dazu bringen, ihn stürmischer zu bitten? Diesen Gefallen tat man ihm gerne. Freilich provozierte dann jede Ablehnung noch stärkere Akklamationen. Um herauszufinden, ob er tatsächlich das Amt nicht wollte, konnten sie nicht umhin, die Angebote zu wiederholen, und das in immer heftigerer Weise. Gewiss, irgendwann merkte das Volk, dass Augustus keine recusatio – keine Bescheidenheitsgeste – übte, sondern die Diktatur tatsächlich nicht wollte. Nun stellte sich automatisch die Frage, wessen Präferen116
Bittgesten vor dem versammelten Volk
zen die stärkeren waren: Konnte der Princeps nicht dem römischen Volk zu Gefallen das Amt übernehmen, auch wenn es ihm schwer fiel? Wollte er einen intensiv geäußerten Volkswillen übergehen? Intensitäten sind in der Politik schwer messbar. Aber gerade darum ging es: Wie intensiv war der Wille des Augustus, die Diktatur nicht zu übernehmen, angesichts eines nachhaltigen Volkswillens, welcher sich in den wiederholten Akten, ihm stürmisch die Diktatur anzubieten, allzu deutlich manifestierte? Augustus antwortete mit der besagten Geste. Er inszenierte sie vielleicht auf dem Forum anlässlich einer contio; wahrscheinlicher ist es, dass er es im Circus tat, der immer mehr zum zeremoniellen Raum für die symbolische Kommunikation zwischen Kaiser und Plebs wurde. Die Geste klärte alles: Erstens machte sie allen deutlich, dass Augustus den Willen des Volkes vernommen hatte und ihn nicht überging; zweitens zeigte das Knien und das visuell inszenierte Flehen, dass der Kaiser sich dem römischen Volke unterordnete, daher war sie aufgeladen mit politischer Symbolik von höchster Relevanz; und drittens bedeutete die Geste, dass der Zwang, den das Volk ihm antat, das gute Verhältnis zwischen Kaiser und Volk zu irritieren drohte. Die Römer der Hauptstadt begriffen und hörten auf zu insistieren. Dafür übernahm der Kaiser in Person die cura annonae, also die Verantwortung für die Getreideversorgung. Kaiser und Volk spielten ein Pingpong von Gesten des Konsenses und einander antwortenden Gefälligkeiten. Was Augustus im Jahre 22 v. Chr. im Circus tat, war – vor dem Hintergrund des reichen römischen Registers an performativen Akten – für die Plebs lesbar wie eine genaue Botschaft. Es war eine Geste des Bittflehens, ohne Beimischung anderer semantischer Gehalte; denn Augustus trug eine rein politische Angelegenheit mit dem Volk aus. Doch wenn überdies ganz persönliche Belange auf dem Spiele standen, pflegten die Römer das Bitten mit Zeichen der Trauer anzureichern. Yan Thomas hat eindrucksvoll beschrieben, wie vor allem der gerichtliche Ritus der Anflehung häufig mit Trauergebärden angereichert wurde. Dieser Ritus blieb keinem Angeklagten vor Gericht erspart; unzählige Beispiele und alle Plädoyers von Cicero zeugen von diesem Brauch. Die rhetorischen Lehrbücher liefern dazu die Begründungen und die Leitfäden.19 Wenn der Angeklagte – sogar von senatorischem Status – in Lumpen erschien, mit Bart und langen Haaren, dann oszillierte dieser Zeichengehalt zwischen Niedergeschlagenheit und zukünftiger Drohung. Denn es schlossen sich in großer Zahl Verwandte, Klienten und Freunde an und machten aus der rituellen Trauergebärde 117
Zwingende Gesten in der römischen Politik
eine Demonstration des weitreichenden Einflusses, über den der Angeklagte verfügte; eine Bekundung sozialer Macht, die den Ankläger einschüchterte, ihm die künftigen Risiken vor Augen führend. Man kann an den Trauergesten die Abstufungen der Pflicht zur familialen Solidarität ablesen. So stellten sich beim Prozess gegen M. Aemilius Scaurus 54 v. Chr. die Bittflehenden in zwei Gruppierungen auf – auf der einen Seite Scaurus mit dem Sohn seiner Schwester, umgeben von anderen Personen; auf der anderen der Halbbruder des Scaurus und der Gatte seiner Halbschwester, gefolgt von anderen.20 Der Zusammenhang von Trauer und familialem Zusammenhalt ist deutlich.21 Doch diese Gebärden waren zunächst eine pflichtmäßige Demütigung; und P. Rutilius (93 v. Chr.) sowie Annius Milo (52 v. Chr.) mussten teuer dafür zahlen, dass sie sich nicht dazu herabließen, diesem Brauch zu genügen. Noch Kaiser Claudius prangerte in einer Rede vor dem Senat jene Angeklagten an, die »es verschmähen, Trauer anzulegen, sich den Bart und die Haare wachsen zu lassen«.22 Auch vor dem Volke konnte man Trauergesten einsetzen. Als dem Zensorier Q. Metellus Numidicus im Jahre 100 v. Chr. die Verurteilung und das Exil drohte, flehten in Trauergewändern und unter Tränen sein Sohn, seine Vettern väterlicherseits und deren Söhne, der Sohn seines Bruders und alle Söhne seiner Schwestern, unter ihnen ein Zensorier und einige Konsulare.23 Es gelang ihnen nicht, das römische Volk zu erweichen; das Exil blieb dem Zensorier, der sich geweigert hatte, den Eid auf ein Volksgesetz abzulegen, nicht erspart. Doch es konnte auch anders kommen. Ser. Sulpicius Galba wurde 149 v. Chr. von dem Volkstribun C. Scribonius angeklagt. Galba hatte 151 v. Chr. als Praetor des westlichen Spanien gegen die Lusitaner gekämpft und viele von diesen in die Sklaverei verkauft, obwohl sie sich ergeben hatten. Livius berichtet: »Als der Volkstribun C. Scribonius den Antrag veröffentlichte, die Lusitaner, die sich dem römischen Volk ergeben hatten, dann aber von Ser. Galba nach Gallien verkauft worden waren, sollten wieder die Freiheit erhalten, sprach Cato sehr unerbittlich dafür … Q. Fulvius Nobilior, der von ihm im Senat oft verletzt worden war, antwortete ihm zugunsten von Galba. Als Galba seine Verurteilung kommen sah, legte er die Arme um seine beiden Söhne, die noch nicht erwachsen waren, und um den Sohn des Sulpicius Galus, dessen Vormund er war, und sprach auch selbst für sich so mitleiderregend, dass der Antrag abgelehnt wurde.«24
Andere Quellen belegen, dass der Antrag des Tribuns nicht nur lautete, die Versklavten in Freiheit zu setzen, sondern obendrein ein Sonderge118
Bittgesten vor dem versammelten Volk
richt – eine quaestio – gegen den Praetorier einzusetzen. Die Volksversammlung lehnte den Antrag ab; und das war – nach den Quellen zu urteilen – ein ganz außergewöhnliches Vorkommnis. Der alte Cato hatte ein sachliches Motiv für seine Haltung; er befürwortete gesetzliche Maßnahmen, um die bedenklich großen Befugnisse römischer Feldherren einzuschränken; denn auch Galba hatte an der vielleicht widerrechtlichen Versklavung profitiert. In dieser Frage war die senatorische Aristokratie jedoch uneins. Die Nobilität war überwiegend der Ansicht, man komme mit den bestehenden Regelungen aus; fast alle Konsulare und Praetorier hatten auf diese Weise ihr Vermögen vermehrt, und die rangniedrigen Senatoren mit hohen Aussichten rechneten darauf, dass auch sie dereinst als Praetoren und Consuln dasselbe taten. Auf den contiones vor der Abstimmung gewann das Volk jedenfalls den Eindruck, die Aristokratie sei gespalten; und Maßnahmen gegen Feldherren, die ihre Spielräume überschritten, waren populär. Die Stimmung gegen Galba machte das Ergebnis der Abstimmung vorhersehbar. Der so bedrohte Galba griff nicht nur zu den üblichen und erwarteten Trauergesten. Als ihm Gelegenheit gegeben wurde, selbst zu sprechen, setzte er das römische Volk quasi testamentarisch als Vormund für seine beiden Söhne und sein Mündel ein; sein Mündel war der verwaiste Sohn des bei der Plebs sehr beliebten Sulpicius Galus. Galba signalisierte, dass er bei einer Verurteilung – egal wie sie ausfiel – nicht mehr seine familialen Pflichten erfüllen könne, er also ins Exil gehen wolle. Eine solche Strafe schien unangemessen hoch. Römische Senatoren und römische Plebejer waren darin völlig einer Meinung, dass Fehlverhalten im Umgang mit Nichtrömern ein Politikum werden konnte; doch beide stimmten darin überein, dass dies nebensächlich wurde, falls wichtigere Gesichtspunkte überwogen. Die Einhaltung familialer Verpflichtungen war für die Plebs vorrangig. Trotz unerbittlicher Abneigung gegen Verurteilte war die Plebs relativ leicht zum Mitleid zu bewegen, wenn es um deren Kinder ging. Das machte sich Galba zunutze. Die Bittgeste wirkte, weil die hauptstädtischen Römer mit den Kindern Mitleid hatten und vor allem weil sie gegenüber dem verstorbenen Sulpicius Galus offenbar eine starke Verbundenheit empfanden und die Chancen seines Sohnes nicht schmälern wollten; der junge Mann sollte nicht für die Fehler seines Vormunds büßen. Freilich büßte Galba in seiner Karriere. Er war spät Praetor geworden (151 v. Chr.) – in einem Alter, in dem andere längst als Konsulare im Senat den Ton angaben. Zwischen der Praetur und dem Konsulat vergingen nochmals sieben Jahre; Galba wurde erst 145 gewählt. Nach der 119
Eine Taxonomie von Gesten
Anklage 149 erlitt er entweder mehrere Wahlniederlagen, oder aber er wagte es drei Jahre lang nicht, sich zu bewerben.25 Das Volk hatte zwar Mitleid, aber es vergaß die Anklage nicht. Spätere Rhetorikexperten zitierten diese Form des Bittflehens als ein Exempel für besonders wirksame Kommunikation mit dem Volk. Zwar tadelten einige Galba, er habe sich in den Mitteln vergriffen;26 aber dieses rituelle Flehen blieb fester Bestandteil der Verhaltensformen in politisch brisanten Situationen. Geht man vom Quellenbefund aus, dann war die Niederlage in einer Abstimmung für einen Antrag dieser Art einmalig. Doch ähnliche politische Situationen ergaben sich in der römischen Republik unablässig, weil die Anklagen rapide zunahmen und für die Karriere der jungen Senatoren immer wichtiger wurden. Vermutlich wurden Anträge dieser Art nicht nur einmal von den Comitien abgelehnt, sondern häufiger, auch wenn uns die Quellen darüber fehlen. Das geschah bei Personalentscheidungen, wenn die Senatoren zu keinem Konsens fanden. In einem solchen Fall lehnten die römischen Bürger gelegentlich auch Anträge ab.
Eine Taxonomie von Gesten und das Problem der Emotionen Ein methodischer Ausblick ist fällig und ein geschichtstheoretisches Fazit drängt sich auf. Zunächst ein paar knappe Überlegungen zum forschungspraktischen Vorgehen. Gesten wirkten nicht immer; Performanzen misslangen. Es reicht nicht, zu fragen, woran man Gesten erkennt, wie man sie klassifiziert und wie sie in die mannigfaltigen, auch außerpolitischen Interaktionsformen zwischen der Aristokratie und der Plebs passten. Wir benötigen ein verfeinertes Frageraster: Wie fügten sie sich ein als mehrdeutige Zeichen und als Einsätze von variablem Wert in die unterschiedlichen Situationstypen der römischen Politik? In welchem Verhältnis stand die tadellose Performanz zur vielleicht unpassenden Dramaturgie und Choreographie? Auszugehen ist davon, dass hohe Kommunikationsdichte als historischer Faktor zu bewerten ist, der die aristokratische Herrschaft stabilisierte und mithalf, sie ständig zu reproduzieren. Zwei Aspekte sind zu prüfen: erstens die Frequenz des Kontaktes, sozusagen die quantitative Seite der Kommunikation, und zweitens das Spektrum der Interaktionsformen, deren qualitative Vielfalt. Dieses Spektrum hatte zwei Dimensionen. Erstens gehörten die erfassten Interaktionsformen verschiedenen Rubriken an: Ein Handschlag mit dem Patron bei der mor120
Bittgesten vor dem versammelten Volk
gendlichen salutatio ist etwas anderes als der Handschlag mit einem Kandidaten auf dem Forum; und eine Trauergebärde gehört weder in die Klientelbeziehung noch ins Militärlager. Zweitens unterschieden sich die Interaktionsformen – sofern sie auf demselben sozialen Gelände auftauchten – in ihrer expressiven sowie in ihrer intendierten Intensität: Die sozialen Akteure schätzten bei der Auswahl ihrer Gesten mitunter die Situation falsch ein; ihnen unterliefen Fehler. Desgleichen benahm sich nicht jeder Senator meisterlich im dramaturgischen Gebrauch von Gesten. Hier eröffnet sich ein weites Feld für die Forschung. Geschichtstheoretisch sind die obigen Ausführungen deswegen von Relevanz, weil sie dazu nötigen, das ›Emotionale‹ in den sozialen Prozessen neu zu konzeptualisieren. Jene Scharlatanerie, die eine Zeit lang als ›Massenpsychologie‹ im Schwange war, vermag hier nichts zu erklären. Denn emotionale Gesten richteten sich ebenso an Aristokraten wie an einfache römische Bürger, ob diese in Legionen organisiert waren, ob sie auf dem Abstimmungsplatz nach Tribus geordnet, ob sie vor der Rednertribüne ungeordnet standen oder ob sie sich bloß auf dem Forum aufhielten. Nirgendwo agierten ›Massen‹; stets sind es strukturierte Gruppierungen oder Gruppen. Die emotionalen Gesten wandten sich auch nicht an irgend ein vages ›Unbewusstes‹ oder gar ›Unterbewusstes‹. Allerdings zielten sie auf Verhaltensdispositionen. Indes, diese waren das Ergebnis spezifischer Sozialisationen, bestanden aus internalisierten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Reaktionsschemata.27 Die Reaktionen sind grundsätzlich kulturabhängig, ebenso wie die Zeichen. Die Gesten als emotionale Einwirkungen waren zutiefst kultureller Natur. Was emotional wirkte, war kulturell kodiert und vorgegeben. Emotionen treten dort auf, wo fundamentale Werte und Überzeugungen angegriffen oder aufgerufen werden. Das kann persönliche Interessen berühren, muss es aber nicht. In allen unseren Beispielen ist das wahrzunehmen: Wenn die emotionalen Gesten ›Emotionen‹ aufrüttelten, dann waren diese nichts anderes als affektive Reaktionen von Senatoren und Plebejern, sobald die Geltung von Grundwerten in Frage stand oder zu definieren war. Dementsprechend wirkten sie nur dort, wo sie den Glauben an konsensgarantierende Normen wachriefen. Als kulturelle Phänomene sind Emotionen von sozialer Qualität, nicht bloß, weil sie sich an andere richten, sondern weil sie an die Internalisierung von Normen und Werten gebunden sind und weil Normen zu internalisieren nur durch Sozialisation vonstatten geht. Wir dürfen uns daher verabschieden von der naiven Vorstellung, das ›Emotionale‹ sei ein eigener Bereich, der auf die Seite der 121
Eine Taxonomie von Gesten
›Natur‹ gehöre, wohingegen das ›Rationale‹ der Kultur zuzurechnen sei. Diese Ansicht gehört einer besonderen Ordnungsvorstellung an, die wissenschaftlich von der Kulturanthropologie außer Kraft gesetzt ist. Politische Emotionen in Rom waren daher der ›rationalen‹ Politik nicht entgegengesetzt. Sie waren deren Basis.
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Volkswille und entblößter Leib
6. Auf Narben weisen – Zur Kritik kultureller Semantik
Ein enthüllendes Ereignis: Volkswille und entblößter Leib Im Jahre 167 v. Chr. kehrte der Proconsul Aemilius Paullus als siegreicher Feldherr nach Rom zurück. Im Vorjahr hatte sein Heer den makedonischen König Perseus bei Pydna vernichtend geschlagen. Makedonien existierte als staatliche Einheit nicht mehr. Der Senat beschloss, dass Aemilius Paullus einen Triumph feiern durfte und veranlasste, dass die Volkstribunen den entsprechenden Antrag vor die Volksversammlung brachten. Freilich: Der Senat und auch der siegreiche Feldherr machten die Rechnung ohne dessen Soldaten. Aemilius Paullus hatte seine Truppen recht rau behandelt. Zwar konnten römische Soldaten einiges einstecken, doch dieser Imperator hatte die Schurigeleien übertrieben: Er hatte sie in Zelten überwintern lassen und mit Auszeichnungen gegeizt. Und nun sollten sie brav zur Volksversammlung erscheinen, sich nach ihren 35 Tribus geordnet aufstellen und zusammen mit jenen städtischen Bürgern, die teilnehmen wollten, über die Abstimmungs-Brücken gehen und mit lauter Stimme ihr ›Ja‹ abgeben, indem sie riefen »uti rogas« – »wie Du es beantragst«. Sie hatten dazu wenig Lust. Ihre schlechte Stimmung nutzte ein junger Offizier, der als Militärtribun der 2. Legion den Feldzug mitgemacht hatte, namens Sulpicius Galba, ein persönlicher Gegner des Aemilius Paullus. Bei der Informationsversammlung am Tag vor der Abstimmung hielt Galba eine Rede und forderte die Soldaten auf, zahlreich zu erscheinen, aber nicht um mit ›Ja‹ zu stimmen, sondern um den Antrag zu Fall zu bringen.1 Das war riskant; denn die römischen Bürger stimmten nicht einfach mit ›Nein‹. So etwas war ungehörig, verletzte eine Erwartungsroutine, geradezu eine Norm. Die einfachen Legionäre hatten in dieser Nacht vieles zu überlegen: Sie waren Römer; für jeden von ihnen war es eine hohe Ehre, an einem Triumph teilzunehmen, vielleicht sogar das herausragende Ereignis ihres Lebens. Sowohl die jüngeren, die zum ersten Mal dabei sein durften, als auch ältere Soldaten, welche wussten, dass sie hier zum letzten Male an einem Triumphzug teilnehmen konnten, hatten abzu123
Zur Kritik kultureller Semantik
wägen, ob sie tatsächlich darauf verzichten wollten, bloß um den unbeliebten, aber nicht unfähigen Feldherrn um die höchste Ehre zu bringen, oder ob sie, eingedenk der fünf Jahre im Felde und des großen Sieges, nicht doch tun sollten, was Sitte und Herkommen von ihnen verlangten. Als am nächsten Tag der versammlungsleitende Volkstribun den Antrag zur Abstimmung stellte, erlebte er eine böse Überraschung: Eine Tribus nach der anderen stimmte mit ›Nein‹. Der Senat unterbrach sofort seine Tagung. Die Senatoren stürmten auf den Versammlungsplatz; die Magistrate drängten den Versammlungsleiter dazu, die Abstimmung abzubrechen und die Stimmversammlung an Ort und Stelle in eine contio – in eine Informationsversammlung – zu transformieren. Der Tribun machte das; und während die Bürger sich neu aufstellten, bearbeiteten die Senatoren, wen sie kannten, und schalten den kecken Militärtribun öffentlich aus. Dann stieg ein alter Konsular, Servilius Pulex, auf die Tribüne und tadelte die Abstimmenden; er appellierte an die militärischen Tugenden des römischen Volkes und erinnerte an vergangene Siege und daran, dass Senat und Volk diese Siege stets zu feiern pflegten. Ausgerechnet bei diesem großen Sieg wollten die Abstimmenden nicht nach der Sitte der Väter handeln, den Sieg nicht feiern und den Imperator um seinen verdienten Triumph bringen. Nach Livius beendete er seine Rede folgendermaßen: »Und Ihr, Zenturionen und Soldaten, hört auf das, was der Senat über Aemilius Paullus beschlossen hat, nicht auf das, was Sulpicius Galba euch weismachen will. Hört auf meine Rede statt auf seine. Der hat nichts gelernt außer Reden schwingen und sogar das nur auf verleumderische und boshafte Weise – ich dagegen habe 23 Mal mit Feinden einen angekündigten Zweikampf gefochten; und von allen, mit denen ich kämpfte, habe ich die Waffen als Spolien heimgebracht. Mein Leib ist von ehrenvollen Narben gezeichnet, die ich alle vorne trage« –
Der Redner verwies also auf seine Wunden. Dann tat der alte Servilius Pulex etwas Merkwürdiges. Er öffnete das kunstvoll geworfene römische Obergewand, die Toga. Es kam zur Enthüllung: »Es wird berichtet, er habe sich dann entblößt und einzeln aufgezählt, bei welchen Kriegen er welche Wunden empfangen habe … Darauf rief er ›Als alter Soldat habe ich euch jungen Soldaten diesen oftmals vom Schwert getroffenen Leib gezeigt – nun soll Galba seinen gut genährten und unverletzten entblößen!‹«
Hier bricht der fragmentarische Text bei Livius ab. Doch Plutarch schreibt weiter, was dann geschah:2 Servilius Pulex forderte die Tribu124
Semantik und interkultureller Vergleich
nen auf, die Bürger wieder nach Tribus zu ordnen und sie nochmals in die Stimmpferche zu rufen. Und er drohte, er werde sich auf die Abstimmungs-Brücken stellen und sich genau merken, welche Bürger mit ›Nein‹ stimmten. Anschließend wurde erneut abgestimmt; und alle 35 Tribus bewilligten dem Aemilius Paullus seinen Triumph.3
Narben – Semantik und interkultureller Vergleich Auf der Ebene des politischen Kräfteverhältnisses zwischen Aristokratie und Volk kann man sagen, dass die Plebs hier einen Kampf verlor, in den sie nur halbherzig hineingegangen war. Es war nicht so einfach, mit ›Nein‹ zu stimmen, wie sich Sulpicius Galba das gedacht und wie seine Zuhörer ihm geglaubt hatten. Aber warum ging die Plebs vor dem alten Servilius in die Knie? Bis 130 v. Chr. gaben die Römer ihre Stimme offen ab, wenn es um Gesetzesanträge ging;4 die Patrone konnten mühelos die Stimmabgabe ihrer Klienten kontrollieren. Und diese Kontrolle funktionierte normalerweise. Aber gelegentlich – so z. B. bei Gesetzen, die C. Flaminius 232 v. Chr. und Tiberius Gracchus 133 v. Chr. einbrachten – stimmten die Bürger entgegen der Option ihrer aristokratischen Patrone ab. Die bloße Drohung des alten Konsulars, das Stimmverhalten zu kontrollieren, erklärt daher nicht, warum die einfacheren Bürger sich von ihrer Meinung abbringen ließen. Dass die Drohung wirkte, lag sowohl an den Umständen – alle Senatoren waren mit ihm einig –, als auch an ihm selbst: Die Bürger scheuten sich, unter den Augen dieses Greises nicht so abzustimmen, wie er es wollte. Woher diese Scheu? Zwischen den versammelten Römern und dem alten Servilius hatte sich eine besondere Autoritätsbeziehung hergestellt. Und dazu hatte weniger seine Rede beigetragen als vielmehr die Entblößung der Narben. Wie erklärt sich die Wirksamkeit dieser Narben? Nehmen wir vorläufig an, diese Wirksamkeit stamme aus ihrer Bedeutung. Wie rekonstruieren wir dann die politische Semantik der Narben? Was symbolisierten sie? An dieser Stelle ist theoretische Rückbesinnung geboten. Ähnliche Phänomene finden sich in anderen Kulturen. Waren nicht die Schmisse im Gesicht deutscher Studenten ein analoges Phänomen?5 Indes, die Schmisse verschafften den genarbten Gesichtern keine politische Autorität. Auch wenn Germanen und Kelten sich mit ihren Narben brüsteten, hilft das der Analyse nicht weiter, weil kulturelle Phänomene keine historischen Invarianten sind. 125
Zur Kritik kultureller Semantik
Ein interkultureller Vergleich bewahrt uns davor, eine gleichartige Semantik zu unterstellen: Die griechische Kultur hielt kriegerische Werte ähnlich hoch wie die römische; dennoch war das, was unser Konsular machte, in Hellas undenkbar, weil die griechische Kultur Wunden und Narben verbarg und tabuisierte. Ein Athener, der nicht zum Strategen gewählt worden war, beklagte sich darüber bei Sokrates, wobei er sich entblößte und seine Narben vorwies.6 Er tat das also nicht in der Öffentlichkeit, sondern gegenüber einem Bekannten. Hingegen pflegten römische Amtsbewerber mindestens bis zum Ende des 2. Jh. v. Chr. ihre Tunika – ihr hemdartiges Unterkleid, welches den Hals und die Brust bedeckte – abzulegen, um ihre Narben sichtbar zu machen.7 So wie die leiblichen Bewegungsschemata der griechischen Oberschicht andere waren als in Rom, so war auch ihr Körperideal ein anderes; und das öffentliche Vorzeigen der Narben war keine akzeptierte Performanz.8 Dennoch waren die Griechen in der Kaiserzeit beeindruckt von dieser römischen Geste; und griechische Autoren der Kaiserzeit schrieben ihren Vorfahren dieselbe Verhaltensweise zu. Plutarch (im 2. Jh. n. Chr.) behauptet, der spartanische König Agesilaos habe überall Narben gehabt; doch Xenophon, der Agesilaos gekannt hat und in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. schrieb, erwähnt nichts dergleichen.9 Ein weiter Graben zwischen der griechischen und der römischen Kultur tut sich auf. Um die kulturelle Besonderheit dieser Narben-Demonstration zu ermitteln, sind einfache semantische Trennlinien zu ziehen: Wo werden die Wunden geschlagen? Im Krieg oder im Duell? Bereits mit dieser Frage bricht zwischen den Schmissen deutscher Korps-Studenten und den römischen Wunden eine politische Kluft auf. Denn jene 23 Duelle, die Servilius Pulex durchgefochten hatte, besaßen eine völlig andere politische Konnotation als die Ehrenhändel der frühen Neuzeit oder als die sportiven Ereignisse auf dem Fechtboden. Das angekündigte Duell vor einer Schlacht war ein fixer Bestandteil römischer Kriege: Es wurde vom römischen Imperator eigens erlaubt; es hatte keinerlei Bedeutung für den Ausgang der Schlacht; es war lediglich die Ouvertüre. Die Schmisse helfen somit nicht, die römische Narben-Demonstration zu begreifen, doch sie helfen uns, den Blick zu schärfen für kulturelle Differenzen. Es ging somit um Wunden im Kriege. Aber wie waren diese Wunden konnotiert? Galten sie als Zeichen eines Opfers für die politische Gemeinschaft oder als Merkmale individuellen Heldentums? Beides kann niemals auf Null gehen; individuelles Heldentum ist im Kriege nie ganz zu tilgen und das Opfer für die politische Gemeinschaft ebenso wenig. 126
Semantik und sozialer Kontext
Es fragt sich, in welchem proportionalen Verhältnis sie zueinander standen. Auf den ersten Blick ist das eine militärsoziologische Frage; sie wird unten beantwortet.
Semantik und sozialer Kontext Interkulturelle Vergleiche nützen der Kontrastbildung; sie bereichern das Inventar der Differenzen. Bedeutungen – von Worten, Gesten, Zeichen, Verhalten – lassen sich nur erschließen mittels eines solchen Inventars. Zunächst ist der Versuchung zu widerstehen, in einem hermeneutischen Kurzschluss auf die Bedeutung der Narben des alten Konsulars durchzugreifen. Danach ist ein Verzeichnis ähnlicher Fälle in der römischen Kultur anzulegen; denn erst in der Serie erhält der Einzelfall eine spezifische semiotische Wertigkeit. Passierte das häufiger, was der alte Servilius 167 v. Chr. machte? In der Tat, und zwar auf allen Ebenen der Öffentlichkeit. Zuvorderst begegnet uns diese Geste als ein politisches Kampfmittel von Schwächeren. Kam es in der frühen römischen Republik zu Konfrontationen zwischen der Plebs und dem Adel, dann verwiesen nicht allein plebejische Anführer auf ihre Narben, sondern des öfteren auch einfache Bürger.10 Sind das Rückprojektionen der Historiographen? Dann übten römische Plebejer solche Gesten noch am Ende der Republik. Die Semantik ist eindeutig: die Narben vorzeigend, bezweckten die einfachen Römer nicht, die Senatoren einzuschüchtern, sondern sie unterstrichen damit, dass die Plebs Opfer für die politische Gemeinschaft gebracht hatte. Damit klagten sie das Anrecht auf ehrenhafte Behandlung ein. Jene militärsoziologische Frage lässt sich beantworten, indem man die politische Verwendung der Narben besieht, also ihren Symbolwert auf dem politischen Feld abschätzt. Keltische und germanische Krieger stellten ihre Narben zur Schau, um ihrer individuellen Tapferkeit Achtung zu verschaffen. Ihre Narben symbolisierten Heldentum. Die römischen Narben waren mit der politischen Gemeinschaft konnotiert, Kriegswunden galten als Opfer an die Res publica. Ferner gebrauchten diese Geste adlige Römer, die sich in Notlagen befanden und an die Hilfe ihrer Mitbürger appellierten. Die beiden berühmten Rebellen gegen die senatorische Herrschaftspraxis, Coriolanus und Manlius Capitolinus, verteidigten sich, indem sie ihre Wunden anführten.11 Beide Figuren waren später negative exempla; aber darum war die Geste nicht verpönt. Als Angeklagte vor Gericht verwie127
Zur Kritik kultureller Semantik
sen römische Aristokraten auf ihre Kriegsnarben, sofern sie konnten. Das war in der Republik üblich; und die Rhetoriklehrer der Kaiserzeit empfahlen den Verteidigern, auf die Kriegsnarben ihrer Mandanten zu verweisen. Laut Quintilian standen die Narben nach dem Rang und nach dem Verdienst des Angeklagten an dritter Stelle, noch vor dem Adel und den Verdiensten der Vorfahren.12 Denn, wie sogar der gewiss narbenlose Seneca in der Zeit Kaiser Neros einräumt: die Träger von Kriegsnarben erhielten mehr Ehre.13 Man begnügte sich nicht damit, auf sie zu verweisen. Als der berühmte Redner M. Antonius 98 v. Chr. den Manius Aquilius verteidigte, zerriss er diesem die Tunika vor der Brust, um den Richtern dessen Narben zu zeigen. Obwohl die Beweislast erdrückend war, wurde der Angeklagte freigesprochen. Dieser Akt wurde zum exemplum; Cicero konnte 18 Jahre später darauf verweisen, als er den Angeklagten Verres verhöhnte: Gewiss werde der Verteidiger Hortensius dem Angeklagten – wie einst Antonius – die Toga abnehmen, um die Kratz- und Bisswunden von Liebesabenteuern als Beweise für seinen Opfermut anzupreisen.14 Cicero selbst imitierte das exemplum des Antonius, als er 63 v. Chr. den Rabirius gegen eine Majestätsklage verteidigte. Am Schluss der Rede, inmitten einer feierlichen Beschwörung der politischen Grundsätze römischer Ordnung, ruft der Verteidiger: »er hat diese Narben und Male seiner Tapferkeit, dem Feinde zugewandt, für das Vaterland empfangen …«.15 Möglicherweise waren die Narben des Rabirius in diesem Augenblick öffentlich zu sehen. Das war eine Ausnahme. Die Überlieferungslage suggeriert, dass es zu solchen Demonstrationen selten kam. Den Rednern genügte es, auf die Narben zu verweisen.16 Es war also eine wohl bekannte soziale Praxis. Nicht nur vor Gericht führte man Narben an. Marius tat es in seiner Rede zum Antritt des Konsulats; und römische Amtsbewerber gingen noch in der späten Republik ohne Tunika umher, damit man ihre Narben sah. Diese Praxis gehörte an bestimmte Orten, nämlich auf das Forum und vor die Volksversammlung. Aber auch anderswo traf man sie an, zum Beispiel im Militärlager, denn die Legionäre hatten vor narbigen Feldherren höheren Respekt. Der einäugige Sertorius war stolz auf die Verwundungen im Gesicht.17 Und im Senat? Die Überlieferung schweigt. Folglich dürften Senatoren vor dem Senat nur selten auf ihre Narben verwiesen haben. Einmal kam es im Senat allerdings zu einer handfesten Entblößung: Als Augustus 18 v. Chr. die Senatsliste neu zusammenstellte (lectio senatus) und dabei die Anzahl der Senatoren beträchtlich verminderte, fand 128
Semantik und sozialer Kontext
sich unter den vielen gestrichenen Senatoren ein ansonsten unbekannter Licinius Regulus. Dieser entblößte sich vor dem versammelten Senat, zählte die Feldzüge auf, an denen er teilgenommen hatte und verwies dabei jeweils auf die empfangenen Wunden.18 Diese Ostentation lässt sich unterschiedlich interpretieren, je nachdem, welchen familialen Hintergrund man für Licinius Regulus annimmt. Falls er einer jener tapferen Zenturionen war, die im Laufe der Bürgerkriege in den Senat gelangten, dann mag er in Verzweiflung über die Degradierung zu einer Geste gegriffen haben, die er als guter Römer aus dem Feldlager und den Volksversammlungen kannte und die er als angemessen empfand, obwohl sie in das honorige Gremium schlecht passte. Stammte er hingegen aus einer senatorischen Familie, dann war ihm bewusst, dass er eine Geste, die an andere politische Orte gehörte, in den Senat hineintrug, um seine Würdigkeit zu beweisen. Damit forderte er andere heraus, ihrerseits ihre Würdigkeit nachzuweisen, was nur zu Beschämung und Streit – und nicht zuletzt zur Untergrabung der Rangverhältnisse – führen musste. Er stellte damit das Selektionsverfahren des Kaisers infrage, welches gerade verhindern sollte, dass unter den Senatoren der Kampf um die Senatsplätze ausbrach. Der Hinweis auf die Narben erfolgte nicht selten, die Entblößung sehr wohl. In den überlieferten Fällen war diese Verweisung stets glaubwürdig, somit ersparte sie die Entblößung. Wenn die Verweisung eine Praxis ist, was war dann die Entblößung? Offensichtlich stellte sie keine Transgression dar, denn sonst hätte sie nicht diese starke positive Wirkung gehabt. Dennoch ging die Entblößung an eine Grenze, und darum war der performative Akt des alten Konsulars 167 v. Chr. ein extremer Fall auf der Skala der möglichen Gesten. Die Kleidung in Rom war politisch genau kodiert: Nur römische Bürger trugen die Toga; und bei zeremoniellen politischen oder religiösen Anlässen – z. B. in der Volksversammlung – mussten sie diese tragen. Die Toga abzulegen hieß, eine Grenze berühren. Deutlicher: Die Entblößung selbst tangiert den Gegensatz von ›nackt‹ und ›bekleidet‹; und diese Opposition hatte einen anderen Stellenwert und eine höhere Intensität als in Hellas, weil Römer in der Öffentlichkeit nie nackt zu sehen waren. Diese Opposition verlieh der Entblößung eine ereignishafte Wucht. Die Seltenheit der Entblößung spricht nicht gegen ihren Charakter als Praxis, sondern spezifiziert diese Praxis als eine besondere: als eine äußerste Möglichkeit auf der Skala des Verweisens. Es war ratsam, nur sparsam von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Wir werden unten sehen wieso.
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Zur Kritik kultureller Semantik
Der Leib als Schreibmaterial und die Narben als Text Die semantischen Bezüge haben sich bisher aus Kontrastbildung und Vergleichen ergeben, innerhalb definierter Kontexte. Gemeinsam ist allen registrierten Fällen, dass die Verweisung auf und die Entblößung der Narben etwas bezeugen sollten, nämlich die Würdigkeit, ja die Untadeligkeit des Narbenträgers, der Opfer für die Res publica gebracht und darum ein Anrecht auf besondere Achtung hatte. Lenken wir nun den Blick vom Kontext zum performativen Akt selbst.19 Was tat der Greis? Und was sahen die römischen Bürger? Die zuhörenden und hinblickenden Plebejer bekamen Narben aus unterschiedlichen Kriegen zu Gesicht. Der alte Senator sortierte diese chronologisch, als seien sie nummeriert. Ferner kommentierte er sie, indem er an die konkreten Duelle erinnerte, deren Spuren sie waren. Damit rief er Kriege ins Gedächtnis zurück; er erinnerte die zuhörenden Bürger an Gefahren, die er gemeinsam mit ihren Vätern oder Großvätern bestanden hatte. In der Tat zählten die Römer ihre Narben; sie nummerierten sie sogar, ebenso wie sie die Duelle zählten, die militärischen Dekorierungen und Ehrenzeichen, die Konsulate und die Triumphe.20 Nummerieren und kommentieren hieß, einen doppelten Verweisungszusammenhang herstellen: Erstens bezog sich der Narbenträger auf die Res publica, auf die politische Gemeinschaft aller Römer, für die er Opfer gebracht hatte. Zweitens distinguierte ihn die Anzahl der Narben unter allen römischen Narbenträgern und wies ihm einen präzisen Platz auf dieser Skala der Ehre zu. Damit gewinnen wir erneut eine kulturanthropologische Differenz: Während die ostafrikanischen Massai oder die Karimojong ebenso wie die südamerikanischen Tupi ihre Narben von den Initiationsriten als Stammesmerkmale tragen, als Merkmale, die ihnen versichern, dass sie als Stammesangehörige politisch Gleiche sind,21 schufen die römischen Narben Prestige-Abstufungen und damit Ungleichheit. Die politische Semantik römischer Narben war jener von Initiationsnarben diametral entgegengesetzt. Indem Servilius Pulex nummerierte und kommentierte, vollzog er eine besondere Memorialpraxis. Er las von seinem narbigen Leib ab, als wäre dieser beschrieben. Er behandelte ihn als wandelnden Zeichenträger, als atmendes Monument einer politischen Memoria, das sich in lautstarker Rede vor Tausenden selbst interpretierte. Auf der einen Seite erzeugte der entblößte Senator mit seiner kommentierenden Rede ein Bild gemeinsam erlittener und bewältigter Vergangenheit; er 130
Der Leib als Schreibmaterial
schuf Gemeinsamkeit zwischen sich und vielen anwesenden einfachen Bürgern. Auf der anderen Seite präsentierte sich dieses kommentierende Monument als völlig politische Person; alles an ihm schien in den Dienst der Res publica gestellt: seine Zeit, seine Beschäftigung, sein militärischer und politischer Werdegang. Sogar das Verletzbare an ihm, seine Haut, seine Brust, sein Bauch, seine Glieder – sein gesamter Leib, war nichts Privates. Dieser atmende, verletzbare und mehrfach verletzte Leib war vor allem ein fragiler Einsatz im immerwährenden Kampf der gesamten politischen Gemeinschaft aller Römer. Ein Einsatz, der immer wieder zum Opfer für die Res publica dargeboten worden war. Welchen Eindruck machte eine solche Demonstration in der militaristischen römischen Kultur auf die Plebejer? Ein neue Kontextebene ist einzubeziehen. Absolut gesehen verlangten die Kriege der Plebs mehrhundertfach größere Kriegsopfer ab als der Aristokratie; trotzdem waren – relativ gesehen – die Opfer der Aristokratie fast immer die höheren. In schweren Kriegen beklagten die adligen Familien proportional manchmal weitaus mehr Tote als die plebejischen. So fielen von 300 Senatoren mehr als die Hälfte in den ersten vier Jahren des Zweiten Punischen Krieges.22 Die römische Kultur besaß mehrere Rituale, in welchen die Aristokratie diesen Tatbestand eindringlich inszenierte und der Bürgerschaft ins Bewusstsein schrieb. Feldherren verwiesen – wenn sie konnten – auf die Blutopfer, die ihre Familie im aktuellen Krieg bereits gebracht hatte. Die Erinnerung daran und das Wissen darum konstituierte die Semantik der adligen Narben. Hart formuliert: Der alte Servilius präsentierte sich als todgeweihter Herrschaftsträger. Diese ›Weihung zum Tode‹ bestand nicht im sakralen Sinne, sondern metaphorisch im sozialen Schicksal, welches aus zwei Faktoren resultierte: aus der Motivation, sich auszuzeichnen, und aus der statistischen Wahrscheinlichkeit, dabei Unversehrtheit oder Leben zu verlieren. Diese Opferbereitschaft galt der Res publica und verknüpfte sich im Imaginären mit der Herrschaftsbefugnis. Freilich war, wer höhere Todesrisiken einging, nicht deshalb zu herrschen befugt; andernfalls hätte die römische Bürgerschaft angesichts der oft horrenden Verluste in den Schlachten die aristokratische Herrschaft nicht akzeptiert. Es war umgekehrt: Wer sich herrschaftsfähig glaubte oder bereits Herrschaftsbefugnisse innehatte, musste in einem höherem Maße Opferwillen und Todesbereitschaft bekunden. Den Leib entblößen hieß, die Wahrheit enthüllen. Nun zeigte es sich, ob das gelebte Leben übereinstimmte mit dem, was die senatorische Kleidung vorgab, ob ein Senator dem hohen politischen Pathos, wel131
Zur Kritik kultureller Semantik
ches er dauernd im Munde führte, auch nachlebte. Das Verhältnis von symbolisierter Norm und erfüllter Norm wurde augenfällig. Die Narben bewiesen, dass das individuelle Handeln mit dem aristokratischen Anspruch übereinstimmte. Die narbige Schrift des Krieges auf dem Leib dokumentierte, dass der Anspruch auf Herrschaft zu Recht bestand. Aus diesem Grunde durfte Servilius Pulex auch barsch beanspruchen, die bessere Einsicht zu besitzen. Die Entblößung der Narben mündete in das folgerichtige Finale: Der Greis forderte den Widersacher heraus, doch die Hüllen fallen zu lassen. Alle wussten, dass bei dem jungen Mann von 27 bis 30 Jahren nicht viel zu sehen war. Diese Herausforderung machte den Militärtribun zu einem Mann ohne Narben. Bis zum Augenblick der Herausforderung war dies politisch bedeutungslos gewesen. Nun richtete sich die kollektive Aufmerksamkeit auf diese Tatsache und lud sie mit Bedeutung auf. Die Narbenlosigkeit degradierte den Militärtribun politisch. Sie verurteilte ihn. Sie bewies, dass er das war, was der narbige Gegner ihm vorwarf: ein hohler Schwätzer. Es konnte gar nicht richtig sein, was der Narbenlose sagte, egal was er sagte. Diese Herausforderung beschädigte die Karriere des Sulpicius Galba: Erst 16 Jahre später, 151 v. Chr., wurde er Praetor; er war zu der Zeit mindestens 43 Jahre alt; d. h. er erreichte die Praetur neun Jahre später, als das Mindestalter vorsah. Entweder erlitt er mehrere Wahlniederlagen oder er vermied es mehrere Jahre lang, sich überhaupt zur Wahl zu stellen.23 Wer zu einer solchen Demonstration schritt, erhob den Anspruch, in vollem Sinne Römer zu sein, in vollendeter Weise die Grundnormen römischen Lebens zu personifizieren. In diesem Augenblick war der alte Servilius das personifizierte Römertum. Für die einfachen Bürger konnte nur richtig sein, was er verlangte. Mit diesem Zuwachs an Autorität ausgestattet, wagte es der Greis, ihnen damit zu drohen, er werde ihre Stimmabgabe kontrollieren. Unter den Augen des vollendeten Römers stimmten die Bürger ab; und wir dürfen nicht glauben, dass sie es mit Widerwillen taten – in den Augen eines vollendeten Römers sich nicht unwürdig zu zeigen war Ehrensache. So funktionierte Rom im Idealfalle. Wir könnten uns zufrieden geben. Die Semantik der Narben-Entblößung ist erschlossen. Und der Ausgangspunkt der Untersuchung war die Annahme, die politische Wirkung – nämlich der politische Gehorsam der Plebs inmitten eines Konfliktes – ergebe sich aus der Semantik der Narben. Trifft die Annahme zu, lässt sich die Demonstration der Narben ›lesen‹ wie ein Text, ähnlich wie Clifford Geertz den Balinesischen Hahnenkampf ›gelesen‹ hat. So könnte man auch das römische 132
Veto der Praxeologie
Leichenbegängnis mit der Ahnenserie lesen, die römische Gladiatur und vieles andere. In der Tat scheint die Analyse zu ergeben, dass die Geste mitsamt der Situation, in welcher sie sich ereignete, aus einer Konfiguration von Zeichen bestand. Das soziale Interagieren wäre demnach ein Austausch von Zeichen. Die Narben-Demonstration war ein Machtmittel im Kampf; und ohne ihre zeichenhafte Dimension konnte sie kein Machtmittel sein. Vom dekonstruktionistischen Standpunkt aus könnte man schlussfolgern: Was an dieser Performanz wirkte, war folglich ihre Botschaft, also ihr textähnlicher Charakter.
Veto der Praxeologie: Semantik bedingt, sie determiniert nicht Dagegen erhebt sich der praxeologische Einspruch: Zwar bilden sowohl ein Text als auch eine Geste ein Ensemble von Zeichen. Aber der Umkehrschluss gilt nicht. Nicht jedes Ensemble von Zeichen ist ein Text. Der umfassende Begriff ist das Zeichen, nicht der Text. Die Narben, welche der alte Servilius Pulex abzählte und kommentierte, waren kein Text; sie wurden – in einem spezifischen kulturellen Kontext – zu Zeichen. Eine semiotische Analyse kann immer neue Bedeutungen entdecken. Doch die Bedeutungen verraten uns nicht, welche politische Kraft sie hatten. Politische Wirkung kann sich zwar aus der Semantik einer symbolträchtigen Handlung ergeben; aber die Zeichen selbst wirken nicht. Dass Bilder ›Macht‹ hätten, darf als Aberglaube gelten – aus demselben Grunde:24 Was das Zeichen zum Zeichen macht, ist das Signifikat, welches nicht am Zeichenträger haftet, sondern ihm durch kulturelle Konvention zugesprochen wird. Das Signifikat richtet sich an Vorstellungen; freilich haften Vorstellungen nicht an der dinglichen Seite der Zeichen, sondern sie existieren in den Köpfen der Zeichenempfänger. Vorstellungen sind Resultate sozialer Beziehungen und verdanken sich einer kulturspezifischen Sozialisation. Es sind sozial stabilisierte intellektuelle Dispositionen – Elemente eines mentalen Habitus. Vorstellungen haben selbstverständlich eine ungeheure Macht; sie sind in unterschiedlichen Graden verhaltensrelevant, und ohne diese Verhaltensrelevanz wäre menschliche Kultur – auf Symbole gegründete, mit Symbolisierungen operierende Kultur – nicht möglich. Aber Vorstellungen werden von materiellen Zeichen weder erzeugt noch verändert. Keine Geste und keine Narbe bewirkte bei den römi133
Zur Kritik kultureller Semantik
schen Bürgern eine Vorstellung. Erst ihre Vorstellungen machten aus jenen Narben heroische Abzeichen von rühmenswerten Opfern für die Gemeinschaft. Diese Vorstellungen konstituierten die Narben zu politisch relevanten Zeichen und bestimmten darüber, welche Botschaft ankam und ob überhaupt eine vorhanden war. Erst in der konkreten Situation zeigt sich, ob die Bedeutungen umstritten sind oder ob andere, mächtigere Bedeutungen ihnen entgegenstehen. Und wenn Bedeutungen umkämpft sind, dann lässt sich dieser Kampf nicht mehr beschreiben mit den Kategorien der Zeichenanalyse. Wir müssen also zusätzliche Überlegungen anstellen: 1. Angenommen, die römischen Bürger ›lasen‹ die performativen Akte des alten Konsulars. Führt man nun die politische Wirksamkeit der ›Lektüre‹ zurück auf die Semantik der Narben, dann setzt man voraus, dass die römischen Bürger auf die Narben reagierten wie Pawlowsche Hunde. Aber Pawlow musste seine Hunde abrichten, dressieren, damit sie auf die Signale reagierten. Zeichen wirken auf Grund kultureller Konditionierung. Und auch in Rom waren umfassende Prozesse von Konditionierungen notwendig, sozial aufwendige Normeninternalisierungen. Erst diese internalisierten Normen machten die Narben als Symbole wirksam. Diese Arbeit der Sozialisation wird von der dekonstruktionistischen Forschung einfach vorausgesetzt oder ganz unterschlagen. Doch damit kürzt man den kulturellen Prozess um eine entscheidende Dimension; denn die Internalisierung von Normen erfolgt in unterschiedlichen sozialen Kontexten auf mannigfaltige, oft widersprüchliche Weise, uneinheitlich und gegensätzlich. Berücksichtigt man die Vielfalt der sozial erzeugten Dispositionen nicht systematisch, dann verkürzt man jenen kulturellen Prozess des ›Lesens‹ von Zeichen. Man macht ihn unterkomplex; d.h. man verfälscht ihn. Bourdieu nannte die Kultur ein System von Dispositionen.25 Diese Definition betont den pragmatischen Charakter aller Kultur und ist daher eine heilsame Korrektur an der Geertz’schen Definition, wonach Kultur ein selbstgesponnenes Gewebe von Bedeutungen sei. 2. Der Akt der Narben-Entblößung ist situativ. Daher ist seine konkrete ›Botschaft‹ nicht identisch mit der allgemeinen Semantik der Narben selbst. Die Semantik der Narben-Entblößung verändert sich, je nachdem, welchen Adressaten wir ins Auge nehmen. Es sind nämlich drei Adressaten vorhanden: erstens die römischen Bürger, zweitens die senatorischen Standesgenossen, drittens der innenpolitische Gegner. Lassen wir die römischen Bürger beiseite. Der zweite Adressat dieser Geste waren die anderen Senatoren. Die innersenatorische Konkurrenz konnte unerbittlich sein und überraschte immer wieder mit 134
Veto der Praxeologie
neuen Formen; der alte Senator ging mit seiner Narben-Demonstration ein Risiko ein, denn er setzte sich einer potentiellen Rivalität aus. Wer zeigte, riskierte, dass andere auch zeigten. Der Appellwert seiner Narben konnte dabei abstürzen. Zeigen hat nur Distinktionswert, wenn das Vorgezeigte eine Differenz schafft gegenüber dem, was andere vorzuzeigen haben. Indes, der alte Konsular war sicher, dass er hierbei nichts riskierte: Zum einen wusste er sich im Konsens mit dem gesamten Senat, deshalb brauchte er nicht zu befürchten, dass ihm ein anderer Senator entgegentrat; zum anderen kannte Servilius Pulex jeden seiner Standesgenossen, vermutlich wusste er genau, wie viele Narben jeder der älteren Konsulare aufzubieten hatte; er kannte seinen Platz auf der Skala des potentiellen Narben-Prestiges genauso gut, wie er seine Platzierung im Senatsalbum kannte, in welches die Censoren alle fünf Jahre die Rangfolge der Senatoren eintrugen. Er wusste, dass kein anderer ihn übertraf. Aber nicht jeder Senator hieß Servilius Pulex. Wer inmitten einer politischen oder gerichtlichen Auseinandersetzung überlegte, ob er auf seine Narben verweisen sollte oder nicht, musste darauf gefasst sein, dass gegnerische Senatoren ebenso viele Narben oder gar noch mehr besaßen. Die brauchten bloß aufstehen und es ebenso zu machen. Dann war nicht nur der Effekt dahin, sondern die Blamage da. Es ist daher gar nicht verwunderlich, dass Senatoren in der politischen Öffentlichkeit relativ selten auf die Narben verwiesen und sie noch viel seltener zeigten. Diese Seltenheit ist ein Resultat des strukturellen Gefüges der innersenatorischen Konkurrenz und der Furcht, auf einen Gegner zu stoßen, der mithalten konnte oder gar mehr Narben aufzuweisen hatte. Eine solche Niederlage galt es zu vermeiden. Sie hätte den politischem Wert der Narben des Unterlegenen drastisch gesenkt. Der semantische Wert der Narben war also nicht fix, sondern abhängig vom sozialen Kräfteverhältnis. Politische Semantik half zwar mit, die soziale Interaktion zu strukturieren; aber sie war gleichzeitig ein Einsatz im Spiel sozialer Gruppen gegeneinander. Ein Einsatz, der verloren gehen konnte. Um das zu illustrieren, lässt sich ein nicht eingetretener Vorfall konstruieren. Wir brauchen bloß die Voraussetzungen zu verändern und anzunehmen, die Plebs wolle einen sehr populären Antrag unbedingt durchsetzen, aber ein Großteil des Adels sei dagegen. Das ereignete sich 133 v. Chr. beim Ackergesetz des Tiberius Gracchus tatsächlich. Nichts, keine Trauergesten, keine Gegendemonstrationen des Adels, hielt die Plebs davon ab, mit überwältigender Mehrheit für das Ackergesetz zu stimmen; und die Abstimmung war öffentlich wie im Jahre 135
Zur Kritik kultureller Semantik
167 v. Chr. und wurde von den Senatoren kontrolliert. Nehmen wir an, ein Servilius Pulex hätte 133 v. Chr. seine Narben vorgezeigt und hätte aufgerufen, auf ihn zu hören und nicht auf den jungen Volkstribun, was wäre dann gewesen? Auf diesem Spielfeld hätte ein solcher hypothetischer Konsular nicht nur das Spiel verloren. Er hätte auch seinen Einsatz verspielt. Ganz konkret: Ein Konsular, der wie Servilius Pulex seine Narben entblößt hätte, um zu beweisen, dass er Recht hatte und dass das Ackergesetz ein Unfug war, hätte schnell aufgehört, ein idealer Römer zu sein. Einer gerechten Sache entgegenzutreten – einer Sache, die von der gesamten Plebs als eminent gerecht empfunden wurde –, das konnte man auch nicht mit dreimal so vielen Narben, wie Servilius Pulex sie hatte. Allerdings hätte eine solche politische Niederlage die Konfiguration der römischen Politik verschoben. Sie hätte nicht allein die Narben des alten Senators entwertet. Auch alle anderen Senatoren hätten über Jahre keine Narben vor der Volksversammlung einsetzen können. Behaftet mit dem Makel einer empfindlichen Niederlage, hätten vorgezeigte Narben ihren Appellwert eingebüßt. Was heißt das? Der Wert der Zeichen und die Stärke der Bedeutungen stehen nicht ein für allemal fest wie idealiter in einem Text. Sondern auf dem politischen Feld waren sie selbst Einsätze, die man verspielen konnte. An unserem Beispiel merken wir das deswegen nicht, weil Servilius Pulex das Spiel gewann. Daher scheint die Bedeutung stabil, ihr Wert außer Frage – und daher scheint für unterkomplex arbeitende Forschung die Kultur ein Text. Zwei Resultate sind festzuhalten: Erstens scheint das Ereignis von 167 v. Chr. nur deshalb wie ein Text lesbar, weil die Geste, welche sich aus dem Ensemble der kulturellen Semantik Roms quasi ›ableiten‹ lässt und daher ›lesbar‹ wird, erfolgreich war. Weshalb sie hier Erfolg hatte, anderswo jedoch nicht einzusetzen war, hing an politischen Bedingungen. Und diese sind aus der politischen Semantik nicht abzuleiten. Die Kräfteverhältnisse, welche über Sieg oder Niederlage entscheiden, treten meist zutage, wenn es schief geht bzw. wenn der Historiker die ›Gegenprobe‹ macht. Zweitens ist die ›dichte Beschreibung‹ eines historischen Vorganges etwas anderes und viel mehr, als bloß die Vielfalt der involvierten Bedeutungen zu rekonstruieren. Sie hat zuvorderst die politischen Möglichkeiten zu ermitteln, die Kippmomente in den spannungsvollen Situationen. Die Bedeutung des ›Ereignisses‹ ergibt sich weit mehr aus den ›realen‹ Eventualitäten, mit welchen die Akteure – oft stillschweigend – rechnen, als aus den semantischen Etiketten, mit welchen dieselben Akteure es versehen. 136
Rituelle Akte vor der Rache
7. Negative Reziprozität: Die römische Rache
Feindschaft und Vergeltung in Rom sind lange Zeit außerhalb des Blickfeldes geblieben. Der französische Rechtshistoriker Yan Thomas hat die Rache untersucht und ihren Platz im Politischen gewürdigt. Rache war kein archaisches Verhalten, welches vom Recht überwunden wurde.1 Die gerichtlichen Verfahren begrenzten zwar die gewaltsame Reaktion; aber das Tribunal wurde gleichzeitig zum Gelände, auf dem die Feindschaften zwischen familialen Gruppen sich in legitimen Formen austobten. Das Recht lieferte der Rache geradezu die Mittel, um sich zu erfüllen.
Rituelle Akte vor der Rache Bei schweren Vergehen, bei Ehrverletzungen oder Beleidigungen rächten sich die Römer nicht auf kalte Weise. Sie zerschnitten mit einer meist öffentlich vollzogenen Geste das Band des Friedens und Wohlwollens, welches imaginär die Familien und Personen zusammenhielt: Sie kündigten dem Gegner die Freundschaft auf. Renuntiare amicitiam, so hieß dieser einseitige Akt. Die Auflösung einer amicitia (Freundschaft) war vergleichbar einer Verstoßung des Ehegatten, einer Verleugnung des Sohnes oder einer Aufkündigung des Bündnisses. Die Freundschaft aufkündigen hieß, die Feindschaft erklären und den vergeltenden Schlag ankündigen. Falls es keine amicitia aufzukündigen gab, sagte man inimicitiam denuntiare, buchstäblich: die Feindschaft erklären.2 Zwar stammen die meisten überlieferten Fälle aus der frühen Kaiserzeit; aber Yan Thomas nimmt zu Recht an, dass es sich hierbei um einen alten Brauch handelte, den man in der Republik auf dieselbe Weise übte. Kaiser Tiberius konnte daher sagen: »Es war Brauch bei unseren Vorfahren, jemandem ihr Haus zu verbieten und dadurch jegliche Beziehung zu beenden, sobald sie eine Freundschaft abbrechen wollten.«3 Doch in welchem Umfang brach man die Beziehungen ab? Wurden auch Ehen aufgelöst? Oder gab 137
Negative Reziprozität: Die römische Rache
man bloß die erhaltenen Geschenke zurück? Darüber wissen wir zu wenig. Die sozialen Folgen einer renuntiatio amicitiae waren einschneidend und weitreichend; deswegen galt es auszuschließen, dass ein Missverständnis vorlag. Wer den offenen Bruch vermeiden wollte, konnte einen solchen Klärungsprozess dermaßen ausdehnen, dass schließlich die soziale Nötigung, eine renuntiatio amicitiae auszusprechen, auf ein Minimum sank. Cicero praktizierte eine solche Verschleppung 62 v. Chr. Wenige Tage, bevor seine Amtszeit als Consul ablief, hatte er die Catilinarier in Rom ohne Gerichtsverfahren hinrichten lassen. Er beabsichtigte, am 29. Januar 62 v. Chr. die übliche Rede zur Amtsniederlegung vor dem Volk zu halten. Da kam ihm zu Ohren, dass der Volkstribun Q. Metellus Nepos plane, ihm vor dem versammelten Volk das Wort zu entziehen. Cicero bat die Schwägerin des Metellus Nepos und selbst eine Kusine, auf diesen einzuwirken, damit er von seinem Vorhaben ablasse. Dennoch verhinderte der Tribun, dass Cicero zum Volk redete. Der beleidigte Konsular schickte am selben Tag gemeinsame Freunde zu ihm, um ihn umzustimmen und das gute Einvernehmen wiederherzustellen. Der Beleidiger erklärte den Vermittlern, er habe nicht anders handeln können: denn wer römische Bürger töten ließ, ohne sie anzuhören, der habe das Recht verwirkt, vom Volk gehört zu werden. Selbst als diese Vermittlung scheiterte, kündigte Cicero ihm die Freundschaft nicht auf. Die Affäre erhellt, dass ein erheblicher Spielraum bestand, Beleidigungen zu rächen oder ungerächt zu lassen. Denn in den Senatssitzungen blieb Cicero reserviert: Angriffe des Tribuns wehrte er mit scharfen Worten ab, doch als bei einer Senatsdebatte die Amtsführung des Metellus Nepos gerügt wurde, enthielt er sich des Wortes. Ostentativ stellte er seinen Willen, das gute Einvernehmen unter Senatoren im Interesse der Res publica zu bewahren, über seine verletzte dignitas (offizielles Ansehen). Er rechnete damit, dass sein Racheverzicht ihm unter diesen Umständen symbolischen Gewinn einbringen werde. Dennoch bezeichnete er den Metellus Nepos in einem Brief als inimicus, als Feind. Cicero glaubte also, er könne auf Zeit spielen, hoffend, dass die vielfältigen Freundschaftsbeziehungen auf lange Sicht den Widersacher dazu nötigten, seine feindselige Haltung aufzugeben.4 Sein Kalkül ging auf. Denn als Metellus Nepos 57 v. Chr. Consul war, drängte ihn sein entfernter Verwandter P. Papirius Isauricus, ein alter Konsular, er solle die Feindschaft beilegen und sich dafür einsetzen, Cicero aus der Verbannung zurückzurufen. Metellus stellte im Senat den entsprechenden Antrag. Dazu hätte er sich kaum durchgerungen, wenn Cicero sich als hartnäckiger inimicus benommen hätte. 138
Rituelle Akte vor der Rache
Es konnte ratsam sein, den potentiellen Feind zunächst zu warnen und ihm die renuntiatio amicitiae nur anzudrohen. In dem apulischen Städtchen Larinum kündigte um 85 v. Chr. der Clan der Aurii auf dem öffentlichen Platz an, sie würden Oppianicus wegen Mordes anklagen, falls ein bestimmter Verwandter von ihnen eines gewaltsamen Todes starb.5 Ähnlich machte es Germanicus, der designierte Nachfolger des Kaisers Tiberius, 19 n. Chr. in Antiochia, als er erfuhr, dass der syrische Statthalter Calpurnius Piso mit Magie und Hexerei ihn ums Leben zu bringen suchte: Er »begnügte sich, ihn zu warnen, gemäß althergebrachtem Brauch, dass er ihm die Freundschaft aufkündigen werde und den Seinen die Obsorge anvertrauen werde, ihn zu rächen, falls ihm ein Unglück zustoße«.6 Als Germanicus dann schwer erkrankte und als man Fluchtäfelchen in seinem Hause auffand, da entschloss sich der Sterbende, das Angedrohte wahr zu machen. Er schrieb Piso einen Brief, worin er ihm die Freundschaft aufkündigte. Es war üblich, die Rache offiziell anzukündigen. Bevor Sulla mit seinen Legionen auf Rom marschierte, meldete er dem Senat die Beleidigungen, die seine Frau und seine Kinder erlitten hatten, die Massaker an seinen Freunden und Anhängern. Seine Proskriptionen fügten sich in die zeremoniellen Formen einer Rache ein: Nach seiner Rückkehr 82 v. Chr. hielt er eine Volksversammlung ab, um die Namen derer zu verkündigen, die er büßen lassen wollte. Auch Cicero, aus dem Exil zurückgekehrt, kündigte vor dem versammelten Volk seine Rache an. Dasselbe taten die Triumvirn nach der Ermordung Caesars.7 War die renuntiatio amicitiae bis dahin noch nicht erfolgt, dann hatte man sie bei der Ankündigung der Rache zu vollziehen. So schickte Octavian vor dem Ausbruch des Krieges gegen Antonius dessen Verwandte zu diesem – zusammen mit einem Brief, in dem er den Bruch aussprach.8 Wer einen Verwandten zu rächen ankündigte, versah sich häufig mit sichtbaren Trauerzeichen; Rächer ließen sich Bart und Haupthaar wachsen und scherten sich erst, sobald sie sich gerächt hatten. Nicht selten stand der Rächer unter einer feierlichen Verpflichtung – eingegangen gegenüber einem Sterbenden oder übernommen vor der Öffentlichkeit. Im ersten Falle bezeichnete das Opfer, bevor es starb, seinen Mörder und nahm den Umstehenden einen Eid ab. Das tat Germanicus: Er bestellte seine Freunde zu sich ans Sterbebett; er bezeichnete die Schuldigen und verlangte, dass seine Freunde ihm versprachen, seine Ermordung zu sühnen. Und alle »schworen, wobei sie die Rechte des Sterbenden berührten, dass sie eher auf das Leben als auf die Rache verzichteten«. Dieser Akt war ritualisiert; er gleicht dem aus der annalistischen Überlieferung entnommenen exemplum der Lucre139
Negative Reziprozität: Die römische Rache
tia, wo zunächst jeder sein Versprechen gab, indem er seine rechte Hand in Lucretias Hand legte, und dann – sofort nach dem Selbstmord der Heldin – die Männer der Reihe nach einen Schwur auf dem blutigen Dolch leisteten.9
Ausgestellter Leichnam und Suspension der Ordnung In politisch gespannten Situationen wurde die Ankündigung der Rache auf dem Forum der Stadt choreographiert. Stellte man dort eine Leiche aus, dann verbanden sich an ein und demselben Ort Leichenbegängnis und Vergeltungsritual. Die Verwandten bemühten sich, die Bürgerschaft in einträchtiger Solidarität für sich zu gewinnen, vereint vor dem Leichnam und im Gedenken an die Untat. Der Anblick der entblößten Leiche mobilisierte schrittweise – von den Nächststehenden bis zu den Bürgern insgesamt – einen Kreis von Rächern, die sich um das Opfer scharten. Lucretia, deren Leib man aufs Forum trug, und Verginia, deren Leiche ihr Vater ausstellte, fügten sich als exempla in diese Tradition. Parentare bedeutet zugleich Trauerriten vollziehen und zur Blutrache schreiten.10 Nicht umsonst begrenzte das Zwölftafelgesetz den ostentativen Charakter der Trauer und verbot, Tote innerhalb der Stadt zu bestatten oder zu verbrennen.11 Gegenüber der pompa funebris, die den Toten im Ornat darbot und ihn friedlich seinen Ahnen übergab, um vor der versammelten Bürgerschaft die integrative Kraft der Ordnung zu evozieren, markierte die Ausstellung der Leiche einen unfriedlichen Kontrapunkt: die nackte Leiche mit den klaffenden Wunden versinnbildlichte die verletzte Ordnung und rief dazu auf, sie wiederherzustellen, indem man die Untat sühnte. Solche Ausstellungen der Leiche markierten akute Zuspitzungen innenpolitischer Entzweiungen. 121 v. Chr. massakrierten Anhänger des Gaius Gracchus einen Lictor des Consuls Opimius auf dem Kapitol. Um das Volk zur Rache anzufeuern, stellte der Consul den nackten Leichnam auf einer Bahre aus und ließ ihn auf dem Forum umhertragen. Vor dem Senat setzte man die Bahre ab; die Senatoren empfingen die Leiche mit der Totenklage. Allerdings blieb das Volk zurückhaltend; Rufe erschallten, die an die Ermordung des Tiberius Gracchus zwölf Jahre zuvor erinnerten. Es gelang also nicht, eine einmütige Reaktion der Bürgerschaft auszulösen und diese im Angesicht des Leichnams um den Senat zu scharen. Das Ritual verfehlte seinen Zweck. Dennoch be140
Suspension der Ordnung
schlossen die Senatoren unmittelbar danach, Gaius Gracchus zu beseitigen und griffen, auf Befehl des Consuls, zu den Waffen.12 Im Januar 52 v. Chr. wurde der ehemalige Volkstribun Clodius an der appischen Straße auf Geheiß seines politischen Gegners Milo ermordet. Seine Frau Fulvia bahrte den Ermordeten noch in derselben Nacht im Atrium seines Hauses auf und entblößte unter Anstimmung der Totenklage vor den hereinströmenden Anhängern seine Wunden. Am folgenden Tag trug man den nackten und nicht zur Bestattung hergerichteten Leib auf das Forum und stellte ihn auf der Rednertribüne aus. Nach der contio eines Volkstribuns trug das Volk die Bahre in das Senatsgebäude, schichtete dort einen Scheiterhaufen aus den Stühlen und Bänken auf und zündete ihn an, so dass die Kurie abbrannte. Alle diese Akte sind mitnichten Ausdruck einer spontanen Volkswut, sondern genau gesetzte Akzente.13 Das Volk ehrte Clodius in einer Leichenfeier, die als exakte Inversion einer pompa funebris ablief: ohne pompa, ohne imagines, ohne laudatio. Diese Inversion war typisch für ein Vergeltungsritual, das die Rache ankündigte, sie aber teilweise auch schon vorwegnahm. Die Kurie niederbrennend, hörte die römische Plebs auf, die Herrschaft des Senates zu akzeptieren. Mit einem Racheritual beendete das stadtrömische Volk die Senatsherrschaft und eröffnete eine neue Epoche in der römischen Geschichte. Die freien Unterschichten der ländlichen Gebiete Italiens hatten längst aufgehört, die institutionalisierte Herrschaft des Senates zu respektieren; aus ihnen rekrutierten sich die Legionen, welche erstmals 88 v. Chr., auf Rom marschierend, demonstriert hatten, dass ihnen die Senatsherrschaft nichts mehr bedeutete und dass sie gegebenenfalls ihrem Feldherrn eher gehorchten als den Institutionen der Republik. Die munizipalen Oberschichten hatten sich ebenfalls angewöhnt, lieber einzelnen herausragenden Senatoren zu vertrauen als dem aristokratischen Leitungsorgan, dessen Handlungsunwilligkeit mit seiner Handlungsunfähigkeit wetteiferte. Einzig die Plebs der Hauptstadt hatte dem Senat die Treue gehalten, trotz aller enttäuschenden Ereignisse in der Stadt und trotz der sich häufenden Anzeichen, dass diese altehrwürdige Versammlung schon eine geraume Weile nicht mehr herrschaftsfähig war. Die dichte Kommunikation zwischen Senatoren und der hauptstädtischen Bürgerschaft – bei den vielen zeremoniellen Anlässen der Spiele, Prozessionen und Versammlungen – hatte immer wieder ausgereicht, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und die soziale Distanz zu überbrücken, welche immer schlimmere Ausmaße annahm. Sie hatte die wachsende Entfremdung übertüncht. Nun war der Punkt erreicht, wo die symbolische Inszenierung von Gemeinschaft141
Negative Reziprozität: Die römische Rache
lichkeit sich erschöpfte, wo die appellativen Wirkungen der politischen Symbolik sich jäh entkräfteten. Zwar hatte die römische Plebs in der langen Reihe heftiger Auseinandersetzungen mit der Aristokratie gelegentlich – sehr selten – damit gedroht, das Tagungsgebäude in Brand zu setzen; aber es war stets bei der Drohung geblieben. Beide Seiten hatten Jahrhunderte lang verstanden, was dieser Akt für die politische Organisation der römischen Gemeinschaft bedeutete, und hatten es nicht so weit kommen lassen. Nun aber brannte der Tagungsort des Senates tatsächlich. An das politische Fanal fügte sich ein memoriales: Erstmals seitdem das Zwölftafelgesetz in Kraft getreten war, wurde ein Toter inmitten der Stadt verbrannt; ein riesiges Totenmahl (silicernium) am selben Tag auf dem Forum abhaltend, verwandelten die hauptstädtischen Römer den Tagungsort des Senates zum Grab des ermordeten ehemaligen Tribuns – mit der offenkundigen Absicht, dortselbst einen Grabkult einzurichten. Der hätte die Römer stets daran erinnert, durch welches Ereignis der Senat seine Würdigkeit, über die Römer zu herrschen, verloren hatte. Die Plebs vollstreckte eine Rache im allerhärtesten Sinne: Sie rächte den Ermordeten, indem sie die Herrschaftsbefugnis des Senates widerrief. Gewiss, situative Umstände beraubten den Senat als Leitungsorgan der nötigen Handlungskapazitäten: Rom war im Januar 52 ohne Consuln; denn im Jahre 53 v. Chr. hatten die politischen Gewalttätigkeiten die Wahlen verhindert. Das Volk übernahm nun selbst die Initiative. Es zog vor das Haus des soeben bestellten Interrex und verlangte, sofort Wahlen abzuhalten, wozu dieser freilich nicht befugt war. So ›wählte‹ die Plebs ohne reguläre Comitien, indem sie die fasces aus dem Hain der Libitina holte und sie zwei Senatoren anbot. Da diese ablehnten, beging die Plebs einen entscheidenden und für die spätere Neukonstituierung des römischen Staates folgenschweren Schritt: Sie strömte in die Gärten des Pompeius und rief diesen mal zum Dictator, mal zum alleinigen Consul aus. Damit scherte die Bürgerschaft Roms endgültig aus der republikanischen Ordnung aus. Der Demonstrationszug in die Gärten des Pompeius machte schlagartig klar, was jenes grelle Fanal bedeutete, dessen Rauch über der Mitte Roms aufstieg: Die Herrschaft des Senates über die politische Gemeinschaft aller Römer war beendet. Fortan fügte sie sich der institutionellen Autorität der Organe des aristokratischen Staates nur noch dann und nur insoweit, wie sie glaubte, dass einzelne ›große Männer‹ eine quasi-monarchische Beziehung zur ihr unterhielten. Die Disposition zur monarchischen Herrschaft war längst vorhanden, bevor die Monarchie auftauchte. 142
Suspension der Ordnung
Freilich agierte die Plebs nicht entschlossen genug; ihre vorpreschenden Gruppierungen konnten sich zwar mit ihrer Deutung durchsetzen, aber nicht mit ihren politischen Optionen. Die vertikalen Bindungen, welche die Plebs in Patronage-Pyramiden parzellierten, begannen über kurz wieder zu wirken. Damit gewannen Optionen, die von populären Senatoren formuliert wurden, größere Wirkung. Der Senat beschloss, die Kurie wieder aufzubauen, die Gebeine des Clodius einzusammeln und außerhalb der Stadt beizusetzen. Anders sind die symbolischen Handlungen bei der Bestattung Caesars im März 44 v. Chr. zu verstehen. Der Consul M. Antonius übernahm selbst die Choreographie des Leichenbegängnisses. Freilich liefern uns die Quellen zwei deutlich voneinander abweichende Versionen dieses Rituals. Die erste Version stammt von Sueton und berichtet folgendes: Man bahrte die Leiche des Dictators an der Rednerbühne auf. Dort war ein Gerüst aufgestellt, daneben ein Tropäum, angetan mit dem Gewand, welches Caesar am Tag seiner Ermordung getragen hatte. Antonius ließ den Senatsbeschluss verlesen, welcher Caesar die äußersten Ehren zuerkannte und danach den Eid, durch den die Senatoren sich verpflichtet hatten, das Leben des Dictators zu schützen; er selbst fügte nur noch wenige Worte hinzu. Zwar hatte Antonius den Scheiterhaufen auf dem Marsfeld errichten lassen. Doch als er seine Rede beendet hatte, begannen die Klagerufe zu erschallen. Es war nicht mehr möglich, die Bahre zum Marsfeld zu bringen und den Leichnam dort zu verbrennen. Die Menge häufte einen Scheiterhaufen auf dem Forum auf. Gerichtsbänke und Magistratsstühle wurden abgerissen, um als Brennstoff zu dienen. Es kam zu spontanen Brandstiftungen an öffentlichen und privaten Gebäuden. Nur weil komplette militärische Einheiten anwesend waren, um den Toten zu ehren, gelang es, ausscherende Teile der Plebs davon abzuhalten, die umliegenden Gebäude regelrecht in Brand zu setzen. Deviante Gruppierungen der stadtrömischen Bürgerschaft fanden sich anscheinend dazu bereit, die Bestattung des Dictators in einem sinnbildlichen Untergang der Stadt aufgehen zu lassen. Racheakte, denen einige Personen zum Opfer fielen, schlossen sich sofort an. Anders berichtet Plutarch: Antonius steigerte die Heftigkeit seiner Rede, als er gewahrte, wie sehr er bei den Römern auf Zustimmung stieß. Schließlich stieß er Klagerufe aus, schüttelte die blutgetränkten Kleider des Toten auseinander und nannte die Täter fluchbeladene Meuchelmörder. Der spätere schreibende Appian verstärkt diese Version: Mit der Schwertspitze hob der Consul die Kleider des Aufgebahrten hoch, um die klaffenden Wunden den Blicken darzubieten. Da die 143
Negative Reziprozität: Die römische Rache
meisten Anwesenden den Toten nicht sahen – eine riesige Menge füllte das Forum –, errichtete man über der Bahre ein Gestell mit einer drehbaren Wachsfigur, so dass die Anwesenden die 23 Wunden zu sehen bekamen, welche den Leib und das Gesicht Caesars durchbohrt hatten.14 Die Versionen unterscheiden sich darin, ob Antonius als Rächer auftrat oder nicht. Folgt man der ersten, so bemühte sich Antonius, die Feierlichkeiten nicht zu einem Vergeltungsritual werden zu lassen, dessen Dynamik nicht mehr zu kontrollieren war. In der zweiten übernahm er hingegen explizit die Rolle des Rächers und beanspruchte damit, die Vollstreckung der Rache anzuführen. Auch in der Kaiserzeit instrumentalisierte die Rächergruppe die Leiche des Opfers. Als Germanicus 19 n. Chr. in Antiochia starb, ließ seine Frau Agrippina den Leichnam auf dem Forum der Stadt nackt ausstellen. Sie übertrug damit ein römisches Vergeltungsritual in eine schockierte hellenistische Umgebung. Dann begleitete sie die Urne des Gatten nach Italien, bei jeder Etappe Volksmengen anziehend, welche ihre Solidarität demonstrierten und Rache für den populären Helden verlangten. Als sie in Rom eintraf, war die Plebs urbana nicht mehr zu beruhigen. Kaiser Tiberius gedachte Racheexzesse zu vermeiden; er ließ die Urne im Familiengrab beisetzen, auf die pompa funebris und die Leichenrede verzichtete er. Aber damit dämpfte er die Stimmung kaum. Die hauptstädtischen Römer stürzten die Statuen Pisos, des mutmaßlichen Mörders, und schleiften sie zum Tiber, symbolisch jene Rache vorwegnehmend, zu der sie sich aufgerufen sahen und die zu hintertreiben sie den Kaiser verdächtigten.15 Nicht ohne Grund pflegte man nach Hinrichtungen wie nach politischen Abrechnungen die Manifestationen der Trauer strafrechtlich zu verfolgen.16
Vergeltende Menschenopfer Wenn der innere Friede zusammenbrach und Rom in den Bürgerkrieg stürzte, kam es zu extremen Racheakten, in denen sich die Grenze zwischen Rache und Totenopfer buchstäblich verwischte. Der Ex-Consul L. Caesar wurde auf Befehl von Marius auf dem Grab des Varius abgeschlachtet.17 Sulla ließ den Praetor M. Marius Gratidianus auf der Grabstätte der Lutatier lebendig zerstückeln.18 So kamen die gerächten Toten in den Genuss des Blutes ihrer Mörder oder Verräter; und das Grab wurde zum Altar. Eine andere Variante bot Antonius, als er das Blut von Hortensius auf dem Grab seines Bruders vergoss – als Sühne 144
Stätte inszenierter Vergeltung
für einen Mord, den Brutus seinerseits angeordnet hatte, um Cicero zu rächen. Dieser hatte nicht übertrieben, als er behauptete, er sei beinahe auf dem Grab Catilinas geopfert worden.19 Zwei Register sind deutlich zu unterscheiden: Erklärten Staatsfeinden (hostes populi Romani) wurde häufig das Begräbnis verweigert; gelegentlich wurden ihre Leichen in den Tiber geworfen. So geschah es mit Tiberius Gracchus und einer Reihe seiner Anhänger.20 Staatsfeinde als solche wurden nie auf Gräbern geopfert. Hingegen wurden Leichname verstümmelt, wenn durch den Bürgerkrieg schutzlos gemachte Staatsfeinde darüber hinaus noch als private Feinde (inimici) zum Opfer einer Rache wurden. Das trifft auch für alle Fälle zu, bei denen der Sieger den lebendig gefangenen Gegner am Grab eines zu Rächenden regelrecht opfern ließ. Ein neues Register eröffnete Octavian im Februar 40 v. Chr. in Perusia, nachdem er in Italien den Widerstand des L. Antonius gebrochen hatte. Er ließ – nach einigen Berichten – 300 Gefangene der Gegenseite vor einem Altar hinrichten, den man für Iulius Caesar errichtet hatte. Die Tötungen wurden damit zu regelrechten Menschenopfern, dargebracht dem vergöttlichten Caesar, mit einer deutlichen Botschaft: Wer sich dem Sohn Caesars entgegenstellte, verfiel der Rache des zum Gott gewordenen Vaters. Octavian erweckte damit die Parole, Caesar zu rächen, wieder zum politischem Leben, obwohl Caesar bereits seit der Schlacht bei Philippi 42 v. Chr. als gerächt galt.21 Anderseits schwächte der Caesar-Sohn an dieser Rache den ›privaten‹ Charakter stark ab – schon wegen der enormen Masse der Getöteten –, um sie vollkommen im öffentlichen Wohl aufgehen zu lassen. Solche blutigen Rituale waren nach Yan Thomas keine Innovationen der Bürgerkriegsepoche; sie schreiben sich in eine fest etablierte italische und römische Tradition ein.22 Nur weil die Getöteten römische Bürger waren, denunzieren die Quellen die Menschenopfer als Skandal. Allerdings waren Bürgerkriegssituationen nötig, damit es dazu kam. Normalerweise vollzog sich die Rache in Rom in wenig gewaltsamen Formen.
Das Gericht – Stätte inszenierter Vergeltung Die ständigen Gerichtshöfe sicherten eine öffentliche Regelung von Konflikten. Indes, die gerichtliche Klage beseitigte die alten Verhaltensweisen keinesfalls; sie nötigte diese lediglich dazu, einen Umweg 145
Negative Reziprozität: Die römische Rache
zu machen und somit neue Ausdrucksformen anzunehmen. Weil die Rache sich der Gerichte bediente, lässt sich erkennen, wie sie funktionierte. Da es galt, den Rechtsweg einzuhalten, wurden die Solidaritätsregeln immer wieder in den Gerichtsreden ausgesprochen und sind deshalb überliefert und für uns fassbar. Freilich war nicht jede Anklage ein Racheakt; laut Cicero erhob man Anklage, entweder um sich zu rächen oder um den Interessen des Staates zu dienen.23 Jedenfalls kompensierte eine gerichtliche Verurteilung aufgrund einer gut geführten Anklage die zu rächende Tat. Die gerichtlichen Duelle waren begehrte Spektakel. Wenn Trauerzeremonien imstande waren, die Rache ausbrechen zu lassen, dann wird verständlich, wieso auf der gerichtlichen Bühne, wo die Akteure sich durchs Gesetz und durch die Worte rächten, Elemente und Gesten der Totenklage auftauchten. Sowohl Cicero als auch Quintilian geben Gerichtsrednern Rezepte, wie in Racheprozessen die Anklage zu führen war: Der Redner schilderte den Ort, wo man den Toten erschlug; er zeigte vertraute Gegenstände vor, die dem Opfer gehörten und es gegenwärtig machten; ja, er führte die Wunden am Leichnam vor Augen. So weit wie möglich sollte er Requisiten gebrauchen: das blutige Schwert schwingen, die befleckten Kleider vorzeigen, auf die klaffende Wunde weisen. Falls der Leichnam nicht vorhanden war, sollte der Redner vor einem auf eine Tafel gemalten Abbild sprechen oder vor »einem Vorhang, der das Verbrechen darstellt, dessen Abscheulichkeit den Richter erschüttern sollte«. Selbst ausgefeilteste Eloquenz genügte nicht: Wenn die Rache vor Gericht in Stellung gegangen war, forderte sie für den abwesenden Leichnam einen würdigen Ersatz.24 Die Kraft der visuellen Inszenierung in der römischen Kultur manifestierte sich nirgendwo heftiger als hier, wo die gerichtliche Rhetorik rivalisierte mit der demonstrativen Wucht der Requisiten und des Bildes: Von der schweigenden Effigie wurde erwartet, dass sie besser sprach als das Wort.25 Lucullus, der spätere Sieger über Mithridates, erhob zusammen mit seinem jüngeren Bruder 90 v. Chr. Anklage gegen Servilius Vatia, weil dieser einst ihren Vater erfolgreich angeklagt hatte. Die jungen Rächer hatten kein Glück, denn Servilius wurde freigesprochen. Dennoch schreibt Plutarch: »Man sprach von dem Prozess unablässig als von einer rühmlichen Tat.« Die Erfolglosigkeit beeinträchtigte das Lob nicht, weil die beiden Brüder den Feind des Vaters anklagten, noch bevor sie irgend ein Amt bekleidet hatten. Damit demonstrierten sie brüderliche Eintracht; und sie signalisierten, dass sie sich erst dann für amtswürdig hielten, wenn sie es unternommen hatten, den Vater zu rächen – ob mit oder ohne Erfolg. Die Brüder stellten damit ihren Eintritt in die 146
Die Pflicht zur Rache
Arena der Politik ganz bewusst unter das Ideal der familialen pietas und sicherten sich so Sympathien beim Volk. Kaum zu überbieten war freilich ein anderer jugendlicher Ankläger: »An demselben Tag, an dem Aurelius Cotta die toga virilis anlegte«, reichte er gegen Papirius Carbo eine Klage ein; dieser hatte als Volkstribun 67 v. Chr. gegen Cottas Vater eine Verurteilung wegen Unterschleif erwirkt. Cotta plante, öffentlich für seinen Vater Rache nehmend, die Schwelle zur Volljährigkeit zu überschreiten. Eine solche symbolische Handlung bescherte ihm gewiss hohe Zuneigung bei der römischen Bürgerschaft, allerdings um einen nicht geringen Preis: Cotta konnte den Kampf nicht selbst führen; denn er begab sich auf dieses schwierige Kampffeld, als er eben erst 15 Jahre alt war. Während Lucullus im Alter von etwa 25 Jahren selbst als Redner auftreten und sich Achtung erwerben konnte, war Cotta dazu natürlich außerstande; er war angewiesen auf die rhetorischen Fähigkeiten der Freunde seines Vaters. Umso eindrucksvoller war der siegreiche Ausgang des Prozesses und die Verurteilung Carbos. Als Cicero den Verres anklagte, machte er sich zu Recht darauf gefasst, dass er sich die Feindschaft eines Sohnes zuzog; und er thematisierte dieses Risiko offen: solange die Gerichte funktionierten, werde den Schuldigen stets ein Feind entstehen, den Unschuldigen aber ein Feind nichts anhaben können.26 Als Anwalt ging er stets behutsam mit Gegnern um, die als Rächer ausgewiesen waren. In besonderem Maße war dies der Fall, als er 66 v. Chr. für Cluentius plädierte; Cicero zögerte nicht, die pietas, die ehrfurchtsvolle Pflichterfüllung des jungen Oppianicus zu loben, der den Mörder seines Vaters verfolgte. Dasselbe tat er 56 v. Chr. gegenüber dem Prozessgegner Sempronius Atratinus.27
Die Pflicht zur Rache – geregelt und abgestuft Wie war die Verpflichtung zur Rache geregelt? Welche Reichweite hatte sie? Eine vorgerichtliche Prüfung entschied zugunsten des besten Bewerbers, falls sich mehrere Ankläger meldeten. Die Richter stellten fest, wer »nicht nur die Pflicht, sondern auch die Macht, eine Rache auszuführen« hatte. Dabei definierte man den berechtigten Ankläger (iustus accusator) und den geeigneteren Ankläger (idoneior accusator) gemäß vorrangigen Beziehungen. Bei der Anklage gegen Verres erhielt Cicero den Vortritt vor Caecilius; es ist unklar, ob er als Patron der Sizilier galt und daher berechtigt war, sie zu rächen.28 147
Negative Reziprozität: Die römische Rache
Der Sohn hatte das höchste Anrecht. Nach Caesars Ermordung taten die Anhänger des Dictators alles, um klarzustellen, dass ihn zu rächen ihr oberstes Motiv war. Doch ließen sie sich in eine politische Dynamik hineinreißen, die einen einzigen Rächer auf Kosten aller anderen privilegierte. Octavian sicherte sich den Zulauf der Klientel und der Freunde des Toten, indem er dessen Erbe und Namen annahm. Die Erbschaft so ostentativ anzutreten war das Mittel, Sohn zu werden, um den Vater rächen zu können. Die öffentliche Meinung begünstigte diesen Schritt. Antonius verfügte über keine wirksamen Abwehrmittel; im Gegenteil riskierte er, dass man ihm offene Feindschaft entgegenbrachte, weil er als Rächer aufgetreten war und dann die Rache sabotierte. Das Verhalten vor Gericht richtete sich nach einer Skala von Pflichten (gradus atque ordo officiorum). Die Tradition ungleicher Solidaritäten und abgestufter Verpflichtungen setzte sich fort, ungebrochen und sogar gesetzlich fixiert. Sie machte aus jedem Römer einen Schnittpunkt familialer und sozialer Kodierungen: er war Sohn, Schwager, Onkel, Klient, Patron und Gastfreund. Diese Kodierungen definierten seine Pflichten, welche sich um ihn herumlagerten und welche er allerorten mitschleppte. Die Stufung der Pflichten war kompliziert und genau; trotzdem war sie nicht gänzlich frei von überlappenden Solidaritäten. Normalerweise konnten Minderjährige, Ehrlose und Frauen keine Anklage führen. Doch das Rachegebot setzte diese Disqualifikation in gestufter Weise außer Kraft. Im Prozessgesetz des Augustus verlangte das Gebot der pietas und der Ehre bedingungslos, dass man den Tod von Eltern, Kindern oder Patronen rächte. In diesem Falle galten alle drei Hindernisse – Alter, Geschlecht und Ehrlosigkeit – nicht mehr. Anders verhielt es sich, wenn ein anderer Verwandter oder Nahestehender getötet wurde, d. h. einer von jenen, »gegen welche man gemäß dem Gesetz nicht zur Aussage gezwungen werden darf«. Dann war nur Frauen erlaubt, die Anklage vorzubringen, während Mündel und Ehrlose davon ausgeschlossen blieben. Mündel hatten, wenn ihr Vormund zustimmte, lediglich das Recht, den Mörder ihres Vaters oder Großvaters zu verfolgen. Strittig blieb, wie die Pflicht zur Rache mit den präzisen Graden der familialen Nähe zum Opfer einerseits und mit außerfamilialen Bindungen anderseits zu vereinbaren war. Diese Verpflichtung bemaß sich exakt nach der Abstufung des Verbotes, gegen bestimmte Personen vor Gericht auszusagen: Eltern und Mündel hatten den Vortritt, danach kamen Klienten und Gastfreunde, schließlich die anderen Verwandten und Nahestehenden. Von den Autoritäten, die man für diese Distink148
Kummer über ausgebliebene Vergeltung
tionen zitierte, ist ein Fragment Catos des Älteren bezüglich des Zeugnisses vor Gericht überliefert: »für einen Klienten kann man gegen einen Kognaten aussagen; aber niemand wird ein Zeugnis gegen einen Klienten liefern. Der Vater steht an erster Stelle, an zweiter der Patron.«29 Römer ererbten Feindschaften, die sie zur Rache verpflichteten. Solch eine paterna inimicitia taucht in den Rechtstexten als inimicitia capitalis auf. Sie disqualifizierte eine Person als Schiedsrichter und als Bevollmächtigten in einer Rechtsangelegenheit; und sie gestattete, eine Vormundschaft abzulehnen und entband von der Pflicht, die Güter eines Abwesenden zu verteidigen. Sie erlaubte, formlos ein Vermächtnis oder eine Treuhänderschaft zu widerrufen.30 Wenn man die übernommene Rache nicht ausführte, zog das wahrscheinlich die Strafe für Meineid nach sich. Allerdings nennen uns die Texte eine andere Sanktion: Der nachlässige Erbe wurde üblicherweise für unwürdig zur Nachfolge erklärt. Er verlor das Erbe an den Fiskus, und seine Ehre fiel einem öffentlichen Infamieverdikt zum Opfer. Eine solche Anklage wegen »des Verbrechens, einen Tod nicht zu rächen« (crimen inultae mortis) wird in einer kaiserlichen Verfügung von 229 n. Chr. bezeugt; aber sie ist viel älter, denn für die Juristen beruht diese Pflicht, die Toten zu rächen, auf traditionellen Sozialbindungen.31
Kummer über ausgebliebene Vergeltung Nach einem Apophthegma des älteren Cato brachte es einem jungen Mann großen Ruhm ein, wenn er einen Feind seines Vaters anklagte und dabei obsiegte: »Man erzählt, dass ein junger Mann einem Feind seines Vaters das Bürgerrecht hatte entziehen lassen und nach dem Urteil über das Forum ging. Da näherte sich ihm Cato, drückte ihm die Hand und sagte: ›Das muss man seinen Eltern als Totenopfer bringen – nicht Lämmer und Zicklein, sondern die Tränen und die Verurteilung ihrer Feinde.‹« Solche Beispiele sind zahlreich. Augustus rühmt sich in seinem Tatenbericht, den Res gestae, er habe Caesar unter Beachtung der legitimen Verfahren gerächt: »Ich habe die Mörder meines Vaters in die Verbannung geschickt und mich für ihr Verbrechen über die vom Gesetz vorgesehenen Gerichte gerächt. Dann habe ich sie zweimal auf dem Schlachtfeld besiegt, als sie die Waffen gegen die Res publica ergriffen.« Ähnlich preist ihr Gatte in seiner Totenrede die pietas der verstorbenen Turia, einer vornehmen Römerin, die als junge Frau die Bür149
Negative Reziprozität: Die römische Rache
gerkriege der vierziger und dreißiger Jahre durchstand. Den langen Katalog ihrer Verdienste führt die Rache an: als erstes sorgte Turia dafür, dass die Ermordung ihrer Eltern nicht ungerächt blieb. Das Totenlob illustriert nicht weniger als die Worte Catos jene Ökonomie der Vergeltung, welche öffentlich funktionierte.32 Rechnen zu können auf einen Sohn, der nötigenfalls die Anklage vorbrachte, das war eine politische Versicherung und ein Unterpfand der Ehre. Keinen »Rächer auf dem Forum« gefunden zu haben, war eine große Bitternis. Die blieb Scipio Aemilianus nicht erspart, dem berühmtesten Römer seiner Zeit, als er, verhasst beim Volk, 129 v. Chr. eines ungeklärten Todes starb und seine Freunde es für aussichtslos erachteten, eine Racheklage anzustrengen.33 Das Gerücht, er sei ermordet worden, machte aus der unterbliebenen Mordklage den Beweis für einen ungerächten Tod. So brachte es den Verhassten um seine letzte Ehre; und deswegen wurde es so populär. Aber selbst Metellus Macedonicus, Triumphator und Censor, dem es als Vater von vier Consuln an Söhnen nicht mangelte, wurde zum fragwürdigen exemplum eines erfolgreichen Lebens, an dem freilich ein Fleck haftete: Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn – als Censor 131 v. Chr. – zog ihn der Volkstribun Atinius Labeo am helllichten Tag an einem um den Hals gelegten Strick übers Forum, mit der Absicht, ihn vom Tarpejischen Felsen zu stürzen. Zwar eilte eine Volksmenge dem Censor zu Hilfe, und die übrigen Volkstribunen interzedierten gegen die Maßnahme ihres Kollegen. Doch die Schmach blieb ungerächt, da niemand den Atinius anklagte. Die vier Söhne des Metellus, alle bereits Senatoren, hatten abzuwägen: Ihr Vater hatte als Censor den Atinius Labeo aus der Senatsliste gestrichen; der Volkstribun hatte dies als Angriff auf seine sacrosanctitas ausgelegt und mit aller Härte zurückschlagen wollen; er hatte die Güter des Frevlers den Göttern geweiht und diesen selbst vom Tarpejischen Felsen stürzen und ihn damit um Leben, Ehre und Begräbnis bringen wollen. Doch drang der Tribun mit keiner Maßnahme durch, wohingegen die zensorische Verfügung in Kraft blieb und seine Karriere beendete. Die Kraftprobe verlor Atinius Labeo; er war politisch vernichtet. Ihn anzuklagen hätte ihm die Möglichkeit gegeben, sich als Verteidiger der sacrosanctitas des Volkstribuns aufzuspielen. Es zeugt von der situativen Klugheit des Censors und seiner Söhne, dass sie nichts weiter unternahmen. Aber die Nachwelt, der die politische Konstellation von 130 v. Chr. nicht mehr gegenwärtig war, sah das anders. Der sonst so glücklich gepriesene Metellus Macedonicus galt als befleckt von einer Beleidigung, welche vier Söhne nicht tilgten.34 150
Wie man Feindschaften beilegt
Gelegentlich liefen Racheakte in beschämende Peinlichkeiten aus. Bevor Q. Metellus Nepos, Consul 98 v. Chr., starb, ließ er seinen Sohn – den mit Cicero zuerst verfeindeten, dann befreundeten Metellus Nepos – ans Sterbebett rufen; der Sterbende war einst von C. Curio unter Anklage gestellt worden. Nun nahm er seinem Sohn einen Eid darauf ab, dass dieser den C. Curio anklagen werde.35 Der Sohn hielt sein Versprechen und erhob Anklage. Doch er machte sich angreifbar, weil er einen römischen Bürger, den er für seinen Sklaven hielt, ergreifen und peitschen ließ. Curio ergriff die Chance, machte sich zum Anwalt des misshandelten Bürgers und drohte nun mit einer Klage, deren Ausgang unzweifelhaft war; Metellus hätte Status und Vermögen verloren und wäre ins Exil getrieben worden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Übereinkunft mit dem Feind seines Vaters einzugehen: Dieser verzichtete darauf, eine Klage wegen Versklavung eines römischen Bürgers einzuleiten; dafür trat Nepos von seiner bereits erhobenen Anklage zurück, was seine Reputation beschädigte.
Wie man Feindschaften beilegt Im Herzen der Stadt zelebrierte man den politischen Konsens der Bürgerschaft: Auf dem Forum mündeten die privaten Beziehungen in die politische Gemeinschaft ein; und die Familie beugte sich den Ansprüchen des Staates, ja sie stilisierte sich geradezu als Modell der einträchtigen Bürgerschaft, als Instanz römischer Sozialisation, die Bürger hervorbrachte, denen am politischen Konsens fast alles lag. Auf demselben Platz choreographierte man die Feindschaften und teilte man die Schläge gemäß dem Gesetz aus, in der Gewissheit einer obsessiven Reziprozität, welche dafür sorgte, dass die Gegenschläge nicht ausblieben. Die Bürgerschaft war Zeuge der Konfrontation; und ihre kollektive Erinnerung machte aus dem Schauplatz momentaner Zusammenstöße ein Arsenal von exempla, in denen familiale pietas kollidierte mit politisch erwünschter Konsensbereitschaft. Diese exempla trugen dazu bei, dass sich der Hass nicht perpetuierte. Denn er sollte – über eine Generation hinaus – keine genealogische Tiefe erreichen. Daher feierte man jene, die aus Liebe zum Staat auf alte Feindschaften verzichteten. Behilflich war der Umstand, dass für Römer die Freundschaftspflicht niemals beinhaltete, dass man den Feind seines Freundes ebenfalls als Feind behandeln musste. Im Gegenteil: Feinde konnten dieselben Freunde haben; und solche gemeinsamen Freunde wirkten 151
Negative Reziprozität: Die römische Rache
auf die verfeindeten Bürger ein und vermittelten zwischen ihnen.36 Weiblichen Verwandten scheint eine besondere Rolle als Vermittlerinnen zugekommen zu sein. Doch manchmal waren geradezu ›offizielle‹ Akte nötig, um zwei Feinde wieder zu versöhnen, wie unten zu sehen sein wird. Es hieß inimicitiam deponere, wenn zwei verfeindete Senatoren einlenkten und ihre Feindschaft beendeten; und zweifelsohne galt dies auch für nichtadlige römische Bürger. Da Römer dazu neigten, ihre sozialen Beziehungen zu vereindeutigen, mussten ihnen spezifische Performanzen zu Gebote stehen, um das Ende einer Feindschaft zu besiegeln und szenographisch vor Zeugen kundzutun. Wie sahen die aus? Als Livius Salinator und sein Feind Claudius Nero 208 v. Chr. zu Consuln gewählt wurden, bat Q. Fabius Maximus die beiden vor dem versammelten Senat, ihre Feindschaft beizulegen, und die anderen Senatoren stimmten in seine Bitte ein. Der verbitterte Salinator sträubte sich zunächst heftig; doch er vermochte dem geballten Drängen der Versammlung nicht standzuhalten. Die beiden beendeten ihre Feindschaft.37 Massiver Druck der Mitsenatoren war demnach ein nobler Grund, ohne Gesichtsverlust eine Feindschaft beizulegen, obwohl alte Rechnungen noch nicht beglichen waren. Die herrschende Klasse Roms war demnach imstande, die Regeln der negativen Reziprozität außer Kraft zu setzen, falls das Gemeinwohl auf dem Spiele stand. Es ist nicht ersichtlich, ob die Senatoren stets so handelten, sobald zwei Feinde zu Amtskollegen wurden, oder ob sie das nur taten bei den höchstrangigen Ämtern. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 179 v. Chr., als die verfeindeten Konsulare M. Aemilius Lepidus und Fulvius Nobilior zu Censoren gewählt wurden. Nachdem die Censoren neben dem Altar des Mars auf dem Marsfeld ihre kurulischen Stühle aufgestellt hatten, zogen die ranghöchsten Senatoren an der Spitze eines Zuges von römischen Bürgern zu ihnen hinaus. Q. Caecilius Metellus (Consul 206 v. Chr.) ergriff – offenbar als ältester Konsular – das Wort und forderte die beiden auf, im Interesse einer einträchtigen Amtsführung und des Gemeinwohls ihre Feindschaft beizulegen. Die umstehenden Bürger applaudierten und skandierten die Aufforderung in Sprechchören. Beide Censoren replizierten, wobei sie die Kränkungen erwähnten, die sie voneinander erlitten hatten. Freilich schloss jeder seine Erwiderung mit der Formel, er sei bereit, »sich in die Botmäßigkeit so vieler Konsulare zu begeben«, falls auch der andere es tue. Diese Formel stammt aus der Außenpolitik und bezeichnet eine bedingungslose Kapitulation; mit ihr signalisierten beide, dass sie sich nicht lange bitten ließen, 152
Wie man Feindschaften beilegt
sondern sofort zum Gehorsam bereit waren. Als alle Umstehenden auf der Forderung bestanden, gaben beide einander die rechte Hand. Sie versprachen dabei, den Hass zu beenden. Unter lautem Lob setzte sich der Zug mit den beiden zum Kapitol in Bewegung, wo bereits der Senat wartete. Das Leitungsorgan der römischen Aristokratie verabschiedete einen doppelten Dank; es belobigte die Obsorge der ranghöchsten Senatoren und ebenso die Bereitwilligkeit und Nachgiebigkeit der Censoren.38 Diese Episode lässt die rituellen und performativen Werte deutlicher hervortreten: Es scheint beinahe unmöglich gewesen zu sein, dass ein Römer von sich aus auf seinen erklärten Feind zuging, um die Feindschaft beizulegen; anscheinend kam dies einem Verrat an dem einmal gefassten Beschluss – die Freundschaft aufzukündigen – gleich. Dennoch war es erstaunlich leicht, sogar erbitterte Feindschaften zu beenden. Die Initiative zu Versöhnungen ging oft von Mitsenatoren aus. Bei hoher Unversöhnlichkeit war es eventuell unumgänglich, diese Feindschaft als regulären Tagesordnungspunkt auf einer Senatssitzung förmlich zu behandeln. Da die verfeindeten Senatoren einander niemals nachgegeben hätten, musste man sie dazu bringen, den vermittelnden Standesgenossen nachzugeben. Die beiden Censoren von 179 v. Chr. brachten diesen Sachverhalt nicht ohne Ironie auf den Punkt. Sie scheinen der Feindschaft bereits müde gewesen zu sein und vielleicht schon länger darauf gewartet zu haben, dass man ihnen eine Brücke baute, die sie betreten konnten, ohne das Gesicht zu verlieren. Man beendigte die Feindschaft, indem man sich die Rechte reichte, versprechend, keinen Hass mehr zu hegen. Der Handschlag konnte in vielerlei Kontexten auftreten, doch stets war er mit der fides, mit gegenseitigem Vertrauen, konnotiert. Daher unterstrich er meistens ein Versprechen. Sein vorrangiger Platz im Inventar der Gesten ist daran abzulesen, dass er sich sehr häufig abgebildet findet.39 Einseitig eine Feindschaft beizulegen, schien sogar dann problematisch gewesen zu sein, wenn der Feind starb. Metellus Macedonicus, Consul 143 und Censor 131 v. Chr., war verfeindet mit Scipio Aemilianus. Als dieser 129 starb, schickte Metellus seine vier Söhne, die bereits Senatoren waren: »Geht, meine Söhne, reiht Euch ein in seinen Trauerzug; nie werdet ihr eines größeren Bürgers Leichenbegängnis sehen!«40 Doch er selbst ging nicht hin. Die noble Geste betonte, dass Metellus willens gewesen wäre, die Feindschaft zu beendigen, hätten die Normen des sozialen Umgangs es ihm erlaubt. Je nach den Positionen war es opportun, die Fähigkeit zum Einlenken zu preisen oder die unnachgiebige Härte bei der Rache. Gegen die 153
Negative Reziprozität: Die römische Rache
Konsensbereitschaft als politische Tugend ließ sich die Rachepflicht als ein Grundgebot der familialen pietas ausspielen. Gaius Gracchus führte einerseits die Politik seines Bruders weiter; aber zugleich rächte er dessen Tod. Seine Anhänger strichen just diese Befolgung der familialen pietas heraus. Seine Widersacher warfen ihm dagegen vor, die brüderliche Verbundenheit über die Liebe zum öffentlichen Wohl zu stellen.41 Das römische Normensystem beruhte darauf, dass die Familien sich nicht nur loyal gegenüber der Res publica verhielten, sondern obendrein als primäre Sozialisationsinstanz dafür sorgten, dass die heranwachsenden Individuen der Republik gegenüber loyal und den Magistraten gehorsam blieben. Doch zwischen familialen und politischen Pflichten bestand nicht notwendigerweise ein harmonisches Verhältnis. Man hatte divergierende Anforderungen irgendwie zu vereinbaren. Solange die privaten Feindschaften nicht die Loyalität gegenüber politischen Autoritäten und Bindungen angriffen, vermochten die Senatoren mit einander widersprechenden Pflichten zurechtzukommen. Aber im Jahre 133 v. Chr. hatten römische Bürger das Blut von römischen Bürgern auf den Straßen und Plätzen Roms vergossen. Und 121 v. Chr. hatte sich das in größerem Maßstab wiederholt. Definitionskämpfe standen an. Ein politischer Konflikt hatte bis zur äußersten Entzweiung im Innern des Gemeinwesens geführt und damit offen gelegt, dass bislang unstrittige Bindungen fatale Folgen für die concordia der römischen Bürgerschaft haben konnten: Wie weit durften die Pflichten gegenüber der Familie und den Freunden gehen, ohne dass man das Wohl der politischen Gemeinschaft in Gefahr brachte?
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Kulturphilosophische Last
8. War die römische Volksversammlung ein Entscheidungsorgan?
Kulturphilosophische Last auf der wissenschaftlichen Konzeptbildung In Rom gab es mehrere Typen von Volksversammlungen: Die contiones waren Informationsversammlungen, auf denen die einberufenden Versammlungsleiter Gesetzesentwürfe vorstellten oder politische Fragen erörtern ließen, meist von senatorischen Rednern, die sie selbst bestimmten; die Comitien (comitia) waren Versammlungen, die per Abstimmung Beschlüsse fassten oder Funktionsträger wählten. Die Comitien lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Bei den Tributcomitien (und beim concilium plebis) stellten sich die Bürger nach ihren 35 Tribus auf; hier zählte die Mehrheit der Tribus. Bei den Centuriatcomitien rief man sie nach ihren 193 Zenturien geordnet in die Stimmpferche; hier gab die Mehrheit der Zenturien den Ausschlag, wobei die Stimmen der reicheren Bürger erheblich stärker ins Gewicht fielen.1 Die Centuriatcomitien konnte nur ein Consul oder Praetor leiten; sie waren zuständig für die Aburteilung von Kapitalverbrechen, für Abstimmungen über Krieg und Frieden und für die Wahl von Praetoren, Consuln und Censoren. Die Comitien wurden von einem Magistrat oder Tribun geleitet. War ein Volksbeschluss zu fassen, dann agierte der Versammlungsleiter zugleich als Antragsteller (rogator); er legte eine Beschlussvorlage zur Abstimmung vor; die Versammlung konnte dazu weder Stellung nehmen noch Änderungsvorschläge machen; sie konnte lediglich zustimmen oder ablehnen. Jochen Bleicken kleidet diesen politischen Sachverhalt in die Formel: »Der Wille des römischen Volkes ist kein unabhängiger Wille«. Dagegen sind in letzter Zeit Stimmen laut geworden, und einzelne Forscher angelsächsischer Provenienz gehen nun so weit, die römische Republik als Demokratie zu bezeichnen.2 Nach ihrer Meinung äußerte sich in den Comitien der römische Volkswille dadurch, dass die Versammlung Anträge annahm oder ablehnte. Doch was heißt hierbei Volkswille? Jochen Bleicken hat 1975 der römischen Volksversammlung seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. einen gravierenden Mangel bescheinigt: 155
War die Volksversammlung ein Entscheidungsorgan?
»Das Volk stimmte über die nach außen hin einheitliche Meinung der Nobilität ab und stimmte natürlich zu.« Kein einziges von einem Magistrat eingebrachtes normatives Gesetz scheiterte bei der Abstimmung.3 Dieser Befund ist gleichermaßen grundlegend für die Funktionsweise der römischen Politik wie störend für unsere Konzeptionen. Wie kann man ihn kategorial erfassen? Nach der überwiegenden Meinung partizipierte das römische Volk während der Republik an der Politik, indem es im Rahmen der Institutionen am Prozess der kollektiven Willensbildung teilnahm. Die Comitien seien diejenige Institution gewesen, in der das Volk seinen politischen Willen ausdrückte und Entscheidungen traf; demzufolge war die Volksversammlung ein Entscheidungsorgan. Bleicken nennt die Comitien dem gemäß »das institutionalisierte Volk«.4 Doch wie konnte das römische Volk seinen politischen Willen in den Stimmversammlungen ausdrücken, wenn diese fast nie einen Antrag ablehnten? Entweder bestand der politische Wille des römischen Volkes darin, immer zuzustimmen; dann hatte es – wie Bleicken formuliert – keinen »unabhängigen Willen«. Oder die Comitien waren nicht der Ort, an dem es seinen Willen ausdrückte. Wir stehen vor einem konzeptionellen Dilemma, in welchem unausgesprochene politiktheoretische Axiome die Fragerichtungen vorschreiben. Zwei grundsätzliche Annahmen stehen auf dem Spiel; die erste betrifft das Ausmaß einer ›demokratischen‹ Partizipation des Volkes, die andere den Politisierungsgrad der römischen Bürger. 1. Je unverhohlener manche Historiker dafürhalten, man müsse die römische Republik als Demokratie bezeichnen, desto brisanter wird die Frage, ob die Comitien ein Entscheidungsorgan waren. Sie verwerfen das Prinzip, wonach Demokratie nur dort sein kann, wo politische Gleichheit zwischen den Bürgern herrscht – vielleicht, weil in der Fachdisziplin die Vertrautheit mit den Kernbegriffen der politischen Philosophie schwindet, vielleicht auch, weil genuin politische Räume in der jetzigen Gesellschaft sich auflösen. Übernimmt man diese kastrierte Konzeption von Demokratie, dann braucht man bloß zu fragen, ob und inwieweit das römische Volk auf institutionalisierte Weise an den politischen Entscheidungen partizipierte; von der Antwort hängt dann ab, wie man die römische Republik einstuft, ob als aristokratische Herrschaft oder als Demokratie. Die Diskussion wird desto weniger auf ›neutralem‹ wissenschaftlichen Boden geführt, je stärker kulturphilosophische Axiome das Erkenntnisinteresse steuern. Freilich geht es dann nicht mehr allein um Rom, sondern es geht um die Gegenwart: Die Wissenschaft wird dazu benutzt, Traditionslinien herzustellen, die 156
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so nicht existieren; sie legitimiert damit Konzepte zur politischen Orientierung in der Gegenwart. Indes, die Historie kann sich für solche Identitätsstiftung nicht hergeben, solange sie Wissenschaft bleiben will. Es ist darum geboten, den Kategorienapparat soziologisch auszuweiten, um semantische Distanz zum historischen Gegenstand herzustellen und die seit Max Weber eingeforderte Trennung von wissenschaftlicher Erkenntnis und kultureller Identitätsstiftung einzulösen. 2. In die Diskussionen, wie das politische System der römischen Republik zu klassifizieren sei, mischt sich die Frage, in welchem Grade die nichtaristokratischen Bürger politisiert waren. Gegenwartsgespeiste Besorgtheit meldet sich unverkennbar in dem Axiom, der Grad der Politisierung der beherrschten Bürger in irgendeinem politischen System und der Grad ihres Engagements für die politische Gemeinschaft hänge davon ab, wie sehr sie an den ›politischen‹ Entscheidungen beteiligt seien. Das dürfte jedoch ein modernes Vorurteil sein – nützlich für die politische Identitätsbildung, aber untauglich als Prämisse der Forschung. Alexis de Tocqueville sah das ganz anders; er hielt die Demokratie für unfähig, einen Krieg zu führen, weil die soziale Gleichheit die Opferbereitschaft der einzelnen heruntersetze, dem äußersten Engagement für die Gemeinschaft im äußersten Falle den Sinn nehme. Tocqueville orientierte sich an denselben Kategorien wie die Befürworter der Demokratie, nämlich am Engagement für das Gemeinwesen (für das bonum commune) und am Grad der Partizipation an der Macht (an den Entscheidungen). Ebenso wie die Freunde der Demokratie setzte auch er voraus, dass beide Sachverhalte – Bereitschaft zum Engagement und politische Partizipation – konnektiert seien und dass diese Partizipation jene Bereitschaft bedinge. Dennoch kam er zu einer den Anhängern der Demokratie diametral entgegengesetzten Ansicht. Die großen Kriege sowohl des 19. als auch des 20. Jahrhunderts – mit ihrem massenhaften und weitreichenden Engagement ohne alle Rücksicht auf die jeweiligen Partizipationsmöglichkeiten – zeigen, dass sich beide Seiten geirrt haben. Folglich war der Konnex lediglich innerhalb einer bestimmten Konstellation der kulturellen Semantik plausibel; er bezog sein ideologisches Gewicht aus den politischen Auseinandersetzungen um die Partizipation von Gruppen, die jeweils noch von der organisierten politischen Macht ausgeschlossen waren.5 Das Ausmaß, in welchem Menschen bereit sind, sich für die politische Gemeinschaft zu engagieren, hängt sehr wohl davon ab, wie stark sie in diese Gemeinschaft integriert sind bzw. welche Hoffnung sie hegen, sich in sie zu integrieren. Aber diese Integration bemisst sich nicht daran, in welchem 157
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Grade die Betroffenen an den politischen Entscheidungen – an der ›Macht‹ – teilhaben. Die Integration ins politische System lässt sich nicht am Grad der institutionalisierten Partizipation an den politischen Entscheidungen ablesen, die ›Politisierung‹ ebenso wenig. Welche impliziten Voraussetzungen hat die Forschung bei der Untersuchung und Einschätzung der römischen Volksversammlung gemacht? Sie harren der theoretischen Kritik. Nur diese verschafft jenen neuen Perspektiven, die sich in den letzten 25 Jahren aufgetan haben, sowohl ihre wissenschaftliche Legitimation wie ihren systematischen Zusammenhang.
Neue Perspektiven öffnen – wozu Kritik gut ist Wenn man die Comitien für ein Entscheidungsorgan hält, dann führt man üblicherweise dafür drei Aspekte an: die Comitien wählten die Magistrate, sie fassten verbindliche Beschlüsse und verabschiedeten Gesetze, und schließlich fällten sie Urteile in bestimmten Prozessen. Den ersten hat Martin Jehne bündig erörtert,6 der letzte spielt in den aktuellen Diskussionen eine untergeordnete Rolle; daher beschränke ich mich auf den zweiten. Jochen Bleicken nennt die römische Volksversammlung »Gesetzgeber«; in diesem Begriff transportiert er die Ansicht von Theodor Mommsen weiter, wonach der römische Staat auf der Volkssouveränität aufruhte. Doch wie verträgt sich diese Definition mit der Beobachtung, dass die Comitien nie einen von einem Magistrat eingebrachten Gesetzesantrag abwiesen? Bleicken löst den Widerspruch, indem er eine »Pervertierung der Comitien zu einer Apparatur, die in der Hand jedes ehrgeizigen Politikers jedes gewünschte Abstimmungsergebnis produzieren konnte«, behauptet. Folgerichtig spricht er von »Entartungserscheinungen« und von einer »Degeneration der Volksversammlung«. Er stellt eine »immer größer werdende Spannung zwischen Norm und Wirklichkeit« fest, d. h. er setzt voraus, dass es einmal anders war. Für diese ›Degeneration‹ der Comitien nennt er drei Gründe: 1. Die abstimmenden Bürger waren immer weniger identisch mit der Gesamtbürgerschaft. Die Volksversammlungen fanden in Rom statt; aber der Bürgerverband weitete sich im dritten Jahrhundert über ganz Italien aus, und im zweiten Jahrhundert expandierte er über Italien hinaus. In dem Maße, wie die Bürgerschaft sich räumlich ausbreitete und ein Großteil der Bürger nicht mehr zu den Abstimmungen 158
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nach Rom kam, »verloren die Volksversammlungen allmählich den Anspruch, die Versammlung der Bürger zu sein …«. Bleicken beruft sich auf das Kriterium der Repräsentativität und behauptet, zur Zeit Ciceros habe sich das Bewusstsein gebildet, »dass die Comitien nicht mehr das römische Volk repräsentierten«. 2. Die geheime Abstimmung, die seit den dreißiger Jahren des zweiten Jahrhunderts v. Chr. bei allen Volksversammlungstypen eingeführt wurde, verhinderte, dass die Senatoren weiterhin ihre Klienten bei der Stimmabgabe kontrollierten. Damit wurde das Klientelverhältnis an einem empfindlichen Punkt außer Kraft gesetzt; und so verloren die Volksversammlungen ihre »soziale Komponente«. Denn die abstimmenden Bürger befolgten nun nicht mehr die Anweisungen ihrer Patrone, sondern sie gehorchten blind den Aufforderungen des Antragstellers. Dem gemäß gerieten die Volksversammlungen »zu billigen Instrumenten in der Hand ihrer Versammlungsleiter«, mithin zu einer »Abstimmungsapparatur ohne Bezug zur realen gesellschaftlichen Situation«. 3. Die Oligarchie stellte üblicherweise im Senat unter sich den Konsens her, bevor ein Magistrat oder Tribun den betreffenden Antrag vor die Volksversammlung brachte. Diesen Konsens hält Bleicken für verhängnisvoll: Wenn die Gesamtheit der Nobilität als Einheit auftrat, dann blieb dem Volk nichts anderes übrig als zuzustimmen: »Gegenüber dem einheitlichen Willen aller Nobiles … gab es keine Meinung im echten Sinne; man konnte nur mit ›ja‹ stimmen: Die Einheit des Senats, der das soziale Prestige aller Nobiles verkörperte, wirkte auf die Meinungsbildung im Volk erstickend … Das Volk stimmte über die nach außen hin einheitliche Meinung der Nobilität ab und stimmte natürlich zu.«7 Eine methodische Kritik dieser Thesen eröffnet die Chance, eine neue Perspektive zu entwerfen und das Gelände der Schwierigkeiten neu abzustecken. Gegen die beiden ersten Gründe lässt sich Folgendes einwenden: 1. Wenn das abstimmende Volk einen immer geringeren Anteil am tatsächlichen Bürgerverband darstellte, dann war das in Rom nie ein Problem, das nach Lösungen verlangt hätte. Rom war schon seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. kein ›Stadtstaat‹ mehr; seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts umfasste sein Herrschaftsgebiet das Territorium eines kleinen modernen Nationalstaates.8 Die »Entartungserscheinung« hätte also schon am Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. auftreten müssen. Der Gedanke der Repräsentativität fehlte; es zählte die Präsenz. Das präsente Volk galt als das Gesamtvolk.9 159
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2. Die geheime Abstimmung – seit 139 v. Chr. bei den Wahlen, seit 137 bei Prozessen nichtkapitaler Art, seit 131 bei der Gesetzgebung und seit 106 bei Kapitalprozessen – entzog zwar den Patronen die Möglichkeit, die Stimmabgabe ihrer Klienten zu kontrollieren; doch der Versammlungsleiter vermochte diese Kontrolle genauso wenig auszuüben. Bleickens unausgesprochene Prämisse ist eine kulturphilosophische, die direkt aus den Debatten zwischen den zwanziger und den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts stammt und sich an der Dichotomie ›Gemeinschaft gegen Gesellschaft‹ schärfte: Reißt man Menschen aus ihren traditionellen Bindungen heraus – aus ihren ›Gemeinschaften‹ – und wirft man sie bindungslos in die Gesellschaft, dann wird aus ihnen ein amorphe Masse; und diese amorphe Masse ist beliebig verfügbar und manipulierbar in den Händen von charismatischen Führern. Totalitarismus-Theorien wie etwa die von Hannah Arendt überschneiden sich bei diesen Vorstellungen mit jener Pseudotheorie, die unter dem Namen ›Massenpsychologie‹ kursierte. Aber weder war die römische Plebs je eine amorphe Masse, noch waren die antragstellenden Tribunen charismatische Führer. Wie Martin Jehne aufgezeigt hat, ist die geheime Abstimmung anders in die Politik eingebettet als Bleicken meint.10 Die Abstimmenden konnten nun mit großer Wahrscheinlichkeit mit ›Nein‹ stimmen, ohne dass irgendjemand es merkte und deshalb Druck auf sie ausübte. Sie hatten nun erstmalig die Möglichkeit, gemäß eigenem Gutdünken ihre Stimme abzugeben. Wir müssten deshalb erwarten, dass die Quote abgelehnter Anträge mit der geheimen Abstimmung zunahm. Aber das ist nicht der Fall. In der späten Republik ist kein abgelehnter Antrag nachweisbar. Just dieser Umstand irritierte Bleicken und ließ ihn zu einer unhaltbaren Erklärung greifen. Anders verhält es sich mit dem 3. Grund, den Bleicken angibt: ›Wenn die Senatoren im Konsens waren, dann blieb dem Volk nur übrig zuzustimmen‹. Diesen Befund kann man jedoch anders interpretieren. Ein großer Teil der althistorischen Forschung stimmt darin überein, dass die politische Organisation der römischen Aristokratie auf den Konsens hin angelegt war. Damit die Aristokratie politisch handeln konnte, musste dieser Konsens entweder schon zuvor vorhanden sein, oder sie musste ihn im Senat herstellen. War das politische System auf den senatorischen Konsens hin angelegt und übte dieser Konsens auf das abstimmende Volk einen solchen Druck aus, dass es eigentlich nur zustimmen konnte, dann folgt daraus, dass die Funktion der Volksversammlung in diesem System eben nur die war zuzustimmen. Der Begriff ›Funktion‹ unterstellt keine ›wesenseigene‹ Eigenschaft, sondern zeigt lediglich an, dass den Comitien diese Rolle so lange zu160
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kam, wie die herrschende Klasse in der Lage war, sie auf diese Rolle festzulegen. In diesem Sinne können vier Funktionen dieser Institution hervorgehoben werden: erstens übernahm die Volksversammlung vermittelst der Wahlen die Rekrutierung der Senatorenschaft und ihrer Rangklassen; zweitens mobilisierte die Aristokratie in den Volksversammlungen die Bürgerschaft zu bestimmten Themen; drittens intensivierte sie mittels dieser Institution die Interaktion zwischen ihr und dem Volk; viertens demonstrierte man in der Volksversammlung die politische Geschlossenheit der ganzen Gemeinschaft, indem das Volk die Beschlüsse des Senats absegnete. Doch es war keinesfalls eine ausgemachte Sache, dass es der Aristokratie gelang, die Institution auf diese vier Funktionen festzulegen. Das hing von den Kämpfen und dem Kräfteverhältnis im Einzelfall ab. War es dauernd geübte Praxis, den Anträgen der Magistrate und Tribunen zuzustimmen, dann ist es untunlich, diese Praxis eine »Degeneration der Volksversammlung« zu nennen. Im Begriff ›Degeneration‹ ist eine essentialistische Vorstellung enthalten; d. h. er stellt Institutionen als ›Entitäten‹ dar, denen ein bestimmtes ›Wesen‹ eignet, welches ihnen abhanden kommen kann. Diese Vorstellung ermächtigt eine normativistische Geschichtsauffassung dazu, sich zum Richter über Sollen und Sein aufzuschwingen: Historischer Wandel, der nicht in die gewünschte Richtung geht, gerät ihr zum schieren Verfall – zum Abgleiten vom Eigentlichen zum Uneigentlichen. Die Wortwahl schleppt Axiome und Implikationen einer politischen Philosophie und einer Geschichtsbetrachtung mit, die im deutschen Kulturraum in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Hochkonjunktur hatte. Darunter leidet auch die Verwendung des Normbegriffs. Setzt man die rechtliche Norm dichotomisch der historischen Wirklichkeit entgegen, bringt man den Normbegriff um seinen Erklärungswert. Wenn die Realität Jahrhunderte lang einer Norm widersprach, so heißt das, dass die Norm nicht wirkte. Was nicht wirkt, ist aber nicht wirklich. Eine unwirkliche Norm macht als analytische Kategorie keinen Sinn. Sie ist ein Postulat, welches der Historiker den zu interpretierenden Sachverhalten überstülpt. Soll der Begriff ›Norm‹ analytisch sinnvoll sein, dann ist es unzweckmäßig, eine Norm aus verfassungstheoretischen Axiomen zu postulieren; es ist ergiebiger, sie abzuleiten aus den realen Praktiken. Dazu ist eine forschungsaxiomatische Wende erforderlich: Eine praxeologisch ausgerichtete Kulturgeschichte findet hier ein Untersuchungsfeld vor, auf dem sie sich zu bewähren hat. Demnach nützt es nichts, auf das Recht der abstimmenden Bürger zu verweisen, mit ›Nein‹ zu stimmen und den Antrag durchfallen zu 161
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lassen. In der politischen Praxis gebrauchte die weit überwiegende Mehrheit der abstimmenden Bürger verhältnismäßig selten dieses Recht. Geht man von dieser Praxis aus, muss man den Rahmen der Interpretation wechseln. Unbestritten bleibt, dass die Römer den Beschlüssen der Comitien – als iussa populi oder leges – Verbindlichkeit für die gesamte Res publica zuerkannten; die wenigen Fälle, in denen dies ab 86 v. Chr. nicht geschah, ereigneten sich in Situationen offenen oder latenten Bürgerkrieges. Aber wenn innerhalb des aristokratisch beherrschten Systems den Comitien die Funktion zufiel, in ›letzter Instanz‹ verbindliche Regelungen für die gesamte politische Gemeinschaft zu treffen, dann bedeutete das weder, dass die Stimmversammlungen ›souverän‹ waren, noch dass sie im präzisen Sinne des Wortes ›entschieden‹. Wenn die Comitien so gut wie immer zustimmten, dann waren sie kein Entscheidungsorgan. Aber was waren sie dann? Will man dieser Frage nachgehen, hat die Reflexion nach rückwärts zu gehen und in den traditionellen Beständen unseres politischen Denkens nach jenen Pflöcken zu suchen, an die unsere Kategorienbildung angekettet ist und die sie daran hindern, vorwärts zu gehen. Es empfiehlt sich, die meisten kategorialen Schemata, die der Verfassungslehre des 19. Jahrhunderts entstammen, nicht mehr zu verwenden; denn sie erweisen sich als Barriere gegen die Erforschung der römischen Kultur.11 Versucht man hingegen, die antiken Systeme mit den Kategorien der antiken Politik oder Philosophie zu ›verstehen‹, stellen sich noch größere Aporien ein. Diese Kategorien sind zu spärlich, sie erlauben lediglich, nach der Gruppe der Herrschaftsbefugten zu fragen, ferner nach den Organen, mittels welcher Herrschaft ausgeübt wird, sowie nach den Kräfteverhältnissen zwischen den Organen. Gibt man sich zufrieden mit dieser Armut an kategorialen Differenzen, dann sind kreisläufige Debatten nicht vermeidbar. Untersucht man beispielsweise die athenische Demokratie daraufhin, welche Gruppen in ihr Einfluss ausübten und Machtpositionen besetzten, dann ergibt sich schnell, dass eine Elite unter den Bürgern die politischen Optionen formulierte und die Anträge stellte – ähnlich wie in Rom. Besieht man die römische Republik daraufhin, welche politischen Organe die Politik bestimmten, dann ergibt sich, dass die Volksversammlung und ihre Beschlüsse das letzte Wort hatten – ähnlich wie in Athen. Folgen wir bei unserer Sortierarbeit den antiken Autoren, dann ist eine kreisläufige Wiederkehr der Behauptung, die römische Republik sei ein der attischen Demokratie sehr nahe stehendes politisches System gewesen, gar nicht mehr zu vermeiden. 162
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Die Terminologie der antiken Autoren übernehmend, reproduzieren wir gezwungenermaßen deren Selbstverkennungen. Als historische Akteure unterliegen sie solchen unvermeidlich; und die Selbstverkennungen wandern desto mehr in ihre Begriffsbildungen ein, je mehr die Autoren die Begriffe als Ordnungskonzeptionen polemisch verwenden. Deswegen hatten die antiken Kategorien – wie z. B. Demokratie, Aristokratie, Monarchie, Tyrannis – im spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Europa einen überwältigenden geistesgeschichtlichen Erfolg. Er schuldet sich ihrer hohen Verwendbarkeit in den politischen Auseinandersetzungen. Doch so vorzüglich man sie politisch benutzte, so wenig reicht ihre analytische Kraft aus, sobald man nicht nur nach dem Kreis der Herrschaftsbefugten fragt, sondern auch nach den Herrschaftsmodalitäten. Ein reiches Inventar von Differenzen wird gebraucht, um unterschiedlichste Politikbereiche und Herrschaftsmodalitäten zu klassifizieren. Gerade auf diesem Gebiet hat die politische Soziologie seit Max Weber sehr viel geleistet.12 Mag Polybios auf das römische politische System dieselben Kategorien angewandt haben, mit welchen man griechische Poleis kategorisierte: Er tat das nicht, weil er es besser wusste als wir, sondern weil er gar keine anderen Begriffe zur Verfügung hatte und weil er sich die erheblich differenzierteren Fragen nicht stellte, die wir inzwischen zu stellen pflegen. Es nützt mithin wenig, Rom als eine aristokratische Herrschaft zu bezeichnen. Solche Herrschaften unterscheiden sich beträchtlich voneinander, je nachdem, ob die Führungsschicht, oft mit guten Gründen als Adel bezeichnet, nach Rangklassen stratifiziert ist, ob sie darauf angewiesen ist, die nichtaristokratischen Schichten militärisch zu mobilisieren – und in welchem Ausmaße –, ob die nichtaristokratischen Schichten über eigene Organisationen und Formen kollektiver Reaktionen verfügen, ob die Beherrschten von der Aristokratie symbolische Gesten der politischen Zusammengehörigkeit einfordern und wie nachdrücklich sie das tun. Daher die allgegenwärtige Schwierigkeit in stark hierarchisierten Systemen, ein ›souveränes‹ Organ zu bestimmen. Je näher eine politische Ordnung an die direkte Demokratie heranreicht, desto leichter ist es, einen Souverän festzustellen, der nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch die letztgültigen Entscheidungen fällt. Dass in Athen die Volksversammlung ›souverän‹ war in einem Grade wie nirgendwo ein Parlament, steht außer Frage. Aber in Athen deckten sich die Schnittmengen der regierenden und der regierten Bürger in einem Ausmaß, das für Hochkulturen völlig exzeptionell gewesen ist. Je mehr die Regierten und die Regierenden auseinander fallen, desto größer werden die 163
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Schwierigkeiten bei der Suche nach dem Ort der Entscheidung und dem Ort der Souveränität. Der Souveränitätsbegriff ist somit auf die Antike sehr wohl anwendbar, aber nur in den Grenzfällen, die zur Versammlungsdemokratie tendieren, gewinnt er Aussagekraft. Wir stehen erst am Anfang einer Typologisierung, welche nicht bloß die institutionelle Struktur politischer Systeme in den Blick bekommt, sondern überdies deren interaktionale und kommunikative Dynamiken. Erst indem wir letztere mikrohistorisch erforschen, erhellen wir die makrohistorische Funktionsweise der Institutionen.
Die Entscheidungsqualitität von Abstimmungen Vor allem unter deutschen Historikern herrschte mehrere Jahrzehnte hindurch die Meinung vor, in einer aristokratischen Herrschaft wie der römischen hätte das Volk keine ›eigentliche‹ politische Rolle gespielt. Die Geschichte der römischen Republik sei Resultat des Handelns der Oligarchie.13 Unter diesem Blickwinkel war die römische Volksversammlung allein darum wichtig, weil in ihr die maßgeblichen Personalentscheidungen fielen: wen die Volksversammlung in ein magistratisches Amt wählte, der gelangte lebenslänglich in den Senat und gehörte damit zur politischen Elite, d. h. zur senatorischen Aristokratie. In der Tat, die Comitien entschieden zum ersten darüber, welche jungen Männer aus den vornehmen oder aus ›neuen‹ Familien in den Senat gelangten, zum zweiten darüber, welche Senatoren in eine höhere Rangklasse aufstiegen, also welche Senatoren aus ehemaligen Quaestoren zu Aedilen, aus ehemaligen Praetoren zu Consuln wurden. An den Wahlen hingen die Karrieren der römischen Aristokraten und daher deren Chancen, in Machtpositionen zu gelangen, Einfluss und Reichtum zu gewinnen, Kriege zu führen und Triumphe zu feiern. Die Comitien trafen demnach wichtige Entscheidungen. Aber für wen waren das Entscheidungen? Wäre der Ausgang der Wahlen für das abstimmende Volk selbst wichtig gewesen, dann hätte es sich regelmäßig engagiert. Doch es geschah selten, dass das Wahlvolk selbst – also die nichtaristokratischen Schichten – sich engagierte, um bestimmten Personen zum Sieg zu verhelfen. Dies scheint nur passiert zu sein, wenn nach militärischen Fehlschlägen das Volk, vor allem die oberen Zensusklassen, einen erwiesenermaßen oder erhofftermaßen fähigen Feldherrn zum Consul haben wollte – so 148 v. Chr. (Scipio Aemilianus) und 108 v. Chr. (Marius).14 164
Die Entscheidungsqualitität von Abstimmungen
Paul Veyne hat betont, dass das geringe Interesse des römischen Volkes an den Wahlresultaten ab einem bestimmten Augenblick, vor allem seit der Einführung der geheimen Abstimmung, automatisch die so genannten ›Wahlbestechungen‹ nach sich zog. Damit meint man jene missbilligte, aber nicht abzustellende Praxis, umrissenen Wählergruppen Geschenke zu machen oder gar ihnen im Falle des Wahlsieges eine vorher angekündigte Geldsumme auszubezahlen. Diese Wähler ließen sich nicht ›kaufen‹; der Terminus ›Kauf‹ ist dem Vorgang unangemessen. Indem die Wähler solche ›Geschenke‹ annahmen, bildeten sie Präferenzen für bestimmte Personen, Präferenzen, die sie ansonsten nicht gehabt hätten.15 Da man in Rom nicht Parteien wählte und da politische Programme nicht existierten, hatten – so sagt Veyne – die Wähler keine besonderen Vorlieben; sie wählten Personen, keine bestimmte Politik. Damit die Wähler Vorlieben für bestimmte Kandidaten ausbildeten, mussten diese Kandidaten sich als Personen beliebt machen. Die geheime Abstimmung bei den Wahlen seit 139 v. Chr. gehört in diesen Zusammenhang; denn sie befreite die Wähler, welche in einer Vielzahl sich überkreuzender Verpflichtungsverhältnisse gegenüber unterschiedlichsten ›Patronen‹ standen, aus der Misslichkeit, dass mehrere Patrone zugleich von ihnen Loyalität bei der Stimmabgabe einforderten.16 Folglich zahlten Oligarchen, die Karriere machen wollten, dafür, dass die Politik in Rom so stark personalisiert und gar nicht programmorientiert war; überspitzt gesagt, sie zahlten dafür, dass die Wahlresultate für das Volk unwichtig waren, abgesehen von jenen seltenen Fällen, in denen es die Wahlen politisierte. Warum ließ man dann überhaupt die Amtsträger vom Volk wählen? Die römische Aristokratie umging auf diese Weise die Kooptation. Das tat sie, um allzu hohe Entscheidungskosten zu vermeiden. Die Kooptation in Gremien birgt Risiken: Falls die Mitgliedschaft in einem Gremium sozialen Gewinn bringt – weil z. B. das Prestige sich erhöht oder weil sich Machtchancen ergeben –, dann stellen sich mehrere Probleme, sobald die älteren Mitglieder die neuen durch Kooptation rekrutieren. Die Kooptation ist vollkommen unpraktikabel, wenn: 1. innerhalb des Gremiums dauerhafte Konfrontationslinien verlaufen; 2. sich Lager bilden, welche einzelnen Mitgliedern dazu verhelfen, ihre Machtpositionen dauerhaft und disproportional zu verstärken; 3. Patronagebeziehungen existieren und jeder Neuankömmling den Einflussbereich seines ›Patrons‹ auf Kosten eines anderen Patrons erweitert.17 Nun trafen die beiden letzten Bedingungen auf den römischen Senat zu. Neuzugänge verschoben zwangsläufig die Machtverhältnisse zwischen den Angehörigen der obersten Rangklasse (den Konsularen); 165
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und sie erhöhten auch das symbolische Kapital bestimmter Familien. Hätten die Senatoren selbst die Neuzugänge kooptieren müssen, dann wären darüber im Senat regelmäßig schwere Kämpfe ausgebrochen. Die Feindschaften hätten sich ins Unerträgliche gesteigert, und der Senat wäre dauerhaft handlungsunfähig gewesen. Darauf verzichtend, die neuen Mitglieder selbst zu rekrutieren, ersparte sich die Senatorenschaft solche Kämpfe. Darum blieb der Mechanismus der personellen Selektion aus dem Senat ausgelagert. Alternativen wären z.B. gewesen: die Geburt, das Los, die Wahl durch eine andere Gruppe, die Ernennung durch einen Monarchen. Aus historischen Gründen schieden das Los und die Geburt aus; die Ernennung durch einen Monarchen war ebenfalls nicht möglich – noch nicht. Als praktikabelster Modus, wie die Senatorenschaft und die Rangklassen sich rekrutierten, blieb diejenige übrig, die man tatsächlich handhabte, nämlich die Volkswahl. Die Wahlen waren für den Adel üblicherweise das wichtigste politische Thema; für die Plebs blieben sie verhältnismäßig uninteressant; ihr Ausgang tangierte jedoch viele Plebejer individuell und als Wählergruppen genommen. Wähler legten oft weite Strecken zurück, um in Rom anwesend zu sein; aber sie taten dies bestimmten Kandidaten zu Gefallen. Gefälligkeiten dieser Art waren kein fremdbestimmtes Verhalten, sondern Leistungen, welche die wichtigen Wählergruppen gerne erbrachten, weil – wie Martin Jehne ausgeführt hat – sie damit ihre eigene Wichtigkeit unterstrichen und Nähe zu bestimmten Senatoren signalisierten. In dem riesigen Patronage-System, welches die römische Republik darstellte, verbesserte sich für viele nichtaristokratische Angehörige der oberen Vermögensklassen der Zugang zu Ressourcen, wenn der ›eigene‹ Kandidat erfolgreich war. Kurz: Das Volk entschied tatsächlich bei den Wahlen, aber diese Entscheidungen waren gerade für das Volk als Ganzes von geringem Entscheidungswert. Aber – so könnte man einwenden – entschied die Volksversammlung nicht über Gesetzesanträge? Doch da taucht sofort jener von Bleicken entdeckte Umstand auf, dass kein einziges normatives Gesetz bei der Abstimmung durchfiel, und verlangt nach einer Erklärung. Dazu müssen wir die Analyse-Ebene wechseln und ein Inventar differenzierter Praktiken anlegen. Auszugehen ist von dem Befund, dass römische Volksversammlungen bei Abstimmungen über normative Gesetze immer zustimmten. Nennen wir also die römischen Comitien vorläufig ein Konsensorgan.
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Die Comitien als Konsensorgan
Die Comitien als Konsensorgan – die Abstimmung als Konsensritual Als Konsensorgan waren die Comitien ein Organ, in welchem das römische Volk seinen Konsens mit der Politik der Aristokratie ausdrückte, im Zweifelsfall mit demjenigen Senator, der gerade die Volksversammlung leitete, in ganz seltenen Fällen gegen ihn. Das ist eine einfache Bestimmung. Tragfähig wird sie erst, wenn sie sich als Begriff entfaltet und die einzelnen Fälle nicht nur subsumiert, sondern sie als Varianten logisch ableitbar macht: Besonderheiten treten dann innerhalb einer Konfiguration von Komponenten bestimmbar hervor. Um an den römischen Stimmversammlungen ihre Funktion als Konsensorgan sichtbar zu machen, ist ihre rituelle Dimension näher zu besehen. Keith Hopkins hat die Comitien als Ritual bezeichnet und sie auf ihre rituellen Gehalte hin untersucht. Nach seiner Ansicht fungierten die Comitien als ein Ritual zur Sozialdisziplinierung.18 Die religiösen Rituale, wie z. B. Lupercalia, Saturnalia, Lemuria, die ludischen (circensische, theatralische und gladiatorische) sowie die ›politischen‹, so das alle fünf Jahre den Zensus abschließende lustrum, ferner der dilectus, d. h. die Aushebung von Legionen, und schließlich die Comitien und die contiones ergaben ein Tableau von Ritualen. Jedes von ihnen bildete ein Ensemble von Praktiken, die semantisch und funktional aufeinander bezogen waren. Ihre zeremonielle Dimension veranschaulicht das: Die Bürgerschaft wurde sortiert, gegebenenfalls nach Rang und Status voneinander abgesondert, so dass die soziale Stratifikation eindringlich hervortrat; Familienbande, Nachbarschaften und Patronage-Bindungen wurden optisch negiert, indem die Bürger sich nicht allein nach Rang und Vermögen, sondern noch gemäß der Altersklassen unterteilten (so die erste Klasse in den Centuriatcomitien). Die versammelten Bürger standen (anders als in Hellas) und blickten hoch zur Tribüne; die Magistrate saßen und blickten hinunter auf die Stehenden. Die Zeremonien visualisierten damit die Differenz zwischen denen, die Befehle gaben, und denen, die gehorchten, zwischen denen, die sprachen, und denen, die zuhörten, zwischen denen, die saßen, und denen, die standen, zwischen denen, die senatorische Standesabzeichen trugen, und denen, die nur eine einfache Toga anhatten; sie gewöhnten die Bürger in Herrschaftsverhältnisse ein. Dass der zeremonielle Ablauf solcher Veranstaltungen sozialdisziplinierend wirkte, leuchtet unmittelbar ein. Hopkins weist auf, dass vor allem die Centuriatcomitien in höherem Maße disziplinierende Ele167
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mente enthielten, als dies zu erwarten wäre, solange man sie funktional auf die römische ›Verfassung‹ bezieht und somit bloß instrumentell versteht. Eingelagert in dieses kulturelle Gesamt von symbolischen Verweisungen und sozialen Praktiken, bringt der Abstimmungsvorgang neue Züge zum Vorschein. Und so überrascht die Umdefinierung der Comitien zu einem Konsensorgan nicht. Das Tableau von Keith Hopkins lässt sich nuancieren, wie Martin Jehne kürzlich gezeigt hat.19 Denn in den römischen Volksversammlung wurde nicht generell die hierarchische Dimension betont, sondern auch das Moment der zivischen Gleichheit. Beide Typen der Stimmversammlung unterschieden sich danach, welche Momente in ihnen stärker hervortraten: Wenn die Römer über Gesetze oder Sachfragen abzustimmen hatten und sich in den Tributcomitien nach ihren 35 Tribus aufstellten, erfuhren sie sich als ein Verband von Bürgern, der in formell gleiche Einheiten – die Tribus – untergliedert war. Zwar spürten die Römer auch hier Ungleichheiten: Die vier städtischen Tribus galten als weniger vornehm denn die 31 ländlichen, daher wurden Freigelassene stets in die städtischen Tribus eingeschrieben; und da die Städter bei den Abstimmungen immer überrepräsentiert waren, zählte ihre Stimme proportional weniger als die Stimme der Tribulen, die vom Lande kamen. Dennoch inszenierte das Verfahren selbst keinerlei Hierarchie. In zweierlei Hinsicht vermittelten die Tributcomitien egalitäre Erlebnisse: 1. Wenn sich die Bürger nach ihren Tribus aufstellten, dann standen Handwerker, Großhändler, Kleinbauern und städtische Notabeln, Junge und Alte bunt gemischt nebeneinander; und ihre Stimmen zählten alle gleich. 2. Niemand wurde durch eine feststehende Reihenfolge symbolisch hervorgehoben und zeitlich privilegiert. Wurde gewählt, dann gingen alle 35 Tribus gleichzeitig an die Stimmpferche. Das liegt daran, dass spätestens um 125 v. Chr. alle Wahlversammlungen auf das Marsfeld gelegt wurden. Dort hatte man genügend Platz für 35 Pferche zur Verfügung, so dass man alle Tribus gleichzeitig aufrufen konnte. Hingegen wurden Gesetze auch weiterhin auf dem Forum verabschiedet, wo die räumliche Beengung nur ein sukzessives Abstimmen zuließ. Der Versammlungsleiter verkündete für jede Tribus einzeln das Ergebnis; aber die Reihenfolge der Verkündigung stand nicht ein- für allemal fest, sondern wurde jeweils zuvor durch das Los ermittelt. Zwar wurde die Verkündigung abgebrochen, sobald die Mehrheit erreicht war, aber zuvor hatte jeder anwesende Bürger seine Stimme abgegeben. Stimmte man über Gesetze oder ge168
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richtliche Belange ab, rief man zwar die Tribus nacheinander in die Stimmpferche, aber ebenfalls in einer Reihenfolge, die jedes Mal durchs Los bestimmt wurde.20 Möglicherweise führte man in diesen Fällen die Abstimmung auch dann noch bis zur letzten Tribus weiter, wenn die Mehrheit schon vorher erreicht wurde; das ist dann wahrscheinlich, wenn die Verkündigung des Ergebnisses nicht sukzessive erfolgte, sondern erst am Ende des gesamten Vorganges. Das Los gab jeder Tribus die Chance, als erste in die Stimmpferche zu gehen bzw. als erste bei der Verkündigung genannt zu werden. Wann ein Bürger an die Reihe kam, war weder von seinem Alter, seinem sozialen Status noch von seiner Tribuszugehörigkeit abhängig, sondern war dem Zufall überlassen, der allen die gleiche Chance gab. Ganz andere Erfahrungen machten die Abstimmenden in den Centuriatcomitien, in welchen sie die Consuln, die Praetoren und Censoren wählten, über Krieg und Frieden entschieden und in Kapitalprozessen auf schuldig oder unschuldig erkannten. Zunächst erfuhren die anwesenden Bürger ihre soziale und politische Ungleichheit. Sie wurden in 193 Zenturien aufgeteilt; jede Zenturie wurde als eine Stimmeinheit gezählt; die Mehrheit der Zenturien brachte die Entscheidung. Die Begüterten besaßen ein enormes Übergewicht: die Oberschicht war auf 18 Ritterzenturien aufgeteilt, 70 Zenturien entfielen auf die erste Klasse, davon eine Hälfte auf die seniores, die andere auf die iuniores. Die Abstimmung erfolgte nach Klassen getrennt.21 Das Verfahren lässt sich veranschaulichen anhand der Wahlen: Zuerst wurde aus den 70 Zenturien der ersten Klasse eine ausgelost, die an erster Stelle stimmen durfte, die centuria praerogativa; diese Bürger stellten sich in einem der 35 Stimmpferche auf und gingen einzeln hintereinander auf einen Steg, der zur Urne führte, wo sie – nach Einführung der geheimen Abstimmung – ihre Stimmtäfelchen hineinlegten. Diese Stimmen wurden ausgezählt und das Ergebnis verkündigt. Danach gaben die 69 restlichen Zenturien der ersten Klasse ihre Stimmen ab; die seniores waren insofern privilegiert, als in ihren Zenturien weniger Bürger und somit die einzelnen Stimmen kostbarer waren. Ein Stimmpferch war nun frei, in ihm stimmte eine Handwerkerzenturie. Nach der ersten Klasse stimmte die soziale Oberschicht der römischen Bürgerschaft, Ritter und Senatoren, die auf 18 Zenturien verteilt war, welche man in zwei Stimmblöcke auseinander dividierte: Zunächst kamen die weniger vornehmen zwölf neuen Ritterzenturien an die Reihe; danach stimmten die sechs vornehmen, welche suffragia hießen. Das Abstimmungsergebnis der 12 weniger vornehmen Zenturien wurde zusammen mit dem Ergebnis der ersten Klasse verkündigt. Die 169
War die Volksversammlung ein Entscheidungsorgan?
sechs vornehmsten Zenturien der römischen Bürgerschaft mussten also lange warten, bis sie an die Reihe kamen: vor ihnen stimmte ja zuerst die centuria praerogativa, dann die iuniores der ersten Klasse, anschließend die seniores, und danach noch die zwölf weniger vornehmen Ritterzenturien. Nachdem der Wahlleiter das Abstimmungsergebnis der sechs suffragia verkündigt hatte, rief er die zweite Klasse, deren Zenturien inzwischen das Los kombiniert hatte, in die Pferche. Danach stimmte die dritte Klasse, dann die vierte und die fünfte, schließlich drei Handwerkerzenturien und die proletarii.22 Eine Reform des Verfahrens führte möglicherweise dazu, dass die Zenturien ab der dritten Klasse nicht nach einer fixen Reihenfolge abstimmten, sondern in einer jeweils durchs Los ermittelten Ordnung.23 Bereits die Aufstellung der Bürger war zeitaufwendig; die Einführung der geheimen Abstimmung machte das Verfahren vollends langwierig, insbesondere bei Wahlen. In der späten Republik dauerten Wahlen in den Centuriatcomitien mindestens fünf Stunden, wenn es besonders schnell ging, in der Regel also erheblich länger. Da die Zenturien der unteren Klassen beträchtlich mehr Bürger enthielten als diejenigen der oberen Klassen, dauerte hier das Auszählen länger. Der Wahlleiter brach die Abstimmung ab, sobald genügend Kandidaten die Stimmen von 97 Zenturien erreicht hatten. Bei hoher Einmütigkeit reichte es aus, zu den 71 Zenturien der ersten drei Durchgänge und den 18 ritterlichen Zenturien noch acht Zenturien von der zweiten Klasse hinzuzugewinnen. Folglich stimmte die gesamte zweite Klasse in jedem Falle ab. Je geringer die Einmütigkeit, desto später stellten sich die erforderlichen Mehrheiten ein und desto mehr Stimmklassen wurden in die Pferche gerufen. Diese Abläufe sind mit einer Ordnungssymbolik gekoppelt, welche die hierarchischen Abstände betont. Die Zenturienordnung unterteilte den Bürgerverband entlang sozialer Trennungslinien in scharf voneinander abgegrenzte Stimmeinheiten. Die einzelnen Bürger bekamen in der Choreographie des gesamten Abstimmungsvorganges ihren Platz in der römischen politischen Ordnung vorgeführt. Diese stellte sich als ein imaginäres Ganzes in doppelter Hinsicht dar: einerseits in der Reihenfolge aller Stimmklassen insgesamt, anderseits vermittels der ersten Klasse als einer symbolischen Abbreviatur des Gesamtvolkes. Auffällig ist der privilegierte Status der ersten Klasse: ihre Zenturienzahl entsprach genau den 35 Tribus der römischen Bürgerschaft, alle anderen Stimmklassen hatten eine Zenturienzahl, die nicht an die Tribusordnung des römischen Volkes gekoppelt war. Die erste Klasse symbolisierte somit idealiter die römische Bürgerschaft als Gesamtverband. 170
Die Comitien als Konsensorgan
Sinnfälligerweise loste man aus ihr die centuria praerogativa aus; und nicht zufällig kam ihr das Ehrenrecht zu, an vorderster Stelle abzustimmen. Die Reihenfolge des Abstimmens ist mit der politischen Hierarchie auf eine ganz besondere Weise korreliert: Nach der centuria praerogativa stimmten zuerst die iuniores, danach die seniores der ersten Klasse. Die Reihenfolge des Abstimmens richtet sich also nach der Stufenfolge der sozialen Hierarchie in aufsteigender Linie, und zwar in vier Schritten: denn es folgten die zwölf geringeren Ritterzenturien; und erst danach kamen die sechs suffragia, welche die Spitze der sozialen und politischen Pyramide der römischen Bürgerschaft darstellten. Von den sechs suffragia an richtete sich die Reihenfolge des Abstimmens zwar immer noch nach der Stufenfolge der sozialen Hierarchie, nun aber in absteigender Linie: nach den vornehmsten Zenturien der Bürgerschaft stimmte zunächst die zweite Klasse, dann sukzessive die anderen Klassen. Dadurch rückten die vornehmsten Zenturien in die ideelle Mitte des gesamten Abstimmungsvorgangs, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Abstimmung bis dahin erheblich schneller ging als danach. Falls nach der zweiten Klasse die Sequenz nicht mehr fixiert war, sondern per Los jeweils ermittelt wurde, entstand ein scharfer szenographischer Gegensatz zwischen dem fixierten ›Oben‹ und dem fluktuierenden ›Unten‹. Die strikte Reihenfolge der Stimmabgabe ›oben‹ kontrastierte mit der okkasionellen Reihenfolge ›unten‹. Zwar blieben die Einteilungen im unteren sozialen Bereich genauso rigoros wie im oberen, aber die distinguierenden Trennlinien wurden in der Inszenierung nicht mehr sichtbar. Die unteren Zensusklassen bekamen eine doppelte Benachteiligung zu spüren: ihre individuelle Stimme zählte verhältnismäßig wenig, und obendrein riskierten sie jedes Mal, dass der Wahlleiter sie überhaupt nicht in die Pferche rief – besonders dann, wenn der Konsens bei den begüterteren Schichten hoch war. Der Grad der aktiven Partizipation an den wichtigsten Personalentscheidungen der römischen Republik hing für die unteren Zensusklassen davon ab, wie uneinig die sozial besser situierten Zenturien waren, wie wenig es gelungen war, deren Optionen zu bündeln. Nach einer solchen Abstimmung ging nicht selten ein Großteil der Bürger wieder nach Hause, ohne die Chance gehabt zu haben, ihre Stimme abzugeben. Warum fanden sich diese Römer trotzdem zu den Centuriatcomitien ein? Sozial weit oben situierte Bürger standen in engeren Nahverhältnissen zu bestimmten Senatoren und profitierten, wenn diese aufstiegen und ihren Einfluss erweiterten; sie hatten also ein starkes Inte171
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resse, gerade bei Wahlen zu erscheinen. In den mittleren Zensusklassen mochten die Wähler sich den Sub-Patronen, zu denen sie eine direkte soziale Beziehung unterhielten, gefällig zeigen; da diese Sub-Patrone sich für bestimmte Kandidaten engagierten, fiel es wenig informierten Wählern leichter, ihre Wahl zu treffen. Doch für die ärmsten Bürger, deren Stimme in dieser gestaffelten Zenturienordnung wenig zählte und die so manche Male gar nicht die Stimmpferche betraten, scheiden solche Motive aus. Für ihr zeitraubendes Engagement hatten sie einen anderen Grund: Sie bekundeten mit ihrer Präsenz, dass sie keine Sklaven und keine Fremden waren, sondern römische Bürger. Ihre Anwesenheit war eine Statusdemonstration besonderer Art; sie demonstrierten ihre rein politische Eigenschaft, dem römischen Bürgerverband zuzugehören.24 Bei ihnen überwog die Symbolik der Zugehörigkeit erheblich die instrumentelle Funktion des Wählens und Abstimmens. Indem man – ab einem uns unbekannten Zeitpunkt – die Reihenfolge des Abstimmens nach der zweiten Klasse erlost zu haben scheint, erhöhte sich die Chance für die untersten Zenturien, ihre Stimme abzugeben. Das verstärkte die Bereitschaft der betreffenden Bürger, zur Abstimmung zu kommen. Bei den Bürgern der dritten Klasse sank sie dementsprechend. Dieser Anreiz für die unteren Zensusklassen könnte schon ab dem 2. Jh. v. Chr. wichtig geworden sein. Denn die Motivation, Gemeinschaftlichkeit und politische Zusammengehörigkeit rituell zu erleben, ist keine konstante Größe. Wenn ein Ritual auf schroffe Weise den ärmeren Bürgern vor Augen führte, wo ihr sozialer Platz und wie einflusslos ihr Wille war, dann musste sich diese Motivation verändern, sobald lohnende Alternativen auftauchten. Die Häufigkeit der ›Spiele‹ nahm zu Beginn des zweiten Jahrhunderts außerordentlich zu; und die ludischen Veranstaltungen boten gemeinschaftssymbolische Erfahrungen in intensiverer und zugleich weniger diskriminierender Form. Erhöhte man die Chance, dass die Zenturien der unteren Klassen dazu kamen, ihre Stimme abzugeben, wirkte man einer Verlagerung der politischen Präsenz derselben entgegen. Die Gemeinschaftssymbolik der Centuriatcomitien allein erklärt somit nicht, warum und wie lange die benachteiligteren Schichten der römischen Bürgerschaft diese Symbolik annahmen. Erst der Kontext, in dem die Comitien als Konsensritual standen, gibt uns darüber Aufschlüsse. Welche Rückwirkungen hatte dieses Ensemble von Praktiken auf die Willensbildung in den Centuriatcomitien? Sukzessive verkündete der Wahlleiter die Ergebnisse der Auszählung; freilich teilte er lediglich die von der jeweiligen Zenturie gewählten Kandidaten mit, keineswegs die jeweils erreichte Stimmenzahl. Diese Verkündigungen waren bei Wah172
Die Comitien als Konsensorgan
len wichtig, weil man sicher stellen wollte, dass genügend Kandidaten die absolute Mehrheit der Zenturien erreichten.25 Der Wahlleiter verkündigte lediglich die Namen derjenigen Kandidaten, die innerhalb einer Zenturie relativ die meisten Stimmen erhalten hatten; die Reihenfolge der Namen richtete sich nach der erreichten Stimmenzahl, die Anzahl der Namen nach den zu besetzenden Stellen. Es war der Verkündigung nicht zu entnehmen, wie knapp der Abstand zwischen den ausgerufenen Kandidaten und wie stark die Stimmenzahl der ungenannten Kandidaten war. Diese sukzessive Verkündigung erfüllte somit eine genau angebbare Funktion. Sie beeinflusste die Wähler des folgenden Stimmblocks dahingehend, dass diese ihre Stimmen nicht Kandidaten gaben, die ohne Chance schienen. Das wirkte der Streuung der Stimmen entgegen und vereinheitlichte die Optionen. Tatsächlich führte das dazu, dass die Abstimmung in der ersten Klasse ein überdimensioniertes Gewicht erhielt. Paul Veyne hat darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten römischen Bürger mit sehr geringen Präferenzen zu den Wahlen erschienen und hat aus diesem Umstand umfassende Schlüsse gezogen. Geringe Präferenzen zu haben – also wenig, kaum oder gar nicht festgelegt zu sein – heißt nicht zuletzt, noch im letzten Moment beeinflussbar zu sein. Aus diesem Sachverhalt hat Veyne die Funktion der centuria praerogativa erklärt. Bei den Ritterzenturien ist es wahrscheinlich, hohe Präferenzen anzunehmen. Aber diese stimmten ja nach der ersten Klasse. Wie also die römischen Bürger der ersten Klasse ohne Vorlieben dazu bringen, ihre Stimme einem bestimmten Kandidaten zu geben? Am besten, indem man ihrer Stimmabgabe eine Art ›Vorbild‹ gab, an dem sie sich orientieren konnten. Die aristokratischen Zenturien konnten nicht als ›Vorbild‹ fungieren, denn sie stimmten nicht an erster Stelle. Man ermittelte eine Zenturie aus der ersten Klasse durchs Los, damit sie an erster Stelle stimmte. Der Wahlleiter verkündete das Votum dieser centuria praerogativa, bevor er die anderen Zenturien der ersten Klasse in die Pferche rief; diese sollten sich daran orientieren. Das nächste Ergebnis verkündete er erst, nachdem die gesamte erste Klasse mit Einschluss der zwölf geringeren Ritterzenturien abgestimmt hatte und ihre Stimmen ausgezählt waren. Es darf nicht verwundern, dass der Wahlausgang sehr häufig vom Votum der centuria praerogativa vorweggenommen wurde. Die quasi-religiöse Qualität, die man in diesem Votum vermutete, erklärt sich eben aus seiner Wirksamkeit. Indes, wie Veyne betont, ist diese Wirksamkeit eine direkte Folge der schwachen Präferenzen bei den meisten nichtaristokratischen römischen Wählern.26 173
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Aber wie bildete die centuria praerogativa ihre Präferenzen? Nach Martin Jehne gaben entschlossene Wähler, solche mit deutlicher Präferenz, den Ausschlag in diesem Stimmkörper, falls sie bei ihren Tribulen Ansehen genossen. Den Leuten blieb viel Zeit, um sich in ihrer Zenturie noch vor der Stimmabgabe zu unterhalten. Die Konsequenz war, dass die Kandidaten sich um alle 35 Tribus gleichermaßen bemühen mussten; denn keiner konnte vorhersehen, auf welche Tribus das Los fiel, wenn die centuria praerogativa zu ermitteln war. Außerdem mussten sich die Kandidaten um besondere Bindungen zur ersten Klasse bemühen. Aus ihr wurde die centuria praerogativa gelost, und sie nahm den privilegiertesten Platz bei den Wahlen ein. In welchem Verhältnis stehen Reihenfolge des Abstimmens und soziale Autorität? Nach Christian Meier hat diese Reihenfolge ihren Zweck darin, dass die nachfolgenden Stimmblöcke sich am Votum des vorangehenden orientierten; dies taten sie, weil den Oberschichten in der römischen Gesellschaft eine hohe soziale Autorität zukam. Doch warum stimmte dann die Spitze der römischen Gesellschaft, nämlich die sechs vornehmsten suffragia, erst an vierter Stelle? Nach Meier waren die Wähler der ritterlichen Zenturien – durch Verwandtschaft und Patronage-Beziehungen – viel enger an einzelne Kandidaten gebunden als die Wähler der anderen Klassen. Da diese Wähler ihre Optionen sehr intensiv vertraten, waren sie weit weniger beeinflussbar, und das musste bei scharfer Konkurrenz zwischen den Kandidaten dazu führen, dass die ritterlichen Zenturien mit hoher Sicherheit ganz unterschiedlichen Kandidaten ihre Stimme gaben.27 Das heißt, die Stimmen wurden gestreut und es wurden mehr Kandidaten ausgerufen, als Stellen zu besetzen waren. Trat dieser Fall ein, riskierte man, dass die erste Klasse ebenfalls ihre Stimmen streute. In diesem Falle dauerte es lange, bis endlich Mehrheiten erreicht wurden, und es war ungewiss, ob eine genügende Kandidatenzahl die Mehrheit überhaupt erreichte. Indem man eine Zenturie ausloste, die vor allen anderen abstimmte, umging man diese Gefahr. Diese Erklärung gilt auch für die Platzierung der sechs vornehmsten Zenturien an die vierte Stelle. Hier mag noch eine gruppendynamische Erwägung von Bedeutung gewesen sein: Hätten diese Zenturien an erster Stelle gestimmt, dann hätte sich die außerordentlich hohe Präferenz der einzelnen Senatoren gekreuzt mit dem Willen, unbedingt allen nachfolgenden Zenturien die Leitlinien vorzugeben. Das hätte die Atmosphäre unter diesen wenigen Personen aufgeheizt bis zur Unerträglichkeit. Man entlastete die Senatoren von einem sehr hohen Druck, indem man, bevor sie an die Reihe kamen, das Abstimmungsergebnis von 83 Zenturien verkündete und so ihre Optionen drastisch reduzierte. 174
Verweigerte Zustimmung
Verweigerte Zustimmung und Intensität der Präferenzen Die Comitien waren ein Konsensorgan, ihr Verlauf ein Konsensritual. Das lässt sich bei hinreichender Quellendichte empirisch bestätigen oder widerlegen; man hat zu prüfen, wie es konkret zuging, wenn die römische Volksversammlung einen Antrag (rogatio) ablehnte. Gerade Ablehnungen besitzen hohe Aussagekraft: Sie bekunden das Kräfteverhältnis zwischen der herrschenden Klasse und den Beherrschten; sie geben Aufschluss über die Gehorsamsmodalität; sie machen die markanten Züge derjenigen Institution sichtbar, in welcher die Bürger ihre formalisierte Zustimmung zur Politik der Herrschenden aussprechen. Rituale können freilich versagen. Und dabei erhellen sich blitzlichtartig ihre Komponenten und ihre Dynamik. Indem diese ›Ausnahmen‹ eine regelhafte Serie durchbrechen, kollidieren sie mit den Erwartungen der Akteure, verstören diese und erschüttern ihre Gewissheiten. Die Beteiligten sind gezwungen, den Störfall als etwas Außerordentliches anzusehen, ihm einen semantischen Stellenwert zu geben und auf ihn praktisch zu reagieren. Kurz: solche ›Ausnahmen‹ werden zum ›Ereignis‹. Solche Ereignisse können zu Wendepunkten werden, ab denen eine Institution anders funktioniert als zuvor. Insgesamt sind meines Wissens nur zehn gescheiterte Anträge überliefert: 1. der Antrag eines Volkstribuns, die römische Bürgerschaft umzusiedeln; 2. ein weiterer solcher Antrag; 3. der tribunizische Antrag um 368 v. Chr. über die Wahl eines plebejischen Consuls; 4. der tribunizische Antrag zur Bestrafung der verbündeten Tusculanen 323 v. Chr.; 5. der tribunizische Antrag um 209 v. Chr., dem Marcellus das Imperium in Sizilien zu entziehen; 6. der konsularische Antrag 200 v. Chr., Makedonien den Krieg zu erklären; 7. der Antrag des Volkstribuns L. Scribonius Libo 149 v. Chr., ein außerordentliches Gericht gegen Ser. Sulpicius Galba einzusetzen; 8. der Antrag des L. Crassus 145 v. Chr., die Priesterkollegien durchs Volk wählen zu lassen; 9. der Antrag des Volkstribuns Papirius Carbo 131 oder 130 v. Chr., den Tribunen die Wiederwahl zu gestatten; 175
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10. der Antrag auf ein Ackergesetz des Tribuns Marcius Philippus von 104 v. Chr.28 Neun von diesen erfolglosen rogationes brachten Volkstribunen ein, eine ein Consul. Vier Fälle aus der Liste fallen ins vierte Jahrhundert; daher sind sie überlieferungsgeschichtlich unsicher, und sie berühren nicht die Fähigkeit der Volksversammlung, normative Regelungen für die gesamte Res publica zu treffen, denn erst seit der Lex Hortensia 287 v. Chr. erhielten die Beschlüsse des concilium plebis die Geltung von Volksgesetzen. Es bleiben für die mittlere und späte Republik nur sechs gescheiterte Anträge übrig, fünf tribunizische und ein konsularischer. Aber wie viele davon kamen überhaupt zur Abstimmung? Der genaue Wortlaut des Berichtes bei Cicero lässt keinen Zweifel daran, dass Marcius Philippus 104 v. Chr. seine rogatio zurückzog, als er den Widerstand der Aristokratie zu spüren bekam. Ebenso behauptet der Wortlaut der Quelle, dass 145 und 131 v. Chr. jeweils eine konsularische Rede auf der contio vor der Abstimmung es schaffte, die Bürger gegen die betreffende rogatio einzunehmen. Also war die ablehnende Haltung der Bürger schon während der Reden vernehmbar. Folglich kamen auch diese Anträge gar nicht vor die Comitien. Es bleiben drei Fälle. Die Umstände lassen daran zweifeln, ob jene rogatio von 209, dem Marcellus das Kommando nicht zu verlängern, vor die Tributcomitien kam, obwohl der Wortlaut der Quelle dafür spricht. Unbestritten wurden die rogationes von 200 v. Chr. und von 149 v. Chr. in einer Abstimmung von den Comitien abgelehnt. Ein flüchtiger Blick auf die Serie der sechs Fälle bestätigt, dass Volkstribunen darauf verzichteten, die Comitien einzuberufen, sobald sie bei den contiones bemerkten, dass der Widerstand zu groß war. Angenommen, das Volk begann während der contiones, gegen den Antrag zu opponieren. Dann riskierten die betreffenden Tribunen, dass die Bürger die rogatio niederstimmten. Um eine solche Niederlage zu vermeiden, zogen die Antragsteller ihre Vorlage zurück. Freilich nahmen sie damit dem Volk die Möglichkeit, seinen Willen innerhalb des institutionellen Rahmens der Comitien auszudrücken. Anders verhielt es sich, falls die Tribunen vor einem Druck zurückwichen, den nicht das Volk ausübte, sondern starke Gruppierungen der senatorischen Oligarchie. Hier ist das Dilemma noch handgreiflicher: Das Volk kam nicht dazu, seinen Willen per Abstimmung kundzutun, obwohl es vielleicht den Antrag begrüßte. Jedenfalls reagierten die Antragsteller bei beiden Varianten auf einen starken Willen, der ihnen entgegenstand. Gewiss passierte das viel häufiger, als uns die Quellen sagen. 176
Verweigerte Zustimmung
Nun zum Kräfteverhältnis, das zwischen der Senatorenschaft und dem Volk bestand oder sich verschob, wenn beide innerhalb des institutionellen Rahmens der Comitien agierten. Befragen wir zuerst jene Beispiele, in denen die Comitien Anträge guthießen, obwohl der maßgebliche Teil der Senatoren sich dagegen stemmte. Anschließend sind die Abläufe genauer zu besehen, wenn eine rogatio scheiterte oder zu scheitern drohte, obschon die Aristokratie den Antrag fast geschlossen befürwortete. Beides ereignete sich, wie der Quellenbefund beweist, selten. Aber in solchen zugespitzten Situationen treten die kardinalen Faktoren und das Kräfteverhältnis zwischen ihnen deutlicher zutage als im Normalfall. Wie konnte es dazu kommen, dass die römischen Bürger einem Antrag zustimmten, dem die Mehrheit der Senatoren sich widersetzte? Wenn die herrschende Klasse unter sich keinen Konsens herzustellen vermochte und es nicht schaffte, den ausscherenden Tribun und dessen Freunde in die Reihen der Aristokratie zurückzunötigen, eröffneten sich nicht vorhergesehene Spielräume. Das geschah 133 v. Chr. anlässlich des Ackergesetzes von Tiberius Gracchus. Ein schmaler, sehr reicher Teil der Nobilität unterstützte die Initiative, weil er von der massenhaften Enteignung der italischen Kleinbauern politische Folgeprobleme befürchtete. Doch gegen die starke Senatsmehrheit war nichts auszurichten. Tiberius unterbreitete seine Initiative nicht – wie es Brauch war – zunächst dem Senat, sondern brachte den Antrag geradewegs vors Volk. Als Octavius, einer der neun Kollegen des Antragstellers, sein Veto (intercessio) gegen die rogatio einlegte, rief Tiberius Gracchus das Volk dazu auf, den interzedierenden Kollegen abzuwählen. Das war noch nie geschehen. Gegen den ausdrücklichen und hart verfochtenen Willen der Senatsmehrheit wählten die Bürger den volksfeindlichen Tribun ab. Und danach stimmten sie für das Ackergesetz, wiederum gegen vehementesten aristokratischen Widerstand. Offensichtlich setzte das römische Volk in diesem Fall seinen Willen durch, und zwar in den Comitien. Wie ist dieses Vermögen zu erklären? Denn im Jahre 133 v. Chr. stimmten die Bürger über Gesetzesvorlagen noch nicht geheim ab. Sie gingen einzeln und nacheinander über eine Brücke, auf der ein rogator – ein Befrager – stand, und gaben mit lauter Stimme ihr Votum ab. Auf den Brücken, die breit genug waren, standen berühmte Senatoren und kontrollierten, ob die Bürger richtig abstimmten; als Patrone konnten sie ihre Klienten direkt beeinflussen. Die übergroße Mehrheit der Patrone widersetzte sich dem Ackergesetz und auch der Abwahl des Volkstribuns; gewiss suchten sie ihre Klienten lautstark und eindringlich zu beeinflussen. Wie konnte es also pas177
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sieren, dass die römischen Bürger 133 v. Chr. mit so überwältigender Zustimmung die Gesetze des Tiberius durchbrachten? Zwei Erklärungen bieten sich an: Erstens die Lockerung der Klientelbeziehungen, zweitens die Intensität des Volkswillens in speziellen Sachfragen. Prüfen wir beide: Die erste Erklärung lautet: ›Hätte die Klientel im Jahre 133 v. Chr. noch zuverlässig funktioniert, dann hätten die abstimmenden Bürger wohl kaum gewagt, ihren Willen auszudrücken.‹ Daraus wäre zu folgern: ›Da die Kontrolle der Stimmabgabe durch die Patrone versagte, war entweder eine große Menge von Bürgern nach Rom geströmt, die sich außerhalb aller intensiven Bindung an einen Patron befanden, die also mit klientelären Mitteln gar nicht mehr zu beeinflussen waren, oder aber die römische Klientel hatte sich im Laufe des zweiten Jahrhunderts generell gelockert; die Patrone schützten nur noch bedingt ihre Klienten und die Klienten fühlten sich ihren Patronen wenig, kaum oder überhaupt nicht mehr verpflichtet.‹ Diese These trifft sicher etwas Richtiges; denn die klientelären Beziehungen müssen sich vor allem auf dem Lande erheblich verändert haben; dort schritt die Bildung von Großgrundbesitz rasch voran und dort hatte eine erhebliche Quote der italischen Bauern bereits ihr Land verloren. Indes, wenn die Klientelbindung faktisch breitenwirksam ausgedünnt war, dann sind viele Phänomene der späten Republik nicht mehr verständlich. Die zweite Erklärung nimmt die Stärke der Präferenzen ins Auge: ›Die römische Plebs gehorchte der Kontrolle ihrer Patrone, solange sie über Materien abstimmte, bei denen sie geteilter Meinung war oder keine starke Präferenz hatte. Sobald die Bürgerschaft sich aber intensiv für eine Sachfrage engagierte, begannen die Bürger, sich über den Willen der Patrone hinwegzusetzen; sie missachteten dann deren Versuche, Einfluss auf ihre Stimmabgabe auszuüben. Bei sehr starker Präferenz ging die Plebs bereits mit dem festen Willen in die Stimmpferche, die Kontrolle der Patrone zu durchbrechen.‹ Diese These hat mehrere Vorteile: Erstens beruht sie auf einer strukturellen Gegebenheit, die nicht an historische Phasen gebunden war, sondern sich aus einer dauerhaften Konstellation zwischen den sozialen Gruppen ergab; denn die Plebs manifestierte im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ihre Widerspenstigkeit. Zweitens lässt diese These hohe Varianzen im Abstimmungsverhalten der Bürgerschaft zu. Die römische Plebs verhielt sich unterschiedlich, je nachdem, worum es ging: Bei Personalfragen und den meisten Sachfragen engagierte sie sich kaum oder nicht nachhaltig; dann war sie leicht beeinflussbar, da sie der Meinung der führenden Aristokraten vertraute. 178
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Wenn die Plebs sich jedoch für eine rogatio einsetzte, mussten die maßgeblichen senatorischen Gruppierungen sich überlegen, wie stark und wie lange sie sich dem Volkswillen entgegenstellten. Falls der Senat als Ganzes opponierte, drohte sich ein Graben zwischen Volk und Aristokratie zu öffnen. Je weiter dieser Graben aufriss, desto solidarischer hielt die Plebs zusammen. Diese Polarisierung hieß: Einerseits wurde die Plebs insgesamt für aristokratische Argumente und Gesten immer unzugänglicher; im äußersten Falle reagierte sie darauf feindselig; anderseits vermochten die Patrone ihre Sanktionsmechanismen nicht mehr exemplarisch gegen Klienten einzusetzen. Roms Aristokraten mussten dann ohnmächtig zusehen, wie ein überwältigender Teil ihrer eigenen Klientel politisch gegen die Meinung der Herrschenden entschied, in einer offenen Abstimmung. Weitere Machtmittel einzusetzen brachte das Risiko mit sich, dass die senatorische Herrschaft sich diskreditierte. Damit streifen wir den Zusammenhang von Popularität und persönlicher Autorität. Wenn sich die Plebs festgelegt hatte und sich untrüglich im Recht glaubte und wenn solidarische Entschlossenheit sie ergriff, dann gerieten opponierende Senatoren in eine missliche Lage; ihr Ansehen litt. Wer sich nun weiter exponierte, kam leicht in Verruf, ein Gegner des Volkes zu sein. Allen Senatoren war klar, dass viele unter ihnen bei den nächsten Wahlen sich als Konkurrenten gegenüberstanden. Und dann schlug es zum Nachteil aus, sich als offener Feind eines gerechten Anliegens des römischen Volkes exponiert zu haben. Ohne eine gewisse Popularität wurde niemand in die nächsthöheren Ämter gewählt; ja noch mehr: ohne eine gewisse Popularität der Senatoren war Rom überhaupt nicht regierbar. Denn die Popularität war verknüpft mit der persönlichen Autorität, die Senatoren ausübten. Die römischen Bürger akzeptierten nun einmal keine rein institutionelle, entpersönlichte Beziehung zwischen ihnen und der herrschenden Klasse. Sie personalisierten nicht nur die Politik. Sie personalisierten auch die Beziehungen zu den Herrschaftsträgern, soweit die institutionellen Rahmenbedingungen dies zuließen. Popularitätsverlust war immer zugleich Autoritätsverlust.29 Hatte sich ein Magistrat unbeliebt gemacht, wurden beispielsweise die contiones, zu denen er einlud, schlecht besucht. Schlimmer war es, wenn man ihn bei den Spielen auspfiff. Und falls ihn das Volk niederschrie, wenn er eine Rede hielt, war er als Träger römischer Amtsgewalt disqualifiziert – und zwar nicht nur in den Augen des Volkes, sondern, falls der Zustand andauerte, auch in den Augen seiner Standesgenossen. Ein krasses Exempel dafür bietet Caesars Kollege im Konsulat, 179
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Bibulus; er brachte das Volk gegen sich auf, als er gegen die von Caesar eingebrachte Vorlage eines Ackergesetzes auftrat und – von diesem befragt, warum er gegen das Gesetz sei – barsch erklärte, das Volk werde dieses Gesetz auf keinen Fall bekommen, selbst wenn alle es wollten. Bibulus konnte während seines gesamten Amtsjahres keine öffentliche Funktion mehr ausüben; er wagte es nicht mehr, das Haus zu verlassen.30 Caesar brauchte keinen Finger zu rühren, um ihn in dieser erbärmlichen Situation zu halten. Das besorgten die Bürger Roms. Zurück zur Abstimmung von 133 v. Chr. Es ist nun deutlich geworden, warum die Senatoren es nicht fertig brachten, die Beschlussfassung zu stoppen. Hatte die Feindseligkeit eine bestimmte Schwelle erreicht, verging auch den hartnäckigsten Senatoren die Lust, sich auf die Stimmbrücken zu stellen und ihre Klienten zur klientelären Gefälligkeit aufzufordern. Insistieren brachte nur unnötigen Autoritätsverlust, vor aller Augen. Wollten sie ihn nicht erleiden, mussten sie die Beeinflussung aufgeben und sich aus dem Gelände der Abstimmung zurückziehen. Der einzige gangbare Weg, der noch offen stand, war der, den ausscherenden Antragsteller in den aristokratischen Konsens zurückzuholen. Ließ er sich einbinden, dann war das Volk machtlos, weil es nicht abstimmen konnte, wenn man ihm keine rogatio vorlegte. Die Intensität des Volkswillens wurde – bei bestimmten Sachfragen – zum politischen Problem. Darum war den Senatoren daran gelegen, diese Intensität der Präferenz festzustellen und gegebenenfalls auch zu verändern. Der institutionelle Rahmen der vom Adel dominierten Republik sah dafür einen konkreten Ort vor, das waren die contiones. Doch zunächst sind die abgelehnten Anträge zu besehen.
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Abgelehnte Anträge und senatorischer Gesamtwille
9. Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
Abgelehnte Anträge und senatorischer Gesamtwille Lehnte das Volk Anträge ab, obwohl die Senatsmehrheit sie befürwortete? Nur zwei Vorkommnisse dieser Art sind überliefert, 200 v. Chr. und 167 v. Chr. Ein apartes Ereignis 61 v. Chr. reiht sich ein und hilft, die Komponenten und Kräfteverhältnisse zu klären. Der abgelehnte Antrag 200 v. Chr. Ein einziges Mal in der römischen Geschichte verwarf die Volksversammlung den Antrag eines Magistrats. Der Senat beschloss 200 v. Chr., gegen König Philipp V. von Makedonien Krieg zu führen. Der Consul Sulpicius Galba brachte den Antrag vor das Volk. Da geschah etwas Unerhörtes, worüber uns Livius berichtet: »Der Antrag über den makedonischen Krieg wurde bei der ersten Abstimmung von fast allen Zenturien abgelehnt. Das hatten die Menschen, weil sie durch die Länge und die Schwere des Krieges ermattet waren, aus Überdruss vor den Gefahren und Mühen von sich aus getan; dazu hatte auch noch der Volkstribun Q. Baebius den alten Weg beschritten, die Senatoren zu beschuldigen, und den Vorwurf erhoben, man reihe Kriege an Kriege, damit das Volk nie den Frieden genießen könne. Die Senatoren waren hierüber aufgebracht, und der Volkstribun wurde im Senat mit Vorwürfen überschüttet, und jeder bat für seine Person den Consul, eine neue Abstimmung zur Entscheidung über seinen Antrag anzusetzen und mit der Gleichgültigkeit des Volkes ins Gericht zu gehen und ihm klarzumachen, welchen Schaden und welche Schande solcher Aufschub des Krieges bringe. Der Consul berief die Comitien aufs Marsfeld ein, doch bevor er die Zenturien zur Abstimmung schickte, hielt er eine contio ab, vor welcher er eine Rede hielt.«
Dem livianischen Bericht zufolge hielt die herrschende Klasse geschlossen am Senatsbeschluss fest. Der ausscherende Volkstribun stand allein. Er hatte sich verrechnet. Denn es kostete die Senatoren keine sonderliche Mühe, ihn so unter Druck zu setzen, dass er stillhielt. Indes, wie bekam man die Zustimmung vom Volk, welches vom Krieg gegen Hannibal erschöpft war? 181
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
Die Oligarchie wurde gewahr, dass sie die Abstimmung schlecht vorbereitet hatte; vermutlich hatten zu wenig oder keine Senatoren auf den Brücken gestanden, um die Stimmabgabe zu kontrollieren. Anderseits brachte es geringen Nutzen, auf die abstimmenden Bürger klientelären Druck auszuüben. Falls sie halbherzig oder unwillig zustimmten, war abzusehen, dass es bei den Aushebungen zu Reibereien, Widersetzlichkeiten, eventuell sogar zum Widerstand ganzer Gruppen kam, wobei dann mit Sicherheit die Volkstribunen aktiv wurden und der Consul nur mit Mühe sein Heer zusammenbrachte. Es galt, die Bürger zu überzeugen, denn eben sie – zusammen mit anderen, welche den Weg nach Rom zur Abstimmung nicht gemacht hatten – sollten den Krieg tragen und als Soldaten ihr Bestes geben. Wenn die römische Oligarchie einen politischen Fehler korrigierte, dann tat sie das in der Regel in drei Schritten: Zuallererst stellte sie in den eigenen Reihen den Konsens her, nötigenfalls mit Pressionen gegen die Abweichler. Danach demonstrierte sie senatorische Geschlossenheit in der direkten Kommunikation mit dem Volk; dazu reichte schon die geballte Präsenz der ranghöchsten Senatoren auf der Tribüne bei den contiones und bei der Abstimmung; nötigenfalls nahmen die Senatoren als Patrone schnellen und direkten Einfluss auf die soziale Spitze ihrer Klientelpyramiden. Schließlich versuchte die Oligarchie, dem Volk zweierlei klarzumachen: erstens, dass es eine falsche Meinung vertrat, was sich sowohl an exempla aufzeigen ließ als auch an einer genaueren Erörterung der politischen Lage, und zweitens, dass die Senatoren diese Angelegenheit sehr wichtig nahmen und dabei das Interesse des Volkes und der gesamten Res publica im Auge hatten. Dabei glitt der Ton vom sachlichen Argumentieren über ein paternalistisches und fürsorglichen Bitten bis zur autoritären Aufforderung, je nachdem, wie die Redner die Stimmung einschätzten. Die anschließende Rede, so sehr sie auch fingiert sein mag, beleuchtet, was dem Volk zugemutet werden durfte. Der Consul unterstrich, dass der Krieg sowieso kommen werde, die römischen Bürger sich nur im Klaren darüber sein sollten, ob sie ihn auf dem Balkan oder in Italien führen wollten. Er spielte somit den Vorsprung an politischem Wissen gegen das Volk aus; und der war in außenpolitischen Fragen riesig. Ob die Zuhörer sich nun überzeugen ließen oder nicht, hing weniger von ihrer Einsicht in die Sachlage ab, als vielmehr davon, ob sie dem Consul – und der gesamten Oligarchie – glaubten oder nicht glaubten. Dem Consul zu glauben hieß, seinen Antrag befürworten zu müssen. Das kam diese Leute hart an, zwei Jahre nach dem Ende des schwersten Krieges, den Rom jemals überstanden hatte. Sie wählten 182
Abgelehnte Anträge und senatorischer Gesamtwille
zwischen zwei Übeln das geringere, vorausgesetzt, sie machten diese Deutung der politischen Lage zur ihrigen. Damit langen wir beim Kern eines strukturellen Sachverhalts an: Wie die römische Bürgerschaft sich verhielt, hing letzten Endes daran, in welchem Maße sie politisches Vertrauen hatte; zustimmen hieß, der herrschenden Klasse als Gesamtheit das Vertrauen auszusprechen und den Konsens, den diese beim Volk suchte, zu bestätigen und zu bekräftigen. Der Consul schloss seine Rede mit der Aufforderung: »Schreitet zur Abstimmung mit dem Beistand der Götter und beschließt, was die Senatoren für gut befunden haben!«1 Und er bekam die Zustimmung. Der beinahe abgelehnte Antrag 167 v. Chr. Im Jahre 167 drohte eine tribunizische rogatio zu scheitern. Aemilius Paullus kehrte als siegreicher Feldherr im Krieg über König Perseus von Makedonien heim; der Senat beschloss, dass er einen Triumph feiern durfte; ein Volkstribun sollte den Antrag vor die Volksversammlung bringen. Nun war dieser Imperator bei seinen Soldaten nicht beliebt. Er hatte ihre Erwartungen enttäuscht, die Strapazen gelegentlich grundlos erhöht, mit Ehrungen und Auszeichnungen gegeizt, seine feldherrliche Autorität barsch hervorgekehrt. Doch jetzt sollten sie zur Abstimmung kommen, um den Triumph zu bewilligen. Viele waren unwillig und beabsichtigten, nicht an den Comitien teilzunehmen. Bei der contio am Tag vor der Abstimmung hielt aber ein junger Patrizier, der als Militärtribun den Feldzug mitgemacht hatte, eine Rede und forderte die Soldaten auf, doch zahlreich zu erscheinen; aber nicht, um mit ›Ja‹ zu stimmen, sondern um den Antrag zu Fall zu bringen.2 Eine Sache war es, nicht zu erscheinen und das Stadtvolk zustimmen zu lassen. Eine ganz andere Sache war es, den Antrag niederzustimmen. Am nächsten Tag rief der versammlungsleitende Volkstribun zur Abstimmung auf und erlebte eine Überraschung: eine Tribus nach der anderen stimmte gegen den Triumph des Aemilius Paullus. Daraufhin stürmten die ranghohen Senatoren mitsamt den Consuln auf den Versammlungsplatz; sie drängten den Versammlungsleiter dazu, die Abstimmung abzubrechen und die Comitien an Ort und Stelle in eine contio umzuwandeln. Diese massive Intervention lässt vermuten, dass zumindest ein Teil der Senatoren sich darauf gefasst gemacht hatte, sofort zu handeln. Das ist nicht erstaunlich: die älteren Senatoren erinnerten sich an das Ereignis von 200 v. Chr. Als ihnen am Vorabend zu Ohren kam, dass Galba sich gegen den Antrag ausgesprochen hatte, mussten sie befürchten, dass sich eine Wiederholung anbahnte; und diese auf jeden 183
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
Fall zu unterbinden waren sie eisern entschlossen. Galba hatte diese Senatoren obendrein mit dem Schluss seiner Rede erschreckt: Zwar geschah es bisweilen, dass einzelne Senatoren bei contiones sich gegen den gestellten Antrag aussprachen; doch das taten sie, um Druck auf den Versammlungsleiter auszuüben, den Antrag zurückzuziehen. Etwas Unerhörtes war es hingegen, die Bürger dazu aufzurufen, mit ›Nein‹ zu stimmen. Falls jüngere Senatoren darin zunächst keine Gefahr erblickten, ließen sie sich von den älteren und ranghöheren Standesgenossen in dem Moment überzeugen, als dem Senat gemeldet wurde, welchen Verlauf die Abstimmung zu nehmen drohte. Der Tribun brach die Abstimmung ab, und die Bürger stellten sich neu auf. Inzwischen bearbeiteten die Senatoren, wen sie kannten. Danach kam es zu jener oben behandelten Narbendemonstration des M. Servilius Pulex Geminus.3 Als anschließend erneut abgestimmt wurde, bewilligten alle 35 Tribus den Triumph des Aemilius Paullus. Dieses Beispiel erhellt, wie die Comitien als Institution tatsächlich funktionierten: Die Soldaten des Aemilius Paullus kamen nicht auf die Idee, gegen den Antrag zu stimmen. Wollten sie den Konsens verweigern, dann blieben sie den Comitien fern. Sie waren demnach nicht daran gewöhnt, ihren dissentierenden Willen mit einem ›Nein‹ bei der Abstimmung auszudrücken. Folglich fassten die römischen Bürger die Comitien nicht als den Ort auf, wo sie ihren dissentierenden politischen Willen äußerten, sondern als den Ort, wo sie ihren Konsens auszusprechen hatten. Sie fassten die Comitien als Konsensritual auf.
Konsensorgan oder Entscheidungsorgan? Die Stärke der aristokratischen Präferenz Wenn die Comitien entscheiden, entsteht ein neues politisches System Der aufsässige Militärtribun war 167 v. Chr. drauf und dran, der Abstimmung eine neue Qualität zu geben. Theoretisch konnten die Abstimmenden mit ›Nein‹ antworten, auch wenn sie das nie taten. Diese Ambivalenz aktivierend, fasste Sulpicius Galba die Abstimmung rein instrumentell auf, nämlich als ein Verfahren, in dem die beherrschten Bürger ihren eigenen aktuellen Willen bekunden und sogar durchsetzen konnten. Zwar entsprang sein Vorschlag, mit ›Nein‹ zu stimmen, einem ganz konkreten Anlass; er bezweckte lediglich, dass die Bürger momentan den Gehorsam gegenüber den Erwartungen des Senats suspendierten. Doch wenn sie das nun häufiger und dann immer taten? 184
Die Stärke der aristokratischen Präferenz
Dann veränderte sich die Funktionsweise der römischen Comitien. Eine breite Bresche im Damm der aristokratischen Herrschaft wäre aufgebrochen; deren Struktur hätte sich ruckartig verändert. Einen niedergestimmten Antrag hätten interessierte Gruppen zu einem Präzedenzfall stilisieren können, zu einem exemplum, das den römischen Bürgern gestattete, in den Abstimmungen ihren Willen durchzusetzen – sogar gegen den geschlossenen Widerstand des Senats. Die Bürger hätten gelernt, auch dann Optionen abzulehnen, wenn die Oligarchie sich mit hoher Intensität für sie einsetzte: War es nicht eine politische Ungeheuerlichkeit, dass die Senatoren den Willen des Volkes nicht respektierten, sobald die Abstimmung anders ausfiel als gewünscht? Und eine Zumutung, dass die Senatoren die Plebs zu beeinflussen suchten, falls Dissens sich abzeichnete? Die Oligarchie versuchte ja nicht nur, das Volk sachlich zu überzeugen, sondern neigte dazu, mit beschwörenden Formeln die Plebs dahin zu bringen, ihr das Vertrauen auszusprechen. Dieses Repertoire an Mitteln, die Plebs zum Konsens zu nötigen, wäre immer wirkungsloser und immer lästiger geworden. Wenn die Senatoren bis dahin nicht davor zurückschreckten, eine Abstimmung nötigenfalls abzubrechen, so musste die Plebs darin hinfort einen manifesten Angriff auf die Volksrechte erblicken. Die besondere Funktionsweise der römischen Volksversammlung beruhte darauf, dass die Abstimmenden auf die Präferenzen der herrschenden Klasse achteten und sie respektierten, vorausgesetzt, der Senat handelte einmütig. Wenn die Plebs sich angewöhnte, ihrer eigenen Präferenz zu folgen, obwohl diese möglicherweise gar nicht besonders stark war, und auf die Präferenz des Senates keine Rücksicht zu nehmen, dann hätte die Volksversammlung tatsächlich zu entscheiden begonnen; das taten sie zwar bei den Wahlen und beim Volksgericht immer schon. Doch nun hätte die Plebs unentwegt über Sachfragen entschieden. Die politische Ordnung hätte sich dann gewandelt. Niemand vermag zu sagen, wohin der Wandel gegangen wäre. Jedoch hätte die römische Volksversammlung sich dem spartanischen Versammlungstyp angenähert oder ihn erreicht. In Sparta entschied die Volksversammlung auch nur mit ›Ja‹ oder ›Nein‹, sie konnte sich nicht selbst einberufen, nicht die Anträge formulieren und die Versammelten besaßen kein Rederecht. Aber in Rom wog der Wille der herrschenden Klasse viel schwerer; denn sie war ein organisierter Adel mit hoher Kohäsion. In Sparta existierte in klassischer Zeit kein Adel; die dortige Führungsschicht unterdrückte alle familialen Traditionen und rekrutierte sich allein mittels elitärer Mechanismen. Dort wählte die Volksversammlung zwischen den Alternativen aus, die man ihr vor185
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legte; Abstimmungen wurden nicht abgebrochen, die abstimmenden Spartiaten nicht unter Druck gesetzt. Die spartanische Versammlung war ein Entscheidungsorgan, obwohl Rat, Könige und Ephoren ihr nur das zur Entscheidung vorlegten, was ihnen gut dünkte. Falls die Funktionsweise der römischen Comitien sich dem spartanischen Typ annäherte, blieben Alternativen für die konkrete Form der aristokratischen Herrschaft offen: Blieb man dabei, dem Volk auf relativ vielen Themenbereichen Anträge zur Abstimmung vorzulegen, obwohl es nicht mehr zustimmte, sondern entschied, dann hätte sich der inneraristokratische Konsens gelockert, Auseinandersetzungen hätten kompetitivere Formen angenommen, sogar im Senat. Im anderen Falle hätte die Senatorenschaft darauf verzichtet, substantielle Themen überhaupt noch dem Volk zur Entscheidung vorzulegen; doch das hätte eines hohen Zusammenhalts innerhalb der Oligarchie bedurft. In beiden Fällen wäre die Oligarchie gezwungen gewesen, neue Kommunikationsformen zu entwickeln. Präzedenzfall und plebejische Memorialkultur All das lag außerhalb des Horizonts jenes jungen Militärtribuns. Ihm war wohl klar, dass eine Ablehnung der rogatio eine ungewöhnliche Sache war. Die objektiven Auswirkungen eines solchen Ereignisses, falls es sich wiederholte und bei der Plebs neue Erwartungen weckte und neue Verhaltensweisen hervorrief, überblickte er mitnichten. Wäre die Abstimmung über den Triumph des Aemilius Paullus zu einem signifikatorischen Ereignis geworden, zur historischen Weiche, welche die Beziehungen zwischen Adel und Volk ruckartig auf ein neues Geleise gelenkt und eine rasche Veränderung der Herrschaftsmodalität eingeleitet hätte, dann müsste das nicht erstaunen. Nicht bedachte oder tatsächlich unabschätzbare Folgen ergeben sich unentwegt aus menschlichen Handlungen; sie gehören zum Phänomen der Emergenz: Neues taucht auf, ohne dass richtig zu erkennen wäre, woher es eigentlich kommt. Die objektive Folgewirkung eines Ereignisses und die Bedeutung, die ihm in den Augen der Akteure anhaftet, driften in der Regel auseinander.4 Freilich, die bestürzten Senatoren, die in die Abstimmung eingriffen und den Umschwung herbeiführten, bangten nicht bloß um den Triumph ihres verdienten Standesgenossen; sie mussten damit rechnen, dass in Zukunft Triumphe schwerer zu erlangen waren. Und wer bei jedem Zwischenfall immer die ganze Ordnung bedroht sah, musste sich mit Entsetzen ausmalen, wohin es führte, wenn so etwas ›zum ersten Mal‹ passierte. Aber lag der Plebs daran, tatsächlich zu entscheiden? Zwischen der Abstimmungsniederlage, welche der Consul von 200 v. Chr. erlitt, und 186
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der rogatio von 167 v. Chr. lagen nur 33 Jahre. Doch die Soldaten des Aemilius Paullus erinnerten sich – nach der Darstellung von Livius – nicht an jenes Geschehnis. Nun besaß die römische Plebs eine eindrucksvolle Memorialkultur, die ihr dazu verhalf, exemplarische Widerstandshandlungen gegen die Oligarchie immer wieder zu memorieren. Indes, die Niederstimmung der rogatio von 200 v. Chr. wurde kein exemplum, kein exemplarischer und zitierfähiger Fall für den plebejischen Kampf um libertas. Die römische Plebs hatte den Vorgang von 200 v. Chr. ›vergessen‹; d. h. sie hatte ihn nicht mit politischer Semantik ausgestattet, sondern in die Bedeutungslosigkeit absinken lassen. Kulturelles Vergessen, also das kollektive Vergessen ganzer sozialer Gruppen, beruht eben darauf, dass Sachverhalte ihre Bedeutung verlieren oder gar nie welche gewinnen.5 Hätte die Plebs nach der Freiheit getrachtet, in den Comitien so zu stimmen, wie sie wollte, dann hätte sie jenen abgelehnten Antrag von 200 v. Chr. zu einem erinnerungswürdigen Ereignis gestempelt, ihm einen privilegierten Platz in ihrer Memorialpraktik und in ihrer politischen Tradition zugewiesen. Zum exemplum und damit zum Argument erhoben, hätte es eine signifikatorische Kraft gewonnen, die sich aktualisierte, wenn ein Redner es bei passendem Anlass aus der kollektiven Erinnerung hochrief und beschwor. Doch dem war nicht so. Auch die Abstimmung von 167 v. Chr. stellte für das abstimmende Volk kein bedeutsames Geschehnis dar. Die definitionsstarken Gruppen der Plebs verbanden die beiden Geschehnisse nicht semantisch; sie verargumentierten den ›Präzedenzfall‹ nicht und erhoben ihn nicht zum exemplum für die momentane Konfrontation. Die Oligarchie hingegen erblickte darin ein Ereignis, ebenso wie der berichtende Historiograph selbst – ein Ereignis, das es zu verhindern galt. Indem die versammelten Bürger dem Druck der Oligarchie nachgaben, verloren sie nicht nur einen Kampf, in den sie halbherzig hineingegangen waren, sondern sie verloren die semantische Dimension dieses Ereignisses: Ihr Versuch, eine rogatio zu Fall zu bringen, blieb Episode, genau wie die gescheiterte rogatio 33 Jahre zuvor. Denn sie billigten sich selbst gar nicht das ›Recht‹ zu, mit ›Nein‹ zu stimmen. Lag ihnen an diesem Recht, dann hätten sie sich dem Machtkampf gestellt, und dann wäre er gewiss anders ausgegangen. Verfolgte die Plebs ein Ziel energisch und war sie darüber hinaus bereit, den Gehorsam aufzukündigen, wich die Oligarchie in aller Regel zurück. Die jeweilige Stärke der Plebs in den Kämpfen mit der herrschenden Klasse war hochgradig themenabhängig.
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Die Erwartbarkeit des plebejischen Konsenses Schließlich noch ein absonderlicher Fall aus dem Jahre 61 v. Chr., als beinahe ein konsularischer Antrag scheiterte: P. Clodius Pulcher, der berüchtigte spätere Volkstribun, hatte in der Nacht vom 4. zum 5. Dezember 62 v. Chr. in Frauenkleidern am Fest der Bona Dea teilgenommen. Clodius war aus einem der vornehmsten Geschlechter, noch amtlos, aber für das Jahr 62 zum Quaestor gewählt. Der Senat verwies die Sache an ein Kollegium von Priestern und Vestalinnen. Diese erklärten das Vergehen zu einem incestus, d. h. zu einem Religionsfrevel.6 Daraufhin fasste der Senat im Januar 61 v. Chr. den Beschluss, dass die Angelegenheit vor Gericht kommen solle, freilich mit einem brisanten Zusatz: diesmal waren die Richter nicht – wie die Lex Aurelia es vorsah – auszulosen; stattdessen sollte der städtische Praetor die Geschworenen nominieren. Die Senatsmehrheit wollte anscheinend sicher gehen, dass der Frevler nicht freigesprochen wurde. Um die Lex Aurelia für diesen besonderen Fall außer Kraft zu setzen, brauchte man einen Volksbeschluss. Nicht ein Tribun, sondern der geschäftsführende Consul erhielt den Auftrag, die diesbezügliche rogatio vor die Comitien zu bringen. Der Senat wollte so dem Volk die Wichtigkeit der Sache vor Augen führen. Aber der beauftragte Consul, Pupius Piso, war Clodius freundschaftlich verbunden; und so sabotierte er seine eigene rogatio. Bei der contio vor der Abstimmung ließ er junge Adlige reden, die sich gegen den Antrag aussprachen; und er selbst forderte das Volk dazu auf, den von ihm eingebrachten Antrag abzulehnen. Cicero berichtet darüber: »Piso, der als Consul den Antrag einbrachte, sprach sich ebenfalls gegen ihn aus. Die Anhänger des Clodius hatten die Brücken zu den Stimmpferchen besetzt. Die Stimmtäfelchen wurden so dargeboten, dass keines ein ›wie beantragt‹ (d. h. ›Ja‹) anzeigte. Da stürmte aber der Cato auf die Rednertribüne und verpasste dem Consul Piso eine Abreibung, wenn man so seine Rede nennen darf, die voller Wucht, voller Autorität und voller Fürsorge um das Heil war. Dann setzte unser Hortensius noch eins drauf und viele andere Optimaten … Dieses Zusammenströmen der Optimaten beendete die Volksversammlung. Der Senat wurde einberufen. Die Sitzung war stark besucht, und der Senat beschloss gegen den Widerspruch Pisos, während sich Clodius jedem einzelnen zu Füßen warf, die Consuln sollten das Volk ermahnen, für die rogatio zu stimmen.«7
Uns bietet sich fast die gleiche Szene wie 167 v. Chr: hochkarätige Senatoren stürmten auf den Versammlungsplatz und erzwangen den Abbruch der Abstimmung. Einer nach dem anderen redete gegen den antragstellenden Consul und tadelte ihn öffentlich. Im Unterschied zu 167 v. Chr. wurden die Bürger nicht sofort wieder in die Stimmpferche 188
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gerufen, sondern nach Hause geschickt, weil die ranghohen Senatoren es für nötig hielten, zunächst den Konsens der Oligarchie herzustellen. An diesem Konsens hatte die Senatsmehrheit nicht gezweifelt. Doch eine senatorische Clique hatte den Konsens im Senat nur vorgetäuscht, um die rogatio vor dem Volk scheitern zu lassen. Kam sie damit durch, hatte sie die sichere Verurteilung abgewehrt. Die Senatoren bemühten sich daher, in den eigenen Reihen Einmütigkeit herzustellen, um den Magistraten einen regelrechten Auftrag zu erteilen. Es kam zu einer seltenen Szene im Senat. Clodius flehte kniefällig darum, diesen Beschluss nicht zu fassen; er kniete gewiss nicht vor allen 416 anwesenden Senatoren, aber mindestens vor allen Konsularen. Nun vollziehen römische Bürger keine Demutsrituale vor dem Senat, sondern nur vor der Volksversammlung. Warum hatte Clodius sich nicht vor dem versammelten Volk gedemütigt, wie es 149 v. Chr. Sulpicius Galba tat, als das Volk über seine Verurteilung abstimmte? Weil das römische Volk bei Religionsfreveln völlig unnachsichtig war; es war hierbei konservativer als die Aristokratie. Ob die Geste als unangemessen und verabscheuungswürdig galt, weil ein Römer sie im Senat übte, oder als eine sehr starke Form legitimer supplicatio, die Angeklagten vor den Richtern oder vor dem Volk zugestanden wurde, das war im Vorhinein nicht sicher: Clodius ging ein Deutungsrisiko ein. Freilich war Clodius noch kein Senator – denn erst nach Ablauf seiner Quaestur wurde er automatisch Senatsmitglied –; daher schien die Geste nicht anstößig; Cicero berichtet sie, verurteilt sie aber nicht. Trotzdem bewirkte diese supplicatio nichts. Erstens wandte Clodius dieses Mittel zu spät an. Vielleicht hätte er damit den Senat umstimmen können, bevor das Gremium den ersten Beschluss fasste. Mit dem Beschluss, die Lex Aurelia vorübergehend außer Kraft zu setzen, hatte der Senat sich festgelegt; und es bedurfte nun eines viel stärkeren Druckes als der supplicatio eines jungen Patriziers, um die Senatoren wieder davon abzubringen. Zweitens griff Clodius zu dieser Geste, nachdem die Leute, die ihn protegierten, öffentlich – vor dem versammelten Volk – versucht hatten, einen Senatsbeschluss zu torpedieren. Damit war die Angelegenheit zu einem Kampf um die Autorität des Senates insgesamt geworden, um sein Prestige als Leitungsorgan der Republik. Auch stärkere supplicatio-Formen, falls es sie gab, hätten nun Clodius nicht mehr geholfen. In der Senatsdebatte war der Dissens nicht mehr zu verbergen, und der Konsens stellte sich nicht ein. So kam es zur discessio, d. h. der Versammlungsleiter ließ die Senatoren entsprechend ihren Optionen aus189
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einander treten. Als 400 Senatoren gegen 16 standen, wagte auch ein befreundeter Volkstribun nicht, gegen den Beschluss zu interzedieren. Weder das tribunizische Veto noch die supplicatio halfen in diesem Falle. Die supplicatio eines Bedrohten konnte unter Umständen wirksamer sein als das Veto des Tribuns; denn der Tribun vermochte – in der Regel – gegen die geschlossene Front fast aller Senatoren sein Veto nicht zu halten; die sozialen Abhängigkeiten, in denen er stand, erlaubten das nicht, es sei denn, er riskierte den offenen Bruch. Volkstribunen konnten den offenen Bruch mit der geschlossenen Senatorenschaft freilich nur dann riskieren, wenn sie ganz sicher waren, dass die Plebs geschlossen und engagiert hinter ihnen stand. Doch hier ging es um Religionsfrevel, und bei diesem Thema wusste der Tribun, dass ihm jede Rückendeckung des Volkes fehlte. So kam es zu jenem skurrilen Beschluss, welcher die Consuln aufforderte, den schon vor Wochen gefassten Entscheid durchzuführen. Diese Resolution spricht explizit und öffentlich aus, was man jahrhundertelang voraussetzen durfte: Die beauftragten Magistrate hatten einen Senatsbeschluss gefälligst umzusetzen, und ein Versammlungsleiter hatte dafür zu sorgen, dass das Volk einen vom Senat autorisierten Antrag billigte. Will man definieren, was bei der Abstimmung passiert war, stößt man auf eine Kuriosität: Wenn die Abstimmenden einen Antrag durchfallen ließen, den abzulehnen der Antragsteller selbst öffentlich verlangte, lehnten sie dann ab oder stimmten sie zu? Egal, zu welcher Antwort man sich entschließt – auf jeden Fall hätte das Volk getan, was der Antragsteller wollte. Vielleicht bemerkten die abstimmenden Bürger die Manipulationen bei der Bewertung der Stimmtäfelchen gar nicht; vielleicht stimmten viel mehr mit ›Ja‹, als dem Consul lieb war. Wir können nicht wissen, ob die Tribus im Begriffe waren, den Antrag abzulehnen. Die führenden Senatoren griffen in den Ablauf der Volksversammlung nicht deswegen ein, weil die Abstimmung manipuliert wurde – denn das konnten sie im Vorhinein kaum wissen –, sondern weil die Absicht des Antragstellers, die rogatio zu Fall zu bringen, bereits erkennbar wurde, bevor die Abstimmung begann. Die von ihm benannten Redner und auch er selbst hatten die Volksversammlung aufgefordert, mit ›Nein‹ zu stimmen. In ihrem kollektiven Gedächtnis fand die Aristokratie jenes exemplum von 167 v. Chr. vor – und vielleicht gab es deren noch andere –, welches sie davor warnte, dass jemand das Volk dazu aufrief, mit ›Nein‹ zu stimmen. Der Senat wandte sich folgerichtig gar nicht an das Volk, sondern verpflichtete in seinem Entscheid die Magistrate. Eine solche Senatsre190
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solution war nur sinnvoll, wenn die Senatoren es für selbstverständlich hielten, dass das Volk der rogatio zustimmte, sofern es die Magistrate nur wollten. Daraus ist zu schließen, dass 61 v. Chr. niemand davon ausging, die Volksversammlung könne anders abstimmen, als der Antragsteller wollte. Die Senatoren rechneten mit der – offensichtlich völlig erwartbaren – Zustimmung des Volkes, sofern die Consuln sich nur einsetzten. Ob das Gesetz durchkam, hing demnach an der Kohäsion der Oligarchie; und um die war es nicht gut bestellt. Es kam nicht mehr zur Abstimmung über die Vorlage des Senates, obwohl ein großer Teil der Nobilität entschlossen schien. Die Frontlinien innerhalb der Senatsspitze verschoben sich jäh, als Pompeius aus dem Osten nach Italien zurückkehrte. Neue Sachfragen spalteten die Aristokratie und raubten den bestehenden ihre Wichtigkeit; neue Patronage-Pyramiden bildeten sich heraus und zogen neue Allianzen nach sich. Als ein Tribun, der bereits mit Interzession gedroht hatte, den großen Feldherrn vor einer gut besuchten contio im Circus Flaminius aufforderte, seine Meinung zur rogatio Pupia Valeria offenzulegen, da blieb dieser unentschieden. Der Senat schloss mit dem Tribun einen Kompromiss: man änderte die rogatio dahingehend ab, dass das einzurichtende Sondergericht gemäß der Lex Aurelia zu besetzen war; dafür erklärte sich der Tribun bereit, die Vorlage rasch – im concilium plebis – zur Abstimmung zu bringen. Da man nicht daran zu zweifeln schien, dass Clodius verurteilt werde – egal wie das Gericht zusammengesetzt war –, konnte man nachgeben. Keiner befürchtete, das Volk könne die Gesetzesvorlage durchfallen lassen. Die Senatoren änderten vielmehr die rogatio ab, weil sie eine Interzession befürchteten, die diesmal Aussicht auf Erfolg hatte, weil die Front der Nobilität nicht mehr geschlossen zu halten war.8 Bedingung für die Ablehnung: Schwache Präferenzen Da die Abstimmung fast stets dazu führte, dass das Volk zustimmte, war die Zustimmung gänzlich erwartbar. Das ist im streng soziologischen Sinne gemeint: Die Serialität der Ereignisse formierte die Erwartungen. Erwartungen können enttäuscht werden. Das passierte freilich in zwei Jahrhunderten nur in vier nachweisbaren Fällen, nämlich 209, 200, 167 und 149 v. Chr. Eine Automatik des Zustimmens gab es nicht. Und es gab sie noch weniger, seitdem die Bürger geheim abstimmen konnten, was für die Wahlen seit 139 galt, für die Prozesse seit 137, für die Abstimmung über Gesetze seit 131 oder 130 und schließlich für die Hochverratsprozesse seit 107 v. Chr. Trotzdem gab es danach keinen überlieferten Antrag mehr, den das Volk abgelehnt hätte. Die Antrag191
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steller brachten demnach rogationes, bei denen sie eine Niederlage befürchteten, nicht zur Abstimmung. Bei den rogationes, die sie den Comitien vorlegten, erfolgte garantiert die Zustimmung. Alle Beteiligten teilten diese Erwartung, sowohl die Oligarchie wie die nichtaristokratischen Bürger. Fragen wir, welche Anträge wirklich niedergestimmt wurden, dann ergibt sich folgendes Bild: Die Abstimmung 200 v. Chr. wurde hinterher ›berichtigt‹, die von 167 v. Chr. abgebrochen und wiederholt, ebenso diejenige von 61 v. Chr. Damit gibt es in der römischen Republik nach dem 4. Jh. v. Chr. nur zwei nachweisbare Anträge, die bei der Abstimmung definitiv scheiterten: jener von 209 v. Chr. über die Nichtverlängerung des Kommandos von Marcellus in Sizilien und jener von 149 v. Chr. über die Einsetzung eines Gerichtes wegen der ›Kriegsverbrechen‹ des Sulpicius Galba. Beide Fälle weisen Gemeinsamkeiten auf: 1. es waren tribunizische Anträge; 2. es waren Personalentscheidungen; 3. sie zielten darauf, einem namentlich benannten Senator Nachteile (von unterschiedlicher Schwere) zu bringen; 4. die Oligarchie war nicht einhelliger Meinung. Im Jahre 209 v. Chr. schätzte der Tribun die Stimmung im Volke falsch ein. Wir wissen nicht, wieso. War die Einstellung der Bürger auf den contiones nicht klar zum Ausdruck gekommen? Änderten sie im letzten Augenblick, vor der Stimmabgabe, ihre Meinung? Oder überhörte der Tribun halsstarrig den überwiegenden Unwillen, meinend, er könne es auf eine Abstimmung ankommen lassen? Anders war es 149 v. Chr. Die öffentliche Meinung in der Bürgerschaft folgte dem alten Cato, nicht dem Fulvius Nobilior, welcher für den bedrohten Galba sprach. Der Volkstribun durfte erwarten, dass die Abstimmung so ausfiel, wie die Stimmung es angezeigt hatte. Er konnte nicht vorhersehen, dass Galba eine supplicatio inszenieren würde; und selbst als er diese supplicatio sah, war er außerstande, abzuschätzen, wie wirksam sie war. Es blieb ihm keine andere Wahl, als es auf die Abstimmung ankommen zu lassen. Solche Fälle wie 149 v. Chr. gab es vermutlich häufiger, abgelehnte Anträge desgleichen, auch wenn die – lückenhaften – Quellen darüber schweigen. Denn die Ablehnung 149 v. Chr. war möglich, weil eine spezifische Konstellation von Umständen sie zuließ: ein Volkstribun als Antragsteller, eine gespaltene Oligarchie, eine Personalentscheidung. Aber diese Konstellation trat nicht selten ein. Bei Personalentscheidungen fand die Oligarchie viel schwerer zum Konsens als bei Sachfra192
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gen. So ergaben sich ähnliche Situationen wie bei den Wahlen: man war froh, dass das Volk entschied, um nicht selbst die hohen Entscheidungskosten – Zwiste, Feindseligkeiten, Auseinanderbrechen von Freundschaften usw. – tragen zu müssen. Weder beim Volk noch bei der Aristokratie waren in solchen Fällen die Präferenzen stark. Indes, je schwächer sie waren, desto anfälliger waren sie für symbolischen oder sozialen Druck. Ganz anders verhielt es sich, wenn der Angeklagte sich gegen römische Grundnormen vergangen hatte. Die Anklage und der Prozess gegen Servilius Caepio 104 v. Chr. illustrieren das. Caepio hatte als Proconsul in Gallien sein Heer nicht dem Befehl des Consuls unterstellt, als beide Heere den Kimbern gegenüberstanden; getrennt wurden beide Heere vernichtend geschlagen. Der Proconsul wurde per Volksbeschluss seines Amtes enthoben und unter Anklage wegen Hochverrats (perduellio) gestellt. Die katastrophalen Niederlagen mit einer enormen Anzahl von gefallenen Bürgern hatten den Zorn des Volkes aufkochen lassen, und es war vorhersehbar, wie das Volksgericht stimmen würde. Als Volkstribunen zugunsten des Angeklagten interzedierten, jagte das Volk sie davon. Die Plebs hatte bei dieser Personalentscheidung eine sehr hohe Präferenz; sie war fest entschlossen, ein Exempel zu statuieren, und brach die nobilitäre Solidarität mit Gewalt. Doch kein Volksbeschluss ohne Antrag, kein Urteil des Volksgerichts ohne Anklage und Prozess. Die römischen Bürger konnten in beiden Fällen nur deswegen ihren Willen manifestieren, weil der Volkstribun Norbanus es wagte, gegen den entschiedenen Widerstand der Nobilität seine Anträge vor das Volk zu bringen, und weil er dann – vollends den totalen Bruch mit der Senatsspitze in Kauf nehmend – sich über die Interzession seiner Kollegen hinsetzte, als er der massiven Unterstützung des Volkes gewiss war.
Syntaktische Regeln und die Messung der Präferenzstärke Contiones als Ort der Willensbekundung Die Ähnlichkeiten zu den ›nötigenden Gesten‹ sind unverkennbar und verweisen auf dieselbe Problematik. Politisches Handeln in Rom erforderte, interaktiv zu ermitteln, mit welcher Intensität die andere Seite ihre Intentionen verfolgte. Es galt somit, die Präferenzstärken der Beteiligten so genau als möglich abzuschätzen, sie quasi zu ›messen‹. Wo maß man die Präferenzen? Nun ist der Blick auf die contiones zu richten.9 193
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Wollte die Oligarchie bestimmte Entscheidungen symbolisch mit sehr hoher politischer Verbindlichkeit ausstatten, ließ sie das Volk einen entsprechenden Beschluss fassen. Volksbeschlüsse hatten Gesetzeskraft. Der Senat fasste eine Resolution – ein senatus consultum; danach brachten Magistrate oder Volkstribune den Antrag vor das Volk, um ihn den Comitien zur Abstimmung vorzulegen. Sie verkündeten den Wortlaut ihres Antrags mindestens 24 Tage vor der Abstimmung schriftlich und mündlich (promulgatio), und beriefen contiones ein, um ihn vorzustellen und ranghohe Senatoren dazu sprechen zu lassen. Sie mobilisierten das Volk, damit es sich zu den Comitien einfand und die rogatio befürwortete. Diese contiones sind bis vor kurzem kein eigenes Thema der Forschung gewesen. Das lag an den Prämissen der Fachwissenschaft. Solange man diese Versammlungen unter staatsrechtlichem oder unter institutionengeschichtlichem Aspekt betrachtete, schienen sie für die politische Willensbildung unwichtig. Contiones beschlossen ja nichts. Folgerichtig behandelte man im 19. Jh. bei der Darstellung der Verfassungsorgane die contiones entweder knapp oder gar nicht.10 In seinem »Römischen Staatsrecht« fertigt Theodor Mommsen die contio unter dem Paragraphen »Magistratische Competenz« kurz ab.11 Im selben Sinne schreibt auch Ernst von Herzog: »Es genügt daher genau genommen, die Kontionen unter dem Recht der Magistrate … und der Volkstribunen zu besprechen; bei den Comitien kommen sie nur noch unter den dieselben vorbereitenden Akten in Betracht.«12 Auch Bleicken, der 1974 versucht hat, das römische Staatsrecht in sozialgeschichtliche Zusammenhänge einzubetten, nennt die Comitien das »institutionalisierte Volk« und übergeht bei der Behandlung des ›Willensträgers‹ die contiones vollständig.13 In dieser administrativischen Sicht bleibt die kommunikative Dimension ausgeblendet. Die Wendeschleife fing 1976 an sich zu krümmen; und seit einigen Jahren haben neue Konzeptionen zu dominieren begonnen.14 Erst als mit den Werken von Nicolet und Veyne die kommunikative Dimension in der Herrschaftsausübung ins Blickfeld gerückt ist, kam der hohe politische Aufwand zum Vorschein, den die Spitze der herrschenden Klasse in den contiones leistete. Anders gesagt: Die contiones sind so lange unwichtig gewesen, wie man unter Politik den Bereich verstanden hat, wo die in Institutionen organisierten Mitglieder der politischen Gemeinschaft Entscheidungen treffen. Mit diesem Begriff von Politik lässt sich die griechische Polis vor allem in den Demokratien relativ gut erfassen, weil dort die Volksversammlung – je nach Zeit und Ort in höherem oder geringerem Maße – tatsächlich ein Ent194
Syntaktische Regeln
scheidungsorgan war. Aber dieser Politikbegriff fasst die konsentischen und rituellen Praktiken nicht, an denen die römische Politik so reich ist. Versteht man unter Politik die Partizipation an Entscheidungen, die für die gesamte politische Gemeinschaft verbindlich sind oder diese tangieren, dann waren die Comitien nur in dem Maße ein Ort der Politik, in dem sie entschieden. Wenn sie freilich immer zustimmten, dann entschieden sie nicht. Nach diesem Politikbegriff war der Ort institutionalisierter Beschlussfassung schlicht kein genuin politischer Ort. Entweder man opfert diesen Politikbegriff oder man muss die Frage neu stellen, welche Vorgänge im römischen System als Entscheidungsprozesse anzusprechen sind. Gerade die vernachlässigten contiones könnten sich als derjenige Ort erweisen, wo das Volk an politischen Entscheidungen partizipierte. Es agierte dabei in einem institutionellen Rahmen, denn die contio wurde von Magistraten oder Tribunen einberufen, formell eröffnet, geleitet und beendet. Dass diese Partizipation effektiv war, lässt sich nicht abstreiten: In den contiones gaben Antragsteller reihenweise ihr Vorhaben auf, weil sie auf Widerstand seitens der anwesenden Bürger stießen. Dieser Widerstand veränderte somit die Richtung und den Inhalt von Entscheidungsprozessen; folglich war er in buchstäblichem Sinne ›Teilnahme an Entscheidungen‹. Solche Teilnahme an den Entscheidungen beschränkte sich zwar auf Gemurre oder Beifall; sie war also verfahrensmäßig wenig formalisiert. Doch sie war tendenziell ritualisiert, und sie war wirksam, denn sie gab meist den Ausschlag. Falls der Wille des römischen Volkes in institutionellem Rahmen berücksichtigt wurde, dann geschah das – bis ins späte 1. Jh. v. Chr. hinein – vor allem hier. Meinungen ermitteln oder Präferenzen messen? Die contio Manche Antragsteller ließen ihre rogatio schon früh fallen, andere erst nach mehreren contiones. In der contio sondierte der antragstellende Senator zwar auch die Stimmung im Volke; doch vor allem musste er herausfinden, wie stark die Bürger an einer Überzeugung, einer Einstellung zu einer bestimmten Frage hingen. Präferenzstärken zu prüfen ist etwas grundsätzlich Anderes, als was die moderne Meinungsforschung tut. Die Sondage von Meinungen nimmt keine Rücksicht auf die Intensität, mit der jemand seine Meinung vertritt, obschon theoretisch sehr wohl bekannt ist, dass eine intensive Minderheit gegen eine laue Mehrheit die politische Oberhand gewinnen kann.15 Aber die modernen Demokratien verfügen in den allermeisten Organen und Ver195
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
fahren über keine Möglichkeiten, diese Intensität zu ermitteln. Es ist leicht, die Stimmen zu zählen; aber es ist sehr schwierig, etwas über die Intensitäten von Absichten oder Meinungen zu erfahren. Anders bei den Römern. Bürger aller Schichten wussten, dass man seine Meinungen und Absichten in ganz unterschiedlicher Stärke hegte; desgleichen waren sie damit vertraut, dass Optionen – aus diesem Grunde – in der Kommunikation meistens veränderbar waren. Wer sich in Rom politisch betätigte, hatte diese Erfahrung in deutliches Wissen darüber umgewandelt und verfügte über kommunikative Techniken, mit dem Sachverhalt umzugehen. Wenn römische Senatoren, die einen Antrag vors Volk brachten und in einer contio dafür warben, auf Missfallen bei der Plebs stießen, dann mussten sie herausfinden, wie hartnäckig die Bürger an ihrer Ablehnung festhielten. Sie hatten zu eruieren, ob man das Volk davon abzubringen vermochte; und sie mussten den Aufwand abschätzen, der dazu vonnöten war. Wie machte der Antragsteller das? Die von ihm benannten Redner und Gegenredner und vor allem er selbst hatten im Verlauf einer contio auf die Reaktionen der zuhörenden Bürgerschaft zu achten. Aufmerksam mussten sie beobachten, ob die Stimmung sich veränderte. Dabei ergaben sich Spielräume bei der Deutung der Zeichen, folglich für Irrtümer. Denn man konnte im Voraus nur selten wissen, wie intensiv das Volk an einer Meinung festhielt. Das Volk war sozial stark stratifiziert und hatte in vielen Fragen keine einheitlichen Interessen. Doch es tendierte dazu, seine Meinungen zu vereinheitlichen. Die Prozesse der Meinungsbildung innerhalb der Plebs sind nicht zu rekonstruieren, aber die hauptsächlichen Faktoren lassen sich bestimmen. Die stadtrömische Bürgerschaft war niemals eine amorphe Masse von atomisierten Individuen. Städtische Römer befanden sich in familialen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen, berufsgenossenschaftlichen (collegia) und klientelären Bindungen, und obendrein hatten sie einen großen Respekt vor Senat und Magistraten. Ärmere Römer mussten sich nicht nach den Ansichten von statushöheren Bürgern richten, wenn sie sich eine Meinung bildeten. Welche Bindungen überwogen, war hochgradig themenabhängig. Je weniger diese Bürger einen Sachverhalt überblickten und durchschauten, desto größer war ihre Neigung, sich die Meinung von Personen zu eigen zu machen, denen sie vertrauten. Solche Vertrauensbeziehungen waren eng und strukturiert, aber sie waren vielseitig. Sicher war nur, dass die römischen Bürger bemüht waren, ihre Meinungen desto mehr aufeinander abzustimmen, je länger sie einer contio beiwohnten. Und eines war 196
Syntaktische Regeln
ganz sicher: die Plebs reagierte desto einheitlicher, je mehr ein Antrag die moralischen Grundnormen der römischen Ordnung berührte. In einem solchen Falle vereinheitlichte sich der Volkswille rasch; und man konnte das Volk dann kaum noch umstimmen. Das wussten alle Senatoren aus langer kollektiver Erfahrung. Während der aufeinander folgenden contiones musste der rogator die Zeichen aufmerksam lesen: Blieb der Beifall aus? Unterhielten sich die Zuhörer während der Reden? Kam Gemurre auf? Erhob sich Geschrei? Skandierten die Bürger Sprechchöre? Oder kam Applaus – nur leicht oder bereits stärker? Erschallten laute Zurufe? Wurden die Namen der Redner laut skandiert? Er musste die Zunahme der negativen oder positiven Reaktionen registrieren und herausfinden, ob die Zuhörer mühelos zustimmten, halbherzig blieben oder hartnäckig opponierten. Außerdem musste er abschätzen, ob es lohnte, noch eine zweite oder dritte contio einzuberufen. Zeichnete sich ab, dass das Volk unbeirrbar in seiner Haltung verharrte, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als einzulenken und den Antrag zurückzuziehen. Denn er stand nicht nur dem Volk gegenüber. Er musste auch an die Konsulare und Praetorier denken, die er zu reden einlud: er durfte sie nicht wiederholt dem Risiko aussetzen, vom Volk ausgebuht zu werden. Sein eigenes Ansehen bei den hochrangigen Senatoren und seine guten Beziehungen zu ihnen litten darunter; und nicht zuletzt davon hingen seine Chancen ab, die Karriereleiter hochzuklettern. Ranghohe Senatoren regten nicht selten an, den Antrag zu modifizieren. Das ist nicht verwunderlich: Sie hatten viel mehr Erfahrung als der junge Volkstribun, der üblicherweise als Antragsteller fungierte; sie erfassten die Stimmung des Volkes treffender und schneller; und sie konnten abschätzen, welche Änderungen beim Volk Anklang fanden. Der Versammlungsleiter tat oft gut daran, solche Vorschläge aufzugreifen, zumal, wenn die Versammlung den Änderungsvorschlag mit Beifall aufnahm.16 Die Redner verfügten demnach über Spielräume, die unterschiedlich groß waren, je nachdem, welche Materie ein Antrag behandelte und in welcher Situation man sich befand. So riskierten es Magistrate oder ranghohe Redner gelegentlich, gegen eine murrende Volksmenge anzureden, ihr sogar entgegenzuhalten, sie irre sich und solle einsehen, dass die Senatoren besser wüssten, was im Interesse der Res publica lag.17 Als der Volkstribun C. Curiatus einen Gesetzesantrag zur Getreideversorgung Roms vor das Volk bringen wollte und unter mehreren Konsularen auch P. Cornelius Scipio Nasica dazu aufforderte, Stellung zu nehmen, sprach dieser dagegen. Als das Volk unwillig lärmte, rief er: 197
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
»Ich bitte Euch, Mitbürger, schweigt, denn ich weiß besser als Ihr, was der Res publica nützt.«18 Er kriegte damit das Volk still, obwohl die Aufforderung, den Mund zu halten, ein äußerstes Mittel darstellte – kündigte es doch den Abbruch der Kommunikation an. Indes, eben solche riskanten performativen Akte waren mehrdeutig. Solch ein Ton empfahl sich nur, wenn die Senatsspitze einmütig eine rogatio ablehnte oder befürwortete. Fehlte die Eintracht der Nobilität, riskierte Nasica, dass ihm die Bürger diesen Ton als individuelle Überheblichkeit ankreideten, sich umso heftiger erregten, nicht mehr zuhörten und überhaupt nicht mehr umzustimmen waren. Ja, er lief Gefahr, dass sie den Affront im Gedächtnis behielten, um es dem Beleidiger bei nächster Gelegenheit heimzuzahlen. Die Semantik dieser demonstrativen Missachtung des Jovialitätsgebots verschob sich je nach der Konstellation: Hatten sich nämlich die anderen Konsulare ähnlich geäußert wie Nasica und war diese Front geschlossen, dann betonte diese Geste plötzlich die politische Distanz zwischen der Aristokratie und dem Volk. So signalisierte er, dass die Senatoren sich genug angestrengt hätten, um beifällige Reaktionen gegen den Antrag zu erhalten, und dass nun seine Geduld ebenso wie die seiner Mitsenatoren zu Ende ging und dass die Kommunikation abzureißen drohte. Nun hatte das Volk seinerseits Einsicht und Entgegenkommen zu zeigen, damit das Verhältnis vertrauensvoll und wohlwollend blieb. War der Senator, der dies wagte und sich dabei im Konsens mit der einmütigen Senatsspitze befand, beliebt und geachtet, dann stellte er die Widerspenstigkeit der Bürger auf eine harte Probe. Eine ansehnliche Menge von Initiativen scheiterte in den contiones, vor allem Ackergesetze und Einbürgerungsgesetze. So behauptet Cicero, zur Zeit der großen popularen Tribunen seien rogationes häufig abgelehnt worden.19 Damit meint er keine tatsächlichen Abstimmungen (suffragia), sondern zurückgezogene Anträge. Die contio ist also ein ganz eigenes Feld der Interaktion zwischen Aristokraten und Volk; daraus erklärt sich der bisweilen außerordentlich hohe rhetorische Aufwand; darum sprachen hier überproportional viele Konsulare und Praetorier.20 Die Comitien konnten nur als Konsensorgan funktionieren, weil die contiones wie ein politischer Filter wirkten: In ihnen wurde die erforderliche Zustimmung erst hergestellt; in ihnen zeigte sich, ob Konsens in keiner Weise zu erreichen war. Denn Zustimmung ist stets ein Produkt von Kommunikation. Argumentierend, erinnernd, beschwörend, Gesten vollziehend hatten die Senatoren den vorgängigen Konsens zu aktualisieren und zu aktivieren, jenen Konsens über die Grundnormen, Vorstellungen, Werte, Exempel und symbolischen Be198
Die Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen
zugspunkte, der alle Schichten des römischen Volkes verband und der die Basis dafür abgab, dass die fallweise Zustimmung zu einzelnen Optionen erfolgte.
Institutionelle Automatik? Die Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen Die abstimmende Volksversammlung in der römischen Republik war ein Konsensorgan; doch als solches funktionierte sie nicht immer reibungslos. Die Funktion, der ›Sinn‹ und der Charakter einer Institution stehen nicht ein für allemal fest. Eine Institution wie die römischen Comitien existiert historisch nur, indem sie immer wieder veranstaltet und inszeniert wird. Sie existiert nur im rituellen Vollzug. Dieser ist von den Herrschenden nie lückenlos zu kontrollieren. In jeder rituellen Situation sind bestimmte Gruppen imstande, in den zeremoniellen Ablauf einzugreifen und ihn zu verändern, auch wenn die herrschaftliche Organisation des Rituals noch so dicht und zwingend zu sein scheint. Finden solche Abweichler bei signifikanten Teilen der Teilnehmer Gehör, dann gerät die politische Semiotik des Rituals ins Wanken, denn es geschieht ja vor aller Augen etwas, was nicht vorgesehen ist oder nicht geschehen soll. Gelingt es den ›Neuerern‹, eventuell in schweren und wiederholten Kämpfen, die Abweichung zu wiederholen, und schaffen sie es, diese Veränderung auf Dauer zu stellen, dann ist das ehemalige Ritual verschwunden und ein neues an seine Stelle getreten. Diese latente Instabilität der szenographischen Form und des politischen Effekts eines Rituals hat Victor Turner treffend »Liminalität« – Schwellencharakter – genannt.21 Der ›Charakter‹ einer Institution und eines Zeremoniells ist gemäß diesem Konzept nur die Resultante konkreter Konfrontationen, in der sich ein Kräfteverhältnis zwischen beteiligten Gruppen ausdrückt, ein Kräfteverhältnis, das stabil bleiben kann, sofern die Herrschenden sich ständig anstrengen. Alle Fälle, in denen ein vom Senat befürworteter Antrag zu scheitern drohte, bestätigen das: Wenn es brenzlig wurde, eilte die gesamte Senatorenschaft zum Versammlungsplatz, um in die Abstimmung einzugreifen und sie abzubrechen; die Senatoren tadelten die opponierenden Aristokraten; sie wandten alle Mittel der Beeinflussung an, um die abstimmenden Bürger dazu zu bringen, das zu tun, was die Oligarchie von ihnen erwartete; sie nahmen direkten persönlichen Einfluss auf 199
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
einzelne Bürger; und es redete entweder der rogator selbst oder andere ranghohe Senatoren dem Volk ins Gewissen.22 Sie verausgabten stattliche Mengen an politischer Energie, um die Herrschaftsbeziehungen wiederherzustellen, die einfacheren Bürger dazu zu bringen, das Erwartete zu tun. Diese ›Wiederherstellung der Ordnung‹ hatte eindrücklich zu erfolgen, sodass die beherrschten Bürger sich merkten, wie sie sich zu verhalten hatten. Die Senatorenschaft wollte es nicht auf häufige Erprobungen ihrer Autorität ankommen lassen, weil sich gerade dadurch die vorgängige Fügungsbereitschaft der Plebs abnutzte. Stabile Herrschaft verträgt keine wiederholten Machtproben. Anders gesagt: Ständige Machtproben destabilisieren die Herrschaftsbeziehungen und verändern das politische System. Der kommunikative Aufwand, den die geballte Senatorenschaft punktuell erbrachte, um zu verhindern, dass die Comitien als Institution plötzlich anders funktionierten, stellt für unsere Kategorien und Konzeptionen eine Nagelprobe dar. Er beweist, dass Institutionen nicht einfach von sich aus die historischen Akteure dazu bringen, das zu tun, was die ›Funktion‹ der Institution von ihnen verlangt. Es sind stets die Akteure, welche die Institution ›gebrauchen‹. Und daher ist der Gebrauch – gar nicht so selten – umstritten. Die herrschende Klasse konnte nicht müßig bleiben, wollte sie ihre Position halten. Sie bekam den Konsens des Volkes in den Comitien nicht einfach geschenkt. Gelegentlich musste sie diesen Konsens dem Volk abnötigen. Sie musste sich abmühen, ständige soziale Arbeit leisten und sich fallweise zu politischen Hochleistungen aufschwingen. Andernfalls wäre manche Male die Sache anders ausgegangen. Von der römischen Oligarchie war demnach eine hohe politische Aufmerksamkeit gefordert sowie eine fast automatisch eintretende Eintracht in heiklen Situationen. So blieb sie fähig, rasch und geschlossen der Plebs entgegenzutreten und sie wieder in die Umzäunung erwartbaren politischen Verhaltens zurückzuführen. Das setzte ein Klassenbewusstsein von beachtlicher Schärfe voraus, ein rigides Selbstverständnis, als Gruppe eine herrschaftliche Position innezuhaben und verpflichtet zu sein, diese Position gegen jede Veränderung abzuschirmen. Je präziser der mikrohistorische Blick solche Vorgänge betrachtet und kategorisiert, desto offenkundiger ergibt sich die geschichtstheoretische Konsequenz: Nicht die Veränderungen sind erklärungsbedürftig; weit schwieriger ist es, Stabilität zu erklären. Denn Veränderungen kommen von alleine, und sei es durch den bloßen Wechsel der Generationen; Stabilität hingegen erfordert, dass bestimmte Gruppen sich anstrengen, die Verhältnisse ›identisch‹ zu reproduzieren. 200
Die Zurücknahme von Anträgen
Kulturelle ›Entitäten‹ – als geronnene soziale Verhältnisse – perpetuieren sich niemals. Stets sind es die historischen Akteure, die agierenden Gruppen, welche ihre Beziehungen zueinander reproduzieren. Was als Kontinuität erscheint, war das Resultat einer annähernd ›identischen‹ Reproduktion der betreffenden sozialen Verhältnisse; dabei genügte es, dass die Akteure sie als ›identisch‹ wahrnahmen. Damit wird der Begriff ›Kontinuität‹ in den Kulturwissenschaften gegenstandslos.23 Er verdeckt genau jene Reproduktion, welche sich realiter tagtäglich in der Geschichte abspielt. Diese Reproduktion verlangt den herrschenden Gruppen – aber nicht nur ihnen – manchmal hohe kulturelle Investitionen ab, insbesondere dann, wenn deren Sozialisation sehr genau gesteuert werden muss. Trotzdem gelingt es nie, die Verhältnisse identisch zu reproduzieren; unentwegt verschieben sich die Verhältnisse und bilden neue Konfigurationen.
Die Zurücknahme von Anträgen – taktisch und rituell Politische Geschenke an die Nobilität Nicht nur das Volk opponierte gegen bestimmte Anträge, auch die Nobilität tat dies. War die Senatsspitze gespalten – wie es der Fall war in den letzten vier Jahrzehnten der Republik –, dann verfügte ein Tribun über einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Wenn sie jedoch den Antrag entschlossen bekämpfte, kam er in Bedrängnis. Das geschah im zweiten Jahrhundert v. Chr. häufig. Volkstribunen zogen immer wieder Anträge zurück, die alle Aussicht hatten, von der Plebs akzeptiert zu werden. Der soziale Druck, den die geschlossene Nobilität auszuüben vermochte, war immens. Daher gelang es Volkstribunen seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. kaum noch, Initiativen zu blockieren, hinter die sich die Nobilität einmütig stellte. Hartnäckig zu bleiben hätte nicht nur den politischen Tod, sondern auch das soziale Abseits nach sich gezogen. Brachten Volkstribunen gegen den einhelligen Willen der Nobilität Anträge vors Volk, riskierten sie dasselbe. Selbst wenn der Tribun absehen konnte, dass das Volk zustimmte, und sogar wenn diese Zustimmung überwältigend zu werden versprach, musste er sich darauf besinnen, was ihn sein Handeln kostete. Wer eine senatorische Karriere anstrebte, musste taktisch klug agieren. Hatte man sich mit dem inneren Kern der Nobilität verfeindet, war eine Karriere schnell zu Ende. Freilich war die Gunst des Volkes ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Aufstieg. Wer beim Volk unbeliebt 201
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
war, wurde nicht gewählt und brauchte an eine senatorische Karriere nicht zu denken. Das Beste war, beim Volk beliebt zu sein und innerhalb der Nobilität viele Förderer zu haben. Was nützte es einem Tribun, am Senat vorbei ein Gesetz durchzubringen – mit großer Zustimmung der Bürger –, das ihm beim Volk Ansehen verschaffte, wenn er sich damit dauerhafte Feindschaften seitens seiner ranghöheren Standesgenossen zuzog? Ein kluger Ausweg aus diesem Dilemma war, einen volksfreundlichen Antrag zunächst zu stellen, und dann, wenn der Druck der Nobilität einsetzte, ihn zurückzuziehen. Den Antrag zurückzuziehen brachte beim Volk keine Nachteile, wenn man den Rückzug gut inszenierte; Gesten standen zur Verfügung. Und es brachte dem nachgiebigen rogator deutliche symbolische Gewinne bei seinesgleichen und bei dem inneren Kern der Machtelite, d. h. bei den Konsularen. Die Quellen deuten darauf hin, dass dies mindestens drei Mal geschah: 145 v. Chr. bei der rogatio des L. Crassus, die Priesterkollegien durch Volkswahl besetzen zu lassen, 104 v. Chr. bei der rogatio des Marcius Philippus und – als schlimmster Fall – 131/130 v. Chr., als der Volkstribun C. Papirius Carbo den Antrag stellte, es solle gestattet sein, Volkstribunen wiederzuwählen. Zunächst zu diesem Beispiel. Was Carbo beantragte, war eine sehr gefährliche Sache. Zwei Jahre zuvor hatte Tiberius Gracchus eine Serie von Gesetzen am Senat vorbei der Volksversammlung vorgelegt und damit die Leitungsfunktion des Senates beträchtlich gestört; Tiberius hatte schließlich versucht, sich wiederwählen zu lassen, und war dabei von aufgebrachten Senatoren auf dem Versammlungsplatz erschlagen worden. Wurde Carbos Antrag zum Gesetz, dann wurde die Tötung des sakrosankten Tribuns im Nachhinein ein noch schwereres Verbrechen, als es ohnehin schon war. Obendrein drohte aber, dass sich wiederholte, was Tiberius praktiziert hatte: Ein entschlossener und populärer Tribun konnte in alle erdenklichen politischen Bereiche hineinregieren, indem er entsprechende Gesetze von der Volksversammlung verabschieden ließ, ohne dass der Senat imstande war, sich ihm wirksam entgegenzustellen, falls die Obstruktion versagte, d. h. falls andere Tribunen ihre Interzession gegen die Anträge eines ausscherenden Tribuns nicht durchsetzen konnten und falls die Meldung böser Omina nichts bewirkte; und das konnte vielleicht über Jahre gehen, denn ein immer wieder Gewählter konnte – solange er im Amt war – nicht unter Anklage gestellt werden. Bei der contio scheint es Papirius nicht gelungen zu sein, einen Konsular als Sprecher für seinen Antrag aufzubieten, es sprach allerdings der junge Bruder des ermordeten Tribuns, Gaius Gracchus, der noch 202
Die Zurücknahme von Anträgen
kein Senator war. Gegen den Antrag sprachen hochkarätige Konsulare, darunter Laelius und vor allem Scipio Aemilianus, zweifacher Consul und Zensorier, erfolgreichster lebender Feldherr, Eroberer von Karthago und Eroberer von Numantia, zweifacher Triumphator, der berühmteste Römer seiner Zeit, den die Plebs über die Maßen schätzte. Carbo ließ den hochrangigen Gegner seine gewichtige Rede halten und fragte ihn dann, was er über die Tötung des Tiberius Gracchus denke. Aemilianus hatte zu jener Zeit, als das Massaker auf dem Forum stattfand, den Oberbefehl über die Truppen innegehabt, die Numantia in Spanien belagerten und einnahmen; anscheinend hatte er dort mit dem Vers aus der Odyssee – »Möge jeder zugrunde gehen, der solches verübt« – die Ermordung des Volkstribuns beifällig kommentiert. Seine Meinung war wahrscheinlich bekannt, aber er hatte sie in Rom bisher noch nicht offiziell ausgesprochen. Carbos Frage brachte ihn in eine üble Lage: Falls er jene Ermordung befürwortete, musste er damit rechnen, dass er bei der Plebs schlagartig an Sympathie verlor und sogar in Misskredit geriet; missbilligte er sie, verriet er seine Freunde und seine eigene Einstellung. Und einfach die Antwort verweigern? Das war nicht ratsam, denn der kecke Tribun befragte ihn im kritischsten Augenblick überhaupt, nämlich vor dem versammelten Volk. Keine Antwort zu geben hieß, Unwissenheit oder Unentschlossenheit vorzutäuschen – in einer Angelegenheit, die jeden römischen Bürger zu einer Stellungnahme zwang –; wer das tat, riskierte seine Glaubwürdigkeit. Solche tückischen Befragungen hießen bei den Römern sponsio, sie konnten verhängnisvoll werden. Die Risiken des sponsio-Rituals. Der Fall des Tiberius Gracchus Die sponsio war ein Ritual besonderer Art: In Gegenwart von Zeugen stellte man dem anderen eine Frage, die fast immer eine Entscheidungsfrage war, die Antwort lief auf ein Ja oder auf ein Nein hinaus. Mit ihr legte sich der Befragte fest; er brachte sich entweder in eine unhaltbare Position, oder er wich aus und gab damit zu, dass er im Unrecht war bzw. dass ihm die Argumente ausgegangen waren. Indem man den Gegner zu einer sponsio forderte, konnte man ihn also zwingen, eine Behauptung fallen zu lassen oder einen unrechtmäßigen Anspruch aufzugeben. Die sponsio war eine gefährliche Waffe, von der man überraschend getroffen werden konnte. Der alte Cato hatte sich auf erwartete sponsiones schriftlich vorbereitet, und Cicero tat desgleichen.24 Diese Mühe lohnte. Senatoren wollten auf keinen Fall vor aller Augen, d.h. konkret: vor einer römischen contio, von einer Fangfrage matt gesetzt wer203
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den. Das war 133 v. Chr. selbst dem redegewaltigen Tiberius Gracchus passiert. Als man ihm im Senat schwere Vorwürfe wegen seiner Politik machte, überrumpelte ihn der alte Konsular T. Annius Luscus mit einer sponsio. Annius fragte den Volkstribun, ob er – indem er den Octavius hatte abwählen lassen – nicht die Heiligkeit (sacrosanctitas) eines anderen Volkstribuns verletzt habe?25 Bei der Senatsmehrheit erhob sich donnernder Beifall. Tiberius wusste nicht, was er antworten sollte. Keiner hatte daran gedacht, dass eine Amtsenthebung und die sacrosanctitas sich gegenseitig ausschließen könnten. Mit ›Ja‹ zu antworten wäre politisch tödlich gewesen. Sprachlos und verstört sprang der Volkstribun auf, verließ den Senat und berief sofort eine contio ein; er ließ den T. Annius aus dem Senatsgebäude holen, um ihn vor dem versammelten Volk anzuklagen – wahrscheinlich wegen Verletzung der Majestät des Volkes (maiestas minuta). Annius Luscus bat – vor dem versammelten Volk –, Tiberius möge ihm eine Frage beantworten. Wiederum konnte der Tribun nicht wissen, was auf ihn zukam. Doch er verfügte über kein legales Mittel, um die sponsio abzuwehren; es war schlechterdings nicht möglich, den Angeklagten vor dem Volk nicht zu Wort kommen zu lassen. Herausgefordert zu einer sponsio, konnte der Tribun zwar ablehnen zu antworten; doch damit gestand er ein, dass der Gegner die besseren Argumente hatte. Die Frage, die nun kam, lautete: »Nehmen wir an, Du wollest mich entehren, ich aber rufe einen Deiner Kollegen zu Hilfe, der steigt auf die Rednertribüne, um mir beizustehen, darob gerätst Du in Zorn: wirst Du ihn dann auch seines Amtes entheben?« T. Annius Luscus schlug zielsicher in die wunde Stelle der gesamten Politik des Volkstribuns: Wenn man einen Tribun abwählen lassen konnte, weil er sein Interzessionsrecht anders gebrauchte, als dem Kollegen lieb war, warum sollte man ihn dann nicht seines Amtes entheben lassen, wenn er sein ius auxiliandi – sein Recht, einem Bürger zu Hilfe zu kommen – ausübte? Tiberius Gracchus blieb laut Plutarch aus Verlegenheit stumm. Es war weniger nachteilig, sich besiegen zu lassen, als in höchster Not eine Antwort zu geben, deren politische Implikationen der Befragte im Stress des Wortgefechts nicht absah und die ihn furchtbar diskreditieren konnten. Das Prestige des Volkstribuns war angeschlagen. Dabei hätte Tiberius sehr gut antworten können, wenn er zuvor gründlich über die Grundsätze seines Handelns und über die Eigenart des Volkstribunats nachgedacht hätte: Beide Fragen des T. Annius setzen voraus, dass die Qualitäten und Kompetenzen des Volkstribuns absolut galten; T. Annius abstrahierte vollkommen von der Durchsetzbarkeit und von der Billi204
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gung des tribunizischen Handelns durch das Volk. Es ist ein Indiz dafür, dass den römischen Senatoren die Maximen ihres politischen Handelns zwar in exempelhafter Weise bewusst, aber nicht in theorieförmiger Gestalt für dialektische Argumentationen verfügbar waren. Ob Tiberius seine Anklage fallen ließ, ist unklar, doch wahrscheinlich: Wie hätte er sie nach dieser Niederlage in der entscheidenden Frage – Achtung vor den Rechten des Volkstribuns – noch aufrechterhalten können? Tiberius Gracchus brauchte einige Zeit, bis er imstande war, in einer neuerlichen Volksversammlung seine berühmte Rede über das Volkstribunat zu halten. Der gesamte Gehalt der Rede lässt sich auf den Nenner bringen: Der Volkstribun ist so lange heilig und so lange unantastbar, wie er dem Heil des römischen Volkes dient: »Wer die Rechte des Volkes zerstört, der ist überhaupt kein Volkstribun mehr!« Indem Tiberius das Amt des Tribuns an den Volkswillen band, lieferte er eine Rechtfertigung für sein Handeln, die genau auf die beiden sponsiones des T. Annius gemünzt war. Mittels einer sponsio konnte – wie in unserem Beispiel – ein geschickter Frager auch die wortreichsten Redner in Verlegenheit bringen. Um in einer sponsio Antwort zu stehen, benötigt man ganz andere geistige Techniken als bei der üblichen römischen Rhetorik: Es kam darauf an, ein Problem rasch zuzuspitzen und sehr schnell die sachlichen und logischen Implikate abzuschätzen, welche sich bei konträren Optionen ergaben. Politische Opfer für die inneroligarchische Versöhnung Zurück zur Frage, die Carbo 130 v. Chr. dem Scipio Aemilianus stellte. Auf den ersten Blick war das keine sponsio, denn formal war es keine Entscheidungsfrage. Doch in der konkreten politischen Situation konnte der Befragte das Problem nicht umgehen, ob die Tötung des Tribuns gutzuheißen oder zu missbilligen war. Scipio Aemilianus musste sich de facto entscheiden; die Befragung hatte daher die Qualität einer sponsio. Das enorme Prestige des Scipio Aemilianus, als Kapital innenpolitisch eingesetzt, sollte Wirkung tun. Gegen den Gesetzesantrag redend, hatte Aemilianus es in die Waagschale geworfen. Doch selbst das größte Prestige eines Senators war verlierbares symbolisches Kapital. Indem der Volkstribun dem ersten Senator Roms jene Stellungnahme abverlangte, brachte er ihn in eine Situation, in der Aemilianus dieses Prestige verspielen konnte. Verweigerte er die Antwort, dann versteckte er vor dem Volk seine Meinung zur brisantesten politischen Frage. Was 205
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war dann seine Rede noch wert? Rechtfertigte er die Tötung des Tribuns, dann brachte er das Volk gegen sich auf. Wie gut seine Rede auch gewesen sein mag, ihr Effekt tendierte dann gegen Null. Die römische Politik war aus strukturellen Gründen personalisiert; und das wirkte sich nun nachteilig für Scipio Aemilianus aus: Die Argumente zählten nicht mehr, sobald das Volk die Person ablehnte. Verurteilte er die Tötung, behielt er die Sympathien des Volkes und steigerte sie noch; doch er schuf eine unerträgliche Missstimmung im Führungskreis jener Verfechter einer härteren oligarchischen Regierungsweise, denen die Senatsautorität über alles ging. Aemilianus wollte sich nicht diskreditieren und versuchte es mit einem hypothetischen Schluss: Falls Tiberius Gracchus nach der Macht in der Res publica gestrebt hatte, dann sei er, so scheine es ihm, zu Recht getötet worden.26 Die rhetorische Umformulierung in einen Konditionalsatz half nichts; weil viele der Anwesenden wussten, dass Aemilianus just das als wahr und gewiss voraussetzte, was er als Bedingung ausdrückte. Die Bürger lärmten und buhten den vornehmsten Römer aus. Wäre dieser klug gewesen, hätte er es dabei belassen. Es war in der Sache ohnehin nichts mehr zu retten. Der Volkstribun hatte mit seinem Schachzug gesiegt: die Rede des Aemilianus war um ihre Wirkung gebracht. Jede weitere Eskalation konnte nur das Ansehen des ersten Senators beschädigen, weil sich dann erwartungsgemäß die Haltung des Volkes versteifte – und bei zureichender Vehemenz des Volkes fand sich üblicherweise auch kein Tribun mehr bereit, gegen die rogatio zu interzedieren. Hätte Scipio Aemilianus geschwiegen, wäre ihm die Chance geblieben, dass die Zeit wirkte und die römischen Bürger irgendwann sich wieder an das erinnerten, was er für die Res publica bedeutete. Doch Aemilianus glaubte, er dürfe es sich nicht gefallen lassen, dass die Hauptstädter ihn auspfiffen. Er ergriff das Wort und rief: »Wenn mich das Geschrei so vieler bewaffneter Feinde nicht erschreckt hat, wie soll mich dann Eures einschüchtern, Ihr, denen Italien eine Stiefmutter ist?«27 Ein furchtbarer Fehlgriff: Den feldherrlichen Ruhm in dem Augenblick auszuspielen, als die persönliche Autorität bröckelte, konnte nur helfen, falls es nicht auf autoritäre Weise geschah. Der aufgebrachte Aemilianus schien jedoch die Kontrolle verloren zu haben; er beantwortete die Einbuße an Popularität mit aggressiver Anmaßung: Er erklärte die hauptstädtischen Bürger nicht bloß zu Nichtitalikern; indem er ihnen vorhielt, Italien zur Stiefmutter zu haben, erachtete er sie überdies als Leute, die nur zum römischen Bürgerrecht gekommen waren, weil man sie als Sklaven nach Italien gebracht und hier freigelassen hatte. Schlimmer hatte keiner das römische Volk je 206
Die Zurücknahme von Anträgen
beleidigt. Nicht bloß, weil nicht stimmte, was Aemilianus behauptete – nur eine schmale Marge der Plebs bestand aus Freigelassenen –, sondern weil freigeborene Römer von der obersten bis zur untersten Vermögensklasse Freigelassene stets verachteten. Scipio Aemilianus hatte vorsätzlich das Band zerrissen, das ihn politisch mit den hauptstädtischen Römern vereinte. Ob man nun die contio überhaupt noch fortsetzen konnte, ist fraglich. Wie sollten die Bürger dem selbsternannten Volksfeind noch ins Angesicht blicken und dabei ruhig bleiben? Und wie sollte der Volkstribun die contio weiterführen und die anderen Konsulare zum Reden aufrufen, als wäre nichts geschehen? Aber eben dies hatte Scipio Aemilianus möglicherweise beabsichtigt: mit einer spektakulären Geste das Volk so gegen sich aufzubringen, dass es weder möglich war, die contio weiterzuführen, noch überhaupt diesen Antrag weiterhin zu behandeln. War das der Zweck seiner Beleidigung, dann hatte er mit Sicherheit nicht den Preis bedacht, den er für sein Auftreten zahlen musste. Denn vor aller Augen brach nicht nur die Popularität, sondern auch die Autorität des vornehmsten Römers zusammen. Das Ausmaß dieses Sturzes wurde wenige Wochen später besiegelt: Als beide Consuln um das Kommando im bevorstehenden Krieg in Kleinasien stritten, lag es nahe, dem größten römischen Feldherrn auch diesen Krieg anzuvertrauen. Die entzweite Aristokratie überließ in solchen Fällen gerne dem Volk die Entscheidung. So stimmte es in den Comitien über die Vergabe des Kommandos ab: 33 Tribus stimmten gegen den verhassten Scipio, nur zwei für ihn; der umstrittene Oberbefehl ging an den Consul Mucianus. Kein populärer Senator war jemals so tief gestürzt. Doch der Nadir war noch nicht erreicht. Scipio Aemilianus hatte sich in das Ziel verbissen, die gesamte Agrarreform des Tiberius Gracchus zu Fall zu bringen und befürwortete ein Gesetz, das der Ackerkommission ihre richterliche Befugnis nehmen sollte. Als er auf einer contio dafür sprechen wollte, erscholl der Ruf: »Tötet den Tyrannen!« Auch wenn das zuerst nur die Anhänger der Gracchen riefen, stimmte wahrscheinlich der Großteil oder die gesamte Plebs in den Ruf ein. Es fragt sich, ob er überhaupt weitersprechen konnte; weitaus geringere Störungen reichten aus, um Reden unhörbar und Redner mundtot zu machen. Ihn überhaupt noch als Redner einzusetzen, lohnte nicht mehr, sondern brachte jedwedem Anliegen Schaden. Die berühmten Worte, mit ihm stehe und falle die Res publica, inspiriert von jenem sozial verträglichen Größenwahn, der sich in der römischen Nobilität nicht selten fand, waren für niemanden mehr vernehmbar, der nicht direkt neben ihm stand. Vielleicht in derselben Nacht starb er; 207
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
die Umstände konnten nicht geklärt werden, da eine Mordanklage gegen Gaius Gracchus und Fulvius Flaccus entweder schon bei der contio auf massiven Widerstand beim Volk stieß oder sogar in den Comitien niedergestimmt wurde.28 Man brauchte nicht abzuwarten, bis alle diese Ereignisse eintraten, um zu begreifen, was passiert war. Das war schon bei jener verhängnisvollen contio abzusehen, als der Volkstribun Carbo mit einer einzigen Frage die Galionsfigur der oligarchischen Reaktion so schwer beschädigte, dass sie politisch untauglich wurde. Dafür brauchte man – wie stets in ähnlichen Situationen – einen Schuldigen. Nun hatte Scipio Aemilanus seine politische Demontage insofern selbst verschuldet, als er die Eskalation auslöste. Doch das war Deutungssache; und die Nobilität interpretierte anders: Die Schuld an dem unerhörten Ereignis trug der Volkstribun; denn er hatte mit seiner sponsio den fatalen Erdrutsch ausgelöst; Cicero nennt diese Frage später »aufrührerisch« (seditiosus). Papirius Carbo hatte nun die Wahl: Brachte er das Gesetz durch, dann hatte er reihenweise Feinde in den obersten Rangklassen des Senats, denn man kreidete ihm nicht nur ein sehr gefährliches Gesetz an, sondern man bezichtigte ihn obendrein, die Autorität des ersten Mannes der Republik zerstört zu haben. Falls Carbo nicht sehr reich und mit sonstigen Ressourcen versehen war, blieben ihm – trotz seines ruhmreichen Namens – keine Aussichten mehr, seine senatorische Karriere fortzusetzen. Wollte er diese Feindschaften vermeiden, musste er demonstrieren, dass ein Missgeschick passiert war und er gar nicht vorhatte, den vornehmsten Römer um sein Ansehen und um seine politische Autorität beim Volk zu bringen. Die wirkungsvollste Geste war die, den Antrag zurückzuziehen. Cicero rückt den Sachverhalt in ein anderes Licht – er drückt es so aus, als sei »ein volkstümliches Gesetz durch des Volkes Stimme abgelehnt worden«29 –, eine Ausdrucksweise, die er gebraucht, wenn ein rogator seinen Antrag zurückzog, weil der Widerstand zu groß war. Dass es sich so verhalten hätte, ist für die Situation nach jener contio auszuschließen. Carbo zog den Antrag zurück, um erregte Gemüter zu beschwichtigen und um gegenüber der Nobilität seinen guten Willen zu demonstrieren. Es lohnte sich. Seine Karriere verlief glatt. Zehn Jahre später war er Consul. Das ist nicht der einzige Fall, in dem ein Tribun einen Antrag zurückzog, um der Nobilität einen Gefallen zu tun. Im Jahre 104 v. Chr. promulgierte L. Marcius Philippus ein Ackergesetz. Er focht es aber nicht durch. Cicero schreibt darüber: »Das ließ er freilich leicht fallen und zeigte sich dabei auf nachdrückliche Weise gemäßigt.«30 Der Wortlaut 208
Die Zurücknahme von Anträgen
zeigt, dass auch dieser Antrag nicht zur Abstimmung kam. Aber wieso nicht? Im Jahre 104 hatte die populare Politik Hochkonjunktur, die Verfechter einer strengen Oligarchie hatten sich im Jugurthinischen Krieg diskreditiert und hatten serienweise innenpolitische Niederlagen erlitten. Marius stand vor seinem Zenit. Will man die Zurücknahme des Antrags erklären, dann scheidet die Möglichkeit, das Volk habe dagegen opponiert, mit Sicherheit aus. Ciceros Worte verraten, dass Marcius Philippus ein anderes Spiel spielte. Er hatte sich mit sehr oligarchiefeindlichen Reden beim Volk profiliert. Promulgierte er nun eine rogatio zur Landverteilung, verstärkte er seine Popularität. Nahm er den Antrag wieder zurück, bedauerte das Volk diesen Schritt, verzieh ihn aber, falls er rituell tadellos inszeniert war. Der eingeschüchterten Nobilität konnte Marcius Philippus ein Geschenk machen, mit dem er klar ausdrückte, dass er sich ihr zugehörig fühlte: er brauchte nur seinen Antrag zurückzuziehen. Das scheint er ›leicht‹ gemacht zu haben; offenbar so, dass die Senatoren merken mussten, wie sehr er bemüht war, ihnen einen Dienst zu erweisen. Auch für ihn lohnte es, zunächst Sympathien bei der Plebs zu gewinnen und dann – ohne an Popularität einzubüßen – sich die Nobilität durch eine Geste quasi zu verpflichten. Er war 13 Jahre später Consul. Ähnlich ist der Fall von 145 v. Chr. gelagert. Es ist anzunehmen, dass Episoden dieser Art sich häufiger ereigneten, vor allem in Konjunkturen popularer Politik. Eine solche Geste der Gefälligkeit setzte voraus, dass der Antrag populär war und gute Aussichten hatte, angenommen zu werden. Der betreffende Antragsteller vermied es, sich beim Volke den Ruf einhandeln, er habe kein Stehvermögen. Daher musste er die Rücknahme glaubwürdig inszenieren: er ließ sich wahrscheinlich von wirkungsvollen Gesten vor der versammelten Bürgerschaft dazu drängen nachzugeben. Synopse: Handlungsspielräume und Optionen eines Antragstellers Wir können aus den vorangegangenen Überlegungen und Fallbeispielen synoptisch eine Reihe von möglichen Situationen erstellen, in denen Antragsteller agierten. Hätten wir mehr Fälle und dichtere Quellenbelege, wäre es möglich, die Maximen zu rekonstruieren, die diese Politiker auf einer contio befolgten: 1. War die Präferenz der Bürger in der abzustimmenden Angelegenheit gering, dann konnte der rogator fest darauf bauen, dass sie zustimmten. 2. Allerdings konnte eben bei geringer Präferenz im letzten Augenblick ein Vorfall mit hoher symbolischer Kraft die Meinung umschlagen 209
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
lassen, wie es anlässlich der supplicatio des Sulpicius Galba 149 v. Chr. geschah. 3. War die Plebs gegen einen Antrag eingenommen, und blieb sie in den folgenden contiones bei ihrer Meinung, dann bestanden vor der Einführung der Stimmtäfelchen noch Chancen, ihr durch patronalen Druck den Konsens abzunötigen. Doch das hing von der Präferenzstärke ab; gegen eine heftig dissentierende Plebs war nichts auszurichten. 4. Seitdem man geheim abstimmte, war es nicht mehr möglich, die Bürger im Augenblick der Stimmabgabe zu beeinflussen. Wenn sie sich hartnäckig sträubten, dann stimmten sie mit ›Nein‹. Der Antragsteller musste demnach die Stimmung in den contiones sehr viel aufmerksamer beachten, als das früher nötig war. Er musste abschätzen, ob es lohnte, sein Aufgebot an Rednern in den Kampf gegen eine widerständige Volksmeinung zu werfen. 5. Gab ihm eine einmütige Senatorenschaft starke Rückendeckung, konnte er – rein theoretisch – das Volk von den besten Rednern so lange bearbeiten lassen, bis dessen Präferenzen schwächer wurden und man den Punkt erreichte, wo dem Volk an der Eintracht mit ihrer herrschenden Klasse mehr lag als an der Sache. Dann erst konnte er die Abstimmung riskieren. Hierher gehören die Fälle 200 und 167 v. Chr. 6. War die Aristokratie in der abzustimmenden Frage gespalten, dann war gegen eine starke Präferenz des Volkes überhaupt nicht anzukommen. Der rogator musste seinen Antrag schon in einem frühen Stadium zurückziehen, wenn er nicht eine Blamage erleiden wollte. 7. Auch wenn das Volk mit dem Antrag sympathisierte, konnte der Antragsteller es für ratsam halten, seine rogatio zurückzuziehen. Stand er als Tribun mit seinem Antrag gegen eine weitgehend geschlossene Nobilität, drohten ihm dauerhafte Feindschaften seitens des innersten Kerns der Machtelite. Hielt er trotzdem an seiner rogatio fest, endete seine Karriere rasch. Er musste sich überlegen, ob er diese Konsequenz tragen wollte. 8. Lehnte die geschlossene Nobilität den Antrag beharrlich ab und kam es zu verbalen Zusammenstößen in den contiones, so dass führende und allseits anerkannte Politiker ihre Popularität einbüßten, dann geriet der antragstellende Tribun zum Sündenbock. Er musste, um seinen guten Willen zu zeigen, seinen Antrag fallen lassen. Das ist keine vollständige Liste von möglichen Situationen. Es ist ein Katalog von Varianten, die sich ergeben, wenn man die wichtigsten Komponenten jenes Prozesses der Willensbildung in den contiones verändert und ihre Relationen untereinander verschiebt. Er illustriert die 210
Die Zurücknahme von Anträgen
semantische und situative Vielfalt des politischen Handelns unter den Augen einer contio. Wir finden auch Fälle von hohem taktischen Raffinement. Mindestens einmal wich ein Antragsteller kurzfristig zurück, um mit dem so gewonnenen Prestige seinen ursprünglichen Plan umso konsequenter zu verfolgen. Das geschah 232 v. Chr., als der Volkstribun C. Flaminius einen Gesetzesantrag vorlegte, der vorsah, den ager Gallicus – kürzlich erobertes Land in der Poebene – an einzelne Bürger namentlich aufzuteilen. Als er damit im Senat nicht durchkam, berief er dennoch contiones ein, um den Antrag dem Volk nahe zu bringen. Der Senat leistete massiven Widerstand. Aber Flaminius ließ sich weder von Bitten bewegen noch schüchterten ihn die Drohungen ein. Er berief die Comitien ein, um den Antrag von der Volksversammlung verabschieden zu lassen. Keiner der anderen Volkstribunen interzedierte gegen die Abstimmung. Demnach war die Zustimmung des Volkes so heftig, dass auch Tribunen, die von den ranghohen Senatoren dazu ermahnt wurden, nicht zu interzedieren wagten. Damit schienen alle Mittel erschöpft: es war nicht mehr zu verhindern, dass der Antrag zum Gesetz wurde. Da geschah Folgendes: »Als er [C. Flaminius] darauf den Gesetzesantrag von der Rednertribüne verlesen ließ, legte sein Vater Hand an ihn; und vom ›privaten Imperium‹ bezwungen, stieg er von der Rednertribüne herunter, wobei sich nicht das geringste Murren in der verlassenen Versammlung erhob, um ihn zurückzuhalten.«31
Der Vater des Antragstellers hatte das Risiko genau kalkuliert: Volkstribunen waren sakrosankt; wer Hand an sie legte, konnte straflos getötet werden, vorzugsweise, indem man ihn vom Tarpejischen Felsen stürzte und ihn ums Begräbnis brachte. Aber auch die patria potestas war unantastbar.32 Es war nicht im Vorhinein klar, wie das Volk reagierte: ob es die sacrosanctitas des Tribuns schützte, oder ob es die patria potestas höher stellte. Der Vater des Tribuns wusste, dass ein erheblicher Teil der versammelten Bürger aus Familienoberhäuptern (patres) bestand; und er rechnete offensichtlich damit, dass diese patres zumindest nicht einhellig zugunsten des Tribuns reagieren würden. Das bestürzte Volk war reaktionsunfähig, weil es die Kollision zwischen zwei geheiligten Rechten nicht vorhergesehen hatte und sie erst verarbeiten musste. Entscheidend jedoch war, dass der Sohn sich nicht wehrte. Hätte sich der Tribun seinem Vater widersetzt und auf seine sacrosanctitas gepocht, dann hätten sich die römischen Bürger erklären müssen, für den Tribun oder für den Vater. Sie hätten den Normenkon211
Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik
flikt austragen müssen. Indem Flaminius augenblicklich gehorchte, vermied er diese fatale Situation mit ungewissem Ausgang. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Vater fest darauf setzte, dass sein Sohn im Ernstfall nachgab. Sein Risiko war geringer, als es zunächst scheint. Auf den ersten Blick schien Flaminius einen schweren politischen Kampf zu verlieren. Obendrein verengte er mit seinem Zurückweichen den Handlungsspielraum zukünftiger Tribunen: Er hatte nachgegeben, und die Plebs hatte sein Nachgeben akzeptiert. Das war ein Präzedenzfall, der die sacrosanctitas des Tribuns gegenüber der patria potestas abschwächte, ein exemplum, das man hinfort zitieren konnte. Auf der anderen Seite gewann Flaminius an Achtung und Ansehen. Denn er hatte sich vor dem versammelten Volk als vorbildlicher Römer erwiesen: Wie sehr musste Flaminius, der dem einhelligen Willen des Senats getrotzt hatte, von pietas erfüllt sein! Aber auch die Senatoren blieben davon nicht unbeeindruckt; Flaminius gewann verlorene Sympathien zurück. Alle feindlichen Invektiven gegen ihn mussten in Zukunft an ihm abprallen. Denn wer solchermaßen seinem Vater gehorchte, war ein Vorbild; wer ihn bezichtigte, gegen althergebrachte politische Regeln zu verstoßen, schien nicht glaubwürdig. C. Flaminius brachte das Ackergesetz durch, vielleicht noch während seines Tribunats, vielleicht später. Wir wissen nicht wie: War der Vater abwesend, krank oder schon gestorben? Oder überzeugte ihn der Sohn von der Gerechtigkeit seines Anliegens? Jedenfalls war sein politischer Sieg nur aufgeschoben, als er seinem Vater nachgab: Gerade dieses Nachgeben verhalf ihm letztlich zum Erfolg. Wir sehen uns einer erstaunlichen situativen Vielfalt gegenüber. Sie systematisch einzubeziehen – obschon wir sie nicht zur Gänze erfassen können – trägt bei, den politischen Prozessen innerhalb der Institutionen eine neue Tiefenschärfe zu verleihen.
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Wie kollektive Aktionen wirken
10. Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
Wie kollektive Aktionen auf den Segmenten des politischen Feldes wirken Präferenzmessung und kollektive Gewalt Die Comitien brachten also gelegentlich regelrechte Entscheidungen des Volkes hervor. Aber sie fungierten nicht als Entscheidungsorgan, sondern als Konsensorgan. Folglich waren die Entscheidungen schon gefallen, bevor die Abstimmung begann. Wo fielen sie? Hält man konzeptionell daran fest, dass es einen Ort der Entscheidung geben müsse, und berücksichtigt man anderseits, dass die Comitien nicht als Organ der Entscheidung fungierten, dann musste die Entscheidung im Vorfeld der Abstimmung fallen. Es musste ›entschieden‹ werden, ob eine Angelegenheit überhaupt zur Abstimmung kam oder nicht. Das hing von der Interaktion auf drei Segmenten des politischen Feldes ab: 1. von der Willensbildung innerhalb der Senatoren;1 2. von der Interaktion zwischen stadtrömischem Volk und Senatorenschaft; 3. von dem akzeptierten oder nicht akzeptierten Einsatz von Obstruktionsmitteln, um eine Abstimmung in den Comitien zu verhindern.2 Das zweite Feldsegment, die Interaktion zwischen Aristokratie und Volk, lässt sich untergliedern in den institutionellen Kommunikationsraum der contiones und der so genannten ›Spiele‹ und in die außerinstitutionelle Dimension des rituellen Drucks und der kollektiven Gewalt auf der Straße.3 Zwar akzeptierten die beherrschten Bürger grundsätzlich die oligarchische Herrschaft und stellten ihre politische Form bis in die fünfziger Jahre des ersten Jahrhunderts v. Chr. nicht in Frage. Doch das bedeutete nicht, dass die Aristokratie entschied und die Plebs gehorchte. Der Gehorsam der Plebs hing in den konkreten politischen Situationen davon ab, wie zustimmungsfähig die Politik der Aristokratie jeweils war. Die außerinstitutionelle Macht der stadtrömischen Bürgerschaft – ihre Fähigkeit zu kollektiven Reaktionen – reichte oft aus, um aristokratische Initiativen zu blockieren. Bezieht man diese Macht 213
Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
in das Modell der römischen Politik ein, dann ergibt sich, dass Politik in Rom sich zwischen sozialen Großgruppen ereignete. Zwar fand ein Teil dieser Politik auch in Organen und Institutionen statt; aber diese institutionalisierte Politik blieb einbeschrieben in ein Ensemble und war dessen Dynamiken unterworfen. Diese außerinstitutionelle Macht tangierte insbesondere die Obstruktion und die Provokation, das dritte oben genannte Segment. Die Obstruktion gehört in den Zusammenhang von Konsensherstellung und Prüfung der Präferenzstärke.4 Da für die Herstellung von Konsens das Nachgeben von erstrangiger Bedeutung war, gehört die Obstruktion mindestens ebenso sehr zu den rituellen Mitteln wie zu den institutionellen Kompetenzen. Hier taucht der Kern des Problems auf: Kam es zur Obstruktion und musste man die Stärke der Präferenz ermitteln, dann hingen die Erfolgschancen der Obstruktion vom Kräfteverhältnis ab. Bei starkem Dissens musste man immer stärkere Mittel einsetzen. Anders gesagt: Um abzuschätzen, wie stark die Präferenz des Gegners war, musste man die Stärke der eigenen Präferenz demonstrieren. So war man versucht, zu immer brachialeren Mitteln zu greifen. Die dann einsetzende interaktive Dynamik war ab einer bestimmten Schwelle von den Involvierten gar nicht mehr zu kontrollieren. Irgendwann musste die gegenseitige Präferenz-Abschätzung tangential den Einsatz der Gewalt streifen. Das ist ein kardinales Problem aller auf Konsens angelegten politischen Systeme: sie funktionieren, indem sie die Messung der Präferenzen ernst nehmen; aber sie funktionieren nur so lange gut, wie das Nachgeben möglich ist. Bei harten sachlichen Konflikten, wenn das Nachgeben sehr schwierig wird, kollidieren Intensitäten miteinander. Dann ergeben sich gewalthaltige Situationen. Blieb eine Obstruktionshandlung erfolgreich, weil das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten ausfiel, kam mitunter die Versuchung auf, das Kräfteverhältnis zu ändern, indem man Gewalt anwandte.5 Wilfried Nippel hat diesen fatalen Konnex für das Ende der Republik herausgearbeitet: Je schwerer der Dissens zwischen den aristokratischen Gruppierungen in der späten Republik wurde, desto häufiger und umfassender setzte man Gewalt im Bereich der Obstruktion ein.6 Das römische Volk war an einen kontrollierten Gebrauch von Handlungen, die in unterschiedlichem Grade gewalthaltig waren, in ihrem Alltag gewöhnt. Ein Beispiel bietet das Provokationsrecht: Gegen eine magistratische Maßnahme konnten Römer, wie Jochen Martin dargelegt hat, ihre Nachbarn zu Hilfe rufen und die Amtshandlung so lange blockieren, bis eine Volksversammlung sich des Falles annahm; die Provokation führte »zu einer politischen Versammlung des Volkes, das 214
Wie kollektive Aktionen wirken
eine politische Entscheidung traf«7. In welchem Ausmaß das Volk dabei Gewalt anwandte, hing sowohl von der Klugheit des agierenden Magistrats ab als auch von der Entschlossenheit der zusammengerufenen Menge an Bürgern; im Idealfalle kam es zu keiner Tätlichkeit und zu keiner Beleidigung. Sowohl die Senatorenschaft als auch die einfachen Bürger ließen sich in ihren Auseinandersetzungen von präzisem Wissen leiten. Die Reaktionen der Plebs erfolgten als kodierte Handlungen mit spezifischen Graden auf der Skala politischer Intensität. Die Plebs war erzkonservativ und hielt zäh an Traditionen fest. Das machte ihre Reaktionen in gewissem Umfang vorhersehbar. Aktionen, die in unserem politischen System zum ›zivilen Ungehorsam‹ zählen und normalerweise kriminalisiert werden, waren in Rom politische Handlungen, deren Rechtmäßigkeit davon abhing, wie die Kräfteverhältnisse jeweils lagen. Das illustriert die Verteidigungsrede, die M. Antonius 94 v. Chr. für C. Norbanus hielt. Der Angeklagte hatte zehn Jahre vorher als Volkstribun die Volksversammlung geleitet, welche gegen Q. Servilius Caepio wegen Hochverrats verhandelte. Kurz die Umstände: Caepio befehligte 105 v. Chr. als Proconsul in Südgallien, welches die Kimbern bedrohten, ein Heer, als der Consul Cn. Mallius mit seinem Heer heranrückte, um gemeinsam die Eindringlinge abzuwehren. Doch der Proconsul ordnete sich dem Consul nicht unter; getrennt wurden beide Heere nacheinander geschlagen, wobei mehr römische Bürger fielen als in der Schlacht bei Cannae gegen Hannibal. Die allerorten stattfindenden Trauerrituale wurden zu Manifestationen der Volkswut gegen Caepio. Einem Volkstribun gelang es, den Proconsul in dessen Amtsjahr durch Volksgesetz aus seinem Amt zu entheben; doch anscheinend kam 105 keine Anklage gegen Caepio zustande. Im folgenden Jahr jedoch klagte der Volkstribun Norbanus den amtsenthobenen Proconsul wegen Hochverrats (perduellio) an. Die Nobilität spielte ihr gewohntes Spiel; genau wie bei der Untersuchung der verräterischen Umtriebe im Jugurthinischen Krieg bemühte sie sich, den Prozess zu verhindern. Zwei Volkstribunen interzedierten während des Verfahrens. In der Bürgerschaft – Tausende von Römern waren in Trauer – schlugen die Wogen der Empörung hoch; trotzdem hielten beide Tribunen ihr Veto aufrecht. Da passierte etwas Neues: Römische Bürger stürmten auf die Tribüne und zerrten die beiden Tribunen herunter. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Die Menge jagte die beiden vom Versammlungsplatz; und den vornehmsten Senator (princeps senatus) M. Aemilius Scaurus – den Cliquenchef der Nobilität schlechthin – traf ein Stein. Norbanus brach die 215
Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
Versammlung nicht ab. Er rief die Bürger zur Abstimmung und erreichte die Verurteilung des Konsulars, der sein Vermögen verlor und ins Exil gehen musste. Zehn Jahre später, 94 v. Chr., wurde Norbanus angeklagt: Während er jene Volksversammlung leitete, seien zwei Tribunen an der Interzession gehindert und gewaltsam vertrieben, der princeps senatus sei am Kopf von einem Stein getroffen worden; die Anklage lautete auf Verletzung der maiestas des römischen Volkes. M. Antonius, dessen Schützling Norbanus gewesen war, übernahm die Verteidigung. Er gab den Sachverhalt unumwunden zu; und er räumte ein, dass die Ereignisse den Tatbestand der seditio – eines Aufruhrs – erfüllten. Aber er bestritt, dass eine ›Minderung der Majestät des römischen Volkes‹ (maiestas populi Romani minuta) vorlag. Denn erstens habe der Volkstribun dem Volkswillen zu folgen, zweitens sei das Volk von gerechtem Zorn (dolor iustus) gegenüber Servilius Caepio erfüllt gewesen, und so habe es selbst zur Gewalt gegriffen.8 Antonius war ein sehr erfahrener und angesehener Prozessredner von konsularischem Rang. Er war kein ›Popularer‹, sondern pflegte energisch für die Autorität des Senates einzutreten. Doch er bot die römische Geschichte als Zeuge dafür auf, dass das Volk vom Aufruhr oft einen berechtigten, ja notwendigen Gebrauch gemacht habe. Zwar sei Aufruhr stets eine unangenehme Sache. Trotzdem seien eine ganze Reihe politischer Errungenschaften des römischen Staates nur erlangt und behauptet worden, weil das Volk zur Gewalt gegriffen hatte: nur so seien die Könige vertrieben worden, nur darum habe man die allzu großen Machtbefugnisse der Consuln einschränken können, nur mit Gewalt sei das Provokationsrecht erkämpft worden. Der Redner behauptete buchstäblich ein Volksrecht auf gerechten Aufruhr. Offenkundig lag hier ein bereits gängiges Argumentationsmuster vor, welches außerinstitutionelle Aktionen des Volkes mit Hilfe einer langen Reihe von markanten exempla zum Recht erhob.9 Antonius brauchte nur noch zu beweisen, dass der Volkszorn gegen die beiden Tribunen gerechtfertigt war. Das fiel ihm nicht schwer: Tausende von Bürgern in Trauerkleidung hatten ein Recht darauf, dass der Hochverräter verurteilt wurde. Kollektive Reaktionen binden das Volkstribunat an den Volkswillen Mit solchen kollektiven Reaktionen hatte die Oligarchie zu rechnen. Darum wurde das Volkstribunat nie zu einer regulären Magistratur. Dieses Amt war an den Volkswillen gebunden wie an einen Pflock. Tribunen vermochten nicht sich allzu weit vom manifesten Volkswillen 216
Wie kollektive Aktionen wirken
zu entfernen, solange der sich in kollektiven Reaktionen äußerte. Dass Volkstribunen ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. mehr und mehr aus aristokratischen Familien stammten, änderte daran nichts. Falls ein Magistrat eine Zwangsmaßnahme (coercitio) gegen einen Bürger ergreifen wollte und kein Volkstribun sich bereit fand, zugunsten des Betroffenen zu interzedieren, dann blockierte nicht selten eine zu Hilfe eilende Volksmenge die Amtshandlung. Halfen hier Tribunen nicht, dann unterminierten sie nicht nur ihr persönliches Ansehen, sondern sie entkräfteten langfristig die Daseinsberechtigung dieses wichtigen Amtes.10 Keinem konnte daran gelegen sein. Volkstribunen hatten demnach – qua Amt – ein massives Interesse daran, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholten; sie mussten von sich aus, mochten sie persönlich volksfreundlich sein oder nicht, so handeln, dass die einfachen Bürger vertrauensvoll ihre Hilfe einforderten. M. Antonius hielt es in jener Rede für gerecht und der römischen Ordnung gemäß, dass der Volkstribun dem Willen der Bürgerschaft (voluntas civitatis) gehorchte. Damit anerkannte der klassenbewusste Aristokrat einen Volkswillen, der sich unabhängig von Senat und Magistraten bildete und äußerte. Eben diesen hat ein Großteil der Forschung, insbesondere der deutschen, sich angewöhnt zu leugnen. Dieselbe Ansicht wie M. Antonius hatte auch Tiberius Gracchus vertreten. Sie entsprach einer alten Tradition. Sie implizierte, dass kollektive Aktionen der Plebs und Volkstribunat miteinander verzahnt blieben. Dagegen stand die oligarchische Interpretation des Tribunenamtes. Sie sah im Tribunat ein Mittel, um die Plebs zu integrieren, d.h. zu beschwichtigen, und in der tribunizischen Interzession vor allem ein innenpolitisches Instrument: mit ihm ließen sich Initiativen blockieren, die nicht im Sinne der Senatsmehrheit lagen, egal, ob das Volk sie guthieß oder nicht. Je konsensunfähiger die Oligarchie wurde und je häufiger einzelne Senatoren ausscherten, um Alleingänge zu unternehmen, desto öfter und bedenkenloser griff die Nobilität zur Notbremse, insbesondere zur tribunizischen Interzession. Sie verstärkte die Pressionen auf die Volkstribunen, damit diese mit ihrer Interzession Abstimmungen über unliebsame Anträge verhinderten. Damit veränderte die Senatsmehrheit allmählich den Charakter der Interzession, machte aus ihr ein absolut gültiges Recht. Die Tribunen spürten normalerweise lediglich Druck von dieser Seite. Doch auf der anderen Seite standen die einfachen römischen Bürger, die immer öfter fassungslos zusahen, wie Volkstribunen ganz manifest volksfreundliche Initiativen mit ihren Interzessionen zunichte machten, und die entsetzt miterlebten, dass diese Tribunen trotz des lauten 217
Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
Geschreis, das die Bürger anstimmten, an ihrem Einspruch festhielten. Irgendwann – das war vorherzusehen – mussten diese beiden divergierenden Auffassungen von der Funktion des Volkstribunats aufeinander prallen. Irgendwann mussten die versammelten Bürger die Geduld verlieren und erstmalig eigenhändig eine solche volksfeindliche Interzession beiseite schieben. Mit einer solchen Gewaltsamkeit taten sie nichts anderes, als den manifesten Volkswillen zu bekunden. Wenn selbst für signifikante Teile der Senatsaristokratie kein Zweifel bestand, dass der Volkstribun dem Willen des Volkes zu folgen hatte, umso besser. Nachdem der Großteil der Oligarchie 133 v. Chr. einen sakrosankten Volkstribun straflos ermordet hatte, bestand auch für die Plebs kein absolutes Hindernis mehr, desgleichen zu tun. Es war eine Frage der Zeit und der Umstände, wann es passierte. Die Plebs blieb auch darin konservativer als die Senatorenschaft. Erst nachdem diese den politischen Mord mit einem Massaker aufs Forum gebracht hatte, erlaubten sich die einfachen Bürger, zunächst mit den Händen, dann auch mit Stöcken und gar mit Steinen gegen Tribunen vorzugehen. Was 104 v. Chr. auf dem Versammlungsplatz geschah, ist deswegen so bedeutsam, weil zum ersten Mal das Volk kollektive Gewalt gegen Tribunen ausübte. Aber gerade an diesem Präzedenzfall ist zu ersehen, warum die Gewalt in der späten Republik dermaßen zunahm: Die Nobilität hatte stets zu einer gewissen Gruppensolidariät tendiert, wenn es darum ging, besonders angesehene Senatoren vor Verurteilungen zu schützen. Doch zwischen 110 v. Chr. und 104 v. Chr. – vor allem in der Kriegführung gegen König Iugurtha von Numidien – trieb sie ihre Cliquensolidarität auf einen nie zuvor und nie danach wieder erreichten Pegel: Manifeste Verräter am römischen Staat, die sich bereicherten und die Kriegführung hintertrieben, waren nicht zu belangen, weil Aemilius Scaurus und andere Konsulare eisern zusammenhielten und gefällige Tribunen jegliche Initiative verhinderten. Die nobilitäre Cliquensolidarität blockierte Initiativen, von deren Erfolg langfristig das Überleben der römischen Herrschaft abhing, sowohl in Africa als auch in Gallien. Wie wäre diese Blockade anders aufzubrechen gewesen als mit Gewalt? Die Nobilität hatte diese Gewalt herbeigelockt und bekam sie jetzt zu spüren. Es blieb der Plebs gar nichts anderes übrig, als den Senatoren mit Steinen auf die Toga zu schreiben, was es hieß, ein Römer zu sein; und dabei konnte ein Stein auch den obersten Cliquenchef und princeps senatus treffen. Dieser Stein traf – so interpretierte M. Antonius nicht unzutreffend – zur Verteidigung römischer Grundwerte.
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Wie kollektive Aktionen wirken
Aristokratische Gewalt – oder wie tötet man einen Volkstribun? Nicht nur die Plebs verfügte über rituelle Formen der Ausübung von Gewalt. Als Tiberius Gracchus sich 133 v. Chr. zur Wiederwahl stellte, heizte er die politischen Emotionen an; denn damit entzog sich der bei der Senatsmehrheit verhasste Tribun einer Kette von Prozessen, die ihm bevorstanden. Schlimmer noch: Es war damit zu rechnen, dass er – wiedergewählt – gegen den erklärten Willen des Senates weitreichende politische Entscheidungen durchsetzte, indem er Gesetz auf Gesetz durch die Volksversammlung brachte. Man setzte seiner Kandidatur Widerstand entgegen, welchen er zu brechen suchte, indem er neue Mittel einsetzte. Das römische Spiel, den Gegner zum Nachgeben zu bewegen, indem man seine Absichten immer intensiver verfocht, geriet außer Kontrolle, weil Tiberius die Intensität des Willens seiner Gegner einfach überging. Indes, die Kollision von Intensitäten führt zur Gewalt, wenn sie einander zu überbieten beginnen und keine Einhegung gelingt. Als die Wahlversammlung begann, eskalierten die Handgreiflichkeiten. Das wurde dem gerade tagenden Senat gemeldet, offenbar verzerrt und mit dem Hinweis, der Tribun wolle sich zum König erheben lassen. Da forderte der Konsular Scipio Nasica den amtierenden Consul auf, die Res publica zu retten und den Tyrannen zu stürzen. Der Consul entgegnete, er werde keinen römischen Bürger ohne richterliches Urteil töten. Nasica sprang auf und rief: »Der oberste Magistrat verrät den Staat! Auf denn, wer für die Gesetze einstehen will, folge mir nach!« Er stürmte voran, hinauf zum Kapitol, zum Versammlungsplatz. Die ihm nachstürmenden Senatoren schlangen die Toga um den linken Arm; Nasica hatte sich den Saum der Toga über den Hinterkopf gezogen. Die Senatoren bewaffneten sich mit Stuhlbeinen und Knüppeln und trieben die Anhänger des Tribuns auseinander; dabei erschlugen sie viele. Als sie den fliehenden Tiberius einholten, versetzte ihm sein Kollege P. Saturius den ersten Schlag und traf ihn am Kopf; danach knüppelten sie ihn tot. Als das Massaker zu Ende war, gaben die Magistrate die Leichen nicht zur Bestattung heraus, sondern ließen sie in den Tiber werfen. Nach römischer Überlieferung war dies das erste Mal seit der Vertreibung der Könige, dass bei einer politischen Auseinandersetzung auf einem öffentlichen Platz in der Stadt Bürger getötet wurden. Das Geschehnis war an sich ungeheuerlich; aber noch entsetzlicher war, dass man einen sakrosankten Volkstribun getötet hatte. Den Senatoren war ungefähr klar, welche symbolische Wirkung ihre Aktion erzeugte, als sie hinter Scipio Nasica hereilten. Kein Magistrat hatte dazu aufgefordert, kein Magistrat leitete die Aktion; diese entfal219
Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
tete sich als regelrechte kollektive Handlung, diesmal nicht des Volkes, sondern der politischen Führungsschicht. Und sie vollzog sich in wahrnehmbaren rituellen Formen. Diese Senatoren waren entschlossen, den Tribun zu lynchen; und sie benutzten dafür keinerlei Waffen aus Eisen, sondern Steine und Holz. Das waren die traditionellen Waffen des Volkes, wenn es gewaltsam wurde. Aber warum zog Scipio Nasica die Toga über den Kopf? Diese Verhüllung – der cinctus Gabinus – war allen Römern wohl bekannt. So verhüllten sich die Priester beim Opfer. Scipio Nasica war Pontifex Maximus, oberster Priester. Die Verhüllung konnte – wenn man die Situation beachtet – mehrere semantische Valenzen annehmen: Zum einen machte Nasica auf seine Funktion als oberster Priester aufmerksam. Er flößte damit Vertrauen ein – in diesem kritischen Augenblick, wo er eine Tötung initiierte, die von keinerlei magistratischem Handeln begleitet oder abgedeckt war. Der Pontifex Maximus war darauf angewiesen, dass ihm zahlreiche Senatoren folgten, und er musste sichergehen, dass sie nicht im letzten Augenblick weiche Knie bekamen. Er musste ihnen signalisieren, dass das, was sie zu tun sich anschickten, rechtens war und die römische Religion nicht verletzte. Zum anderen – so hat David Earl vermutet – inszenierte Scipio Nasica den ungeheuerlichen Akt, einen Tribun zu töten, als regelrechte Opferung (immolatio): da spätestens seit diesem Tag bei vielen Senatoren Tiberius Gracchus als Tyrann galt, war der Tribun buchstäblich verfemt – sacer –, was auch ›geheiligt‹ bedeuten kann. Ihn zu töten hieß, ihn den Göttern – der Unterwelt – zu weihen, und das geschah immer straflos. Es ist schwierig, darin eine immolatio zu sehen; und es ist unnötig. Es genügt, eine Weihung (consecratio) an die Götter der Unterwelt anzunehmen. Den so Geweihten konnte man straflos töten. Mit der Verhüllung des Hauptes signalisierte Nasica allen, die ihn sahen, dass der oberste römische Priester den Volkstribun der Unterwelt ›geweiht‹ hatte.11 Scipio Nasica hatte keinen Präzedenzfall vor Augen. Er musste in diesem Augenblick spontan eine Geste erfinden, die auf die Situation passte. Seine Lösung war einfach und eindrucksvoll: Er konfrontierte die Sphäre des Heiligen, die den Volkstribun umgab, mit einer anderen Sphäre des Heiligen, nämlich der priesterlichen. Auf die sacrosanctitas antwortete er mit der consecratio. Dennoch führte er nicht den ersten Schlag. Als erster schlug ein Volkstribun auf Tiberius Gracchus ein. Trotz all der Panik, des Geschreis und Gerennes um sie her, sahen sich die Senatoren vor: So, wie nur ein Tribun die Handlung eines Tribuns durchkreuzen konnte, so musste es ein sakrosankter Tribun sein, welcher als 220
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erster Gewalt gegen den sakrosankten Tribun ausübte – ganz als höbe er damit die sacrosanctitas des Stürzenden auf und mache den Weg frei, damit auch die anderen alle nacheinander zuschlagen konnten. Kollektive Gegenwehr und Kampf um die semantische Hegemonie Die Senatsmehrheit bemühte sich, das blutige Geschehen mit einer eindeutigen politischen Semantik zu versehen. Die anschließende politische Verfolgung der Anhänger des Tribuns war ein brutaler Kampf darum, ihre Deutung zur allein gültigen zu erheben, die semantische Hegemonie zu gewinnen. Es war symbolisch wichtig, die Leichen nicht herauszugeben, sondern den Massakrierten das Begräbnis zu verweigern und die Leichen in den Tiber zu werfen. Nur so konnte man glaubhaft machen, die Getöteten seien ›Verfluchte‹ bzw. ›Feinde des römischen Volkes‹ (hostes populi Romani). Darum auch die Standgerichte und die vielen Verurteilungen. Sie hatten kaum einen direkten politischen Wert, aber einen enormen symbolischen. Es galt, Tiberius Gracchus als einen Tyrannen ins kollektive Gedächtnis Roms einzuschreiben; die Ungeheuerlichkeit seines Verbrechens wuchs, je mehr römische Bürger er mit sich ins Verderben riss, sei es durch Massakrierung auf dem Kapitol, sei es durch Verurteilungen vor den Standgerichten. Man rang über Jahre um die Deutung des grausigen Ereignisses vom Herbst 133 v. Chr. auf dem Kapitol. Der Kampf endete nie; das kollektive Gedächtnis der römischen Plebs und dasjenige der Verfechter der Senatsautorität – der Optimaten – drifteten auseinander. Wie immer brauchte die Plebs eine Weile, um sich zu sammeln, und um die Geschehnisse in einen sinnhaften Verständnisrahmen zu bringen. Dann handelte sie. Wo immer Scipio Nasica sich blicken ließ, erschallten Rufe, die ihn schmähten. Das nahm zu; ob er noch auf contiones zu Wort kam, ist zu bezweifeln. Schließlich kam es zu offenen Angriffen: »Verflucht sei er, schrien sie, ein Tyrann, und er habe mit dem Blut eines heiligen unverletzlichen Mannes den weihevollsten Ort ihrer Stadt befleckt …«12 Die Plebs setzte der Deutung des Senats die eigene Deutung des Geschehens entgegen. Und die lautete: sacer ist, wer einen sakrosankten Volkstribun gewaltsam anrührt. Dabei hatte die Plebs das gesamte Gewicht der römischen Tradition auf ihrer Seite. Und da diese Deutung alle Chancen hatte, hegemonial zu werden, ermächtigte sich die hauptstädtische Bürgerschaft dazu, den Spieß umzudrehen: Derjenige, der den Tribun als ›Verfluchten‹ benannt und behandelt hatte, war selbst ›verflucht‹ – sacer. Das war tödlicher Ernst. Indem sie den Mörder als ›sacer‹ bezeichnete, kündigte sie ihm an, dass es auch für 221
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seine Leiche keine Bestattung gab, sobald man ihn tötete; und das war nur eine Frage der Zeit. Der Senat reagierte rasch. Da bereits die ersten Anklagen gegen Nasica erhoben wurden und gar kein Zweifel bestand, wie das richtende Volk urteilen werde, falls er bis dahin überhaupt noch am Leben war, schickte man ihn als Gesandten nach Kleinasien. Dort war er außer Gefahr, aber faktisch im Exil. Eine schwere Strafe für den amtierenden Pontifex Maximus: »So musste Nasica aus Italien weichen, obschon er durch die feierlichsten religiösen Verpflichtungen gebunden war; denn er hatte das oberste Priesteramt inne.«13 Am Leben bedroht, konnte Nasica nicht mehr zurückkehren und tat, was so viele exilierte Römer taten: er starb; das tat er recht schnell, denn schon Anfang 131 v. Chr. musste man einen neuen Pontifex Maximus bestimmen. Die Plebs sowie diejenigen Senatoren, die der Politik des Volkstribuns nicht gänzlich abgeneigt waren, hatten einen symbolischen Sieg errungen, trotz der Massenverurteilungen im Spätherbst 133 v. Chr. Dieser Sieg hatte Folgen für die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses; und er verdankte sich der Fähigkeit der Plebs, außerinstitutionell Schläge auszuteilen, die von der Oligarchie nicht zu parieren waren.
Willensbildung und außerinstitutioneller Druck: Eine politische Kartographie Willensbildung im interaktiven Raum zwischen den Institutionen Inwiefern konnte die Plebs einen eigenständigen Willen bilden, artikulieren und durchsetzen? Jochen Bleicken hat behauptet: »Der Wille des römischen Volkes ist kein unabhängiger Wille«.14 Falls damit gemeint ist, das römische Volk habe keinen eigenständigen Willen gehabt, welchen es gegen die Aristokratie hätte wenden können, dann ist die Aussage falsch. Dieses Urteil wirft Kategorienprobleme auf. In dieser politischen Ordnung waren die sozialen Gruppen dergestalt aufeinander bezogen, dass die unterschiedlichen Optionen sich stets in einem Gegenüber mit anderen Gruppen herausbildeten. Insofern war selbst der Wille der Nobilität nicht unabhängig. Sogar wenn die Senatorenschaft einmütig eine bestimmte politische Option vertrat, war bereits die Formulierung dieses politischen Willens und erst recht seine Durchsetzung vom Konsens der Plebs abhängig. Der Austrag von Interessengegensätzen innerhalb einer politischen Gemeinschaft ist Politik im eminenten Sinne. Der Bereich dieser Politik 222
Eine politische Kartographie
befand sich an den sozialen Orten, wo beide Statusgruppen, das Volk und die Senatorenschaft, mit ihren ›unabhängigen‹ Willen aufeinander trafen. Doch diese Orte waren nur partiell identisch mit den symbolisch privilegierten Orten institutionalisierter politischer Willensbildung, also mit Senat und Volksversammlung. Unter diesen Umständen ist die Suche nach einem souveränen Organ innerhalb des politischen Systems vergeblich; der Senat war kein Ort der souveränen Entscheidung, welche für die gesamte politische Gemeinschaft verbindlich war; denn die Blockademacht der Plebs konnte solche ›Entscheidungen‹ zunichte machen. Die Politik der Aristokratie fand an den Reaktionsformen der Plebs eine materielle Grenze und am Wissen um die Möglichkeit solcher Reaktionen eine kognitive Schranke. Die außerinstitutionellen Aktionen bestimmten maßgeblich mit, was und worüber entschieden wurde. An der Durchsetzbarkeit entschied sich, was zur ›Entscheidung‹ werden konnte. Bei hohem Engagement war die Plebs imstande, der Aristokratie ihren Willen aufzuzwingen. Das politische Gewicht der beherrschten Bürger konnte folglich zunehmen, ohne dass die Volksversammlung an Bedeutung gewann; und dieses Gewicht konnte konjunkturell wieder abnehmen, ohne dass dies die Rolle der Comitien tangierte. Diese außerinstitutionelle Macht der Plebs indiziert freilich, dass von Demokratie keine Rede sein kann. Hätte die Plebs vermittelst der Organe institutionalisierter Willensbildung ihren Willen ausdrücken können, dann hätte sie keine solch symbolisch und zeremoniell differenzierten außerinstitutionellen Aktionsformen entwickeln müssen und können. Der Bereich der politischen Entscheidung lässt sich folglich in diesem System nicht abgrenzen. Anders verhält es sich mit der Bildung politischer Optionen; sie lässt sich lokalisieren. Sie vollzog sich in der Kommunikation zwischen Senatoren, meistens innerhalb des Senates. Aber wo man die Optionen bildete, fielen nicht notwendigerweise die verbindlichen Entscheidungen. Über sehr vieles entschied der Senat, ohne das Volk zu befragen, weil das Volk es ihm gestattete. Die Optionen, auf welche die Senatoren sich einigten, wurden zu Entscheidungen, weil das Volk sie mittrug, sei es stillschweigend aufgrund des vorgängigen Konsenses, sei es ausdrücklich, indem es fallweise in rituellen Formen oder – wie in den Comitien – mit institutionalisierten Verfahren zustimmte. Der Bereich politischer Entscheidung und die Willensbildung innerhalb des Senats waren nie kongruent. Der Senat als Leitungsgremium war unablässig damit beschäftigt, Maßnahmen hinzunehmen oder zu verwerfen, die Senatoren mit großer Machtfülle – z. B. Feldherren oder Statthalter – eigenmächtig ergriffen hatten. Wichtige ›Entscheidungen‹ 223
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fielen – seit dem zweiten Jahrhundert immer häufiger – nicht innerhalb des aristokratischen Leitungsgremiums, sondern kamen zustande, weil der Senat Fakten hinnahm oder genehmigte, die ein Senator eigenmächtig oder eigenwillig geschaffen hatte. Je weiter die römische Herrschaft sich ausdehnte, desto mehr nahmen Eigenmächtigkeiten zu, sogar wenn Feldherren oder Statthalter gewillt waren, sich den Anweisungen ihrer Standesgenossen im Senat zu fügen. Seit 133 v. Chr. verschlimmerte sich diese Inkongruenz. An ihr war symptomatisch abzulesen, wie die Kontrolle des Senates über die staatlichen Funktionen abnahm. Und als struktureller Zustand wirkte sie daran mit, dass der Senat es nicht mehr schaffte, jene dirigierende Rolle wiederzugewinnen, die er vor Marius verkörpert hatte. Indes, wenn der Senat an Macht verlor, dann wuchs deswegen keineswegs die Macht der Plebs. Als die Kräfteverhältnisse sich zuungunsten des aristokratischen Leitungsgremiums verschoben, profitierten vielmehr herausragende Adlige, die riesige Ressourcen ansammelten, so z.B. Marius, Sulla, Pompeius und Caesar, oder solche, die über starken Rückhalt bei der städtischen Bürgerschaft verfügten wie anfangs Tiberius und Gaius Gracchus, dann Livius Drusus oder Clodius. Keine Chance, ein Entscheidungsorgan zu werden Aber wuchs den Comitien in der späten Republik nicht eine neue Funktion zu? Kam der Wille des römischen Volkes dort nicht zur Geltung, sobald die Oligarchie sich in Lager spaltete? Einige Historiker drücken das so aus: Die Stärke des ›demokratischen Elements‹ sei abhängig gewesen von Tiefe und Art der aristokratischen Zwiste.15 Demzufolge hätten die Comitien zum Entscheidungsorgan werden müssen, je stärker und dauerhafter interner Hader die Nobilität ergriff. Auf den ersten Blick scheint dem so. Sicherlich wuchs die Chance nichtaristokratischer Schichten, ihrem Willen Nachdruck zu verleihen, wenn die herrschende Klasse uneinig oder gar tief gespalten war. Ob dadurch die Comitien Spielraum für ›Entscheidungen‹ gewannen, ist eine ganz andere Frage. Die Entwicklungschancen der Comitien waren begrenzt. Die Transformation zum Entscheidungsorgan blieb ihnen auch dann versperrt, als der Dissens in der Aristokratie anstieg. Hier die Gründe: 1. Jene konträren Meinungen, die sich in den contiones äußerten, bevor man über ein Gesetz abstimmte, kamen nicht in der Weise zur Geltung wie in einer griechischen Volksversammlung oder in modernen Parlamenten. Denn man legte den Comitien nie unterschiedliche Anträge vor, aus denen sie einen auswählen konnten, ausgenommen bei Abstimmungen über Strafmaße, wo die Bürger auch über ›reformatorische‹ Anträge abstimmten. 224
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2. Der Dissens zwischen Senatoren wurde in den contiones ausgetragen, nicht in den Comitien. Ebenso hüteten sich die antragstellenden Magistrate davor, den Dissens, der zwischen ihnen und starken Teilen der Plebs über den konkreten Antrag bestand, in den Comitien zu erproben. Der politische Dissens blieb also aus dem Organ, das abstimmte, fast restlos ausgelagert. 3. Kam es zu Gemurre in den contiones, zogen die Antragsteller ihre Anträge zurück. Die Niederlage eines Antrags bei der Abstimmung galt offenbar nicht als normale Eventualität, sondern als dramatisches Ereignis. Um das zu ändern, hätte man die Abstimmung weitgehend ihrer politischen Symbolik entkleiden müssen, sie nicht mehr als Akt der Zustimmung des Volkes auffassen dürfen. Abgelehnte Anträge mussten den Makel verlieren, ein rebellischer Akt des Volkes gegen die etablierte Ordnung zu sein. 4. Der Versammlungsleiter hatte überproportionale Chancen, die Bürger bis zuletzt zugunsten seines Antrags zu beeinflussen. Eine ›neutrale‹ Behörde hätte die Leitung der Versammlung übernehmen müssen. 5. Das gesamte Arsenal an Obstruktionsmöglichkeiten diente eben dazu, dass die Volksversammlung gar nicht entschied. Man hätte diese Mittel systematisch abschaffen müssen. 6. Die Antragsteller hätten nicht mehr die Abstimmung abbrechen dürfen, wenn diese nicht das gewünschte Resultat zu erbringen drohte. Dem Senat hätte es verwehrt sein müssen, einen solchen Abbruch herbeizuführen. Die erlaubten Mittel, um die Volksversammlung zu beeinflussen, hätten sich beschränken müssen auf rein rhetorische Mittel. Dieser Katalog macht verständlich, warum am Ende der Republik sich die Versuche wiederholten, die Verfahrensfragen bei Volksabstimmungen umfassend zu regeln. Ebenso wird klar, warum diese Versuche scheiterten. Hätte man den Einsatz von Obstruktionsmitteln gesetzlich reguliert, dann hätte das nicht allein die Kommunikation zwischen den Senatoren, sondern – wie Wilfried Nippel aufzeigte – die aristokratische Herrschaft als Ganze grundlegend verändert.16 Daher wurden die Comitien auch nach 133 v. Chr., als der inneraristokratische Konsens immer brüchiger wurde, nicht zum Entscheidungsorgan. Je konsensunfähiger die Oligarchie wurde, desto mehr dienten die contiones als Forum, auf welchem die aristokratischen Gruppierungen aufeinander stießen. Die contiones veränderten sich, je weiter sich die Auseinandersetzungen verschärften. Sie waren der Ort der institutionalisierten Abschätzung der Präferenzstärke; die ansteigende Neigung, sich gegenseitig in den Demonstrationen der eigenen Willensintensität zu über225
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bieten, kündigte bereits hier jene Gewalttätigkeit an, die in den Stimmversammlungen immer öfter ausbrach. Folgerichtig wurde auch sie zu Schauplätzen von Eskalationen und gewaltsamen Kollisionen. Versammlungsleiter wie Redner büßten an Ansehen ein. Nicht zuletzt deshalb verlor die Plebs ihren Respekt vor der Senatorenschaft insgesamt. Die Senatsautorität korrodierte in den fünfziger Jahren vor aller Augen. Seit Caesars Konsulat war die Aristokratie nicht mehr imstande, mittels ihrer herkömmlichen Machtorgane – Senat und Magistratur – über die Plebs zu herrschen. Indes, das Gewicht der Comitien wuchs darum nicht. Dramatisch wuchs jedoch die Macht übermächtiger Senatoren, die sich der Comitien bedienten, um gezielt dem Senat die Spielräume des Agierens einzuengen, seine Glaubwürdigkeit vollends zu zertrümmern, und manifest zu machen, dass er nicht mehr das Lenkungsgremium war, in dem sich die maßgeblichen politischen Optionen bildeten.
Wie man die Plebs ihrer politischen Macht beraubte Die Aktionsfähigkeit der Plebs hing am Normenkonsens Gegen jene Forscher, die bestritten, dass die einfachen römischen Bürger eine politische Meinung besaßen, hat Claude Nicolet auf das Zuschauerverhalten im römischen Theater verwiesen: »Jene, die zu Unrecht an der Existenz einer wirklichen öffentlichen Meinung in der Antike und insbesondere in Rom zweifeln, müssen sich fragen, ob politische Botschaften, … die im selben Augenblick mehrere tausend Bürger berühren unter der eingestandenen Absicht, ihre Reaktion hervorzurufen, … nicht etwas voraussetzen, was man wirklich eine ›Meinung‹ nennen kann.«17 Es ist evident, dass Nicolet Recht hat. Dennoch bildete sich die Plebs auf weiten Bereichen, die für uns zur ›Politik‹ gehören, keine eigenständige Meinung, sondern vertraute den Magistraten. Sobald Probleme auftauchten, die nicht Rom oder elementares Verhalten betrafen, war die Plebs als Gesamtheit außerstande, sich dazu selbst eine Meinung zu bilden; dafür waren eigenständige Organe zur Meinungs- und Willensbildung nötig. Aber die Plebs verfügte nur über Mikroorganisationen, welche über den Rahmen von collegia und vici nicht hinausgingen. Wurden ›entferntere‹ Themen akut, blieb sie angewiesen auf Senatoren, die ihr eine formulierte Meinung anboten. Das war charakteristisch und änderte sich auch in der Kaiserzeit kaum. 226
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Spontan reagierte die Plebs vor allem auf Verstöße gegen die moralischen und sozialen Grundnormen. Ein bemerkenswerter Normenkonsens vereinheitlichte die Sichtweisen und ließ die Urteile konvergieren: Man musste meist nicht streiten, wie eine Handlung moralisch zu bewerten sei; die Frage war, ob jemand dieses oder jenes tatsächlich getan hatte – dieser Konsens hielt sich trotz der starken sozialen Stratifikation. Die hohe Normkonformität befähigte die hauptstädtische Bürgerschaft dazu, eigenständig und behände zu reagieren. Und darum benötigte die Plebs für ihre kollektiven Aktionen nur eine minimale Organisation. Aber hier liegt auch der Grund, weswegen die Römer der Hauptstadt kaum zu einer einheitlichen Meinung und daher kaum zu einer einmütigen kollektiven Aktion zu bringen war, falls es um Themen ging, die nicht die Grundnormen berührten. Ein hoher Normenkonsens stellte kollektive Aktionsfähigkeit her, trotz niedrigem Organisationsgrad. So wird verständlich, warum die Macht der nichtaristokratischen Bürger sich nicht in eigenständige politisch organisierte Macht umwandeln ließ, als sich die Spaltungen in der Oligarchie vertieften und die Konfrontationen verschärften. Denn die situativ erreichbare politische Geschlossenheit des Volkes hatte sich beträchtlich abgeschwächt. Die römische Bürgerschaft war sozial immer stark stratifiziert und hierarchisiert. Das hatte sie nicht daran gehindert, einen hohen Konsens über die sozialen und politischen Grundnormen zu bewahren und nötigenfalls auf die Oligarchie politischen Druck auszuüben. Doch seit dem Beginn des ersten Jahrhunderts v. Chr. wurde das anders. Gravierende soziale Prozesse hatten die römische Bürgerschaft strukturell verändert, sie geographisch und sozial gespalten. Dafür lassen sich drei Gründe anführen: Erstens löste sich die hauptstädtische Bürgerschaft seit der Ära des Marius von der Plebs auf dem Lande. Sie entwickelte eigene Reaktionsformen, wurde zur Plebs urbana. Auch bei fallweisem Dissens hielt sie der Autorität des Senates die Treue. Erst in den fünfziger Jahren kündigte sie den jahrhundertealten Pakt und stürzte damit die Senatsherrschaft in die letale Krise. Zweitens artikulierten die nicht-senatorischen Oberschichten immer deutlicher Interessen, die mit jenen der einfacheren Bürgerschaft nichts mehr zu tun hatten; nach der Ausweitung des Bürgerrechts auf alle Italiker war dieser Bruch allenthalben zu verspüren. Cicero bemühte sich mit zunehmender Entschiedenheit, politische Optionen an den Interessen dieser italischen Oberschicht auszurichten. Drittens hatte der Landraub der Oligarchie und der Oberschichten im zweiten Jahrhundert v. Chr. unter den römischen Bürgern auf dem 227
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Lande und in den italischen Städten eine breite Schicht verarmter Bürger entstehen lassen.18 Diese suchten zwar enge patronale Bindungen; doch dem Senat in Rom brachten sie kaum noch Achtung und überhaupt kein Vertrauen entgegen. Diese soziale Schicht römischer Bürger war früh dazu disponiert, sehr enge Bindungen an eine herausragende adlige Person einzugehen. Als Potential in Legionen organisiert, waren sie die treibende Kraft zur Herausbildung der Monarchie in Rom. Sie brachen im Bürgerkrieg zwischen Caesar und seinen Gegnern der Senatsherrschaft vollends das Genick. Alle drei Prozesse wirkten ineinander. In der Hauptstadt wurden die sozialen Unterschiede dermaßen krass, dass die Interessen stark zu divergieren begannen und die Basis für die politische Solidarität aller Bürger schmolz. Sehr verarmte Teile der städtischen Plebs orientierten sich nicht mehr an den plebejischen Mittel- und Oberschichten, sondern intensivierten ihre Klientelverhältnisse, um aus ihrer sozialen Not herauszukommen; so wurden sie zu ergebenen Anhängern mächtiger Adliger. Das politische Risiko in diesem Prozess war unübersehbar: Zum einen verwandelten diese engen Bindungen den Charakter der Klientel und verliehen ihr mafiose Strukturen. Die abhängigen Menschen versprachen sich alles von ihrem Patron und ließen über sich verfügen in einem zuvor undenkbaren Ausmaß. Ein deutliches Indiz dafür sind die Schlägerbanden, die seit Apuleius Saturninus um 100 v. Chr. aufkamen. Zum anderen mussten bei diesen sozialen Schichten charismatische Erwartungen entstehen: je mehr ihnen das Vertrauen auf die staatlichen Institutionen abhanden kam, desto mehr vergötterten sie jene herausragende Senatoren, von denen sie sich so viel erhofften. Dieser Prozess vollzog sich, obwohl die römische politische Ordnung für charismatische Herrschaft denkbar geringe Spielräume ließ.19 Viele Senatoren, darunter Cicero, spürten deutlich die Gefahr, die der oligarchischen Republik von diesen verelendenden Schichten drohte, sie erkannten deren Neigung, charismatische Bindungen an potentielle Monarchen zu entwickeln. Doch dieselben Senatoren taten alles, um jegliche soziale Maßnahme zu sabotieren, die hätte helfen können, dass die ärmsten Bürgerschichten sich politisch umorientierten. Zwar initiierte P. Clodius als Volkstribun eine Reihe von Gesetzen, die darauf abzielten, der hauptstädtischen Plebs einen größeren sozialen und politischen Handlungsspielraum zu verschaffen. Sein Getreidegesetz sollte die bedürftigsten Schichten der städtischen Plebs aus der Zwangslage befreien, sich völlig ihren Patronen zu ergeben; sein Gesetz zur Wiederherstellung der collegia gab der Plebs urbana die 228
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Möglichkeit, Mikroorganisationen aufzubauen, welche die Klientelen durchkreuzten und die Bindungen an die Patrone lockerten. Aber diese Initiativen kamen viel zu spät. Längst hatten einzelne Senatoren es geschafft, aus riesigen Klientelen besonders ergebene Kerngruppen zu bilden, die kollektive Aktionen inszenierten, als handelte die Plebs selbst. Der Volkstribun Apuleius Saturninus betrieb 100 v. Chr. seine Wiederwahl und setzte eine Bande von Schlägern ein, um einen missliebigen Rivalen auszuschalten. Vor den Augen der entsetzten Wahlversammlung wurde dieser niedergemacht. Die Bürger der Hauptstadt waren zu überrascht und verunsichert, um sofort reagieren zu können. Da – inmitten eines Abstimmungsvorgangs – nicht alle sehen konnten, was passierte, brauchte eine so schwach organisierte Großgruppe eine Weile, bis alle falschen Gerüchte, die in einer solchen Situation sofort auftauchen, beseitigt waren und sich eine Version durchgesetzt hatte. Der Consul Marius hatte inzwischen selbst den Befehl gegeben, den Aufruhr zu unterdrücken. Die Aufrührer ergaben sich und wurden in die Kurie gesperrt. Die Bürger Roms fackelten nicht lange, stiegen auf die Kurie und steinigten die Gefangenen mit den Dachziegeln zu Tode. Das war nicht einfach ein kollektiver Mord. Es war ein Kampf um den Einsatz anerkannter legitimer Volksgewalt. Denn Schlägertrupps begannen zu tun, was der Plebs zustand. Und wenn die Bürgerschaft das Monopol auf Ausübung von außerkonstitutioneller Gewalt nicht verteidigte, dann verlor die Gewalt des Volkes ihre Legitimität. Mit einer massenhaften Tötung beabsichtigte die Plebs ein Signal zu setzen. Im Rückblick mochte man freilich diese kollektive Tötung anders deuten, weil ein wachsender Teil der Hauptstädter sich vor kollektiver Gewalt desto mehr fürchtete, je weniger derlei Aktionen der Plebs als ganzer zuzurechnen waren. An der Einmütigkeit der Bürgerschaft hing letztlich die Legitimität ihrer Reaktionen: Sobald das römische Volk an politischer Geschlossenheit verlor, sei es, weil die sozialen Schichten so weit divergierten, dass der Bestand gemeinsamer Grundnormen allzu sehr zusammenschrumpfte, sei es, weil die Klientelen einzelner Senatoren immer häufiger sich aus den kollektiven Reaktionen des Volkes herauslösten, schwand auch die Chance, einen ›Volkswillen‹ gegen die Aristokratie überhaupt zu formulieren, geschweige denn geltend zu machen. Entschlossene Kerne von Anhängerschaften einzelner Senatoren waren dann gegen die Volksmenge einsetzbar.
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Entlegitimierte kollektive Reaktionen und plebejische Ohnmacht Am Ende der Republik, besonders zwischen 100 und 36 v. Chr., gelang es einigen Aristokraten immer wieder, Teile der Plebs so stark an sich persönlich zu binden, dass die stadtrömische Bürgerschaft nicht mehr einhellig reagieren konnte, weil ein Teil der Plebs gegen einen anderen stand.20 Als 94 v. Chr. M. Antonius den Norbanus mit dem Argument verteidigte, das Volk habe ein Recht, seinem gerechten Zorn nötigenfalls mit Gewalt Achtung zu verschaffen, folgten die Richter seiner Ansicht. Dabei hätten einzelne auf die Vorfälle 100 v. Chr. auf dem Forum verweisen können, als im Namen des Volkes die Schlägerbanden des Apuleius Saturninus Gegenkandidaten töteten. Wie sollte man in Zukunft wissen, ob es sich um gerechten Volkszorn handelte oder um hochgradig parteiische Gewaltakte gegen senatorische Konkurrenten? Doch so scheint niemand argumentiert zu haben; falls jemand das tatsächlich tat, überzeugte er nicht; und das kann nur daran liegen, dass man 94 v. Chr. jenen Vorfall sechs Jahre zuvor für ein unerhörtes Ereignis hielt, von dem man annahm, dass es sich nicht mehr wiederholte. Dreißig Jahre später hätte man schwerlich die Augen davor verschließen können, dass der Charakter der innenpolitischen Gewalt in Rom sich grundlegend geändert hatte. Das ist an drei Sachverhalten zu verdeutlichen: 1. Wenn organisierte Claquen einzelnen Senatoren beim Reden Beifall spendeten, sie mit Sprechchören anfeuerten und deren Gegner irritierten, dann war eine geordnete contio kaum noch abzuhalten. Versammlungen mehrerer tausend Bürger waren politisch nur ergiebig, wenn die Zuhörer diszipliniert Ruhe bewahrten. Seit Jahrhunderten waren Senatoren darauf gefasst, dass die Plebs diese Zurückhaltung abstreifte und einzelne Redner mundtot machte. Bereits ein vielstimmiges Gemurmel reichte aus, um auch die stimmgewaltigsten Redner zu übertönen. Nun änderte sich der Charakter solcher Störungen; denn es war nicht mehr auf Anhieb klar, ob das zuhörende Volk mehrheitlich oder gar insgesamt die Rede überlärmte oder ob es Claquen und Parteigänger taten. Zwar hören wir über die Aktivität von Claquen erst seit Clodius. Doch wahrscheinlich tauchte dieses Phänomen schon vorher auf. 2. Ein organisierter Schlägertrupp hatte ab einer bestimmten personalen Stärke gute Chancen, sogar eine große Volksmenge in Schach zu halten; es sei denn, ebensolche Trupps aus feindlichen Lagern stellten sich ihm entgegen. Sehr entschlossene Aristokraten konnten praktisch das Volk – sogar wenn es einig war – über kürzere Zeitspannen hinweg 230
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eines Gutteils seines Aktionspotentials berauben. Damit ließ sich in den letzten beiden Jahrzehnten der Republik ein bisher kardinaler Faktor aus dem Feld der römischen Politik eliminieren. 3. Dieser Prozess vollzog sich vor aller Augen, für alle wahrnehmbar. Schlägertrupps einsetzend, blockierte man nicht nur die reale Handlungskapazität der Plebs. Noch schlimmer war, dass man damit die Plebs entmutigte und um ihr politisches Selbstbewusstsein brachte. Sie konnte sich in kritischen Situationen nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr als einheitlich handelnde Großgruppe erfahren. Schließlich entlegitimierte man solcherweise die kollektiven plebejischen Handlungen überhaupt. Wenn im Augenblick der Konfrontation nicht klar und gewiss war, ob eine kollektive Reaktion tatsächlich von der breiten Menge der Bürger getragen wurde oder ob nicht vielmehr ein organisierter Stoßtrupp handelte, dann verlor die Plebs ihr Monopol auf legitimen Einsatz gewaltsamer Mittel. Spontane Handlungen der Plebs konnte man dann als organisierte und geleitete Aktionen von politischen Gegnern abqualifizieren. Das ist deutlich abzulesen an den Formulierungen, die Cicero für die Anhänger von Clodius fand. Sogar dort, wo gar kein Zweifel bestehen konnte, dass die hauptstädtische Plebs in ihrer großen Mehrheit sich hinter den Tribun stellte – so z. B. bei seiner Bestattung –, sprach Cicero ihr ab, den populus Romanus darzustellen. Wenn man unter Politisierung die Fähigkeit einer Gruppe innerhalb einer politischen Gemeinschaft versteht, sich zugunsten der Grundwerte der gesamten Gemeinschaft zu engagieren und dieses Engagement auch gegen die Optionen anderer sozialer Gruppen durchzuhalten, dann war es um die Politisierung der römischen Plebs nicht schlecht bestellt. Diese Politisierung lag desto höher, je einträchtiger sie handelte: Je einmütiger sie war, desto eigenständiger vermochte sie zu agieren. Spaltungen entpolitisierten folglich die Plebs; denn sie machten ihre uneinigen Teile abhängig von aristokratischen Gruppierungen und Persönlichkeiten; und dies setzte die Schlagkraft der Plebs insgesamt drastisch herab. Wählt man diesen Blickpunkt, so sank der Politisierungsgrad der Plebs urbana während der späten Republik; und er stieg im Kaiserreich wieder an.
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Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden
11. ›Spiele‹ und politische Integration
Die ludi als politische Zeremonien Die römischen ›Spiele‹ waren kein Spiel. Die ludi – seien es circensische, theatralische oder später auch gladiatorische – waren die Höhepunkte von Feiern, von festlichen Veranstaltungen.1 Insbesondere die französische Forschung seit Fustel de Coulanges in den Altertumswissenschaften und seit Durkheim in der Soziologie hat die gruppenbildende und gemeinschaftsstabilisierende Funktion religiöser Rituale betont. André Piganiol betonte 1923, dass die ›Spiele‹ zutiefst in das Gefüge der römischen Religion als einer Kultreligion eingelagert waren.2 Das ist inzwischen allgemein akzeptiert. In Rom waren die meisten den Göttern gewidmete Feiern politische Veranstaltungen, und die römischen Götter waren in starkem Maße auf die Res publica bezogen. Umgekehrt hatten politische Veranstaltungen insofern eine religiöse Dimension, als kein antikes Gemeinwesen auf rein säkularer Basis stand. Erst die Französische Revolution hat Gemeinwesen hervorgebracht, die ohne göttlichen Beistand auskommen. Die ludischen Veranstaltungen, insbesondere die ludi mit jährlicher Periodizität, vermehrten sich seit dem Zweiten Punischen Krieg rasant. 150 Jahre lang, nämlich von 366 v. Chr. an, feierte man in Rom nur die ludi Romani jährlich. Um 220 v. Chr. wurden die ludi Plebeii ebenfalls ein Jahresfest. 212 kamen die ludi Apollinares hinzu, welche 208 jährlich wurden. Seit 204 feierte man die ludi Megalenses, diese wurden 191 v. Chr. jährlich. 202 reihten sich die Cerialia in die Jahresfeste ein, 173 schließlich die Floralia.3 Innerhalb von etwa 45 Jahren versechsfachten sich die jährlich abzuhaltenden ludi. Den Festkalender dermaßen umstrukturieren hieß, die Rhythmisierung der Zeit gänzlich zu revolutionieren, für jeden Bürger, jede Familie, jede römische Kleinstadt. Auch die außerordentlichen ludi, welche es zu unregelmäßigen Anlässen in Rom immer gegeben hatte, vervielfachten sich dramatisch. Es gab sie in drei Formen: anlässlich von Leichenbegängnissen veranstalteten senatorische Familien des öfteren ein munus (Gladiatorendarbietung); mit ex voto-›Spielen‹ löste der Senat oder ein Feldherr ein Gelübde ein – sei es nach einer schweren Krise oder nach einem Sieg – nicht selten veranstalteten Feldherrn solche ludi ohne Zustimmung des 232
Die ludi als politische Zeremonien
Senates (inconsulto senatu); und schließlich fügten manche Triumphatoren an ihren Triumph noch ludi an, diese waren von ex voto-Festen meist nicht zu unterscheiden.4 Die explosionsartige Zunahme der ludischen Rituale lässt sich hinreichend mit der raschen imperialistischen Expansion erklären, welche die Bürgerschaft ständig mobilisierte und hohe militärische Belastungen mit sich brachte. Man musste den sozialen Konsens häufiger beschwören und an den politischen Zusammenhalt der römischen Bürgerschaft verstärkt appellieren. Der politische Abstand zwischen der Aristokratie und den Bürgern vergrößerte sich mit dem Zweiten Punischen Krieg dermaßen, dass die Römer der unteren Schichten – wie Paul Veyne betont – ihr Bürgersein nur noch marginal erfuhren. Diese Konsequenz träfe zu, wenn die einfachen Bürger sich nur in Beziehung zur Aristokratie definiert hätten. Doch die Römer bestimmten und erlebten ihre eigene politische Identität ebenso vermittels der Abgrenzung gegen die gesamte nichtrömische Welt. Diese Trennlinie musste sich verhärten, je mehr die soziale Distanz im Innern anwuchs; andernfalls hätte die Verschärfung der Klassenunterschiede dazu geführt, dass die politische Kohäsion der Bürgerschaft zerbröckelte. Im Fest erneuerte sich das Jahr und der Kosmos, es erneuerte sich die politische Gemeinschaft, und es reproduzierte sich die soziale Ordnung, welche in Rom viel hierarchischer war als in Hellas und sich darum im Fest anders darstellte. Bereits die Partizipationsweise der Bürger macht den Unterschied zur hellenischen Festkultur augenfällig: Die Verteilung des Opferfleisches in gleichen Stücken an die anwesenden Bürger, diese eindrucksvolle Symbolisierung der Teilhabe an der politischen Gemeinschaft, fehlte dem römischen Fest.5 Die Opfer für die Götter hatten somit in Rom nicht dieselbe gemeinschaftsinszenierende Aufgabe wie in Hellas. Der Schwerpunkt lag auf den Prozessionen (pompae) und auf den Darbietungen, den ludi. Das Arrangement dieser ›Spiele‹ folgte einer anderen Semantik als dasjenige der griechischen Agone. Bei den griechischen Agonen waren Zuschauer und Auftretende sozial und politisch einigermaßen homogen – die Auftretenden waren vornehme Bürger, auch wenn sie nicht der eigenen Polis angehörten; die Zuschauer waren gleichfalls Bürger, wenn auch gelegentlich von verschiedenen Poleis. Doch in Rom waren die eigentlichen Zuschauer allesamt römische Bürger; und die Auftretenden waren Nichtbürger oder Ehrlose. Ausgenommen waren die Schauspieler der altitalischen Atellanen-Aufführungen, diese behielten das volle Bürgerrecht.6 Zwischen den Zuschauern und den Auftretenden verlief also eine emp233
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findliche politische Trennlinie, welche dem Ritual von vorneherein eine politische Qualität verlieh: die versammelten Bürger waren sich ihrer Bürgeridentität desto gewisser, je deutlicher sie die Auftretenden als Außenstehende wahrnahmen, als nicht zum Bürgerverband gehörig, als Fremde. Die Feste waren der einzige soziale Ort, wo Senatoren und Plebs sich gegenüberstanden und in direkte Kommunikation traten; denn bei den meisten Volksversammlungen sahen sich die nichtaristokratischen Bürger lediglich dem leitenden Magistrat, dessen Kollegen und Freunden gegenüber. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten multiplizierten sich die Gelegenheiten einer solchen rituellen Begegnung der gesamten Aristokratie mit der gesamten – zumindest stadtrömischen – Plebs um mehr als das Sechsfache. Kontaktfrequenz und Kommunikationsdichte zwischen beiden Seiten stiegen exponentiell an. Ein neuer politischer Raum bildete sich heraus, in welchem das ideelle Gesamtvolk der realen Gesamtaristokratie gegenüberstand. Dieser Raum erheischte eine ganz neue Kontaktmodalität und eigene Interaktionsformen; und in ihm bildete sich schnell ein spezifisches Zeremoniell und ein Register voller symbolischer Verweisungen. Wie politikhaltig ein Kommunikationsraum ist, bemisst sich danach, in welcher Intensität sich Herrschende und Beherrschte gegenüberstehen. So gesehen gehören die römischen ludi zu den politischsten Ereignissen im Kalender der römischen Republik. Die ›Spiele‹ entpolitisierten das Volk keineswegs, sie politisierten es.
Politische Einmütigkeit und sozialer Konsens Die Feste waren nicht bloß ein Rahmen zur Verdichtung der sozialen Kommunikation. Ihr Zeremoniell war aufgeladen mit politischer Symbolik, welche die zyklische Erneuerung des Jahres mit der generationsweisen Erneuerung der römischen Bürgerschaft verband und dabei die politico-religiöse Aufmerksamkeit auf die Themen Fruchtbarkeit, Sieg und Rettung fokussierte. Je mehr die ludischen Rituale zunahmen, desto mehr gewann die Siegesthematik das Übergewicht: Siege verbürgten Rettung und soziale Reproduktion. Bei den Feiern – je nach dem ludischen Ritual, um welches es sich handelte – verband sich das individuelle Siegescharisma des Spielgebers sowie dessen Gentilcharisma mit der Siegesfähigkeit des römischen Volkes. Die Götter garantierten diese Sieghaftigkeit; und ihnen zu Ehren feierten die Römer. 234
Politische Einmütigkeit und sozialer Konsens
Die ludi inszenierten die Besonderheit der römischen Res publica und die Eigenart der römischen Kultur; sie appellierten mit einem enormen semiotischen Aufwand über das aufklaffende soziale Gefälle und die harsche politische Ungleichheit hinweg an die Zusammengehörigkeit der römischen Bürger sowie an die Vorteile, dieser Res publica anzugehören. Sie intensivierten die Abgrenzung der Gemeinschaft gegen eine unaufhörlich drohende Außenwelt und rememorierten die Siege der Römer über diese Feinde. Mit der ruckartigen Zunahme der ›Spiele‹ strukturierte sich der zyklische Ablauf des römischen Jahres gänzlich um. Die großen Feste, in welchen die römischen Bürger die Erneuerung der Gemeinschaft und den Fortbestand der Res publica feierten, synkopierten die Zeit gemäß den Momenten des politischen Eingedenkens: Die Stiftung dieser ›Spiele‹ verdankte sich in Rom nicht mythischen Anlässen wie meist in der hellenischen Kultur, sondern historischen; und darum aktivierte jedes ludische Ritual politische Memorialpraktiken. So erinnerten die Floralia jedes Jahr an den Konflikt zwischen Grundbesitzern und Volk um den ager publicus; sie riefen ins Gedächtnis, wie man ihn beilegte und mit der Stiftung dieser ludi 173 v. Chr. wieder die Eintracht (concordia) herstellte. Desgleichen vergegenwärtigten die ludi Apollinares auf liturgische Weise jene schwere militärische Notlage nach der Niederlage bei Cannae, auf welche Rom 212 v. Chr. mit der Stiftung eben dieser Spiele geantwortet hatte.7 Diese Rememorierung frischte nicht nur periodisch ein spezifisches historisches Wissen auf, sondern verstärkte den sozialen Zusammenhang der gesamten Bürgerschaft. Denn das längst vergangene Ereignis prägte sich den am Ritual partizipierenden Römern ins Gedächtnis ein, als exemplum für die gelingende Eintracht sowohl zwischen den Bürgern als auch zwischen der Res publica und den Göttern. Diese Memorialpraktik war bei den ludischen Veranstaltungen gewiss weniger zentral als bei den aristokratischen Leichenbegängnissen. Doch war sie punktuell intensiv; und sie beschwor eine Zusammengehörigkeit, die – immer wieder belastet – sich jedes Mal bewährt hatte, ein gemeinsames erlittenes und bewältigtes Schicksal. Je mehr die politische Bedeutung der ludischen Veranstaltungen hervortrat, desto notwendiger schien es, den Raum der Zuschauerschaft zu strukturieren, ihn mit politischen und sozialen Distinktionslinien zu durchziehen. Im Jahre 194 v. Chr., mitten in jener Epoche, als sich die ludi vervielfältigten, befahlen die Censoren Sex. Aelius Paetus und C. Cornelius Cethegus den kurulischen Aedilen, sie sollten den Senatoren bei den ludi Romani abgesonderte Plätze zuweisen. Das wurde ab 191 v. Chr. zur Regel. Dieser Eingriff veränderte die politische Wer235
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tigkeit der cavea, d. h. des Zuschauerraums. Die cavea wiederholte nun die politische Ungleichheit; sie führte sie optisch vor Augen, verstärkte und legitimierte sie gleichermaßen. Den populus Romanus räumlich unterteilend – gemäß der politischen Hierarchie –, transformierte sich der Zuschauerraum in ein Konterfei der politischen Ordnung. Viel später als andere italische Städte bekam Rom ein steinernes Theater. Große Teile der Aristokratie fürchteten ein Steintheater als einen Ort, der permanent und ohne magistratische Kontrolle für Versammlungen nutzbar war. Ein soeben errichtetes Theater wurde 154 v. Chr. wieder abgebrochen. Die Sorge der Aristokratie war nicht unbegründet; denn im September 57 v. Chr. versammelten sich Teile der hauptstädtischen Bürgerschaft tatsächlich im Theater, das für die ludi Romani errichtet worden war, zogen von dort zum Tagungsort des Senates und forderten die Übertragung der cura annonae auf Pompeius.8 Die räumliche Hierarchie der zuschauenden Bürgerschaft untergliederte sich im Laufe des 2. Jhs. v. Chr. noch weiter, als die Ritter – die zweite Statusgruppe nach der Senatorenschaft – immer regelmäßiger die ersten 14 Reihen im Theater zugewiesen bekamen.9 Zweifellos setzte eine Dynamik zur weiteren Differenzierung der cavea ein, welche man nicht gesetzlich zu steuern brauchte. Selbstverständlich hatten römische Bürger ohne weiße Toga die hintersten Reihen zu besetzen. Da die Toga nur von Bürgern getragen wurde, fiel der Unterschied zwischen Bürgern und Nichtbürgern scharf ins Auge.10 Sklaven wurde üblicherweise vom Spielgeber geboten, den Zuschauerraum zu verlassen; waren ausreichend Plätze vorhanden, forderte er sie nur auf, sich von den Freien abzusondern, um in der summa cavea (wo auch die ärmeren Bürger ohne Toga und die Frauen standen oder saßen) stehend die ›Spiele‹ anzusehen.11 Mit dieser Differenzierung näherte sich der Zuschauerraum einer getreuen Ikone der sozialen Ordnung. Jene Pseudotheorie, die sich selbst Massenpsychologie nennt, findet darum in den römischen ludi keinen Gegenstand. Die Zuschauerschaft in den Theatern und Amphitheatern des römischen Reiches war keine ›Masse‹, und selbst im Circus war sie es nicht. Anonymität existierte entweder gar nicht oder war weitgehend abgebaut; jede Reaktion war – zumindest im Theater und im Amphitheater – eindeutig zuschreibbar, da man wusste, welche Gruppen wo saßen. Die soziale Transparenz schränkte den Raum für deviantes Verhalten rigoros ein. Diese Unterteilung des Zuschauerraumes bewirkte, dass die römische Bürgerschaft der geschlossenen herrschenden Klasse gegenüberstand, d.h. gegenübersaß und mit der Aristokratie als ganzer kommunizierte. Es fehl236
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te nur noch, dass die römische Bürgerschaft bei den ›Spielen‹ stehen musste, so wie sie es bei den Volksversammlungen tat. Tatsächlich fasste der Senat 151 v. Chr. einen Beschluss, der das Sitzen bei den ›Spielen‹ verbot. Doch diese Regelung wurde zu häufig durchbrochen und daher rasch hinfällig.12
Politik im Theater: Die Popularität testen Das Auge-in-Auge mit dem Volk in der cavea Unter den ludi war besonders das Theater geeignet, in einem feierlichen Rahmen kollektiven Dissens anzumelden. So wurde es zu einem aufregenden Ort der Politik in der späten Republik. Cicero zählt in Briefen und in der Rede ›Für Sestius‹ eine Vielzahl von Interaktionsformen auf, die eine reiche Textur ergeben: 1. Die Zuschauer pflegten den Spielgeber stürmisch zu begrüßen; diesen Zuruf konnten sie mit Tränen begleiten. Doch bei gegebenen Anlässen pfiffen sie ihn aus. 2. Wollten sie den Spielgeber besonders ehren, so standen sie vor ihm auf. 3. Frostig schweigend verweigerten sie einem eintretenden Consul den Gruß. 4. Sie applaudierten Senatsbeschlüssen. 5. Sie grüßten mit lautem Applaus einzelne Senatoren, die das Theater betraten. 6. Die 14 Reihen der equites erhoben sich einträchtig, um einen eintretenden Senator mit Applaus zu begrüßen. 7. Sie pfiffen missliebige Senatoren aus; die Missbilligung konnte sich steigern zu Geschrei, zu erhobenen Fäusten und Verwünschungen. 8. Sie skandierten Schmährufe gegen die Richter und den Verteidiger eines soeben beendeten Prozesses. So brach z.B. die Popularität des bis dahin noch nie geschmähten Redners Hortensius jäh zusammen, als er das Theater betrat, nachdem er seinen Neffen Valerius Messala gegen eine Anklage wegen ambitus erfolgreich verteidigt hatte.13 Diese Reaktionen waren graduell differenziert; sie zeigten nicht nur Konsens oder Dissens an, sondern auch deren Stärke. Die Plebs lobte, und sie tadelte; sie machte sich zum Richter über die einzelnen Senatoren. Doch sie hielt am Ende der Republik zwar noch die Deutungshegemonie inne, aber nicht mehr das Deutungsmonopol. Die Meinung der 14 ritterlichen Reihen konnte von der plebejischen abweichen; und manche Politiker dürften sie höher veranschlagt haben. Es war für die Standesgenossen nicht ratsam, sich mit einem Senator zu solidarisieren, den das Volk inmitten eines festlichen Zeremoniells auspfiff. Standessolidarität reizte die Plebs unnötigerweise zu heftigeren Reaktionen, welche sich gegen die Aristokratie als ganze richteten. 237
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Schwand die Eintracht zwischen den Römern, dann litt auch die zwischen der Gemeinschaft und den Göttern. Der Wirkkraft dieser Symbolik konnten sich die Senatoren nicht ohne weiteres entziehen. Rom war nicht regierbar, falls die Plebs die Kommunikationsprozesse sabotierte, das war allen klar. Am allermeisten mussten die Spielgeber darum bemüht sein – nicht zuletzt aus Sorge um ihre Karriere –, die concordia herzustellen. Darum geriet ein geschmähter Aristokrat schnell zum Sündenbock, den man opfern musste, um den Konsens herbeizuführen und die Eintracht zu feiern. In einem Patronage-System waren Plebejer, die von stabilen Beziehungen zu einem bestimmten Patron profitierten, daran interessiert, dass ihre Patrone nicht in Misskredit kamen und Karrierechancen einbüßten. Die oberen Schichten der Plebs achteten ebenso wie die Aristokratie darauf, ob ein Senator den favor populi verlor.14 Daher galten die ›Spiele‹ als Barometer, welches die aktuelle Popularität der prominenten Senatoren anzeigte. Die Senatoren mussten sich dieser Messung aussetzen. Unbeliebte Politiker, die längere Zeit die Spiele mieden, verloren spürbar an Einfluss und fürchteten, dass ihre Gegner im politischen Kampf sie mangelnder Popularität ziehen. In einer Verteidigungsrede 57 v. Chr. kanzelte Cicero seinen Feind Clodius ab: der habe es nicht einmal im Jahre seines Tribunats gewagt, sich Spiele anzusehen. Und 55 v. Chr. forderte er Piso heraus, sich doch dem Volk zu zeigen und zu den Spielen zu gehen: ob Piso fürchte, ausgezischt und mit bösem Zuruf empfangen zu werden? Dieser öffentliche Hohn zielte auf den Kern einer aristokratischen Person. Denn ob jemand herrschaftsfähig war, bemaß sich nicht zuletzt daran, wie sehr die beherrschten Bürger ihn schätzten oder ablehnten. Cicero negierte Pisos Amtstauglichkeit und disqualifizierte ihn damit öffentlich. Er setzte dabei stillschweigend voraus, dass die Volksreaktionen im Theater ein allgemein anerkannter Maßstab waren. Solcherweise übte die Bürgerschaft einen massiven Druck auf einzelne Senatoren und damit auf die gesamte Senatorenschaft aus, sich normkonform zu verhalten. Sie politisierte geradezu die Aristokratie, indem sie diese dazu nötigte, die Gültigkeit der gemeinsamen kulturellen Normen zu beteuern und sich ›römisch‹ zu zeigen. Ihr Rangklassensystem bewahrte die Senatoren davor, unentwegt um den Vorrang zu konkurrieren. Dennoch konnten sogar Konsulare sich nicht bequem zurücklehnen. Um im politischen Spiel zu bleiben, brauchten sie Prestige, Einfluss und Beliebtheit. Der Rang blieb normalerweise unverlierbar, das Ansehen keinesfalls. Um es zu bewahren, hatte ein Senator immer wieder zu reden, Anträge zu stellen, politische 238
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Aufgaben zu übernehmen, Performanzen zu erfüllen, Gesten zu üben; er musste ständig ›investieren‹. Anders gesagt: Sein persönliches symbolisches Kapital reproduzierte sich bloß, indem er es dauernd aufs Spiel setzte. Obendrein hatte er sich – bei den ludi – der Probe auf seine Beliebtheit auszusetzen, so oft als möglich, zumindest regelmäßig.15 Es heißt einen modernen Maßstab anlegen und von der kulturellen Eigenart absehen, wenn man römischen Aristokraten vorhält, sie hätten den Demonstrationen des Publikums eine übertriebene Bedeutung beigelegt. Als kulturelles und als politisches Phänomen ist diese zugemessene Wichtigkeit signifikant. Zwar verleiteten diese Publikumsreaktionen manche Politiker dazu, sich über ihre eigene Popularität und über diejenige der anderen zu täuschen.16 Indes, wo stark personalisierte Formen von Politik vorherrschen, besteht dieses Risiko immer; und in Rom war es keineswegs auf die ›Spiele‹ beschränkt. Täuschung und Selbsttäuschung spielen unweigerlich mit, wenn in genau umrissenen sozialen Gruppen die Individuen einander nach erwartbaren Qualitäten taxieren und ihre Selbsteinschätzung entlang der kommunikativen Resonanz austarieren. Politische Allegorese. Wie das Publikum im römischen Drama mitspielt Die Römer kommunizierten nicht nur mit einzelnen Aristokraten direkt, sondern auch indirekt. Cicero schildert, wie Bürger und Schauspieler während der Aufführung interagierten: 1. Das Publikum brach bei bestimmten Versen in lautes wortloses Klagen (gemitus) aus, wobei alle wussten oder schnell begriffen, worauf sich das Klagen bezog. 2. Bei anderen Passagen applaudierte es (plausus), oder es rief lautstark Beifall (clamor), wobei allen klar war, worauf die betreffende Textstelle verwies. 3. Sehr gerne übte es das revocare, d. h. es forderte den Schauspieler auf, eine bestimmte Passage nochmals zu wiederholen; manchmal kam es zu Wiederholungsorgien (miliens revocabatur).17 Die Intensität seiner Meinung war zu hören an der Lautstärke des Beifalls und an der Anzahl der revocationes, also der verlangten Wiederholungen. Die Römer bezogen den deklamierten Text auf aktuelle Ereignisse und produzierten solcherweise fortlaufend Anspielungen. Sie selbst politisierten den Text. Als im Jahre 57 v. Chr. der Senat beschloss, Cicero aus der Verbannung zurückrufen zu lassen, da ließen bei den ludi Florales die Bürger im Theater den Vers »Tullius, der seiner Bürger Freiheit fest gegründet hatte« sehr häufig wiederholen. Dieser Vers aus dem Drama ›Brutus‹ des Dichters L. Accius meinte den König Servius Tullius. Die Zuschauer bezogen ihn aber auf M.Tullius Cicero. Der zitierte König fungierte in diesem Falle nicht einmal als exemplum, wel239
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chem der Konsular Cicero als eine Art Antitypus entsprochen hätte. Sondern der Bezug zum zitierten König war während der revocationes radikal suspendiert. Die Bürger erhoben Cicero selbst momentan zum exemplum. Sie bezogen aktuell lebende Personen auf römische Grundwerte: Cicero wurde ihnen nicht nur zum Verteidiger der libertas; er geriet gar zur personifizierten constantia18. Die römischen Werte erschienen also leibhaftig in der Gestalt prominenter Senatoren. Im Theater aktivierten die Bürger jene Dispositionen, die sie beim Anblick der Ahnenmasken oder bei den Siegesfeiern erwarben: Es bedurfte eines Wissens über Personen der römischen Vergangenheit, das stereotypisiert und darum sehr rasch aktivierbar war, um Figuren im Drama zu exemplifizieren und einzelne ihrer Merkmale oder Handlungen mit gegenwärtigen Personen zu verknüpfen. Sie entdeckten diese politisch relevanten Eigenschaften und Merkmale im gesprochenen Text, aus welchem sie Zitate herausrissen. Die isolierten – und wiederholten – Zitate luden sich mit Konnotationen auf, welche im bloßen Dramentext nicht enthalten waren, und verwandelten sich in einleuchtende Botschaften. Die Zuschauer wählten aus dem Inventar möglicher Reaktionen die jeweils eindeutigste und wirksamste, um die exempelhafte Verweisung lautstark herzustellen und von den Schauspielern in Szene setzen zu lassen. Dafür benötigten sie eine sehr schematisierte Wahrnehmung, eine eingeübte Fertigkeit, politische Sachverhalte auf ›Moralisches‹ zu reduzieren und zu personifizieren; nicht zuletzt mussten sie hellwach sein und schnell reagieren. Eine kulturelle Kreativität besonderer Art: Die Römer übten stundenlang politische Allegorese; freilich ging das zu Lasten des Textes, denn sie rissen die betreffende Verse restlos und rücksichtslos aus dem dramatischen Kontext. Sie deuteten ganze Passagen brüsk um, zerstückelten den Text in Zitate voller Aktualität, und – den Ablauf der Handlung beliebig unterbrechend – zerstörten die dramatische Logik. Diese Unterbrechungen dauerten manchmal so lange, dass Cicero sagen konnte, die Zuschauer hätten das Theaterstück selbst vergessen (omisso gestu). Damit negierten die Römer jene ästhetische Distanz, die hellenische Theateraufführungen erforderten; sie gruppierten die Sequenzen des Dramas um neue semantische Zentren; ja sie behandelten den dramatischen Text als eine riesige Halde von potentiellen Zeichen, die man je nach der spezifischen politischen Situation der Aufführung zu aktivieren und zu aktualisieren hatte. Das Schauspiel dergestalt politisieren heißt, es entästhetisieren. So konnte, wie Florence Dupont sagt, in Rom das Drama nicht zu einer literarischen Gattung werden.19 240
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In diesem interaktionalen Rahmen gab es drei Mittel, die Zuschauer zu beeinflussen: 1. indem der Spielgeber ein bestimmtes Drama auswählte und mitunter sogar in den Text eingriff; 2. indem die Schauspieler, welche der spielgebende Magistrat entsprechend instruierte, bestimmten Versen durch gestische Unterstreichungen eine präzise Konnotation gab: beim Deklamieren zeigten sie z.B. auf die Sitzreihen der Ritter oder auf einen bestimmten Senator; 3. indem man gedungene Theaterclaquen einsetzte. Doch wenn die zuschauenden Bürger nicht anbissen, dann versagten diese Mittel alle. Gemietete Claquen erwiesen sich nicht selten als kontraproduktiv, da – wie Cicero sagt – man sie schnell als solche erkannte. Die Römer reagierten meist zornig auf solche Versuche, ihr Interaktionsmonopol zu beschneiden; und dann pfiffen sie nicht nur den Spielgeber aus, sondern auch noch seine Claque. Im Theater konnte man die Plebs nur dann beeinflussen, wenn sie bereit war, sich beeinflussen zu lassen.20 Anders gesagt: die römische Bürgerschaft ließ es sich nicht nehmen, den Text so zu politisieren, wie sie selbst es wollte. Trotzdem wurde die Auswahl der Stücke eine politische Frage, weil die Senatoren in ihren Auseinandersetzungen auf dieses Mittel, das Volk zu beeinflussen, nicht verzichten wollten. Brutus und Cassius hofften darauf, dass die Stimmung in der plebs urbana bei den ludi Apollinares umschlug und erwarteten den Umschwung von der Aufführung des ›Tereus‹ von Accius.21 Die Hoffnung war vergeblich. Warum? Die Chance, dramatische Texte zu politisieren, hing davon ab, wie hoch die Übereinstimmung im Publikum war. Waren die Zuschauer gespalten, standen also die Anhängerschaften unterschiedlicher Aristokraten einander gegenüber, dann arteten die Interventionen rasch in eine Schreierei aus. Dann musste man entweder das Schauspiel abbrechen – dem standen religiöse Gründe entgegen –, oder ein Teil des gespaltenen Publikums zwang den anderen, ruhig zuzuhören. Just das geschah bei den ludi Apollinares nach der Ermordung Caesars. Eine einfache Taktik sollte den Caesar-Mördern die Volksgunst gewinnen. Bekanntlich empfand die Plebs gelegentlich Mitleid mit Verbannten, auch wenn sie deren politische Positionen nicht teilte. Im Jahre 44 v. Chr. gab es innerhalb der Bürgerschaft sicherlich geteilte Meinungen darüber, wie intensiv die Rache für Caesar zu betreiben war. Die CaesarGegner planten, eine Claque einzusetzen, die mit starken Rufen die Zuschauer dermaßen beeinflussten, dass sie in Beifallsrufe für Brutus und Cassius einstimmten. Freilich war die überwältigende Mehrheit der hauptstädtischen Bürgerschaft pro-caesarianisch; bei einer normalen Zusammensetzung des Publikums war damit zu rechnen, dass die große Mehrheit der Zuschauer die Claque mundtot machte. Daher griff 241
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der Spielgeber zu einem brachialen Mittel: er ließ die Zuschauerschaft selektieren; massenhaft blieben Plätze unbesetzt. So stieß die Claque kaum auf Widerstand, und außerdem entfaltete sie in einem nur mäßig gefüllten Theater ihre geballte Kraft. Damit war die hauptstädtische Plebs keinesfalls sofort für die Caesar-Mörder gewonnen; denn es handelte sich ja um eine Konsensfiktion. Doch deren propagandistische Wirkung mochte vielleicht zu einem Umschwung der Stimmung führen. Zumindest musste man es versuchen. Was dann im Theater passierte, berichtet Appian: »Als eine zu diesem Zwecke gemietete Claque skandierte, man solle Brutus und Cassius zurückholen, und die restlichen Zuschauer anfingen, Mitleid für diese aufzubringen, stürzten Mengen herein, welche die Veranstaltung unterbrachen, bis sie die Forderung, jene zurückzurufen, unterdrückt hatten.«22 Der Plan scheiterte vollkommen, weil die überrumpelten Bürger Hilfe holten und dann große Mengen die cavea füllten. Im voll besetzten Zuschauerraum obsiegte das tatsächliche Kräfteverhältnis. Die caesarianischen Zuschauer machten die Claque mundtot. Der plebejische Konsens stellte sich im schweigenden Zusehen wieder her. Dieser Fall illustriert, wie der Theaterraum sich zur Politisierung dann und nur dann eignete, wenn das stadtrömische Volk einmütig reagierte. Tatsächliche Spaltungen hingegen beraubten die Plebs ihres politischen Potentials. Das ist der Grund, weshalb die Plebs urbana im Kaiserreich stärker politisiert war als in der ausgehenden Republik. Sie war – soweit die Quellen dies erkennen lassen – nie gespalten, sie reagierte stets einmütig.
Die Gladiatur im römischen Imaginären Die Gladiatur ist zur Signatur der römischen Kultur schlechthin geworden. Aus Kampanien stammend, wurde sie im Laufe des 3. Jhs. v. Chr. in Rom heimisch; über 200 Jahre lang war sie keine Veranstaltung der Res publica, sondern gehörte zu den irregulären ›Spielen‹, d.h. sie wurde von einzelnen Familien veranstaltet.23 Im Jahre 264 v. Chr. ließen die Söhne des Senators Iunius Pera bei der Bestattung ihres Vaters drei Gladiatorenpaare gegeneinander kämpfen. Andere aristokratische Familien imitierten das; immer häufiger schlossen Fechterspiele die Leichenbegängnisse ab, wobei die Anzahl der aufgebotenen Gladiatoren zunahm. Als 174 v. Chr. der Vater des T. Quinctius Flamininus starb, ließen die Söhne 74 Gladiatoren gegeneinander kämpfen; das 242
Die Gladiatur im römischen Imaginären
Schauspiel dauerte drei Tage. Schon in der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. kostete eine üppige Gladiatorendarbietung 720000 Sesterzen, ungefähr soviel wie das Mindestvermögen eines Senators. Unterdessen hatte die Gladiatur ein beträchtliches symbolisches Gewicht gewonnen. Das Verhalten der Gladiatoren galt schon in der ersten Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. als beispielhaft; es wurde zitierfähig; man benutzte es als eine Art exemplum; und es geriet zu einem semantischen Knotenpunkt. So rühmt Terenz in seiner Komödie ›Phormio‹ (etwa um 161 v. Chr.) den gladiatorius animus – die ›gladiatorische Gesinnung‹. Fechterspiele gewannen dermaßen an Bedeutung, dass man sie in mancher Hinsicht als ›offizielle‹ Veranstaltungen ansah, obwohl sie in den Händen der trauernden Familien lagen. Der Volkstribun Gaius Gracchus ließ 123 v. die Gerüste für die Sitzplätze zu einer Gladiatorendarbietung auf dem Forum abreißen, damit auch die ärmeren Bürger ohne Eintrittsgeld zusehen konnten.24 Er demonstrierte damit, dass eine solche Veranstaltung der gesamten Bürgerschaft galt, zumal, wenn sie auf dem Forum stattfand. Damit zog er die politischen Konsequenzen aus der kulturellen Bedeutung der Gladiatur. Der politische Charakter dieser Veranstaltung wurde für alle Römer daran erkenntlich, dass den Veranstalter drei Lictoren begleiteten. In den italischen Munizipien wurde die Gladiatur vielleicht schon im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zur regulären Veranstaltung, welche den lokalen Magistraten oblag. Anders in der konservativen Hauptstadt: Hier löste sich die Gladiatur erst am Ende der Republik aus dem rituellen und dann auch aus dem semantischen Kontext aristokratischer Leichenfeiern.25 Erst seit dem Jahre 42 v. Chr. war sie Bestandteil offizieller Feste. Freilich hatte sie sich bis dahin längst einen zentralen Stellenwert im römischen Imaginären erobert. Denn Cicero stellt sie zusammen mit den offiziellen Spielen neben die Comitien und die contiones: »An drei Orten kann das römische Volk nämlich am meisten sein Urteil und seinen Willen bezüglich der Res publica äußern: bei den Informationsversammlungen (contiones), bei den Stimmversammlungen (comitia) sowie bei den ludi und bei Gladiatorendarbietungen.«26
Demnach äußerte sich der politische Wille des Volkes bei den ludi nicht weniger als bei offiziellen Volksversammlungen, und bei der Gladiatur ebenso wie bei den offiziellen ludi. Diese Aussage wird begreiflich, wenn man den zeremoniellen Ablauf der Gladiatur betrachtet und kategorisiert. Bevor ich eine ›dichte Beschreibung‹ dieses Rituals angehe, ist ein Blick auf die politischen Momente zu werfen, die es mit der römischen Kultur verstreben. 243
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Die politische Dimension des Rituals zeigte sich an allen seinen Elementen: Die Bürgerschaft führte sich wichtige soziale Normen und kulturelle Werte vor Augen – Normen und Werte, die den Bereich der römischen Ordnung charakterisierten und diese Ordnung gegen ihre Feinde abgrenzten, gegen die äußeren Feinde wie gegen die inneren. Die Gladiatoren setzten sich zusammen aus verurteilten Verbrechern, aus Kriegsgefangenen und aus Sklaven, die ihren Herren zu unbändig waren. Man hatte in der Arena Verfemte vor sich, geächtete Menschen, die mit der römischen Ordnung zusammengestoßen waren. Allerdings gab es auch freiwillige Gladiatoren; diese stellten ein Problem dar, denn nicht selten waren es freigeborene Römer, die sich so verdingten: Sie legten einen Eid ab, das berüchtigte auctoramentum, womit sie einwilligten, sich brandmarken, in Fesseln legen, auspeitschen und mit dem Schwert töten zu lassen.27 Dieser Eid machte sie für die Dauer ihrer Verdingung, in der Regel fünf Jahre, faktisch zu Sklaven besonderer Art; ihr Bürgerrecht ruhte, obwohl sie ihre römischen Namen behielten. Sie unterlagen hinterher, falls sie überlebten, der infamia – ebenso wie Schauspieler und Wagenlenker – und sie waren somit für alle Funktionen des zivischen Lebens disqualifiziert.28 Im Amphitheater grenzte eine unerbittliche politische Demarkation die cavea, d. h. den Zuschauerraum, von der Arena ab; die Verfemten von den Bürgern trennend und beide symbolisch kontrastierend, schrieb sie den Römern ins Bewusstsein und ins Gedächtnis, wer sie waren. Sie erinnerte sie daran, dass diese Identität nicht ohne Preis aufrechtzuerhalten war. Sie ermahnte sie, jene sozialen Normen zu beachten, ohne welche die römische Ordnung nicht bestehen konnte. Die Verfemten und Ausgestoßenen fungierten als lebendige mnemische Zeichen. Eben diese Verfemten, deren Leben eigentlich verwirkt war, führten nun ein Verhalten vor, das von römischen Werten gesteuert wurde: von Disziplin, Technik, Gehorsam und Todesverachtung. Das war sozusagen der semantische Kern der Gladiatur: Ausgestoßene und Kriminelle inszenierten römische Werte, choreographierten römische Tugenden. Solcherweise konnte die Gladiatur ins Zentrum des Imaginären der römischen Kultur vordringen, also ins Zentrum der Wunsch- und Angstbilder, von denen eine Kultur obsessiv beherrscht wird.29 Tierkämpfe (venationes), Hinrichtungen und Gladiatorenkämpfe wurden wahrscheinlich erst am Ende der Republik zu einem kanonischen Ensemble kombiniert,30 in welchem – nach Tageszeiten geschieden – die römische Ordnung sich darstellte: Morgens bei der Tierhatz als siegreicher Kampf der Kultur gegen die Natur, mittags bei den Hinrichtungen als schonungslose Ausmerzung der nicht integrierbaren Feinde dieser 244
Die Gladiatur im römischen Imaginären
Ordnung und nachmittags bei der Gladiatur als disziplinierender Rahmen, innerhalb dessen Verfemte und Geächtete eine Chance hatten, unter Einsatz ihres Lebens sich vor einer versammelten Öffentlichkeit zu bewähren.31 Längst bevor die Gladiatur in dieser symbolhaften Verlaufsform auftrat, speiste sich ihr semantisches Potential aus bestimmten Grundwerten der römischen Kultur. Im Rahmen von Zweikämpfen szenographierte sie den Kampfwert von Disziplin, Technik und Todesverachtung. Dabei zählte der Einzelkämpfer, welcher in der griechischen Kampfesweise keinen Platz hatte, der jedoch in der römischen Kultur ein maßgebliches militärisches Element darstellte.32 Ihre semiotischen Potentiale garantierten der Gladiatur unbestrittene semantische Zentralität: Wie eine unablässig bedrohte Ordnung gegen ihre inneren und äußeren Feinde sich zu verteidigen hat, und wie sie durch militärische Anstrengung permanent siegt, das ließ sich weder im Circus inszenieren noch im Theater noch bei den Prozessionen noch beim Opfer. Selbst der Triumph bot nur eine ergebnishafte Choreographie des Sieges, keine Dramatik des Kämpfens. Daher nahmen die venatio und die Gladiatur eine singuläre Stellung ein. Insbesondere die Gladiatur bot den Modellfall für eine sakralisierte Siegessymbolik, umgesetzt in szenische Aktionen – bar aller theatralischen Simulation, mit dem vollen Einsatz des Lebens. Deswegen konnte der Gladiator zur Musterfigur der stoischen Philosophie werden – allerdings nur in seiner abstrakten Eigenschaft als tapferer Kämpfer, dazu gedrillt, lautlos in den Tod zu gehen, wie Cicero rühmt: »Die Gladiatoren, verworfene Menschen oder Barbaren, was für Schläge halten sie aus! Wie jene, die gut trainiert sind, sich lieber den Schlägen aussetzen, als sie mit Schande vermeiden! Wie oft zeigte es sich, dass sie nichts lieber wollen als entweder ihrem Herrn gefallen oder dem Volke! Sogar mit Wunden bedeckt, schicken sie Boten zu ihrem Herrn, um sich zu erkundigen, was dieser wünscht: wenn er zufrieden ist, seien sie bereit, den Todesstreich zu empfangen. Welcher auch nur einigermaßen tüchtige Gladiator hat je gestöhnt und hat seine Miene verzogen? Wer hat sich jemals im Stehen oder sogar im Fallen schimpflich gezeigt? Wer hat den Kopf eingezogen, als er gefallen war und den Befehl erhielt, den Hals hinzuhalten? Soviel vermag die Übung (exercitatio), das Lernen (meditatio), die Gewohnheit (consuetudo) … Manchen kommt das Gladiatorenspiel grausam und unmenschlich vor und ich bin nicht sicher, ob es nicht stimmt, so wie diese Spiele jetzt gegeben werden. Als aber Verbrecher mit dem Schwerte kämpften, so konnte es, wenn nicht für die Ohren, so doch sicher für die Augen keine härtere Schulung gegen den Tod und den Schmerz geben als diese.«33
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Kollektive ›Spiele Aktion ‹ und und politische institutionelles Integration Entscheiden
Cicero nimmt den Gladiator unverblümt als Muster für den Weisen; er spricht den Sozialisationseffekt offen aus: sogar die verworfensten Menschen – wenn sie gedrillt und rigoros diszipliniert werden – sind imstande, so ehrenvoll zu sterben wie freie römische Bürger. Hier begegnet uns eine Serie von Begriffen, welche aus dem Bereich des militärischen Trainings in die Philosophie übernommen wurden: exercitatio, meditatio, consuetudo, disciplina. Diese Betonung des Drills ist signifikant: er war harte römische Sozialisation, unter extremen Bedingungen beschleunigt und verschärft. Die Imago der Gladiatur durchdrang alle kulturellen Bereiche. Kein römischer Autor äußerte sich jemals ablehnend oder gar abschätzig über die Gladiatur. Einige kaiserzeitliche Autoren bezeichneten die circensischen Spiele dagegen als Zeitverschwendung; und dem Theater begegneten römische Aristokraten mit steigender Verachtung. Die Gladiatur hingegen erfreute sich höchster Modellhaftigkeit. Was Cicero vorgab, findet bei anderen Autoren seinen Widerhall. Wenn die Kirchenväter das Martyrium preisen wollten, dann griffen sie in schöner Regelmäßigkeit zum Vorbild des Gladiators, der in Todesverachtung seinen Kampf besteht – »einen gladiatorischen Geist haben« (habens quasi gladiatorium animum) verlangt Augustin.34 Die rasche Ausbreitung der Gladiatur über ganz Italien indizierte das Bedürfnis der italischen Städte, sich in diese von militärischen Werten durchtränkte Kultur zu integrieren. Die rituellen Praktiken der ludi überhaupt und der Gladiatur im Besonderen bewiesen eine beachtliche kulturelle Integrationskraft; sie homogenisierten sehr unterschiedliche lokale Gemeinschaften gemäß den Vorgaben eines kulturellen Modells, dessen Zentrum die Arena okkupierte – als Ort der Selbstbehauptung römischer Ordnung und Zivilisation. Die Gladiatur war außerordentlich erfolgreich im gesamten römischen Reich, auch im griechischsprachigen Reichsteil. 220 Arenen sind bis heute archäologisch nachweisbar.
Der kollektive Beschluss im Amphitheater. Eine ›dichte Beschreibung‹ Nun zum Ablauf des Rituals. Die Interaktionen im Amphitheater gipfelten in einer Entscheidung. Die Bürgerschaften der italischen Städte füllten nicht zuletzt darum so eifrig die cavea, weil sie darüber mitbestimmten, ob ein Verfemter die Chance haben sollte, wieder in das zivile Leben zurückzukehren. Um das zu verdeutlichen, ist ein Seitenblick auf den sozialen Kontext zu werfen. Wer ad ludum verurteilt war, 246
Der kollektive Beschluss im Amphitheater
d. h. als Gladiator oder Venator (trainierter Tierkämpfer) kämpfen musste, erhielt in der Regel nach drei Jahren das hölzerne Schwert (rudis) und brauchte nicht mehr in die Arena, sondern versah noch weitere zwei Jahre in der Gladiatorenschule andere Dienste. Nach fünf Jahren wurde er regelrecht freigelassen (manumissio). Die Sklaven nahm man von dieser Regelung aus. Die augusteische Lex Aelia Sentia sorgte 4 n. Chr. dafür, dass Gladiatoren oder Venatoren, die als Sklaven von ihren Herren in einen ludus gegeben wurden, auf keinen Fall das römische oder latinische Bürgerrecht erhielten, wenn ihre Strafzeit endete. Sie wurden nach ihrer Entlassung zu freien Reichsbewohnern (peregrini dediticii). Andernfalls hätte es sich für befähigte Sklaven in Italien gelohnt, sich widerspenstig zu zeigen, um ihre Herren dazu zu provozieren, sie in einen kaiserlichen ludus zu geben: Überlebten sie und wurden sie nach fünf Jahren entlassen, hätten sie als römische Freigelassene gegolten und damit das Bürgerrecht erworben. Das Gesetz schnitt diesen Weg ab und separierte die sozialen Chancen der gewesenen Sklaven scharf von den Chancen der Kriminellen und Kriegsgefangenen. Auch diese erlangten nicht das volle Bürgerrecht wie andere Freigelassene, von welchen das Recht sie streng unterschied. Sie blieben ›ehrlos‹ – infames – und entbehrten eine ganze Anzahl von bürgerlichen Rechten; erst ihre Kinder waren von diesem Makel befreit.35 Überlebende Gladiatoren erfuhren somit eine beschränkte Rehabilitation, die sich der gelungenen Internalisierung römischer Normen verdankte. So funktionierte die Gladiatur homolog zur Integration von Unterworfenen: Die politische Praxis der Römer, sogar Sklaven in den Bürgerverband zu integrieren, falls sie hinreichend romanisiert waren, entsprach der rituellen Praxis, besiegten Gladiatoren, sofern sie sich tapfer gehalten hatten, die missio zu gewähren und sie damit einen Schritt näher an ihre Freilassung zu bringen. Diese Entsprechung machte Grundregeln, wie die politische Gemeinschaft sich ›nach außen‹ abgrenzte, bewusst und verstärkte sie.36 Wie überschritten Gladiatoren die Grenze zwischen radikalem Verfemtsein und einer Reintegration auf den unteren Stufen des zivilen Lebens? Wer immer siegte und nie schwer verwundet wurde, erreichte dieses Ziel problemlos. Doch die größte Tüchtigkeit garantierte nichts: Wenn der Spielgeber geringfügig die Rahmenbedingungen der Kämpfe veränderte, verminderten sich die Siegeschancen drastisch oder entschwanden vollständig. Den überlieferten Inschriften ist zu entnehmen, dass manche Gladiatoren sehr häufig kämpften, andere seltener – offensichtlich verletzungsbedingt. Entscheidend aber ist, dass Gladiato247
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ren reihenweise Kämpfe überlebten, in denen sie unterlagen. Manche siegten fast nie. Georges Ville hat geschätzt, dass im ersten Jahrhundert ein Gladiator pro Kampf im Durchschnitt eine 80-prozentige Chance hatte, zu überleben; allerdings verschlechterten sich diese Chancen im dritten Jahrhundert, wo sie durchschnittlich nur noch 50 % betrugen. Die angesprochene Grenze überschritten die Verfemten in einer von der politischen Gemeinschaft kontrollierten Szene. Diese lohnt es genauer zu betrachten: Wenn der unterlegene Gladiator um Schonung bat und der Kampf aufhörte, dann war darüber zu entscheiden, ob der Besiegte das Leben behalten und die missio erhalten sollte oder ob er an Ort und Stelle hinzurichten war. Georges Ville hat erkannt, dass dieser Moment den Höhepunkt der Veranstaltung darstellte. Allerdings begründet er seine These mit einer psychologischen Annahme: Nicht der Kampf enthielt die spannungsvollsten Augenblicke, sondern die Minuten, in denen der Besiegte darauf wartete, wie das Urteil über ihn lautete. Ville meint, in dieser Zeit hätten die Zuschauer das Gesicht des Besiegten studiert – dessen Angst oder Gefasstheit; und das sei der eigentliche und höchste Reiz der Gladiatur gewesen.37 Mindestens zwei Umstände sprechen gegen diese Annahme: Zum einen trugen manche Gladiatoren – wie z. B. die schwerbewaffneten myrmillones – Helme, die das Gesicht verbargen; zum anderen war die Entfernung zwischen dem in der Arena stehenden Gladiator und den allermeisten Zuschauern zu groß, um eine Betrachtung seines Antlitzes zuzulassen; außerdem gestattete die elliptische cavea der Mehrheit der Zuschauer – auch wenn sie vorne auf privilegierten Plätzen saßen – keinen Blick auf das Gesicht des Besiegten. Ville setzt bei seiner These voraus, dass das Gesicht stets seelische Regungen ausdrückt. Diese Voraussetzung ist fragwürdig; denn es hängt von der jeweiligen Kultur ab, ob dies der Fall ist; und auch innerhalb einer Kultur differiert diese Möglichkeit je nach der Sozialisation der einzelnen Gruppen oder Individuen. Erinnern wir uns an die Aussage Ciceros: Kaum ein Gladiator zeigte je Todesfurcht, nicht einmal während der bangen Minuten des Wartens. Ob man dem Besiegten die missio gewährte oder nicht, hing von dem Eindruck ab, den die Zuschauer erhalten hatten: Hatte er tapfer genug gekämpft oder nicht? Wenn die Zuschauer darüber urteilten, mussten ihre Wahrnehmungen übereinstimmen. Divergierende Beurteilungen hätten massiven Dissens unter den Zuschauern hervorgerufen. Aber das scheint nie passiert zu sein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die zusehenden Bürger im Amphitheater uneins gewesen wären, wohin248
Der kollektive Beschluss im Amphitheater
gegen im Theater immer wieder Zwiste ausbrachen.38 Freilich entschied nicht das Publikum über Leben und Tod des besiegten Gladiators; das tat der Spielgeber, der munerarius. Das Publikum brachte allerdings seine Meinung zum Ausdruck, bevor der munerarius entschied – eine offenbar immer einmütige Meinung. Wenn der Spielgeber anders beschloss, als die zuschauenden Bürger es wünschten, stellte er sich gegen die gesamte Bürgerschaft. Genau hier lag das politische Problem. Die politisch brisante Phase des Rituals begann demnach, sobald der unterliegende Gladiator um die missio bat und man über sein Leben beschließen musste. Die Zuschauer zeigten mit genau kodierten Gesten an, ob sie den Besiegten für der missio würdig oder unwürdig hielten. Nun begann die Kommunikation der Bürger untereinander. Da die Kodierung der Gesten nur die Alternative ›missio‹ oder ›Tod‹ zuließ, waren Zehntausende von Römern imstande, in wenigen Augenblicken zu ermitteln, zu welcher Meinung die einzelnen Sitzblöcke gelangt waren. Dissentierende Minderheiten konnten ihr Urteil schnell korrigieren. Nach kurzer Zeit waren die Urteile harmonisiert, und die Bürgerschaft präsentierte eine homogene Meinung. Dieser Prozess der Angleichung der Urteile ist von kardinaler Bedeutung. Denn – wie oben gezeigt – die römische Plebs verfügte über keine Organe und kein Forum, wo sie ihren politischen Willen in einem institutionalisierten Kommunikationsprozess hätte bilden können. Doch im Amphitheater konnte sie das tun. Danach richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Spielgeber. Er fällte das Urteil. Damit veranlasste das Geschehen in der Arena auf einzigartige Weise einen kodierten und stets in derselben Form wiederholbaren Willensbildungsprozess zwischen beherrschten römischen Bürgern und herrschenden römischen Amtsträgern. Freilich ging diesmal die Initiative von den Beherrschten aus. Verglichen mit den Comitien kehrte sich das Verhältnis von Initiative und Beschluss um: Dort legte der Magistrat eine rogatio vor, das Volk stimmte zu und führte mit der Zustimmung ein iussum populi, einen Volksbeschluss herbei; im Amphitheater richtete das Volk seine Bitte an den Spielgeber, es bat um Begnadigung des Besiegten, falls er tapfer war, oder um Hinrichtung, falls er sich unwürdig verhalten hatte; das Volk stellte mit dieser Bitte einen Antrag, eine rogatio, an den Spielgeber; der stimmte normalerweise zu und gab den entsprechenden Befehl – missio oder Hinrichtung. Das Verhältnis von rogatio und iussum war nun genau umgekehrt wie in der Stimmversammlung. Diese fast symmetrische Inversion ist gründlich zu unterscheiden von Inversionsritualen wie z. B. den Saturnalia, denn die Hierarchie 249
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stand während eines munus nicht in Frage, sie wurde nicht rituell negiert. Insofern war diese Inversion kein Spiel. Sie war Bestandteil einer inszenierten Entscheidung über einen todernsten Gegenstand: darüber, ob ein Ausgestoßener zur Genüge römische Tugenden gezeigt hatte oder nicht. Das war eine Entscheidung über das Verhalten einer Person; eine Entscheidung, die nur dann reibungslos gelang, wenn die Bürger sich einig waren über die Kriterien der Würdigkeit. Um das Verhalten der Unterlegenen ›richtig‹ bewerten zu können, mussten die Kriterien für Tapferkeit und für Feigheit ganz klar sein und alle, die zuschauenden Bürger wie auch der Spielgeber, diese Kriterien teilen. Was virtus war, darüber durfte es keinen Zweifel geben. Periodisch vereinheitlichte das Ritual die Raster der Beurteilung und die Wahrnehmungsweisen und schuf Einigkeit über eben diese Kriterien, welche letztlich auf kulturellen Grundwerten der politischen Gemeinschaft basierten. Folglich implizierte die Entscheidung über die Würdigkeit oder Unwürdigkeit eines Besiegten immer ›Politisches‹. Dissens störte den zeremoniellen Ablauf dieses sakro-politischen Rituals und vergiftete die ganze Atmosphäre von Eintracht, in welcher die Bürgerschaft ihre Zusammengehörigkeit festlich beging. Dissens riss einen kulturellen Graben zwischen dem Spielgeber und dem Publikum auf; denn wenn beide das Verhalten des Besiegten anders bewerteten, dann divergierten nicht nur die Wahrnehmungen, sondern wahrscheinlich die moralischen Dispositionen. Daher hatte der Spielgeber zu bestätigen, dass er mit den Grundwerten der römischen Bürger übereinstimmte. Er musste beweisen, dass er virtus zu erkennen und zu belohnen wusste. Dazu brauchte er nichts weiter tun, als der in der cavea versammelten Bürgerschaft zuzustimmen – genauso wie die Bürger den Magistraten zustimmten, wenn diese ihnen Anträge zur Abstimmung vorlegten. Es wurde ersichtlich, ob der Spielgeber clementia auf rechte Weise übte, ob man folglich von ihm iustitia erwarten durfte und ob er pietas gegenüber den Traditionen und den Göttern empfand, welche sich am consensus universorum erfreuten und einen ungetrübten Verlauf des Rituals wünschten. Im Amphitheater vollzog sich das römische Konsensritual schlechthin. Verstörung trat ein, wenn das nicht geschah. So erntete der Sohn des Tiberius, Drusus, Entrüstung, als er im Jahre 15 n. Chr. eine Gladiatorendarbietung gab und dabei die Besiegten zu häufig töten ließ.39 Die Missstimmung in Rom war so groß, dass der Kaiser seinen Sohn tadelte. Mit Recht. Denn die Hauptstädter hatten mit Entsetzen entdeckt, welcher Nachfolger ihnen drohte, sobald Tiberius starb: Ein Nachfolger, der keine Ahnung hatte von virtus, der keine clementia gegenüber 250
Die Veränderungsdynamik in der Gladiatur
dem Würdigen unter den Verfemten zeigte. Wenn er keine pietas gegen die alten römischen Sitten empfand und vielleicht nicht einmal gegen die Götter, wie sollte man von ihm iustitia erwarten?
Instabiles Ritual: Die Veränderungsdynamik in der Gladiatur Das Ritual stand nicht ein für allemal fest. Seine Semantik verschob sich im Laufe der Jahrhunderte, weil sich die Gesellschaft des römischen Imperium veränderte. Sie konnte freilich auch umkippen, falls konstitutive Komponenten verschwanden oder neue hinzukamen. Denn es gab Gruppen, die das Ritual zu verändern suchten. So ergaben sich unterschiedliche Kippmomente. Zeremonielle Eingriffe und Umformung der politischen Semantik In der späten Republik hatten eigenmächtige Spielgeber sich angewöhnt, die Interaktionsregeln zu verändern. Caesar befahl besiegten Gladiatoren, die Arena zu verlassen, auch wenn das Volk für die Hinrichtung optierte. Er sparte sie für spätere Kämpfe auf. Mit diesem selbstherrlichen Eingriff schaltete er die römische Bürgerschaft als Interaktionspartner zwar nicht gänzlich aus, benutzte aber ihr kollektives Urteil, um mehr Kämpfe als vorgesehen zu präsentieren: Da er zugleich Besitzer der Gladiatoren und Spielgeber war, liefen die besiegten Gladiatoren Gefahr, so lange eingesetzt zu werden, bis sie im Kampf erlagen oder bis das Volk ihnen die missio erteilte. Die Chancen der einzelnen Gladiatoren, die missio zu erhalten, verbesserte sich damit – aber um den politischen Preis, dass Caesars clementia den Willen des Volkes dauernd konterkarierte. Eine ganz andere Richtung nahm die Gladiatur, wenn Spielgeber die Unterlegenen stets töten ließen. Bezeichnenderweise verbot Augustus, Fechterspiele zu veranstalten, bei denen die Unterlegenen keine Begnadigung erwarten durften.40 Wenn ein Spielgeber grundsätzlich keine missio gab, dann war das Ritual nicht mehr dasselbe. Ohne missio fiel die Entscheidung über Leben und Tod nicht im Zuschauerraum, sondern unten in der Arena, zwischen den Kämpfenden. Ein Urteil über die Würdigkeit eines Besiegten erübrigte sich. Freilich tangierte das den Fokus der Aufmerksamkeit: Warum sollte man noch auf die moralischen Qualitäten des schwächeren Kämpfers achten? Es war bequemer, die technischen Qualitäten des Siegers zu studieren. Zu einer politischen Interaktion zwischen den Bürgern und dem Spielgeber kam es gar nicht; denn es war ja nichts mehr zu entscheiden. Ohne missio 251
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veränderte sich der zeremonielle Ablauf grundlegend und verflüchtigte sich die politische Symbolik der Gladiatur; ohne missio war das Ritual kein Ritual römischer Politik mehr. Mit Humanität hatte es nichts zu tun, wenn Augustus diese Transformation des Rituals verhinderte. Der Kaiser verteidigte schlicht den traditionellen politischen Inhalt der Gladiatur mit der Kraft des römischen Gesetzes. Ein dritter, ganz andersartiger kulturgeschichtlicher Entwicklungsweg wäre möglich gewesen: Die römischen Spiele hätten sich hellenisieren können. Die hellenischen Agone kannten keine politischen Trennlinien zwischen dem Zuschauerareal und den Akteuren. Verwischte sich die Demarkation zwischen Zuschauern und auftretendem Personal, dann war in Rom die ludische Ordnung angegriffen und die soziale in Frage gestellt. Sobald Angehörige der Aristokratie als Schauspieler auftraten, als Wagenlenker oder sogar als Gladiatoren, entrüsteten sich die Zuschauer. Denn damit begaben sich Angehörige der herrschenden Klasse räumlich auf die Seite der Verfemten und Ausgestoßenen. Wer das tat, riskierte, jegliche Autorität bei der römischen Plebs einzubüßen; er disqualifizierte sich für die Ausübung von Herrschaft über Römer. An und für sich hätte es den Senatoren des römischen Reiches gleichgültig sein können, ob irgendein Ritter oder ein Senatorensohn sich auf diese Weise für jegliches öffentliches Amt disqualifizierte. Doch die Senatoren reagierten anders; sie bekämpften diese sporadischen Aussteiger mit aller Macht. Angefangen hatte es, als Caesar bei seinem großen Triumph 46 v. Chr. erlaubte, dass Angehörige des Ritterstandes auf der Theaterbühne, aber auch in der Arena auftraten. Zwar verbot Caesar, dass auch Senatoren das taten, doch in gewisser Weise hatte er eine Bresche geschlagen. Viele Vornehme waren erpicht darauf, in der Arena und auf der Bühne aufzutreten; und sie fanden einen Trick, das Verbot zu umgehen: »Sittlich verkommene junge Leute aus dem Senatoren- und Ritterstande nahmen freiwillig die Schande einer entehrenden Verurteilung auf sich, da sie dann nicht mehr durch Senatsbeschluss am Auftreten als Schauspieler und Gladiatoren gehindert waren.«41 Man wundert sich, was junge Leute aus senatorischen und ritterlichen Familien dazu bewog, sich gerichtlich verurteilen zu lassen, sich alle Aussicht auf eine politische oder militärische Karriere zu verschließen, um so nicht nur ihre sozialen Privilegien, sondern obendrein sämtliche Ehrenrechte zu verlieren und innerhalb der römischen Gesellschaft als ehrlos zu gelten. Wenig sinnvoll ist die Annahme, auf diese Weise hätten ruinierte Aristokraten Geld verdienen wollen. Wenn nicht pathologische Phänomene vorlagen – der Wunsch, die eigene Familie zu ent252
Die Veränderungsdynamik in der Gladiatur
ehren um den Preis der eigenen sozialen und physischen Selbstzerstörung –, dann mussten diese Leute damit gerechnet haben, dass sie der Entehrung entgingen. Und das war möglich, wenn die ›Spiele‹ nicht mehr auf römische Weise abliefen. Diese Aussteiger begriffen sich nicht mehr als Römer im traditionellen Sinne. Sahen sie keine Chancen mehr für sich, auf der Karriereleiter nach oben zu steigen? Hofften sie darauf, außerhalb der überkommenen römischen Kultur mehr Ehre und Ruhm zu gewinnen als innerhalb? Augustus hatte die Senatoren zu einem formellen Stand gemacht, der sich zwei Generationen lang mit sämtlichen Ehrenzeichen und Privilegien weitervererbte, auch wenn die Söhne oder Enkel gar keine senatorische Laufbahn einschlugen. Er hatte damit einen personellen Überhang von jungen Männern von senatorischem Stand geschaffen, die keine Chance hatten, eine senatorische Karriere einzuschlagen. Diese politisch inaktiven Aristokraten waren ein politisches Unruhepotential, d.h. ein kulturgeschichtlich innovativer Sektor. Denn viele unter ihnen dachten gar nicht daran, auf Ruhm und öffentliche Auszeichnung zu verzichten, fanden aber innerhalb der traditionellen Karrierebahnen dazu keinen Weg. Die Neigung war groß, sich beides auf eine Art zu erringen, die innerhalb der römischen Kultur unzulässig war. Unzulässig, aber nicht undenkbar: Die römische Kultur hatte sich immerfort verändert – wieso sollte sie sich nicht in der Weise verändern, dass die ludi zu hellenischen Agonen wurden? In der griechischen Kultur waren die Agone und Schauspiele ein anerkanntes Konkurrenzfeld für Gebildete und für sozial gut positionierte Bürger, auf welchem sie Ansehen und Ruhm erwerben konnten. Da dies in den römischen ludi bislang nicht möglich war, galt es, deren Semantik zu kippen und deren Ablauf zu verändern. Anders gesagt: Die devianten Aristokraten beabsichtigten nichts anderes, als die römischen Spiele zu hellenisieren. Indes, der politisch aktive Teil der Reichsaristokratie hatte ein vitales Interesse daran, Auftritte von Standesgenossen zu unterbinden. Er beanspruchte eine rigide soziale Autorität und verlangte für die Aristokratie als Klasse insgesamt fraglosen Respekt. Hier lag der Skandal – wie er sich für die politisch aktive Aristokratie darstellte –, denn jeder Angehörige der Aristokratie, der sich auf der anderen Seite der Demarkationslinie vor den Augen der Bürgerschaft entehrte, diskreditierte die gesamte herrschende Klasse und unterminierte den Respekt, den die römische Plebs ihr entgegenzubringen hatte. Wenn die politische Symbolik stillgelegt wurde und wenn die gesamte Aristokratie – ob sie nun politisch aktiv war oder nicht – an Au253
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torität verlor, dann beschuldigten die Senatoren insgeheim stets den Kaiser: er lasse die gebührende Sittenstrenge vermissen. In Wirklichkeit konkurrierten zwei adlige Habitusformen miteinander. Die politisch aktive Reichsaristokratie kämpfte darum, ihre Normierung der ›richtigen‹ adligen Lebensweise dem ausscherenden Teil aufzunötigen und den ›römischen‹ Klassenhabitus gegen den ›unrömischen‹ in der gesamten Reichsaristokratie durchzusetzen. Ein Kulturkampf war im Gange; die Hellenisierung der römischen ludi drohte. Am Ende der Regierungszeit von Augustus, im Jahre 11 n. Chr., erlaubte ein Senatsbeschluss, dass Angehörige des Ritterstandes auf der Bühne und in der Arena auftreten durften, wobei sie jedoch alle Ehrenrechte verloren. Man begründete diese Lockerung des Verbotes damit, dass das Verbot ohnehin wirkungslos war. Kaiser Tiberius versuchte 19 n. Chr. den Kampf mit einem Kraftakt zu entscheiden. In einem Gesetz, das uns inschriftlich als Senatsbeschluss erhalten ist – das SC der Tabula Larinas – verschärfte der Kaiser das alte Verbot. Nicht nur den Kindern und Enkeln eines Senators oder eines Ritters wurde untersagt, in der Arena oder auf der Bühne aufzutreten, sondern obendrein noch sämtlichen Verwandten bis zum sechsten Grad; auf Zuwiderhandlung stand die Höchststrafe. Rigoros wurde das Verbot durchgesetzt. Tiberius’ Nachfolger, Caligula, verhängte Todesstrafen gegen Angehörige aus dem Ritterstand, die als Gladiatoren aufgetreten waren.42 Das wirkte. Danach betraten Senatoren und Ritter nur noch selten die Bühne und mieden die Arena, außer bei Anlässen, die als karnevaleske Inversionen gelten konnten. Zu einem letzten und schon abgeflachten Höhepunkt kam dieser Kampf unter Kaiser Nero. Der ließ in Rom ein hölzernes Amphitheater erbauen, in dem sämtliche unterlegenen Gladiatoren am Leben blieben. Auch die Hinrichtung von Verbrechern während der Mittagszeit unterblieb. Ob Nero generell die Tötung von Menschen in der Arena verboten hatte, ist unklar; jedenfalls beklagt sich im ›Gastmahl des Trimalchio‹ ein Gast, er habe einem Fechterspiel beigewohnt, in dem reihenweise die Gladiatoren so schlecht kämpften, dass sie auf Geheiß des Publikums durchgepeitscht wurden.43 Das lässt auf ein Verbot schließen, welches zumindest in der Hauptstadt galt. Damit wurde die zusehende Bürgerschaft – wie bei Caesar – zwar nicht ihres Rechts beraubt, ihr Urteil über den Unterlegenen abzugeben; doch dieses Urteil hatte keine tödlichen Konsequenzen mehr. Das Ritual veränderte sich – anders als bei Caesar –, weil das Risiko sich definitiv verlagerte: Lebensgefahr bestand nur noch während des Kampfes; sie war umgehbar, wenn die Kämpfer aufgaben, noch bevor sie eine Wunde empfangen 254
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hatten. Selbstverständlich zerrüttete sich der gladiatorische Ehrenkodex: Ohne tödliches Risiko schwächte sich die moralische Disziplinierung während der Zeit im ludus ab; die Strafzeit ›verrömerte‹ die Verfemten nicht mehr; der Sozialisationszweck kam – wenn man Petronius Glauben schenkt – tatsächlich stellenweise abhanden. Denn es lohnte sich nun, sich jahrelang peitschen zu lassen, um dafür am Leben zu bleiben. Indem Nero die Gerichtsszene – das kollektive Urteil – im Amphitheater entschärfte, nahm er der Gladiatur ihren Charakter, eine Bewährung auf Leben und Tod zu sein. Das tangierte ihren Strafcharakter: es machte keinen Sinn mehr, Menschen ad ludum zu verurteilen. Die Lex Petronia aus neronischer Zeit passt genau in diese Politik: Sklavenbesitzer konnten widerspenstige Sklaven nur dann in ein ludus geben, wenn der Stadtpräfekt Roms zustimmte.44 Damit konnte die Regierung die Zufuhr von Sklaven zur Gladiatur in Italien theoretisch auf Null absenken. Eben das scheint Nero beabsichtigt zu haben: Je weniger Verurteilte und Sklaven in der Arena auftauchten, desto eher waren Auftritte von Senatoren und Rittern verkraftbar, zunächst bei exquisiten Anlässen, später überhaupt. So ließ er im Jahre 63 Aristokraten im hauptstädtischen Amphitheater auftreten, Männer wie Frauen.45 Damit beabsichtigte er gewiss nicht, die betreffenden Senatoren zu entehren, sondern wollte die Rahmenbedingungen schaffen, um das semantische Gefüge des Rituals umzustürzen. Den Umstand, dass sogar Frauen aus senatorischen Familien in der Arena kämpften, musste die Plebs als karnevaleske Inversion begriffen haben, welche die soziale Hierarchie nicht bedrohte, sondern bekräftigte. Auch die Teilnehmer selbst hatten – aus Angst vor Entehrung – ein massives Interesse, ihre Auftritte als karnevaleske Einlage zu sehen. Doch der Kaiser bezweckte etwas anderes: Er bemühte sich, die karnevaleske Situation zum Dauerzustand zu machen, um auf diese Weise die Symbolik umzuwälzen. Darum vergab er enorm hohe Siegesprämien; die sollten die soziale Wertschätzung der Sieger radikal verändern und das Verhältnis von Auftretenden und Zuschauern ›hellenisieren‹. Der Kaiser selbst tat sein Bestes; er trat seit 64 in Neapel, seit 65 auch in Rom öffentlich als Sänger auf. Als erster und einziger Kaiser trieb er absichtlich und planmäßig eine Hellenisierung der Spiele voran. Die neronische Kulturrevolution war gefährlicher als die früheren Anstrengungen jener auftretenden Senatoren und Ritter, die in der Arena und auf der Bühne auftraten. Während diese, mit ihrem sozialen Status die Zuschauer beeindruckend, danach trachteten, deren 255
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Einstellung gegenüber den Auftretenden zu ändern, gestaltete Nero gezielt den sozialen Rahmen des Rituals um. Er scheiterte letztlich an der stadtrömischen Bürgerschaft, welche sich den kulturellen Zumutungen des Kaisers erbittert widersetzte. Der Kampf um die politische Symbolik der römischen ludi endete mit einer totalen Niederlage der Hellenisierer. Das war nicht zwangsläufig. Die Rituale enthielten Kippmomente. Hätten die Hellenisierer sich durchgesetzt, wären die römischen ludi zu Agonen hellenistischen Typs geworden. Freilich hätte die römische Kultur der Kaiserzeit dann eine andere Entwicklung genommen. Indes, nicht alle in die Arena Hinabsteigenden erlitten eine Entehrung. Unter zwei genau definierten Umständen konnten Römer das tun: Erstens, wenn sie dabei ein votum, also ein Gelübde erfüllten. Erkrankte z. B. ein Kaiser, so brachten die Bürger den Göttern Opfer und vota dar – zunächst in der Hauptstadt, bei ernsteren Krankheiten auch reichsweit. Manche Bürger, nicht selten hochstehende Personen, gelobten, einen Kampf bis zur Verwundung zu bestehen, falls der Kaiser genas. Sie wurden damit nicht zu Gladiatoren: Sie brauchten jenen fatalen Eid, der sie entrechtete, (auctoramentum) nicht abzulegen. Ihr Kampf war ein einmaliger Akt; er brachte keinen Preis, aber auch keine soziale Ächtung, sondern Ehre und Anerkennung. Er musste für den Votanten nicht tödlich enden, aber er war unter Todesrisiko zu bestehen. Als Caligula nach einer Krankheit gesundete, forderte er von Votanten, die ›vergessen‹ hatten ein solches votum zu erfüllen, dass sie in der Arena kämpften. Mit Recht, denn seine Gesundheit hing an der pflichtgetreuen Erfüllung solcher vota.46 Eine zweite Gelegenheit, ehrenhaft in der Arena aufzutreten, bot sich während der Iuvenalia. In der Forschung wurde die Meinung vertreten, die ›Spiele‹ bei den Iuventus-Feiern seien eine Art Gladiatorenspiele gewesen. Doch Georges Ville hat nachgewiesen, dass dem nicht so war.47 Zwar führten die Jugendlichen bei den Iuventus-Festen Fechterspiele zu Pferde wie zu Fuß vor, und sie veranstalteten auch unblutige und blutige Tierhetzen. Überdies fand das lusus iuvenum an derselben Stelle statt wie die Gladiatur, die venatio und die Hinrichtungen, nämlich im Amphitheater. Dennoch stehen beide Rituale in semantischer Opposition zueinander: Zum einen taten Römer das nur ein einziges Mal in ihrem Leben, nämlich als iuvenes beim Iuventus-Fest. Daraus erhellt auch der Charakter des Festes. Sobald römische Jugendliche die toga virilis anlegten und damit als Erwachsene galten, konnten sie einem collegium iuvenum beitreten und sich in bestimmten Kampfdisziplinen üben. Bei den nächs256
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ten Iuvenalia traten sie dann auf, um das Erlernte in Wettkämpfen vorzuführen. Mit diesem Auftritt stellte sich jedes Mal ein neuer Jahrgang römischer Bürger der politischen Gemeinschaft vor und machte seinen Eintritt in die Bürgerschaft öffentlich. Die Iuvenalia waren somit ein ›rite de passage‹, der den Statuswechsel der jungen Männer anzeigte. Zum anderen kämpften die iuvenes nie mit scharfen Waffen gegeneinander; die Kämpfe waren ›Schattenkämpfe‹;48 und sie kämpften niemals gegen Gladiatoren. Falls es richtig ist, dass die Organisationen der iuvenes dazu dienten, diese militärisch zu ertüchtigen, dann wird die diametrale Opposition zur Gladiatur noch deutlicher: Hier kämpften Verfemte um ihre partielle Rehabilitation. Dort szenographierte die römische Jugend ihre Wehrtauglichkeit und meldete sich als künftiger Träger der Res publica an. Bei den Iuvenalia stellte sich die soziale Reproduktion dar – mit feierlich inszenierter Zuversicht: Die künftige Generation versicherte den Bürgerschaften ihrer Städte, für die künftige Siegesfähigkeit Roms einzustehen, die römische Überlegenheit zur Geltung zu bringen und die römische Herrschaft zu bewahren. So nahmen die Protagonisten in beiden Ritualen eine politische Randlage ein – allerdings auf entgegengesetzten Seiten des sozialen Körpers. Kultureller Wandel, semantische Verschiebungen und das Verschwinden der Gladiatur Die Gladiatur veränderte sich dennoch. Je weiter sie sich im römischen Reich verbreitete, desto mehr kollidierte ihre integrative Funktion – als Modell zur Inszenierung römischer kultureller Werte und Kommunikation – mit den divergierenden Erwartungen, die unterschiedlichste Ethnien des römischen Reiches mit ihren sehr verschiedenen kulturellen Dispositionen an die römische politische Symbolik herantrugen. Weder die Semantik noch die zeremoniellen Abläufe blieben davon unbeeinträchtigt. Zudem befand sich die Gesellschaft des römischen Reiches in einem fortlaufenden sozialen und religiösen Umschichtungsprozess. Die Gladiatur veränderte sich inmitten dieses Wandels zwangsläufig. Zum einen verschärfte sich die Strafpraxis im römischen Reich. Die römische Kultur kannte niemals die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz: wenn es um Strafen ging, tat sich bereits in der Republik eine Schere auf, die den Unterschichten der römischen Bürgerschaft geringere Chancen einräumte als den Begüterten. Diese Tendenz verstärkte sich im Kaiserreich; das römische Bürgerrecht bot immer weniger Schutz vor sehr harten Strafen. In den Provinzen wurden Straftäter 257
Kollektive ›Spiele Aktion ‹ und und politische institutionelles Integration Entscheiden
immer schneller zu den gefürchteten Strafen – ad ludum (zur Gladiatur oder venatio), ad metalla (zur Bergwerksarbeit) und ad bestias (zur Tötung durch Tiere in der Arena) verurteilt. Die Rechtsprechung arbeitete als Maschinerie, die unentwegt den Nachschub von Menschen in den ludus produzierte.49 Demnach stieg das Risiko für die Verurteilten: Solange die Zuschauer ›römisch disponiert‹ waren, d.h. den festen Glauben hatten, dass rigorose Disziplinierung innerhalb einer festen Gruppe imstande war, sogar verworfene Menschen ›umzuerziehen‹, solange waren sie bereit, die missio zu geben, wenn der Besiegte ›römische‹ Tugenden zeigte. Doch wenn die kulturellen Dispositionen der Zuschauer vom ›Modell‹ abwichen, weil sie andere Vorstellungen vom Bestrafen und von den Chancen individueller Umerziehung hatten, dann sank die Bereitschaft, die missio zu geben, dramatisch. Hinzu kommt, dass hellenisch sozialisierte Zuschauer dazu tendierten, viel mehr auf den Sieger zu achten als auf den Unterlegenen. Verlagerte sich der Fokus der Wahrnehmung, geriet das Schicksal des Unterlegenen aus dem Blick. Solche Zuschauer gaben die missio allzu schnell überhaupt nicht. ›Unrömisches‹ Zuschauerverhalten wischte somit die Grenze zwischen Gladiatur und Hinrichtung aus. Da in Rom seit der Kaiserzeit, vielleicht schon früher, das Blut sowohl der Hingerichteten als auch der gefallenen oder getöteten Gladiatoren auf die Statue des Jupiter Latiaris gegossen wurde,50 drohte sich das Ritual noch zusätzlich mit kultischer Semantik aufzuladen, obwohl die Gladiatur nicht mit einem Kult von Unterweltsgöttern verbunden war. Von daher wird verständlich, warum in der Kaiserzeit in der Arena Schreine für die Nemesis auftauchten: Nemesis war die Gottheit der Vergeltung. Wenn sie präsent war, während Verurteilte von Tieren zerrissen, durchs Schwert hingerichtet oder im Kampf getötet wurden, dann wurde jeder Tod in der Arena aus einem Triumph der römischen Ordnung über ihre Feinde zur Vollstreckung einer verdienten Strafe. Damit schraubte sich die politische Semantik im Amphitheater um eine beträchtliche Drehung weg vom ›klassischen‹ Modell: Nemesis zielte nicht auf virtus – auf die Möglichkeit, sich wieder einen Platz in der Gesellschaft zu ›verdienen‹ –, sondern auf eine mit Sicherheit eintreffende Vergeltung. Diese Umsemantisierung musste eine Umritualisierung verstärken und dauerhaft machen: Wenn der Strafaspekt alles andere überwog, dann verloren sich die Gründe, Besiegten überhaupt noch die missio zu geben. Nahm man den Gedanken einer sicheren Vergeltung ernst, dann bestand auch kein Grund mehr, Gladiatoren nach drei Jahren die rudis zu geben, obwohl sie immer siegten. Dazu musste man die gesetzliche Regelung gar nicht umgehen. Die Spielgeber brauchten die Abläufe 258
Die Veränderungsdynamik in der Gladiatur
lediglich so zu manipulieren, dass auch die siegreichen Gladiatoren unterlagen, z. B. indem man sie mehreren Gegnern nacheinander entgegenstellte. Die Folgen waren sozialer wie kultureller Art: einerseits wurden gut ausgebildete Gladiatoren zur Rarität, anderseits drohte die technische Qualität – also die ästhetische Dimension dieser Kämpfe – verloren zu gehen. Als die Zufuhr von Verurteilten in den ludus sich verknappte, weil seit 325 kaiserliche Gesetze diese Menschen zur Zwangsarbeit in die Bergwerke schickten,51 waren die rituellen Abläufe schon längst andere geworden. Die Gladiatur wurde zum seltenen Ereignis. Die Seltenheit bewirkte, dass die Zuschauer ihr Verhalten nicht mehr entlang von Regeln und Kriterien homogenisieren konnten; und sie machte aus den tödlichen Kämpfen ein beängstigendes Spektakel inmitten befriedeter Städte. Während die venatio ein gerne gesehenes Ritual blieb, welches den Sieg der römisch trainierten venatores über die wilde drohende Natur choreographierte, fand die Gladiatur keinen präzisen Stellenwert mehr innerhalb eines Imaginären, das sich verändert hatte, und erregte anwachsende Furcht. Leider berichten uns die Quellen kaum etwas über diese Veränderung. Doch sie fügt sich in jenen Geschmackswandel, der – wie Ramsey MacMullen betont – unvermeidbar eintrat, als andere Hinrichtungsarten für die zusehenden Bürgerschaften attraktiver wurden.52 Vergessen wir nicht die Betroffenen selbst, auch wenn die Überlieferung aus ihnen stumme Akteure gemacht hat. Der kulturelle Wandel wirkte selbstverständlich auf die Gladiatoren zurück, auf ihr Gruppenbewusststein, ihren moralischen Zusammenhalt und ihren Ehrenkodex. Solange die Gladiatoren sich in einer annähernd gleichen Lebenslage befanden, konnten sie sich als homogenisierte Gruppe verstehen: Ihre Lebensperspektiven waren insofern dieselben, als sie zwar um den Sieg, nicht aber ums Überleben konkurrierten. Solange das Ritual idealiter nach ›römischen‹ Regeln funktionierte, konnten theoretisch alle überleben, sogar die Unterlegenen, falls sie tapfer fochten. Je mehr sich die Zuschauer daran gewöhnten, die missio selten zu vergeben, umso stärker wurde der Antrieb, die Niederlage zu vermeiden, um das Überleben zu sichern. Gladiatoren wurden zu Konkurrenten ums Überleben. Das musste – auch wenn wir darüber überhaupt keine Quellen haben – den Zusammenhalt der Sträflinge im ludus stark tangiert haben: Es erzeugte neue interne Hierarchien, die vollkommen losgelöst vom zu erwartenden oder verlorenen Status waren; es entkräftete den gruppeneigenen Ehrenkodex mit seinen Schonungsregeln und vor allem verwandelte es den alltäglichen Umgang und das regelmäßige 259
Kollektive ›Spiele Aktion ‹ und und politische institutionelles Integration Entscheiden
Training in eine gefährliche und heimtückische Situation. Die mangelnde Homogenisierung spaltete sicherlich den ludus im Alltag wie bei den Auftritten entlang einer neuen brutalen Trennlinie: Die hervorragenden Kämpfer standen prädestinierten Opfern gegenüber. Georges Ville hat das Verschwinden der Gladiatur damit erklärt, dass sie – aufgrund der Knappheit an Gladiatoren, zumal gut ausgebildeter – immer teurer wurde. Paul Veyne hat als Ursache mentale Veränderungen bei den städtischen Bürgern des Reiches benannt: Die Reichsbewohner ängstigten sich zunehmend um ihre zivile und politische Sicherheit, und so wurde ihnen der öffentlich inszenierte tödliche Kampf inmitten einer befriedeten Gesellschaft immer unzumutbarer.53 Beide Autoren gehen davon aus, dass das Ritual selbst sich kaum wandelte. Doch die Mikroanalyse ergibt, dass die Gladiatur sich beträchtlich umformte. Zwar fehlen dafür die direkten quellenmäßigen Belege; doch benennbare konstitutive Komponenten des Rituals verschoben sich auf begrifflich fassbare Weise. Die Gültigkeit der Schlussfolgerung beruht somit darauf, dass jene Gedankenexperimente korrekt angeordnet waren, die in den obigen Analysen zu den Kippmomenten der Gladiatur spezifische Erkenntnisse lieferten. Diese Analysen befolgten – ob recht ob schlecht – Max Webers Empfehlung, die konstitutiven Faktoren eines historischen Phänomens gedanklich zu isolieren und – entlang der objektiven Möglichkeiten, die es enthält – zu verändern, um zunächst objektive Relationen zwischen ihnen begrifflich zu fassen und danach idealtypische Varianten zu entwerfen.54 Transformationen, historische Veränderungen überhaupt, lassen sich erfassen als Übergang von einer Variante zur anderen. Diese Varianten gestatten die Konstruktion von notwendigen Sachverhalten – auch ohne Quellen –, denn sie schulden sich der Rekonstruktion von gegebenen Relationen. Wenn die Eule der Minerva einen nächtlichen Ausschnitt im Trümmerfeld der Vergangenheit überfliegt, formt sich in ihrem Auge kein Abbild der Geschichte. Was sie erblickt, erinnert am wenigsten an die mitreißende Abfolge ergreifender Szenen in einem Farbfilm, sondern lockt mit der logischen Schönheit von Gebilden fraktaler Geometrie.
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Anmerkungen
Anmerkungen
1. Plebejischer Gehorsam und aristokratische Performanzen 1 Meier, Res publica amissa, S. 44. 2 J. M. Kelly, Roman Litigation, Oxford 1966, S. 1 ff., 14 ff., 31 ff.; Crook, Law and Life, S. 93; Daube, Roman Law, S. 92; Kunkel, Untersuchungen, S. 78; Robinson, Criminal Law, S. 1–14. 3 Dazu: Veyne, Le pain, S. 401 ff.; Nicolet, Métier, S. 425–434; Clavel-Lévêque, L’Empire, S. 37 ff.; Nippel, Aufruhr, S. 19 ff. u. 128 ff.; Hopkins, From Violence; David, Eloquentia popularis; Flaig, Den Kaiser herausfordern, S. 52 ff., 75 ff., 159 ff.; Jehne, Jovialität; Hölkeskamp, Oratoris maxima scaena. 4 Dazu: Gladigow, Sakrale Funktion; Nippel, Aufruhr, S. 19–26 und nun Goltz, Maiestas. 5 Nicolet, Métier, S. 472 f. Allgemein dazu: David, République romaine, S. 19–39. 6 Goltz, Maiestas, S. 246. 7 Meier, Res publica amissa, S. 29. 8 Thomas, Vitae necisque potestas; Bettini, Familie, S. 17 ff., 26 ff.; Martin, La famiglia u. ders., Vater. 9 Zur Diskussion über Klientelismus und Patronage allgemein: S. N. Eisenstadt / L. Roniger, Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge 1984, S. 162 ff., 172, 203 ff., 294 ff. Für die Antike: Wallace-Hadrill, Patronage, S. 72 f.; E. Deniaux / P. Schmitt Pantel, La relation patron-client en Grèce et à Rome, in: OPUS . International Journal for Social & Economic History of Antiquity, No 6–8 (1987–89), S. 148–163; Deniaux, Clientèles et pouvoir; J.-M. David, La clientèle – d’une forme d’analyse à l’autre, in: Bruhns, Die späte römische Republik, S. 195–210. 10 Das Zwölftafelgesetz sah für einen Patron, der seinen Klienten betrügt, eine Strafe vor, die alle üblichen Maße überstieg: er verfiel der Sakration (Tafel VIII 21). Der römische Adel stellte damit klar, dass in der fides die Basis der sozialen Ordnung zu sehen ist. Dazu: Hellegouarc’h, Le vocabulaire, S. 23–40; C. Becker, Art. Fides, in: RLAC Bd. VII (1969), S. 801–839. 11 Meier, Res publica amissa, S. 28 ff., 59 ff. 12 Wallace-Hadrill, Social Structure. 13 Meier, Res publica amissa, S. 59. 14 Plutarch, Marius 7. 15 Veyne, Le Pain, S. 313 ff. u. 401 ff. 16 Sallust, Bellum Iugurthinum 54.1. 17 Valerius Maximus VII , 5.2. 18 Ihre Wichtigkeit hat bereits Zinserling betont: »Leutseligkeit zu besitzen, war bei Bewerbung um die höchsten Staatsämter … eine unerläßliche Voraussetzung« (Studien, S. 415). Theoretisch aufgearbeitet hat dieses Phänomen Paul Veyne. 19 Dazu: Jehne, Jovialität.
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Anmerkungen 20 Veyne, Le pain, S. 400. 21 Gruen, Hellenistic World, S. 263 ff.; Rawson, Intellectual Life, S. 317 ff.; Marquardt, Privatleben I, S. 114 ff. 22 Gruen, Hellenistic World, S. 267 ff.; Earl, Moral and Political Tradition, S. 38 ff. 23 Kolendo, Nomenclator. 24 Das zeigt: P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 21990, S. 103 ff., 107 ff., 240 ff. Insbesondere dazu: Giuliani, Bildnis, S. 56–100, 190–244. 25 F. Hampl, Römische Politik in republikanischer Zeit und das Problem des Sittenverfalls, in: HZ 188 (1959), S. 511; Finley, Politics, S. 35–39; Hopkins, Murderous Games, in: ders., Death, S. 4 ff.; Schneider, Wirtschaft, S. 141 ff. u. 175 ff.; Hölkeskamp, Nobilität, S. 227 f. 26 Auctor de viris illustribus 72.5; Sueton, Nero 4. 27 Dazu: Mitchell, Aristocracy; Hopkins / Burton, Political Succession; Hölkeskamp, Nobilität, S. 241 ff.; ders., Conquest; Burckhardt, Political Elite. 28 Ryan, Rank and Participation, S. 137–170. 29 Bonnefond-Coudry, Sénat, S. 605–617. 30 Livius XXVII , 11. 31 Siehe dazu: Meier, Die Ersten, S. 191–196. 32 Livius, periochae LXVII.
2. Der Triumph. Individuelle Aneignung kollektiver Leistung 1 Dazu: Bonfante Warren, Roman Triumphs; M. Lemosse, Les Eléments techniques de l’ancien triomphe romain et le problème de son origine, in: ANRW I/2 (1972), S. 442–453; Versnel, Triumphus; Künzl, Triumph; Rüpke, Domi militiae, S. 223–234. 2 G. Beseler, Triumph und Votum, in: Hermes 44 (1909), S. 352–361; Laqueur, Wesen; R. Develin, Tradition and the Regulation of Triumphal Regulations in Rome, in: Klio 60 (1978), S. 429–438; Rüpke, Domi militiae, S. 226. 3 Künzl, Triumph, S. 34 u. 65; anders: Rüpke, Domi militiae, S. 228. 4 Diodor XXXI , 7.9–12 gibt eine andere Reihenfolge an als Plutarch, Aemilius Paullus 32–34. Livius XXXIV, 52.2–12 (zum ebenfalls dreitägigen Triumph des T. Quinctius Flamininus 194 v. Chr.) bestätigt Plutarch. 5 Versnel, Triumphus, S. 94 ff., 194 ff., 300 ff., 397 ff.; Künzl, Triumph, S. 85–96; Rüpke, Domi militae, S. 232. Das Aussehen des Triumphators nahm Bezug auf Jupiter, den höchsten Gott; doch diese Anähnlichung hatte keine religiöse Bedeutung; sie markierte lediglich die momentane Enthobenheit des Triumphators aus dem Kreise seiner Standesgenossen. 6 Künzl, Triumph, S. 65–74. 7 Dazu: H. Happ, Paradigmatisch–syntagmatisch. Zur Bestimmung und Klärung zweier Grundbegriffe der Sprachwissenschaft, Heidelberg 1985, vor allem S. 36 ff., 72 ff. u. 94 ff.; R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, S. 168–180 u. 187–198. Den beträchtlichen Unterschied zwischen römischen Prozessionen und griechischen betont Florence Dupont, Ludions, Lydioi: Les danseurs de la pompa circensis. Exégèse et discours sur l’origine des jeux à Rome, in: Spectacles sportifs et scéniques dans le monde étrusco-italique (Actes de la table ronde), Rom 1993, S. 189–210.
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Anmerkungen 8 Zur pompa circensis: Dionysios von Halikarnassos, Antiquitates Romanae VII , 72. 9 Zur Einlagerung der Prozessionen in den urbanem Raum siehe auch Döbler, Politische Agitation, S. 95–106. Das Verhältnis von Partizipation und ›Zusehen‹ des politischen Kollektivs findet sich ausgezeichnet erörtert bei Dupont, Théâtre latin, S. 14 ff. 10 Barthes, Elemente, S. 52–73. Gegen die Ontologisierung des strukturalen Modells wendet sich Eco, Semiotik, S. 361–436 mit durchschlagenden Argumenten. 11 Livius XXXVII , 46.2–6. 12 So: Rüpke, Domi militiae, S. 229. Dazu: Hannestad, Imperial Policy, S. 23, 36 u. 339–342. 13 Livius XLV, 40.5. 14 Dazu: Shatzman, Senatorial Wealth, S. 99–109; Schneider, Wirtschaft, S. 93 ff.; M. I. Finley, Die antike Wirtschaft. München 1977, S. 56 ff.; Hopkins, Conquerors, S. 39 ff. Der schlagartige Anstieg des Reichtums der Acilii Glabriones nach 190 v. Chr. ist dafür ein Beispiel, wie Dondin-Payre, Exercice du pouvoir, S. 122–127, zeigt. 15 Zum Verhältnis von ökonomischer Tätigkeit und senatorischer Lebensführung: Th. Schleich, Überlegungen zum Problem senatorischer Handelsaktivitäten (Teil 2: Zwischen otium und negotium: Gelegenheitsunternehmungen u. domestizierte Wirtschaft), in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte III /1 (1984), S. 37–76. Zur finanziellen Seite der Wirtschaftstätigkeit siehe nun: Jean Andreau, Banque et affaires dans le monde romain 4e siècle av. J.-C. – 3e siècle ap. J.-C., Paris 1999, S. 24–63. 16 I. Shatzman, The Roman General’s Authority over Booty, in: Historia 21 (1972), S. 177–205. 17 Hopkins, Conquerors, S. 1–98. 18 Zu den Vorgängen, die in den antiken Quellen widersprüchlich überliefert sind (vgl. darüber schon Livius XXXVIII , 56), siehe Scullard, Politics, S. 290–303. 19 Gruen, The ›Fall‹. 20 Polybios, XXIII , 14 (= 24,9a). 21 Livius, XXXVIII , 54.3 f. u. 11 f. 22 Res gestae divi Augusti I , 1 u. passim. Dazu: E. Flaig, What does the treason trial against C. Silius in 24 AD have to do with gift exchange? Or is loyalty a favor?, in: G. Algazi / V. Gröbner / B. Jussen, Negotiating the Gift (im Druck).
3. Die pompa funebris – das symbolische Kapital vorweisen 1 2 3 4 5 6
Wallace-Hadrill, Social Structure; ders., Patronage, S. 63–87. Dazu nun: Flower, Ancestor Masks. Ebd., S. 37 f. Dupont, Les morts, S. 170. Siehe dazu: Cicero, Pro Murena 88 u. Pro Sulla 88. Seneca, De Beneficiis III , 28.2 u. Plinius, Naturalis Historia XXXV, 6. Siehe dazu: Zinserling, Studien, S. 429–431; Bettini, Familie, S. 138. 7 Über den Ort der Stemmata: Seneca, De Beneficiis III , 28.2. 8 Zinserling, Studien, S. 429 ff.; Bettini, Familie, S. 143.
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Anmerkungen 9 Polybios VI , 53.1–54.3. Ich übernehme die Übersetzung von Kierdorf, Laudatio, S. 1 f. 10 Schneider, imagines maiorum, Sp. 1098. 11 »Die beeindruckende Zeremonie der pompa funebris, bei der die Toten des Geschlechts mit den Insignien ihrer Ämter auftreten, gilt nicht dem Totenkult, sondern soll den Glanz der Familie in dieser Welt vor Augen führen« (Latte, Religionsgeschichte, S. 100). 12 Flaig, Die pompa funebris. 13 Toynbee, Death and Burial, S. 47 ff. mit Tafel 11. 14 Siehe: St. Steingräber (Hg.), Etruskische Wandmalerei, Stuttgart/Zürich 1985, S. 63 f., S. 287 (Nr. 33), S. 349 ff. (Nr. 109). 15 Polybios nennt zwar als unterstes Amt die Praetur. Doch es ist sicher, dass sämtliche kurulischen Ämter das ius imaginis mit sich brachten. Dazu: Rollin, Untersuchungen; G. Lahusen, Zum römischen Bildnisrecht, in: Labeo 31 (1985), S. 308–323, F. Lucrezi, Ius imgaginum, nova nobilitas, in: Labeo 32 (1986), S. 131–179. 16 Coarelli, Sepolcro. Zur geringen Chance, in die Position erfolgreicher Väter zu gelangen, siehe vor allem: Hopkins / Burton, Political succession, S. 55–72. 17 Anders: Kierdorf, Laudatio, S. 79. 18 Ebd., S. 102 f. 19 Ebd., S. 117. 20 Bettini, Familie, S. 150. 21 Aufschlussreich sind die Grabinschriften im Scipionen-Grab: Verweis auf die Tugenden: a) CIL I2 6–7: für Lucius Cornelius Scipio Barbatus (Consul 298, Censor 280 v. Chr.) mit Verweis auf Stärke und Klugheit; b) CIL I2 11: für Lucius Cornelius Scipio mit Verweis, er sei nie an Tüchtigkeit übertroffen worden; c) CIL I2 8–9 für L. Cornelius Scipio (Consul 259, Censor 258 v. Chr., Sohn des Barbatus) mit Aufzählung militärischer Leistungen; d) CIL I2 10: für P. Cornelius Scipio (Sohn des Africanus) mit Bedauern über einen frühen (?) Tod, der ihm nur Geringes an Ämterlaufbahn (honos), Ansehen (fama), kriegerischem Erfolg (virtus), politischem Ruhm (gloria) und individueller Besonderheit (ingenium) gelassen habe; e) CIL I2 15: für Gnaeus Cornelius Scipio Hispanus mit Verweis darauf, dass er – zwar nicht durch eine großartige Laufbahn, aber immerhin – durch seine Lebensart (moribus) sich das Lob der Vorfahren erworben habe. Dazu: P. Kruschwitz, Die Datierung der Scipionenelogien CLE 6 u. 7, in: ZPE 122 (1998), S. 273–285. 22 Dazu: H. Roloff, Maiores bei Cicero, Göttingen 1938, S. 23–32; u. Bettini, Familie, S. 149 ff. 23 Siehe dazu: 2. Kapitel A2. 24 Bömer, Ahnenkult, S. 6. 25 Siehe: Plautus, Persa 62 ff. u. Miles gloriosus 372 f. Nach Ulpian (Digesta II ,4,4.2) nennen manche die Ahnen bis zum tritavus (Ururururgroßvater) parentes, die noch älteren maiores. 26 Dupont, Les morts, S. 170 f. 27 Bettini, Familie, S. 148. 28 Ebd., S. 144. 29 Plinius (Naturalis Historia XXXV, 2.6) sagt, bei jedem Verstorbenen sei stets die ganze Schar der Familie, so groß sie jemals gewesen war, zugegen. Dabei hat er als Römer die politische Selektion bereits mitberücksichtigt: Frauen und erfolglose Ahnen zählten im Stemma nicht.
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Anmerkungen 30 Latte, Religionsgeschichte, S. 100 u. Dupont, Les morts, S. 168. 31 Kierdorf, Laudatio, S. 2. 32 Zur Semiotik: Eco, Semiotik, S. 76 ff., 127 ff., 195 ff. u. 417 ff.; Barthes, Elemente, S. 21 ff., 31 ff. u. 49 ff.; Veyne, Le pain, S. 401 ff., 609 ff. 33 Tacitus, Annales XIII , 3.1. Dazu: Kierdorf, Laudatio, S. 65. 34 Kierdorf, Laudatio, S. 18 u. 72. 35 Dupont, Les morts, S. 169. 36 Plutarch, Cato maior 1.1 f.; Fragm. 173 ORF 4 (= Fronto p. 92, 21). Dazu: Earl, Moral and Political Tradition, S. 45–47. 37 Sallust, Bellum Iugurthinum 85.25. Ob Marius die Rede so gehalten hat, wie Sallust sie wiedergibt, ist unwichtig. Der Senator Sallust wusste um die Bedeutung der Ahnenbilder und konnte Marius nur in den Mund legen, was als Argument tauglich war. 38 Dazu: Bourdieu, Sozialer Raum, S. 22 f.; ders., Sozialer Sinn, S. 215, 235 f. u. 255 ff. 39 Mommsen, Staatsrecht, Bd. 1, S. 443, Anm.1; Dupont, Les morts, S. 168. Wenn die Quellen aus republikanischer Zeit nur die imagines des Vaters und des Großvaters erwähnen, dann liegt das daran, dass in den betreffenden Familien nur diese Ahnen imagines hatten (Siehe: Cicero, In Vatinium testem interrogatio 28 u. Livius I , 34.6). Zurückhaltend ist Bettini, Familie, S. 231, Anm. 18. 40 Tacitus, Annales III , 76. 41 Bettini, Familie, S. 143. 42 Münzer, Atticus, S. 99. 43 Bethe, Ahnenkult, S. 86. 44 Bettini, Familie, S. 51 ff., 80 ff., 153 ff., 179 ff.; dazu Jochen Martin, Nachwort zu Bettini, Familie, S. 253. Pierre Bonte und Elisabeth Copet-Rougier, Groupes, S. 255 sprechen von »la nature cognatique de la parenté à Rome« und stellen fest, »que les valeurs agnatiques ne masquent pas le caractère cognatique de la parenté« (S. 259); ebenso Linke, agnatio. Martin, La famiglia zeigt, wie die römischen Heiratsrituale auf eine kognatische Verwandtschaftsstruktur schließen lassen (S. 88–91). 45 Zur Adoption als Instrument familialer Strategien der römischen Adelsgeschlechter: Corbier, Divorce, S. 63–76. 46 Bethe, Ahnenkult, S. 84. 47 Flower, Ancestor Masks, S. 276: »The Roman family group, as represented by its imagines, was defined narrowly in terms of gender and rank, but broadly in terms of relationships, whether by descent or by marriage. This definition was designed to maximize social and political advantage.« An dieser Definition ist alles falsch. Dazu: Flaig, Kulturgeschichte ohne historische Anthropologie. 48 Dupont, Les morts, S. 168 kommentiert: »C’est pourquoi les hommes nouveaux essayent de se retrouver des ancêtres ›honorables‹.« 49 So Dondin-Payre, Stratégie symbolique, S. 60: »ce sont les dépositaires des imagines, y compris les femmes dont elles accroissent la valeur dans le cadre de la stratégie matrimoniale, qui en profitent.« 50 Auch Cato der Ältere heiratete – als homo novus – lieber eine Tochter aus einem vornehmen Hause als eine Reiche (Plutarch, Cato 20). War er politisch erfolgreich, kam er ohnehin zu Reichtum; Ahnenbilder erwarb er nur mit einer überlegten Heirat. 51 Quorum quidem omnium patriciorum imagines habeas volo (Cicero, Ad familiares IX , 21). Ciceros Briefpartner L. Papirius Paetus machte keine politische Karriere,
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Anmerkungen sondern lebte dauernd in Neapel; wahrscheinlich betätigte er sich philosophisch. Das heißt freilich, dass er mit seiner Familie ebenso gebrochen hatte wie mit einer aristokratischen Lebensführung. Doch er scheint sich irgendwann umorientiert zu haben, denn er plante, sein Haus mit Ahnenbildnissen zu schmücken. Freilich wusste er nicht mehr, was dabei zu beachten war. Über die Aussteiger als innovatorischer Faktor siehe: Flaig, Grenzen der Akkulturation, S. 97–99. 52 Zu den Verhältnissen zwischen einzelnen kollateralen Zweigen siehe DondinPayre, Exercice du pouvoir, S. 81–87 (am Beispiel der Acilii). 53 Plinius, Naturalis Historia XXXV, 8. 54 Dazu: Corbier, Divorce, S. 64 u. 76.
4. Politische Kultur und memoriale Praxis 1 2 3 4
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Bettini, Familie, S. 146. Zum Aufbau der laudatio funebris siehe Kierdorf, Laudatio, S. 71 ff. Contra: Dupont, Les morts, S. 168. Dazu: Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989. Regelrechte Ahnenserien entstanden in der Polis nicht; dazu fehlte in Hellas das Instrumentarium (z.B. die Standardisierung der Kriterien, gemäß welchen das Erinnerungswürdige zu selektieren gewesen wäre). Vornehme Familien pflegten die mythische Genealogie selbstverständlich weiter. Dazu: Bethe, Ahnenkult, S. 72. So: D. Timpe, Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Basis der frührömischen Überlieferung, in: Ungern-Sternberg / Reinau, Vergangenheit, S. 266–286, hier S. 285. Zwar fährt er fort: »(solche Erinnerung) … muss aber auch mit Orten, Relikten, allgemeinen politischen Ereignissen und nicht zuletzt mit dem parallelen Erinnerungswissen anderer Familien verquickt und verbunden gedacht werden.« Doch diese Verquickung vermag Timpe nicht zu thematisieren. Flower, Ancestor Masks, S. 113: »Emphasis was laid on the antiquity of the family and on its most recent achievements.« Wikander, Senators and Equites. Dazu: Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 48–56 u. 87–93. Flower, Ancestor Masks, S. 60 ff. Dazu: Flaig, Grenzen der Akkulturation. Zum Gebrauch von ›Werken‹: Veyne, Foucault, S. 70–73. Jegliche Topographie enthält eine mehr oder minder stark gepflegte ›Gedächtnislandschaft‹ (Maurice Halbwachs); überall wimmelt es von ›lieux de mémoires‹ (Pierre Nora), selbstverständlich auch im urbanen Raum Roms (dazu: K.-J. Hölkeskamp, Capitol, Comitium und Forum. Öffentliche Räume, sakrale Topographie und Erinnerungslandschaften der römischen Republik, in: St. Faller [Hg.], Studien zu antiken Identitäten, Würzburg 2001, S. 97–132. Begrifflich konfus und theoretisch ein Rückfall ist T. Hölscher, Die Alten vor Augen. Politische Denkmäler und öffentliches Gedächtnis im republikanischen Rom, in: Melville, Institutionalität und Symbolisierung, S. 183–211). In einer Studie über ritualisierte Politik ist dieser räumliche und dingliche Aspekt der Memorialkultur nur dort von Interesse, wo er konkret wirksame Signifikanz in den behandelten politischen Prozessen stiftet.
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Anmerkungen 11 Daher tauchen in den erhaltenen Grabinschriften (elogia) dieselben Kerntugenden auf wie in jenen Fragmenten von laudationes, die uns überliefert sind, z. B. die laudatio des L. Caecilius Metellus von 221 v. Chr. (bei Plinius, Naturalis Historia VII , 139 f.). Dazu: Kierdorf, Laudatio, S. 10–21. 12 Cicero, De Oratore II , 225. 13 Cato nr 8 Fragm. 252 ORF 4 (= Fest. P. 408, 31). 14 Plutarch, Cato maior 10.5 u. 11.3. 15 Sallust, Bellum Iugurthinum 85.29 f. u. 25. 16 Dazu: Kornhardt, Exemplum; A. Lumpe, s. v. Exemplum, RAC 6 (1966), Sp. 1229–1257. Man kann das römische exemplum als einen historischen Sonderfall von Kanonisierung im Sinne von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 103 ff., auffassen. 17 Rech, Mos Maiorum; Develin, Mos maiorum mutatus; Fr. Mencacci, Genealogia metaforica e maiores collettivi, in: M. Coudry / Th. Späth (Hgg.), L’invention des grands hommes de la Rome antique – Die Konstruktion der großen Männer Altroms, Paris 2001, S. 421–437. 18 Dazu: D. C. Earl, Political Terminology in Plautus, in: Historia 9 (1960), S. 235–243; Z. Hoffmann, The parody of the idea of mos maiorum in Plautus, in: Oikumene 3(1982), S. 217–223 . 19 Plutarch, Gracchen 15. 20 Livius XXVII , 8.8–10. 21 Livius VIII , 7.17. 22 Valerius Maximus V, 8.3. 23 Dazu die brillanten Analysen von David (Compétence sociale u. Le patronat, S. 326–342). 24 Cicero, De amicitia 1 f. und De officiis II , 46. Dazu: David, Le patronat, S. 334 f. und 338 f. 25 Die Vorstellung, die römische Aristokratie sei in segmentierte gentes zerfallen, findet sich bei Timpe, Mündlichkeit. Blösel, Mos maiorum (besonders S. 27–53) hat diese Auffassung kürzlich radikalisiert. 26 Veyne, Die Revolutionierung, S. 40–43; P. Bourdieu, Méditations pascaliennes, Paris 1997, S. 113–151. 27 Ungern-Sternberg, Conflict; Martin, Die Popularen, passim. 28 Cl. Lévi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1958, S. 37–62; dazu: René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972, S. 305–319; Cl. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt 1993, S. 212–220. Siehe auch die Diskussionen um die ›Kernfamilie‹: D. Goetze / C. Mühlfeld, Ethnosoziologie, Stuttgart 1984, S. 202–233; M. Harris, Kulturanthropologie, Frankfurt/New York 1989, S. 150–155; F. R. Vivelo, Handbuch der Kulturanthropologie, München 1988, S. 212–253, hier S. 246 f. 29 Die soziologische Literatur zur Rolle der sozialen Normen ist unüberschaubar. Hier nur: Popitz, Normative Konstruktion. 30 Blösel weist darauf hin, dass der »weitgehende Normenkonsens« verhinderte, dass eine gens »ihren mos maiorum« für höherwertig hielt als den mos maiorum einer anderen gens (Mos maiorum, S. 47). Dann war freilich der vorgängige Normenkonsens stärker als jeder mutmaßliche gentile mos maiorum und strukturierte diesen. 31 CIL I2 15. 32 Martin, Die Popularen.
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Anmerkungen 33 Nach Blösel waren senatorische Familien bemüht, nachzuweisen, »dass die eigene gens gleichsam einen eigenen mos maiorum ausgebildet hatte und den Wertekanon der Nobilität vollständig verkörperte, da alle darin enthaltenen Tugenden von den Mitgliedern der eigenen gens zur Anwendung gebracht worden seien, während die Rivalen dahinter zurückgeblieben seien« (Mos maiorum, S. 52). Doch wenn es das Ziel einer adligen Familie war, den »Wertekanon der Nobilität vollständig« zu verkörpern, dann war der Wertekanon des Geschlechts deckungsgleich mit demjenigen der gesamten Klasse. Daraus folgt: Das Geschlecht befolgte den Wertekanon der sozialen Gruppe; es hatte keinen eigenen. 34 Dazu: Badian, Early Historians, S. 11 ff.; und nun: Walter, Die Botschaft des Mediums. Die spezifische Orientierungsleistung der Historiographie erörtert Rüsen, Historische Orientierung S. 1–47 u. 209–234 eindrücklich. 35 J. Ch. Yerushalmi, Zakhor. Jewish History and Memory, New York 21989, S. 21–26; A. Goldberg, Die Zerstörung von Kontext als Voraussetzung für die Kanonisierung religiöser Texte im rabbinischen Judentum, in: A. u. J. Assmann (Hgg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II , München 1987, S. 201–209. Für den römischen Fall siehe: David, Valeurs et mémoire, S. 119–130. 36 Dazu: Martin, Die Popularen. 37 Dazu allgemein: Vittinghoff, Der Staatsfeind. Zum Beispiel des Calpurnius Piso (20 n. Chr.) siehe: W. Eck / A. Caballos / F. Fernández, Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996. 38 Plutarch, Lucullus 27. 39 Die damnatio memoriae lässt sich auf der Skala der Ausschließungstechniken in die Nähe dessen rücken, was Assmann »normative Inversion« nennt (ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, S. 88–103). 40 Plutarch, Caesar 5.2 f. 41 Cato stellt sich damit auch gegen die Bewertungsmaßstäbe der hellenistischen Geschichtsschreibung. Hierzu: Klingner, Geisteswelt, S. 58–60. 42 Flower, Ancestor Masks, S. 228 f. 43 Tacitus, Annales III , 5. Siehe: Price, Noble Funerals. 44 Siehe: J. Scheid, La religion des Romains, Paris 1998, S. 133–136. 45 Flower, Ancestor Masks, S. 240 ff. 46 Cassius Dio LVI , 34. Dazu: Bettini, Familie, S. 232, Anm. 26; Flower, Ancestor Masks, S. 244 ff. 47 Flower, Ancestor Masks, S. 253. 48 Siehe dazu: R. Schilling, La religion romaine de Vénus, Paris 21982; C. Saulnier, Laurens Lavinas. Quelques remarques à propos d’un sacerdoce équestre à Rome, in: Latomus 43 (1984), S. 517–533; A. Dubourdieu, Les origines et le développement du culte des Pénates à Rome, Rom 1989, S. 335–361; Thomas, ›Origine‹ et ›Commune patrie‹, S. 133–179.
5. Zwingende Gesten in der römischen Politik 1 Plutarch, Gracchen 10. Siehe dazu: Flaig, Zwingende Gesten. 2 Plutarch, Gracchen 11.
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Anmerkungen 3 Siehe: Cicero, Oratio post reditum ad Quirites 8; Pro Sestio 32; Plutarch, Cicero 30 f.; Cassius Dio XXXVIII , 16.3. Zum Thema insgesamt: Thomas, Se venger, S. 72. 4 Dazu: D. Daube, Ne quid infamandi causa fiat – The Roman Law of Defamation, in: Atti del Congr. Intern. di Diritto Romano, Mailand 1953, S. 413 ff. 5 Seneca (maior), Controversiae 10, 1; vgl. besonders Digesten XLVII ,10,15,27; Venuleius, in: Digesten XLVII ,10,39. Dazu: D. Daube, Collatio 2.6.5, Essays in Honour of the Very Rev. J. H. Hertz, London 1942/3, S. 126 f. und Lintott, Violence, S. 16 ff. 6 Zu den Erwartungen gegenüber Rednern: David, Eloquentia popularis; ders., Dion Cassius; ders., Le patronat passim; Hölkeskamp, Oratoris maxima scaena. 7 Die Spielräume für das Verhalten gegenüber dem Volk hat kürzlich Jehne, Jovialität umrissen. 8 Meier, Spécificité, S. 67 u. 78. 9 Dazu: Sartori, Selbstzerstörung. 10 Appian, Bella civilia I , 33. 11 Zwar durfte man auf dem Feld der Politik Feindschaften austragen; aber die Motive der Feindschaft sollten nicht aus diesem Feld stammen, ansonsten wären Feindschaften und Feindseligkeiten ausgeufert. 12 Meier, Spécificité; Nippel, Aufruhr, S. 54–59. 13 Plutarch, Lucullus 35. 14 Dazu die Ausführungen bei Veyne, Le Pain, S. 313 ff. u. 401 ff. 15 Dazu: Jehne, Wahlen, S. 51. 16 Als der spartanische Feldherr Klearchos weinte, tat er das vor einem Söldnerheer (Xenophon, Anabasis I , 3.2). 17 Plutarch, Pompeius 13. 18 Sueton, Augustus 52.2. 19 Z. B. Quintilian, Institutio oratoria VI , 1.24 u. 33. 20 Asconius, In Scaurianam, S. 28 [Clark]. 21 Siehe Quintilian, Institutio oratoria VI , 1.33 und besonders Digesten XLVII ,10,39. 22 Valerius Maximus VI , 4.4 und Plutarch, Cicero 25.1, vgl. Cicero, Pro Milone 52; ferner die Rede von Kaiser Claudius: De aetate recuperatorum et de accusatoribus coercendis, in: Fontes Iuris Romani Antejustiniani Bd. 1, No. 44 l. 18 ff. 23 Cicero, Oratio post reditum in senatu 37; ders., Oratio post reditum ad Quirites 6. 24 Livius, periochae XLIX. 25 Galbas Ämter: Broughton, Magistrates, Bd. 1, S. 455 u. 470. 26 Cicero, De oratore I , 227. Freilich sagte das just P. Rutilius Rufus, der – als er vor Gericht stand – sich weigerte, überhaupt zu Bittgesten zu greifen. 27 Bourdieu, Unterschiede, S. 115–167, 277–354, 678–755; ders., Sozialer Sinn, S. 87–179.
6. Auf Narben weisen – Zur Kritik kultureller Semantik 1 Livius XLV, 35.7–36.5. 2 Die Rede bei Livius XLV, 37.1–39.20. Plutarch, Aemilius Paullus 30–32. Dazu: Flaig, Zwingende Gesten. 3 Livius XLV, 45.40; Plutarch, Aemilius Paullus 32.1. 4 Giovanni Rotondi, Leges publicae populi Romani. Elenco cronologico con una in-
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Anmerkungen
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troduzione sull’attività legislativa dei comizi, Mailand 1912, Ndr. Hildesheim 1966, S. 297, 302, 324 f. So M. Leigh, Wounding and Popular Rhetoric at Rome, in: BICS 40 (1995), S. 195–225, unter Berufung auf: R. Brain, The Decorated Body, London 1979, S. 68–81. Xenophon, Memorabilia III , 4.1. Plutarch, Quaestiones Romanae 49 (= Moralia 276 c–d); ders., Coriolan 14.1; ders., Aemilius Paullus 31.5 f. Nicole Loraux, Les expériences de Tirésias. Le féminin et l’homme grec, Paris 1989, S. 108 ff. Leigh (Anm. 5) besitzt kein konzeptionelles Instrumentarium, um die Unterschiede zu bemerken. Plutarch, Agesilaos 36.2; Xenophon, Agesilaos 6.2. Die Rede bei Diodor VIII , 12.7 ff. hat nichts zu tun mit einer römischen Narben-Demonstration. Der spätantike Libanios (Oratio III 22) steht längst unter römischem Einfluss. Was Alexander von Makedonien seinem Vater Philipp zum Trost über dessen Narben gesagt haben soll, entnimmt Plutarch (Moralia 331 b–c) beinahe wörtlich dem 150 Jahre vor ihm schreibenden Cicero (De oratore II , 249), der es als römisches geflügeltes Wort bezeichnet, was es im römischen Kontext auch tatsächlich war. Wenn eine Narben-Demonstration einzig bei Menander (Phoinicides, fragm. IV, 4–7) auftaucht, dann ist über den klassischen athenischen Kontext genug gesagt; die Geste war den Athenern lächerlich oder widerwärtig. Curtius Rufus schildert ein Duell der Narben-Demonstrationen zwischen den meuternden Soldaten und Alexander (VIII , 7.11 u. IV, 14.6); er passt damit Alexander auf typische Weise in den römischen Kontext ein. Livius II , 27.5; IV, 58.13; VI , 14.6. Livius VI , 20.7 ff. u. Dionysios von Halikarnassos, VII , 62.3. Quintilian, Institutio oratoria II , 15.7 u. besonders VI , 1.21. Seneca, De providentia IV, 4. Cicero, In Verrem II , 5.32. Cicero, Pro C. Rabirio perduellionis reo 36. Plutarch, Marius 9; Livius XLV, 39.17 u. Livius, periochae LXX; Plinius, Naturalis Historia VII , 101 ff. Das mag sehr viel häufiger vorgekommen sein, als Fälle überliefert sind. Plutarch, Aemilius Paullus 35.2 und Sallust, Historien, fragm. I 88 (= Gellius II , 72.2). Cassius Dio LIV, 14.3. Der 130 Jahre später geschriebene historiographische Text des Livius gibt einen bekannten und nicht ungewöhnlichen Sachverhalt in seinen wesentlichen Elementen korrekt wieder. Properz II , 1.44 und Seneca, De vita beata XV, 5. N. Dyson Hudson, Karimojong Politics, Oxford 1966, S. 162–171; P. Clastres, La société contre l’Etat. Recherches d’Anthropologie politique, Paris 1976, S. 152–160. Livius XXVI , 41. 151 v. Chr: Broughton, Magistrates, Bd. 1, S. 455; Mindestalter: Mommsen, Staatsrecht, Bd. 1, S. 565. Dazu: Flaig, Akkulturation. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982, S. 171.
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Anmerkungen
7. Negative Reziprozität: Die römische Rache 1 Dieses Kapitel verdankt sich in weiten Teilen dem brillanten Aufsatz von Yan Thomas, Se venger au Forum; es setzt insofern andere Akzente, als die Mehrdeutigkeit von Situationen und die strategischen Optionen ins Zentrum rücken. 2 Cicero, Philippica V, 19; Calpurnius Flaccus, Declamatio 2. 3 Tacitus, Annales VI , 29. 4 Cicero, Ad familiares V, 2. 5 Cicero, Pro A. Cluentio 23. 6 Sueton, Caligula 3. 7 Sulla: Appian, Bella civilia I , 77 u. 95. Cicero: ders., Oratio post reditum ad Quirites 20 f. Triumvirn: Appian IV, 10. 8 Sueton, Augustus 17. 9 Tacitus, Annales II , 70 f.; Livius I , 58.7–59.2; Dionysios von Halikarnassos, Antiquitates Romanae IV, 70.3 ff., vgl. Quintilian, Declamationes 362. 10 Parentare und Bestattungsriten (parentationes): Varro, De lingua latina VI , 34; Cicero, De Legibus II , 54; Plinius, Naturalis Historia XVIII , 30. Das Sühneopfer, das über das Grab gegossene Blut, bezeichnet gleichfalls die Rache, vgl. Livius XXIV, 21; Cicero, Pro L. Valerio Flacco 95 f. 11 Zwölftafelgesetz (hg. v. R. Düll) X 1.3 u. 4. 12 Plutarch, Gracchen 34 f. 13 Cassius Dio XL , 49.2 f. Dazu vorzüglich: Nippel, Aufruhr, S. 129–133. 14 Sueton, Caesar 84; Plutarch, Antonius 14; Appian, Bella civilia II, 146 f. Außerdem: Cassius Dio XLIV, 35; Asconius, In Milonianam, S. 33 (Clark); Cicero, Philippica I, 5 u. II, 91. 15 Tacitus, Annales III , 1 f. u. III , 12; Cassius Dio LVII , 18.9. 16 Plutarch, Gracchen 18; Tacitus, Annales IV, 44.5 und VI , 10.1; Digesten III ,2,19,3. 17 Valerius Maximus IX , 2.2; Velleius Paterculus II , 22.1 f.; Florus II , 9.14–16. 18 Die explizitesten Quellen sind Valerius Maximus IX , 2.1 und Lukan II , 173 ff. Siehe: François Hinard, La male mort. Exécutions et statut du corps au moment de la première proscription, in: Du châtiment dans la Cité, S. 295–311. 19 Hortensius: Plutarch, Antonius 22. Cicero: ders., In L. Pisonem 16. 20 Appian, Bella civilia I , 16; Plutarch, Gracchen 20.3. 21 Massenopfer am Altar für Caesar: Sueton, Augustus 15.2; Cassius Dio XLVIII 14.4; Seneca, De Clementia III 9.1 (Budé). 22 Thomas, Se venger, S. 67. 23 Cicero, De officiis II , 14.50. 24 Thomas, Se venger, S. 72. 25 Cicero, De inventione I , 15.107–109; Quintilian, Institutio oratoria VI , 1.26.30 ff. u. 40. Die Inszenierung durfte freilich nicht ins Lächerliche umschlagen: Quintilian VI , 3.75 u. 100. 26 Zu paternus inimicus bei Cicero siehe: F. Hinard, Paternus inimicus. Sur une expression de Cicéron, in: Mélanges pour Willeurmier, 1979, S. 197 ff. Zu Lucullus: Cicero, Academicorum posteriorum libri II , 1 sowie Plutarch, Lucullus 1.2. Zu Aurelius Cotta: Valerius Maximus V, 4.4; vgl. Cassius Dio XXXVI , 40.4. Zum Sohn des Verres: Cicero, In Verrem II , 3.162. 27 Cicero, Pro A. Cluentio 172; ders., Pro M. Caelio 2; vgl. Quintilian, Institutio oratoria XI , 1.8.
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Anmerkungen 28 Cicero, Divinatio in Q. Caecilium 53 f. u. 66 ff.; vgl. Quintilian, Institutio oratoria VII , 4.33; ähnlich: Digesten XLIII , 29, 3, 11. Idoneior bzw. iustus accusator: Digesten XLVIII , 5, 2, 9; XLVII , 23, 2; vgl. XLVIII , 2, 16. Dass Cicero regelrecht als patronus fungierte, bezweifelt Jean-Louis Ferrary, Patroni et accusateurs dans les procédures de repetundis, in: Révue historique de droit français et étranger 76 (1998), S. 17–46, hier S. 20–25. 29 Toga virilis: Digesten III , 1, 1, 3. Frauen: Digesten XLVIII , 2, 2 pr.: certis ex causis concessa est mulieribus publica accusatio, veluti si mortem exequantur eorum earumque, in quos ex lege testimonium publicorum invitae non dicunt. Mündel: Digesten XLVIII , 2, 2, 1. Ehrlose (infames): Digesten XLVIII , 2, 4. Zu Cato: Gellius V, 13 (»Über die Abstufung der Pflichten und die zu befolgende Rangfolge in den Sitten des römischen Volkes«). 30 Inimicitia capitalis lautet der Terminus technicus: z. B. Tacitus, Annales IV, 19; Digesten III ,3,8,3; III ,3,14; Pauli Sententiae II , 27.1. 31 Risiko einer infamia: Digesten XXIX ,5,26. Interesse des Fiskus: Marcianus in: loc. cit. XXIX ,5,15. Officium pietatis: Digesten XXIX ,5,21,2; XXXIV,9,21; Codex Justinianus VI , 35.1 pr. 32 Plutarch, Cato Maior 15.3; Res gestae Divi Augusti 2. Zur Verbindung von Gesetz und Rache für Caesar: Appian, Bella civilia III , 14.95. Octavian als Rächer seines Vaters ist ein häufig in den Quellen vorkommendes Motiv, weil das der Titel ist, den Augustus sich am liebsten gibt: Florus II , 16 (6, 2.6) und besonders Tacitus, Annales, I , 9 u. 10. Zu Turia: Flach, Laudatio Turiae, S. 52 (= I , 5 f.). 33 Valerius Maximus V, 3.2; Quintilian, Declamationes 270. 34 Plinius, Naturalis Historia VII , 141 ff.; Livius, periochae LIX , 10; Cicero, De domo sua 123. 35 Asconius, In Cornelianam, S. 63 f. (Clark). 36 Dazu: Gotter, Cicero und die Freundschaft. 37 Livius XXVII , 35; Valerius Maximus, IV 2.2. 38 Livius XL , 45.6–46.15. 39 K. J. Hölkeskamp, Fides – deditio in fidem – dextra data et accepta: Recht, Religion und Ritual in Rom, in: Chr. Bruun (Hg.), The Roman Middle Republic. Politics, Religion, and Historiography c. 400 – 133 B. C., Rom 2000, S. 223–250. 40 Plinius, Naturalis Historia VII 144. 41 Die Anhänger: Plutarch, Gracchen 22, 24; Cicero, De haruspicum responso 43; Florus II, 3. Die Widersacher: Cicero, Brutus 126 u. Pro C. Rabirio perduellionis reo 14.
8. War die römische Volksversammlung ein Entscheidungsorgan? 1 Die comitia curiata, welche den gewählten Magistraten bei Amtsantritt ihre Amtsvollmachten verliehen, können außer Acht gelassen werden, da sie schon in der mittleren Republik keine Versammlung des Volkes mehr darstellten. 2 Bleicken, Lex Publica, S. 244. Demokratie: Millar, Popular Politics; dagegen; Flaig, Entscheidung und Konsens, sowie Hölkeskamp, Government of the People, S. 203–223. 3 Bleicken, Lex Publica, S. 273 f.; Nippel, Aufruhr, S. 55; Eder, Who rules?, S. 179. 4 Bleicken, Lex Publica, S. 285.
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Anmerkungen 5 A. de Tocqueville, Oeuvres, hg. v. J. P. Mayer, Band I/2 (De la Démocratie en Amérique), Paris 1953, S. 290. Dazu: E. Flaig, Im Schlepptau der Masse. Politische Obsession und historiographische Konstruktion bei Jacob Burckhardt und Theodor Mommsen, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 405–442, hier S. 420–423. 6 Siehe: Jehne, Beeinflussung. 7 Bleicken, Lex Publica, S. 329, 263, 268, 285, 275, 281, 278f., 273 f. 8 Dazu: Cornell, Anachronism, S. 53–58. 9 Entgegen Bleicken, Lex Publica, S. 279–285 spricht Cicero nicht von geographischer, sondern von sozialer Repräsentativität. 10 Jehne, Geheime Abstimmung. 11 Millar, Political Character, spricht von der »parliamentary function« (S. 4) des Senats ebenso wie von »popular sovereignty« (ebd. S. 6). 12 So Veyne, L’inventaire, S. 37–41, 45–49 und 53–60. 13 Dazu: Jean-Louis Ferrary, Optimates et Populares. Le problème du rôle de l’idéologie dans la politique, in: Bruhns, Die späte römische Republik, S. 221–235. 14 Appian, Libica 112; Sallust, Bellum Iugurthinum 73. R. Rilinger, Der Einfluß des Wahlleiters bei den römischen Consulwahlen von 366 bis 50 v. Chr., München 1976, S. 81 f.; R. Develin, Scipio Aemilianus and the Consular Elections of 148 B. C., in: Latomus 37 (1978), S. 484–488; Rosenstein, Competition and Crisis. 15 Veyne, Le Pain, S. 422 f. Dazu allgemein: Elizabeth Deniaux, De l’Ambitio à l’Ambitus: Les lieux de la propagande et de la corruption électorale à la fin de la république, in: L’Urbs. Espace urbain et histoire (Actes du colloque) Rom, 1987, S. 279–304. Yakobson, petitio et largitio, S. 32–52 versucht die Kategorie des Stimmenkaufs wieder zur Geltung zu bringen, wobei er den kulturgeschichtlichen Kontext ausblendet und die Forschungen zum Euergetismus in der römischen Aristokratie übergeht. Dagegen: Jehne, Beeinflussung, und ders., Wirkungsweise, S. 661–678. 16 Jehne, Geheime Abstimmung, S. 593 ff. 17 Ich habe diese Problematik anhand der Prestigekämpfe im kaiserlichen Senat erläutert; siehe: Flaig, Den Kaiser herausfordern, S. 109 ff. 18 Hopkins, From Violence to Blessing, S. 485–497. 19 Jehne, Integrationsrituale. 20 Varro, De Re rustica III , 17.1. Dazu: P. Fraccaro, La procedura del voto nei comizi tributi Romani (1913/14), in: ders., Opuscula 2, Pavia 1957, 235–254. Dazu: Hall, Voting Procedure, S. 292 ff. 21 Das Mindestvermögen betrug für die erste Klasse 100000 As (= 10 000 Denare), später 120 000 oder 125 000, für die zweite 75 000, für die dritte 50 000, für die vierte 25 000, für die fünfte 11 000 oder 12 500, später 4000 As (Livius I , 43; Dionysios von Halikarnassos, Antiquitates Romanae IV, 16; Polybios VI , 19.4 u. 23.15; Plinius, Naturalis Historia XXXIII , 43; Festus, p. 113; Gellius VI , 13). 22 Taylor, Voting Assemblies, S. 97 f.; zu den Versammlungsplätzen und ihrer Einbettung in den urbanen politischen Raum siehe Döbler, Politische Agitation, S. 210–213. 23 A. Yakobson, Dionysius of Halicarnassus on a Democratic Change in the Centuriate Assembly, in: SCl 12 (1993), S. 139–155. 24 So: Flaig, Den Kaiser herausfordern, S. 85 f. 25 Hall, Voting Procedure, S. 275 ff. 26 Veyne, Le pain, S. 402 u. 419–426. Seine Argumentation wird nach unterschied-
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Anmerkungen
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lichen Gesichtspunkten ausgeführt von: Jehne, Beeinflussung, und ders., Wirkungsweise. Meier, praerogativa centuria, Sp. 571 f. Quellen: 1 = Livius V, 30.7; 2 = Livius V, 55.2; 3 = Livius VI , 39.2; 4 = Livius VIII , 37.11; 5 = Livius XXVII , 21.4; 6 = Livius XXXI , 6.1–8.2; 7 = Livius, periochae XLIX; 8 = Cicero, Laelius de amicitia 96; 9 = Cicero, Laelius de amicitia 96; 10 = Cicero, De officiis II , 73. Laser, Populo et scaenae, S. 67 hat meine frühere Liste korrigiert, indem er die Fälle 7 und 8 hinzufügte. Siehe Nicolet, Métier, S. 483–492; Veyne, Le pain, S. 394–401. Cassius Dio XXXVIII, 4–6.
9. Die rituelle Grammatik institutionalisierter Politik 1 2 3 4 5 6 7 8 9
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Livius XXI , 6.3–4. Livius XLV, 35.8 f. Zu den Umständen: Ebd., 35.7–36.5. Dazu: 6. Kapitel A. Siehe dazu ausführlich: 6. Kapitel. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 188 u. passim. Dazu: E. Flaig, Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 3 (1999), S. 31–100. Dazu: Moreau, Clodiana Religio, S. 81–121. Cicero, Ad Atticum I , 14.5. Moreau, Clodiana Religio, S. 115–121. Karl-Joachim Hölkeskamp hat kürzlich ihre Bedeutung dargelegt (ders., Oratoris maxima scaena); Flaig, Entscheidung und Konsens (3. Abschnitt); Pina Polo, Contra arma verbis; Laser, Populo et scaenae, S. 138–142. Liebenam, contio; Lange, Altertümer, Bd. 2, S. 715–723 hat die contiones knapp, aber systematisch behandelt. Mommsen, Staatsrecht, Bd. I, S. 197–200; er fügt noch in Bd. III , S. 390 unter dem Paragraphen »Verlauf der Volksabstimmung« einige Bemerkungen hinzu. Herzog, Staatsverfassung, Bd. I/2, S. 1058. Bleicken, Lex Publica, S. 282 u. 285. Nicolet, Métier, S. 386 ff.; Brunt, Fall of the Roman Republic; F. Millar, The political character of the Classical Republic, in: JRS 74 (1984), S. 1–19; Pina Polo, Procedures u. ders., Contra arma verbis; Hölkeskamp, Oratoris maxima scaena. Dazu: Sartori, Selbstzerstörung. So z. B. 167 v. Chr. (Livius XLV, 21.1–7) und 60 v. Chr. (Cicero, Ad Atticum I , 19.4). Dazu Hölkeskamp, Oratoris maxima scaena. Valerius Maximus III , 7.3. Cicero, Pro P. Sestio 105. Pina Polo, Contra arma, S. 52–64. V. Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt / New York 1989, S. 94–158. Diese Überlegungen treffen sich in vieler Hinsicht mit jenen von M. Sahlins, Inseln der Geschichte, Hamburg 1992, S. 40–45, 133–153 und Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 57–96, 147–179. Die politische Topographie des Stadtzentrums war so angelegt, dass Kommunikation zwischen den Räumlichkeiten, die das Forum umgaben, mühelos und sehr schnell vor sich ging. Dazu: Döbler, Politische Agitation, S. 22–61.
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Anmerkungen 23 Dazu: Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 97–121 u. 222–258; ders., Réponses, S. 114. 24 J. B. Churchill, Sponsio quae in verba facta est? Two lost speeches and the formula of the Roman legal wager, in: Classical Quarterly 50 (2000), S. 159–169. 25 Plutarch, Tiberius Gracchus 14. Zum Folgenden: Ungern-Sternberg, Die beiden Fragen. 26 Iure caesum videri. Siehe: Cicero, De oratore II , 106; Velleius Paterculus II , 4.4. 27 Velleius Paterculus II , 4.4. 28 Plutarch, Moralia p. 201 F; ders., Gracchen 10. Dazu: Astin, Scipio Aemilianus, S. 241. 29 Cicero, Laelius de amicitia 96. 30 Antiquari facile passus est. Siehe: Cicero, De officiis II , 73. 31 Valerius Maximus V, 4.5. Zwar achtete Valerius Maximus nicht auf historische Kontexte, sondern reduzierte die Ereignisse sehr stark, sodass sie als exemplum herhalten konnten. Vom dargestellten Ereignis war Valerius ca. 250 Jahre entfernt. Dennoch ist die Darstellung in ihren Grundzügen glaubwürdig; Valerius konnte auf historiographische Werke zurückgreifen, die seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. in Rom entstanden. Zum Autor: W. M. Bloomer, Valerius Maximus and the Rhetoric of the New Nobility, Chapel Hill/London 1992. 32 Dazu: J. Ch. Dumont, L’imperium du pater familias, in: Andreau, Parenté, S. 475–494.
10. Kollektive Aktion und institutionelles Entscheiden 1 Die Willensbildung innerhalb des Senates vollzog sich in sonderbaren Verfahren, weil die Senatoren fast nie nach der Mehrheitsregel abstimmten, sondern stets versuchten, den Konsens in der höchsten Rangklasse herzustellen; gelang das nicht, wurde abgeschätzt, wie viele der höherrangigen Senatoren auf welcher Seite standen (Bonnefond-Coudry, Le sénat, S. 525–538). Dieses komplexe Thema bleibt hier ausgespart. 2 Dazu: Meier, Spécificité. 3 Lintott, Violence, S. 7–20; Nippel, Aufruhr, S. 27–69; Vanderbroeck, Leadership, S. 142–160. 4 Siehe 5. Kapitel B u. E., 8. Kapitel E sowie 9. Kapitel B4 u. C. 5 Chr. Meier, Die loca intercessionis bei Rogationen, in: MH 25 (1968), S. 86–100. 6 Nippel, Aufruhr, S. 54–58. 7 Martin, Die Provokation, S. 80. Dazu: Rampelberg, Limites, sowie Jehne, Geltung der Provocation. 8 Cicero, De oratore II , 167, 197–201. 9 Siehe dazu: Martin, Die Popularen, S. 124, 182, 216 ff.; Nippel, Aufruhr, S. 65–68. 10 Nippel, Aufruhr, S. 22 u. 24 u. Goltz, Maiestas, S. 243–254. 11 Earl, Tiberius Gracchus, S. 118 f.; Badian, Tiberius Gracchus, S. 725; dazu auch Döbler, Politische Agitation, S. 252–257. 12 Plutarch, Gracchen 21. Wie das Kapitol sich in die sakral-politische Landschaft einfügt, umreißt Döbler, Politische Agitation, S. 142–153. 13 Plutarch, Gracchen 21. Allgemein dazu: J. von Ungern-Sternberg, Die Legitimitätskrise der römischen Republik, in: HZ 266 (1998), S. 610–624. 14 Bleicken, Lex Publica, S. 244.
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North, Politics and Aristocracy, S. 285. Ähnlich: Hopkins, From Violence, S. 492. Nippel, Aufruhr, S. 64. Nicolet, Métier, S. 492; anders: Veyne, Le Pain, S. 543. Die Literatur dazu ist riesig. Hier sei nur verwiesen auf: Hopkins, Conquerors and Slaves u. P. de Neeve, Peasants in peril. Location and Economy in Italy in the second century B. C., Amsterdam 1984. 19 H. Bruhns, Caesar, ›der wahre Gebieter‹, in: W. Nippel (Hg.), Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 55–71. 20 In gewaltsamen Konfrontationen setzte 57 v. Chr. ein stärkerer Teil der Plebs gegen die ›Clodianer‹ durch, dass der Senat die cura annonae Pompeius übertrug (Cicero, De domo sua 6 f., 15; Epistulae ad Atticum IV, 1.6 f.).
11. ›Spiele‹ und politische Integration 1 Rawson, Discrimina ordinum, S. 508; G. Piccaluga, Elementi spettacolari nei rituali festivi romani (Studi e materiali di storia delle religioni 2), Rom 1965. 2 Piganiol, Recherches, S. 75–149. Die deutsche Forschung folgte einem anderen Paradigma: Wissowa, Religion, S. 449 ließ zwar die ›Spiele‹ als religiös durchtränkte Veranstaltungen gelten, doch er trennte sie von denjenigen Festen, die ›eigentlich‹ religiös waren. Ähnlich schrieb K. Latte: »Viel geringer war der religiöse Gehalt in den jährlichen öffentlichen Spielen …« (Religionsgeschichte, S. 248); für Latte besteht der religiöse Gehalt einer Veranstaltung im ›Glauben‹ (ebd., S. 15); gegen Latte: R. Schilling, Rites, cultes, dieux de Rome, Paris 1979, 71 (»une optique anachronique«). Sehr entschieden: J. Bayet, La religion Romaine. Histoire politique et psychologique, Paris 21969, 139: »On se gardera de croire … que dans ces cérémoniels fériaux le sentiment religieux ait risqué de se perdre sous celui du plaisir profane.« Eine vermittelnde Position versucht Veyne (Le Pain, S. 390–396) einzunehmen. Siehe aber: Clavel-Lévêque, Empire, S. 11, 85 und 206 A. 297. 3 Politisierte Götter: M. Beard / M. Crawford, Rome in the late Republic, Ithaca 1985, S. 25–36; A. Wardman, Religion and Statecraft among the Romans, Baltimore 1982; J. A. North, Conservatism and Change in Roman Religion, in: PBSR 44 (1976), S. 1–12. Vervielfältigung der Spiele: Clavel-Lévêque, Empire, S. 18–21. 4 Livius XXXI , 9.6 u. 39.5 u.7. Dazu: Th. Mommsen, Die ludi magni und Romani, in: ders., Römische Forschungen 2, Berlin 1879, S. 42–57; Marquardt, Staatsverwaltung, Bd. 3, 482 f.; Wissowa, Religion, S. 452 f. 5 Soziale Distanz: Veyne, Le Pain, 415. Römische Opferpraxis: J. Scheid, Sacrifice et banquet à Rome. Quelques problèmes, in: MEFRA 97 (1985), S. 193–206. 6 Zur Ehrlosigkeit der Auftretenden: A. H. J. Greenidge, Infamia, Oxford 1894, Ndr. Aalen 1977; T. Frank, The status of actors at Rome, in: CPh 26 (1931), S. 11–20; M. Kaser, Infamia und ignominia in den römischen Rechtsquellen, in: ZRG 73 (1956), S. 220–278; M. Ducos, La condition des acteurs à Rome. Données juridiques et sociales, in: J. Blänsdorf (Hg.), Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum, Tübingen 1990, S. 11–33. 7 Siegesthematik: Piganiol, Recherches, S. 116–125 u. Clavel-Lévêque, Empire, S. 29–33 u. 93–100. Floralia: Ovid, Fasti V, 275–376. Ludi Apollinares: Livius XXV, 12.8–15.
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Anmerkungen 8 191 v. Chr.: Asconius S. 69 (Clark); ähnlich: Livius XXXIV, 44.4 f. Dazu: J. von Ungern-Sternberg, Die Einführung spezieller Sitze für Senatoren bei den Spielen (194 v. Chr.), in: Chiron 5 (1975), S. 157–163. Valerius Maximus II , 2.4. Dazu: Scamuzzi, Studio. 154 v. Chr.: Livius, periochae XLVIII; Valerius Maximus II ,4.2; Appian, bella civilia I , 28. Dazu: E. Frézouls, La construction du theatrum lapideum et son contexte politique, in: ders. (éd.), Théâtre et spectacles dans l’Antiquité (Actes du Colloque 1981), Straßburg 1983, S. 193–214; M. Sordi, La decadenza della repubblica e il teatro del 154 a. C., in: Invigilata lucernis 10 (1988), S. 327–341. 57 v. Chr.: Cicero, Ad Atticum, IV, 1.6. 9 Cicero, Pro Murena 40; Velleius Paterculus II , 32.3; Asconius S. 79 (Clark); Cassius Dio XXXVI, 42.1; anders: Plutarch, Cicero 13.2. Dass schon Gaius Gracchus ein diesbezügliches Gesetz hatte verabschieden lassen, ist möglich; es ist aber wahrscheinlicher, dass im Jahre 67 v. Chr. Roscius Otho einen Brauch, dem die spielgebenden Magistrate längst folgten, durch ein Gesetz verbindlich machte. Dazu: A. Stein, Der römische Ritterstand, München 1927, S. 21–30. 10 Auch die Frauen – es sei denn, sie gehörten zu privilegierten Gruppen wie z.B. den Vestalinnen – mussten in Theater und Amphitheater mit den Plätzen in der summa cavea Vorlieb nehmen. Nur im Circus konnten sie sich zwischen die männlichen Bürger setzen (Ovid, Tristia II , 283 u. Iuvenal, XI , 201). Die Regelungen von Theater und Amphitheater gingen meist Hand in Hand (Rawson, Discrimina, S. 511 u. 513). Anscheinend war das Platzangebot im Circus immer so üppig, dass die Absonderung der einzelnen Statusgruppen voneinander keiner gesetzlichen Regelung bedurfte. Die Absonderung wurde demnach den spielgebenden Magistraten überlassen. Dazu: S. Lilja, Seating Problems in Roman Theatre and Circus, in: Arctos 19 (1985), S. 67–73. 11 Cicero, De haruspicum responso 22–26. Dazu: J. O. Lenaghan, A Commentary on Cicero’s Oration De Haruspicum Responso, Den Haag 1969, S. 115 ff. Staatssklaven scheinen eigene Plätze im Theater bekommen zu haben, ähnlich wie in Athen. 12 Livius, Periochae, XLVIII; Valerius Maximus II , 4.2. 13 Zuruf u. Auspfeifen: Cicero, Ad Atticum II ,19.3. Aufstehen: Cicero, Pro Sestio 117. Schweigen: Bei den ludi Apollinaris des Jahres 59 v. Chr. (Cicero, Ad Atticum II , 19). Applaus mit Aufstehen sämtlicher Ritter: ebd. II , 19.3 (als der jüngere Curio bei den ludi Apollinares nach Caesar das Theater betrat). Schmährufe: Cicero, Ad familiares VIII , 1. 14 Das passierte T. Annius Milo, dem Feind des Volkstribuns Clodius. Es nützte ihm nichts, dass er Unsummen (Cicero, Pro Milone 95) für die Darbietungen von Gladiatoren vergeudete; er erreichte das Konsulat nicht. 15 Das hat Nicolet, Métier, S. 483 treffend formuliert: »En se montrant au public, les hommes en vue pouvaient donc éprouver leur popularité.« Das ›symbolische Kapital‹ von Individuen erhält sich nur, indem es immer wieder ins Spiel gebracht und damit aufs Spiel gesetzt wird (Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 235–245). Piso: Cicero, In Pisonem 65. 16 So Nippel, Aufruhr, S. 127. Cicero schätzte 59 v. Chr. die Unbeliebtheit der Triumvirn falsch ein (Cicero, Ad Atticum I , 16.11). 17 Gemitus und clamor: Cicero, Pro Sestio 120 u. 123; Cicero, Ad Atticum II , 19.3: ›nostra miseria tu es magnus‹ miliens coactus est dicere (gemünzt auf Pompeius, anlässlich der ludi Apollinares 59 v. Chr.). 18 Cicero, Pro Sestio 123: ›Tullius, qui libertatem civibus stabiliverat‹. Miliens revocatum est und ebd. 120.
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Anmerkungen 19 Zu den metonymischen und synekdochischen Operationen bei der Interaktion im Theater siehe: Clavel-Lévêque, Empire, S. 45–63. Zum beträchtlichen kulturgeschichtlichen Unterschied zwischen römischem und griechischem Theater: Dupont, Le théâtre latin, und dies., L’orateur sans visage. 20 Cicero, Pro Sestio 120 (»das Drama vergessen«). Claquen: ebd. 115 und Ad Atticum II , 19.3). Dazu: Nicolet, Métier S. 486 u. 491; Nippel, Aufruhr, S. 127. 21 Cicero, Ad Atticum XV, 2 u. XVI , 5. Auch Cicero erkundigte sich nach den Publikumsreaktionen: Ad Atticum, XIV, 3.2. Dazu: Nicolet, Métier, S. 491 f. 22 Appian, Bella civilia III , 23 f.; Ciceros Beteuerung, das römische Volk stehe einmütig hinter den ›Befreiern‹, ist soviel wert wie sein Argument: Bei den ludi Apollinares sei Brutus beklatscht worden (Philippica I , 36). Die Frage ›von wem und wie lange?‹ sparte er aus. 23 Zur Gladiatur: G. Lafaye, DS III /2, 1896, s. v. Gladiator, Sp. 1563–1599; Schneider, Gladiatoren; Ville, Gladiature; W. Weismann, RAC 11, 1981, s. v. Gladiator, Sp. 23–45; Hopkins, Murderous Games; Golvin / Landes, Amphithéâtres; Wiedemann, Emperors; Kyle, Spectacles; Gunderson, Ideology. 24 Kosten: Polybios XXXII,14,6. Terentius Afer: Phormio 964. 123 v. Chr.: Plutarch, Gracchen 12,5 f. 25 Lictoren: Mommsen, Staatsrecht, I , S. 391 A. 6. Munizipien: Th. Mommsen, Senatus consultum de sumptibus ludorum gladiatorum minuendis factum a.p.C. 176/7, in: Gesammelte Schriften VIII , Berlin 1913, S. 514; P. Garnsey, Honorarium decurionatus, in: Historia 20 (1971), S. 313 f., 323 f. 26 Cicero, Pro Sestio 106. 27 Seneca, Ad Lucilium LXXI , 23: uri, vinciri, verberari, ferroque necari patior. 28 Die Lex Iulia Municipalis hat diese Praxis rechtlich festgeschrieben: quive lanisturam artemve ludicram fecit fecerit, ILS 6085, l. 123. Die infamia konnte bis zu lokalen Bestattungsverboten reichen (ILS 7846). Siehe dazu nun: Wiedemann, Emperors, S. 28 f. u. 102–113 (mit Belegen). 29 Zur Symbolik der Gladiatur besonders: Clavel-Lévêque, Empire, S. 63–77. Zum Imaginären: Flaig, Den Kaiser herausfordern, S. 25–32. In ahistorische Psychologisiererei verfällt C. A. Barton, The sorrows of the Ancient Romans: The gladiator and the Monster, Princeton 1993. Martin, Spiele oder Politik, analysiert ein eindrucksvolles Ereignis aus dem Hippodrom in Konstantinopel zu Beginn des 6. Jhs. n. Chr. Eine solche Komplexität und Deutlichkeit konnte die politische Kommunikation im Rahmen der Gladiatur nie gewinnen. 30 Die venatio gehörte zu Ciceros Zeit als fakultatives Element zu den regulären Spielen der Aedilen. Sie war also anfänglich nicht kombiniert mit der Gladiatur. 31 Die Hinrichtungen fanden auf zweierlei Weisen statt: 1. Gladiatoren töteten die Verurteilten mit dem Schwert (Privileg römischer Bürger, die sich keine außerordentlichen Verbrechen zuschulden kommen ließen); 2. Die Verurteilten wurden gekreuzigt, verbrannt oder von wilden Tieren zerrissen. Bei besonderen Anlässen inszenierten die Kaiser Massenvernichtungen von Verurteilten; beliebt waren dabei Seeschlachten in eigens dazu angelegten Becken, bei denen sie zu Tausenden umkamen. Dazu: Coleman, Fatal Charades. Die Grenze zwischen dieser Hinrichtungsart und der Gladiatur konnte sich verwischen, wenn der Kaiser zeremonielle Fehler machte. Im Jahre 52 antwortete Claudius vor einer Seeschlacht mit 19 000 Todeskandidaten auf deren Gruß (morituri te salutamus) versehentlich mit einem »aut non« (was hieß, dass Todgeweihte gegebenenfalls das Leben behalten durften). Die überraschten Sträflinge fochten die Seeschlacht mit
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außerordentlicher Erbitterung durch; Claudius hielt Wort, er ersparte den Überlebenden den Tod (Tacitus, Annales XII , 56.3). Einzelkampf: Die griechische Phalanx ließ den Einzelkämpfer nicht zur Geltung kommen. In der römischen Schlachtreihe war der Kampf mit dem Schwert entscheidend; und der verlangte Einzelkämpferqualitäten. Siehe: S. P. Oakley, Single Combat in the Roman Republic, in: Class. Quarterly 35 (1985), S. 392–410. Man braucht Versuche, diese kulturelle Praxis mit ›Massenpsychologie‹ zu erklären, nicht mehr ernst zu nehmen, auch wenn ihre Versatzstücke immer wieder in der Wissenschaft auftauchen. Hopkins, der sonst die soziologische Erklärung der psychologischen vorzieht, meint: »Part of the answer may lie in the social psychology of the crowd which helps relieve the individual of responsibility, and in the psychological mechanisms by which some spectators identify more readily with the victory of the aggressor than with the sufferings of the vanquished« (Death and Renewal, S. 27). Aber bei der Gladiatur hat die Polarität Aggressor/Opfer keinen Sinn. Wenige Seiten weiter bringt er jedoch die kulturellen Bedingungen ins Spiel: »The popularity of gladiatorial shows was a by-product of war, discipline and death« (S. 29). Cicero, Tusculanae Disputationes II , 41. Zur Bewertung der Spiele insgesamt: M. Wistrand, Entertainment and Violence in Ancient Rome. The attitudes of Roman writers of the first century A.D., Göteborg 1992, S. 15–59 (mit umfassender Dokumentation). Die Verbindung von Gladiatur mit stoischen Tugenden findet sich z. B. bei: Cicero, Philippica III 14 u. 35; Seneca, Dialogi II , 16.2 u. Epistulae ad Lucilium XXX , 8; Epictet I 29, 37; Plinius, Panegyricus XXXI , 1; Tertullian, De spectaculis 12 . Augustin, Enarrationes in Psalm. LXX , 1. Manumissio: Collectio Librorum Iuris Anteiustiniani, Bd. 3: Mosaicarum et Romanorum Legum Collatio 11,7,3 f.: rescriptum divi Hadriani sic loquitur … enim vero qui in ludum damnantur, non utique consumuntur sed etiam pilleari et rudem accipere possunt post intervallum …; Mommsen, Strafrecht, S. 953 ff. Lex Aelia Sentia: Gaius, Institutiones I , 13–16. Diskriminierung: Digesten XXXVIII , 1,37 pr. Die Praxis, den Unterlegenen die missio zu geben, sofern sie tapfer gekämpft hatten, bestand in der Republik schon längst. Cicero wollte im Prozess gegen Milo die Richter dazu bringen, den Angeklagten genauso zu behandeln, wie die Römer unterlegene Gladiatoren behandelten: »wir begnadigen die Tapferen« (Pro Milone 92). Chancen zu überleben: Ville, Gladiature, S. 318–325. Klimax: ebd., S. 424. Kein Dissens im Amphitheater, obwohl es Fans unterschiedlicher Waffengattungen gab: Ville, Gladiature, S. 443–445. Während wir von vielen Zwischenfällen im Theater hören, überliefern die antiken Historiographen nur einen einzigen aus dem Amphitheater, jenen Zwischenfall 59 n. Chr. in Pompeji (Tacitus, Annales XIV, 17). Dabei gerieten nicht die Anhänger zweier unterschiedlicher Waffengattungen aneinander, sondern die Bürger aus Pompeji und die aus Nuceria. Tacitus, Annales I , 76.3. Dazu: Flaig, Den Kaiser herausfordern, S. 62 f. Caesar: Sueton, Iulius 26.2; Augustus: Sueton, Augustus 45.3: munera sine missione. Sueton, Tiberius 35,2. Cassius Dio LIX , 10.2. Sueton, Nero 12.1; Petronius, Satyricon 45, 11 f. Digesten XLVIII , 8,11.1–2; Gellius V 14.27.
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Anmerkungen 45 Tacitus, Annales XV, 32; Sueton, Nero 12; Cassius Dio LXI , 17.3 u. 4 behauptet solche Auftritte schon für die Neronia 59; doch Tacitus bestätigt das nicht. 46 Sueton, Caligula 14.2 u. 27.2; Gunderson, Ideology. 47 M. Della Corte, Iuventus, Arpino 1924, S. 14–16, 24–36 u. W. O. Moeller, The riot of A. D. 59 at Pompeii, in: Historia 19 (1970), S. 86. Dagegen G. Ville: »Il est clair que cette interpretation est inacceptable et que lusus ne s’est jamais confondu avec ludus« (Ville, Gladiature, S. 216). 48 Cassius Dio LXV, 15.2. 49 Rechtsungleichheit und zunehmende Brutalisierung der Strafmaße: W. Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962, S. 63–75; P. Garnsey, Social Status and Legal Privilege in the Roman Empire, Oxford 1970, S. 152–173, 221–279; Robinson, Criminal Law, S. 1–15. Nachschub an Menschen: Coleman, Fatal Charades, S. 45, 54–57; R. A. Bauman, Crime and Punishment in Ancient Rome, London 1996, S. 159. 50 Justin, Apologie II , 12; Tertullian, Apologeticum 9. Siehe: Ville, Les jeux, S. 283 f. 51 Codex Theodosianus XV, 12.1. 52 Nach McMullen wandelte sich die Haltung gegenüber den öffentlich vollzogenen Strafen beträchtlich zwischen dem Ende des 2. und der Mitte des 3. Jhs.; und dadurch sank das Interesse an der Gladiatur (R. McMullen, Judicial Savagery in the Roman Empire, in: Chiron 16 [1986], S. 147–166, hier S. 151). 53 Ville, Les jeux, S. 332–335; Veyne, Revolutionierung, S. 10–13. 54 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, S. 269–290.
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Bibliographie
Bibliographie
Nur einmal zitierte Titel wurden meist nicht ins Literaturverzeichnis übernommen. Sie finden sich in den betreffenden Anmerkungen bibliographisch eindeutig angegeben. Die Namen und Werke der antiken Autoren sind nicht abgekürzt. Die Abkürzungen für Zeitschriften und Serien folgen dem Sigel-Verzeichnis der Année philologique. Andreau, J. / Bruhns, H. (Hg.), Parenté et stratégies familiales dans l’Antiquité Romaine, Rom 1990. Assmann, J., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Astin, A. E., Scipio Aemilianus, Oxford 1967. –, Roman Government and Politics, 200–134 B.C., in: CAH VIII 21989, S. 163–196. Badian, E., The early Historians, in: Latin Historians, hg. v. T. A. Dorey, London 1966, S. 1–38. –, Tiberius Gracchus and the Beginning of the Roman Revolution, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (= ANRW ) I/1 (1972), S. 668–731. Barghop, D., Forum der Angst. Eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich, Frankfurt 1994. Barthes, R., Elemente der Semiologie, Frankfurt 1979. Bethe, E., Ahnenkult und Familiengeschichte bei Römern und Griechen, München 1935. Bettini, M., Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Frankfurt 1992. Bleicken, J., Lex Publica. Recht und Gesetz in der Römischen Republik, Berlin 1975. Blösel, W., Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfängen bis Cicero, in: Linke/Stemmler, Mos maiorum, S. 25–97. Bömer, F., Ahnenkult und Ahnenglaube im Alten Rom, Leipzig 1943. Bonfante Warren, L., Roman Triumphs and Etruscan Kings: The Changing Face of the Triumph, in: JRS 60 (1970), S. 49–66. Bonnefond-Coudry, M., Le Sénat de la République Romaine – de la guerre d’Hannibal à Auguste, Rom 1989. Bonte, P. / Copet-Rougier, E., Groupes de parenté et stratégies matrimoniales, in: Andreau/Bruhns, Parenté, S. 253–266. Bourdieu, P., Sozialer Raum und ›Klassen‹ – Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt 1985. –, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt 1987. –, Réponses. Pour une anthropologie réflexive, Paris 1992. Broughton, T. R. S., The Magistrates of the Roman Republic, 2 Bde., Cleveland 1951/ 53 (Ndr. 1968). Bruhns, H. u. a. (Hg.), Die späte römische Republik – La fin de la République romaine. Un débat franco-allemand d’histoire et d’historiographie, Rom 1997. Brunt, P., The Roman Mob, in: Past and Present 35 (1966), S. 3–27. –, The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988.
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