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German Pages [456] Year 2014
kölner historische Abhandlungen Für das Historische Institut herausgegeben von Jost Dülffer, Norbert Finzsch, Karl-Joachim Hölkeskamp und Eberhard Isenmann Band 51
Revolution im Einzelhandel Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949–1973)
von
Lydia Langer
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEI MAR WIEN
Die Finanzierung der Drucklegung erfolgt aus dem Preisgeld des Ehrhardt-Imelmann-Preises der Universität zu Köln sowie mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, und der Metro-AG
Die Dissertation ist im Wintersemester 2009/10 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln unter dem Titel Vom „Tante-Emma-Laden“ zum „Supermarkt“. Transatlantischer Wissenstransfer und die Einführung der Selbstbedienung im bundesdeutschen Einzelhandel (1949–1973) angenommen worden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: 1949: Erster SB-Laden der Konsumgenossenschaft Produktion. Das Foto stammt aus der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Nachlass Priess (= 11.5).
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-21113-4
Inhalt Danksagung ............................................................................................................ IX I.
Einleitung .......................................................................................................... 1 1. Forschungsgegenstand .............................................................................. 1 2. Forschungsstand ........................................................................................ 4 3. Quellenlage ...............................................................................................15 4. Fragestellung und methodisches Vorgehen ........................................18 5. Aufbau der Studie ....................................................................................38
II. Der Einzelhandel als Mittler zwischen Produktion und Konsumtion ...........................................................................................43 1. Begriffsklärung Lebensmitteleinzelhandel ...........................................43 2. Die Selbstbedienung als rationalisierte Verkaufsform im Einzelhandel .......................................................................................52 3. Zur Geschichte des Einzelhandels .......................................................59 3.1 Die Zeit der Weimarer Republik ..................................................59 3.1.1 Die sozioökonomische Lage des Einzelhandels ..................59 3.1.2 Exkurs: Die Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre ...............................................................................62 3.1.3 Rationalisierung im Einzelhandel ...........................................68 3.2 Die Zeit des Nationalsozialismus .................................................76 3.3 Entwicklungstendenzen der 1950er und 1960er Jahre .............83 III. Modelltransfer als Wissenstransfer: die Verbreitung des self-service .......91 1. Die Pioniersituation in den USA...........................................................91 1.1 Die Frühphase von Massenproduktion, Massenkonsum und Massendistribution bis in die 1920er Jahre ....................................................................91 1.2 Die US-amerikanische Einzelhandelslandschaft von den 1920er bis in die 1960er Jahre .......................................93 1.3 Die Entwicklung der Verkaufssysteme .................................... 102 1.3.1 Die Innovation des self-service-Modells ................................... 102 1.3.2 Der supermarket: vom depression baby zur US-amerikanischen Institution ............................................... 107 1.3.3 Die Differenzierung der Vertriebsformen in den 1950er und 1960er Jahren..................................................................... 118
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Inhalt
2. Der Transfer des self-service von den USA in die Bundesrepublik ..................................................................................... 124 2.1 Transatlantischer Transfer und „Amerikanisierung“ ............. 124 2.2 Motive und Ziele des Transfers ................................................ 131 2.3 Amerikabilder als Spiegelbilder ................................................. 146 2.3.1 Der Einzelhandel in der US-amerikanischen Wettbewerbswirtschaft ............................................................ 146 2.3.2 US-amerikanische „Konsummentalitäten“ und ihre soziokulturellen Grundlagen ................................................... 152 2.3.3 Der „moderne Laden“ ............................................................. 159 2.3.4 Zusammenfassung: Das Leitmodell als Faszination und Irritation ..................................................................................... 162 2.4 Strategien der Wissensvermittlung und der Wissensaneignung ........................................................................ 164 3. Europäische Netzwerke zur Förderung innovativer Verkaufssysteme ................................................................................... 179 IV. Die Transformation der bundesdeutschen Verkaufslandschaft ......... 196 1. Der Übergang von der Bedienung zur Selbstbedienung ................ 196 1.1 Der Einzelhandel im Experimentierstadium 1949-1957 ....... 196 1.1.1 Hindernisse für die Umstellung der Läden: Die Ausgangsbedingungen der frühen 1950er Jahre .......... 196 1.1.2 Gesellschaftlich fundierte Vorurteile gegenüber der Selbstbedienung ........................................................................ 213 1.1.3 Die Innovation als Vertrauenskrise: Diebstähle in Selbstbedienungsläden ............................................................. 221 1.1.4 Der allmähliche Übergang zur Voll-Selbstbedienung ......... 227 1.2 Systemwende 1957.................................................................... 237 1.2.1 Der Durchbruch der Selbstbedienung .................................. 237 1.2.2 Die Popularisierung und Verwissenschaftlichung der Selbstbedienung ................................................................. 247 1.2.3 Das Institut für Selbstbedienung: Ein eigenes Institut für die neue Verkaufsform ...................................................... 253 2. Die Perfektionierung der Selbstbedienung .............................. 260 2.1. Die Wege des Supermarktes in den bundesdeutschen Einzelhandel ................................................................................. 260 2.1.1 „Großer Laden“ – Großraumladen – Supermarkt.............. 260 2.1.2 Die Standortfrage als Schlüssel zum Erfolg ......................... 266
Inhalt
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2.2 Der „Weston-Fall“: Die Deutsche Supermarkt GmbH des kanadisch-britischen Weston-Konzerns .................................. 273 2.3 Das „Schreckgespenst“ Supermarkt und die Angst vor Großunternehmen ....................................................................... 285 2.4 Die „Discount-Welle“ ................................................................. 294 2.5 Der Verbrauchermarkt und die Aufweichung der Branchengrenzen .................................................................. 305 3. Zusammenfassung: Die Diversifizierung der Vertriebsformen auf dem Weg zur bundesdeutschen Massenkonsumgesellschaft.. 309 V. Der Wandel von Wissensträgern und Wissensbeständen in der Konsumpraxis ............................................................................................. 314 1. Der Wandel von Arbeit ....................................................................... 314 2. Wissen über und zur Steuerung des Verbrauchers ......................... 326 2.1 Die Entdeckung des Verbrauchers ........................................... 326 2.2 Die praktische Anwendung von Wissen im Selbstbedienungsladen – Ladeneinrichtung und Kundenlauf ................................................................................... 333 3. Das Produkt verkauft sich selbst: neue Produkte – neue Präsentation ................................................................................. 342 3.1 Der Wandel des Sortiments im Lebensmitteleinzelhandel ... 342 3.2 Die Verpackung ........................................................................... 348 3.3 Die Werbung ................................................................................ 358 VI. Der Kunde und die neue Konsumpraxis ............................................... 364 1. Die Aneignung der Selbstbedienung als Emanzipation des Kunden ............................................................................................ 364 2. Der typische Selbstbedienungs-Kunde? ........................................... 374 VII.Schlussbetrachtung ..................................................................................... 382 Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................... 395 Anhang .................................................................................................................. 397 Quellen- und Literaturverzeichnis .................................................................... 415
Danksagung Dieses Buch basiert auf meiner Dissertation, die die Philosophische Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 2009/2010 angenommen hat. Für die Begleitung während der Promotion und bis zur Entstehung dieses Buches möchte ich mich ganz herzlich bei meinem Doktorvater Ralph Jessen bedanken. Er war immer offen für Fragen, hatte zahlreiche Anregungen und hat mich und uns als Familie wunderbar unterstützt. Frau Margit Szöllösi-Janze danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Jost Düllfer hat die Aufnahme des Buches in die Reihe „Kölner Historische Abhandlungen“ gefördert – vielen Dank. Bei der Universität zu Köln möchte ich mich darüber hinaus für die Auszeichnung der Arbeit mit dem ErhardtImelmann-Preis 2011 bedanken. Die Arbeit an der Dissertation zwischen 2006 und 2010 haben verschiedene Institutionen unterstützt. Mein Dank geht an das Deutsche Historische Institut in Washington, das die Recherche in US-amerikanischen Archiven und Bibliotheken gefördert hat. Die Tätigkeit im DFG-Projekt am Historischen Seminar der Universität zu Köln hat mir für zweieinhalb Jahre den notwendigen finanziellen Rückhalt gegeben. Für den Zuschuss zu den Druckkosten bedanke ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Metro AG. Das Buch könnte auch nicht in dieser Form erscheinen ohne die wertvolle Hilfe von Tobias Hasenberg beim Lektorat. Die der Studie zugrunde liegenden Materialien sind vielerorts verstreut. Deshalb habe ich zahlreiche Bibliotheken und Archive besucht. Stellvertretend für alle SekräterInnen, ArchivarInnen und BibliothekarInnen möchte ich mich beim Euro-Handelsinstitut, dem Spar-Archiv, dem Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V. und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg für die oft unbürokratische und zuvorkommende Unterstützung bedanken. Schließlich möchte ich mich in besonderer Weise bei meiner Familie und meinen Eltern bedanken. Ohne deren Geduld und Engagement hätte ich sicher nicht über acht Jahre die notwendige Ausdauer für dieses Buch aufbringen können. Gracias a mi querida familia: Stephan & Yelda & Mila.
I. Einleitung 1. Forschungsgegenstand Der Verkäufer1 im Einzelhandel stirbt aus. Stattdessen ist der Konsument im Laden allein, allein mit der Technik. Was nach einer vermeintlich fernen Vision klingt, erfordert eigentlich nur eine Fahrt nach Toenisvorst bei Krefeld. Im dortigen real,- Future Store können wir Konsumenten jetzt schon einkaufen wie in der Zukunft. So verspricht es jedenfalls die Werbebroschüre der Metro AG, einer der gegenwärtig größten Handelskonzerne in Deutschland.2 Hier erhält der Kunde zunächst eine Art Navigationsgerät in Taschenformat namens Mobile Shopping Assistant (MSA), der einen Einkauf vollständig ohne Verkaufspersonal möglich macht: Der MSA führt den Kunden mit Hilfe eines digitalen Einkaufszettels zielsicher durch die Regale zu den gewünschten Produkten. Unterwegs erhält der Kunde in der Spirituosen-Abteilung durch einen Verkostungsautomaten die Möglichkeit, verschiedene Sorten Wein zu testen, während er sich an der Theke der Feinkost- und Fischabteilung von sanften Meeresgeräuschen und -gerüchen verwöhnen lassen kann. Auch für anregende spielerische Unterhaltung ist gesorgt. In den Fußboden sind an verschiedenen Stellen des Geschäftes elektronische Platten eingelassen, bei deren Betreten der Kunde durch sein Körpergewicht in einem Computerspiel sein Reaktionsvermögen testen kann. Hat der Konsument schließlich die gewünschten Produkte im Einkaufswagen versammelt, führt ihn der MSA zur Kasse. Dort steht anstelle des Kassierers ein Automat bereit, der mit Hilfe von Barcodes die einzelnen Produkte scannt und die Rechnung erstellt. Der real,- Future Store bietet einen experimentellen Ausblick in die mögliche Zukunft des Verkaufens und Einkaufens im digitalen Informationszeitalter. Gleichzeitig werden hier in hochkonzentrierter Form jüngste technische Innovationen für zentrale wirtschaftliche Ziele eingesetzt: die Rationalisierung des Verkaufsvorganges zielt auf absolute Schnelligkeit und Effizienz beim Warenabsatz. Um diese Ansprüche zu erfüllen, setzt man nicht nur auf die neueste Technik, sondern v. a. auch auf die aktive Übernahme bestimmter Tätigkeiten durch den Kunden. Damit der Verbraucher sich 1
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In der vorliegenden Arbeit wird durchgängig die maskuline Form der Personenbezeichnung benutzt, die sich aber gleichermaßen auf beide Geschlechter bezieht. Aussagen, die sich spezifisch auf das männliche oder weibliche Geschlecht beziehen, werden an gegebener Stelle entsprechend kontextualisiert. Metro AG: A journey into the future of retail, Düsseldorf 2008.
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trotzdem weiter als König fühlt, wird ein erlebnishaftes Umfeld geschaffen, das in stimulierender Atmosphäre die verschiedenen Sinne anspricht. Gleichzeitig soll der Kunde selbständig und ganz individuell, im eigenen Tempo in einer selbstbestimmten Abfolge seinen Einkauf durchführen können. Wie die Handhabung des computergestützten MSA bereits erahnen lässt, benötigt jedoch nicht nur der Kunde neuartige Kompetenzen, damit der Einkauf im real-, Future Store zu einem wirklichen Erfolgserlebnis wird. Auch für den Betrieb des Geschäftes durch das Einzelhandelsunternehmen ist eine Vielzahl an neuem organisatorischem, technischem und wirtschaftlichem Wissen grundlegend. Ähnlich fremd und neuartig, wie der real-, Future Store uns heute erscheint, mag die Einführung der neuen Verkaufsform der Selbstbedienung im bundesdeutschen Einzelhandel der 1950er Jahre auf die damaligen Zeitgenossen gewirkt haben. Denn diese für uns so althergebrachte Form des Verkaufens und Einkaufens im Supermarkt, Discounter oder Kaufhaus basiert auf einem fundamentalen Umstrukturierungsprozess. Die Umstellung der Lebensmittelgeschäfte von dem viele Jahrhunderte alten Prinzip der Bedienung auf Selbstbedienung in der Mitte des 20. Jahrhunderts glich einer Revolution. Sie erforderte von allen Beteiligten eine fundamentale Umorientierung in ihren alltäglichen Handlungen sowie den damit verbundenen Kompetenzen und dem zugrundeliegenden Wissen. Verkäufer, Käufer, Hersteller und viele andere Akteure mussten sich der neuen Verkaufsform und den entsprechenden Verhaltensweisen anpassen und fungierten gleichzeitig als Träger des Wandels. Ebenso wie heute den rasanten technologischen Innovationen wurde auch der Selbstbedienung mit Skepsis und Unsicherheit begegnet, die in allmählichen Lernprozessen abgebaut wurden. Die vorliegende Studie thematisiert und hinterfragt diese Einstellungen, Verhaltensweisen und Anpassungsstrategien: die Einführung und die Weiterentwicklung der Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er und 1960er Jahre wird als ein umfassender und vielschichtiger Innovationsprozess des Einzelhandel erfasst. Im Zentrum der Untersuchung steht die Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels im Zeitraum zwischen 1949 und 1973. Ersten zaghaften Versuchen mit der Selbstbedienung in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild folgten in dieser Phase die flächendeckende Ausbreitung des Prinzips im Lebensmitteleinzelhandel und die gezielte Weiterentwicklung in den Vertriebsformen des Supermarktes, Discounters und der Verbrauchermärkte der 1960er Jahre. Der Prozess der Einführung, Konsolidierung und Ausdehnung der Selbstbedienung fand somit im Rahmen des westdeutschen
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Wirtschaftswunders der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte statt. Diese Periode der bundesdeutschen Geschichte war gleichzeitig von der umfassenden Etablierung der Massenkonsumgesellschaft geprägt. Der Einzelhandel erlebte unter diesen Rahmenbedingungen in den 1950er und 1960er Jahren eine Vielzahl organisatorischer und technischer Innovationen und prägte somit nachhaltig unsere heutige Handels- und Konsumlandschaft. In diesem Zusammenhang stellte die Einführung der Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel eine Schlüsselentwicklung dar: sie beendete die Ära der stark kontrollierten und begrenzten Ausgabe von Konsumgütern durch einen Verkäufer hinter der Theke an den Kunden und ebnete den Weg für den massenhaften Umschlag von Waren an den Endverbraucher. Auf der Grundlage des Verkaufsprinzips der Selbstbedienung konnten verschiedene Rationalisierungsmaßnahmen, die für den Massenabsatz von Waren notwendig waren, im Einzelhandel implementiert werden. Gleichzeitig ermöglichte das neuartige Arrangement von Waren, die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden auf einer emotional-psychischen Ebene anzusprechen und das Konsumentenverhalten zu stimulieren und zu lenken. Dabei richteten sich diese Strategien an die breite Masse der Konsumgesellschaft, die sich frei und individuell in der Warenvielfalt des Selbstbedienungsladens bewegen konnte. Auch für den heutigen real-, Future Store sind Rationalität und Emotionalität immer noch die zentralen Verkaufsprinzipien: Rationalisierung und Effizienzsteigerung im Verkauf sind mit einer lustbetonten Kaufatmosphäre und der persönlichen Selbstverwirklichung des einkaufenden Kunden verbunden. Obwohl der Einzelhandel also nicht zuletzt auf der Grundlage der Innovation der Selbstbedienung bis heute die zentrale Gelenkstelle bildet, die Massenangebot und Massennachfrage zusammenbringt, ist die Analyse seiner Entwicklung im 20. Jahrhundert in der historischen Forschung ein absolutes Desiderat. Die Studie versucht dieses geschichtswissenschaftliche Defizit aufzugreifen, indem sie die Einführung neuer Vertriebsformen auf der Grundlage der Selbstbedienung im westdeutschen Lebensmitteleinzelhandel der 1950er und 1960er Jahre als einen Innovationsprozess untersucht, in dessen Rahmen sich ein spezifisch westdeutsches System der Massendistribution etablierte. Für den Umgang mit den neuen Distributionsformen war sowohl auf Seiten des Einzelhandels als auch auf Seiten der Konsumenten die Aneignung von neuem Wissen und neuen Kompetenzen grundlegend. Wissen stellte einen integralen Bestandteil der ökonomischen und soziokulturellen Transformationsprozesse dar und wurde zu einem entscheidenden Faktor gesellschaftlichen Wandels. Ausgehend von dieser Annahme beschäftigt sich
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das vorliegende Buch mit den Prozessen des Erwerbs, der Anpassung und der Bewertung des Wissens über die neuen Vertriebsformen sowie ihren wirtschaftlichen, soziokulturellen und politischen Grundlagen. Dabei basierte die Umstrukturierung des Einzelhandels auf einer Vielzahl von verzweigten Transfer- und Transformationsprozessen. Die Einführung der neuen Verkaufsform war Teil komplexer Austauschbeziehungen zwischen den USA und anderen Ländern. In deren Verlauf entwickelten sich die Absatzprinzipien der Selbstbedienung und des Supermarktes, die sich in den Vereinigten Staaten bereits seit den 1920er Jahren flächendeckend ausgebreitet hatten, auch zum Leitmodell für die Umgestaltung der europäischen Welt des Einkaufens und Verkaufens. Im Zuge seiner Implementierung in einem neuen nationalen Kontext kam es zu weitreichenden wirtschaftlichen, sozialen und materiellen Veränderungen der westdeutschen Einzelhandels- und Konsumlandschaft. In diesem Zusammenhang war die Auseinandersetzung der westdeutschen Einzelhändler mit den Bedingungen und den Möglichkeiten der neuen Verkaufsform Teil eines umfassenderen Lernprozesses, bei dem es sowohl um die Anpassung an die neuen wirtschaftspolitischen als auch an die konsumgesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit ging. Dem Zusammenhang zwischen den Innovations- und Umstrukturierungsprozessen im bundesdeutschen Einzelhandel und der sich etablierenden Massenkonsumgesellschaft soll dabei unter den folgenden forschungsleitenden Fragen nachgegangen werden: Wie formierte sich der Einzelhandel im Übergang zur Massenkonsumgesellschaft neu? Welche Rolle spielte in diesem Prozess die Aneignung und Umsetzung von Wissen über innovative Vertriebsmethoden? Welche konkreten Wege schlugen die Akteure im Einzelhandel ein, um die wirtschaftlichen Anforderungen der Effizienz, die neuen politischen Rahmenbedingungen sowie die soziokulturellen Grundlagen der Konsumgesellschaft in ihre Art und Weise des Verkaufens zu integrieren? Welches Wissen und welche Kompetenzen hinsichtlich des Verkaufens an eine differenzierte Massenkonsumgesellschaft spielten dabei eine Rolle? 2. Forschungsstand Die Studie befasst sich mit dem fundamentalen Wandel des Einzelhandels in den 1950er und 1960er Jahren aus wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischer Sichtweise. In letzter Zeit ist häufig die mangelnde Anschlussfähigkeit
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zwischen wirtschafts- und kulturhistorischen Zugängen kritisiert worden.3 In das vorliegende Projekt sollen sowohl wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Ansätze als auch konsumhistorische Perspektiven einbezogen werden. Während die v. a. sozial- und kulturwissenschaftlich geprägte Geschichte der Konsumgesellschaft ein gut erforschtes Feld darstellt, hat die historische Forschung den tertiären Sektor und besonders den Einzelhandel lange vernachlässigt.4 Darin spiegelt sich auch die grundsätzlich unterschiedliche Bewertung der Relevanz der verschiedenen wirtschaftlichen Teilbereiche wider, bei der der industrielle Sektor lange Zeit dominierte.5 Wirtschaftshistorische Studien haben sich weit stärker mit der Produktionsseite befasst und weder die wechselseitige Beziehung zwischen Distribution und Produktion ausreichend beachtet, noch den Handel als eigenständiges Forschungsfeld erschlossen.6 Es mangelt nicht nur an genügend breit und detailliert vorgehenden empirischen Studien sowie der Auswertung relevanter Daten, sondern auch an geschichtswissenschaftlichen Überblickswerken zum Einzelhandel. In diesem Zusammenhang ist auf die durchaus schwierige Datenlage hinzuweisen, die sich durch einen hohen Grad an Unvollständigkeit, Uneinheitlichkeit und somit mangelnde Vergleichbarkeit auszeich
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Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Ebd. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 9-41, hier S. 9; Kleinschmidt, Christian: Neue Institutionenökonomik und Organisationslernen. Zur Kompatibilität ökonomischer und kulturalistischer Ansätze der Unternehmensgeschichtsschreibung, in: Ellerbrock, Karl-Peter; Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 256-271, hier S. 256; Trentmann, Frank: Beyond Consumerism. New Historical Perspectives on Consumption, in: Journal of Contemporary History 39, 2004, H. 3, S. 373-401, hier S. 387. Vgl. Alexander, Nicholas; Akehurst, Gary (Hg.): The emergence of modern retailing, 1750-1950, London 1999, S. 4; Ambrosius, Gerold, Petzina, Gerold, Plumpe, Werner (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, S. 231; Banken, Ralf: Schneller Strukturwandel trotz institutioneller Stabilität. Die Entwicklung des deutschen Einzelhandels 1949-2000, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2007, H. 2, S. 117-145, hier S. 117. Vgl. Leach, William: Land of Desire: Merchants, Power and the Rise of a New American Culture, New York 1993, S. 8. Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf den deutschen Forschungskontext. Alexander, Akehurst 1999, S. 13; Spiekermann, Uwe: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, S. 12; Spiekermann, Uwe: Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, in: Scripta Mercaturae, 31, 1997, H. 1, S. 69-129, hier S. 69.
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net. So führt z. B. Banken als eine der Ursachen für die Disparität des quantifizierenden Quellenmaterials zum Handel im 20. Jahrhundert an, dass das Statistische Bundesamt die Grundlagen für entsprechende Erhebungen mehrfach änderte.7 Neuere Arbeiten wie von Haupt, Pfister oder Spiekermann beschäftigen sich vorrangig mit den strukturellen Veränderungen des Kleinhandels im 19. und frühen 20. Jahrhundert; andere Studien gelten der Etablierung des Warenhauses seit dem späten 19. Jahrhundert.8 Der Frage nach der Wechselwirkung zwischen den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und der Entwicklung des Einzelhandels bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist v. a. im Zusammenhang mit der „Mittelstandsfrage“ bearbeitet worden.9 Für die Zeit nach 1945 liegen für den westdeutschen Einzelhandel nur ältere Gesamtdarstellungen vor.10 Zu vereinzelten Aspekten wie dem Ladenschluss, der Mittelstandsfrage oder der Rationalisierung sind in den letzten Jahren einige wenige Aufsätze erschienen, die allerdings kein zusammenhängendes Bild zeichnen.11 Einen ersten Versuch, die Entwicklung des Einzelhandels im 20. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum zu rekonstruieren, haben Haverkamp und Teuteberg mit ihrem ausstellungsbegleitenden Sammelband zum Handel
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Banken 2007, S. 118. Haupt, Heinz-Gerhard: Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003; Pfister, Ulrich: Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 87, 2000, H. 1, S. 38-66; Spiekermann 1999; Teuteberg, Hans Jürgen: Der Lebensmittelhandel im Wandel. Zur Wirtschafts-, Technik- und Sozialhistorie des Einzelhandels, in: Stickel, Antje (Hg.): 48,98 Tante Emma - Megastore. 50 Jahre Lebensmittelhandel in Deutschland, Ingelheim am Rhein 1998, S. 51-70. Zu den Warenhäusern vgl. als Überblick: Crossick, Geoffrey (Hg.): Cathedrals of consumption: The European department store, 1850-1939, Aldershot u. a. 1999; Frei, Helmut: Tempel der Kauflust. Eine Geschichte der Warenhauskultur, Leipzig 1997. Gellately, Robert: The politics of economic despair. Shopkeepers and German politics 1890-1914, London 1974; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848, München 1985; Von Saldern, Adelheid: Mittelstand im „Dritten Reich“. Handwerker, Einzelhändler, Bauern, Frankfurt a. M.2 1985. Vgl. das breiter angelegte Themenspektrum der Beiträge in: Haverkamp, Michael; Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000. Berekhoven, Ludwig: Geschichte des deutschen Einzelhandels, Frankfurt a. M.2 1987; Gartmayr, Eduard: Nicht für den Gewinn allein. Die Geschichte des deutschen Einzelhandels, Frankfurt a. M. 1964. Spiekermann, Uwe: Freier Konsum und soziale Verantwortung. Zur Geschichte des Ladenschlusses in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 49, 2004, H. 1, S. 26-44.
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gemacht.12 Die Aufsatzsammlung von Jessen und Langer versucht verschiedene Aspekte im europäischen Kontext in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren.13 Hinsichtlich der Akteure des Einzelhandels sind bis auf wenige Beispiele keine Forschungsanstrengungen zu erkennen und mit Ausnahme der Konsumgenossenschaften haben die verschiedenen Unternehmensformen des Einzelhandels bisher kaum Beachtung gefunden.14 Grundsätzlich ist in der Wirtschaftsgeschichte ein spürbar gewachsenes kulturhistorisches Interesse nicht nur an Unternehmen, sondern an Phänomenen des Marktes und des Konsums insgesamt zu verzeichnen.15 Ein Beispiel ist die intensive Beschäftigung mit dem Thema „Vertrauen“ als einer entscheidenden Dimension von wirtschaftlicher Kooperation und ökonomischem Handeln.16
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Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000. Jessen, Ralph; Langer, Lydia (Hg.): Transformations of Retailing in Europe after 1945, Farnham, Surrey u. a. 2012. Scholten, Jens: Umbruch des genossenschaftlichen Förderauftrages durch Innovation und Wachstum. Nachkriegsentwicklung und Einführung der Selbstbedienung bei der REWE-Dortmund, in: Hesse, Jan-Otmar (Hg.): Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der „moralischen Ökonomie“ nach 1945. Essen 2004, S. 167-200; Spiekermann, Uwe: Die Edeka. Entstehung und Wandel eines Handelsriesen, in: Lummel, Peter; Deak, Alexandra (Hg.): Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs. Berlin 2005, S. 93-102; Zu den Konsumgenossenschaften einführend z. B.: Bösche, Burchard; Korf, Jan-Frederik: Chronik der deutschen Konsumgenossenschaften. 150 Jahre Konsumgenossenschaften in Deutschland, 100 Jahre Zentralverband Deutscher Konsumgenossenschaften e. V., Hamburg 2003; Prinz, Michael: Das Ende der Bescheidenheit und der Untergang der deutschen Konsumvereine in den 1960er Jahren, in: Frese, Matthias (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 587-614. Zum Einfluss kultureller Faktoren auf wirtschaftliches Handeln finden sich verschiedene theoretische Ansätze, wie die (Neuere) Institutionenökonomik, der „Economic Culture“-Ansatz und das Konzept der „embeddedness“. Vgl. dazu als Überblick: Berghoff, Vogel 2004; Dorner, Klaus; Klump, Rainer: Wirtschaft und Kultur. Institutionenökonomische und wirtschaftssoziologische Aspekte, in: Klump, Rainer (Hg.): Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil, Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskultur-forschung, Marburg 1996, S. 39-68; Nolte, Paul: Der Markt und seine Kultur – ein neues Paradigma der amerikanischen Geschichte?, in: HZ, 264, 1997, S. 329-360. Berghoff, Hartmut: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable. Zur Theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Ellerbrock, Karl-Peter; Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 58-71 (nachfol-
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Weder die Einführung der Selbstbedienung noch die Verbreitung des Supermarktes, des Discounters oder des Verbrauchermarktes als neue Distributionsformen im Lebensmitteleinzelhandel der Bundesrepublik Deutschland sind bisher in einer eigenständigen Arbeit analysiert worden. Einige Aufsätze beschäftigen sich mit Teilaspekten der Entwicklung der Selbstbedienung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.17 Aufmerksamkeit wurde der Verkaufsform bisher am ehesten in der Konsumgeschichtsschreibung gewidmet, wo sie meist als Teilaspekt moderner Konsumpraktiken sowie der Umgestaltung der Warenwelt und der Werbung der 1950er und 60er Jahre angesprochen wird.18 Im Gegensatz dazu liegt der Fokus der vorliegenden Studie auf den Einzelhandelsunternehmen und deren Umgang mit den neuen Vertriebsformen. Trotzdem stellt die konsumhistorische Forschung einen wichtigen Bestandteil der Untersuchung dar. Zum einen liefert sie eine Reihe von methodischen und inhaltlichen Anhaltspunkten. Für die
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gend Berghoff 2004b); Fiedler, Martin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer. Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft, 27, 2001, H. 4, S. 576-592; Hillen, Christian (Hg.): „Mit Gott“. Zum Verhältnis von Vertrauen und Wirtschaftsgeschichte, Köln 2007. Ditt, Karl: Rationalisierung im Einzelhandel: Die Einführung und Entwicklung der Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland 1949-2000, in: Prinz, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 315-356; Schröter, Harm G.: „Revolution in trade“. The Americanization of distribution in Germany during the boom-years, 1949-1975, in: Kudo, Akira; Kipping, Matthias; Schröter, Harm G. (Hg.): German and Japanese Business in the Boom Years. Transforming American management and technology models. London, New York 2001, S. 246-367; Scholten 2004; Welskopp, Thomas: Startrampe für die Gesellschaft des Massenkonsums. Verbreitung und Entwicklung der Selbstbedienung in Europa nach 1945, Berlin 2003, unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. Andersen, Arne: Der Traum vom guten Leben, Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M. 1997; Brändli, Sibylle: Der Supermarkt im Kopf. Konsumkultur und Wohlstand in der Schweiz nach 1945, Wien 2000; Dardemann, Katrin: Zwischen Selbstversorgung und Selbstbedienung. Erinnerungen an den ,Beginn der Konsumgesellschaft’ im ländlichen Raum, in: Lummel, Peter; Deak, Alexandra (Hg.): Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs, Berlin 2005, S.6167; Gries, Rainer: „Serve Yourself!“ The History and Theory of Self-Service in West and East Germany, in: Swett, Pamela E.; Wiesen, Jonathan S.; Zeitlin, Jonathan R. (Hg.): Selling Modernity. Advertising in Twentieth-Century Germany, London 2007, S. 307328; Nast, Matthias: Die stummen Verkäufer. Lebensmittelverpackungen im Zeitalter der Konsumgesellschaft. Umwelthistorische Untersuchung über die Entwicklung der Warenpackung und den Wandel der Einkaufsgewohnheiten (1950er bis 1990er Jahre), Bern u. a. 1997; Wildt, Michael: Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a. M. 1996.
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hier relevanten Zeiträume ist die europäische und US-amerikanische Literatur zu diesem Themenbereich sehr umfangreich.19 Zum anderen sollen zentrale Kritikpunkte hinsichtlich der Historisierung der Massenkonsumgesellschaft aufgegriffen werden. In der konsumhistorischen Forschung zeichnen sich momentan vier miteinander verknüpfte zentrale Debatten ab. Erstens konzentriert man sich auf definitorische Schwierigkeiten mit Begriffen wie Konsum, Massenkonsum, Konsumerismus, Konsumgesellschaft und auf die Frage nach ihrer allgemeingültigen inhaltlichen Bestimmung. Damit hängt zweitens die Frage nach der historischen Periodisierung der Konsumgesellschaft zusammen, wobei kein Konsens darüber besteht, wann genau der Beginn einer Konsum- oder Massenkonsumgesellschaft anzusetzen ist.20 Entscheidend ist dabei die Festlegung von spezifischen Kriterien, die eine moderne Konsumgesellschaft bzw. die Massenkonsumgesellschaft ausmachen. Viele Forscher setzen den Beginn der Ausbreitung der Massenkonsumgesellschaft in Europa in den 1950er Jahren an.21 Andere dagegen betonen, dass die 1920er Jah 19
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Dazu z. B.: De Grazia, Victoria: Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge (MA) 2005; Leach 1993; Lears, Jackson T. J.: Fables of Abundance: A Cultural History of Advertising in America, New York 1994; McGovern, Charles: Sold American, Chapel Hill 2006; Strasser, Susan: Satisfaction guaranteed: the making of the American mass market, Washington D. C.2 2004. Einen Überblick über die Literatur geben: Prinz, Michael: Konsum und Konsumgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert: Neuere deutsche, englische und amerikanische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte, 41, 2001, S. 450-514; Sedlmaier, Alexander: Consumerism – cui buno?: Neuere Studien zu Theorie, Geschichte und Kultur des Konsums, in: Neue politische Literatur, 50, 2005, H. 2, S. 249-273; Strasser, Susan: Making Consumption Conspicuous: Transgressive Topics Go Mainstream, in: Technology and Culture, 43, 2002, H. 10, S. 755-770. Vgl. Berghoff, Hartmut: Konsumregulierung im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Forschungsansätze und Leitfragen, in: Ebd. (Hg.): Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 7-21, hier S. 11; Fine, Ben; Leopold Ellen: The World of Consumption, London 1993, S. 9; Haustein, Sabine: Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 1945-1970, Frankfurt a. M. 2007, S. 15; Humphery, Kim: Shelf life. Supermarkets and the changing cultures of consumption, Cambridge 1998, S. 7-9; Stearns, Peter Nathaniel: Consumerism in world history: the global transformation of desire, London 2001, S. IXf. Abelshauser, Werner: Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987, S. 56; Reckendrees, Alfred: Die bundesdeutsche Massenkonsumgesellschaft. Einführende Bemerkungen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2007, H. 2, S. 17-27 (nachfolgend Reckendrees 2007a), hier S. 18.
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re für die USA ebenso wie für eine Reihe europäischer Länder den Beginn der Massenkonsumgesellschaft darstellten.22 Eine zentrale Streitfrage ist, ob die Entwicklung der Konsumgesellschaften in den USA und Europa nur zeitlich verschoben stattfand oder ob es sich um verschiedene Prozesse handelte. Es geht also darum, inwiefern Vorstellungen vom Einkaufen und Verkaufen in allen Massenkonsumgesellschaften prinzipiell gleich waren und sind oder welche Faktoren spezifische nationale und regionale Unterschiede ausmachen bzw. Parallelen befördern.23 Einige Autoren haben festgehalten, dass es in diesem Zusammenhang problematisch sei, von der „westlichen Konsumgesellschaft“ und einem ihr inhärenten Modernisierungsparadigma auszugehen.24 Der dritte zentrale Aspekt der Forschungsdebatte zielt auf die Verbindung von Konsumkritik und konsumhistorischer Forschung sowie die Frage, ob diese Verknüpfung zulässig und sinnvoll sein kann. Besonders die US-amerikanische Forschung hat sich intensiv mit der Bewertung der Konsumgesellschaft sowie deren Vor- und Nachteilen beschäftigt.25 Viertens hat sich die Konsumgeschichte in letzter Zeit stark mit dem Vorwurf einer „kulturalistischen Verengung“ auseinandergesetzt.26 Tatsächlich lag der Schwerpunkt in den 1990er Jahren auf den Praktiken des Konsums und kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Dabei ist einerseits zu beobachten, dass kulturhistorische Ansätze die enge Verknüpfung des Konsums mit der Pro 22
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Confino, Alon; Koshar, Rudy: Regimes of Consumer Culture. New Narratives in Twentieth-Century German History, in: German History, 19, 2001, H. 2, S. 135-161, hier S. 146-150, 158-160; De Grazia, Victoria: Changing Consumption Regimes in Europe, 1930-1970. Comparative Perspectives on the Distribution Problem, in: Strasser, Susan; Mc Govern Charles; Judt, Matthias (Hg.): Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the Twentieth Century, Washington D. C. 1998, S. 59-83, hier S. 59; Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Ebd. u. a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt a. M.; New York 1997, S. 13-48, hier S. 28. Vgl. Kaelble, Hartmut: Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950-1990, in: Siegrist, Hannes u.a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 169-203; Oldenziel 2005, S. 116; Sywottek, Arnold: From starvation to excess? Trends in the consumer society from the 1940s to the 1970s, in: Schissler, Hanna (Hg.): The miracle years. A cultural history of West Germany, 1949-1968, Princeton 2001, S. 341-358, hier S. 343. Vgl. zu den Ursachen: Trentmann 2004, S. 374-376. Vgl. Benson, John: The rise of consumer society in Britain, 1880-1980, London 1994, S. 2; Daunton, Martin; Hilton, Matthew: Material Politics: An Introduction, in: Ebd. (Hg.): Material culture and citizenship in Europe and America. The politics of consumption, Oxford 2001, S. 1-20, hier S. 6f. Als Beispiele Cross, Gary: An all-consuming century. Why commercialism won in modern America, New York 2000; Leach 1993. Berghoff 1999, S. 12.
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duktion und der Distribution sowie deren Akteuren übersehen haben.27 Gleichzeitig werden so die wirtschaftlichen und materiellen Aspekte zum Teil nur begrenzt thematisiert, so dass die Seite der produzierenden und vermarktenden Unternehmen ausgeblendet wird.28 Andererseits ist die Vorstellung von Konsum als individueller Praktik eng mit der Identifizierung von Konsum mit Freiheit und Selbstverwirklichung verbunden.29 Zunehmend allerdings wird die Wechselwirkung zwischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen und Konsum thematisiert. Es hat sich ein sehr diversifiziertes Spektrum in der Konsumgeschichtsforschung entwickelt, das sich beispielsweise mit der Konsumpolitik, dem Verbraucherschutz, dem Zusammenhang zwischen Haushalt und Konsum sowie genderFragen beschäftigt und die verschiedenen Akteure verstärkt in den Fokus nimmt.30 Die vorliegende Studie verknüpft die verschiedenen wirtschafts-, sozialund kulturhistorischen Zugänge über die forschungsleitende Kategorie des „Wissens“. Damit kann sie an jüngste konzeptionelle Überlegungen anschließen, die dafür plädieren, der Genese, Verbreitung, Transformation und Aneignung von Wissensbeständen sowie den damit verbundenen Akteuren und Institutionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. „Wissen“ soll als analytische Dimension gesellschaftlichen und kulturellen Wandels ernster 27 28
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Benson 1994, S. 59; Confino, Koshar 2001, S. 155. Berghoff 1999, S. 12; Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob: Wissen, Wirtschaft und Technik: Die modernen Wissenschaften und die Konstruktion der „industriellen Gesellschaft“, in: Ebd. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 295-323. Berghoff 1999, S. 8; Daunton, Hilton 2001, S. 8; Haustein 2007, S. 11; Leach 1993, S. 386; Lears 1994, S. 3. Bsp.: Andrews, Margaret R.: All the world and her husband. Women in twentiethcentury consumer culture, London 2000; Benson 1994; Daunton, Hilton 2001; Fine u. a. 1993; De Grazia, Victoria (Hg.): The sex of things. Gender and consumption in historical perspective, Berkeley 1996; Gries, Rainer: Die Rationengesellschaft, Münster 1991; Haustein, Sabine: Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 1945-1970, Frankfurt a. M. 2007; Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2007/2: Die bundesdeutsche Massenkonsumgesellschaft 1950-2000, Berlin 2007; Lenz, Thomas: Konsumierende Frauen, produzierende Männer – zum Zusammenhang von Konsumverhältnissen und Geschlechterzuschreibungen, in: Reuter, Julia; Wolf, Katja (Hg.): Geschlechterleben im Wandel: zum Verhältnis von Arbeit, Familie und Privatsphäre. Ausgewählte Beiträge der 4. Fachtagung Frauen-/GenderForschung in Rheinland-Pfalz, Tübingen 2006, S. 85-97. Einen Überblick geben Sedlmaier 2005; Strasser 2002.
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genommen werden.31 Neben grundlegenden methodischen Überlegungen zu einer wissenshistorischen Perspektive liegen einige Arbeiten vor, die soziale, kulturelle und politische Einzelaspekte einer Geschichte des Wissens thematisieren, wie Wissenspopularisierung, Wissenschaftsgeschichte, Wissenstransfer sowie der Zusammenhang zwischen Wissen und Experten.32 Die historische Innovationsforschung hat sich bisher stark auf die Technik- und Wissenschaftsgeschichte konzentriert. Die Dimension der Anwendung und Organisation von Wissen im ökonomischen Kontext dagegen wird kaum thematisiert.33 Daneben geben die Diskurstheorie und die „Neue Institutionenökonomik“ auf je verschiedene Weise Impulse für die gedankliche Verknüpfung zwischen der Verfügung und Anwendung von Wissensbeständen und gesellschaftlichen Faktoren wie Macht, Mentalitäten, Erfahrungen und ökonomischen Zusammenhängen.34 Beide methodischen Ansätze haben in 31
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Szöllösi-Janze, Margit: Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft, 30, 2004, H. 2, S. 277-313 (nachfolgend Szöllösi-Janze 2004a); Vogel, Jakob: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft, 30, 2004, H. 4, S. 639-660. Vgl. auch Fried, Johannes; Kailer, Thomas: Einleitung: Wissenskultur(en) und gesellschaftlicher Wandel. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, in: Ebd. (Hg.): Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 7-19; Landwehr, Achim: Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ‚Wissen’ als Kategorie historischer Forschung, in: Ebd. (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte, Augsburg 2002, S. 61-89; Oexle, Otto Gerhard: Was kann die Geschichtswissenschaft vom Wissen wissen?, in: Landwehr, Achim (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte, Augsburg 2002, S. 31-60. Engstrom, Eric J.; Hess, Volker; Thoms, Ulrike (Hg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2005; Fried, Kailer 2003; Kretschmann, Carsten (Hg): Wissenspopularisierung, Berlin 2003. Vgl. Abele, Johannes; Barkleit, Gerhard; Hänseroth, Thomas (Hg.): Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln, Weimar, Wien 2001; Parsons, Mike C.; Rose, Mary B.: Communities of Knowledge. Entrepreneurship, Innovation and Networks in the British Outdoor Trade, 1960-90, in: Business History, 46, 2004, H. 4, S. 609-639, hier S. 609; Vogel 2004, S. 647ff. Zur Diskursanalyse: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse, in: Keller, Rainer; Hirseland, Andreas u.a. (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 113-143; Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. Zum Zusammenhang von Institutionenökonomik und Geschichtswissenschaft: Priddat, Birger: Historische Methode und moderne Ökonomie. Über das Methodische in der
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der Geschichtswissenschaft eine breite und gewinnbringende Anwendung auf sehr unterschiedliche Fallbeispiele gefunden. Da es ein zentrales Ziel des vorliegenden Buches ist, die Geschichte der Selbstbedienung im Kontext internationaler Transferprozesse zu studieren, ergeben sich enge Verbindungen zur historischen Transferforschung. Im Rahmen der einschlägigen Studien werden Transferprozesse analytisch in einzelne Abschnitte zergliedert, die sich mit dem gezielten Erwerb von Wissen, seiner Aneignung und seiner Integration in neue Argumentations- und Handlungszusammenhänge beschäftigen.35 Neben der Untersuchung der Prozesshaftigkeit dieser Vorgänge gilt die Aufmerksamkeit den Akteuren, Netzwerken und Ressourcen, die einen Transfer gestalten. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung von Reisen für den Austausch von Wissen in anderen wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen vielfach von der historischen Forschung aufgegriffen worden.36 Wenn es in der vorliegenden Untersuchung um transatlantische Transferbeziehungen zwischen den USA und den europäischen Ländern geht, bilden Fragen zur „Amerikanisierung“ bzw. „Westernisierung“ Europas
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Historischen Schule und das Historische in der neuen Institutionenökonomie, in: Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 99-116; Welskopp, Thomas: Unternehmenskulturen im internationalen Vergleich – oder integrale Unternehmensgeschichte in typisierender Absicht?, in: Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 265-294. Paulmann, Johannes: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer: Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ, 267, 1998, H. 3, S. 649-685, hier S. 680f. Vgl. auch: Geppert, Alexander C. T.: Vergleich und Transfer im Vergleich, in: Comparativ, 10, 2000, H. 1, S. 95-111; Kaelble, Hartmut; Schwierer Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-. Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M., New York 2003; Latzin, Ellen: Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen, Stuttgart 2005, S. 23. Brändli, Sibylle: „Wives in the Avocados, Babies in the Tomatoes”. Eine MigrosDelegation auf Reisen in den amerikanischen Supermärkten, in: Traverse, 3, 1996, H. 1, S. 104-117; Latzin 2005; Nolan, Mary: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York 1994; Welskopp, Thomas; Kleinschmidt, Christian: Amerika aus deutscher Perspektive. Reiseeindrücke deutscher Ingenieure über die Eisen- und Stahlindustrie der USA, 1900-1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 39, 1994, S. 73-103. Vgl. auch die einzelnen Beiträge in dem Band von: Unfried, Berthold; Mittag, Jürgen; van der Linden, Marcel: Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008.
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nach 1945 einen entscheidenden Bezugspunkt.37 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei „Amerikanisierung“ um ein in der Forschung nicht unumstrittenes Konzept handelt. Die Diskussion dreht sich zum einen um die Festlegung einer Definition und zum anderen um die Möglichkeiten, den quantitativen und qualitativen Einfluss von Amerikanisierung feststellen und bewerten zu können.38 Unter Anknüpfung an die neuere Forschung wird das Konzept der Amerikanisierung hier als analytische Kategorie begriffen, mit der sich inhaltliche Elemente, Wissenskanäle und Akteure des transatlantischen Verhältnisses anhand eines konkreten Fallbeispiels untersuchen lassen.39 Trotz einer stattlichen Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zu diesem Thema ist die „Amerikanisierung“ des westdeutschen Handels bisher kaum berücksichtigt worden.40 Bei der genaueren Fokussierung dieser Problematik soll es v. a. darum gehen, konkrete Transfer-, Selektions- und 37
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Exemplarisch: De Grazia, Victoria: Amerikanisierung und wechselnde Leitbilder der Konsum-Moderne (consumer-modernity) in Europa, in: Siegrist, Hannes u. a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997, S. 109-137; De Grazia 2005; Jarausch, Konrad; Siegrist, Hannes (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 19451970, Frankfurt a. M., New York 1997; Lüdtke, Alf; Marßolek, Inge; von Saldern, Adelheid (Hg.): Amerikanisierung: Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996. Zu verschiedenen Definitionsvarianten: De Grazia 1997, S. 111-113. Vgl. auch Hilger 2004, S. 18; Latzin 2005, S. 17; McGlade, Jacqueline: Americanization: Ideology or Process? The Case of the United States Technical Assistance and Poductivity Programme, in: Zeitlin, Jonathan; Herrigel, Gary (Hg.): Americanization and its limits. Reworking US technology and management in post-war Europe and Japan, Oxford 2000, S. 53-75, hier S. 53; Schröter 2001, S. 261; Zeitlin, Jonathan: Introduction: Americanization and Its Limits: Reworking US Technology and Management in Post-War Europe and Japan, in: Zeitlin, Jonathan; Herrigel, Gary (Hg.): Americanization and its limits. Reworking US technology and management in post-war Europe and Japan, Oxford 2000, S. 1-50, hier S. 6-20. Fehrenbach, Poiger 2000, S. XIV; Maase, Kaspar: „Amerikanisierung der Gesellschaft“. Nationalisierende Deutung von Globalisierungsprozessen?, in: Jarausch, Konrad; Siegrist, Hannes (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 219-241, hier S. 221. Vgl. von Seiten der interkulturellen Transferforschung: Muhs, Paulmann, Steinmetz 1998, S. 33. So wird in den einschlägigen Werken zur Amerikanisierung der westdeutschen Wirtschaft der Binnenhandel vollständig ausgeblendet. Vgl. Abelshauser, Werner: Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin 2003; Erker, Paul: „Amerikanisierung“ der westdeutschen Wirtschaft?. Stand und Perspektiven der Forschung, in: Jarausch, Konrad; Siegrist, Hannes. (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 137-145. Eine Ausnahme: Schröter 2001.
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Adaptionsvorgänge anhand verschiedener unternehmerischer und anderer Akteure nachzuzeichnen. Es gilt, die Art und Weise der Hybridisierung zwischen US-amerikanischen Modellen bzw. Vorbildern und westdeutschen Voraussetzungen und Spezifika zu analysieren.41 Für diese Fragestellungkann methodisch und inhaltlich auf eine Vielzahl europäischer Beiträge zur Amerikanisierung des Handels Bezug genommen werden.42
3. Quellenlage Die vorliegende Arbeit basiert insgesamt auf einem zeitlich versetzten Quellenkorpus. Während die Thematisierung der Entwicklung der Konsumgesellschaft und des Einzelhandels in den USA bereits in den 1920er Jahren ansetzt, ist der Hauptteil der deutschen Quellen in der Zeit nach 1945 angesiedelt. Die Grundzüge der US-amerikanischen Pioniersituation werden – neben der umfangreichen Sekundärliteratur – mit Hilfe von Fachzeitschriften und Publikationen von Verbänden und Einrichtungen aus dem Bereich der Handelsforschung sowie verschiedener Selbstbedienungs-, Verpackungs- und Werbeinstitute rekonstruiert. Eine wichtige Rolle spielen daneben zeitgenössische, eher populärwissenschaftliche Veröffentlichungen und gedruckte Kleinschriften von Fachleuten des US-amerikanischen Einzelhandels. Auf dieser Grundlage soll ein Einblick in die spezifischen Charakteristika der US-amerikanischen Konsumgesellschaft und die korrespondierende Entwicklung des Einzelhandels gegeben werden. Damit werden die Erfindung und die Verbreitung von Selbstbedienung und Supermarkt historisch und räumlich kontextualisiert. Für die Frage nach dem Erwerb des Wissens über die Vertriebsinnovationen im Rahmen des Transferprozesses zwischen den USA und anderen Ländern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die Erfahrungsbe
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Vgl. Hilger, Susanne: „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49-1975). Stuttgart 2004, S. 12; Kudo, Akira; Kipping, Matthias; Schröter, Harm G.: Americanization. Historical and conceptual issues, in: Ebd. (Hg.): German and Japanese Business in the Boom Years. Transforming American management and technology models, London, New York 2001, S. 1-29, hier S. 1, 4. Brändli 1996, De Grazia 2005; Scarpellini, Emanuela: Shopping American-Style: The Arrival of the Supermarket in Postwar Italy, in: Enterprise & Society, 5, 2004, H. 4, S. 625-668; Alexander, Andrew; Shaw, Gareth; Curth, Louise: Selling Self-Service and the Supermarket. The Americanisation of Food Retailing in Britain, 1945-60, in: Business History, 46, 2004, H. 4, S. 568-582.
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richte westdeutscher USA-Reisender einen wichtigen Bezugspunkt dar. Sie schilderten nicht nur die Funktionsweise von Selbstbedienung und Supermärkten, sondern die Berichte vermitteln auch ein sehr eindrucksvolles Bild der Einstellungen gegenüber der US-amerikanischen Gesellschaft und ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen. Damit liefern sie nicht nur Informationen über die damaligen Verhältnisse in den USA, sondern machen als Ausdruck der Wahrnehmung des Fremden ganz entscheidende Aussagen über die Befindlichkeit der Reisenden selbst und deren heimisches Umfeld. Darüber hinaus bilden die ungedruckten Quellen aus Archiven US-amerikanischer und bundesdeutscher Ministerien wichtige Grundlagen für die Analyse des transatlantischen Transfervorgangs. Die Modernisierung des Einzelhandels stellte einen Teil des Wiederaufbaus und der Umstrukturierung der europäischen Volkswirtschaften nach 1945 dar und war somit in die Wiederaufbau- und Hilfsprogramme der unmittelbaren Nachkriegszeit eingebettet. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Rolle staatlicher Akteure im Formierungsprozess des Einzelhandels als Massendistribution rekonstruieren. Die Analyse der Transformation der Einzelhandelslandschaft im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre basiert auf sehr vielfältigen gedruckten und ungedruckten Quellen. Mit Hilfe der ungedruckten Archivquellen vorrangig aus den regionalen Wirtschaftsarchiven kann die Kommunikation zwischen den Verbänden des Einzelhandels und den Mitgliedern sowie zwischen einzelnen Unternehmern und anderen Institutionen wie den Industrie- und Handelskammern, staatlichen Behörden oder fachlichen Einrichtungen nachvollzogen werden. Sie zeugen von einem starken Interesse und einem regen Informationsaustausch zu den Neuigkeiten im Verkaufswesen und belegen somit den Vorgang der Wissenspopularisierung. Gleichzeitig eröffnen sie ebenso wie die Materialien von staatlichen Stellen einen Blick auf die rechtlich-normative Dimension des Wandels. Dabei geht es um gesetzliche Regelungen, um ihre wirtschaftspolitische Diskussion und Modifizierung sowie um staatliche Handlungsoptionen und institutionelle Einflussmöglichkeiten. Darüber hinaus sind sie Ausdruck des sensiblen moralischen und rechtlichen Bewusstseins des Einzelhandels, der sehr empfindlich auf Veränderungen reagierte. In Bezug auf die einzelnen Unternehmen des Einzelhandels gestaltet sich die Quellenlage grundsätzlich schwieriger, da nur in begrenztem Maß Unterlagen über den Schriftverkehr, interne Mitteilungen und Rundschreiben vorliegen. Während viele industrielle Unternehmen an der Archivierung firmeninterner und kontextrelevanter Materialien interessiert waren und sind,
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scheint das sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Verbänden des Einzelhandels entweder kaum der Fall gewesen zu sein oder die Einsicht in vorhandene Quellen wird eher restriktiv gehandhabt. Obwohl entsprechend keine Vollständigkeit hinsichtlich der Materialgrundlage zu einzelnen Unternehmen angestrebt werden kann, gilt es diese Zugangsweise trotzdem so weit wie möglich zu nutzen. Denn die Dokumentation des Verhaltens in einem unternehmensinternen Zusammenhang gibt unmittelbare Einsichten in die Möglichkeiten und konkreten Maßnahmen der einzelnen Unternehmer. Gleichwohl geht mit der unregelmäßigen Überlieferung einher, dass sich diese Prozesse bei einigen Firmen besser nachvollziehen lassen als bei anderen, weshalb als Konsequenz deren Entwicklungen einen stellvertretenden Charakter erlangen und beispielhaft vorgestellt werden. Letztlich erschwert der Quellenbefund auch eine exakte regionale Differenzierung und Schwerpunktsetzung. Trotzdem sollen mögliche räumlich-geographische Tendenzen der Entwicklung in einem qualitativen Sinne berücksichtigt werden. Eine besonders wertvolle Arbeitsgrundlage sind – unter anderem auch aus den oben genannten Gründen – die periodischen Veröffentlichungen und Zeitschriften der Einzelhandelsunternehmen, der Einzelhandelsverbände und weiterer Institutionen wie dem Institut für Selbstbedienung (ISB) oder der Rationalisierungsgemeinschaft des deutschen Handels (RGH). Sie zeichnen ein dichtes Bild der schrittweisen Umstrukturierungs- und Anpassungsvorgänge, liefern aber auch mögliche Motive für die Abwehr der Modernisierungstendenzen. Weitere gedruckte Quellen sind zeitgenössische wissenschaftliche Schriften, überwiegend aus dem Bereich der Handelsforschung, der Betriebswirtschaft und der Soziologie. Daneben werden eher praktisch ausgerichtete Broschüren und Leitfäden zur konkreten Anwendung des neuen Verkaufssystems ausgewertet. Letztere geben nicht nur Aufschluss über jegliche Details der neuen Vertriebsformen von der Einrichtung über die Beleuchtung, die Gestaltung der Warenauslage bis zur Werbung, sondern spiegeln auch die Reflektion über einen spezifischen Fortschrittsglauben wider. Auf diese Weise lassen sich die Zusammenhänge zwischen Vorstellungen von Modernität, Massenkonsum und dem Selbstverständnis des Einzelhandels nachzeichnen. Über diejenigen Texte hinaus, die sich ganz konkret mit der Einführung der Selbstbedienung beschäftigen, liegen zahlreiche gedruckte Quellen zu benachbarten und verbundenen Aspekten des Konsums und Verkaufens vor, wie z. B. der Verpackung und der Werbung, die im breiteren Sinne an das Thema anschließen.
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In Bezug auf alle genannten Quellen sind der Studie abschließend noch einige grundlegende Bedenken voranzustellen. Grundsätzlich sprechen in den Quellen des Handels und der angrenzenden Branchen hauptsächlich männliche Führungskräfte in leitenden Positionen. Das impliziert, dass die Tausenden von Verkäufern und v. a. Verkäuferinnen, die im Einzelhandel tätig waren und den Wandel der Vertriebsformen im Einzelhandel zum großen Teil in der Praxis umgesetzt haben, nicht unmittelbar zu Wort kommen. Außerdem repräsentieren diese Aussagen eine stark gender-geprägte Beziehung zwischen dem „männlichen Einzelhändler“ und der „weiblichen Konsumentin“.43 Letztere ist in der Mehrheit der Quellen als Figur der „Hausfrau“ präsent und steht lange Zeit für den Konsumenten an sich. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine weitere methodische Einschränkung: auch wenn man in der Forschung der Meinung ist, dass sich keine Innovation im Einzelhandel ohne die aktive Teilnahme und die Annahme durch die Konsumenten durchsetzt, ist es sehr schwierig, eben diese Kundenperspektive nachzuvollziehen.44 In den Texten sprechen in der Regel die Einzelhändler und andere Experten über den Kunden, seine Wünsche und Abneigungen oder der Konsument kommt allenfalls vermittelt über Interviews und Meinungsumfragen zu Wort. Neben Statistiken und einigen Umfragen sind dagegen so gut wie keine umfassenderen Aussagen aus unmittelbarer Kundensicht vorhanden. 4. Fragestellung und methodisches Vorgehen Der Soziologe Ernest Zahn hielt 1960 fest, dass sich die Massenkonsumgesellschaft durch den Konsum von eigentlich Entbehrlichem auszeichne.45 Es ist also eine Gesellschaft, in der „die Mehrheit der Bevölkerung Güter und Dienstleistungen nicht mehr ausschließlich zur Befriedigung notwendiger Bedürfnisse nachfragt, sondern um das materiell gesicherte Leben annehmlicher zu machen“.46 Sie setzt die Möglichkeit der freien Wahl durch den
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Vgl. Usherwood, Barbara: “Mrs Housewife and Her Grocer”: the advent of self-service food shopping in Britain, in: Andrews, Margaret R. (Hg.): All the world and her husband. Women in twentieth-century consumer culture, London 2000, S. 113-130. Vgl. Strasser 2002, S. 764; Usherwood 2000, S. 117. Zahn, Ernest: Soziologie der Prosperität, Köln, Berlin 1960, S. 22. Reckendrees 2007a, S. 18. Auch: Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 15. In der konsumgeschichtlichen Forschung werden von verschiedenen Autoren über diese allgemeine Definition hinaus einzelne Kriterien zur Charakterisierung der Konsumgesell-
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Konsumenten bei einer gleichzeitigen Überschussproduktion voraus. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die entscheidende Mittlerfunktion des Einzelhandels zwischen der Produktionssphäre und der Konsumsphäre, durch die Angebot und Nachfrage in konkreten Situationen zusammengebracht werden, stellt sich die Frage, wodurch sich die Massendistribution genau auszeichnet. Mit der Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft in Europa ging in den 1950er Jahren eine Formierungsphase des Einzelhandels einher, in der er sich auf den Massenverkauf einzustellen begann. Die dafür grundlegende Innovation der Selbstbedienung stellte gegenüber dem traditionellen Geschäft mit Bedienung eine Bündelung von Rationalisierungsmaßnahmen dar. Diese wurden im Supermarkt, im Discounter und im Verbrauchermarkt als den neuen Vertriebsformen der 1960er Jahre stringent ausgebaut und mit anderen Prinzipien des Massenabsatzes kombiniert. Die Umstellung des Einzelhandels auf das Prinzip der Selbstbedienung und seine Weiterentwicklung in den anderen Vertriebsformen war ein vielschichtiger Innovationsprozess, der nicht nur die Einzelhandelslandschaft veränderte, sondern auch weitreichende Folgen auf der Konsumenten- und der Herstellerebene nach sich zog. Er umfasste die Gestaltung der Verkaufsräume, die Warenpräsentation, die Funktionen des Verkaufspersonals, die Kommunikation zwischen Händler und Kunden und ihre jeweiligen sozialen Rollen, die Unternehmensstrukturen, die Produktwerbung und viele andere Aspekte. Aufgrund der engen Wechselwirkung zwischen Handel, Produktion und Konsumtion ist der Einzelhandel durch eine Vielzahl vertikaler und horizontaler Wirkungsfaktoren geprägt. Dabei soll unter Anknüpfung an die konsumhistorische Forschung zwischen folgenden, eng miteinander in Beziehung stehenden Akteursebenen differenziert werden: Staat, Markt und Zivilgesellschaft.47 Die Interessen von Staat, Industrie und Handel sowie der
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schaft bzw. der Massenkonsumgesellschaft festgelegt, auf die an dieser Stelle nicht detailliert eingegangen werden soll. Da sich die Kriterien je nach Forschungsansatz unterscheiden oder sich bestimmte Aspekte überlappen, müsste eine genauere Kategorisierung und deren Begründung vorgenommen werden, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Allerdings sollen an gegebener Stelle durchaus Aspekte dieser Charakterisierung in Zusammenhang mit der Entwicklung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft und des Einzelhandels aufgegriffen werden. Vgl. zu den verschiedenen Kriterien: Confino, Koshar 2001, S. 139; Haustein 2007, S. 10; Kaelble 1997, S. 172-175; Siegrist 1997, S. 18. Cohen, Lizabeth: A consumers’ republic. The politics of mass consumption in postwar America, New York 2004; Daunton, Hilton 2001; Oldenziel, Ruth u. a.: Europe’s Mediation Junction: Technology and Consumer Society in the 20th Century, in: History and
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Konsumenten äußerten sich in politischen Entscheidungen, wirtschaftlichen Entwicklungen, sozialen Konstellationen und kulturellen Vorstellungen. Für die vorliegende Studie stellt sich zum einen die Frage, welche Grundlagen die externen wirtschaftlichen Wirkungsfaktoren des Kreislaufs zwischen Massenkonsum und Massenproduktion sowie die neue wirtschaftspolitische Ordnung der freien Marktwirtschaft für den Innovationsprozesse im Einzelhandel legten. Mit den veränderten Rahmenbedingungen waren gleichzeitig von Seiten verschiedener wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Akteure eine Vielzahl von Erwartungen an den Einzelhandel hinsichtlich seiner neuen „Verteilerrolle“ verbunden. Zum anderen ist zu analysieren, in welcher Beziehung die neue Verkaufsform zu den ökonomischen Eigeninteressen der einzelnen Unternehmer im Rahmen des wettbewerblichen und organisatorischen Gesamtgefüges im Einzelhandel stand. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwiefern sich die unterschiedlichen Vorstellungen des sehr heterogen zusammengesetzten Einzelhandels über eine Kultur des Verkaufens und Einkaufens sowie über den eigenen soziokulturellen Standpunkt in der sich etablierenden Massenkonsumgesellschaft auf den Umgang mit den Vertriebsinnovationen auswirkte. Insgesamt macht die skizzierte Vielfalt der Faktoren auf methodischer Ebene also noch einmal den möglichen Mehrwert einer Verknüpfung sozial-, wirtschafts- und kulturhistorischer Perspektiven auf den Einzelhandel als Untersuchungsgegenstand deutlich. Der Fokus dieser Problemstellungen liegt auf der Entwicklung des bundesdeutschen Lebensmitteleinzelhandels, als dem Ort, an dem die fundamentale Umgestaltung des Verkaufswesens initiiert wurde. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung bewegt sich zwischen 1949 – dem Eröffnungsjahr des ersten Selbstbedienungsladens in der Bundesrepublik Deutschland – und 1973 als dem Ende des „Nachkriegsbooms“. Zu diesem Zeitpunkt war die „Einführung des Verkaufsprinzips der Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel der BRD im Wesentlichen abgeschlossen“ und der Anteil der Selbstbedienungsgeschäfte am Gesamtumsatz des Lebensmitteleinzelhandels betrug circa 90 Prozent.48 Darüber hinaus waren die auf der Selbstbedienung basierenden Vertriebsformen wie Supermärkte, Discounter und
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Technology, 21, 2005, H. 1, S. 107-139, hier S. 111. Vgl. auch: Bevir, Mark; Trentmann, Frank: Markets in historical contexts: Ideas, practices and governance, in: Ebd. (Hg.): Markets in Historical Contexts. Ideas and Politics in the Modern World, Cambridge 2004, S. 1-24, hier S. 7. Batzer, Erich; Geml, Richard; Greipl, Erich: Die Nahrungsmitteldistribution in Westeuropa, Berlin 1971, S. 45.
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Verbrauchermärkte Anfang der 1970er Jahre voll etabliert und haben bis heute keine substantiellen Veränderungen erfahren. Das Jahr 1949 wird hier allerdings nicht als Stunde Null für die Entwicklung der Massendistribution gesehen, sondern es bestehen entscheidende Rückkoppelungen an die 1920er Jahre in Europa und in den USA. Es stellt sich die Frage, in welchen konkreten Prozessen die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entwickelten Vertriebsmodelle des selfservice und des supermarket in neue zeitliche und räumliche Kontexte integriert wurden. Inwiefern spiegelte sich das von de Grazia formulierte Paradox einer Amerikanisierung bei gleichzeitiger Erstarkung nationaler Kulturen im Findungsprozess der Einzelhändler in ihrer Rolle als Verkäufer an die Massenkonsumgesellschaft wider?49 In welche hybriden oder auch eigenständigen Formen wurden die von den europäischen Zeitgenossen als „neuartig“50, „revolutionär“51, „phantastisch anmutend“52 wahrgenommenen Selbstbedienungsgeschäfte innerhalb der spezifisch westdeutschen Rahmenbedingungen der „Boomjahre“ gegossen? Wer waren die treibenden Kräfte der Modernisierung und der Orientierung an US-amerikanischen Vorbildern? Welche praktischen Hindernisse, Ursachen und Motive für die Ablehnung standen den neuartigen Vertriebsformen entgegen? Trotz entscheidender Rückbindungen an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bildet das Jahr 1949 insofern den zentralen Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, als dass das US-amerikanische Modell der Massendistribution nun als konkretes Leitbild für den Wandel des Einzelhandels seine Wirksamkeit entfaltete. Das Einkaufen und Verkaufen in Selbstbedienung wurde als Innovation im folgenden Sinne aufgefasst: „Als Innovationen werden materielle oder symbolische Artefakte bezeichnet, welche Beobachterinnen und Beobachter als neuartig wahrnehmen und als Verbesserung gegenüber dem Bestehenden erleben.“53
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De Grazia 1997, S. 123. Grieger, Rudolf: Der Einzelhandel im Konkurrenzkampf. Eindrücke einer Studiengruppe deutscher Genossenschafter über Ein- und Verkaufsmethoden im amerikanischen Handel, München 1955, S. 44. Lickey, Werner: Strukturwandel der Absatzwirtschaft in den USA. Eindrücke von einer Studienreise, in: Wirtschaftsdienst: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 7, 1957, S. 379-392, hier S. 379. Baecker 1952, S. 10. Braun-Thürmann, Holger: Innovation, Bielefeld 2005, S. 6.
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Die neuen Anforderungen, die von Seiten der Industrie und der Konsumenten an den Einzelhandel herangetragen wurden, bedurften einer umfassenden Rationalisierung. Die Selbstbedienung stellte in diesem Zusammenhang gegenüber dem traditionellen Bedienungsgeschäft sowohl eine Neuerung als auch eine Verbesserung dar, die das Einkaufen, Verkaufen aber auch die dabei vermittelten Waren entscheidend veränderte. Für die Gestaltung des Innovationsprozesses und für die daran beteiligten Akteure waren die Verfügbarkeit von neuem Wissen und die Aneignung von neuen Kompetenzen grundlegend. Der Zugang zum Forschungsgegenstand über die Kategorie „Wissen“ stellt deshalb eine wichtige Querdimension dar, die die unterschiedlichen Perspektiven des als Innovation verstandenen Wandlungsprozess im Einzelhandel zusammenzufassen vermag.54 Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass sich die in der vorliegenden Studie untersuchte Umgestaltung des Einzelhandels nicht in dieser Dimension erschöpft. Sie stellt eine zentrale Zugriffsweise dar, die allerdings offen bleibt für andere sozioökonomische, politische und kulturelle Erklärungsansätze. Die dialektische Beziehung zwischen Wissen als einem Medium gesellschaftlichen Umschwungs und gesellschaftlicher Veränderungen, die wiederum einen Wissenswandel bewirken, stellt für die geschichtswissenschaftliche Forschung, die sich in unterschiedlichen Epochen und in Bezug auf unterschiedliche Sachbereiche mit der Kategorie Wissen befasst, den zentralen Ausgangspunkt dar.55 Das Problem der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses hat in der geisteswissenschaftlichen Forschung eine lange Tradition. Ebenso besitzt Wissen in der Selbstbeschreibung unserer gegenwärtigen Gesellschaft und zukünftiger Entwicklungstrends einen hohen Stellenwert: von der postindustriellen, zur Risiko-, Informations- und Wissensgesellschaft. Letztere ist in den vergangenen Jahren vermehrt auch von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen worden und hat sogar Eingang in die Einführungsliteratur zur neueren Geschichte gefunden.56 Ziel der hier ange
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Vgl. Alexander, Andrew; Shaw, Gareth; Curth, Louise: Promoting Retail Innovation. Knowledge Flows during the Emergence of Self-Service and Supermarket Retailing in Britain, in: Environment and Planning A, 37, 2005, H. 5, S. 805-821, hier S. 805; Thiel, Michael: Wissensstransfer in komplexen Organisationen. Effizienz durch Wiederverwendung von Wissen und Best Practices, Wiesbaden 2002, S. 15. Fried, Kailer 2003, S. 11; Fried, Johannes; Süßmann, Johannes: Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne, München 2001, S. 10; Kretschmann, Carsten: Einleitung: Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in: Ebd. (Hg.): Wissenspopularisierung, Berlin 2003, S. 7-21, hier S. 14; Landwehr 2002, S. 63. Metzler, Gabriele: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 2004, S. 189-202; Szöllösi-Janze 2004 a, b; Vogel 2004.
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wendeten wissensgeschichtlichen Methode soll nicht sein, die oben genannten Gesellschaftsformationen näher zu bestimmen. Die Historisierung des Wissensbegriffs richtet sich im vorliegenden Fall auf die Entwicklung eines Zugriffs, der einen konkreten historischen Gegenstand in seiner zeitlichen Entwicklung auf die Frage nach den Wechselwirkungen von Wissen und Gesellschaft, Wissenswandel und gesellschaftlichem Wandel untersucht. Die Relevanz der Kategorie Wissen für die Geschichtswissenschaft in diesem Sinne hat Landwehr folgendermaßen festgehalten: „Und eben dieses Problem, wie Gesellschaften ihre Wirklichkeit mit Bedeutungen belegen und symbolisch aufladen, diese Wirklichkeit in Form von Wissensbeständen hervorbringen, ist eine der zentralen Fragestellungen der Geschichte des Wissens.“57
Der Mehrwert der wissenshistorischen Perspektive liegt seiner Meinung nach in dem kritischen Potential, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als wirklich, wahr und selbstverständlich Gewusste zu thematisieren.58 Daran anschließend ergeben sich für die Studie folgende Überlegungen: Erstens hat die wissenshistorischen Perspektive Auswirkungen auf die geschichtswissenschaftliche Herangehensweise, da sie die Annahme von Fakten und scheinbar objektiv verlaufenden Handlungen zugunsten einer stärker konstruktivistischen Sichtweise relativiert, die bewusst den historischen Deutungsrahmen und Horizont hinterfragt.59 So ermöglicht sie eine Distanzierung vom linearen Narrativ der unaufhaltsamen Massenkonsumgesellschaft und Amerikanisierung sowie der Modernisierung des Einzelhandels als Selbstläufer aufgrund der ökonomischen Zwänge, die von der Massenproduktion ausgingen.60 Damit rücken die Akteure und ihr Selbstverständ 57 58 59
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Landwehr 2002, S. 70. Ebd., S. 73. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Konstruktivismus und Geschichtswissenschaft: Golinski, Jan: Making natural knowledge. Constructivism and the history of science, Chicago 2005. Vgl. zur theoretischen Auseinandersetzung auch: Oexle 2002, S. 50f. Vgl. zur Kritik an diesem historischen Narrativ: Benson, John; Ugolini, Laura: Introduction, in: Ebd. (Hg.): Cultures of selling. Perspectives on consumption and society since 1700, Burlington 2006, S. 1-26, hier S. 1; Briesen, Detlef: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 251; Confino, Koshar 2001, S. 154; Fehrenbach, Heide; Poiger, Uta: Introduction. Americanization Reconsidered, in: Ebd. (Hg.): Transactions, transgressions, transformations. American culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. XI– XL, hier S. XIXf.; Humphery 1998, S. 16; Siegrist 1997, S. 29; Torp, Claudius: Konsum als politisches Problem. Konsumpolitische Ordnungsentwürfe in der Weimarer Republik, in: Lamla, Jörn (Hg.): Politisierter Konsum - konsumierte Politik, Wiesbaden 2006,
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nis, aber auch ihre Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen ins Zentrum des Interesses. Zweitens stellt die wissenshistorische Herangehensweise ein selektierendes und strukturierendes Moment dar. Sie spinnt durch das umfassende Thema des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels innerhalb des bundesdeutschen Einzelhandels im Zusammenhang mit der Entstehung neuer Geschäftstypen einen roten Faden und erlaubt es, gezielt konkreten Fragestellungen nachzugehen. Eng verbunden sind damit drittens die Möglichkeiten einer präzisen Analyse des Transfers von Innovationen, der über eine Vielzahl von Vermittlungsstufen stattfand sowie der Entwicklung der Vertriebsmodelle, die im Laufe eines kreativen Adaptions- und Lernvorgangs in den bundesdeutschen Einzelhandel integriert wurden.61 Diese erste Ausdifferenzierung der wissenshistorischen Zugangsweise weist gleichzeitig über sie selbst hinaus – den angesprochenen Themenbereichen wie z. B. Konsumgesellschaft, Massenkonsum, Marktwirtschaft, Einzelhandelsunternehmen, Vertriebsmodelle könnte eine ausschließliche, stringente Anwendung des wissenshistorischen Deutungsmuster nicht ausreichend gerecht werden. Deshalb wird die Perspektive der Wissensgeschichte auch nicht als alleiniges Erklärungsmoment verstanden, sondern weist ebenso wie andere theoretisch-methodische Zugriffe bestimmte Grenzen hinsichtlich ihrer Deutungsfähigkeit auf. In diesem Sinne versucht die vorliegende Studie kritisch reflektiert und transparent mit dem Wissensansatz umzugehen, indem er für bestimmte Aspekte der Argumentation wichtiger und für andere weniger wichtig oder geeignet sein wird. Während er z. B. für die transatlantischen Transferprozesse, in denen der Erwerb und die Vermittlung von Wissen über Selbstbedienung und Supermärkte im Zentrum stand, ein sehr differenziertes Analyseraster zur Verfügung stellen kann,
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S. 41-65, hier S. 42; Wünderich, Volker: Zum globalen Kontext von Konsumgesellschaft und Konsumgeschichte, in: Siegrist, Hannes u. a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt a. M.; New York 1997, S. 793-810, hier S. 794. Vgl. Alexander; Shaw; Curth 2005, S. 806; Antos, Gerd: Transferwissenschaft. Chancen und Barrieren des Zugangs zu Wissen in Zeiten der Informationsflut und der Wissensexplosion, in: Wichter, Sigurd; Antos, Gerd (Hg.): Wissenstransfer zwischen Experten und Laien. Umriss einer Transferwissenschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 3-33, hier S. 26; Muhs, Rudolf; Paulmann, Johannes; Steinmetz, Willibald: Brücken über den Kanal. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, in: Ebd. (Hg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Bodenheim 1998, S. 7-20. Osterhammel, Jürgen: Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis, in: Kaelble, Hartmut; Schwierer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 439-466., hier S. 441.
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wird er für die ebenso bedeutende Wirtschaftspolitik der Bundesregierung gegenüber dem Einzelhandel sicher weniger relevant für die Ausführungen sein. Der wissenshistorische Zugriff des Buches stellt eine Synopse aus verschiedenen theoretischen Ansätzen dar. Zum einen greift die Analyse auf die bestehenden geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zu Themen der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, der Wissenspopularisierung und der Wissenspolitik zurück. Zum anderen geben zentrale Autoren der Wissenssoziologie und des wirtschaftswissenschaftlichen Wissensmanagement methodische Anregungen. Das geschieht durchaus in dem Bewusstsein, dass eine derartige Zusammenstellung selektiv ist, da sie die Komplexität und Geschlossenheit anderer Disziplinen aufbricht.62 Allerdings bestehen sowohl in der Wissenssoziologie als auch in den Wirtschaftswissenschaften eine Reihe einschlägiger Studien, die sich bei der Verwendung durch andere geistes- und geschichtswissenschaftliche Projekte als analytisch wertvoll erwiesen haben. Aufgrund der Vielfalt der fachlichen und methodischen Zugänge zu „Wissen“ ist es nicht möglich, eine einheitliche und vollständige Begriffsdefinition vorzunehmen.63 Die verschiedenen Definitionsansätze lassen sich nicht als grundsätzlich richtig oder falsch einstufen, sondern eher als geeignet oder ungeeignet für bestimmte Problemstellungen. Ausgehend von dem dialektischen Verhältnis zwischen Wissen und Gesellschaft, soll Wissen hier deshalb als „sozialfunktional“ bestimmt werden, „das heißt hinsichtlich seines Aufbaus, seiner Struktur und seines Verwendungszusammenhangs für eine bestimmte Gesellschaft.“64 Geht man in diesem Sinne von einer Vielzahl von Wissensformen aus, stellt sich erstens die Frage nach den sozialen Akteuren, an die Wissen immer gebunden ist, nach ihren Handlungsbedingungen sowie den Verfügungs- und Zugangsbedingungen von Wissen. Zweitens ist die Funktion von Wissen in diversen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten zu analysieren: inwiefern erweist sich Wissen als eine Ressource für Legitimations-, Integrations-, Identifikationsstrategien? Drittens ist nach der Organisation bzw. Struktur von Wissensbe 62
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Gerade die Kategorie Wissen nimmt, neben den oben genannten Modellen, in einer Reihe von Theoriegebäuden wie z. B. der Netzwerktheorie, der Organisationssoziologie, der Systemtheorie und anderen gesamtgesellschaftlichen Konzeptionen einen zentralen Stellenwert ein. Diese Ansätze sind durchaus wahrgenommen worden, sollen aber hier nicht explizit thematisiert und angewendet werden. Thiel 2002, S. 9f. Landwehr 2002, S. 66. Auch: Fried, Kailer 2003, S. 11.
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ständen und den damit verknüpften Werten und Bedeutungen zu fragen. Nachfolgend sollen die grundsätzlichen theoretischen Überlegungen in Form von sechs Problembereichen hinsichtlich der übergreifenden Fragestellung präzisiert werden. 1. Welche Wissensbestände waren für die neue Verkaufsform relevant? Die Umstellung des Einzelhandels auf die Selbstbedienung hatte die Umstrukturierung und zum Teil auch Ablösung der mit dem Bedienungsprinzip verknüpften Wissensbestände zur Folge. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Wissensarten nebeneinander bestand, miteinander in Konkurrenz trat und ineinander verschachtelt war.65 Die Möglichkeiten der Kategorisierung von Wissensarten in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Literatur sind sehr vielfältig und variieren je nach Definition von Wissen und thematischer Schwerpunktsetzung. Die vorliegende Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschränkt sich auf einige ausgewählte, für die historische Analyse sinnvolle Wissensarten. Diese spielten zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit verschiedener Dauer und Intensität eine Rolle im Verlauf des Innovationsprozesses. In der Praxis zeichneten sich somit nicht immer scharf voneinander zu trennende Entwicklungslinien diverser Wissensarten ab. Darüber hinaus standen die Wissensarten immer in Verbindung mit sehr unterschiedlichen sozialen Akteuren und deren Argumentation im Kontext spezifischer Wissensfelder, die den Einzelhandel berührten, wie Wirtschaft, Politik, Recht, Konsum, Kultur und Gesellschaft. Polanyis Feststellung, dass „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“66 verweist auf die Möglichkeit einer Differenzierung zwischen implizitem (tazitem) und explizitem (kodifiziertem) Wissen. Beide Wissensformen sind allerdings eng miteinander verschränkt. Implizites Wissen ist schwer zu formalisieren und weiterzugeben. Es basiert auf subjektiven Einsichten und Erfahrungen und ist eng verbunden mit den Werten und Emotionen eines Individuums.67 Oft ist es dem Wissensträger nicht unmittelbar bewusst. Implizites Wissen ist deshalb auch nicht leicht nachzuverfolgen. Explizites Wissen ist in Medien gespeichert, kann einfacher übertragen und aufge
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Vgl. Szöllösi-Janze 2004a, S. 280; Thiel 2002, S. 20ff. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985, S. 14. Vgl. auch Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 808; Senker, Jacqueline: Tacit Knowledge and Models of Innovation, in: Industrial and Corporate Change, 4, 1995, S. 425-447. Sollberger, Bettina Anne: Wissenskultur als Erfolgsfaktor für ein ganzheitliches Wissensmanagement - Empirische Untersuchungen und Ergebnisse, Bern 2005, S. 33f.
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nommen werden. Im alltäglichen Vorgang des Kaufens und Verkaufens mit seinen habitualisierten Handlungsabläufen spielt das implizite Wissen des Verkäufers und des Kunden eine entscheidende Rolle. Davon ausgehend stellt sich die Frage, in welchem Wechselspiel implizites und explizites Wissen mit der Einführung neuer Vertriebsformen und der Umstrukturierung der bestehenden Wissensbestände standen. Die nähere Erläuterung von implizitem Wissen verweist darüber hinaus auf die enge Verknüpfung von Handlungs- und Wertungswissen.68 Da die Praxis des Verkaufens und Kaufens sowie Vorstellungen über Konsum zum großen Teil auf den subjektiven Erfahrungen und persönlichen Einstellungen der sozialen Akteure beruhen, ist zu untersuchen, welchen Einfluss diese Erfahrungswerte auf den Wandel im Einzelhandel ausübten. Darüber hinaus vermischten sich wertende und emotional gefärbte Einstellungen mit scheinbar oder tatsächlich rein „sachlichem“ Wissen. Welche spezifische Gemengelage ergab sich aus irrationalen und rationalen Aspekten des Denken und Handelns?69 Weiterhin ist davon auszugehen, dass sowohl theoretisches, d. h. „wissen dass“ als auch praktisches, d. h. „wissen wie“ Wissen eine entscheidende Rolle bei der Einführung der neuen Vertriebsform im Einzelhandel spielten.70 Das bereits vorhandene Wissen um das Verkaufen mit Bedienung, die Gestaltung des Ladens und den alltäglichen Wettbewerb hatte die Mehrzahl der Einzelhändler in der Praxis erworben und entsprechend weiterentwickelt. Laut Berger und Luckmann schafft und steuert dieses so genannte „Rezeptwissen“ als Teil des praktischen Wissensbestandes Rollen, kontrolliert Verhalten und macht es vorhersehbar.71 Das praktische Wissen rund um das Einkaufen und Verkaufen stellte somit die entscheidende Grundlage für die soziale Beziehung zwischen dem Verkäufer und dem Kunden dar. Es 68 69
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Oexle 2002, S. 48. Diese Mischung wird u. a. von der Neuen Institutionenökonomik häufig als Kritikpunkt an die ökonomische Theorie herangetragen, die versucht, von einer klaren Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität auszugehen. Vgl. Beckert, Jens: Grenzen des Marktes. Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz, Frankfurt a. M. 1997, S. 27f.; Berghoff, Hartmut: Die Zähmung des entfesselten Prometheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess, in: Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 143-168, hier S. 145 (nachfolgend: Berghoff 2004a); Fiedler 2001, S. 577f. Vgl. Polanyi 1985, S. 16. Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.19 2003, S. 70.
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wird also nicht nur zu analysieren sein, wie sich das Verhältnis zwischen theoretischem und praktischem Wissen im Laufe des Innovationsprozesses veränderte, sondern auch wie sich dieser Wandel auf das soziale und materielle Beziehungsgefüge im Einzelhandel auswirkte. Ebenso zu klären ist die spezifische Rolle wissenschaftlichen Wissens im Innovationsprozess. Die Konsumgeschichte sieht in der Professionalisierung der Konsumsphäre bei gleichzeitiger Kommerzialisierung ein zentrales Merkmal der Massenkonsumgesellschaft.72 Dabei stellt sich die Frage nach der Einordnung dieser Entwicklung in die Verdichtung und Beschleunigung von Verwissenschaftlichungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie Szöllösi-Janze sie für beide deutsche Staaten festhält.73 Da die neue Verkaufsform eine Umverteilung von Aufgaben und eine Neugestaltung der Tätigkeitsbereiche mit sich brachte, ist die damit verbundene Spezialisierung und Differenzierung des relevanten Wissens zu untersuchen. Appadurai sieht in der Segmentierung und Fragmentierung von Wissen über Waren ein Merkmal komplexer kapitalistischer Gesellschaften.74 Insofern gilt es zu analysieren, welche Formen der Professionalisierung oder Verwissenschaftlichung im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Vertriebsform auftraten. Trotzdem soll wissenschaftliches Wissen nicht als allein ausschlaggebender Faktor für den Erfolg der Innovation geprüft werden. Vielmehr geht diese Untersuchung davon aus, dass das nichtwissenschaftliche, praktische Wissen eine ebenso wichtige Ressource darstellte.75 72 73
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Kaelble 1997, S. 174f.; Siegrist 1997, S. 20; Torp 2006, S. 44. Szöllösi-Janze, Margit: Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hockerts, Hans Jürgen (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 277-305 (nachfolgend Szöllösi-Janze 2004b), hier S. 284 Appadurai, Arjun: Introduction: commodities and the politics of value, in: Ebd. (Hg.): The social life of things. Commodities in cultural perspective, Cambridge 1986, S. 3-63, hier S. 54; Stehr, Nico: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 50. Vgl. Böhle, Fritz: Grenzen wissenschaftlich-technischer Rationalität und „anderes Wissen“, in: Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001, S. 96-105, hier S. 98; Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986, S. 32; Vogel 2004, S. 653. Theorien zur Wissensgesellschaft wie von Stehr dagegen tendieren dazu, allein wissenschaftliches Wissen zu behandeln und andere Arten von Wissen als scheinbar nebensächlich auszublenden, auch wenn sie diese Vorgehensweise selbst kritisieren. Vgl. Stehr 1994. Im Sinne Vogels wird die Vorstellung eines linearen Verwissenschaftlichungsprozesses abgelehnt. Vgl. Vogel 2004, S. 654. Strasser verweist darüber hinaus auf die Problematik der positiven Bewertung der Ablösung von elementarem, traditionellem Wissen durch „moderneres“ wissenschaftli-
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2. Welche Rolle spielte Vertrauen im Innovationsprozess? Innovationsprozesse zeichnen sich durch ihre Komplexität und Unsicherheit, ihren Neuigkeitsgrad und Konfliktgehalt aus.76 Unter Bedingungen von Ungewissheit und Innovation ist Handeln nicht durch rein rationale Strategien zu bewältigen.77 Während des gesamten Neuerungsprozesses im Einzelhandel trat daher die Bedeutung von Vertrauen für die zwischenmenschliche Interaktion im Allgemeinen, aber auch für wirtschaftliches Handeln im Speziellen hervor. Luhmann definiert Vertrauen als einen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität: es ermöglicht, sich über fehlende Informationen hinwegzusetzen und die Welt selektiv zu interpretieren.78 Simmel bezeichnet Wissen als eine „Vor- oder Nachform des Wissens“. Es ist „ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen.“79 Vertrauen wird in dieser Gestalt v. a. in prekären Situationen sichtbar, denn es ist unverzichtbar, aber nicht selbstverständlich.80 Im Rahmen der Studie wird es darum gehen, Aspekte des persönlichen Vertrauens, d. h. des Vertrauens basierend auf gemeinsamen Interaktionserfahrungen, auf verschiedenen Handlungsebenen zu identifizieren. Gleichzeitig soll auch das institutionelle Vertrauen, dessen Bildung durch Regeln, Normen und Strukturen erfolgt, erfasst werden.81 Im Rahmen der internationalen Austauschprozesse stellt sich erstens die Frage nach der Rolle von Vertrauen in den Transfernetzwerken. Zweitens ist zu hinterfragen, inwiefern sich mit dem Wandel der Beziehung zwischen Kunde, Verkäufer und Ware eine Veränderung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Konsumenten und der Ware sowie dem Verkäufer und dem Kunden vollzog. Nicht zuletzt war von diesen Verschiebungen sicher auch das Selbstvertrauen des in der neuen Konsumwelt auf sich gestellten Kunden berührt. 76
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ches Wissen und wendet sich somit ebenfalls gegen eine evolutionistische Auffassung. Strasser 2002, S. 767. Schmid, Michael R.: Wissensmanagement für den Innovationsprozeß. Ein empirisch fundierter Beitrag zur Gestaltung und Umsetzung des Wissensmanagement-Ansatzes im produktorientierten Ideenmanagement bei DaimlerChrysler, Bielefeld 1999, S. 103. Beckert 1997, S. 13. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968, S. 6, 10. Zitiert nach: Pahl, Hanno; Meyer, Lars: Kognitiver Kapitalismus. Soziologische Beiträge zur Theorie der Wissensökonomie, Marburg 2007, S. 55. Berghoff 2004b, S. 60; Frevert, Ute: Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 9. Vgl. Fiedler 2001, S. 586-589; Sollberger 2005, S. 121.
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3. Welche Akteure und Kommunikationsnetzwerke trugen den (inter-)nationalen Wissenstransfer? Die Umstrukturierung des Einzelhandels basierte auf differenzierten Transferprozessen, in denen Wissen und Erfahrungen ausgetauscht, aber auch Eindrücke und Wahrnehmungen vermittelt wurden. Diese lassen sich mit Hilfe verschiedener Wissenskanäle erfassen. Dazu zählten die beteiligten Akteure, die Medien der Kommunikation und die Austauschmöglichkeiten zu konkreten Ereignissen. Die Wissenskanäle waren in sich sehr heterogen, miteinander verschachtelt und sie variierten in ihrer Ausgestaltung zeitlich, örtlich sowie hinsichtlich ihrer Intensität.82 Die beteiligten Akteure lassen sich anhand verschiedener Kriterien differenzieren. Zunächst ist zwischen Einzelpersonen, Unternehmen, Organisationen und Verbänden sowie staatlichen und politischen Institutionen zu unterscheiden. Darüber hinaus war ausschlaggebend, welche beruflichen und fachlichen Qualifikationen die Beteiligten einbrachten: präsent waren Einzelhandelskaufleute, Praktiker aus verschiedenen Fachbereichen, Wissenschaftler und in begrenztem Maße Politiker.83 Gleichzeitig sollte hinsichtlich der Zusammenarbeit im nationalen, europäischen und internationalen Maßstab differenziert werden. Auf allen Ebenen der Austauschbeziehungen spielten „Experten“ eine zentrale Rolle. Diese sind als Personenkreis zu verstehen, der bereits vorhandenes Wissen reproduziert, „indem sie es einer nachfragenden Klientel in Politik, Bürokratie, Verbänden, Industrie und Medien überhaupt erst verfügbar machen.“84 Engstrom u. a. bezeichnen Experten als hybride Konstruktionen, die sich zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Kulturen bewegen.85 Außerdem haben sie versucht, Experten mit Hilfe einer Reihe von Eigenschaften genauer zu charakterisieren.86 In der vorliegenden
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Vgl. Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 807f.; Kacker, Madhav: International flow of retailing know-how: bridging the technology gap in distribution, in: Journal of retailing, 64, 1988, H. 1, S. 41-67. Vgl. Gareth, Shaw, Alexander 2004, S. 575. Szöllösi-Janze 2004a, S. 282; Stehr, Nico: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt a. M. 2001, S. 85. Vgl. zum Expertentum ausführlicher: Stehr 1994, S. 357ff. Engstrom, Eric J.; Hess, Volker; Thoms, Ulrike: Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ebd. (Hg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2005, S. 717, hier S. 10f. Auch: Schumacher, Beatrice; Busset, Thomas: „Der Experte“. Aufstieg einer Figur der Wahrheit und des Wissens, in: Traverse, 8, 2001, H. 2, S. 15-20, hier S. 15f. Engstrom u. a. 2005, S. 10f.
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Studie soll dabei an die folgenden Merkmale angeknüpft werden: Der Kreis der Expertise entsprechender Personen ist in der Regel nicht auf festgelegte Fachbereiche und Disziplinen beschränkt. Dabei nehmen Experten eine ambivalente Rolle ein. Sie sind einerseits Agenten staatlicher Herrschaftspraktiken und gesellschaftlicher Durchsetzungsstrategien, andererseits stellen sie Fürsprecher einer neutralen und objektiven Wissenschaft dar. Auf diese Weise impliziert Expertise immer eine Art der Selbstzuschreibung und Selbststilisierung, die sich zwischen Selbstdarstellung und öffentlicher Anerkennung bewegt. Entscheidend ist auch, dass das Expertentum sich durch sehr unterschiedliche Formen der Anerkennung und der Validierung von Wissen auszeichnet: „Immer wieder geht es um die Modalitäten der Abgrenzung und des Status von Wissen und um die immense Fragilität in der Eigenwahrnehmung und der Akzeptanz von ExpertInnen.“87 Diese Akzeptanz beruht in großem Maß auf dem Vertrauen, das den Experten entgegengebracht wird, da die tatsächliche Kompetenz des Experten für den Laien nicht absolut kalkulierbar ist. Auch Giddens betont, dass Expertensysteme in ihrer Funktion als „Entbettungsmechanismus“ auf Vertrauen basieren.88 Anknüpfend daran stellt sich für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand die konkrete Frage, inwiefern und in welchen Handlungssituationen sich die Einzelhändler auf das Expertenwissen verließen. Gleichzeitig ist zu hinterfragen, welche Personen sich als Experten verstanden und als solche akzeptiert wurden. Wie gestalteten sich darüber hinaus die Strategien der Experten zur Bereitstellung von Wissen im Einzelnen? Neben bestimmten Akteurskreisen und Schlüsselfiguren prägte die Art und Weise der Interaktion und Kommunikation in differenzierten wirtschaftlichen und soziopolitischen Netzwerken den Wissensaustausch im Verlauf des Innovationsprozesses. In diesem Zusammenhang wird zu untersuchen sein, auf welche Weise man an bestehende, z. B. unternehmerische Netzwerke anknüpfte oder neue Kontakte etablierte, die gezielt auf die Modernisierung des Vertriebswesens ausgerichtet waren. Die Zusammenarbeit im Rahmen von Netzwerken wird in der Forschung als sehr erfolgversprechend eingeschätzt, da diese als Organisationsformen zwischen Staat und Markt einen effektiven Informationsfluss ermöglichen und die Durch
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Schumacher, Busset 2001, S. 17. Vgl. Hitzler, Ronald: Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, in: Hitzler, Ronald; Honer, Anne; Maeder, Christoph (Hg.): Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 13-30, hier S. 16f.; Vogel 2004, S. 656. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 39ff.
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setzung von Innovationen durch den Multiplikatoreffekt fördern.89 Auch in der historischen Transferforschung wird die Nutzung des Konzeptes „Netzwerk“ für die Analyse multilateraler Austauschbeziehungen angeregt.90 Netzwerke ermöglichen mit ihrer Konstruktion aus Knoten und Verbindungen eine vielschichtige und komplexe Perspektive auf Kommunikationsund Interaktionsprozesse. Ausgehend von der Vernetzung ganz unterschiedlicher Akteure mit dem Ziel gemeinsame Handlungsansätze für die spezifischen Probleme des Verkaufswesens zu erarbeiten, ist zu prüfen, inwiefern es dabei zur Öffnung spezifischer Fachbereiche und zur Zusammenarbeit von unterschiedlichen Disziplinen kam. Für das britische Beispiel haben Alexander u. a. unter dieser Fragstellung die Etablierung einer so genannten community of practice rund um das englische Institut für Selbstbedienung identifiziert.91 Dabei handelte es sich um eine informelle Gemeinschaft von Personen, die sich mit dem Ziel der Lösung eines spezifischen Problems lose miteinander verbanden und selbst organisierten. Für die genaue Analyse der Austauschbeziehungen ist weiterhin entscheidend, bei welchen Anlässen die Kontaktaufnahme erfolgte, welche Ereignisse zu diesem Zweck genutzt und geschaffen wurden. Als zentrale Gelegenheiten zeichneten sich erstens private oder durch Institutionen organisierte Reisen ab. Reisen in die USA hatten bereits eine bis ins 19. Jahrhundert zurückgehende Tradition. Sie ermöglichten persönliche Kontakte und praxisnahe Erfahrungen. Somit eröffneten sie den Zugang zu hochgradig personalisiertem, tazitem Wissen.92 Zweitens boten internationale, europäische und nationale Veranstaltungen wie Kongresse, Tagungen, Versammlungen und Seminare zahlreiche Gelegenheiten zur Vermittlung und Aneignung von Wissen. Drittens bildeten Messen und Ausstellungen eine entscheidende Plattform für den Austausch.93 Im Rahmen der Studie richtet sich der Fokus darauf, welche konkrete Rolle die verschieden gelagerten
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Berghoff 2004b, S. 68; Berghoff, Hartmut; Sydow, Jörg: Unternehmerische Netzwerke Theoretische Konzepte und historische Erfahrungen, in: Ebd. (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007, S. 9-44, hier S. 10. Geppert 2001, S. 108. Auch: Unfried, Mittag, van der Linden 2008, S. 17. Alexander, Shaw, Curth 2005. Ebd., S. 815. Furlough weist auf die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zentrale Bedeutung von Messen und Ausstellungen für den Einzelhandel in Frankreich hin. Furlough, Ellen: Selling the American Way in Interwar France: Prix Uniques and the Salons des Arts Menagers, in: Journal of Social History, 26, 1993, H. 3, S. 491-519, hier S. 495.
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„Ereignisse“ für den Erwerb und die Diffusion innovationsrelevanten Wissens spielten. Eng verbunden mit dem Transfer von Wissen und Erfahrungen waren die Speicherung dieses Wissens und dessen weitere Verbreitung. Diese Funktionen wurden durch eine Vielzahl sehr verschiedener Medien erfüllt. Neben der Handels- und allgemeinen Presse wurde das Wissen über die Entwicklung der Vertriebsformen in unternehmensinternen Zeitschriften und Rundbriefen verbreitet. Die Ratgeber und die Reiseberichte stellten eine Art Anleitung aus der Praxis für die Praxis dar. Aber auch wissenschaftliche Arbeiten befassten sich mit Selbstbedienung und Supermärkten auf der Grundlage von verschiedenen Zugängen wie der Betriebs- und Volkswirtschaft oder der Soziologie. Das gesamte Schrifttum rund um die Selbstbedienung war nicht nur als Medium der Diffusion und Popularisierung der Wissensinhalte ausschlaggebend, sondern in ihm manifestierte sich auch in sprachlicher Weise der Umgang mit dem Wandel des Einzelhandels. Hier zeigt sich Sprache als ein Schlüsselphänomen im Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft. Gleichzeitig reflektiert sie die Zusammenhänge von Wissen und Macht.94 Für den Innovationsprozess im Einzelhandel eröffnet sich in diesem Kontext die konkrete Problemstellung, welche Akteure aus welchen Gründen die Sprachregelung rund um die Vertriebsformen dominierten, festschrieben und veränderten. 4. Wie vollzog sich die Aneignung der neuen Wissens- und Handlungsformen und welche Konflikte waren damit verbunden? Die Verbreitung des von einigen Spezialisten erworbenen Wissens, seine Propagierung und seine praktische Umsetzung im westdeutschen Einzelhandel spielte sich in vielfältigen Kommunikationsprozessen und Lernvorgängen ab.95 An die primäre Aneignung von Wissen im Rahmen der internationalen Austauschbeziehungen schloss sich die Popularisierung dieses Wissens innerhalb der spezifischen Interessentenkreise sowie in einer breiteren Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland an. Die Forschung weist darauf hin, dass die Nachfrage nach popularisiertem Wissen, d. h. allgemeinverständlichem, vereinfachtem und Adressaten bezogenem Wissen, in Zeiten gesellschaftlichen Wandels erhöht ist, da es Lösungen für offene Fragen und Expertise für neue, komplexe Situationen verspricht.96 Welche Vorstellungen und Hoffnungen waren speziell im Fall des Einzelhandels mit
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Landwehr 2002, S. 75. Vgl. auch: Berger, Luckmann 2003, S. 42. Vgl. zu den Lernformen: Schmid 1999, S. 156. Kretschmann 2003, S. 14; Fried, Kailer, S. 12.
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der Popularisierung der neuen Verkaufsform verbunden? Dies bedingt im Umkehrschluss zugleich die Frage: Welche Vorbehalte und Widerstände lassen sich gegenüber der neuen Verkaufsform von Seiten der Industrie, des Handels und zum Teil auch der Konsumenten beobachten? Es ist doch davon auszugehen, dass der mit der Popularisierung verbundene Impetus zur Modernisierung des Einzelhandels auch auf Skepsis und Ablehnung traf. Die konkreten Aneignungsprozesse spielten sich deshalb sicher nicht als selbstverständliche und reibungslose Adaption ab.97 Das Modell der Selbstbedienung und das mit ihm verbundene neue Wissen konfrontierten den im Bedienungsprinzip verankerten „Traditionalismus bei institutionalisierten Tätigkeiten“98 sowie das damit verbundene Selbstverständnis der Handelnden mit neuen Sichtweisen und stellte es in Frage. Nach Berger und Luckmann beruht das Fortwirken einer Institution auf ihrer gesellschaftlichen Anerkennung als „permanente“ Lösung eines „permanenten“ Problems.99 Die Selbstbedienung und die mit ihr verbundenen Rationalisierungsmöglichkeiten rüttelten am Bedienungsprinzip, das nicht mehr in der Lage war, die massenhafte Distribution von Waren zu leisten, und boten neue Problemlösungen an. Gleichzeitig zeigt sich am Verhältnis zwischen den neuen und den bereits lange etablierten Vertriebsformen, dass traditionelle Wirklichkeitsbestimmungen sozialen Wandel verhindern und verlangsamen können.100 Ein zentrales Anliegen der Analyse ist in diesem Zusammenhang, die „Gemengelage“101 aus Aneignung und Ablehnung, Hinnahme und Distanzierung sowie die durch sie geprägte soziale Praxis während der Einführung der Selbstbedienung darzustellen. Neben den „weichen“ Faktoren, wie dem Selbstverständnis der Einzelhändler, beeinflussten aber auch die „harten“, wirtschaftlichen Fakten die (Nicht-) Akzeptanz sowie die Anpassung an die neuen Möglichkeiten des Verkaufens. Welchen Stellenwert nahmen also wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten, etablierte Meinungen und ablehnendes Verhalten der „traditionellen“ Einzelhändler für den allmählichen und eigensinnigen Aneignungsprozess ein?
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Eine lineare Entwicklung von Innovationsprozessen ist besonders von der neueren Technikgeschichte in Frage gestellt worden. Vogel 2005, S. 296. Berger, Luckmann 2003, S. 126. Ebd., S. 74. Ebd., S. 131. Lüdtke, Alf (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 14. Auch: Muhs, Paulmann, Steinmetz 1998, S. 23, 26.
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Die Etablierung neuer Vertriebsformen und damit verbundener Innovationen stellte nicht nur die Strategien und die Struktur der Einzelhandelsunternehmen sowie das Einkaufsverhalten und die Konsumgewohnheiten in Frage, sondern bildete zugleich komplexe Lernprozesse ab.102 Dabei werden die Sphäre des Handels, des Konsum und der Produktion sowie die gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als ein komplexes Wechselgefüge begriffen, in dem sich netzwerkartige, immer wieder rückgekoppelte Lernvorgänge abspielen. Für die Charakterisierung der damit verbundenen Wirkungsmechanismen ist insbesondere die Beziehung zwischen Wissen und Macht genauer zu hinterfragen. Inwiefern eröffnete der ungleiche Zugang zu Wissen verschiedenen sozialen Akteuren unterschiedliche Machtpotenziale, mittels derer sie darüber entscheiden konnten, Informationen preiszugeben, vorzuenthalten oder zu manipulieren?103 Dabei folgt diese Arbeit einer Auffassung, die Macht nicht als rein repressives Instrument versteht, sondern von einer produktiven Wirkung von Macht ausgeht.104 Mit Blick auf das vorliegende Fallbeispiel ergibt sich darauf aufbauend die Frage nach den Konsequenzen erfolgreichen bzw. nicht-erfolgreichen Managements von Wissen: Welche Folgen hatte die Verfügung von Wissen und seine Umsetzung in die Praxis für die Wettbewerbsposition der Einzelhandelsunternehmen? Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass sich Macht innerhalb der symbolisch wahrgenommenen gesellschaftlichen Welt in den Möglichkeiten der Grenzziehung, Unterscheidung, Klassifizierung und Differenzierung äußert.105 Welche Grenzen zog die Auseinandersetzung um modernes Verkaufen und Kaufen zwischen einem „fortschrittlichen“ und einem „rückständigen“ Einzelhandel? Die dialektische Beziehung zwischen Wissen und Macht erscheint dabei allerdings nicht nur auf der wettbewerblichen Ebene relevant, sondern entfaltete auch im Verhältnis zwischen Einzelhandel und Konsumenten vielfältige Wirkungen.106
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Vgl. Schröter 2001, S. 248; Walter, Rolf: Geschichte des Konsums - Einführung, in: Ebd. (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.-26. April 2003 in Greifswald, Stuttgart 2004, S. 7-15, hier S. 10. Vgl. generell: Foucault 1978, S. 51-53; Fried, Kailer 2003, S. 18; Keller, Reiner: Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz 2005, S. 125; Landwehr 2001, S. 85; Stehr 1994, S. 41. Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 35. Landwehr 2001, S. 94; Landwehr 2002, S. 70. Vgl. Brändli 2000, S. 20, 94; Zukin, Sharon: Point of purchase. How shopping changed
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5. Welche Rolle spielten die Vertriebsinnovationen in den Modernitäts- und Zukunftsdebatten der 1950er und 1960er Jahre? In der zeitgenössischen Debatte über die neue Verkaufsform wurden Begriffe wie Modernität und Fortschrittlichkeit, Rationalisierung, Produktivität und Effizienz, Konsumgesellschaft und Amerikanisierung auf eigentümliche Weise miteinander verknüpft.107 Diese normative Aufladung des Wandels im Einzelhandel ermöglicht es, die Selbstbedienung in einen breiteren Kontext zeittypischer Vorstellungen vom Verkaufen, Kaufen und Konsumieren einzuordnen und diese mit zeitgenössischen Modernitätskonzepten in Beziehung zu setzen. Bei der Analyse der konkreten Inhalte, der Nutzung und der Interpretation dieser Konzepte kann an diskursanalytische Methoden angeknüpft werden. Zu untersuchen ist zunächst, wie die Begriffe bewertet wurden, je nachdem mit welchen Inhalten sie verbunden waren. So haben Rationalisierung und Fortschritt bereits in den 1920er Jahren nicht nur eine positive Beurteilung erfahren, sondern gingen durchaus auch mit Zukunftsängsten einher. Darüber hinaus ist die Prägung der Begrifflichkeiten durch den kulturellen Bezugsrahmen zu prüfen. Welskopp hält fest, dass sich in den einzelnen europäischen Ländern verschiedene „Varianten einer Modernisierung im heimatlichen Idiom“108 auf Grundlage der Selbstbedienung als neuer Form des Massenkonsums herausbildeten. Abhängig davon standen diese Konzepte somit für verschiedene Konsumvisionen. Welche Zukunftsentwürfe von Massenkonsum und Massendistribution waren mit verschiedenen Formen des Verkaufens verknüpft? 6. Welche Auswirkungen hatte die Einführung der neuen Vertriebsformen auf die materielle und personelle Infrastruktur des Einzelhandels? Die Einführung der Innovationen im Einzelhandelsvertrieb der 1950er und 1960er Jahre äußerte sich nicht nur in der Umstrukturierung von Wissensbeständen und Kompetenzen der sozialen Akteure, sondern zog auch für die materielle Ausgestaltung des Einkaufens und Verkaufens einschneidende Veränderungen nach sich. Dieser Wandel äußerte sich am sichtbarsten im Wandel des Raumes. Welche konkreten Auswirkungen lassen sich dabei auf die Innenarchitektur der Lebensmittelgeschäfte, aber ebenso auf das Stadt 107
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American culture, New York 2005, S. 28f. Auf die Debatte über den Zusammenhang von Modernität und Konsum verweist Trentmann, der zugleich die Versuche der Bestätigung idealtypischer Konzepte anstelle empirischer Vorgehensweisen kritisiert. Trentmann 2004, S. 374. Welskopp 2004, S. 286f.
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und Landschaftsbild im Allgemeinen erkennen?109 Welche Einflüsse hatten Faktoren wie die Unternehmenspolitik und -kultur, die veränderten Verbrauchergewohnheiten sowie staatliche Regulierungen auf diese Entwicklung? Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern sich das Umfeld für die Warenpräsentation durch die die neuen Verkaufsformen begleitenden technischen Innovationen veränderte. Der qualitative Wandel der Warenpräsentation im Selbstbedienungsgeschäft hatte darüber hinaus Auswirkungen auf die Produkte selbst, die Warenverpackung und die Werbung. Im Zuge der Neuinterpretation und symbolischen Aufladung alltäglicher Dinge und Praktiken nahm die Bedeutung des „Eigenlebens“ der Waren zu – ein Gegenstandsbereich, der seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit von Forschungen zur Geschichte der material culture gefunden hat.110 Inwiefern hatte die neue Verkaufsform also Auswirkungen auf die Bedeutung und den Umgang mit Lebensmitteln? Die veränderte Gestaltung der materiellen Grundlage des Einzelhandels korrespondierte mit einem Wandel der Praktiken des Einkaufens und Verkaufens.111 Auf der Seite der Einzelhändler und Verkäufer hatte dies eine langfristige und tiefgreifende Umstrukturierung der Aufgabenfelder und der Berufsbilder zur Folge. In diesem Zusammenhang wird zu untersuchen sein, inwiefern – über den individuellen Erfahrungsbereich hinaus – übergreifende Rollen mit ihrem entsprechenden Kompetenzbereich und Selbstverständnis modifiziert wurden.112 Dabei soll es v. a. um die Folgen der Differenzierung der Tätigkeitsbereiche im stark funktional ausgerichteten System der Selbstbedienung gehen. Auf welche Art und Weise wurde die Ganzheitlichkeit des Typs „Kaufmann“ und des Typs „Verkäufer/-in“ aufgebrochen und welche Aufgaben wurden dabei neu gestaltet, verteilt oder auch an andere Bereiche abgegeben? Ebenso wie sich das Rollenverhalten und das Rollenverständnis im Bereich des Verkaufens änderten, hatten die Konsumenten im Rahmen der neuen Verkaufsform modifizierte Handlungsmöglichkeiten. Bei der Thematisierung dieses Problemfeldes ist nicht nur das komplexe Wechselspiel zwi 109
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Vgl. Ambrosius, Gerold, Kaelble, Hartmut: Einleitung: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 1950er und 1960er Jahre, in: Kaelble, Hartmut (Hg.): Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 7-32, hier S. 30. Vgl. z. B. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M.2 2001; Brown, Bill (Hg.): Things, Chicago (Ill.) u.a. 2004; Miller, Daniel: Material culture and mass consumption, Oxford 1987. Vgl. Braun-Thürmann 2005, S. 7. Berger, Luckmann 2003, S. 78.
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schen dem Kunden und dem Einzelhandel zu berücksichtigen, sondern auch die veränderten Verbrauchergewohnheiten und die langfristigen Entwicklungen im Bereich des sozialen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er und 1960er Jahre. Der Erwerb der neuen Handlungskompetenzen sowie des Konsumentenwissens erfolgte durch die alltägliche Nutzung der neuen Einkaufsform. Somit forderte die Einführung der Selbstbedienung die Lern- und Anpassungsbereitschaft der Kunden heraus.113 Ob sie sich reibungslos an die neue Situation anpassten und die Selbstbedienung als Autonomiegewinn erfuhren oder ob sich daneben gleichfalls Anzeichen von Überforderung oder Desorientierung finden lassen, wird zu klären sein. Ausgehend von der zentralen Fragestellung der Arbeit nach der Etablierung neuer Vertriebsformen durch den Einzelhandel unter den neuen konsumgesellschaftlichen Rahmenbedingungen soll in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung und Nutzung eines entsprechend veränderten Konsumentenbildes thematisiert werden. 5. Aufbau der Studie Die vorliegende Studie gliedert sich in sieben Kapitel. Im Anschluss an die methodischen Überlegungen und die Entwicklung der Fragestellung im ersten einleitenden Kapitel soll in einem nächsten Schritt der Einzelhandel als Untersuchungsgegenstand genauer eingegrenzt werden. Dazu wird zunächst versucht, im Kapitel II. 1. eine Definition des Einzelhandels als zentralem Bindeglied zwischen Produktion und Konsumtion vorzunehmen und somit seine Stellung im Konsumkreislauf mit den entsprechenden Wirkungsfaktoren bestimmen zu können. In diesem Zusammenhang sollen auch grundlegende Strukturen und Organisationsformen des Einzelhandels skizziert werden. Zur Präsentation des Gegenstands der Arbeit zählt darüber hinaus eine genauere Charakterisierung der Verkaufsform der Selbstbedienung. Im mittleren Teil des zweiten Kapitels sollen zum einen die wirtschaftlichen, organisatorischen und technischen Grundlagen des Verkaufsprinzips vorgestellt werden. Zum anderen versucht der Abschnitt auf die Vielschichtigkeit der sozialen Implikationen und der kulturellen Bedeutungsfelder der Selbstbedienung hinzuweisen, die im Verlauf des Buches im historischen Kontext weiter konkretisiert werden. 113
Vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung von Lernprozessen in der Konsumsphäre: Walter 2004, S. 10.
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Abschließend konzentriert sich das zweite Kapitel auf die geschichtliche Entwicklung des deutschen bzw. westdeutschen Einzelhandels zwischen den 1920er und den 1970er Jahren. Dabei verfolgt die Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern vielmehr sollen für die vorliegende Arbeit zentrale Aspekte der Unternehmens- und Wettbewerbsstrukturen, aber auch der Rahmenbedingungen und entsprechenden Handlungsmöglichkeiten für Veränderungen im Einzelhandel aufgezeigt werden. Dabei richtet sich der Blick zunächst in Grundzügen darauf, inwieweit die Geschichte des Einzelhandels zur Zeit der Weimarer Republik ebenso durch eine starke traditionelle wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Orientierung wie durch neue konsumgesellschaftliche Entwicklungen geprägt war. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass sich die 1920er Jahre stark durch das Nachdenken über und die Umsetzung von Rationalisierung auszeichneten, die nach 1945 entscheidende Anknüpfungspunkte für den Handel waren. Das Teilkapitel über die Zeit des Nationalsozialismus versucht die grundlegenden Auswirkungen des NS-Regimes auf die Einzelhandelslandschaft zu skizzieren. Die Vorstellung der Rahmenbedingungen in der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders stellt eine erste Grundlage für das Verständnis der Bedingungen des in den nachfolgenden Kapiteln thematisierten Transfer- und Transformationsprozesses im bundesdeutschen Einzelhandel dar. Mit den Grundlagen zum Untersuchungsgestand sowie dessen Geschichte bis 1945 schafft das zweite Kapitel so hauptsächlich eine historisch-sachliche Verständnisgrundlage für die Studie. Die wissenshistorische Perspektive tritt hier dagegen stärker in den Hintergrund. Den Hauptteil und empirischen Kern der Studie bilden die Analyse des Transfers des in den USA entwickelten self-service-Modells und der Wandel des Einzelhandels durch die Einführung der Selbstbedienung sowie den darauf basierenden Vertriebsformen Supermarkt, Discounter und Verbrauchermarkt in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Das dritte Kapitel der Arbeit konzentriert sich auf die internationalen Austauschbeziehungen im Zusammenhang mit der Modernisierung des Verkaufens und Kaufens. Im ersten Teil des Kapitels soll die Pioniersituation des US-amerikanischen Einzelhandels thematisiert werden, die die grundlegende Voraussetzung für die transnational stattfindenden Vermittlungsprozesse seit den späten 1940er Jahren bildete. Hierzu bedarf es zunächst einer Skizze der Entwicklung des Einzelhandels und der Massenkonsumgesellschaft in den USA zwischen den 1920er und 1970er Jahren. In diesen Rahmen werden die Innovationen im Bereich des Verkaufens, ihre Entwicklung und Konnotation eingeordnet, um zu zeigen, welche konkreten
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sie im Ursprungsland der Selbstbedienung annahmen. Denn angesichts des Charakters als Leitmodell kam den US-amerikanischen Erfahrungswerten eine entscheidende Orientierungsfunktion zu, die gleichzeitig eine spezifische Prägung von Massenkonsum und Massendistribution implizierte.114 Der zweite Teil des dritten Kapitels beschäftigt sich mit verschiedenen Teilbereichen der nach 1945 etablierten transatlantischen Austauschbeziehungen. In einem ersten Abschnitt sollen dazu einige grundlegende Beobachtungen in den Kontext der Amerikanisierungsforschung eingeordnet werden. Anschließend wird auf die beteiligten Akteuren sowie ihre Ziele und Motive eingegangen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei der notwendige Zusammenhang zwischen Angebotsmacht und Aufnahmefähigkeit sowie die Eigenlogik und -dynamik von Aneignungsprozessen. Weiterhin soll deutlich gemacht werden, inwiefern die kollektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Kooperationspartner eine ebenso wichtige Rolle für die konkrete Ausgestaltung der Austauschprozesse spielten, wie der vielschichtige Wissensfundus rund um das Einkaufen und Verkaufen in den USA. Danach kommen in einem weiteren Abschnitt die konkreten Strategien in den Blick, mit deren Hilfe die Vermittlung und der Erwerb der notwendigen Kompetenzen und des relevanten Wissens erfolgten. Am Schluss des dritten Kapitels soll gezeigt werden, dass die erfolgreiche Umstrukturierung des westdeutschen Einzelhandels nicht nur auf einem transatlantischen Transferprozess basierte, sondern dass der innereuropäische Austausch ebenfalls ein entscheidender Faktor für den Wandel der Verkaufsformen war. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der konkreten Umstrukturierung des bundesdeutschen Einzelhandels durch die Entwicklung der verschiedenen Verkaufsformen zwischen den späten 1940er und frühen 1970er Jahren. Es zeigt, auf welche Weise sich die Einzelhandelslandschaft zunehmend differenzierte und welche Voraussetzungen und Reaktionen damit verbunden waren. Die Problemstellung fokussiert die Strategien von verschiedenen Betriebsformen und Unternehmen zur Anpassung an die neuen Anforderungen von Massenkonsum und -produktion durch die Umsetzung von Innovationen in den Lebensmittelgeschäften. Dabei finden die soziokulturellen und ökonomischen Prozesse ebenso Berücksichtigung wie wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Maßgaben. In diesem Zusammenhang soll noch einmal betont werden, dass der multiperspektivische Zugang zum Einzelhandel aus wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischer Sicht ein zentrales
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Vgl. Strasser 2004. Auch: De Grazia 1998, S. 66.
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Anliegen ist. Aus einer derartigen Betrachtung der Innovationsprozesse ergibt sich einschränkend allerdings, dass die Untersuchung keine explizit detaillierten Ausführungen zu statistisch-ökonomischen Entwicklungen des Handels, einzelner Handelsunternehmen oder der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland in einem quantitativen Sinn präsentieren kann. Soweit bestimmte wirtschaftliche und statistische Daten für den im Zentrum stehenden Wandel des Einzelhandels relevant und verfügbar sind, werden diese in die Argumentation des vierten Kapitels sowie der anderen Kapitel eingebracht. Im Kapitel IV. 1. werden die Aneignung und Anpassung sowie die Widerstände und die Schwierigkeiten bei der Adaption des self-service-Modells in einem neuen nationalen Kontext untersucht. Im Anschluss daran erfolgt unter einem zweiten Punkt die Analyse der Entwicklung der Vertriebsformen Supermarkt und Discounter seit den späten 1950er Jahren um zu zeigen, inwiefern diese Geschäftstypen eine Weiterführung des Prinzips der Selbstbedienung darstellten und in welche wirtschaftspolitischen Debatten sie eingebunden waren. Ein weiterer Abschnitt versucht die zunehmende Ausdifferenzierung des Einzelhandelssektors durch neue Kombinationen und Segmentierungen im Bereich des Verkaufs gegen Ende der 1960er Jahre nachzuzeichnen. Während der erste Teil des Kapitels, die Problematisierung der Umsetzung praktischen und theoretischen Wissens in der bundesdeutschen Einzelhandelspraxis sowie die emotionale Aufladung und die Wertung dieses Wissens, stark auf der Grundlage wissensgeschichtlicher Zugriffsweisen argumentiert, wird sich der abschließende Teil zu den längerfristigen Entwicklungslinien der Vertriebsformen auf andere sozioökonomische und soziopolitische historische Erklärungsansätze stützen. Die Kapitel fünf und sechs brechen die weitgehende Chronologie der vorherigen Gliederung auf und versuchen eine Reihe von zeitlich übergreifenden materiellen und immateriellen Veränderungen zu erfassen, die sich im Laufe des Innovationsprozesses in der Formierung neuer Handlungsund Wissensfelder äußerten. Während sich das fünfte Kapitel auf die Auswirkungen der Verkaufsformen für den Einzelhandel konzentriert, versucht das sechste Kapitel die Perspektive der Konsumenten auf den Wandel zu rekonstruieren. Unter Punkt V. 1. wird gezeigt, in welcher Weise die Vertriebsinnovationen entscheidende Konsequenzen für das Berufsbild und die Tätigkeitsfelder im Einzelhandel mit sich brachten. Die Abschnitte V. 2. und V. 3. thematisieren einzelne, neue Wissensbereiche, die mit den neuen Vertriebsformen an Relevanz gewannen. Neben dem Wissen um den Konsumenten und dessen Anwendung bei der Ladeneinrichtung geht es um den
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Wandel der Warenwelt und -gestaltung am Beispiel des Lebensmittelsortimentes, der Verpackung und der Werbung. Obwohl der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf dem Umgang des Einzelhandels mit den Innovationen liegt, soll das sechste Kapitel zeigen, dass die Aneignung der neuen Verkaufsformen durch die westdeutschen Konsumenten von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Im ersten Abschnitt wird in diesem Sinne die Bewertung der Selbstbedienung und ihrer Vorteile durch die Kunden genauer in den Blick genommen. Im darauffolgenden Teilkapitel erfolgt der Versuch, diese Einschätzung zu differenzieren, indem nach den sozioökonomischen und gesellschaftlichen Kriterien gefragt wird, die die Nutzung der neuen Vertriebsform beeinflusst haben könnten. Die Schlussbemerkungen der Arbeit im siebten Kapitel greifen die zentralen Erkenntnisse auf und ordnen sie in Bezug auf die übergreifende Problemstellung ein, um so als Zusammenfassung die in der Einleitung gestellten, forschungsleitenden Fragen beantworten zu können.
II.
Der Einzelhandel als Mittler zwischen Produktion und Konsumtion
1. Begriffsklärung Lebensmitteleinzelhandel Aus volkswirtschaftlicher Sicht wird der Handel als Mittler zwischen dem Bereich der Produktion und dem Bereich des Konsums definiert. Die Aufgabe des Einzelhandels als Teil der Absatzorganisation besteht in der Abgabe von Waren an den Endverbraucher, durch die er einen ökonomischen Gewinn erzielt. Im Rahmen dieses wirtschaftlichen Tauschverhältnisses werden nicht nur ökonomische Werte, sondern auch soziale und kulturelle Bedeutungen von den Verbrauchsgütern und dem Kontext ihres Erwerbs erzeugt.1 Die vermittelnde Funktion der Handelsunternehmen im Markt ist sehr komplex gestaltet, da sich der Einzelhandel durch eine starke Differenzierung hinsichtlich seiner organisatorischen, betrieblichen und personellen Strukturen auszeichnet, die sich im Laufe der historischen Entwicklung vielfältig gewandelt haben. Im nachfolgenden Abschnitt sollen die zentralen Kriterien zur genaueren Charakterisierung des Einzelhandels vorgestellt werden, die im Rahmen der Studie immer wieder den Untersuchungsgegenstand und die Fragestellung bestimmen. Eine erste Unterscheidung kann zwischen dem stationären Handel in Ladengeschäften, der die Grundlage für die vorliegende Studie bildet, und dem ambulanten Handel auf dem Markt oder durch Handelsreisende sowie den Versandhandel vorgenommen werden. Ein zweites Merkmal von Einzelhandelsgeschäften besteht in der Art der angebotenen Waren. Davon ausgehend kann zwischen verschiedenen Einzelhandelsbranchen differenziert werden. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf den Lebensmitteleinzelhandel, d. h. den Handel mit verderblichen Waren des kurzfristigen Bedarfs. Einerseits resultiert aus der starken Abhängigkeit von Lebensmitteln also ein spezifisches Risiko für den Einzelhändler, andererseits frequentieren die Verbraucher diese Geschäfte regelmäßig und in relativ kurzen Abständen. Lebensmitteln werden innerhalb einer Gesellschaft bestimmte sozioökonomische und kulturelle Werte zugeschrieben, die in einem Span
1
Vgl. Alexander, Andrew; Phillips, Simon: “Fair Play for the Small Man”: Perspectives on the Contribution of the Independent Shopkeeper 1930-c.1945, in: Business History, 48, 2006, H. 1, S. 69-89, hier: S. 70; Appadurai 1984, S. 3f.; Beckert 1997, S. 22; Benson; Ugolini 2006, S. 9f.; De Grazia 2005, S. 285; Wünderich 1997, S. 808; Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939-1950, Göttingen 2008, S. 19; Zukin 2005, S. 14.
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Der Einzelhandel als Mittler zwischen Konsumtion und Produktion
nungsverhältnis zwischen verschiedenen Vorstellungen vom Einkaufen und Verkaufen sowie vom Verbrauch und von der Verwendung der Produkte stehen. Dabei ist der Konsum von Lebensmitteln eng mit der sozialen und kulturellen Rolle des Essens und Trinkens verbunden. Ihn prägen nicht nur qualitativ variierende Ernährungsgewohnheiten je nach Alter, Geschlecht, Schicht und räumlichem Kontext, sondern der Lebensmittelkonsum steht immer auch im Zusammenhang mit den Bedeutungszuschreibungen von Mangel und Überfluss, Luxus und Notwendigkeit.2 Die konkrete Ausgestaltung des Warenangebotes in einem Geschäft äußert sich in der Sortimentsstruktur als einem dritten Differenzierungskriterium. Im Lebensmitteleinzelhandel werden neben Lebensmitteln häufig andere Artikel des kurzfristigen Bedarfs wie z. B. Haushaltswaren, Reinigungsmittel, Kosmetikprodukte u. a. angeboten. Ob, und wenn ja, welche Nicht-Lebensmittel angeboten werden durften, war eine ebenso kontrovers diskutierte Frage, wie der Verkauf von handwerklich verarbeiteten Waren und agrarisch erzeugten Produkten wie Backwaren, Fleisch, Fisch, Milchprodukten sowie Obst und Gemüse außerhalb der entsprechenden Fachgeschäfte in allgemeinen Lebensmittelläden. Ein viertes Zuordnungsmerkmal innerhalb des Einzelhandels bildet die Betriebsform als die Art und Weise der betrieblichen Organisation von Handelsunternehmen. Neben selbständigen Einzelhandelsgeschäften ist zwischen einer Reihe von mehrstufigen Unternehmen zu unterscheiden. Die Konsumgenossenschaften sind ursprünglich auf die Initiative von Verbrauchern hin gegründete Einrichtungen, die ihren Mitgliedern eine qualitativ bessere und preiswertere Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs gewährleisten sollten. Die zentralen Leitgedanken der 1844 als erste Konsumgenossenschaft gegründeten Rochdale Society of Equitable Pioneers in England sind weltweit die maßgeblichen Prinzipien der Konsumgenossenschaften geblieben. Dazu zählen der Verkauf gegen Bargeld und der Anspruch der Erziehung der Mitglieder zu verantwortungsvollen Verbrauchern sowie das Prinzip der Rückvergütung, d. h. je mehr ein Mitglied bei der Genossenschaft kauft, desto höher fällt seine Beteiligung am Überschuss aus.3 2
3
Vgl. Brewer, John; Porter, Roy: Consumption and the World of Goods, London, New York 1993, S. 5f.; Fine, Leopold 1993, S.148. Ausführlich zur Entwicklung und Funktionsweise der Konsumgenossenschaften: Bösche, Korf 2003; Fairbairn, Brett: Konsumgenossenschaften in internationaler Perspektive: Ein historischer Überblick, in: Prinz, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluß: Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 437-461; Furlough, Ellen: Consumers against capitalism? Consumer cooperation in Europe, North America, and Japan, 1840 – 1990, Lanham 1999. Zur Geschichte während des Nationalsozialismus: Korf 2008. Mit Schwerpunkt auf den 1960er
Der Einzelhandel als Mittler zwischen Produktion und Konsumtion
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Die Filialunternehmen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Absatz der Waren in mindestens zwei räumlich separaten Geschäften unter der Leitung einer Unternehmensführung stattfindet. Ab einer Zahl von zehn Verkaufsstätten spricht man von einem Massenfilialbetrieb. Hinsichtlich ihrer Werbung und Ausstattung präsentieren sich die einzelnen Filialen einheitlich. Daneben existieren so genannte freiwillige Zusammenschlüsse des Einzelhandels, die im Fall der Einkaufsgenossenschaften vom Einzelhandel selbst ausgehen, während die freiwilligen Ketten auf Initiative des Großhandels hin entstanden sind.4 Bei beiden Organisationsformen verstehen sich die Mitglieder weiterhin als selbständig, profitieren aber gleichzeitig von verschiedenen Vorteilen, die auch die Filialen nutzen. Durch die Bündelung größerer Bestellmengen gestalten sich Bedingungen für den Wareneinkauf der vorwiegend kleinen Unternehmen besser und preiswerter. Außerdem bieten die Zusammenschlüsse Serviceleistungen für ihre Mitglieder im Bereich der Werbung und Verpackung, der Weiterbildung sowie der technischen Ausstattung und finanziellen Unterstützung an. Eine fünfte Möglichkeit für die Klassifizierung von Einzelhandelsunternehmen besteht in der Art und Weise der konkreten Ausgestaltung des Verkaufs. Es lassen sich eine Reihe von Vertriebsformen und -politiken unterscheiden, die sich an verschiedenen Strategien hinsichtlich der Preispolitik und der angebotenen Warenqualität, der Gestaltung des Verkaufsraums sowie des Verkaufsaktes orientieren. Häufig treten diese Merkmale in Kombination miteinander auf, wie z. B. in Form des Supermarktes oder des Discountmarktes. Mit Hilfe der vorgestellten Kriterien lassen sich Einzelhandelsunternehmen zunächst nach äußeren Merkmalen klassifizieren. Im Folgenden soll darüber hinaus versucht werden, verschiedene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte herauszuarbeiten, die für die historische Kontextualisierung des Einzelhandels eine Rolle spielen. Die Forschung weist darauf hin,
4
Jahren: Prinz 2003; Schröter, Harm G.: Der Verlust der „europäischen Form des Zusammenspiels von Ordnung und Freiheit“. Vom Untergang der deutschen Konsumgenossenschaften, in: VSWG, 87, 2000, H. 4, S. 442-467. Disch, Wolfgang: Der Groß- und Einzelhandel in der Bundesrepublik, Köln 1966, S. 130; Richter, Oswald: Die Einkaufsgenossenschaften des selbständigen Einzelhandels in den Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Marburg/Lahn 1962; Schiller, Christoph: Entwicklungstendenzen der Einkaufsgenossenschaften und freiwilligen Gruppen, in: Bidlingmaier, Johannes; Jacobi, Helmut; Uherek, Edgar W. (Hg.): Absatzpolitik und Distribution. Karl Christian Behrens zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1967, S. 397-412; Schultz 1969. Als historische Fallstudien zu den Einkaufsgenossenschaften: Graff, Dieter: Edeka - älteste Einkaufsgenossenschaft des Lebensmitteleinzelhandels, Köln 1994; Scholten 2004; Spiekermann 2005.
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dass der Terminus „Einzelhandel“ erst in der Zeit der Weimarer Republik die zuvor gängige Bezeichnung „Kleinhandel“ ablöste, die tendenziell den Kauf in kleinen Mengen suggerierte. Der sprachliche Wandel deutet somit auf strukturelle Veränderungen des Einzelhandelssektors sowie seiner wirtschaftlichen Position hin.5 Gleichzeitig wird sowohl in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als auch in den vorliegenden Quellen immer wieder das Problem aufgeworfen, dass der Begriff des Einzelhandels nicht nur die Bezeichnung eines Wirtschaftszweiges, sondern auch eine bestimmte soziale Gruppe implizierte. Der überwiegende Teil der Einzelhändler wurde in diesem Zusammenhang bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dem so genannten „Mittelstand“ zugeordnet. Von Saldern hat darauf hingewiesen, dass der Begriff des Mittelstandes sehr unterschiedliche soziale Gruppen zusammenzufassen versuchte, wobei er gleichzeitig auch immer eine starke politisch-ideologische Konnotation besaß.6 Auf die Diskussion um die Problematik der Begrifflichkeit kann im Rahmen dieser Studie nicht genauer eingegangen werden. An gegebenen Stellen suchen die Ausführungen allerdings den Bezug zur spezifischen sozialen Position des mittelständischen Einzelhandels, um die mit ihr verbundene, sich wandelnde normative und kulturelle Selbst- und Fremdwahrnehmung zu hinterfragen. Dabei sollen die sich verändernden, sozioökonomischen und politischen Kontexte bei der Analyse und Interpretation so differenziert wie möglich Eingang finden. Ausgehend von den grundlegenden begrifflichen und analytischen Überlegungen werden im Folgenden die verschiedenen Handlungsebenen skizziert, in die die Tätigkeit des Einzelhandels im Allgemeinen, aber auch die Entwicklung der Vertriebsinnovationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Speziellen eingebettet waren. Betrachtet man die enge Bindung des Lebensmitteleinzelhandels sowohl an den Verbraucher und dessen Konsumverhalten als auch an den Hersteller und die Produktion von Waren, ergeben sich folgende Überlegungen für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand. Grundsätzlich ist von einem reziproken Verhältnis zwischen den Aktivitäten des Einzelhandels und seinem politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umfeld auszuge 5 6
Spiekermann 1999, S. 13. Von Saldern 1985, S. 10. Auch: Lebovics, Herman: Social conservatism and the middle classes in Germany, 1914 - 1933, Princeton 1969, S. 5f. Vgl. ausführlich zu einer sozioökonomischen Charakterisierung des Mittelstandes: Scheybani, Abdolreza: Vom Mittelstand zur Mittelschicht? Handwerk und Kleinhandel in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte 35, 1995, S. 131-195.
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hen.7 Entsprechend zu kurz greifen Ansätze, die Strategien der Lebensmittelhändler im Rahmen von Innovationsprozessen isoliert betrachten, wie es zum Teil geschlossene Entwicklungstheorien des Handels nahegelegt haben. Vielmehr versucht diese Arbeit die Art und Weise zu bestimmen, mit der der Handel sich im Akteursdreieck Staat, Markt und Zivilgesellschaft bewegte. Dabei ist der Einzelhandel sowohl von wirtschaftspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen als auch von der Politisierung der Konsumsphäre tangiert.8 Während der Handel sich den staatlichen Bestimmungen anpassen oder widersetzen kann, zeichnet sich umgekehrt von Seiten der Politik in verschiedenen Zeiträumen auch eine Indienstnahme des Einzelhandels für spezifische staatliche Interessen ab. Neben diesem Spannungsverhältnis war der Handel als vermittelnder Bestandteil des Marktes von den Anbietern der Waren und den Produktionsbedingungen ebenso abhängig wie von der sich wandelnden quantitativen und qualitativen Nachfrage der Haushalte. Umgekehrt versuchte er immer, auf der Grundlage seiner Mittlerposition Einfluss auf beide Seiten auszuüben. Die engen Verknüpfungen des Einzelhandels mit dem Verbraucher und dessen Konsumverhalten haben darüber hinaus zur Folge, dass eine starke Sozialabhängigkeit den Einzelhandel prägt.9 Kaum eine wirtschaftliche Tätigkeit hängt in ihrem Erfolg so stark vom Standort ab wie das Einzelhandelsgeschäft. Zum einen determiniert die geographische Lage die alltägliche soziale und kulturelle Einbettung des Kaufens und Verkaufens. Sie hat somit zugleich entscheidende Auswirkungen auf den unternehmenspolitischen Handlungsspielraum und den wirtschaftlichen Erfolg. Zum anderen steht der Einzelhandel mit der Aufgabe der Versorgung der Bevölkerung stets im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. In diesem Rahmen betrachteten staatliche, wirtschaftliche und private Akteure die verschiedenen Formen des Verkaufens weder rein ökonomisch noch kulturell neutral. Vielmehr wurden an die Einschätzung der Tätigkeit des Handels immer auch außer
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Vgl. Alexander; Phillips 2006, S. 71; Benson, Ugolini 2006, S. 10; Deutsch, Tracey: Making Change at the Grocery Store: Government, Grocers, and the Problem of Women's Autonomy in the Creation of Chicago’s Supermarkets, 1920-1950, in: Enterprise & Society, 5, 2004, H. 4, S. 607-616, hier S. 608; Humphery 1998, S. 5; Kacker 1988, S. 41. Vgl. zur Konsumpolitik: Berghoff 1999; Daunton, Hilton 2001; Kleinschmidt, Christian: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz und Soziale Marktwirtschaft: Verbraucherpolitische Aspekte des „Modell Deutschland“ (1947-1975), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2006, H. 1, S. 13-28; Torp 2006; Zündorf, Irmgard: Der Preis der Marktwirtschaft. Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963, Stuttgart 2006. Deutsch 2004, S. 609, Scarpellini 2004, S. 627.
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ökonomisch wertende, soziokulturell fundierte Kriterien angelegt. So haben Benson und Ugolini festgehalten, dass die immer wieder aufkeimende Argumentation, einige Einzelhandelsformen seien besser als andere, die Auffassung widerspiegelte, nicht alle Formen des Verkaufens wären sozial gleichwertig.10 Nicht zuletzt entscheidend für die öffentlichen Debatten um den Einzelhandel war die Tatsache, dass die gesellschaftliche Diskussionen um Konsum immer im Kontext einer spezifisch moralischen Argumentation erfolgten, die sich um die Frage nach der Auswirkung des Kauf- und Verbrauchsverhaltens auf die soziale Ordnung dreht.11 Die Binnenstruktur der Einzelhandelsunternehmen ist in funktionaler und personeller Hinsicht sehr vielschichtig. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war ein Großteil des Einzelhandels in Deutschland in kleinen Einheiten als Familienbetriebe organisiert – so tätigten noch 1954 die unabhängigen Kaufleute in der Mehrzahl der europäischen Länder 80 Prozent des Gesamtumsatzes.12 Neben dem Inhaber als Unternehmensleiter und Verkäufer in einer Person, arbeiteten Familienangehörige und wenige Verkaufsangestellte im Laden. Im Gegensatz dazu waren die seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden mehrstufigen Unternehmen wie Filialbetriebe und Konsumgenossenschaften stärker arbeitsteilig gegliedert. Das Gesamtunternehmen und die einzelnen Geschäfte wurden von zentralen Führungspersönlichkeiten gesteuert. Darüber hinaus beschäftigte man Angestellte in den verschiedenen Arbeitsbereichen. Neben der Verkaufstätigkeit, die den Schwerpunkt der vorliegenden Studie bildet, zählten der Wareneinkauf, die Lagerhaltung, die Werbung und Verpackung sowie die Buchhaltung zu den zentralen Funktionen im Einzelhandelsbetrieb. Der Arbeitsbereich des Verkaufs ist eng an die Interaktion mit dem Konsumenten gebunden und somit durch ein spezifisches Rollenverhalten und -verständnis innerhalb dieses ökonomischen Tauschprozesses geprägt. Die aufeinander bezogenen Tätigkeiten des Verkaufens und Kaufens können in diesem Sinne als Institution verstanden werden. Kaufmann, Verkäufer und Käufer repräsentieren konkrete Rollen, die über einen gesellschaftlich festgelegten Wissensbestand verfügen und den Rahmen für bestimmte Handlungsspielräume vorgeben. Durch bestimmte Verhaltensmuster lenken
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Benson, Ugolini 2006, S. 2. Daunton, Hilton 2001, S. 1, 14. Vgl. z. B. die Debatte um Konsumverhalten und Warenhaus: Briesen 2001; Frei 1999; Lenz 2006. Jefferys, James Bavington; Hausberger, Simon; Lindblad, Göran: Produktivität in der europäischen Absatzwirtschaft, dargestellt am Gross- und Einzelhandel, Paris 1954, S. 71.
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Rollen und Institutionen das subjektive menschliche Handeln und üben Kontrolle auf die Individuen aus. Dabei zeichnen sich Institutionen durch Historizität aus, d. h. sie werden im Laufe eines geschichtlichen Prozesses konstituiert, können sich verändern und verschwinden.13 Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich in diesem Kontext damit, in welcher Weise die Ablösung des Bedienungsgeschäftes durch den Selbstbedienungsladen, Supermarkt und Discounter eine weitgehende Umstrukturierung der einzelnen Rollen und der Rollenbeziehungen zur Folge hatte, der die Akteure mit allmählicher Anpassung, aber auch mit Abwehrreaktionen begegneten. Neben der Einordnung des Lebensmitteleinzelhandels in das Akteursdreieck Staat, Markt und Zivilgesellschaft sowie der betrieblichen Mikroebene des einzelnen Lebensmittelgeschäftes stellt die Position und das Verhalten der Unternehmen im Einzelhandelswettbewerb eine weitere Handlungsebene dar.14 Die drei zentralen Komponenten, durch die Einzelhandelsunternehmen versuchen Wettbewerbsvorteile zu erzielen, sind der Preis, die Qualität der Waren sowie die Serviceleistungen, die dem Kunden angeboten werden. Die verschiedenen Elemente wurden sehr unterschiedlich betont und miteinander kombiniert, was sich wiederum in wandelnden Konkurrenzsituationen niederschlug. Sie korrespondierten natürlich auch mit jeweils verschiedenen sozialen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Seitens der Akteure begriff man Wettbewerb allerdings nicht nur als wirtschaftlichen Mechanismus in einem eher ökonomisch-technischen Sinne, sondern besetzte ihn stets mit ethischen und normativen Vorstellungen.15 Neue Strategien und Marktteilnehmer im Einzelhandel wurden zunächst grundsätzlich als Bedrohung empfunden, so dass die etablierten Wettbewerber in einer ersten Reaktion auf passive oder aktive Art und Weise ihre Ablehnung ausdrückten, sich schließlich aber den neuen Marktbedingungen 13 14
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Vgl. Berger, Luckmann 2003, S. 58f. Wettbewerb soll hier allgemein als Streben von mindestens zwei Wirtschaftsakteuren nach einem Ziel verstanden werden, bei dem der höhere Grad der Zielerreichung des einen Akteurs einen niedrigeren der jeweils anderen Akteure bewirkt. Vgl. Benson, Ugolini 2006, S. 15f.; Spiekermann 1999, S. 430. Sowohl innerhalb des Einzelhandels als auch von der breiten Öffentlichkeit wurden verschiedene Strategien und Verhaltensweisen im Wettbewerb im Rahmen soziokultureller Argumentationen wahrgenommen und bewertet. Die Auseinandersetzung über den zulässigen und fairen Gewinn des Einzelhandels bewegte sich zum einen zwischen dem individuellen wirtschaftlichen Nutzen der Unternehmer und dem Dienst an der Allgemeinheit. Zum anderen stand die Frage nach dem gerechten Preis im Spannungsverhältnis zwischen dem wahrgenommenen Wert der Ware, dem Verkaufspreis sowie dem Kosten-LeistungVerhältnis der einzelhändlerischen Tätigkeit.
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anpassten.16 In diesem Sinne versteht die Volkswirtschaftslehre Wettbewerb auch als eine Abfolge von Innovations- und Transferprozessen, bei denen im Anschluss an die Einführung neuer Geschäftsideen Marktanteile von nicht innovativen an innovative Unternehmen übertragen werden.17 Schumpeter hat in diesem Zusammenhang den Typus des „schöpferischen Unternehmers“ geprägt, dessen Funktion in der „Durchsetzung neuer Kombinationen“ besteht.18 Die von ihm gestellte Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung des Wirtschaftskreislaufes in Zyklen der Innovation und Imitation aus der Wirtschaft selbst heraus verweist auf die Problematik von „Entwicklung“ und „Modernisierung“ im Handelssektor. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist eine Reihe von offenen und geschlossenen Entwicklungstheorien des Einzelhandels entstanden, auf die im Rahmen der Studie nicht detailliert eingegangen werden kann.19 Diese viel diskutierten und kritisierten Theorien liefern auch keinen methodischen Zugang zum Untersuchungsgegenstand, verweisen aber auf die unbedingte Notwendigkeit der Historisierung des Modernisierungsbegriffs im Zusammenhang mit der Entwicklung des Einzelhandels. Dies erscheint umso wichtiger, wenn man berücksichtigt, dass die auf die Innovation im Vertriebswesen Bezug nehmenden Quellen überborden von Aussagen über „Modernisierung“ und „Modernität“. Es ist nicht der Sinn des vorliegenden Buches, eine Modernisierungstheorie an den Einzelhandel des 20. Jahrhunderts anzulegen. Vielmehr konzentriert sich der Umgang mit dem Begriff der Modernisierung auf eine spezifi 16
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Vgl. Briesen 2001, S. 233; Spiekermann 1999, S. 335; Strasser 2004, S.2 19; Für das italienische Beispiel: Scarpellini 2004, S. 628; Zamagni 1997, S. 713. Vgl. z. B. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, Stuttgart18 2006, S. 191. Schumpeter, Joseph: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin5 1952, S. 111. Eines der prominentesten Beispiele ist das „wheel of retailing“ des Amerikaners Malcom Mc Nair. Er sah die Zeit seit dem Ersten Weltkrieg durch sich ständig überlappende Revolutionen und Innovationen im Einzelhandel geprägt, die neben Umweltfaktoren entscheidend von der inneren Entwicklung des Sektors gesteuert waren. Diese zeichnete sich durch sich permanent abwechselnde Phasen der Innovation und Reifung v. a. auf der Grundlage des Preiswettbewerbs aus. Das deutsche Pendant zu diesen Überlegungen stellte Robert Nieschlag dar, der das ständige Entstehen von neuen Betriebs- und Vertriebsformen in einem ähnlich zyklischen Verlauf darstellte. Vgl. Brown, Milton Peers; Applebaum, William; Salmon, Walter J.: Strategy problems of mass retailers and wholesalers, Homewood Ill. 1970, S. 11; Lowry, James Rolf: The retailing revolution revisited, Muncie Ind. 1969, S. 2; Nieschlag, Robert: Die Dynamik der Betriebsformen im Handel, Essen 1954. Zur Kritik an diesen Modellen: Woll, Artur: Der Wettbewerb im Einzelhandel. Zur Dynamik der modernen Vertriebsformen, Berlin 1964, S. 127. Ein Überblick über eine Reihe von Entwicklungstheorien gibt: Kacker 1988, S. 44f.
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sche, quellenkritische Perspektive, deren Ziel es ist, die Thematisierung und Bewertung von Modernität und Modernisierung durch die Zeitgenossen der 1950er und 1960er Jahre zu hinterfragen. Ausgehend von ihrem Wissensstand sollen die Vorstellungen über eine Modernisierung des Einzelhandels und der Konsumwelt im Verlauf des Innovationsprozesses analysiert werden.20 Konkret stellt sich also die Frage nach den Mustern der Wahrnehmung der Neuerungen beim Einkaufen und Verkaufen sowie nach dem Umgang der Akteure mit der sich wandelnden Einzelhandelslandschaft im Rahmen einer sich etablierenden Massenkonsumgesellschaft. Dabei war die Debatte um „modernes“ und „unmodernes“ Verkaufen stets an den sozioökonomischen Rahmen und den marktwirtschaftlichen Wettbewerb rückgekoppelt. Gleichzeitig wird durch das Hinterfragen des zeitgenössischen Verständnisses von Modernisierung auch die Schwierigkeit einer Trennung zwischen alten und neuen, zwischen traditionellen und modernen, zwischen erwünschten und unerwünschten Einzelhandelsformen bewusst gemacht.21 Im anschließenden Kapitel soll zunächst die Verkaufsform der Selbstbedienung sowie ihre Funktionsweise vorgestellt werden. Die vorliegende Studie versteht dabei das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht als Stunde Null, weder für die Entwicklung des Einzelhandels im Rahmen des Wirtschaftswunders noch für die „Erfindung“ der Selbstbedienung.22 Im Gegenteil zeichneten sich die 1950er Jahre durch eine personelle und betriebliche Kontinuität gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik aus. Die darauffolgende Darstellung der Geschichte des Einzelhandels vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Ende des Untersuchungszeitraums Mitte der 1970er Jahre konzentriert sich sowohl auf Kontinuitäten als auch auf Brüche und deren Einordnung in den jeweiligen historischen Kontext. Die Ausführungen basieren hauptsächlich auf der vorhandenen Forschungsliteratur. Da eine Reihe von Aspekten v. a. im Zusammenhang mit den Verkaufsformen des Einzelhandels in diesem Zeitraum allerdings bisher
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Vgl. zu dieser Form der Historisierung des Modernisierungsbegriffs: Ritschl, Albrecht: Die NS-Wirtschaftsideologie – Modernisierungsprogramm oder reaktionäre Utopie?, in: Prinz, Michael; Zitelmann, Rainer (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 48-70, hier S.49; Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 22. Vgl. Friedman, Walter A.: Birth of a salesman. The transformation of selling in America, Cambridge Mass. 2004, S. 12; Spiekermann 1999, S. 335. Vgl. zur theoretischen Debatte einer Stunde Null allgemein: Ermarth, Michael: Introduction, in: Ebd. (Hg.): America and the Shaping of German Society, 1945-1955, Oxford 1993, S. 1-19, hier S. 3. Zur Frage der Periodisierung der Konsumgesellschaft und dem Stellenwert des Jahres 1945: Confino, Koshar 2001, S. 158; Siegrist 1997, S. 28.
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nur sehr begrenzt bearbeitet worden ist, wird versucht, die entsprechenden Lücken mit veröffentlichtem Quellenmaterial zu füllen. Die Abschnitte beanspruchen in keiner Weise Vollständigkeit, sondern fragen nach der Vorgeschichte des Einzelhandels, die den Anknüpfungspunkt und die Voraussetzung der Selbstbedienung darstellte und zielen auf die folgenden, für die Arbeit relevanten Entwicklungsstränge ab. Zunächst ist es das Ziel, nach dem Zusammenhang zwischen den wirtschaftspolitischen, sozioökonomischen und konsumgesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Entwicklung des Einzelhandels zu fragen. Darüber hinaus sollen die grundlegenden betrieblichen und organisatorischen Strukturen der Einzelhandelslandschaft nachgezeichnet werden. Ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Verständnis und den Maßnahmen zur Rationalisierung des Vertriebswesens. In diesem Zusammenhang ist auch auf die umfassende Rationalisierungsbewegung in der Zeit der Weimarer Republik hinzuweisen, die entscheidende Anknüpfungspunkte in den 1950er und 1960er Jahren darstellte.
2. Die Selbstbedienung als rationalisierte Verkaufsform im Einzelhandel Auf den ersten Blick scheint sich die Verkaufsform der Selbstbedienung selbst zu erklären: „Unter Selbstbedienung verstehen wir jenes System im Detailhandel, bei welchem der Käufer ohne die Anwesenheit eines Verkäufers die gewünschte Ware selbst auswählt und zu sich nimmt und mit einer Verkaufsperson erst und lediglich dann in Berührung kommt, wenn er seine Auswahl abgeschlossen hat und den seinem Einkauf entsprechenden Preis erlegt.“23
Versucht man jedoch eine detaillierte Beschreibung des Verkaufsprinzips sowie seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Implikationen vorzunehmen, erhält man schnell den Eindruck, dass sich zwar bestimmte Grundprinzipien hinsichtlich der Funktionsweise der Selbstbedienung erkennen lassen, dass deren Nutzung und Interpretation aber eng mit den soziokulturellen und ökonomischen Bedingungen eines spezifischen historischen Kontextes verbunden sind. So spielten neben wirtschaftlichen und finanziellen Überlegungen psychologische und soziale Aspekte eine ent 23
Stehlin, Hanspeter: Der Wandel des Verkaufssystems im Detailhandel unter besonderer Berücksichtigung der Selbstbedienung, Basel 1955, S. 17. Ebenso Gurtner, Willy: Der Selbstbedienungsladen. Eine betriebswirtschaftliche Untersuchung, Bern 1958, S. 5.
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scheidende Rolle bei der Rationalisierung des Verkaufs. Im nachfolgenden Abschnitt soll deshalb einerseits versucht werden die organisatorischen und technischen Grundlagen der Selbstbedienung zu skizzieren. Andererseits geht es um zentrale Kontexte und Bedeutungsfelder der Selbstbedienung im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und konsumgesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert, die für die Studie ausschlaggebend sind. Die traditionelle Verkaufsform für Lebensmittel, die den unmittelbaren Anknüpfungspunkt für die Selbstbedienung darstellte, war das Bedienungsgeschäft. Der Kunde betrat den Laden und stellte sich in die Warteschlange, bis er an der Theke an der Reihe war. Auf der anderen Seite des Ladentisches stand das Verkaufspersonal, das die Ware zum Teil vom Lager bis in die Hände des Käufers begleitete: der Verkäufer nahm das nachgefragte Produkt aus dem Regal, wog oder zählte die gewünschte Menge ab und verpackte die lose Ware. Anschließend errechnete er den entsprechenden Preis und kassierte den zu bezahlenden Betrag. Dann erst händigte er dem Kunden seinen Einkauf aus. Entgegen dieses Ablaufes stellte die Selbstbedienung eine Bündelung von Rationalisierungsmaßnahmen dar, die an der Vielzahl dieser Teilaspekte anknüpfen und Verkäufer wie Käufer einbeziehen musste.24 Die neuen Anforderungen der Massenproduktion und der sich entwickelnden Massenkonsumgesellschaft an die Warenverteilung problematisierten die Tradition des Bedienungsprinzips und dessen Effektivität für den Lebensmittelabsatz. Gleichzeitig eröffnete das System der Selbstbedienung neue Lösungsmöglichkeiten für dessen Rationalisierung. Ihren Ausdruck fand diese Entwicklung in den zeitgenössischen Dokumenten, in denen die „moderne“, „neue“ und „fortschrittliche“ Verkaufsform der Selbstbedienung dem „alten“, „traditionellen“ Bedienungsprinzip gegenübergestellt wurde. Das konkrete wirtschaftliche Ziel des Verkaufs in Selbstbedienung war die Steigerung der Produktivität des Einzelhandels, d. h. es sollte mehr Ware in kürzerer Zeit zu niedrigeren Kosten an den Endverbraucher abgesetzt werden. Zu diesem Zweck waren verschiedene Aspekte der Rationalisierung und die entsprechenden Mittel zur Ertragssteigerung und Kostensenkung eng miteinander verzahnt. Erstens sollte ein möglichst hoher Warenumschlag sowohl in Bezug auf die Fläche als auch die Verkaufsangestellten erzielt werden. Neben den Lagerhaltungskosten bildeten die Personalkosten 24
Vgl. Andersen, Arne: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M. 1997, S. 57; Brändli 2000, S. 59; Scarpellini 2004, S. 661.
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den größten Kostenfaktor.25 Der Wunsch nach Einsparung von Lohnkosten und Zeitaufwand pro verkauften Artikel, letzteres auch in Bezug auf die Einkaufszeit des Kunden, stellte Anforderungen an die Warendistribution, die nicht wie in der Produktion auf rein maschinellem und technischem Weg zu lösen waren. Vielmehr lag das Hauptaugenmerk zunächst auf der organisatorischen Umstrukturierung: es kam zur Einschaltung des Kunden in den Verkaufsvorgang, der einen Teil der Aufgaben des Verkäufers selbst übernahm.26 Eine Ausnahme war in diesem Zusammenhang die „totale Selbstbedienung“ an Verkaufsautomaten, deren Funktionsweise grundlegend von technischen Entwicklungen abhing. Der automatische Verkauf soll in der vorliegenden Studie allerdings nicht thematisiert werden, da er unabhängig von der Einführung der Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel einen eigenständigen und komplexen Entwicklungsprozess umfasste, der bereits im 19. Jahrhundert einsetzte.27 Die Anwendung des arbeitsteiligen Prinzips im Ladengeschäft äußerte sich neben der Neuorganisation der Kundenrolle in der Differenzierung fester Funktionen für die Einzelhandelsangestellten in Form von Verkaufspersonal, Kassierer, Lager- und Buchhaltungspersonal. Damit nahm gleichzeitig die Nachfrage nach Arbeitskräften mit umfassenden durchschnittlichen Kenntnissen ab und es wurde ein breiteres Spektrum an hoch- bzw. niedrigqualifiziertem Personal notwendig.28 Die Dezentralisation des Kaufund Verkaufsvorgangs mit dem Ziel der Rationalisierung schlug sich allerdings nicht nur in Funktionsverlagerungen innerhalb des Einzelhandelsgeschäftes nieder, sondern auch in der Auslagerung einer Reihe von Aufgaben aus dem konkreten Verkaufsvorgang und dem Einzelhandelsgeschäft an sich.29 Anhand der Verschiebung des Verpackens der Ware auf die Herstel
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Vgl. Scholten 2004, S. 168. Vgl. Charvat, Frank J.: Supermarketing, New York 1961, S. 116, HDE: Arbeitsbericht 1952, S. 39, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Schulz-Klingauf, Hans-Viktor: Selbstbedienung: der neue Weg zum Kunden, Düsseldorf 1960, S. 17, Schucht, Fritz: Die Umstellung von Einzelläden des Lebensmittelhandels auf Selbstbedienung, Köln, Opladen 1956, S. 21. Vgl. zur Geschichte des Automatenverkaufs: Epple, Angelika: Self-Service and the Polycentric Early History of Slot Machines, in: Jessen, Ralph; Langer, Lydia (Hg.): Transformations of Retailing in Europe after 1945, Farnham, Surrey u. a. 2012, S. 103-114. Ditt 2003, S. 350f.; OECD 1973, S. 25; Wald, Renate: Verkaufen - eine Dienstleistung im Strukturwandel, Frankfurt a. M. u. a. 1985, S. 11. Vgl. zu den Funktionsverlagerungen: Selbstbedienung 7/1957/ 58, S. 6f.: Wickern, Joseph: Die Selbstbedienung – eine Revolution?, in: Selbstbedienung 1/1957/58, S. 2f.
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lerebene wurde besonders deutlich, wie weit die Selbstbedienung Konsequenzen in allen Bereichen der Konsumgüterproduktion nach sich zog: „Die industrielle Massenproduktion erfordert eine Vertriebsform für Erzeugnisse großer Serien, und andererseits erfordert die Selbstbedienung als Massenvertriebsform die Serienproduktion dort, wo sie bisher nicht üblich war. Die Verlagerung der Warenmanipulation durch Selbstbedienung von der Theke des Einzelhändlers in die Produktions- und Verpackungsräume der Industrie ist Ausdruck der Technisierung des Warenvertriebs.“30
Das Zitat verweist neben der räumlichen und personalen Trennung der einzelnen Arbeitsschritte zur Fertigstellung der Waren für den Verkauf auf die Technisierung als einen integralen Aspekt von Rationalisierung an, der mit der zunehmenden Verbreitung und Entwicklung der Selbstbedienung auch für den Einzelhandel an Bedeutung gewann, wie z. B. mit automatischen Kassensystemen, Preisauszeichnungsmaschinen, Einkaufswagen usw.31 Die skizzierten effizienzsteigernden Maßnahmen im Vertriebswesen hatten nicht nur entscheidende Auswirkungen auf Hersteller und Kunden, sondern waren stark eingebunden in den gesamten Kreislauf zwischen Massenproduktion und Massenkonsumtion. Dabei ist der ökonomisch rationalisierende Impetus mit seiner quantitativen Steigerung der abzusetzenden Warenmenge bei gleichzeitiger Kostensenkung nur ein entscheidender Teilaspekt der Selbstbedienung. Erstens ist zu berücksichtigen, dass zeitgleich mit der Umstellung der Vertriebsformen eine Reihe weiterer Modifikationen im Einzelhandel, der Industrie sowie in der Lebensweise und den Praktiken der Konsumenten stattfand, die weit über die Neuerungen im Verkaufswesen hinausgingen, aber in enger Wechselwirkung miteinander standen. Dazu zählten die steigende Mobilität und der höhere Lebensstandard der Bevölkerung, aber auch die zunehmende Produktion von verpackten, vorbereiteten Lebensmitteln. Zweitens ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das Einzelhandelsgeschäft neben seiner wirtschaftlichen Verteilerfunktion immer auch als einen sozialen und kulturellen Ort darstellt, an dem die spezialisierte Massenproduktion und der differenzierte Massenverbrauch in einen 30
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Henksmeier, Karl Heinz: Die wirtschaftlichen Leistungen der Selbstbedienung in Europa. Untersuchung der Europäischen Produktivitätszentrale der OEEC, Köln 1961, S. 10. Vgl. Jefferys, Hausberger, Linblad 1954, S. 9; Wickern, Joseph: Die Selbstbedienung – eine Revolution?, in: Selbstbedienung 1/1957/58, S. 2; Winter, Gerhard: Rationalisierung und deren soziale Auswirkungen im Einzelhandel – kundenorientierte Dienstleistungen als Chance, Stuttgart 2005, S. 35f.
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konkreten Austausch treten. Die entscheidende Aufgabe der Massendistribution besteht in diesem Zusammenhang darin, die entsprechende Kaufatmosphäre für die Konsumgesellschaft zu schaffen.32 Ein zentraler Bestandteil dessen war nicht nur ein präzise auf die Nachfrage der Konsumenten abgestimmtes Angebot, sondern darüber hinaus auch die Schaffung neuer Bedürfnisse. Angesichts dieser Ansprüche des Massenabsatzes stellt der so genannte Impulskauf, d. h. die ungeplante spontane Entscheidung für den Kauf eines Produktes, das entscheidende Element im Verkaufsvorgang der Selbstbedienung dar.33 Viele Autoren sahen im spontanen Kauf, der durch den unmittelbaren Kontakt mit der Ware ausgelöst wurde, die eigentliche Neuheit der Selbstbedienung.34 In den 1950er Jahren war man der Meinung, dass mindestens 50 Prozent des Umsatzes durch Impulskäufe zustande kamen.35 Bereits im ersten Selbstbedienungsladen 1916 soll dieses Prinzip seine Wirksamkeit gezeigt haben: „Er [Clarence Saunders] hatte Erfolg, weil…er wußte, daß seinen Kunden ‚ihre Ware‘ sehen, in die Hand nehmen und prüfen wollten. Er wußte, daß die Augen der Kunden größer waren als ihre Mägen und ihre Wünsche größer als ihr Portemonnaie. Er wußte, daß die Leute mehr kaufen, wenn man ihnen die Illusion gibt, etwas umsonst zu bekommen… und dann würde er an der Kassenstelle dafür sorgen, daß für die Erfüllung der Wünsche auch bezahlt wird.“36
Alle wirtschaftlichen, soziokulturellen und psychologischen Überlegungen zur Funktionsweise der Selbstbedienung als Instrument des Massenabsatzes beruhten auf einer fundamentalen materiellen Umgestaltung der Läden und 32
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Vgl. Priess, Friedrich: Aufstrebender Handel, Köln 1961, S. 42; Schreiterer, Gerhard: Erfolge und Probleme der Handelsrationalisierung nach dem Kriege, Köln 1955, S. 16. Hisam 1964, S. 69; Schreiterer, Gerhard: Betriebsformen und Betriebsprobleme des Einzelhandels in Schweden. Eindrücke einer Studienreise nach Schweden im Mai 1951, Düsseldorf 1951, S. 12; Schulz-Klingauf 1960, S. 242; Treichel, Peter: Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel, Köln 1965, S. 42f. Vgl. Gerhard, Herbert, Selbstbedienung und Selbstwahl. Ein ausführlicher Leitfaden für das neue Verkaufssystem, Zürich 1956, S. 9; Henksmeier, Karl-Heinz, Die wirtschaftlichen Leistungen der Selbstbedienung in Europa, Köln 1961, S. 9; Priess 1961, S. 31; Schucht 1956, S. 9; Stehlin 1955, S. 17. Vgl. Mehr leisten durch Selbstbedienung, in: Edeka-Rundschau, 18/19/1959. „Die Entwicklung der modernen Verkaufs-Methoden im amerikanischen Einzelhandel“, MVM (Moderne Verkaufsmethoden) Infomappe, ca. 1958, S. 11f., BWA F36/24. Die spezifische Wirkung des unmittelbaren Kontaktes des Kunden mit der Ware hatten auch bereits die Warenhäuser mit ihren offenen Auslagen in verschiedenen Abteilungen genutzt. Allerdings blieb es dort beim Sichtkontakt mit der Ware, berührt, ausgewählt und ausgehändigt wurden die Produkte weiterhin von den Verkaufsangestellten.
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der Umstrukturierung der sozialen Beziehungen zwischen Kunde und Verkäufer. Die Prinzipien der Ladeneinrichtung und -gestaltung sowie die Warenpräsentation orientierten sich gleichermaßen an organisatorischen und technischen Aspekten wie an ästhetischen Kriterien. Die Größe der Selbstbedienungsgeschäfte konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Während man in der Frühphase der Selbstbedienung – in den USA in den 1920er Jahren und in Europa in den frühen 1950er Jahren – die Meinung vertrat, dass sich die Mindestgröße eines Selbstbedienungsladens zwischen 50 und 150 m2 zu bewegen habe, umfassten die auf dem Prinzip der Selbstbedienung basierenden Supermärkte eine Größe von über 400 m2.37 Der Selbstbedienungsladen benötigte grundsätzlich eine größere Grundfläche als der Bedienungsladen, um die Bewegungsfreiheit der Kunden und die Sichtbarkeit aller Waren zu gewährleisten. An den Ladenplänen und sonstigen Ratschlägen zur Einrichtung lassen sich bestimmte gemeinsame Grundkonstanten der Raumaufteilung erkennen: ein getrennter Eingang und Ausgang sowie der zentrale Kassenbereich vor dem Ausgang. Die Inneneinrichtung des Selbstbedienungsladens unterschied sich vom Bedienungsladen in erster Linie durch den Wegfall der Ladentische und Bedientheken mit den dahinter befindlichen Schränken, Schubladen und Säcken, an deren Stelle für den Kunden frei zugängliche Regale traten. Während der Bedienungsladen einen zweigeteilten Raum darstellte, präsentierte sich der Selbstbedienungsladen als ein ungeteilter Raum. Nicht nur die Positionierung der Waren, sondern auch die Qualität des Angebotes und der Präsentation veränderte sich im Selbstbedienungsladen.38 Um die selbständige Auswahl der Produkte durch den Konsumenten zu ermöglichen, war es Voraussetzung, dass diese bereits vorverpackt im Regal standen. Die Verpackung schützte die Ware. Da das Verkaufsgespräch weitgehend entfiel, diente sie gleichzeitig als Informationsträger und zielte darauf ab, mit ihrer ästhetischen Gestaltung den Kunden von selbst zum Griff ins Regal bewegen. Entsprechend waren standardisierte Produkte v. a. in Form der Markenartikel wichtige Wegbereiter der Selbstbedienung. Während der Kunde im Bedienungsladen vor der Theke stand, die ihn von den Produkten trennte und nur auf die gewünschten Waren zeigte, welche die Verkäuferin aus dem Regal nahm, vollzog er im Selbstbedienungsladen den unvermittelten „Kontaktkauf“.39 Die Verkäuferin verschwand jedoch nicht
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Schucht 1956, S. 15; Zur Entwicklung der Selbstbedienung, in: Fachblatt SB 8/1958, S. 5f., hier S. 6. Brändli 2000, S. 15; Wildt 1996, S. 149. Schreiterer 1951, S. 12; Schucht 1956, S. 9.
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vollkommen aus dem Selbstbedienungsladen, sondern stand dem Kunden auf Wunsch beratend zur Seite. Dennoch hatte die veränderte Konstellation zwischen Käufer, Ware und Verkäufer entscheidende Auswirkungen auf das zwischenmenschliche Verhältnis im Lebensmittelgeschäft. Gleichzeitig eröffnete die Selbstbedienung den Akteuren neue Handlungsfelder, so dass auch eine Umstrukturierung der mit dem bestehenden Verkaufssystem verknüpften Wissensbestände erforderlich war. Sowohl die materiellen als auch die soziokulturellen Veränderungen müssen als Wandlungs- und Lernprozesse verstanden werden, in der die Selbstbedienung sowie die auf ihr aufbauenden Vertriebsformen einer allmählichen historischen Entwicklung unterlagen. So wurde in den 1920er Jahren in den USA und in den 1950er Jahren in Europa ein Geschäft auch dann als Selbstbedienungsladen verstanden, wenn es über eine Bedienungstheke verfügte. Denn v. a. so genannte Frischwaren wie Fleisch und Wurst, Obst und Gemüse, Käse und Feinkostartikel wurden während der Anfangszeit noch an der klassischen Theke verkauft.40 Ihr Vertrieb im Rahmen der Selbstbedienung gestaltete sich schwierig, weil sie angesichts des ungelösten Problems der Verpackung und der Hygiene erst im Geschäft verpackt wurden und der Kunde sie dann weiterhin über den Ladentisch hinweg erwarb. Neben den beiden Grundtypen gab es einige Zwischenformen wie den konsumgenossenschaftlichen „Tempo-Laden“ oder den Teilselbstbedienungsladen, die beide Verkaufssysteme in unterschiedlicher Weise miteinander kombinierten.41 Auf diese speziellen Geschäftstypen wird im Kapitel IV. 1. genauer eingegangen. Nach der experimentellen Phase der Umstellung der Geschäfte von Bedienung auf Selbstbedienung sowie der Konsolidierung und flächendeckenden Verbreitung der Verkaufsform sprach man immer seltener vom Selbstbedienungsladen an sich. Stattdessen tauchten Bezeichnungen wie Supermarkt, Discounter, Verbraucher und SB-Warenhaus auf. Die Grundprinzipien blieben aber substantiell gleich. Gleichwohl entfalteten und differenzierten sich in ihnen die in der Selbstbedienung angelegten Tendenzen zur Rationalisierung des Verkaufs. „Das in diesem Zusammenhang zu beobachtende Wachstum der Geschäftsfläche, Sortimente und Unternehmensgröße stand unter den Vorzeichen einer immer „effizienteren“ Massendistribution zur Befriedigung eines immer differenzierten Bedarfs und einer hochspezialisierten Konsumgüterproduktion.42
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Schucht 1956, S. 7; Schulz-Klingauf 1960, S. 17: Was ist ein Selbstbedienungsladen?, in: Selbstbedienung 1/1957/58, S. 20f. Vgl. Scholten 2004, S. 176.
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3. Zur Geschichte des Einzelhandels 3.1 Die Zeit der Weimarer Republik 3.1.1 Die sozioökonomische Lage des Einzelhandels Lyndall Urwick stellte 1931 in einer vergleichenden Studie zwischen den USA und Europa fest, dass die europäischen Länder durch den Ersten Weltkrieg in der Entwicklung ihres Produktions- und Distributionswesens in organisatorischer, personeller und materieller Hinsicht entscheidend beeinträchtigt wurden.43 Zunehmende staatliche Regulierung schränkte den freien Markt v. a. nach 1915 in Form von Höchstpreisen, Rationierung, Beschlagnahmung von Gütern und dem Aufbau staatlich gelenkter Absatzkanäle ein. Dem Handel oblag es dabei, die entsprechenden Vorgaben in die Praxis umzusetzen und an die Kunden zu kommunizieren. Dies beschnitt ihn in seiner eigentlichen ökonomischen Tätigkeit: er übernahm eine reine Verteilerfunktion, die unter dem Primat der Beschaffung von Waren stand.44 Davon erholte sich der Handel erst, nachdem sich die Währung zwischen 1924 und 1929 stabilisierte.45 Längerfristige Schwierigkeiten ergaben sich für das Verhältnis zwischen Handel und Konsumenten. Seitens der Bevölkerung und der Politik wurden die Probleme der Mangelversorgung stark auf den Einzelhandel projiziert, auch wenn dieser nicht immer unmittelbar über Einfluss darauf verfügte. Bis in die 1920er Jahre gab es Kritik für die mangelhafte Erfüllung der Verteileraufgabe gegenüber der Gemeinschaft und Klagen über die Zunahme 43
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Urwick, Lyndall: Europe – United States of America, vol. 5. Trends in the organization and methods of distribution in the two areas. joint report by Lyndall Urwick for Europe and a special sub-committee for the United States, Paris 1931, S. 52. Vgl. Kruse, Wolfgang: Krieg und Krise: Die Ausschaltung des freien Handels während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, S. 181-189; Spiekermann, Uwe: Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum ECommerce, Bramsche 2000, S. 191-210, hier S. 191. Zur Einschätzung der Folgen des Krieges in den Quellen: Fischer, R. J.: Der mittelständische Handel vor seinem Untergang, Augsburg 1918, S. 3f; Hirsch, Julius: Deutsche und amerikanische Wirtschaftsmethoden im Einzelhandel, in: Effer, Franz (Hg.): Der deutsche Einzelhandel in Staat und Wirtschaft. Ein Bericht über die erste Tagung des deutschen Einzelhandels in Düsseldorf vom 3.-6. August 1926, Düsseldorf 1926, S. 74-90, hier S. 76-78. Spiekermann 2000, S. 192.
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der Distributionskosten.46 Zugleich sah sich der Einzelhandel angesichts der zunehmenden Warenmenge und der steigenden Reallöhne mit anspruchsvoller werdenden Konsumenten konfrontiert. Insgesamt boten die späten 1920er Jahre also durchaus Expansionsmöglichkeiten für den Sektor, der zwischen 1924 und 1929 einen Umsatzzuwachs von mehr als 50 Prozent verzeichnete.47 Allerdings war der Einzelhandel zu dieser Zeit nur in geringem Maße in Verbänden und anderen Zusammenschlüssen organisiert.48 1919 wurde zwar die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels (HDE) gegründet, die aber relativ wirkungslos blieb und bereits 1932 an der Debatte um eine Sondersteuer für die Großbetriebe scheiterte.49 Statt Interessensgemeinschaften zu bilden, transferierten die Einzelhändler ihre Wünsche und Unsicherheiten auf eine eher sozialpolitische Ebene. Seit der Jahrhundertwende wurde die Organisation in fachlichen Verbänden zunehmend durch eine politische Mobilisierung abgelöst.50 Auch wenn die Weltwirtschaftskrise nur relativ geringe negative Folgen für die deutschen Einzelhändler nach sich zog, reagierten diese ideologisch und politisch mit Panik auf die verschlechterte Gesamtsituation.51 Die Debatte drehte sich dabei um zwei zentrale Aspekte, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts relevant waren und auch später während der Zeit des Nationalsozialismus auf verschiedene Weise aufgegriffen wurden. Zum einen beklagte man in Fachkreisen die „Übersetzung“ des Einzelhandels, bei der nicht nur die quantitative Zunahme von Unternehmern Besorgnis erregte, sondern auch die steigende Zahl von nicht kaufmännisch ausgebildetem Personal.52 Zum anderen wurde den Großbetrieben, darunter v. a. den Fili
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Urwick 1931, S. 133. Die Forschung sieht in dem nach dem Krieg verlängerten Verkäufermarkt einen mangelnden Anreiz für Effizienz im Vertriebswesen. Kiehling, Hartmut: Einzelhandel und Konsum in Zeiten der Inflation 1920-23, in: Walter, Rolf (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.-26. April 2003 in Greifswald, Stuttgart 2004, S. 275-312, hier S. 287; Kruse 2000; Spiekermann 2000. Spiekermann 1997, S.83. Lebovics 1969, S. 28, 36; Spiekermann 1997, S. 89. Vgl. zur zeitgenössischen Beurteilung der Problematik: Baer, Kurt: Der Kampf gegen Grossbetriebe des Einzelhandels und die Volkswirtschaft, Jena 1932, S. 88-90; Fischer 1918, S. 4. Baer 1932, S. 8, 77, 79. Vgl. ausführlich zur Entwicklung des Verbandswesen und der politischen Mobilisierung des Einzelhandels vor dem Ersten Weltkrieg in der Forschung: Gellately 1974. Haupt 1985, S. 23. Ausführlich zur wirtschaftlichen Lage des Einzelhandels während der Inflation: Kiehling 2004. Gellately 1974, S. 210; Pfister 2000, S. 44f.; Spiekermann 1999, S. 416. Nach der abge-
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alunternehmen und Warenhäusern, eine Verdrängung des selbständigen Einzelhandels vorgeworfen.53 Diese Diskussion verband sich eng mit dem Selbstverständnis der selbständigen Kaufleute als Mittelstand, dem die Mehrzahl der Unternehmer entstammte. Die tradierte Haltung des mittelständischen Einzelhandels basierte auf den moralischen Vorstellungen Ehre und Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit, Arbeit und Sparsamkeit.54 Man grenzte sich als zentrale staats- und gesellschaftstragende Kraft sowohl von den rein nach Profit strebenden, anonymen Großbetrieben als auch von der Arbeiterschaft und der drohenden Proletarisierung des Einzelhandels ab.55 Dieser Standpunkt äußerte sich in dauerhaften Forderungen an den Staat um Förder- und Schutzmaßnahmen. Wie die Forschung für die Zeit vor 1918 gezeigt hat, gestaltete sich das Verhältnis zwischen Regierung und Mittelstand ambivalent: es war keineswegs von einer reinen „Erfüllungspolitik“ bestimmt, ebenso wenig wie es eine gezielte Förderpolitik zugunsten der Modernisierung von Kleinhandelsbetrieben gab.56 Auch die gesetzliche Verankerung der Förderung und des Schutzes des kommerziellen Mittelstandes im Artikel 164 der Weimarer Reichsverfassung wird in der rechtlichen Praxis als wenig wirkungsvoll beurteilt.57 Laut Gellately sollte der Schutz des Mittelstandes auf keinen Fall auf Kosten der Bevölkerung stattfinden und der Markt sich selbst überlassen werden.58 Die mittelständischen Einzelhändler zeigten kaum Bereitschaft, sich mit den neuen Anforderungen der Massenproduktion zu arrangieren. Große, häufig rationellere Organisationsformen wurden abgelehnt, so dass der Wettbewerb mit den bestehenden Großbetrieben ungleich und wenig effizient blieb. Die aus dem 19. Jahrhundert übernommene stark moralische Konnotation des Wettbewerbs dagegen spiegelte sich in Begriffen wie dem
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schlossenen Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit mit der Reichsgewerbeordnung 1869/72 war eine Vielzahl nicht kaufmännisch ausgebildeten und im Handelsbereich unerfahrenen Personals in die Branche eingedrungen. Diese Tendenz wurde nach dem Ersten Weltkrieg durch den Zustrom demobilisierter Soldaten, Bauern und Pensionäre verstärkt. Vgl. zu zeitgenössischen Meinungen zur „Übersetzung“: Effer, Franz: Mittelstand wird Stand. Einzelhandel und Handwerk im neuen Staat, Düsseldorf 1934, S. 9; Nell-Breuning, Otto von: Rationalisierung der Verteilung, Mönchen Gladbach 1930, S. 6. Hirsch 1926, S. 75. Vgl. zur bis in das 19. Jahrhundert zurückgehenden Tradition dieser Debatte für das Warenhaus: Briesen 2001. Haupt 1985, S. 8. Vgl. für Frankreich: Jones 1982, S. 543. Haupt 1985, S. 11; Spiekermann 2000, S. 428. Lebovics 1969, S. 13. Gellately 1974, S. 201.
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„unlauteren Wettbewerb“ wider.59 Der Schwerpunkt der Arbeit lag für die Mehrheit der Einzelhändler auf dem persönlichen Kundenkontakt sowie dessen individuellen Geschmack. Dahinter traten Kriterien ökonomischer Effizienz zurück.60 Zur selben Zeit spielte der Aspekt der Rationalisierung und Produktivitätssteigerung eine wichtige Rolle für andere Wirtschaftsbereiche, an denen sich der Handel zu einem geringen Teil in den späten 1920er Jahren, aber besonders nach 1945 orientierte. 3.1.2 Exkurs: Die Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre Die Diskussion über Rationalisierung und die damit verbundene Suche nach praktischen Umsetzungsmöglichkeiten in den 1920er Jahren beruhte auf der Einsicht weiter Kreise von Wirtschaft und Politik, dass an den bestehenden ökonomischen und v. a. industriellen Verhältnissen grundlegende Veränderungen vorgenommen werden müssten, um die Schäden des Ersten Weltkrieges, die technologische Rückständigkeit, die mangelnde Produktivität und die ökonomischen Wachstumsschwierigkeiten in Deutschland zu beseitigen. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung spricht man von Rationalisierung als einem amorphen Begriff, dem keine eindeutige Interpretation zuzuweisen ist, sondern dessen Eigenschaft vielmehr in seiner Elastizität liegt.61 Folgende Definition von Rationalisierung aus dem Jahr 1926 macht die allgemeine Bezugnahme auf wirtschaftliche Modernisierung und damit die Dehnbarkeit des Begriffs deutlich: „Rationalisierung ist die Anwendung aller Mittel, die Technik und planmäßige Ordnung bieten, zur Hebung der Wirtschaftlichkeit und damit zur Steigerung der Gütererzeugung, zu ihrer Verbilligung und auch zu ihrer Verbesserung.“62
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Vgl. Spiekermann 1999, S. 430. Baer 1932, S. 19; Grünfeld, Heinrich: Rationalisierung des Einzelhandels, in: Industrieund Handelskammer zu Berlin (Hg.): Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben, Berlin 1928, S. 295-317, hier S. 308. Vgl. Nolan 1994, S. 6. Zur Problematik der Unschärfe des Begriffs auch: WupperTewes, Hans: Rationalisierung als Normalisierung. Betriebswissenschaft und betriebliche Leistungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1995, S. 12f.; Vahrenkamp, Richard: Die Durchsetzung der Rationalisierung in Technik und Wirtschaft der Weimarer Republik, Kassel 1984, S. 1. Zu verschiedenen Bedeutungsfeldern von Rationalisierung auch: Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S.116-118. Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) (Hg.): Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit E.V. R.K.W., Berlin 1926, S. 3. Vgl. auch: Menz, Gerhard: Irrationales in der Ra-
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Der unscharfe Charakter des Konzeptes verweist weitergehend darauf, dass die Umsetzung von Rationalisierungsmaßnahmen – neben den unmittelbar betroffenen Produktions- und Organisationsfragen – soziale und kulturelle Befindlichkeiten, die den Zeitgenossen durchaus bewusst waren, weitreichend berührte.63 Darüber hinaus wurde mit dem Konzept der Rationalisierung eine Vielzahl von „Zuschreibungen, Sehnsüchten und Verschleierungen, die vom Alptraum des Krieges und der Inflation befreien sollten“ verknüpft.64 Die Forschung begreift Rationalisierung eher als ambivalentes Schlagwort wie z. B. in der Aussage Shearers: „it was a buzzword that contained both consensus and intense conflict about Germany’s economic recovery and prosperity after the war.”65 Hinter dem prinzipiellen Willen zur Rationalisierung standen konträre Vorstellungen und Interessen von privatwirtschaftlichen und staatlichen Positionen sowie von verschiedenen Akteuren des ökonomischen Sektors. Diese Meinungsverschiedenheiten gingen mit der Diskussion über Möglichkeiten, die sozialen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Intentionen des Staates mit der Entwicklung der ökonomischen Prosperität im privaten Sektor zu verbinden, einher.66 Zugleich drehte sich die Auseinandersetzung darum, die Begriffe „Modernität“ und „Fortschritt“ mit neuen Inhalten zu füllen. Shearer ist der Meinung, dass in dieser Frage ein ent 63
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tionalisierung. Mensch und Maschine, Breslau 1928, S. 248. Berghahn, Volker: Technology and the Export of Industrial Culture. Problems of the German-American Relationship 1900-1960, in: Mathias, Peter; Davis, John A. (Hg.): Innovation and Technology in Europe. From the Eighteenth Century to the Present Day, Cambridge 1991, S. 142-161, hier S. 147; Freyberg, Thomas von: Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik. Untersucht an Beispielen aus dem Maschinenbau und der Elektroindustrie, Frankfurt a. M., New York 1989, S. 304; Klautke, Egbert: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Stuttgart 2003, S. 190f.; Kleinschmidt, Christian: „Amerikanischer Plan“ und „deutscher Weg“. Technische Rationalisierung in der Rekonstruktionsphase nach dem Ersten Weltkrieg, dargestellt an Beispielen aus der Dortmunder Eisen- und Stahlindustrie, in: Dascher, Ottfried (Hg.): Die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder Raum. Wirtschaftliche Entwicklung, soziale Strukturen und technologischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 1992, S. 355-474, S. 355f.; Nolan 1994, S. 10; Wupper-Tewes 1995, S. 12f. Freyberg 1989, S. 312. Shearer, Ronald J., Talking about Efficiency: Politics and the Industrial Rationalization Movement in the Weimar Republic, in: Central European History, 28, 1995, H. 4, S. 483-506, hier S. 487. Vgl. auch Freyberg 1989, S. 305; Kleinschmidt 1992, S. 356. Zum zeitgenössischen Bezug auf Rationalisierung als „Schlagwort“ Vgl. Menz 1928, S. 248. Freyberg 1989, S. 288f.; Shearer 1995, S. 485.
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scheidendes Konfliktpotential zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Interessen lag und die Vertreter der Industrie die Weimarer Regierung in diesem Zusammenhang immer wieder als antimodern bzw. nicht fortschrittlich zu diskreditieren versuchten.67 Ein weiterer wichtiger Aspekt, der die inhaltliche Klärung der Rationalisierungsbewegung erschwert, ist der Unterschied zwischen der Diskussion über Rationalisierung und der tatsächlichen Anwendung von entsprechenden Methoden in der Praxis.68 Die Ebene der Diskussion prägte eine Vermischung von alltags- bzw. interessengeleiteter und wissenschaftlicher Argumentation.69 Parallel dazu zeichnete sich eine zunehmende Verwissenschaftlichung von wirtschaftlichen und technischen Fragen in Zusammenhang mit der Rationalisierung ab und es entstanden neue Fachrichtungen, wie z. B. die Betriebswirtschaft oder die industrielle Psychologie.70 Demzufolge wird der Zeitraum zwischen 1924 und 1929 als eigentliche Phase der Rationalisierung bezeichnet, wobei in der Forschung verschiedene Meinungen über die tatsächliche Wirksamkeit bestehen.71 Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit umfassten u. a. die Schließung unrentabler Betriebe, die Einführung neuer Technologien sowie die Spezialisierung, Normierung und Standardisierung der Produktionsabläufe.72 Ziel der Rationalisierung war, wie die oben zitierte Definition verdeutlicht, die Produktion zu verbessern und zu verbilligen.73 In einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext sollte sie darüber hinaus das wirtschaftliche Mittel zur Beförderung des gesellschaftlichen Allgemeinwohls sein.74
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Shearer 1995, S. 486, 502; Nolan 1994, S. 131. Vgl. Shearer 1995, S. 484f. In diesem Sinne nimmt Wupper-Tewes eine Analyse der Debatte um die Rationalisierung und nicht ihrer substanziellen Inhalte vor. Vgl. Wupper-Tewes 1995, S. 13. Auch Vahrenkamp postuliert die methodische Differenzierung zwischen Debatte und praktischer Umsetzung. Vahrenkamp 1984, S. 23. Wupper-Tewes 1995, S. 13, 18. Vgl. Szöllösi-Janze 2004b, S. 282; Tanner, Jakob, Industrialisierung, Rationalisierung und Wandel des Konsum- und Geschmacksverhaltens im europäisch-amerikanischen Vergleich, in: Siegrist, Hannes u. a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997, S. 583-613, hier S. 586; Vahrenkamp 1984, S. 20f. Vgl. Wupper-Tewes 1995, S. 36. Ausführlicher zu konkreten Maßnahmen: Vahrenkamp 1984, S. 12ff. RKW 1926, S. 21, 49. Freyberg 1989, S. 302. Vgl. auch: Wala, Michael: Amerikanisierung und Überfremdungsängste: Amerikanische Technologie und Kultur in der Weimarer Republik, in: Wala, Michael (Hg.): Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 121-146, hier S. 123.
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Die hauptsächlichen Initiatoren der Rationalisierung waren Vertreter der Industrie, die sich in Arbeitsgemeinschaften und Ausschüssen zusammenschlossen.75 1921 wurde das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk (RKW) gegründet, das sich als „Zentralstelle für alle Rationalisierungsarbeiten in Deutschland“76 verstand. Es setzte sich zusammen aus Repräsentanten von Industrie, Handel, Bankwesen und Verkehr, die Mitglieder kamen aber auch aus staatlichen Behörden, die jedoch keine exponierte Stellung innerhalb des Kuratoriums einnahmen.77 Die Einrichtung des RKW zielte auf eine konzentrierte und zentralisierte Zusammenarbeit der verschiedenen Wirtschaftsbereiche: „Zur Erreichung dieser Ziele werden in Gemeinschaftsarbeit aller interessierten Kreise einheitliche Regeln ermittelt und in derartige Form gebracht, daß in der Wirtschaft in weitem Umfange mit Leichtigkeit danach gearbeitet werden kann.“78
Das Zitat verweist auf den Schwerpunkt der Aktivitäten, der auf der Veröffentlichung und Verbreitung der Ergebnisse der einzelnen Arbeitssauschüsse lag, die in der Praxis zur verstärkten Übernahme von Rationalisierungsmaßnahmen beitragen sollten.79 Zu diesem Zweck wurden die „RKW Veröffentlichungen“ und die „RKW Nachrichten“ herausgegeben. Die deutsche Industrie orientierte sich bei der Entwicklung neuer Produktionsmodelle und Technologien stark an den USA, so dass sich eine enge Verknüpfung zwischen Rationalisierung und Amerikanisierung etablierte, wie sie beispielsweise die folgende zeitgenössische Aussage vermittelt:
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Nolan gibt für 1920 600 private Organisationen, 85 staatliche Abteilungen und 67 staatliche Forschungsinstitute an, die sich mit dem Thema Rationalisierung auseinandersetzten. Nolan 1994, S. 133. Die wichtigsten Förderstellen der Rationalisierung, die öffentliche Mittel bezogen, sind angegeben in: Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW): Handbuch der Rationalisierung, Berlin 1930, S. 6f. RKW 1926, S. 3. Trotzdem erreichte man nach einer Umstrukturierung im Jahr 1925 mit Hilfe des Reichswirtschaftsministeriums die Bewilligung eines staatlichen Zuschusses von 1,5 Millionen Mark durch den Reichstag, der aber 1930 gestrichen wurde. Shearer, Ronald J., The Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit: Fordism and Organized Capitalism in Germany, 1918-1945, in: Business History Review, 71, 1997, H. 4, S. 569-602, hier S. 587; Nolan 1994, S. 134. Im Zuge der Umstrukturierung nahm man den Zusatz „in Industrie und Handwerk“ aus dem Titel, um den Anspruch zu betonen, dass man sich mit der Rationalisierung in allen wirtschaftlichen Bereichen beschäftigte. Vgl. RKW 1926, S. 24. RKW 1926, S. 17. Vgl. RKW 1926, S. 3, 18.
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„Wir sollen die Vorteile des anderen versuchen, nicht in ihren Erscheinungen, sondern in ihren Ausgangspunkten zu erkennen und prüfen, wieweit wir aus ihnen für unsere Verhältnisse Vorteile zu ziehen imstande sind. Beim Studium der wirtschaftlichen Verhältnisse in Amerika finden wir, daß jedes Streben auf der Erkenntnis aufgebaut ist, daß das Leben für alle nur dann verbessert werden kann, wenn die Produktion des einzelnen im Durchschnitt genommen erhöht wird.“80
Es wird deutlich, dass die Suche nach Lösungsmöglichkeiten für die heimischen Probleme dabei nicht auf die bloße Imitation der US-amerikanischen Methoden zielte, sondern auf die Erforschung der Grundprinzipien der Wirtschaft, die nach einer Prüfung der Anpassungsmöglichkeiten an die deutschen Verhältnisse partiell eingeführt werden konnten. Der Transfer von wirtschaftlichem und technologischem Wissen, der auf der Grundlage des US-amerikanischen Entwicklungsvorsprungs und des deutschen Nachholbedarfs vollzogen wurde, war also zielbewusst und selektiv.81 Der Kontakt zu den USA entstand auf Studienreisen, die deutsche Akademiker, Ingenieure und Unternehmer bereits vor dem Ersten Weltkrieg unternommen hatten. Seit Beginn der 1920er Jahre erhielten sie eine neue Qualität, da sie an konkrete Vorstellungen über die Lösung wirtschaftlicher Probleme gekoppelt waren.82 Taylorismus und Fordismus stellten die beiden zentralen technologischen und betriebswirtschaftlichen Neuerungen dar, die im Fokus der deutschen Aufmerksamkeit standen, wobei die Forschung einen erheblichen Unterschied in der Rezeption und in der tatsächlichen Adaption der Modelle festgehalten hat.83 Frederick Taylors neue Vorstellungen zur Organisation der Produktion auf wissenschaftlicher Grundlage unter dem Begriff des
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RKW 1926, S. 22. Vgl. zu diesem Zusammenhang in der Forschung: Nolan 1994, S. 71; Schröter, Harm G.: „Nicht kopieren, sondern kapieren!“. Amerikanisierung als institutioneller Wandel in der europäischen Wirtschaft, in: Ellerbrock, Karl-Peter; Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 132-153 (nachfolgend Schröter 2004a), hier S. 137. Vgl. Nolan 1994, S. 9. Nolan 1994, S. 17. Kleinschmidt und Welskopp setzen das Entstehen der fachspezifischen Studienreise zu diesem Zweck für das Beispiel der deutschen Eisen- und Stahlindustrie dagegen bereits am Ende des 19. Jahrhunderts an. Welskopp, Kleinschmidt 1994, S. 73. Bührer, Werner: Auf eigenem Weg. Reaktionen deutscher Unternehmer auf den Amerikanisierungsdruck, in: Bude, Heinz; Greiner, Bernd (Hg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 181-201, hier S. 183; Welskopp, Kleinschmidt 1994, S. 87.
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Scientific Management gelangten bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland. Zur Förderung der betrieblichen Rationalisierung ließ er seit Ende des 19. Jahrhunderts Zeitstudien durchführen, führte Prämienlohnsysteme ein und entwickelte neue, wissenschaftlich begründete Arbeits- und Bewegungsabläufe zur Steigerung der Leistung der Arbeiter.84 Der Fordismus kombinierte Massenproduktion in Fließbandarbeit mit sozialen Maßnahmen in Form von Lohnerhöhungen und Preissenkungen bei den Konsumgütern. Massenwohlbefinden und allgemeiner Wohlstand wurden zum eigentlichen Ziel der kapitalistischen Produktion erhoben.85 Der Fordismus war somit ein „sozialtechnologisches“ Konzept, das sowohl auf die Rationalisierung und Optimierung wirtschaftlicher als auch gesellschaftlicher Strukturen abzielte.86 Tiefe Ambivalenzen prägten die Auseinandersetzung mit dem USamerikanischen Weg der Rationalisierung. Einerseits stellte er ein erfolgreiches und verheißungsvolles Modell dar. Andererseits war die Beobachtung der US-amerikanischen Verhältnisse auch von Unsicherheit und Ablehnung gegenüber den möglichen Auswirkungen der Transferprozesse auf die soziale und kulturelle Situation in Deutschland begleitet.87 Die Abneigung richtete sich dabei allgemein gegen Technisierung und Automatisierung des menschlichen Lebens und die vermeintlichen Folgen des Massenkonsums, der sich in der Uniformität des Lebensstils und den Konsumgewohnheiten äußern würde. Sie spiegelte damit auch eigene „Modernitätsängste“ wider.88 In diesem Zusammenhang zeigt die Reichweite der Problematisierung einer möglichen Amerikanisierung Deutschlands, wie stark mit der Rationalisierung eine Wirkung über die Produktion bzw. den Wirtschaftssektor hinaus verbunden war. 84
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Ausführlich zu Taylorismus und Fordismus: König, Wolfgang, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, S. 37ff.; Klautke 2003, S. 61-86; 183-213; Nolan 1994, S. 30ff.; Unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs mit der Entwicklung der Betriebswissenschaft: Wupper-Tewes 1995, S. 51ff. Zum einen sollte sich die Masse als Konsument angesprochen fühlen, der von der Preisverringerung profitieren sollte. Zum anderen wurde an die Masse als Lohnempfänger appelliert, deren gestiegene Kaufkraft auf der Grundlage höherer Löhne die Absatzsteigerung bewirkte. Confino, Koshar 2001, S. 138. Vgl. auch die Grafik von Freyberg: Freyberg 1989, S. 316. Doering-Manteuffel, Anselm: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte, 35, 1995, S. 1-34, hier S. 4. Vgl. Nolan 1994, S. 10, 58, 72. Wala 2000, S. 121. Vgl. auch: Gassert, Philipp: Amerika im Dritten Reich: Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933-1945, Stuttgart 1997, S. 12f.; Peukert 1987, S. 179; Shearer 1997, S. 597f.
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3.1.3 Rationalisierung im Einzelhandel Die öffentliche Debatte und die praktische Umsetzung der Rationalisierung in den 1920er Jahren lassen eine eindeutige Konzentration auf die Industrie erkennen, wohingegen beim Handel immer wieder betont wurde, dass die Entwicklung hier erst am Anfang stehe.89 Nach dem Zweiten Weltkrieg war man rückblickend der Meinung, dass die Rationalisierung des Distributionswesens in der Zwischenkriegszeit aufgrund der schlechten wirtschaftlichen und finanziellen Lage sowie des kurzen Zeitraums zwischen den beiden Kriegen und der Weltwirtschaftskrise keine entscheidenden Fortschritte gemacht habe.90 Im steigenden Kosten- und Leistungsdruck sowie in der anhaltend schlechten Lage der Kreditvergabe sieht auch die Forschung ein zentrales Hindernis für Modernisierungsbestrebungen der Einzelhändler.91 Als weiterer erschwerender Umstand für eine einheitliche und durchgreifende Rationalisierung im Handel kam – laut den Quellen – die kleinbetriebliche Organisationsstruktur hinzu, da 92 Prozent der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter hatten.92 Darüber hinaus verweisen die Quellen daraus, dass eine Vielzahl der Einzelhändler das Aufbrechen der persönlichen Beziehung zwischen Kunden und Händler zum zentralen Problem von Modernisierung machte.93 Allerdings muss festgehalten werden, dass der Einzelhandel durchaus auf der Grundlage eines bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges ausgebildeten „hochdifferenzierten Distributionssystem[s]“ arbeitete.94 Darüber hinaus kam es auch in der Zwischenkriegszeit zu einer Reihe von Ra
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RKW 1930, S. 779, 794; Nell-Breuning 1930, S. 1; Tietz, Alfred Leonhard: Rationalisierung des Detailhandels, in: Wege zur Rationalisierung. Sonderabdruck aus der Frankfurter Zeitung, Frankfurt a. M. 1927, S. 31-36, hier S. 31. Nieschlag, Robert: Strukturwandlungen im Handel, in: König, Heinz (Hg.): Wandlungen der Wirtschaftsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1962, S. 493-524, hier S. 497; Schreiterer 1955, S. 55. Vgl. auch die These Abelshausers von der „unvollendeten Rekonstruktion“ im industriellen Sektor: Abelshauser, Werner: Wirtschaftsablauf, Gesellschaft, Politik. Die Konjunktur als Bedingungsrahmen und Erklärungsansatz der Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Frese, Matthias (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert: regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 743-753, hier S. 749. Vgl. Gellately 1974, S. 204; Spiekermann 1997, S. 84f. RKW 1930, S. 774; Lieberich, Rudolf: Fragen der Rationalisierung im Einzelhandel, Landau 1931, S. 11. Vgl. Lieberich 1931, S. 11. Spiekermann dagegen ist der Meinung, dass v. a. in den Mittel- und Großstädten die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer keineswegs mehr so eng gewesen sei. Spiekermann 2000, S. 195. Spiekermann 1999, S. 14. Vgl. auch die Studie von Pfister 2000.
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tionalisierungsmaßnahmen, die sich allerdings weniger auf den Verkauf, als vielmehr auf die betrieblich-organisatorische Struktur der Einzelhandelsunternehmen bezogen.95 Entscheidend für die im Nachhinein als mangelhaft bewertete Modernisierung des Einzelhandels vor 1945 ist neben den oben genannten Bedingungen meines Erachtens, dass sich die Vorstellung eines umfassenden Massenvertriebs als Antwort auf die Anforderungen von Massenproduktion und Massenkonsum noch nicht durchgesetzt hatte. Ein Grund dafür war der grundsätzlich bis dato ungeklärte sozial- und wirtschaftspolitische Stellenwert des Massenkonsums in Deutschland, der sich im Nebeneinander ambivalenter, häufig von soziokulturellen Ressentiments geprägter Standpunkte äußerte. In der Forschung wird die Zeit der Weimarer Republik trotz der wirtschaftlich prekären Lage im Anschluss an den Krieg als eine der ersten, stark begrenzten, aber trotzdem großen Bewegungen in Richtung Massenkonsum eingeschätzt, die sich durch einschneidende Veränderungen der Konsumgewohnheiten auszeichnete.96 Die zeitgenössischen Befürworter und Förderer dieser Entwicklung stellten die Verbindung zwischen rationalisierter Massenproduktion und der Anhebung von Kaufkraft und Wohlstand ins Zentrum ihrer Überlegungen, die nach US-amerikanischem Vorbild darauf abzielte, die Nachfrage durch den Anstieg der Löhne zu fördern. Dieser Meinung stand eine Reihe von unterschiedlich motivierten Positionen entgegen. Eine prominente Stellung nahmen z. B. die Konsumgenossenschaften ein, die Konsum unter den Vorzeichen stabiler Bedürfnisse und einer Bedarfsdeckungswirtschaft sahen.97 Andere unternehmerische Akteure propagierten das Gegenmodell einer angebotsorientierten Wirtschaft mit niedrigen Löhnen und stabilen Preisen.98 Nolan konstatiert eine bewusste Ablehnung der Förderung des Massenkonsums durch die Vertreter der Industrie, die im Rationalisierungsdiskurs der Weimarer Republik tonange
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Auch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lag laut Spiekermann der Schwerpunkt auf betrieblichen Innovationen. Spiekermann 1999, S. 417. Vgl. auch: Berger, Sylvia: Entwicklung und heutige Situation der Cornelius Stüssgen AG, in: Eckardstein, Dudo von; Bäurle, Rolf; Nieschlag, Robert (Hg.): Der Filialbetrieb als System. Das CorneliusStüssgen-Modell, Köln 1972, S. 25-40, hier S. 29; Wald 1985, S. 68. Confino, Koshar 2001, S. 136; Peukert 1987, S. 175-178. Zu einer bereits ähnlichen Einschätzung in den Quellen: Urwick 1931, S. 55. Vgl. Nolan 1994, S. 10, 51, 55, 118; Nolan, Mary: America in the German Imagination, in: Fehrenbach, Heide; Poiger, Uta (Hg.): Transactions, transgressions, transformations. American culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. 3-25, hier S. 14f.; Torp 2006. Torp 2006, S. 58.
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bend waren.99 So stellte Lyndall Urwick bereits 1931 unter dem Motto „The demand is there“ fest, dass weniger der nationale Traditionalismus im Bereich des Konsums den steigenden Wohlstand in Europa behindere, sondern dass dieser vielmehr endlich in einer adäquaten Konsumorientierung von Staat und Wirtschaft umgesetzt werden müsse.100 Auch von Seiten des Handels und der Handelswissenschaften bestanden sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Massendistribution. Einige Fürsprecher, wie der Handelswissenschaftler Julius Hirsch, rekurrierten auf die Fordschen Prinzipien von Massenproduktion und Massenkonsum, die er mit folgenden Argumenten verteidigte: „Die Frage der engeren Verbindung von Lohn und Leistung wird in der ganzen Wirtschaft mehr und mehr aufgerollt werden […] Der Detailhandel steht dem letzten Abnehmer viel näher, als irgendein anderer in der Produktion. Der Detailhandel hat das denkbar größte Interesse an der Steigerung der Massenkaufkraft im Volke. Ganz gewiß, auch der Einzelhändler ist Unternehmer, und auf der richtigen Durchbildung seiner Unternehmerfähigkeiten beruht ein ganz wichtiger großer Teil der Volksversorgung. Im übrigen aber ist er der Helfer des Verbrauchers, davon, daß es den breitesten Massen des Volkes gut geht, hängt sein eigenes Wohlergehen ganz unmittelbar ab. Sein Wohlergehen steigt mit dem Wohlergehen der Massen, und jede bessere Leistung des Detailhandels setzt sich ganz unmittelbar in Besserstellung der letzten Konsumentenmassen um.“101
Insgesamt dominierte jedoch ein eher fragmentiertes Verständnis von Massenkonsum im Zusammenhang mit dem Verkaufswesen. Es äußerte sich erstens in relativ isolierten Überlegungen zur Rationalisierung innerhalb des Einzelhandels, die eben gerade nicht auf einem alle Glieder des Massenkonsumkreislaufes integrierenden Verständnis beruhten. Im Versuch, den Einzelhandel stärker in die Rationalisierungsfrage einzubinden, lag der Schwerpunkt vielmehr auf dessen internen Möglichkeiten, während die Rolle der Konsumenten oder der Industrie kaum berücksichtigt wurde.102 In diesen Zusammenhang ist zweitens auch das bereits angesprochene Ressentiment der selbständigen Einzelhändler gegenüber dem Massenkonsum einzuord
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Nolan 1994, S. 10f.; Nolan 2000, S. 14. Urwick 1931, S. 55 Hirsch 1926, S. 90. Auch: Lampe, Adolf: Einzelhandel und Wissenschaft, in: Effer, Franz (Hg.): Einzelhandel. Jahresgabe 1928 für die Mitglieder, Düsseldorf 1928, S. 7-9, hier S. 8. Vgl. z. B. Gerson, Otto: Rationalisierung im Einzelhandel, in: Effer, Franz (Hg.): Einzelhandel. Jahresgabe 1928 für die Mitglieder, Düsseldorf 1928, S. 11-14; Nell-Breuning 1930; Tietz 1927, S. 31.
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nen. Sie sahen sich durch die potentiellen Veränderungen der Beziehung zwischen Einzelhandel und Konsument in ihrer angestammten Position innerhalb der bourgeoisen Konsumgesellschaft bedroht:103 „[D]ie Annehmlichkeitsgefühle beim Kauf im kleinen Raum, die Verantwortlichkeit der als Persönlichkeit, nicht als Nummer unter vielen erscheinenden Verkaufskraft, die Verkaufsberatung usw. sind dem deutschen Konsumenten-Individualismus gleichfalls geldwerte Leistungen. […] Die Großbetriebe der Warenhäuser, teilweise auch der Filialgeschäfte, suchen diesen individualistisch begründeten Mehrleistungen dadurch zu begegnen, daß sie durch bewußten Appell an Massenlustgefühle diese Leistungen zu überdecken suchen.“104
Massenkonsum wurde zum einen mit einer Entpersönlichung des Verkaufsaktes und einer Entindividualisierung der Rolle des Käufers und des Verkäufers gleichgesetzt.105 Zum anderen drückten Begriffe wie „Massenlustgefühle“ eine weit verbreitete Angst vor den individuell- und gesellschaftlichmoralischen Verführungen des Konsums aus – das Wecken von Bedürfnissen galt als anstößig, das Decken von Bedürfnissen nicht.106 Gleichzeitig waren diese Vorstellungen mit technokratischen Zukunftsängsten verbunden: das Szenario von der „dämonischen Macht der leblosen Maschine“ und der „Ausschaltung des Einzelmenschen zugunsten anonymer Mächte der Organisation und der Technik“ wurde auf den Einzelhandel projiziert.107 Als Negativbeispiel für die Anonymität des Massenkonsums wurden Warenhäuser, Filialbetriebe und Einheitspreisgeschäfte angeführt. Ihnen wurde vorgeworfen, ihr „soziologisches Handicap“ durch Niedrigpreise zu kompensieren.108 Gleichzeitig fließe dieses Geld an die Zentralen der Unternehmen und komme nicht dem lokalen öffentlichen Leben zugute, so die Kritik.109 Der Massenverkauf wurde also nicht nur der Individualität des Verkaufens und Einkaufens gegenübergestellt, sondern auch in Widerspruch zum Allgemeinwohl und dem als wertvoll empfundenen Dienst der selbständigen Einzelhändler an der Gemeinschaft gesetzt. Auf Grundlage dieser Argu 103 104 105
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Vgl. De Grazia 1998, S. 69f. Baer 1932, S. 19. Scheyhing, Hermann: Das Vordringen von Großunternehmungen im amerikanischen Einzelhandel, Kassel 1930, S. 35. Vgl. Briesen 2001, S. 235; Nolan 2000, S. 16. Effer 1934, S. 10f. Baer 1932, S. 20. Baer 1932, S. 87f. Vgl. zu dieser Argumentation im englischen Einzelhandel: Alexander, Phillips 2006, S. 74.
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mente waren die Vorstellungen von Rationalisierung stark negativ konnotiert. Aus dem genannten „soziologisch begründeten Rationalisierungswiderstand breiter Schichten des Einzelhandels“ folgte tatsächlich aber, dass die Großbetriebe durch eine Reihe von Rationalisierungsmaßnahmen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil erzielten.110 Einige Großunternehmen erfuhren während des Ersten und später während des Zweiten Weltkriegs eine gewisse Förderung bzw. weniger starke staatliche Einschränkung, da sie eine effiziente Verteilung ermöglichten. So steigerten die großbetrieblichen Unternehmen zwischen 1924 und 1932 ihren Umsatz um 24 Prozent, während der Anteil der Selbständigen um 10 Prozent sank.111 Obwohl diese Unternehmen insgesamt, v. a. durch die Kombination von Zentralisierung und Dezentralisation, rationell arbeiteten und bestrebt waren für mehr Umsatz in kürzerer Zeit größere Mengen zu verkaufen, wurde die Frage des Massenverkaufs an ein Massenpublikum zu günstigen Preisen nicht flächendeckend gelöst.112 Wie man sich zur Lösung dieses Problems an US-amerikanischen Vorbildern orientierte, zeigt sich beispielhaft an den Einheitspreisgeschäften. Sie knüpften an die deutsche Tradition der „95-Pfennig Basare“ und Serienverkäufe an, boten zugleich jedoch – nach dem Vorbild des US-amerikanischen Unternehmens Woolworth – ein begrenztes Sortiment von normierten Waren des täglichen Bedarfs in sehr niedrigen, festgelegten Preiskategorien an. 1926 eröffnete Leonhard Tietz die Ehape in Köln, die 2500 Artikel zwischen 25 und 50 Pfennig führte. 1927 richtete Woolworth die ersten Filialen in Bremen und Berlin ein.113 Auch wenn dieser US-amerikanische Schachzug laut 110
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Centner, Arnold: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Einzelhandels, Würzburg 1941. Vgl. zu den Vorläufern im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Spiekermann 1997, S.73-75. Spiekermann 2000, S. 197; Spiekermann 1997, S. 79. Dazu zählten im Einzelnen: die Konzentration des Einkaufs, die vertikale Integration mit eigenen Herstellungs-, Transport-, Lagereinrichtungen, aber auch das Prinzip der strikten Barzahlung durch die Kunden. Sie boten spezifische Aus- und Weiterbildungsprogramme für ihr Personal an und verfügten über eigene Handelsmarken und einen Reklameapparat. Darüber hinaus trugen sie neben der Lebensmittelindustrie entscheidend zur Standardisierung von Waren und Verpackungen bei. Vgl. Baer 1932; Berger 1972. Ausführlicher zu einzelnen Maßnahmen in den Quellen: Tietz 1927; Umbach, Martin: Die amerikanischen Kettenladenbetriebe (chain store systems), EngelsdorfLeipzig 1929, S. 43-49; Urwick 1931, S. 161. Vgl. als Fallbeispiel über das Filialunternehmen Schade & Füllgrabe: Sauer, Peter: 1878-1978: 100 Jahre SCHADE u. Füllgrabe, Frankfurt a. M. 1978. Ausführlicher zu den einzelnen Unternehmen: Cropp, Rudolf: Die Einheitspreis-
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Spiekermann eine lange Kontroverse prägte, fand die eigentliche Durchsetzung der Geschäftsprinzipien durch deutsche Einzelhandelsunternehmen statt.114 Allerdings blieb deren Anteil am Gesamtumsatz des Einzelhandels nach den Angaben von Baer aus dem Jahr 1932 mit 1,5 Prozent gering.115 Die eigentlichen Rationalisierungsmaßnahmen der meist als Filialbetriebe geführten Einheitspreisgeschäfte lagen v. a. in der Konzentration auf genormte, standardisierte Produkte, in der deutlichen Senkung der Kosten bei Personal, Einrichtung und Lagerhaltung, einer höheren Umschlaggeschwindigkeit und einer effizienten Buchführung innerhalb der Betriebe. Die Waren wurden auf offenen Auslagen präsentiert, der Kunde konnte sie berühren und in die Hand nehmen. Die Verkäuferin hatte nur die Aufgabe, die gewünschten Artikel zur Kasse zu bringen, abzurechnen und zu verpacken. Laut der Quellen gab es keine Anregung durch das Verkaufspersonal, sie wurde zum Teil sogar verboten.116 Die Befürworter der Einheitspreisgeschäfte vertraten die Meinung, dass diese Art des Verkaufens nicht nur zeitund damit personalsparender war, sondern dass die Anziehungskraft der Läden in der Eigenaktivität der Kunden lag.117 Während die einen unter Rückbezug auf die Allgemeinwohlformel der Rationalisierung im Einheitspreisgeschäft eine Bedarfsdeckung auf dem billigsten Wege realisiert sahen, lehnten die anderen die sich hier widerspiegelnde „Kultur der Gleichform“ nach Vorbild des US-amerikanischen „Schablonenmensch[en]“ unter Rückgriff auf im Ersten Weltkrieg verstärkte Stereotype ab.118 Trotzdem mussten auch die Gegner wie z. B. Rudolf Croop zugestehen, dass die Einheitspreisgeschäfte über das Potenzial verfügten, „die Möglichkeiten der Massenanfertigung und des Massenabsatzes unter Bildung eines gewissen Massengeschmacks noch stark [zu] erhöhen.“119 Prinzipiell vermitteln die meisten Quellen zu diesem Zeitpunkt eher eine Ablehnung gegenüber einer möglichen Vorbildfunktion US-amerikanischer Innovationen im Einzelhandel. Die Selbstbedienung war den Zeitgenossen in diesem Zusammenhang durchaus bekannt, allerdings gab es bis auf einen 114 115 116 117 118
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Bewegung, Würzburg 1928, S. 34-37; Mutz, Horst Richard: Das Einheitspreisgeschäft als neuzeitliche Betriebsform im deutschen Einzelhandel, Berlin 1932, S. 32-56. Spiekermann 2000, S. 200. Baer 1932, S. 73. Cropp 1928, S. 55. Lieberich 1931, S. 75; Mutz 1932, S. 63. Cropp 1928, S. 3; Mutz 1932, S. 15, 30. Vgl. auch Lieberich 1931, S. 40; Umbach 1929, S. 40. Cropp 1928, S. 65. Auch Lieberich 1931, S. 72. Vgl. dazu in Zusammenhang mit anderen Großunternehmen im Einzelhandel: Scheyhing 1930, S. 35f.
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durch Herbert Eklöh im Februar 1938 in Osnabrück eröffneten Selbstbedienungsladen keine weitergehenden Überlegungen zur Einführung der Verkaufsmethode in Deutschland.120 Vielmehr wurde stets die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen betont, wie z. B. der unterschiedliche Lebensstandard und die höheren Löhne oder die stärker fortgeschrittene Technisierung in den USA. Gleichzeitig beschworen die Skeptiker immer wieder die sozialen und kulturellen Gefahren von Versachlichung und Entpersönlichung US-amerikanischen Stils. Die damit einhergehende Typisierung und Uniformierung widersprächen grundsätzlich dem „deutschen Wesen“, wohingegen das US-amerikanische Massenvertriebswesen der „lebendige Ausdruck des amerikanischen Massenwillens zur Gleichheit der Bedürfnisbefriedigung“ sei.121 Die deutsche Einzelhandelslandschaft war zu dieser Zeit insgesamt von steigenden Kosten in allen Unternehmen durch relativ große Lager, den hohen Personalstand und gestiegene Lohnkosten sowie die dringend notwendige Modernisierung der Ladeneinrichtung geprägt. Als Reaktion darauf zielten die innerbetrieblichen Rationalisierungsmaßnahmen auf eine zahlenmäßige Erfassung aller Vorgänge, d. h. zunächst auf die Analyse der Kosten, um in einem nächsten Schritt kostensenkende Maßnahmen ergreifen zu können.122 Mit der Gründung von dafür zuständigen Forschungseinrichtungen wie dem Fachausschuss für Handelswissenschaft beim RKW, der Berliner Forschungsstelle für den Handel oder dem Kölner Institut für Einzelhandelsforschung zeichnete sich eine Verwissenschaftlichung des betriebswirtschaftlichen Wissens ab, das „das alte Erfahrungswissen, die Kenntnis von Kunden und Waren systematisch ergänzte.“123 In diesem Sinne wurde Rationalisierung als theoretische Fundierung der kaufmännischen Praxis verstanden.124 120
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Vgl. Hirsch 1926, S. 82f.; Lampe 1928, S. 7; Lieberich 1931, S. 87f.; Witte, Irene Margarete: Amerikanische Verkaufsorganisation, München, Berlin 1926, S. 70f. Ausführlicher: Suhr, Otto: Neue Rationalisierungsmöglichkeiten im Einzelhandel. Abdruck aus: FZ 8.10.1939, in: Ebd. (Hg.): Eine Auswahl aus Reden und Schriften, Tübingen 1967, S. 277-280. Scheyhing 1930, S. 50. Auch: Grünfeld 1928, S. 314.; Lampe 1928, S. 8; Mutz 1932, S. 40. Mit der Konzentration auf den einzelnen Betrieb wurde in diesem Sinne versucht, die Buchführung und die Betriebsstatistik zu rationalisieren. Darüber hinaus sollte der Betriebsvergleich zwischen mehreren Unternehmen nicht nur Fehler aufdecken, sondern die Aufstellung bestimmter Standards für die Rechenhaftigkeit ermöglichen. Gerson 1928, S. 11. Vgl. auch: Berger 1972, S. 29. Spiekermann 2000, S. 195. Gerson 1928, S. 11; Grünfeld 1928, S. 297; Lampe 1928, S. 7; Mutz 1932, S. 16.
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Auch hinsichtlich des Wissens über den Konsumenten ist die Entstehung spezifischer Institutionen, wie z. B. der 1934 gegründeten Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), zu beobachten. Der bestehende Mangel an Marktforschung und adäquatem statistischen Material in Europa war laut dem USAmerikaner Lyndall Urwick auf die geringe Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen und der Privatwirtschaft zurückzuführen.125 Seiner Meinung nach begann sich ein Verständnis vom Einzelhandel als „nervous system of production“ auf den verschiedenen Ebenen gerade erst zu entwickeln.126 Auch wenn man auf Grundlage heimischer Forschungsanstrengungen und einer partiellen Orientierung an der US-amerikanischen Marktforschung in diese Richtung arbeitete, blieben solche Ansätze dennoch isoliert und v. a. außerhalb des Horizontes der breiten Einzelhandelspraxis. Hier herrschte weiterhin die Meinung vor, dass die Rationalisierung aufgrund einer Vielzahl so genannter „irrationaler Faktoren“ nicht durch eine rein technologische Modernisierung durchführbar sei.127 Der wirtschaftliche Erfolg hinge stark von den sich wandelnden Bedürfnissen der Konsumenten ab.128 Spiekermann vertritt die Ansicht, dass sich zudem seit Beginn der Weltwirtschaftskrise ein negatives Verständnis von Rationalisierung als missglücktem Experiment im Handel verbreitete.129 Den Kontext für diesen Einstellungswandel stellte die Weltwirtschaftskrise dar: sie beendete die vorbildhafte Entwicklung der US-amerikanischen Prosperität und führte somit scheinbar das Scheitern des Prinzips der Rationalisierung vor.130 Den Rationalisie
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Urwick 1931, S. 70, 118. Vgl. auch: Brandes, Fritz: Ist in Amerika alles anders?: das wirtschaftliche Leben in den USA – Ergebnisse einer Studienreise, Frankfurt a. M. 1962, S. 14f., 37; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 20f. Urwick 1931, S. 163. Vgl. Herrmann, Wilhelm, Die Rationalisierung im Lebensmittelhandel, in: Industrieund Handelskammer zu Berlin (Hg.): Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben, Berlin 1928, S. 359-410, hier S. 364; Handbuch der Rationalisierung 1930, S. 773. Als weiterer erschwerender Umstand für eine einheitliche und durchgreifende Rationalisierung im Handel wurde die kleinbetriebliche Organisationsstruktur genannt, bei der 92 Prozent der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter hatten. Ebd. S. 774. Vgl. als signifikantes Beispiel die späteren Ausführungen von Ruberg zur Verkaufspsychologie. Einerseits betont er die grundsätzliche Notwendigkeit einer planmäßigen Behandlung der Kunden, andererseits wird eine „Mechanisierung“ des Verkaufsvorgangs durch die einheitliche Anwendung von wissenschaftlichen Standards abgelehnt. Ruberg, Carl: Absatzförderung im Einzelhandel, Wiesbaden 1939, (nachfolgend Ruberg 1939a) S. 125-28. Spiekermann 2000, S. 196. Vgl. Klautke 2003, S. 315f., 338; Nolan 2000, S. 18.
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rungsschub, den der US-amerikanische Einzelhandel im Zuge der Depression durch die Gründung der super markets erfuhr, konnten die deutschen Händler im Verlauf der sich etablierenden nationalsozialistischen Diktatur nicht mehr umfassend rezipieren. 3.2 Die Zeit des Nationalsozialismus Während der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte sich der Einzelhandel im Spannungsfeld zwischen pragmatischen Anforderungen des soziökonomischen Alltags, ideologischen Vorgaben, kriegsvorbereitenden Maßnahmen und weiteren staatlichen Regulierungen. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik fielen in den ersten Jahren nach 1933 für den Handel durchaus positiv aus.131 Ein Grund dafür war u. a., dass mit dem Absinken der Arbeitslosenquote die Kaufkraft der Bevölkerung anstieg. Confino und Koshar haben in diesem Zusammenhang festgehalten, dass viele Nachkriegsdeutsche die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Zeit des Wohlbefindens und scheinbar unbegrenzter Konsumvorstellungen einschätzten.132 Während einige Geschichtswissenschaftler die Instrumentalisierung des Konsums durch die Nationalsozialisten betonen, der von der staatlichen Propaganda überformt und primär als Mittel zur Beruhigung der Massen eingesetzt worden sei, heben andere stärker die Bedeutung der Wohlstandsgesellschaft und den hohen Konsumstandard als integrale Bestandteile des nationalsozialistischen Verständnisses von Modernität hervor.133 Trotzdem kann in der Praxis ebenso wenig von einer real existieren
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Fackler, Helmut: Gleichgeschaltet - der Handel im Dritten Reich, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum ECommerce, Bramsche 2000, S. 245-255, hier S. 248 (nachfolgend Fackler 2000a); Von Saldern 1985, S. 106. Confino, Koshar 2001, S. 160. Berghoff 1999, S. 15; König, Wolfgang: Das Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft: „Volksprodukte“ in Politik, Propaganda und Gesellschaft des „Dritten Reiches“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 48, 2003, H. 2, S. 131163., hier S. 135; Zimmermann, Clemens: Marktanalyen und Werbeforschung der frühen Bundesrepublik: deutsche Traditionen und US-amerikanische Einflüsse, 1950-65, in: Berg, Manfred; Gassert Philipp (Hg.): Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker, Stuttgart 2004, S. 473-491, hier S. 479. Vgl. zur Diskussion: Confino, Koshar 2001, S. 148. Dabei bildete Konsum laut Ritschl einerseits ein Mittel zur Überwindung der Klassenschranken im nationalsozialistischen Gesellschaftsentwurf. Andererseits sieht er die seit den 1920 Jahren aktuelle Frage nach den Problemen der Überproduktion und den Möglichkeiten der
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den nationalsozialistischen Konsumgesellschaft wie von einem System der Massendistribution im Einzelhandel gesprochen werden, da die effiziente Versorgung mit den notwendigen Verbrauchsgütern unter den Vorzeichen der Kriegsvorbereitungen bzw. der Kriegsbedingungen stand. Eher sollte mit den Worten von Abelshauser von einem „Klima der Konsumorientierung“ ausgegangen werden.134 Der Schwerpunkt der Produktion lag eindeutig auf der Rüstungs- und nicht auf der Konsumgüterindustrie. Mit dem Vierjahresplan von 1936 begann die gezielte Einstellung der Wirtschaft auf den Krieg.135 Der Plan legte auch die Anforderungen der staatlichen Verbrauchslenkung an den Einzelhandel fest und trug mit einer Vielzahl weiterer Verordnungen und Gesetze zur zunehmenden Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit des Handels bei. Die Vorstellungen von einem gut funktionierenden und effektiven Distributionswesens basierten neben eher pragmatischen Überlegungen auf spezifischen ideologischen Grundannahmen. Der Einzelhandel hatte zum einen für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung zu sorgen, die auch entscheidend für die „Stimmung“ war. Zum anderen sollte eine „verbrauchernahe Handelsstruktur für einen möglichen Expansionskrieg gewährleistet werden.“136 Neben der durchaus erfolgreichen Förderung innerbetrieblicher Rationalisierungsmaßnahmen, wie z. B. die Einrichtung betriebswirtschaftlicher Beratungsstellen in Form von 300 Einzelhandelstreuhandstellen, verlagerte sich der Schwerpunkt der Rationalisierung im Handel auf die spezifische Rolle, die der Einzelhandel als Teil der gegliederten Wirtschaft zu erfüllen hatte sowie auf die Aufgabe der Konsumlenkung durch
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Deindustrialisierung in der Stellungnahme aufgegriffen, der „Endzweck allen Wirtschaftens ist der Verbrauch, und die Zukunft der deutschen Industrie werde in der Massenproduktion von Konsumgütern liegen“. Ritschl 1991, S. 63. Vgl. zur Frage einer gesellschaftlich nivellierenden Rolle des Konsums: Schäfer, Hans Dieter: Amerikanismus im Dritten Reich, in: Prinz, Michael; Zitelmann, Rainer (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 199-215, hier S. 213f.; Wiesen, Jonathan: Creating the Nazi Marketplace. Commerce and Consumption in the Third Reich, Cambridge, New York 2011, S. 34. Abelshauser 1987, S. 57f.; Heßler, Martina: Visionen des Überflusses. Entwürfe künftiger Massenkonsumgesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M., New York 2004, S. 455-480, hier S. 467; Wald 1985, S. 70. Vgl. Fackler 2000a, S. 250-252; Spiekermann 2000, S. 203. Gries halt fest, dass die Einstellung der Versorgungspolitik auf den Krieg letztlich allerdings bereits seit 1933 begann. Gries 1991, S. 25, 28. Spiekermann 1997, S. 94. Auch: Gries 1991, S. 22.
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Erziehung des Konsumenten.137 Der Einzelhandel, der auf den Schultern des „ehrbaren“ Kaufmanns ruhte, stellte neben der Industrie und der Landwirtschaft einen Teil des organischen Ganzen dar. Ein zentraler Schwerpunkt wurde auf die Berufserziehung und -förderung sowie die Nachwuchsfrage gelegt.138 Dabei stellte der Mitte der 1930er Jahre eingeführte „Sachkundenachweis“ eine gesetzliche Zugangsbeschränkung auf der Grundlage bestimmter qualitativer Anforderungen an die Anwärter für den Einzelhandel dar.139 Aufgrund seiner Mittlerposition zwischen Produktion und Konsum wurde der Einzelhändler hinsichtlich seiner Beziehung zum Endverbraucher dezidiert in ideologische und politische Dienste genommen. Der Kaufmann sollte sich in einem politischen Sinne als „Propagandist nationalsozialistischer Aufbauarbeit“ verstehen, sein Laden war der „natürliche Apparat für jede Volkspropaganda“:140 „Der Stammkunde – und dieses gilt besonders für die Volksgenossen auf dem Lande und in den Kleinstädten – tauscht mit seinem Kaufmann Erfahrungen und Neuigkeiten aus. Für ihn gilt die Meinung des Kaufmanns als besonders zuverlässig, die er dann in vielen Fällen zu seiner eigenen Anschauung macht. Der deutsche Kaufmann muß sich seiner Verpflichtung gegenüber dem Führer des deutschen Volkes bewußt sein und ihn in seinem gigantischen Aufbauwerk unterstützen. Er muß falsche Ansichten und Meinungen korrigieren und er muß ‚seinen Kunden‛, die in Unkenntnis und Unwissenheit über das Werk des Führers falsch handeln, mit einer sachlichen und gewinnenden Erklärung und Aufklärung die Wirkung ihres falschen Handelns klar machen.“141
Auf gesellschaftlicher Ebene agierte der Einzelhändler als „Kamerad aller Stände“, als „Schrittmacher der Überwindung von Vorurteilen und Standesgegensätzen“.142 Darüber hinaus sprach man dem Handel eine zentrale Rolle bei der Verbrauchslenkung zu. Er habe die Kunden zu nationalwirtschaftlichem Denken und gutem Geschmack zu erziehen und damit eine Nachfrage nach deutschen Produkten und die Unterordnung der individuellen Wün 137
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Vgl. Von Saldern 1985, S. 65. Vgl. die zeitgenössische Einschätzung bei: Riemer, Hans: Einzelhandel im Aufbau: Rationalisierung im Einzelhandel, Köln 1935, S. 8. Effer 1934, S. 65f.; Effer 1936, S. 83; Oder 1937, S. 39, 52; Ruberg 1939b, S. 22. Vgl. Fackler 2000a, S. 246; Von Saldern 1985, S. 131. Renteln von: Der Handel in der Volksgemeinschaft, in: Bissinger, Edgar (Hg.): Der deutsche Handel. Aufgabe und Zukunft, Stuttgart, Berlin 1936, S. 459-482, hier S. 473; Effer 1936, S. 81. Renteln 1936, S. 473f. Effer 1936, S. 55.
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sche unter das Gesamtinteresse zu fördern.143 Dabei spielte die „natürliche Fähigkeit“ der Frau zum Verkauf und zur Erziehung der Kunden eine entscheidende Rolle, während der Kaufmann als „Kopf des Geschäftes“ galt.144 Auf staatlich organisatorischer Ebene fand ebenso wie in anderen Wirtschaftsbereichen eine hierarchische Neuordnung des Einzelhandelssektors im Bereich des Verbandswesens und der entsprechenden wirtschaftspolitischen Gremien statt.145 Die drei Grundprinzipien umfassten auch hier die Pflichtgemeinschaft und die Ausschließlichkeit, d. h. alle Einzelhandelsunternehmen gehörten automatisch und ausschließlich den zuständigen Gruppen an, sowie das hierarchische Führerprinzip.146 Die politische Stellungnahme gegenüber den Problemen des Einzelhandels gestaltete sich äußerst ambivalent. Zwar hatte die NSDAP in ihrem Parteiprogramm schon vor 1933 die „Schaffung eines gesunden Mittelstandes“147 versprochen und es waren nationalsozialistische Kampfbünde wie die Kampfgemeinschaft gegen Warenhäuser und Konsumvereine oder die Arbeitsgemeinschaft deutscher Geschäftsleute aktiv, allerdings stießen konkrete Maßnahmen häufig an die Grenzen anderer wirtschaftspolitischer Prioritäten. Als die beiden wichtigsten mittelstandspolitischen Aktionsbereiche tauchten die bereits während der Zeit der Weimarer Republik zentralen Streitfragen wieder auf: die Bedro 143
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Deutsch, Paul: Kriegswirtschaftliche Gegenwarts- und Zukunftsfragen des Groß- und Einzelhandels, in: Der praktische Betriebswirt, 20, 1940, H. 5, S. 195-204, hier S. 197; Effer 1936, S. 78; Ruberg 1939b, S. 45; Wallberg, Ernst: Leistungssteigerung im Einzelhandel durch Einkaufsgenossenschaften, Prag 1943, S. 87. Spiekermann, S. 207. Auch: Puck, Birgit: Der Goslarer Einzelhandel nach 1945: unter Berücksichtigung weiblicher Verkaufsarbeit, Göttingen 1995, S. 59; Wald 1985, S. 73. Nachdem die Verbände des Handels 1933 im Reichsstand des deutschen Handels zusammengefasst worden waren, wurde Anfang 1934 auf der Grundlage des „Gesetzes zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der Wirtschaft“ eine hierarchische Gliederung in die Reichsgruppe Handel, die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel mit den entsprechenden Fach- und Fachuntergruppen vorgenommen. Der Deutsche Industrie- und Handelstag wurde in die Reichswirtschaftskammer mit ihren bezirklichen Wirtschaftskammern eingegliedert. Vgl. zur Darstellung der einzelnen Maßnahmen in den Quellen: Effer 1936; Oder 1937, S. 75; Ruberg 1939b, S. 7-9. Oder 1937, S. 65f. Ebd., S. 31. Vgl. auch: Ruberg 1939b, S. 21. Auf die kontrovers diskutierte Frage nach der Rolle des Einzelhandels für den Aufstieg der NSDAP und seine politische Mobilisierung während des Nationalsozialismus kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Vgl. dazu die Forschungserbnisse von: Gellately 1974; Haupt 1985; Von Saldern 1985. Spiekermann ist im konkreten Fall der Edeka der Meinung, dass sie nicht nur die Präsidialkabinette unmittelbar unterstützt habe, sondern sich auch von Beginn an in den Dienst der nationalsozialistischen Regierung gestellt habe. Spiekermann 2000, S. 202.
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hung des mittelständischen Einzelhandels durch die Großbetriebe und die „Übersetzung“ des Einzelhandels. Gegen die Großbetriebe wurden zahlreiche gesetzliche Einschränkungen erlassen, die im „Gesetz zum Schutz des Einzelhandels“ vom 13. Mai 1933 kulminierten. Den Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften, Filialunternehmen und Konsumgenossenschaften entzog man als „unerwünschten Betriebsformen“ die Vorteile des Großeinkaufs und schuf die Legitimation für Sondersteuern und ein Bezugsverbot durch staatliche und kommunale Behörden. Die Warenhäuser galten nicht mehr nur als das Feindbild der „großkapitalistischen Unternehmung“ schlechthin, sondern wurden als Orte diffamiert, in denen sich „jüdisches Kapital“ zu „goldenen Bergen“ türmte.148 Der mittelständische Einzelhandel sah seine Maximalforderung nach einem absoluten Verbot dieser Betriebsformen trotz alledem nicht erfüllt. Die Konsumgenossenschaften allerdings wurden 1941 nach einer Vielzahl von Repressalien aufgelöst und ihre betrieblichen Überreste in das Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront überführt.149 Paradoxerweise wollte man ihre Geschäfte zuvor zeitweise zu so genannten Mustergeschäften des Einzelhandels machen und unterband gleichzeitig eine Behinderung des Verkaufs in den konsumgenossenschaftlichen Verkaufsstellen sowie in den Warenhäusern.150 Dass die Großunternehmen in der Praxis weitgehend unberührt blieben, ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen.151 Sie garantierten eine Vielzahl wichtiger Arbeitsplätze und stellten besonders in mittleren und größeren Städten bedeutende Absatzkanäle dar.152 Damit entsprachen die Großunternehmen den wirt 148 149
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Effer 1936, S. 50; Riemer 1935, S. 21. Zur Geschichte der Konsumgenossenschaften während des Nationalsozialismus ausführlich: Bösche, Korf 2003; Korf 2008. Vgl. zur unternehmensinternen Sichtweise auch: Die Konsumgenossenschaften während der Nazizeit und im Aufbau, 26.7.1946, FfZ 18-6, 5.3. Vgl. die Stellungnahme des SA-Obergruppenführers Kraußer (1933) und von Hermann Göring (1938) in: Haupt 1985, S. 282-284. Schäfer ist der Meinung, dass in diesem Rahmen auch keine grundsätzliche Amerikafeindliche Haltung der Nationalsozialisten zu konstatieren ist. Er führt an, dass Göring sogar für Studienreisen in die USA geworben habe. In diesem Zusammenhang fand eine Reise der Zweckvereinigung „Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte“ statt, bei der sich die Teilnehmer vor Ort über die Einrichtung der Geschäfte informieren konnten. Schäfer 1001, S. 203. In dem hier vorliegenden für den Zeitraum des Nationalsozialismus sehr begrenzten Quellenkorpus konnten keine Hinweise bezüglich amerikanischer Verkaufsformen ausfindig gemacht werden. Vgl. auch: Briesen 2001, S. 238. Riemer 1935, S. 7, 51. Im Fall der Warenhäuser sprachen sich die Banken gegen ein radikales Vorgehen aus, da diese über Kredite in Höhe von einer Milliarde Reichsmark verfügten. Vgl. dazu auch: Von Saldern 1985, S. 61.
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schaftlichen Leistungs- und Effizienzkriterien weit mehr als die Vielzahl der Kleinstbetriebe.153 Allerdings ist dabei einschränkend festzuhalten, dass auch die kleinen leistungsfähigen Unternehmen nicht nur ideologische, sondern auch soziökonomische Bedeutung besaßen, da sie eine kriegswichtige, dezentrale Versorgungsstruktur unterstützten.154 Diese Ambivalenz unterstreicht beispielhaft folgende Aussage aus dem Jahr 1937: „Nirgends ist die Leistung des Einzelnen von so ausschlaggebender Bedeutung wie im freien selbständigen Beruf. Hier ist der Einzelne ganz auf sich gestellt, hier im Kampf um das nackte Dasein, muß jeder zeigen, was er leistet. […] Alle Bestrebungen, die an Stelle des selbständigen Betriebsführers eine organisierte Anonymität setzen wollen, sind als marxistisch und planwirtschaftlich abzulehnen. Nicht aus Sympathie für den Mittelstand setzt man sich im Punkt 16 für ihn ein, sondern aus der klaren Erkenntnis, daß eine Verminderung der selbständigen Unternehmer ein Anwachsen des Mittelmäßigen und Schlechten bedeutet. […] Es kann niemals der Standpunkt eines Staates sein, Morsches zu erhalten. Die Frage, ob der Filialbetrieb die Zukunftsform des Einzelhandels sein wird, entscheidet letzten Endes nicht der Staat, sondern allein der selbständige Einzelhandel.“155
Letztlich wurde dem gesamten Einzelhandelsspektrum immer stärker deutlich gemacht, dass die Schutzmaßnahmen gegenüber dem Ziel des gesellschaftlichen Allgemeinwohls zurückzutreten hatten.156 Die Lösung des Problems der „Übersetzung“ des Einzelhandels bewegte sich ebenso wie der Umgang mit den Großbetrieben zwischen verschiedenen ideologischen Überlegungen und Rationalisierungsmaßnahmen. Neben den hohen Distributionskosten schätzte man das umfassende Arbeitskräftereservoir des Handels als nachteilig für die Volkswirtschaft ein und mahnte diesen Standpunkt in Aussagen wie „In notorisch Kranken hat ein gesunder Staat kein Interesse“ an. 157 angemahnt. Die „Ausmerzung von Leistungsunwilligen“158 realisierte sich zunächst durch die Enteignung jüdischer Unternehmer, was 153 154
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Vgl. Centner 1941, S. 67-71. Spiekermann 1997, S. 93f.; Spiekermann 2000, S. 203. Vgl. zur wettbewerblichen Struktur von kleinen und großen Unternehmen während des Nationalsozialismus allgemein: Wiesen 2011, S. 27f. Oder 1937, S. 31. Vgl. auch: Riemer 1935, S. 22; Wehrmacht 1941, S. 11. Vgl. Gellately 1974, S. 209; Spiekermann 2000, S. 204; Von Saldern 1985, S. 198. Vgl. dazu auch die Argumentation in den Quellen: Centner 1941, S. 38; Riemer 1935, S. 23. Bissinger, Edgar: Nationalsozialismus und Handel, in: Bissinger, Edgar (Hg.): Der deutsche Handel. Aufgabe und Zukunft, Stuttgart, Berlin 1936, S. 21-37, hier S. 36. Bereits früher dazu Nell-Breuning 1930, S. 10. Bissinger 1936, S. 36. Vgl. zum ideologischen Begriff der Leistung in der Forschung: Wiesen 2011, S. 28-34.
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dem Einzelhandel aufgrund der angespannten Wettbewerbslage durchaus entgegen kam. Entsprechend wendete sich Franz Effer 1934 im Namen des Westdeutschen Einzelhandelstages an das Ausland und bezeichnete die „Greuelnachrichten“ über die Enteignung jüdischer Unternehmer als „phantastische Schilderungen“ über ein „angebliches Schreckensregiment in Deutschland“.159 Das geschäftliche und persönliche Leben habe keine Einschränkungen zu beklagen. Gegen Ende der 1930er Jahre wurde die „Gesundung des Einzelhandels“ allerdings auch auf den übrigen Einzelhandel ausgedehnt, bis es 1944 zur staatlichen Festschreibung so genannter „L-Betriebe“, d. h. kriegs- und lebenswichtiger Betriebe, kam.160 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges nahm der Handel erneut eine reine Verteilerposition ein. Die Preisvorschriften regulierte der Staat immer strenger und Verstöße dagegen ahndete man hart. Seit dem Herbst 1939 wurden die Einzelhändler verpflichtet, entweder die Preise zu senken oder den im Vergleich zu Friedenszeiten erwirtschafteten Mehrgewinn an den Staat abzuführen.161 Zur schlechten Ertragslage kam der zunehmende Personalmangel. Die Überprüfung der Kriegswichtigkeit in den verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen bedeutete das Aus für eine große Zahl von Handelsbetrieben. Kleine Geschäfte gewannen im Zuge dessen wieder an Bedeutung – ihnen wurde auf der Grundlage von Kundenlisten ein fester Käuferstamm zugeteilt, gleichzeitig erhofften sich die Konsumenten hier bessere Chancen auf rationierte Lebensmittel.162 Die Aufgaben der verbleibenden Einzelhandelsgeschäfte konzentrierten sich einerseits auf die Versorgung der Armee und der lokalen Behörden. Andererseits standen aufgrund der zunehmenden Warenknappheit und Mangelversorgung die Beschaffung von Waren und die Verwaltung der Lebensmittelkarten und Bezugsscheine im Zentrum der einzelhändlerischen Tätigkeit.163
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Effer 1934, S. 25. Spiekermann 2000, S. 209; Von Saldern 1985, S. 64. Vgl. zur ideologischen Begründung durch die Zeitgenossen: Riemer 1935, S. 23. Fackler 2000a, S. 252. Spiekermann 1997, S. 98. Ähnliche Gründe führten während des Zweiten Weltkriegs in den USA ebenfalls zum Bedeutungszuwachs der selbständigen Lebensmitteleinzelhändler. Centner 1941, S. 106-109; Deutsch 1940, S. 196; HDE: Arbeitsbericht, 1947/48, S. 4, ZBW Kiel; Sitzung des Einzelhandelsausschusses der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund, dazu Anlage: „Verhältnis des Einzelhandels zur Industrie“ (1.12.1949), S. 2, WWA K1/2383.
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3.3 Entwicklungstendenzen der 1950er und 1960er Jahre Wie alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereiche waren auch für den Einzelhandel die späten 1940er Jahre hauptsächlich von den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Wiederaufbau geprägt. Die Kriegsschäden zeigten sich in der weitgehenden, wenn auch regional variierenden Zerstörung der Infrastruktur und des Ladennetzes. Die Versorgungslage der ersten Nachkriegsjahre zeichnete sich durch Lebensmittelknappheit und das Problem der Warenbeschaffung aus. Die Regulierung der Warenzuteilung und der Preise durch die Besatzungsmächte wurde erst schrittweise aufgehoben.164 Gleichzeitig machten dem stationären Lebensmitteleinzelhandel der seit dem Krieg bestehende Schwarzmarkt und der Tauschhandel starke Konkurrenz.165 Die sich anschließende Phase einer „Modernisierung im Wiederaufbau“ äußerte sich auch im Einzelhandel durch die Spannung zwischen traditionellen, konservativen und neuen, modernisierenden Elementen, endogenen sowie von außen angestoßenen Tendenzen, wie sie Schildt als typisch für die Entwicklung in den 1950er Jahren festgehalten hat.166 Sowohl die betrieblichen als auch die personellen Strukturen des Einzelhandelssektors schlossen weitgehend an die Zeit des Nationalsozialismus an. Ein Großteil des Führungspersonals und der Angestellten verblieb in den Unternehmen. Darüber hinaus fungierten ehemalige, auch während der Zeit des Dritten Reiches aktive Vertreter des Einzelhandels als Repräsentanten in den neu geschaffe-
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HDE, Arbeitsbericht 1947/48, S. 4, ZBW Kiel. Vgl. die detaillierte lokalgeschichtliche Studie zur Versorgungslage und -politik von Gries anhand von Leipzig, München und Köln: Gries 1991. Fackler, Helmut: „Nur für Bergmannspunkte“ – Zur Reorganisation des Handels in der Nachkriegszeit, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, S. 257-269, hier S. 260 (nachfolgend Fackler 2000b); Gries, S. 110f., 219-223; 308f. Sywottek 2001, S. 345; Teuteberg, Hans Jürgen: Vom „Kramladen“ zum „Elektronischen Kommerz“, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, S. 17-32, S. 26; Teuteberg Hans-Jürgen: Vom alten Wochenmarkt zum Online-Shopping. Der Wareneinkauf in den letzten 200 Jahren, in: Lummel, Peter; Deak, Alexandra (Hg.): Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs, Berlin 2005, S. 19-46, hier S. 29. Ausführlich zur Geschichte des Schwarzmarktes seit 1939 am Beispiel Berlins: Zierenberg 2008. Schildt 1995, S. 29. Vgl. für das Werbewesen: Zimmerman 2004, v. a. S. 475. Vgl. allgemein wirtschaftshistorisch: Abelshauser 1996, S. 750.
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nen oder wiederaufgebauten Interessenvertretungen und Verbänden.167 Mit der Neuetablierung der Konsumgenossenschaften seit 1945 sowie der Aufhebung der Beschränkungen der Filialunternehmen und Einheitspreisgeschäfte im Jahre 1946 existierten die gleichen Betriebsformen wie zuvor. Zunächst bedurfte es der Wiederherstellung der einzelnen Ladenlokale und des Ladennetzes. Dabei waren der Kapitalmangel und die Kreditbeschaffung zentrale Themen. Neben der Sorge um die finanzielle und materielle Zukunft des Einzelhandels spielte die Diskussion über gesetzliche Zugangsbestimmungen und die Absicherung der selbständigen Einzelhändler durch staatliche Regulierungen eine wichtige Rolle. Dabei knüpfte man auf Seiten des Einzelhandels unmittelbar an die Zeit vor 1945 an.168 So wurde in den Reihen der selbständigen Unternehmer der von den Nationalsozialisten verabschiedete „Sachkundenachweis“ eingefordert und die Einschränkung der Gewerbefreiheit im Rahmen der „Mittelstandsfrage“ debattiert. Weitergehend brachte die neue wirtschaftspolitische Ordnung in einer Vielzahl von Bereichen des Einzelhandels Grundsatzfragen bezüglich der staatlichen Regulierung auf die Agenda. Von hygienischen Vorschriften, über Maßgaben zur Preisregulierung, das Ladenschlussgesetz, bis hin zu Erlassen zum Standort: Kontrovers setzte man sich mit der Abschaffung, Änderung oder Neuschaffung von Gesetzen auseinander.169 Neben den wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen war die Entwicklung der Konsumgesellschaft nach 1945 entscheidend für die soziökonomische Positionierung des Einzelhandels. In der Forschung herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Teilhabe der Bevölkerung am „Wirtschaftswunder“ in Form des qualitativ und quantitativ expandierenden Konsums einen entscheidenden Beitrag für die Stabilisierung der Gesellschaft und die Akzeptanz des politischen Systems leistete.170 Laut der Forschung habe der Konsum der Nachkriegszeit darüber hin
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Beispiele für persönliche Kontinuitäten im Verbandswesen und der Fachöffentlichkeit waren: Franz Effer; Friedrich Prieß, Edgar Bissinger. Gries hält am Beispiel Leipzigs fest, dass es 1947 durchaus Ansätze zu einer Entnazifizierung nicht nur der Behörden, sondern auch des Einzelhandels selbst gegeben habe. Allerdings hatten diese eigentlich das Problem der „Übersetzung“ des Handels im Blick, später v. a. auch in Zusammenhang mit der staatlichen Förderung der Verbrauchergenossenschaften. Dagegen sei im Fall Münchens die Entnazifizierung der Wirtschaft wenig konsequent betrieben worden. Gries 1991, S. 90, 324, 329. Banken 2007, S. 138. Vgl. auch zur Gesamtwirtschaft: Abelshauser 1996, S. 750. Vgl. Spiekermann 1997, S. 99. Vgl. Ambrosius, Kaelble 1992, S. 24f.; Berghoff 1999, S. 13; Doering-Manteuffel 1995, S. 23; Schildt 1995, S. 43; Wildt, Michael: Continuities and Discontinuities of Consumer
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aus eine gesellschaftliche Nivellierung nach oben und eine Integration nach unten mit sich gebracht.171 Gleichzeitig wird festgehalten, dass der Prozess einer „gesellschaftlichen Normalisierung“ auf der Grundlage des privaten Konsums neue „feine Unterschiede“ erzeugte und durchaus von tiefen Ambivalenzen geprägt war. Zum einen zeichnete sich die eher positiv besetzte Identifikation mit neuen Werten wie Konsumfreiheit und Wohlstand ab, zum anderen kennzeichnete die wieder neu aufkommende Angst vor einer Vermassung in der Konsumgesellschaft die Debatten.172 Zudem wurden im Laufe der 1960er Jahre konsumkritische Stimmen immer lauter.173 Neben diesen spezifischen deutschen Entwicklungstendenzen gilt es die Einbindung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft und Wirtschaft in einen „westlichen Bezugsrahmen“ zu beachten. Die USA und andere westeuropäische Länder wie Großbritannien, Schweden und die Schweiz stellten entscheidende Vorbilder und den Referenzrahmen für die eigene Entwick
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Mentality in West Germany in the 1950s, in: Bessel, Richard; Schumann, Dirk (Hg.): Life after death. Approaches to a cultural and social history of Europe during the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 211-229, hier S. 215. Andersen, Arne: „…und so sparsam!“: der Massenkonsum und seine Auswirkungen. Veränderung und Mentalitätswandel, dargestellt am „Schweizerischen Beobachter“, Zürich 1998, S. 83; Ambrosius, Kaelble 1992, S. 21f.; Haustein 2007, S. 12; Siegrist 1997, S. 23; Sywottek, Arnold: Zwei Wege in die „Konsumgesellschaft“, in: Ebd. (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 269-274. (nachfolgend Sywottek 1993b), hier S. 271f. Schäfer dagegen betont, dass es bereits in der Spätzeit des Nationalsozialismus Hinweise auf die „klassenverschmelzende Kraft von Arbeitssteigerung und erhöhtem Lebensstandard“ gegeben habe. Schäfer 1991, S. 214. Vgl. auch: Ritschl 1991, S. 63f. Grundsätzlich hat die Forschung festgehalten, dass die spezifischen Bedingungen des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit entscheidend zur Lockerung der Klassenstrukturen beigetragen haben. Doering Manteuffel 1995, S. 22; Schäfers, Bernhard: Die westdeutsche Gesellschaft: Strukturen und Formen, in: Schildt, Axel (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 307–315, hier S. 309f. Vgl. die frühere Einschätzung dazu bei: McCreary, Edward A.: The Americanization of Europe. The impact of Americans and American business on the uncommon market, Garden City N. Y. 1964, S. 98. Zu Details der zeitgenössichen Diskussion in den 1950er Jahren Schildt 1995, S. 352f. Vgl. Gries 1991, S. 333; Siegrist 1997, S. 27, 29; Schildt 1995, S. 356; Wildt, Michael: Konsum und Modernisierung in den fünfziger Jahren, in: Bajohr, Frank (Hg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 322–345, hier S. 324, 337f.; Wildt 2003, S. 215. Vgl. dazu ausführlicher: Malinowski, Stephan; Sedlmaier, Alexander: „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft - performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung, in: Geschichte und Gesellschaft, 32, 2006, H. 2, S. 238-267. Auch: Siegfried 2006, S. 11f.; Siegrist 1997, S. 25.
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lung dar. Gleichzeitig diente die „westliche“ Konsumpolitik der Abgrenzung gegenüber dem sozialistischen Modell. Dabei war die Konsumpolitik sowohl für die Bundesrepublik Deutschland als auch für die DDR ein zentraler Bereich, in dem um Legitimität und Bestätigung gegenüber den Bürgern gekämpft wurde.174 Nicht zuletzt hatten die Wiederaufbauhilfe und die westeuropäische Integration konkrete Auswirkungen auf soziale, wirtschaftliche und politische Grundsatzentscheidungen und Strukturen, die sowohl die Konsumenten als auch die Einzelhändler und die Produzenten tangierten, wie z. B. das Wettbewerbsrecht, europäische Handelszusammenschlüsse oder die Produktpalette.175 Den Marshallplan, den die Forschung als zentrales Element des sozioökonomischen Wiederaufbaus in Europa versteht, war für den deutschen Einzelhandel bei seinen Wiederaufbaubemühungen teilweise von Bedeutung. Der eindeutige Schwerpunkt der Hilfsleistung lag auf dem industriellen Sektor.176 Allerdings stützte sich die Arbeit des Handels natürlich auf eine funktionierende Konsumgüterproduktion und die Erholung aller wirtschaftlichen Bereiche. Insofern kamen mit dem Marshallplan und der Einrichtung seiner Institutionen in Europa durchaus entscheidende Impulse zur Modernisierung in den bundesdeutschen Einzelhandel.177 Inwiefern eine Anknüpfung an Amerikanisierungsprozesse vor dem Zweiten Weltkrieg und eine Neuaufnahme von transatlantischen Beziehungen unter den neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stattfand, wird im Laufe der Untersuchung am Beispiel des Verkaufswesens detailliert zu klären sein. An dieser Stelle kann aber festgehalten werden, dass der Einzelhandel in einem gewissen Maße institutionell in das Förderprogramm und die finanziellen sowie technischen Hilfsleistungen eingebunden war. 174
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Vgl. Crew, David: Consuming Germany in the Cold War: Consumption and National Identity in East and West Germany, 1949-1989. An Introduction, in: Ebd. (Hg.): Consuming Germany in the Cold War, Oxford, New York 2003, S. 1-19; Konfino, Coshar 2001, S. 138; Oldenziel 2005; Siegrist 1997, S. 19f.; Strasser 2002, S. 778. Dazu zählten die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Etablierung des gemeinsamen Marktes, aber auch die Internationalisierung des Warenverkehrs, der sowohl mit der Arbeitsweise des Handels als auch mit den Konsumgewohnheiten in enger Wechselwirkung stand. Zur Diskussion um die tatsächlichen Effekte des Marshallplans auf die allgemeine Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit: Vgl. Berger, Helge; Ritschl, Albrecht: Germany and the political economy of the Marshall Plan, 1947-52: a re-revionist view, in: Eichengreen, Barry J. (Hg.): Europe‘s postwar recovery, Cambridge 1995, S. 199-245; Eichengreen, Barry J.: Europe’s postwar recovery, Cambridge 1995, S. 169f. Vgl. Fackler 2000b, S. 258.
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Wie in anderen wirtschaftlichen Bereichen gewann das Ziel, die Produktivität durch umfassende Rationalisierungsmaßnahmen zu steigern, im Einzelhandel den Charakter eines zentralen Leitsatzes. Der Lebensmitteleinzelhandel spielte dabei eine entscheidende Rolle. Anfangs konnte er sich zum Vorreiter in Sachen Modernisierung des Betriebs- und Vertriebswesens entwickeln, da er sehr früh in Form der so genannten „Fresswelle“ vom Konsumentenbedürfnis nach Lebensmitteln, profitierte.178 Die Entwicklung des quantitativ schnell ansteigenden und sich gleichzeitig qualitativ wandelnden Verbrauchs machte deutlich, dass der Einzelhandel mit einem adäquaten Distributionswesen auf die Ansprüche der Massenproduktion und des sich langsam etablierenden Massenkonsums reagieren musste.179 Auf welche Weise sich die Konsumgesellschaft in diesem Zeitraum konkret wandelte und ob von einer zusammenhängenden Aufwärtsentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie Abelshauser beschreibt, oder von einer von Andersen, Wildt u. a. vertretenen stärkeren Differenzierung des Konsumverhaltens in den 1950er Jahren auszugehen ist, wird an entsprechender Stelle zu diskutieren sein.180 In den 1950er und 1960er Jahren fand die Rationalisierung Eingang in die gesamte Bandbreite der betrieblichen Bereiche des Einzelhandels. Dabei zeichnen sich einige zentrale Entwicklungstendenzen ab. Erstens wurde im 178
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Scholten 2004, S. 170; Teuteberg 2000, S. 26; Teuteberg 2005, S. 29f. Im Anschluss an Scholten, wird davon ausgegangen, dass die Befriedigung des grundlegenden Nahrungsmittelbedarfs in den frühen 1950er Jahren schubartig nachgeholt wurde. Die strittige Frage, ob der Verbrauch anderer Konsumgüter über den Lebensmittelbereich hinaus in den 1950er Jahren in wellenartigen Schüben stattgefunden hat oder er im Nachblick so empfunden wurde, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vgl. dazu Andersen 1997, S. 32; Kaltenecker, Agnes: Wirtschsftwunder? Handel in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums, in: Haverkamp, Michael; Teuteberg Hans-Jürgen (Hg.): Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, S. 271– 283, hier S. 273; Sywottek 2001, S. 349; Wildt, Michael: Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren, in: Schildt, Axel (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 275–289, hier S. 281. Zeitgenössische Meinungen: Die Verbrauchsgewohnheiten haben sich geändert, in: Der Einzelhändler, 15.1.1952; Von „Welle“ zu „Welle“, in: Der Einzelhändler, 15/1955. Priess 1961, S. 21; Treichel 1965, S. 182. Andersen 1997, S. 22, 36; Andersen 1998, S. 91; Reckendrees 2007b, S. 59; Sywottek, Arnold: Konsum, Mobilität, Freizeit. Tendenzen gesellschaftlichen Wandels, in: Broszat, Martin (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 95-111, hier S. 97; Wildt 1993, S. 282; Wildt 1996. Vgl. die zeitgenössische Einschätzung von Mc Creary, der das Aufkommen der Massenkonsumgesellschaft um das Jahr 1956 ansetzte. Mc Creary 1964. S. 13.
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Laufe der 1950er Jahre sowohl das Vertriebswesen als auch die betriebliche Organisation der Einzelhandelsunternehmen grundlegend umstrukturiert. In diesem Findungsprozess spielte das Abwägen zwischen eigenen Traditionen und US-amerikanischen sowie westeuropäischen Vorbildern eine zentrale Rolle. Die Einführung der Vertriebsform Selbstbedienung und des Geschäftsmodells Supermarkt, aber auch der schnelle Aufstieg der neuen Betriebsform der freiwilligen Ketten sind Beispiele für solche grundlegende Innovationen. Zweitens ist gegen Ende der 1950er und noch einmal verstärkt seit Beginn der 1960er Jahre eine enge Verknüpfung zwischen Rationalisierung und dem sich auch im Einzelhandel abzeichnenden Konzentrationsprozess zu erkennen.181 Spiekermann fasst diese Entwicklung als „Übergang vom Individual- zum Gruppenwettbewerb“ zusammen. Die Zahl der kleinen selbständigen Einzelhändler, die ein Einzelgeschäft betrieben, sank – laut Banken – zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre von acht auf zwei Prozent.182 An ihre Stelle traten die mehrstufigen Großunternehmen wie Filialbetriebe, Einkaufsgenossenschaften und freiwilligen Ketten. Rationalisierung assoziierte man zunehmend mit zentralisierten Großunternehmen und dem Prinzip der economies of scale. Der Skaleneffekt war gleichzeitig eng mit dem Aufkommen neuer Einzelhandelsformen, wie z. B. die Verbrauchermärkte und Einkaufszentren verknüpft.183 Letztere versinnbildlichen auch die sich wandelnde geographische Siedlungsstruktur und die steigende Mobilität. Ein weiteres zentrales Merkmal war die zunehmende Vermischung von Branchen, Betriebsformen und Handelsstufen. Drittens prägten der beschleunigte technische Fortschritt und die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Praxis des Einzelhandels die Rationalisierung nach 1945, v. a. im Anschluss an die Zeit des Wiederaufbaus. Der Jahresbericht der Edeka fasste diese Entwicklung Ende der 1960er Jahre in folgender Aussage zusammen: „Das Hauptproblem erfolgreicher Unternehmensführung bestand bisher überwiegend in dem produktiven Einsatz von Handarbeit und Maschinen, worin sich Rationalisierung und Organisation zu erschöpfen schienen. Der menschliche Einsatz besteht aber heute zunehmend aus Geistkapital, also aus wissenschaftlich und technisch geschulten Kräften. Es ist also notwendig, ergiebige Führungskräfte zu finden
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Vgl. zu dieser Entwicklung: Edeka Dortmund, Jahresbericht 1963, S. 10, WWA S7578/2. Banken 2007, S. 122. Vgl. auch: Beckermann, Rau 1977, S. 25; Stern, Horst: Entwicklungen im Lebensmitteleinzelhandel in den 60er Jahren unter spezieller Berücksichtigung des Sortiments, Frankfurt a. M. 1970, S. 2. Vgl. Beckermann, Rau 1977, S. 15; Priess 1961, S. 22.
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und diese in verantwortliche Positionen im Unternehmen zu bringen, denen es obliegt, Veränderungen zu erkennen und das Unternehmen umzustellen.“ 184
Während in der Anfangszeit die Fragen der organisatorischen Umstrukturierung des Einzelhandels im Zentrum standen, wurde seit den späten 1950er Jahren der Einsatz technischer Mittel zur Effizienzsteigerung immer wichtiger, z. B. elektronische Kassensysteme, Verpackungs- und Preisauszeichnungsmaschinen, Lochkarten-Systeme und seit Anfang der 1970er Jahre die ersten Computer. Parallel wurde die Rolle von wissenschaftlicher Unternehmensführung immer stärker hervorgehoben. Die aufstrebende wirtschaftliche Entwicklung sowie der umfassende Aufbau von Interessenvertretungen des Handels führten bei den zeitgenössischen Einzelhandelsunternehmern zu wachsendem Selbstvertrauen und stärkten die Stellung gegenüber der Industrie. Dazu fasste der Jahresbericht der Edeka 1970 zusammen: „Während in der Vergangenheit – in einer Zeit, als die Nachfrage größer als das Angebot war – und teilweise auch in der Gegenwart die Industrie eine optimistische „Autorität“ ausstrahlte und der Einzelhandelskaufmann als kleiner Unternehmer sich Größenordnungen gegenüber sah, die er nicht überschaute, hat sich in den letzten Jahren durch die Formierung des Handels und der Nachfrage das Bild erheblich gewandelt. Es steht zu erwarten, daß in kurzer Zeit die Handelsseite auch vom Image her die gleiche Durchsetzungskraft erreichen dürfte, wie sie heute bei den maßgeblichen Industriefirmen zu finden ist. Ein sinnvolles Zusammenarbeiten zwischen Industrie und Handel […] erfordert, daß auf beiden Seiten die Einsicht und die Bereitschaft zu praktischen Folgerungen, zu einer Kooperation im Marketingprozeß besteht. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der Handel „nicht mehr allein als verlängerter Arm der Hersteller“ (Theuer) gilt, sondern Handel und Industrie sich als gleichberechtigte Partner anerkennen.“185
Zugleich beeinflusste die Entwicklung von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft die Stellung des Einzelhandels im wirtschaftlichen Gesamtgefüge.186 Während der sekundäre Sektor stagnierte, stieg der Anteil des tertiären Sektors bis 1970 auf 42,6 Prozent und stand im engen Zusammenhang mit der rapiden Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit, v. a. verheirateter Frauen.187 Zwischen 1949 und 1969 nahm die Zahl der Beschäftigten 184 185 186
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Edeka Dortmund: Jahresbericht 1966, S. 8, WWA S7-578/2. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1970, S. 21, WWA S7/577. Walsh, John P.: Supermarkets transformed. Understanding organizational and technological innovations, New Brunswick N. J. 1993, S. 6. Schildt, Axel: Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik, in: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl
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Der Einzelhandel als Mittler zwischen Konsumtion und Produktion
im Einzelhandel von 1,3 auf 2,1 Millionen zu und blieb mit 2,2 Millionen bis Ende der 1970er Jahre konstant.188 Der Umsatz des Lebensmitteleinzelhandels verzeichnete in den 1950er und 1960er Jahren zwar einen enormen Anstieg, allerdings verlor er gleichzeitig im Vergleich zu den anderen Einzelhandelsbranchen an Bedeutung. Darin spiegelte sich der Wandel der Nachfrage auf der Grundlage der steigenden Einkommen wider.189 Während nach den Berechnungen von Wildt Anfang der 1950er Jahre 46,4 Prozent der Ausgaben für Lebensmittel einkalkuliert wurden, waren es 1960 nur noch 36,2 Prozent und laut Reckendrees 1998 nur noch 13,5 Prozent.190 Demgegenüber gewannen die Bereiche Wohnen, Kommunikation und Verkehr sowie das Sparen an Bedeutung. In den 1950er Jahren profitierte der Lebensmitteleinzelhandel noch vom starken Nachholbedürfnis der Konsumenten und verzeichnete hohe Umsatzzuwächse von acht Prozent pro Jahr.191 Mit der zunehmenden Verschiebung der Prioritäten in den Konsumwünschen, den wachsenden Ansprüchen der Konsumenten, steigenden Handelskosten und der Intensivierung des Wettbewerbs im Käufermarkt verringerten sich die Umsatzzuwächse des Lebensmitteleinzelhandels mit dem Eintritt in die 1960er Jahre auf 6,4 Prozent, um bis Mitte der 1970er Jahre auf 2,5 Prozent abzufallen.192 Diese Zahlen verdeutlichen letztlich erneut, dass die 1950er und die 1960er Jahre für den Lebensmitteleinzelhandel eine Phase starken soziokulturellen und wirtschaftlichen Wandels waren, an den sich die Unternehmer immer wieder innovativ anpassen mussten.
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Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 21-53, hier S. 25. Vgl. auch: Ambrosius, Kaelble 1992, S. 26f.; Schildt 1995, S. 44. Banken 2007, S. 124. Reckendrees, Alfred: Konsummuster im Wandel. Haushaltsbudgets und Privater Verbrauch in der Bundesrepublik Deutschland 1952-98, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2007, H. 2, S. 29-61 (nachfolgend Reckendrees 2007b); Wilkens 1967, S. 93. Wildt 1993, S. 277. Detaillierte Angaben dazu auch bei Reckendrees 2007b. Vgl. auch die komparative Studie von Haustein zu Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik: Haustein 2007. Zahlenangabe nach: Banken 2007, S. 119. Angaben nach Banken 2007, S. 119.
III. Modelltransfer als Wissenstransfer: die Verbreitung des self-service 1. Die Pioniersituation in den USA 1.1 Die Frühphase von Massenproduktion, Massenkonsum und Massendistribution bis in die 1920er Jahre Die grundlegenden Prozesse für die Ausprägung der US-amerikanischen Massenkonsumgesellschaft vollzogen sich zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1920er Jahren. Im folgenden Abschnitt soll versucht werden, die zentralen Aspekte dieser Entwicklung zu skizzieren. Die in Hinblick auf die umfangreiche Forschungsliteratur zu diesem Themenbereich äußerst knappe Darstellung versucht die wesentlichen konsumgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und entsprechende Ausgangssituation für die Entwicklung des US-amerikanischen Einzelhandels im frühen 20. Jahrhundert zusammenzufassen. Die Herstellung von Lebensmitteln folgte im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend den Prinzipien der Massenproduktion, d. h. lief standardisiert und spezialisiert ab.1 Seit den 1880er Jahren fanden die Massenproduktion und die entsprechende Warenverteilung innerhalb eines immer einheitlicher werdenden nationalen Binnenmarktes statt.2 Während der Warenabsatz zuvor von hohen Handelsspannen und einem niedrigen Umsatzvolumen geprägt war, herrschten nun die Maximen der Produktivität, Rationalität und Effektivität vor: alle Anstrengungen des Handels sollten auf einen steigenden Umsatz zu möglichst niedrigen Kosten gerichtet sein.3 Sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten gestalteten diese Aufgabe entscheidend mit. Die Hersteller setzten verschiedene Strategien zur systematischen Steuerung des Marktes ein. Das verstärkte Interesse an der Marktforschung lässt sich verstehen als eine erste Reaktion auf die Komplexität und Depersonalisierung der Massendistribution sowie auf die Differenzierung der Nachfrage. Die Werbeindustrie zeichnete sich zum einen durch ihr enormes Wachstum und ihre Professionalisierung aus.4 Zum anderen wandelte sich die Be
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De Grazia 1998, S. 115. Fox, Richard Wightman; Lears, T. J. Jackson: The culture of consumption. Critical essays in American history, 1880-1980, New York 1983, S. XI; König 2000, S. 91; Leach 1993, S. 8; Tedlow, Richard S.: New and improved. The story of mass marketing in America, Boston Mass. 1996, S. 5. Vgl. Tedlow 1996, S. 5 De Grazia 1998, S. 116; Strasser 2004, S. 30.
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Modelltransfer als Wissenstransfer
deutung von Werbung von einem informativen Medium zu einem Mittel, um die Konsumenten auf der Grundlage psychologischer Kenntnisse gezielt zu beeinflussen.5 Die zunehmende Zahl an Markenartikeln bot für Nachfrage und Angebot eine gewisse Stabilität: während die Konsumenten auf die gleichbleibende und garantierte Qualität der Waren vertrauten, war diese Markentreue für die Hersteller ein entscheidender Faktor in der Absatzplanung und Werbestrategie.6 Auf verschiedenen Ebenen machte die Fragmentation des Marktes und die komplexe Koordination zwischen Massenproduktion, -distribution und konsum den Einsatz von wissenschaftlicher Analyse und Steuerung, anwendungsbezogener Forschung sowie die professionelle Beschäftigung mit differenzierten Teilprozessen notwendig. Fox und Lears gehen davon aus, dass sich im 20. Jahrhundert eine neue Gruppe von Experten herausbildete, deren Ziel es war, das Verhältnis zwischen „labor“ und „capital“ auf der Grundlage einer spezifischen „consumer ethic“ zu harmonisieren.7 In eine ähnliche Richtung verweist die „brokering class“ von Leach oder die so genannte „modernizing coalition“, die sich laut de Grazia Anfang des 20. Jahrhunderts herausbildete. Staat, Handel, Produktion, Konsumenten und Gewerkschaften entwickelten aus unterschiedlichen Motiven ein Interesse an der Förderung der Massenproduktionsvorteile (economies of scale) und niedrigen Distributionspreisen.8 Das aufeinander Abstimmen von Angebot und Nachfrage diente in besonderem Maße der Steigerung des Kaufkraftniveaus und somit der Anhebung des Lebensstandards. Es wurde als eine gemeinschaftliche Aufgabe der Glieder des Konsumkreislaufs wahrgenommen, gleichzeitig verstanden sich die jeweiligen Akteure als Schlüsselfiguren dieser Prozesse.9 So sprach der Einzelhandel von sich selbst nicht mehr nur als „retail business“, sondern als „food industry“ und „supermarket industry“. Die quantitativ wachsende Nachfrage und die sich qualitativ verändernde Bedürfnisstruktur der Konsumenten basierten auf einer Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen, die zum großen Teil eine langfris 5 6
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Strasser 2004, S. 90f. Der deutsche Begriff Markenartikel wird in den Vereinigten Staaten in so genannte „national brands“ und „local brands“ differenziert. Wenn hier die Rede von Markenartikel ist, wird auf die landesweit beworbenen und verkauften Markenprodukte Bezug genommen. Vgl. Berghoff 2004b, S. 70. Fox, Lears 1983, S. XI. Auch: Mc Govern, Charles: Sold American, Chapel Hill 2006, S. 4f. De Grazia 1998, S. 67; Leach 1993, S. 9-12. Vgl. Filene, Edward. A.; Gabler, Werner Karl; Brown, Percy Shiras: Next steps forward in retailing, New York, London 1937, S. 297.
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tige Wirkung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts entfalteten. Die Zunahme der Einwohnerzahl und die steigende Mobilität großer Bevölkerungsteile prägten den Wandel der Bevölkerungsstruktur. Der Anstieg von Einkommen und Kaufkraft war sowohl eine Ursache als auch eine Folge höherer Produktivität. Gleichzeitig fand eine Umverteilung der Haushaltsausgaben statt: während die Aufwendungen für Nahrungsmittel abnahmen, stiegen die Ausgaben für langlebige Konsumgüter und für Serviceleistungen.10 Der sich in diesen Faktoren widerspiegelnde Wohlstand wurde gesellschaftlich und politisch zu einer Lebensweise stilisiert, die potenziell die Gesamtheit der Bevölkerung in die US-amerikanische Massenkonsumgesellschaft integrieren sollte.11 Einerseits lieferten der Erwerb und der Gebrauch von Konsumgütern auf diese Weise die Grundlage für eine nationale, materiell begründete Kultur. Andererseits drückte die individuelle Teilnahme an der Massenkonsumgesellschaft das demokratische Prinzip aus, eine eigene freie Wahl zu treffen.12 Für den Einzelhandel als zentrale Gelenkstelle der Warendistribution im direkten, täglichen Kontakt mit dem Verbraucher hatten die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Implikationen der etablierten Massenkonsumgesellschaft weitreichende Auswirkungen auf Struktur, Verkaufsmethoden und Selbstverständnis. Sie sollen im folgenden Abschnitt skizziert werden. 1.2 Die US-amerikanische Einzelhandelslandschaft von den 1920er bis in die 1960er Jahre Zwischen den 1920er und den 1960er Jahren erlebte der US-amerikanische Einzelhandel eine schnelle Folge von Innovationen im Betriebs- und Vertriebswesen. In der parallel zu dieser Entwicklung publizierten Fachliteratur sind bei allen Veränderungen über die Jahrzehnte hinweg zwei Konstanten zu erkennen: Erstens war eine Rhetorik des ständigen Wandels allgegenwärtig, bei dem permanente Aufmerksamkeit und Innovation den Schlüssel 10
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De Grazia 1998, S. 117. Zur Einschätzung dieser Entwicklung in den Quellen vgl.: Filene u. a. 1937, S. 11; Urwick 1931, S. 50. Vgl. De Grazia 1998, S. 118; Fox, Lears 1983, S. XII; Leach 1993, S. XIII; Mc Govern 2006, S. 3, 6. Als konkretes Fallbeispiel vgl. die Analyse amerikanischer Versandhauskataloge durch Koenen: Koenen, Anne: Fear of shopping in Germany: The americanization of consumption in early mail-order business, in: Paul, Heike (Hg.): Amerikanische Populärkultur in Deutschland: Case studies in cultural transfer past and present, Leipzig 2002, S. 51-72. Vgl. Cross 2000, S. 2f; De Grazia 1998, S. 118; Fox, Lears 1983, S. IX; Leach 1993, S. 6.
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zum Erfolg darstellten.13 Leach ist der Meinung, dass sich „change“ und „newness“ bereits seit dem 19. Jahrhundert als zentrale Bausteine der USamerikanischen Massenkonsumkultur etablierten.14 Zweitens bewegte sich die Zielsetzung des Einzelhandels zwischen dem Primat der Effizienz auf der einen und der Hauptaufgabe des „pleasing the consumer“ auf der anderen Seite.15 Dabei wurde dem Einzelhändler immer wieder ins Gedächtnis gerufen, dass sein Geschäft nie isoliert betrachtet werden könne, sondern eng mit der Produktion der Waren, die er verkauft und den Konsumenten dieser Waren verknüpft sei. Der Einzelhandel existierte überhaupt nur durch den Verbraucher und das entsprechende Ziel bestehe darin, beste Leistungen für den Konsumenten zu niedrigsten Preisen anzubieten.16 Neben dem Wissen um den Verbraucher waren die Position und das Verhalten des Handels gegenüber der konsumierenden Bevölkerung maßgeblich vom gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Stellenwert der US-amerikanischen Konsumenten selbst geprägt. Ausgehend von dem Wandel dieser Position, wie ihn Cohen verdeutlicht, soll in den nachfolgenden Abschnitten gezeigt werden, wie sich das Wechselspiel zwischen Konsumgesellschaft und Einzelhandel im Kontext von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik zwischen den 1920er und 1970er Jahren konkret gestaltete.17
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Vgl. American Retail Federation: The first Retailers’ National Forum. A public discussion between the retailer and his government, Washington D. C. 1939, S.83; Barker, Clare Wright: Principles of retailing, New York3 1956, S. V; Dipman u. a. 1946, S. III; Duncan, Delbert J.; Phillips, Charles Franklin: Retailing. Principles and methods, Homewood Ill.7 1967, S. 3, 15; Filene u. a. 1937, S. 8; Super Market Institute, A report on the mid year conference 1958, S. 5. Leach 1993, S. 4. Beispiele: Always true to you in her fashion, in: SMM 6/1960; Bedell, Clyde: The seven keys to retail profits, New York 1931, S. XIX; Bloomfield, Daniel: Selected articles on trends in retail distribution. Including a brief on chain stores, New York 1930, S. 80, 90; Bunting, James Whitney: Essentials of retail selling, New York 1954, S. 4; Dipman, Carl William: Modern food stores, New York 1935, S. 3; Dipman, Carl William; O’Brien, John E.: Self-service and semi-self-service food stores, New York 1940, S. 8, 163; Nargus Convention Sresses Greater Efficiency, Better Service, in: PG, 7/1949. Strasser hält fest, dass das Denken in Kategorien der Effizienz zu Beginn des 19. Jahrhunderts Einzug in das allgemeine Denken über die US-amerikanische Gesellschaft Einzug hielt. Strasser 2004, S. 157. Vgl. dazu auch: Humphery 1998, S. 29. American Retail Federation 1939, S. 83; Beckley, Donald K.; Ernest, John W.: Modern retailing, New York 1950, S. 5; Nystrom, Paul Henry: Economics of retailing, New York3 1932, S. 19. Cohen, Lizabeth: Citizens and Consumers in the United States in the Century of Mass Consumption, in: Daunton, Martin; Hilton, Matthew (Hg.): Material culture and citizen-
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Die 1920er Jahre Seit der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre war der „citizen consumer“ ein allgegenwärtiges Thema in der US-Öffentlichkeit: In seinem Namen klagte man über zu hohe Preise, qualitativ minderwertige Produkte und eine unzuverlässige Verbraucherpolitik.18 Diese Auseinandersetzungen schlugen sich u. a. in der Diskussion um die Möglichkeiten zur Senkung der hohen Distributionskosten im Einzelhandel nieder.19 Die Problemlage wurde anfangs von den Filialunternehmen durch die Entwicklung spezifischer Rationalisierungsmaßnahmen aufgegriffen. Sie erlebten zwischen 1920 und 1930 ein starkes Wachstum. So stieg der Marktanteil der vier größten Filialunternehmen im Lebensmitteleinzelhandel von 5,7 Prozent auf 23,1 Prozent und hielt sich bis in die 1950er Jahre relativ stabil auf diesem Niveau.20 Die Vorteile der Ketten gegenüber dem traditionellen Einzelhandel lagen nicht nur in ihrer Kapitalkraft und den Möglichkeiten der Einkaufskonzentration, sondern auch in der Anwendung des „scientific management“ in allen unternehmerischen Bereichen wie der Ladeneinrichtung und -gestaltung, dem Einkauf, der Kommunikation und dem Austausch von Wissen sowie der Marktforschung und der Werbung.21 Die daraus resultierenden Preise stellten für die Konsumenten den Hauptanziehungsgrund dar, während sie Qualität, Bequemlichkeit und Service laut eines Zeitgenossen eher als zweitrangig einstuften.22 Der Erfolg der Filialunternehmen widerlegte damit auch das konventionelle Verständnis des Einzelhandels, dass die Kunden immer auf der persönlichen Konversation und der individuellen Verhandlung vor dem Kauf bestanden.23 Der niedrige Preis erzeugte einen hohen Wettbewerbs 18 19
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ship in Europe and America. The politics of consumption, Oxford 2001, S. 203-221, hier S. 203f. Cohen 2001, S. 204. Auch Leach 1993, S. 123. Smith, Guy Chester; Corbaley, Gordon C.; Lebhar, Godfrey M.; Drackett, H. R.; Richmond, H. A.; Greene, James H.: The retailer of today and tomorrow, New York 1929, S. 3. German, Gene Arlin: The dynamics of food retailing 1900-1975, Ithaca 1978, S. 33. Auch: Lebhar, Godfrey M.: Chain stores in America, 1859-1959, New York 1959, S. 60. Die ersten Lebensmittelfilialbetriebe entstanden bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine detaillierte Analyse der Entwicklung der Filialunternehmen innerhalb verschiedener Phasen findet sich bei Lebhar. Vgl. Lebhar 1959, S. 23. Vgl. zu den verschiedenen Anwendungsbereichen: Alexander, Curth, Shaw 2004, S. 570; Lebhar 1959, S. 203; Tedlow 1996, S. 203; Zimmerman, Max Mandell: The Super Market, New York 1955, S. 3. Smith u. a. 1929. Deutsch 2004, S. 613. Eine spezielle kosten- und preissenkende Innovation war der bereits 1912 eröffnete „economy store“ des größten Filialunternehmens A&P, der auf
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druck auf den traditionellen Einzelhandel. Dieser reagierte mit der Diskriminierung der Filialunternehmen aufgrund ihrer angeblichen „unethical methods“24 und dem Zusammenschluss in ca. 260 Aktionsbündnissen gegen die Ketten. Konkret warf man den Filialunternehmen vor, dass sie qualitativ schlechte Waren unter dem Einkaufspreis verkauften, eine aggressive Werbung betrieben, die Angestellten zu gering bezahlten, die lokale Gemeinschaft ausbeuteten und die Anonymisierung der sozialen Beziehungen förderten.25 Die Reaktion der US-Regierung – das staatliche Verbot des unfairen Wettbewerbs im Rahmen des „Robinson-Patman-Act“ – war laut des American Institute of Food Distribution aufgrund des intensiven Wettbewerbs in der Praxis allerdings eher wirkungslos.26 Der in den Ketten kulminierende Konzentrationsprozess konnte letztlich nicht aufgehalten werden. Zwischen den frühen 1930er und den 1950er Jahre pendelte die Umsatzverteilung zwischen den Filialunternehmen und den selbständigen Einzelhändler immer um Werte von 65 gegenüber 35 Prozent.27 In einer stärker konstruktiven Reaktion nahmen die selbständigen Einzelhandelsunternehmen bestimmte Modernisierungsmaßnahmen in die eigene Geschäftspolitik auf: sie führten einige Prinzipien des zentralen Managements sowie die Barzahlung ein und verzichteten auf den Lieferservice. Gleichzeitig begannen sie ihre Geschäfte auf Selbstbedienung umzustellen und schlüpften damit in eine wichtige Vorreiterrolle. Darüber hinaus schlossen sich gegen Ende der 1920er Jahre immer mehr Einzelgeschäfte in freiwilligen Ketten wie z. B. Red and White Stores oder Independent Grocers‘ Alliance
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der Grundlage des so genannten cash-and-carry-Prinzips arbeitete: in kleinen Geschäftsräumen mit niedriger Miete und einem Verkäufer wurden dem Endverbraucher die Waren ohne Liefer- und Kreditservice angeboten. Vgl. Lebhar 1959, S. 28; Nystrom 1932, S.105f. Eine weitere Innovation der Ketten war die Aufnahme von Fleisch, Obst und Gemüse in das Sortiment in so genannten „combination stores“. Brown, Applebaum, Salmon 1970, S. 2; Liebs, Chester H.: Main Street to Miracle Mile. American roadside architecture, New York 1985, S. 121. Beckley, Ernest 1950, S. 32. Vgl. Zimmerman 1955, S. 3. American Institute of Food Distribution: Robinson-Patman guide book, New York 1940, S. Vf. Vgl. zur bundesstaatlichen und nationalen Regulierung des Wettbewerbs ingesamt: Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels: Einzelhandel in Amerika. Reiseeindrücke in USA von Vertretern des deutschen Einzelhandels, München 1957, S. 36; Hilke, Arnulf: Der amerikanische Supermarkt, Essen 1956, S. 20-22. Future Patterns in Food Retailing, in: PG, 9/1955, S. 67.
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zusammen, um von ähnlichen Vorteilen wie die Filialunternehmen zu profitieren.28 1930-1945:Die Politik des New Deal und die Zeit des Zweiten Weltkriegs Die Politik des New Deal rückte den „citizen consumer“ vom Beginn der 1930er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ins Zentrum des politischöffentlichen Interesses. Cohen hält fest, dass die „consumer“ als eine identifizierbare Gruppe in ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Prosperität mit den Faktoren „labour“ und „business“ gleichgestellt wurden.29 Gleichzeitig beobachtet Leach einen sprachlichen Wandel: während der Begriff „consumer“ zuvor seltener in der öffentlichen Sprache vertreten war, begann er zunehmend mit den Bezeichnungen „citizen“ und „worker“ zu konkurrieren.30 Auf der Grundlage keynesianischen Denkens wurden die Massenkonsumenten in die Verantwortung für hohe Produktivität und Vollbeschäftigung genommen, eine Aufgabe, die zuvor hauptsächlich der Produktion oblag. Damit erhielt nicht nur der Konsument einen neuen Stellenwert, sondern auch die Warenverteilung an den Endverbraucher nahm eine veränderte Rolle für die Entwicklung des Lebensstandards ein. Der stetig zunehmende Fluss an Waren und Geld, der durch den Einzelhandel strömte, trug zusätzlich zu dessen Bedeutungssteigerung bei.31 In diesem Kontext wurde in den 1930er und 1940er Jahren eine Reihe von staatlichen Maßnahmen umgesetzt, mit deren Hilfe das Verhältnis zwischen Massenproduktion, Massendistribution und Massenkonsum neu geordnet und letztlich die Anhebung der Kaufkraft bewirkt werden sollte.32 Der 1933 gegründete National Industrial Recovery Act (NIRA), in dem auch Verbraucher vertreten waren, hatte zum Ziel, Regeln für einen fairen Wettbewerb aufzustellen. Er legte Mindestpreise und Maximalarbeitszeiten fest.33 Neben ersten entscheidenden Lebensmittelgesetzen zum Schutz des Verbrauchers wurden auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene Gesetze verabschiedet, die in den Wettbewerb des Einzelhandels eingriffen. Zuvor ba 28
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Filene u. a. 1937, S. 34. Dazu ausführlicher: Zimmerman 1955, S. 9-14. In den 1930er Jahren erlebten die US-amerikanischen Einkaufsgenossenschaften schnell ein sehr starkes Wachstum. Während die Zahl der Filialunternehmen abnahm, hatten sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sie bereits 40 Prozent des Einzelhandelsumsatzes erreicht. Cohen 2001, S. 205. Vgl. auch: Mc Govern 2006, S. 3f.; Zukin 2005, S. 14. Leach 1993, S. 294. De Grazia 2005, S. 135, 140; Leach 1993, S. 271. Vgl. dazu für die zeitgenössische Bewertung in den Quellen z. B.: American Retail Federation 1939, S. 6 Vgl. Mc Govern 2006, S. 13. Cohen 2001, S. 206.
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sierten Reglementierungen häufig eher auf persönlichen Verhandlungen zwischen den Händlern und lokalen Ämtern.34 Den bereits erwähnten „Robinson-Patman-Act“ von 1936 und den „Miller-Tydings-Act“ von 1937, der den Bundesstaaten Preisbindungsabkommen durch besondere Gesetze ermöglichte, verabschiedete die Politik zum Großteil auf Verlangen des selbständigen Einzelhandels. Die Gesetze waren Ausdruck des grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den großen Konzernen sowie des Spannungsverhältnisses zwischen der Freiheit und dem Schutz der Verbraucher.35 Neben der staatlichen Reglementierung erfuhr der Handel im Zuge der Aufwertung seiner ökonomischen Rolle eine intensive wissenschaftliche Durchdringung durch ein neue Gruppe von Experten wie Ökonomen, Psychologen, Soziologen u. a.36 Die Fachliteratur der späten 1920er und frühen 1930er Jahre stellte die Bedeutung von wissenschaftlichen Studien und professioneller Weiterbildung im Einzelhandel besonders heraus: „The old-fashioned grocery store was to a large extent a storeroom. The merchant was a storekeeper. But the modern store is a scientific salesroom. The merchant is a modern salesengineer.“37
Angesichts der Komplexität des Marktes wurden sich die Einzelhandelsunternehmen der Notwendigkeit von Informationen über Produkte, Werbung, Preispolitik, Kreditmöglichkeiten und Konsumentenwünsche bewusst und richteten zum Teil eigene Forschungsabteilungen ein.38 Daneben charakterisiert die Zeit seit den 1920er Jahren ein produktives Zusammenwirken von verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsprojekten, Instituten, aber auch staatlichen Stellen wie dem Department of Commerce, dem Zensusbüro, den Handelskammern und den Verbänden des Handels. Sie beschäftigten sich mit der wissenschaftlichen Analyse sowie der statistischen Auswertung des Massenmarktes im Allgemeinen und des Einzelhandelssektors im Speziellen.39 Zur Professionalisierung des Einzelhandels trugen darüber hinaus 34 35 36 37
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Deutsch 2004, S. 613. Mc Govern 2006, S. 7. Friedman 2004, S. 152. Dipman 1935, S. 7. Auch: Bedell 1931, S. VIII, XIX; Dipman, O’ Brien 1940, S. 39; Filene u. a. 1937, S. 293, 296; Scientific Plan Increases Self-Help Store Appeal, in: PG, 6/1938; Urwick 1931, S. 118. Mc Govern siedelt die entsprechende systematische Verwissenschaftlichung in der Werbung in den 1920er Jahren an. Mc Govern 2006, S. 163. Urwick 1931, S. 159f. Urwick 1931, S. 74. Vgl. auch: Blattner, A.: Die Einzelhandelsverbände in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Internationales Gewerbearchiv: IGA, Zeitschrift für Klein-
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Hersteller, Großhändler und die verschiedenen Verbände des Handels bei, die die Effizienz durch das Angebot bestimmter Dienstleistungen im Bereich der Ladenplanung, der technischen Ausstattung, der Buchführung, der Aus- und Weiterbildung, der Werbung und der Finanzierung systematisch förderten.40 Die Betonung von Forschung und Wissenschaftlichkeit im Einzelhandel strahlte darüber hinaus einen Nimbus von Professionalität aus, der eine Rechtfertigungsgrundlage für das eigene Tun darstellte und der Abgrenzung und Selbststilisierung der neuen Experten diente.41 In diesem Zusammenhang waren Verwissenschaftlichung und Rationalisierung argumentativ eng mit Modernität und Fortschritt verknüpft: „Merchandising experts are pretty well agreed that open-top display table is one of the most effective pieces of selling equipment known to the science of retailing. […] Progressive merchants give the interiors of their stores a light, pleasing, cheerful appearance.”42
Im Quellenzitat wird ein ambivalentes Verständnis von Wissen und seiner Anwendung deutlich: Wissen soll die Gratwanderung zwischen Effizienzdenken und der Schaffung einer gefühlsbetonten, kundenfreundlichen Atmosphäre leisten. Der Versuch, die verschiedenen Anforderungen erfolgreich miteinander zu verknüpfen, wurde zu einer zentralen Aufgabe der Konsumenten- und Marktforschung. Trotzdem sprach man der Intuition, dem unternehmerischen Gespür und dem Verkaufsgeist weiterhin eine
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und Mittelunternehmen, 6, 1958, S. 108-122, hier S. 110. Vgl. auch in der Forschung: De Grazia 1998, S. 65; Leach 1993, S. 351f. Als entsprechendes Quellenbeispiel: American Institute of Food Distribution 1940; Domestic Distribution Department; Chamber of Commerce of the United States: Retail trade activities. An outline of activities for retailers that may be carried on by local chambers of commerce, Washington 1932. 1928 wurde zum ersten Mal ein „Census of Distribution” gemeinsam mit dem USamerikanischen Bevölkerungszensus durchgeführt. De Grazia 2005, S. 145. Leach führt diese Politik auf Hoovers Ausrichtung sowohl am Konsum als auch an der Produktion und der Bestärkung dieser Auffassung durch die Krise 1921/22 zurück. Die private Wirtschaft sah seiner Meinung nach in dieser Politik die Möglichkeit, größere Gewinne und institutionelle Legitimation zu erhalten. Leach 1993, S. 356-359, 382. American Retail Federation 1939, S. 7; Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, hier S. 4, EHI; Blattner 1958, S. 110. Friedman 2004, S. 152; Engstrom u. a., S. 10f.; Hitzler 1994, S. 27. Dipman 1935, S. 15. Auch: Scientific Plan Increases Self-Help Store Appeal, in: PG, 6/1938. Vgl. diese Argumentation für das Beispiel des Marketing: Strasser 2004, S. 157.
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wichtige Bedeutung zu.43 Der nicht immer rationell zu begründende Anspruch, dem Konsumenten zu gefallen, wurde in diesem Sinne als nicht genauer zu fassende „Kunst“ begriffen.44 Die Tendenzen der erstarkenden Verbraucherbewegung, der zunehmenden staatlichen Regulierung und der Verwissenschaftlichung der Massendistribution waren weit über die 1940er Jahre hinaus wirksam und erfuhren in der Nachkriegszeit eine Verstärkung. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg hatte neben der temporären Lebensmittelknappheit, der Einführung des Rationierungssystems und der staatlichen Preisregulierung ganz eigene längerfristige Konsequenzen für den Einzelhandel und sein Verhältnis zum Konsumenten. Die selbständigen Unternehmer verzeichneten in den 1940er Jahren aus verschiedenen Gründen einen stetig wachsenden Umsatzanteil, der 1945 auf 68 Prozent gegenüber 32 Prozent der Filialunternehmen gestiegen war.45 Während des Zweiten Weltkrieges bevorzugten die Konsumenten die selbständigen Geschäfte, weil sie sich dort als Stammkunden eine bessere Verhandlungsposition während der Warenknappheit erhofften. Außerdem konzentrierte sich das Sortiment der Selbständigen auf die Markenartikel, die in Zeiten zweifelhafter Qualität einen guten Absatz versprachen.46 Gleichzeitig verlangsamte sich die Expansion der Großunternehmen durch die vorübergehende gesetzliche Baubeschränkung. Der gesamte Einzelhandel erfuhr in diesem Zeitraum aber auch einen umfassenden Rationalisierungsschub in technischer und organisatorischer Hinsicht. Die Knappheit an Arbeitskräften förderte das Experimentieren mit neuen Verkaufsmethoden wie vorverpacktem Fleisch, Nicht-Lebensmitteln im Lebensmittelgeschäft und dem verstärkten Verzicht auf Serviceleistungen. Die Tiefkühlkost erlebte eine schnelle Akzeptanz bei den Konsumenten, da für den Kauf dieser Lebensmittel weniger Lebensmittelmarken notwendig waren.47 Die Voraussetzung für die Annahme der Verkaufs- und Produktneuheiten bildete die etablierte Massenkonsumgesellschaft: die Verbraucher hatten trotz der angespannten wirtschaftlichen Lage weiterhin das Bedürfnis
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44 45
46 47
Hilke 1956, S. 56, 61; Super Market Institute: How Super Market Institute serves its members and its industry. The story of a major trade association and its dedication to a precept “That there may be more for all”, Chicago 1960, S. 1. Salesmanship is Art in Self-Service Stores, in: PG, 5/1938. Vgl. auch: Hilke 1956, S. 61. Independents Again Gained On Chains In 1945, in: PG, 3/1946, S.37; Facts in food and grocery distributions as of January 1943, in: PG, 1/1943. Beckley, Ernest 1950, S. 21f. Vgl. Brand, Edward A.: Modern supermarket operation, New York 1963, S. 52; Future of Frozen Foods; New Packaging and Processing Developments, in: PG, 2/1946.
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einen gewissen Lebensstandard aufrecht zu erhalten und zeigten sich offen gegenüber neuen Konsumgütern und -optionen.48 1945 bis 1973 Der Konsens zwischen der Wirtschaft, den Arbeitnehmern und den staatlichen Institutionen, dass der Verbraucher seine persönlichen Wünsche und Pflichten zugleich durch Konsum erfülle, formte in der Nachkriegszeit das Verständnis von einem „citizen consumer”: „They agreed that economic salvation lay in a vital mass-consumption-oriented economy where good customers devoted to consuming 'more, newer, and better' were in fact good citizens.”49
Zimmerman stellte in diesem Sinne 1953 fest, dass sich alle staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure über die Wichtigkeit geringer Distributionskosten, die der „consuming republic“ zugutekamen und zum großen Teil auf einem effizient arbeitenden Einzelhandel und rationellen Verkaufsformen basierte, einig seien.50 Wie in einer Vielzahl von Lebensbereichen war die zentrale Frage auch für die Massendistribution seit den 1950er Jahren, wie mit „Wachstum“ auf allen Ebenen umzugehen sei.51 Im Einzelhandel schienen alle Zeichen auf stetig wachsende Dimensionen zu stehen, sowohl hinsichtlich der Unternehmensgröße als auch der Größe der einzelnen Geschäfte. Bis zum Ende der 1950er Jahre bestimmte der Nachkriegsboom die Entwicklung: der Anstieg der Geburtenrate und das Absinken des Heiratsalters, die steigenden Einkommen sowie der Trend zur Suburbanisierung und zum Eigenheim eröffneten die Aussicht auf einen quantitativ und qualitativ neuen Massenabsatz.52 Die Kehrseite der zunehmenden Komplexität und Segmentierung des Marktes war der Zugzwang zu differenzierteren Angeboten und die Notwendigkeit eines immer detaillierteren Wissens, um erfolgreich am Wettbewerb teilzuhaben.53 Die technische Entwicklung unterstützte die
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Vgl. Leach 1993, S. 266. Cohen 2001, S. 213. Zimmerman, Max: A challenge to World Distribution, in: SMM, 8/1953. Facing the Challenges of Growth, in: SMM, 11/1955. Vgl. Wilkens 1967, S. 13f. Vgl. Tedlow 1996, S. 6.
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neuen Anforderungen in der Steuerung und Planung: Anfang der 1960er Jahre hielt die elektronische Datenverarbeitung im Einzelhandel Einzug.54 Mit Beginn der 1960er Jahre verzeichnete der Handel einen extremen Gewinnverlust, der auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen war: das verlangsamte Bevölkerungswachstum, die Inflation, steigende Löhne und Energiekosten, die Intensivierung des Wettbewerbs sowie die hohe Geschäftsdichte.55 Neben den wirtschaftlichen Problemen wurde die gesellschaftliche Kritik an der fordistischen Massenkonsumgesellschaft und ihren Folgen lauter: Umweltschutz und Städtebau, Materialismus und Vermassung waren zentrale Themen.56 Trotzdem behielt das Modell der Massenkonsumgesellschaft für die Mehrheit der Bevölkerung ihre gesellschaftspolitische und kulturelle Bedeutung: nach innen und nach außen fand die Überlegenheit des kapitalistischen Wohlstandssystems ihre Bestätigung durch den Mangelkonsum hinter dem „Eisernen Vorhang“. 1.3 Die Entwicklung der Verkaufssysteme 1.3.1 Die Innovation des self-service-Modells Während des Ersten Weltkrieges wandelte der Einzelhändler Clarence Saunders sein Geschäft Piggly Wiggly Store in Memphis (Tennessee) in den ersten Lebensmittel-Selbstbedienungsladen um. In der Literatur wird immer wieder auf vereinzelte Versuche mit der Selbstbedienung vor 1916 hingewiesen z. B. in Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften und Handelsposten.57 Entscheidend ist jedoch, dass der self-service seit der Einführung durch Saunders zunächst in der Fachwelt und dann von einer breiten Öffentlichkeit als 54
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Brown, Applebaum, Salmon 1970, S. 12; Computers: The Food Industry’s Challenge, in: PG, 4/1965; The fantastic World of EDP, in SMM, 4/1961. Vgl. zu den verschiedenen Faktoren: German 1978, S. 231; McAusland, Randolph: Supermarkets, 50 years of progress. The history of a remarkable American institution, Washington D. C. 1980, S. 99; Walsh 1993, S. 42. Vgl. zu den Facetten der konsumkritischen Debatten: Cross 2000, S. 145-152. Zu möglichen Vorläufern der Selbstbedienung z. B.: Gerhard 1956, S. 10; German 1978, S. XX; Pelster, Helmut: Die Selbstbedienungsläden in den Konsumgenossenschaften der Bundesrepublik, Hamburg 1962, S. 17; Pusch, Dietrich R.: Entwicklungstendenzen der Selbstbedienungs- und Discountgeschäfte, in: Bidlingmaier, Johannes; Jacobi, Helmut; Uherek, Edgar W. (Hg.): Absatzpolitik und Distribution. Karl Christian Behrens zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1967, S. 209-235, hier S. 212f.; Stehlin 1955, S. 28; Zimmerman 1955, S. 19-21.
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eigenständige Verkaufsmethode und Innovation wahrgenommen wurde, die in bestimmten Punkten eine Verbesserung gegenüber dem Bedienungssystem im Lebensmitteleinzelhandel darstellte.58 Saunders kann als ein schöpferischer Unternehmer im Sinne Schumpeters verstanden werden, der sich durch die Umsetzung neuer Ideen nicht nur einen persönlichen Wettbewerbsvorteil verschaffte, sondern gleichzeitig einen langfristigen Innovationsprozess für den gesamten Lebensmitteileinzelhandel anstieß.59 Er meldete ein Patent auf die Selbstbedienung an und erhielt von weiteren Läden, die das System nutzten, bis zu ein Prozent der monatlichen Netto-Einnahmen.60 Saunders selbst errichtete das erfolgreiche Filialunternehmen Piggly Wiggly Co. Er betrieb 1922 400 von insgesamt 600 US-amerikanischen Selbstbedienungsläden. Die durchschnittliche Grundfläche eines Geschäftes betrug 128 m2, es bot Raum für 180 Käufer in der Stunde und beschäftigte durchschnittlich drei Angestellte.61 Der innovative Charakter des Geschäfts bestand darin, die Waren, an denen die Preise bereits ausgezeichnet waren, in offenen, für den Käufer zugänglichen Regalen und Auslagen zu präsentieren. Am Eingang befand sich ein Drehkreuz, durch das der Kunde den Laden betrat, um dann durch eine Art Einbahnstraße an allen Warenauslagen vorbei zur Kasse zu gelangen, dort bar zu bezahlen und den Laden durch ein weiteres Drehkreuz zu verlassen. Das System zielte darauf ab, den Kunden unmittelbar mit dem Warenangebot des gesamten Ladens zu konfrontieren, einschließlich der Produkte, die er eigentlich nicht geplant hatte mitzunehmen und so die Waren „sich selbst“ verkaufen zu lassen. Saunders bezeichnete seine neue Art des Verkaufens selbst als „scientific merchandising“.62 Die Anwendung der Prinzipien des scientific management aus der Industrie im Einzelhandel sollte v. a. durch organisatorische Rationalisierungsmaßnahmen die Produktivität erhöhen.63 An erster Stelle stand die Einsparung an Personal und Personalkosten. Vor den 1920er Jahren war Verkaufen noch eine hauptsächlich männliche Tätigkeit. Während des Ersten Weltkrieges wurden viele Männer zum Militärdienst eingezogen.64 Nach dem Krieg besserte sich zwar die Personalsituation, allerdings verteuerte sich die Arbeitskraft aufgrund der stei 58 59
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Vgl. Braun-Thürmann 2005, S. 6. Auch: Liebs 1985, S. 119. Vgl. Beckert 1997, S. 79; Braun-Thürmann 2005, S. 38f.; Kleinschmidt 2004, S. 265; Parsons, Rose 2004, S. 610. Charvat 1961, S. 14; Gerhard 1956, S. 10. Gerhard 1956, S. 11. Gurtner 1958, S. 19. Charvat 1961, S. 14. Liebs 1985, S. 119.
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genden Löhne. Gleichzeitig zielten die Unternehmer darauf ab, den Umsatz pro Verkäufer zu erhöhen. Das zentrale Mittel zur Umsatzsteigerung war und blieb auch in den folgenden Jahrzehnten der Impulskauf, d. h. der ungeplante, spontane Kauf der Waren.65 1939 ergab eine Studie, dass 38,2 Prozent der Einkäufe nicht geplant seien.66 Der Besitzer des Gemischtwarenladens Jitney Jungle Inc. in Jackson (Mississippi) erkannte die entscheidende Bedeutung der Kundenzirkulation. Er konzipierte 1919 eine patentierte Ladeneinrichtung, zu der zwei getrennte Eingangs- und Ausgangstüren, quer ververlaufende Gänge zwischen den Regalen und Warenauslagen sowie eine Kasse in U-Form gehörten, durch die der Kunde sich in alle Richtungen frei bewegen konnte. Die Größe eines Selbstbedienungsladens belief sich jetzt auf 160 bis 300 m2, so dass es zu weniger Gedränge der Kunden kam, die gleichzeitig Zeit beim Einkauf sparten.67 Trotz der vielen Vorteile, die die Selbstbedienung zu bieten schien, erfuhr sie von Anfang an Kritik durch den Einzelhandel. Als zentraler Nachteil in einem technischen Sinn wurde zu bedenken gegeben, dass die notwendige Ladeneinrichtung aufgrund der Größe und Form des Verkaufsraumes nicht für alle Geschäfte geeignet wäre. Die Kritiker befürchteten die Zunahme von Diebstählen und das Festhalten der Kunden am traditionellen Bedienungssystem.68 Als weitere Gründe gegen die Selbstbedienung wurden die Furcht vor dem Verlust des persönlichen Charakters und der Individualität des Geschäftes angeführt.69 Ein anderer Vorwurf zeichnete die Selbstbedienung als ein kaltes und mechanisches System.70 Auf der Grundlage der vorliegenden Quellen lassen sich von Seiten des Lebensmitteleinzelhandels bis auf die oben genannten Vorurteile allerdings keine extremen Widerstände gegen die neue Verkaufsmethode feststellen. Wichtig in diesem Zusammenhang war, dass die Umstellung der Geschäfte auf Selbstbedienung eine Strategie des selbständigen Einzelhandels darstellte, um sich im Wettbewerb gegen die erstarkenden Filialunternehmen zu behaupten. Einhergehend mit der Einführung der Selbstbedienung wurde 65
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Vgl. zur anhaltenden Bedeutung des Impulskaufs z. B.: Boorstin 1973, S. 116; Charvat 1961, S. 47; Dipman 1935, S. 7; How Self-Service Promotes Extra Impulse Sales, in: PG, 7/1948; Liebs 1985, S. 120. A study of grocery store operations 1948, o. S. Dipman 1940, S. 163; Dipman u. a. 1946, S. 148. Beckley, Ernest 1950, S. 86; Duncan, Phillips 1967, S. 171. Dipman, Carl William; Mueller, Robert W.; Head, Ralph E.: Self-service food stores, New York 1946, S. 9. Can a Self-Service Store Be Beautiful and Immaculate, and Still Offer Lowest Prices?, in: PG, 1/1947; Dipman u. a. 1946, S. 252.
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dennoch stets die Notwendigkeit eines „mental adjustment“ im Sinne einer Abkehr von alten Ideen und Gewohnheiten betont. Sie war zum einen Teil der ständigen Rhetorik vom permanenten Modernisierungsstreben des Einzelhandels.71 Zum anderen spiegelte sie die in gewissem Maße vorhandene Skepsis des Einzelhandels gegenüber der Innovation wider. Der ServiceGedanke hatte laut Leach Anfang des 20. Jahrhunderts eine enorme Aufwertung und Bedeutungssteigerung im Einzelhandel und im gesamten Dienstleistungssektor erfahren. Ziel war es „what German Americans called gemütlichkeit“ im Sinne von Komfort und Entspannung für den Kunden zu institutionalisieren.72 Trotzdem lässt sich bereits im Verlauf der 1920er Jahre ein nicht unbedeutender, gradueller Übergang des Lebensmitteleinzelhandels zur Selbstbedienung beobachten, der sich in der steigenden Zahl an Geschäften mit voller oder Teil-Selbstbedienung äußerte.73 Zunächst stellte die Selbstbedienung ein regionales Phänomen dar, das sich v. a. an der Pazifikküste, in Florida und im Südwesten der USA ausbreitete. Im Norden, Osten und der Mitte des Landes hingegen war die Zahl der Geschäfte mit Selbstbedienung bis in die 1930er Jahre noch um einiges geringer.74 Als Gründe wurden – ebenso wie im Fall der ländlichen Nachzügler – der konservative Verbraucher und das mangelnde Wissen über die Selbstbedienung angeführt.75 Ende der 71 72
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Dipman u. a. 1946, S. 23. Leach 1993, S. 112. Lieberich hielt Ende der 1920er Jahre fest, dass der „ServiceGedanke” der „rote Faden” der amerikanischen Wirtschaft sei, der eine intensive Einstellung auf den Kunden impliziere, um ihm den Einkauf so angenehm wie möglich zu machen. Lieberich 1928, S. 79. Ebenso: Hirsch 1926, S. 83. Liebs 1985, S. 120. Self-Service Stores Are Coming, in: PG, 10/1937. In Kalifornien konnten die Zeitgenossen in den 1920er Jahren den Boom der so genannten „drive-in-markets“ erleben, die sich durch große Laden- und Parkflächen sowie eine intensive Werbung auszeichneten und die entscheidende Grundlage für die Etablierung des Supermarktes an der Westküste legten. Vgl. Charvat 1961, S. 11-16; Longstreth, Richard W.: The drive-in, the supermarket, and the transformation of commerical space in Los Angeles, 1914 - 1941, Cambridge Mass. 2000. Does Self-Service Really Help Country Stores, in: PG, 2/1945; Should Country Stores go Self-Service, in: PG, 6/1946. Vgl. zur Entwicklung der Selbstbedienung im Südwesten der USA: Tolbert, Lisa C.: The Aristocracy of the Market Basket: SelfService Food Shopping in the New South, in: Belasco, Warren; Horowitz, Roger (Hg.): Food Chains. From Farmyard to Shopping Cart, Philadelphia 2009, S. 179-195. In ihrer Regionalstudie zeigt Tolbert, dass die Selbstbedienung in den USA nicht nur unter einer räumlich-geographischer differenzierten Perspektive untersucht werden muss, sondern dass in diesem Zusammenhang die in den Regionen unterschiedlich gestalteten gesellschaftlichen Strukturen der Klasse und der Rasse einen entscheidenden Einfluss auf die
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1920er Jahre gingen die Filialunternehmen aufgrund des spürbaren Erfolgs der Selbstbedienungsläden zu diesem Verkaufssystem über und wurden in der Folgezeit zum eigentlichen Motor der Entwicklung. Ihre Unternehmensstruktur mit integrierten Produktions- und Verpackungsstätten, aber auch der Wissensfluss und die Organisation der Weiterbildung für Verkäufer und Unternehmer begünstigte die Durchsetzung von Neuerungen. Der Großhandel und die Verbände des Handels boten ebenfalls eine Reihe von Serviceleistungen an, die den Einzelhändlern den Übergang zum neuen Verkaufssystem erleichterten, wie die Ladenplanung, die Bereitstellung von technischen Einrichtungen und Finanzierungsmodellen sowie Weiterbildungsangebote.76 Neben den Rationalisierungsmöglichkeiten, die die Selbstbedienung für den Massenabsatz im Einzelhandel eröffnete, fand sie den breiten Zuspruch der Konsumenten. Dipman u. a. gaben 1946 an, dass bis zu 85 Prozent der Frauen den Verkauf in Selbstbedienung gegenüber der Bedienung bevorzugten.77 Die Gründe, die von der Kundenseite für die Verkaufsform sprachen, waren die Zeitersparnis und die Freiheit, sich unabhängig vom Verkäufer mit den Waren auseinanderzusetzen. Die Kunden lehnten das zuvor weit verbreitete „pressure selling“ des bedienenden Verkaufspersonals zunehmend ab.78 In einer Regionalstudie hat Tolbert in diesem Zusammenhang festgehalten, dass die Depersonalisierung des Kaufaktes der Abneigung der Kundinnen der Mittelklasse gegenüber der hauptsächlich männlich geprägten Kultur des Verkaufens im Lebensmittelgeschäft entgegen kam.79 Darüber hinaus entsprachen die Möglichkeiten zur Kostensenkung dem Preisbewusstsein der Verbraucher. In seiner Bewertung des Phänomens lud der Handel die Bevorzugung der Selbstbedienung durch die Konsumenten mit gesellschaftlichen Stereotypen auf: „Preference for browsing and looking at their own pace may be an example of American unwillingness to subscribe to regimentation, however slight.“80 Longstreth ist der Meinung, dass die Durchsetzung der Selbstbedienung möglicherweise die unvermeidbare Folge einer konsumorientierten, gut informierten Bevölkerung mit zunehmendem 76 77 78 79 80
Nutzung der neuen Verkaufsform hatten. Sie arbeitet heraus, dass die hauptsächliche Zielgruppe weiße Frauen der Mittelklasse darstellten. Blattner 1958, S. 115f. Dipman u. a. 1946, S. 6. Baker, Bernard F.: Effective retail selling, Chicago 1939, S. 42f.; Bunting 1954, S. 3. Tolbert 2009, S. 189. Regan, William J.: Self-service in retailing, in: Journal of Marketing, 24, 1959/60, H. 4, S. 43-48.
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Einkommen darstellte.81 Sicherlich förderte die Freiheit der Auswahl in Selbstbedienung die Emanzipation der Konsumenten, die sich mit steigenden Einkommen im Käufermarkt auf eine immer differenzierte Art und Weise mehr leisten konnten und an der zunehmenden Vielfalt der Einkaufsmöglichkeiten und der Warenwelt teilhaben wollten. 1.3.2 Der supermarket: vom depression baby zur US-amerikanischen Institution Sowohl in den Quellen als auch in der Sekundärliteratur herrscht Einigkeit darüber, dass der Supermarkt der eigentliche „Motor“ der Selbstbedienung war.82 Die Entwicklung der US-amerikanischen Supermärkte lässt sich in verschiedene Phasen einteilen. Die Zeit zwischen 1930 und 1935 prägte das Aufkommen der frühen Supermärkte, der so genannten „cheapy supermarkets“. Die Phase bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich durch das starke quantitative Wachstum, die qualitative Ausdifferenzierung und den regional übergreifenden Übergang aller Betriebsformen zum Supermarkt aus. Die 1930er Jahre bildeten eine Zeit der Gleichzeitigkeiten und Unsicherheiten, weil eine Reihe von Verkaufsmethoden, Vertriebssystemen und Betriebsformen nebeneinander existierte und mit jeweils verschiedenen Aspekten experimentiert wurde.83 Der Einzelhandel der Nachkriegszeit baute auf einem etablierten, standardisierten System des Supermarktes auf, dessen grundsätzlicher Findungsprozess weitgehend abgeschlossen war.84 Beim Supermarkt handelt es sich weder nur um einen größeren Selbstbedienungsladen noch um eine vollständig neu erfundene Verkaufsmethode. Vielmehr basierte er auf der Kombination verschiedener Prinzipien, die primär auf niedrige Kosten und Preise sowie einen massierten Absatz zielten.85 Damit reagierte die neue Vertriebsform auf die Produktions-, Han 81 82
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Longstreth 2000, S. XIV. Vgl. auch: Cross 2000, S. 32. Vgl. z. B.: Gerhard 1956, S. 13; Gurtner 1958, S. 19; Mertes, John E.: Self-selection in the retail store. An historical and functional analysis, Norman 1960, S. 5; SchulzKlingauf 1960, S. 305. Vgl. Deutsch, Tracey: From “wild animal stores” to women’s sphere: supermarkets and the politics of mass consumption, 1930-1950, in: Business and Economic History, 28, 1999, S. 143-153, hier S. 144; Liebs 1985, S. 124. In den Quellen dazu: Zimmerman, in: SMM, 11/1936; Zimmerman, Max Mandell: The super market grows up. An analysis of progress in the expanding field of self-service distribution, New York 1939, S. 4. Vgl. Deutsch 1999, S. 151; Liebs 1985, S. 128. Applebaum, William; Carson, David: Supermarkets face the future, in: Harvard Business
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dels- und Konsumstrukturen der frühen 1930er Jahre. Der Börsencrash vom Oktober 1929 hatte die Depression eingeleitet, die die USamerikanische Prosperität der 1920er beendete: das Bruttosozialprodukt halbierte sich zwischen 1929 und 1933 fast und das Pro-Kopf-Einkommen sank im selben Zeitraum von 683 Dollar auf 362 Dollar.86 Die Überproduktion wurde nun zu einem eklatanten Problem.87 Der selbständige Einzelhandel und die Filialunternehmen hatten den Höhepunkt ihrer Expansion erreicht und waren nicht mehr in der Lage, die dringend notwendige Senkung der Kosten vorzunehmen.88 Die Verbraucher hielten trotz steigender Arbeitslosenzahlen an ihren Konsumgewohnheiten fest, die sie sich mit einem ausgeprägten Preisbewusstsein zu erkaufen versuchten. Der Journalist Samuel Strauss beobachtete bereits Mitte der 1920er einen so genannten „consumptionism“ der US-amerikanischen Bevölkerung, bei dem der erworbene Lebensstandard eine sakrosankte Errungenschaft darstellte und fest in das kapitalistische Wirtschaftssystem eingebunden war.89 Cross spricht in diesem Zusammenhang für den Zeitraum der Depression von einem „frustrierten Konsum“, in dem sich auch der Wunsch nach Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung zwischen der Hausfrau als aktiver Verbraucherin und dem Mannes als „breadwinner“ äußerte.90 Die Industrie nutzte diese Situation für die Etablierung neuer und aggressiver Marketingstrategien: die Zeitungen waren voll mit Werbeanzeigen, die den Eindruck des Überflusses vermittelten. Als Reaktion auf die schwierige Absatzlage schlug der Einzelhandelsangestellte Michael Cullen seinem Arbeitgeber, dem Filialunternehmen Kroger Co., ein umfassendes Rationalisierungsprogramm vor, das die Unternehmensleitung allerdings ablehnte. Daraufhin machte er sich 1930 selbständig und eröffnete unter dem Namen King Kullen den ersten Supermarkt in einer
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Review, 35, 1957, H. 2, S. 123-135, hier S. 124; Boorstin 1973, S. 117; Mc Ausland 1980, S. 5; Prince, Jeffrey R.: Super Market Institute. The first forty years, 1977, S. 1; Sédillot, René: Vom Tauschhandel zum Supermarkt. Die Story der Händler und Märkte, Stuttgart 1966, S. 340. Schröter dagegen nimmt keine Differenzierung zwischen der Entwicklung der Selbstbedienung und den Supermärkten in den USA vor. Schröter 2001, S. 248. German 1978, S. 60. Cross 2000, S. 135. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, hier S. 23, EHI; Hilke 1956, S. 23; Zimmerman 1955, S. 1. Zitiert nach: Leach 1993, S. 266, auch S. 387. Vgl. Cross 2000, S. 67.
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leer stehenden Garage in Jamaica (New York).91 Seine grundlegenden Prinzipien waren für die nachfolgenden Supermärkte wegweisend: „Cullen called for a large no-frills store in a low-rent district on the outskirts of town; this would slash operating costs, symbolize bargain prices, and make free parking feasible. He planned to sell national brands at cost and at low markups that would yield wafer-thin margins, but that would attract crowds of shoppers. Concessions would handle meat, produce, dairy, deli, and household items and thus provide one-stop shopping. Finally, he would develop bold, price-oriented advertising.“92
Während die Filialunternehmen seit den 1920er Jahren mit ihren Niedrigpreisen und einem gewissen Verzicht auf Service den Wettbewerb erfolgreich dominiert hatten, wurden sie jetzt durch die systematische und extreme Preisunterbietung der Supermärkte herausgefordert. Ihre Preise lagen im Durchschnitt 10 Prozent unter denen der Filialunternehmen und 30 Prozent unter denen der selbständigen Einzelhändler.93 So kostete ein Staubsauger bei King Kullen etwa 12 Dollar statt der handelsüblichen 35 Dollar.94 Die zeitgenössische Bezeichnung der Supermärkte als „the poor man’s store“ bezog sich dabei nicht nur auf die Preisgestaltung, sondern auch auf die Einrichtung der neuen Läden. Die ersten Supermärkte wurden in leerstehenden Fabrikhallen und Garagen in Stadtrandlage mit einer provisorischen Ausstattung eröffnet. Somit konnten sie eine größere Anzahl von Waren des täglichen Bedarfs besonders günstig, zum Teil unter dem Einkaufspreis, verkaufen und ersparten den Kunden gleichzeitig die Zeit der Suche nach den billigsten Angeboten in verschiedenen Geschäften. Das Sortiment konzentrierte sich auf Markenartikel, die das Vertrauen der Konsumenten genossen.95 Die quantitativen Dimensionen der Geschäfte ließen sich nicht 91 92
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Charvat 1961, S. 18f.; Zimmerman 1955, S. 57ff. Mc Ausland 1980, S. 5. Vgl. Alexander, Curth, Shaw 2004, S. 570; Charvat 1961, S. 157; Zimmerman 1955, S. 32-39. In der Literatur werden die frühen Supermärkte, die nach dem Modell King Kullens an der Ostküste der USA entstanden, von den großen Märkten und „drive-in-markets“ an der Westküste und v. a. in Kalifornien abgegrenzt. Sie bestanden bereits seit den 1920er Jahren und arbeiteten mit einigen Prinzipien der Supermärkte der 1930er Jahre. Allerdings hält Charvat fest, dass sie das Prinzip der Selbstbedienung noch nicht konsequent einsetzten. Charvat 1961, S. 11. Zimmerman dagegen war der Meinung, dass sie Supermärkte waren, auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichneten. Zimmerman 1955, S. 17. Vgl. auch: Longstreth 2000. Butt, Clifford; Hailes, William D.; Hemenway, Wesley: Introduction to supermarket occupations, Albany 1967, S. 22. Charvat 1961, S. 19. Vgl. Gerhard 1956, S. 14. Auch: Charvat 1961, S. 18; Pelster 1962, S. 20.
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mit dem traditionellen Einzelhandel vergleichen. Der 1932 eröffnete Supermarkt Big Bear in Elizabeth (New Jersey) war mit 4645 m² und elf Warenabteilungen noch größer als King Kullen.96 Die Kassierer nahmen in den ersten drei Tagen mit fast 32.000 Dollar mehr ein als den Jahresnettogewinn eines durchschnittlichen Bedienungsladens.97 Das Innovationspotenzial, das die Supermärkte für die Einzelhandelslandschaft darstellten und die dadurch hervorgerufene Unsicherheit bildeten sich auch deutlich auf sprachlicher Ebene ab. King Kullen, Big Bear u. a. bezeichneten sich selbst als „cheapies“. Der Begriff „Super Market“ wurde erstmals von dem Einzelhandelsunternehmen Albers in Cincinnati für die Eröffnung eines neuen Ladens benutzt.98 Oft wählten die Supermarktunternehmer Namen von Wildtieren wie „The Whale“, „Giant Tiger“, oder „Bull Market“ als Geschäftsbezeichnungen. In ihrer Werbung traten sie als „price crusher“ und „price wrecker“ auf, was ihre wettbewerbliche Aggressivität ausdrücken sollte.99 Kritiker hingegen taten die ersten Supermärkte als „depression babys“ ab. Zimmerman beschrieb 1936 die beiden Lager folgendermaßen: während die Befürworter meinten, die Supermärkte seien die moderne Form des Verkaufens, glaubten die Gegner, dass die Verbraucher nach der Depression wieder zu ihren Stammgeschäften zurückkehren und bereitwillig für den Service zahlen würden.100 Anfangs passten die neuen Läden nicht in die konventionelle Terminologie des Einzelhandels, da sie zwar hauptsächlich von selbständigen Unternehmern geführt wurden, aber über einen weit höheren Umsatz, eine größere Ladenfläche und ein breiteres Sortiment verfügten als das traditionelle „small business“.101 Der US-amerikanische Handelszensus lehnte es ab, den Supermarkt als selbständiges Unternehmen zu bezeichnen und richtete infolge dessen eine spezielle Kategorie ein, die den Einzelhandel nach dem Kriterium der Selbstbedienung und nicht nach dem jährlichen Umsatz analysierte.102 Die Schwierigkeit einer klaren und einheitlichen Definition blieb aber in den folgenden Jahrzehnten bestehen, da sich die Dimensionen permanent im Wandel befanden und die Charakterisierung weiterhin eng an bestimmte Umsatzvorstellungen gebunden blieb. Zimmerman gab in seinen
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Butt u. a. 1967, S. 22. Prince 1977, S. 2. Butt u. a. 1967, S. 23; German 1978, S. 66. Charvat 1961, S. 19; Filene u. a. 1937, S. 182; Prince 1977, S. 2. Zimmerman, in: SMM, 11/1936. Auch: Zimmerman 1955, S. 45. Deutsch 1999, S. 147. Deutsch 2004, S. 611.
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ersten Artikeln zum Supermarkt in der Fachpresse Mitte der 1930er Jahre folgende Definition: „A Super Market is a highly departmentalized retail establishment, dealing in foods and other merchandise, either wholly owned or concession operated, with adequate parking space, doing a minimum of $250,000 annually. The grocery department, however, must be on a self-service basis.”103
Die Umsatzanforderungen stiegen im Laufe der Jahre und beliefen sich 1955 auf 400.000 Dollar, Ende der 1960er Jahre wurde eine Spanne zwischen 500.000 bis zu einer Million Dollar angegeben. Allerdings herrschte zwischen verschiedenen Institutionen weiterhin Uneinigkeit über die Umsatzanforderungen.104 Den zunehmenden Erfolg der Supermärkte begleiteten verschiedenartige Abwehrreaktionen der Industrie und des Handels. Speziell die Produzenten der Markenartikel zeigten ein ambivalentes Verhalten. Sie sahen in den Supermärkten einen neuen, bedeutenden Absatzkanal, v. a. da sie von den Eigenmarken der freiwilligen Ketten und der Filialunternehmen seit dem Ende der 1920er Jahre verstärkt Konkurrenz erhielten. Allerdings verkauften sie bis zum Eintritt der Filialunternehmen in das Supermarktgeschäft nur zögerlich an die neuen Läden, da sie befürchteten, dass die Belieferung der Selbstbedienungsläden von den Ketten mit einem Abnahmestopp sanktioniert würde.105 Der Einzelhandel kritisierte, dass die Supermärkte durch den intensiven Preiswettbewerb dem Absatzwesen nachhaltig schaden würden. Die neuen Läden demonstrierten in der Praxis, die Möglichkeit einer Senkung der Betriebskosten und somit der Endverbraucherpreise.106 Es wurde auch deutlich, dass die Kunden unter dem Motto „We want less service and more merchandise“ – ähnlich wie bei den frühen Selbstbedienungsläden – bereit waren, auf Serviceleistungen zugunsten billigerer Produkte zu verzichten und bestimmte Aufgaben beim Einkauf selbst zu übernehmen.107 Auf diese Weise erhielten sich die Verbraucher ihren bestehenden Lebensstandard trotz sinkender Einkommen.108
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Zahlen nach: Zimmerman 1955, S. 18. Charvat 1961, S. 7; Selbstbedienung, 11/1959, S. 3; Super Markt Institute: The super market industry speaks, Chicago 1955, S. 10; Zimmerman 1955, S. 18. Zimmerman 1955, S. 50f. Vgl. Zimmerman, in: SMM, 1/1937 Pelster 1962, S. 18f. Filene u. a. 1937, S. 35; Pelster 1962, S. 18f.; Stehlin 1955, S. 29.
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Darüber hinaus spiegelten die Vertriebsformen verschiedene Vorstellungen vom sozialen Status der Einkaufsstätten und vom Einkaufsverhalten der Kunden wider.109 Für das Image eines Einzelhandelsunternehmens war es eine bedeutende Entscheidung Niedrigpreise als Teil der Unternehmenspolitik zu akzeptieren.110 So stritt der Interessensverband der freiwilligen Ketten z. B. bis zur Mitte der 1930er Jahre eine Verbindung mit Supermärkten ab. Viele Filialunternehmen eröffneten Supermärkte zunächst nur unter Decknamen.111 Darüber hinaus hatten die Einzelhandelsunternehmen unterschiedliche Vorstellungen davon, was die Konsumenten in den Läden erwarteten und wie sie sich entsprechend verhielten bzw. verhalten sollten. Es wurden etwa Bedenken gegenüber möglichen Verhaltensabweichungen der Kunden in der zirkushaften Atmosphäre der ersten Supermärkte geäußert.112 Die Filialunternehmen betonten im Gegensatz dazu die „Anständigkeit“ ihrer Kunden und die spezielle Aufmerksamkeit, die sie ihnen während des Einkaufs zukommen ließen. Mit verschiedenen Mitteln versuchten sie diesen Anspruch zu bekräftigen: A&P veröffentlichte ein Frauenmagazin, Kroger Co. ließ in seinen Geschäften einen Koch im Beisein der Kundinnen Mahlzeiten zubereiten.113 Als die Filialunternehmen selbst Supermärkte eröffneten, versuchten sie in Abgrenzung zu den „cheapy supermarkets“ ein eigenes Image des Supermarktes zu entwickeln. Deutsch hat in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass die Ketten den Supermarkt zu einem Mittelklasse-Phänomen verengten, dessen Zielgruppe die Frauen der Mittelund Oberschicht bildeten.114 Die Pioniere der Supermärkte dagegen betonten, potenziell offen für alle Konsumenten zu sein. Sie verstanden sich als Inbegriff des Massenabsatzes und der Wahlfreiheit für ein Massenpublikum.115 Dieser Anspruch ging mit spezifischen Vorstellungen von Weiblichkeit einher: sie feierten sich als „triumph of female taste“, der zeigte, dass die modernen Kundinnen keine extravagante Einrichtung und Service
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Leach hat gezeigt, dass die Warenhäuser und Gemischtwarenläden der Jahrhundertwende versuchten, den Geschmack und das ästhetische Empfinden der „Masse“ und der „Klasse“ zu vereinen, d. h. sowohl die Mittelklasse als auch die Arbeiterklasse sollten bei der Inneneinrichtung und Ladengestaltung Berücksichtigung finden. Leach 1993, S. 78. Brand 1963, S. 62. Charvat 1961, S. 26; The Voluntary and the Super, in: SMM, 4/1937. Brand 1963, S. 1; Butt u. a. 1967, S. 22. Deutsch 1999, S. 148. Vgl. dazu die Angaben in den Quellen: Zimmerman 1939, S. 12. Deutsch 1999, S. 150. Vgl. Humphery 1998, S. 5.
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wünschten, sondern Freiheit in der Auswahl und Bequemlichkeit.116 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die verschiedenen Bewertungen, Interpretationen und konkreten Umsetzungen der Vertriebsform des Supermarktes konkurrierende Vorstellungen von Massenkonsum und den dazugehörigen Konsumenten widerspiegelten. Diese Parallelität zeugte zugleich von einer gewissen Offenheit in der Entwicklung der Einzelhandelslandschaft. Welches Modell sich letztlich durchsetzen sollte, war während der Depression nicht abzusehen. Vielmehr tolerierte die Massenkonsumgesellschaft eine Reihe von gleichzeitigen Optionen.117 In der Nachkriegszeit dagegen operierte die Vertriebspolitik der Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels auf der Grundlage eines Konsenses über ein stark standardisiertes, technisch und organisatorisch ausgereiftes Modell des Supermarktes. Bis zur Mitte der 1930er Jahre allerdings war die Einzelhandelslandschaft noch von verschiedenartigen Abwehrreaktionen einer Vielzahl etablierter Unternehmen gegen den Supermarkt geprägt. Sie reichten von aktivem und organisiertem Widerstand bis hin zu verschiedenen Anpassungsmaßnahmen an die neue Wettbewerbssitutation. Im Fall von Big Bear schlossen sich freiwillige Ketten, Filialunternehmen und selbständige Einzelhändler zum ersten Mal zusammen, um den Supermarkt durch Gesetzesentwürfe, Zeitungsartikel und Gegenwerbung zu bekämpfen. Auch die traditionelle Fachpresse des Handels schloss sich zunächst der Gegenpropaganda an.118 In der New Jersey Assembly wurde ein Erlass erreicht, der den Verkauf zum oder unter dem Einkaufspreis verbot.119 Das Bündnis forderte die lokale Presse auf,
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Longstreth 2000, S. XVII. Angeblich zogen die Supermärkte aber gleichzeitig auch mehr Männer an. Der Einkauf im Supermarkt habe sich besser mit ihrem Ego vereinbaren lassen, anstatt sich in einem überfüllten Laden mit dem bedienenden Verkäufer auseinandersetzen zu müssen. Außerdem konnte Mann seine Neigung zum Entdeckertum ausleben. Low Prices not Sole Factor in Consumers Acceptance for Supers, in: SMM, 5/1937. Mc Govern zeichnet in seiner Untersuchung zur Werbebranche und der Verbraucherbewegung ebenfalls einen offenen Konflikt zwischen diesen beiden Akteuren der Massenkonsumgesellschaft nach, bei dem über Reglementierungen, die zukünftige Richtung des Massenkonsums und dem Anspruch, den Konsumenten zu repräsentieren, verhandelt wurde. Mc Govern 2006, S. 16. Die Fachzeitschrift Progressive Grocer, deren Zielgruppe die unabhängigen Einzelhändler waren, kritisierte die Supermärkte anfangs vehement als vernichtende Konkurrenz der Selbständigen. 1942 dagegen bezeichnete man sich bereits als „tops for supermarket merchandising ideas and information“. Titelblatt PG, 2/1942. Vgl. German 1978, S. 66; Hilke 1956, S. 26; Zimmerman 1955, S. 44f. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67,
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keine Anzeigen von Big Bear abzudrucken und verfasste Artikel, die die neuen Läden moralisch diffamierten. Der Konflikt war landesweit in der Presse zu verfolgen und verbreitete die „revolution in food merchandising“ wie ein Lauffeuer.120 Die Kampagne entwickelte sich somit konträr zu den ursprünglichen Erwartungen: je stärker die Supermärkte für ihre niedrigen Preise und ihr riesigen Ladenflächen mit großer Auswahl kritisiert wurden, desto mehr fühlten sich die Konsumenten bestätigt, dort zu finden, was sie eigentlich suchten. Auch an anderen Orten gründeten sich Zusammenschlüsse, die die Eröffnung neuer Supermärkte verhindern und die Industrie, den Großhandel sowie die Öffentlichkeit mobilisieren sollten, wie z. B. die Home Defense League von 850 Einzelhändlern in Detroit.121 Die Filialunternehmen brachte die Konkurrenz der neuen Läden in eine zwiespältige Situation. Die Preise der Supermärkte waren auf einem so niedrigen Niveau angesetzt, dass sich die Filialen einen Wettbewerb auf dieser Grundlage einfach nicht leisten konnten. Außerdem wäre diese Strategie angesichts der bereits bestehenden Kritik und politischen Reglementierung der Ketten nicht besonders geschickt gewesen.122 Gleichzeitig versprachen die Supermärkte mit ihren großen Ladenflächen in Bezug auf die Steuergesetzgebung aber auch Vorteile für die Ketten: sie wurden unabhängig von der Größe ihrer einzelnen Filialen nur für deren Anzahl besteuert.123 Die erste Reaktion der Filialunternehmen bestand darin, viele kleine unrentable Geschäfte zu schließen, die bestehenden Läden zu vergrößern und eigene Modelle zur Preisreduktion zu entwickeln. Safeway eröffnete z. B. neben dem herkömmlichen Geschäftsraum eine dem Supermarkt ähnliche Abteilung mit dem Namen „Pay-N-Takit“.124 Ab 1936 begannen die Filialunternehmen offensiv mit dem Prinzip des Supermarktes zu experimentieren und betrieben seit 1937 aktiv deren Neubau. Von nun an waren sie ein einflussreicher und sehr erfolgreicher Faktor in der Weiterentwicklung der Supermärkte.125 Damit leiteten sie auch die zweite Phase der Entwicklung ein. Charvat bezeichnete den Zeitraum zwischen der Mitte der 1930er Jahre und dem Ende des Zweiten Weltkrieges als „period of experimental growth 120 121
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hier S. 29, EHI. Prince 1977, S. 2. Auch: Charvat 1961, S. 155. Liebs 1985, S. 126. In Boston forderte der Einzelhandel von staatlichen Stellen, die Ladenöffnungszeiten gesetzlich festzulegen, um dem nächtlichen Wettbewerb der Supermärkte Einhalt zu gebieten. Zimmerman, in: SMM, 1/1937. Deutsch 1999, S. 146. Mahoney 1955, S. 181. Lebhar 1959, S. 241-245; Tedlow 1996, S. 243. Lebhar 1959, S. 3; Mc Ausland 1980, S. 15.
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and development“.126 Für die Eröffnung eines Supermarktes wurden jetzt neue Gebäude an zum Teil zentralen Standorten errichtet und die Ausstattung sowie die Warenauslage aufwendiger gestaltet. Ladenbaufirmen entwickelten spezielle Einrichtungen für Supermärkte und die Einzelhandelsunternehmen erhielten professionelle Unterstützung von Architekten und Ladenbauern. Wie im Fall der Selbstbedienung boten die Programme des Großhandels, der freiwilligen Zusammenschlüsse und der Handelsverbände Hilfe bei der Eröffnung von Supermärkten an.127 Neben dem wirtschaftlichen Erfolg war die Öffentlichkeitsarbeit des 1937 gegründeten Super Market Institute (SMI) ein entscheidender PushFaktor für die Etablierung der Supermärkte in allen Betriebsformen des Einzelhandels. Ein Jahr zuvor hatte der Journalist Max Mandell Zimmerman begonnen, die Fachzeitschrift Super Market Merchandising (SMM) herauszugeben, die sich als zentrale Austauschstelle für sämtliches Wissen über den Massenabsatz verstand.128 Zimmerman initiierte den nationalen Zusammenschluss großer und kleiner Supermarktunternehmer, um der neuen Vertriebsform eine einheitliche Stimme in der Öffentlichkeit zu verschaffen – das Institut sollte ein Sprachrohr gegenüber den Wettbewerbern und den Konsumenten sein.129 Zunächst war die gemeinsame Organisation eine Reaktion auf die Vorurteile gegen die neue Verkaufsform: es sollten Fakten präsentiert und somit das negative Bild vom Supermarkt in der Öffentlichkeit widerlegt werden.130 Die langfristigen Ziele umfassten unter dem Motto „that there may be more for all“ die gemeinschaftliche Lösung aller praktischen Fragen des Supermarktes, das Angebot von Weiterbildungen sowie die Weitergabe der Informationen an einen breiten Kreis von Interessenten.131 Die Bedeutung des SMI tritt noch deutlicher hervor, wenn man die bereits angesprochene zentrale Rolle von Forschung und wissenschaftlicher Analyse für den Einzelhandel berücksichtigt, die auch im Zusammenhang
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Charvat 1961, S. 25. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, hier S. 36, EHI; Hilke 1956, S. 36; Power of the Independent Super, in: SMM, 1/1954; Silvers, E. R.: Moderne Tendenzen des Selbstbedienungsgeschäftes in Amerika, in: Böckli, Hans Rudolf (Hg.): Neue Aspekte der Selbstbedienung, Rüschlikon 1958, S. 1928, hier S. 19; Zimmerman 1939, S. 5. Zimmerman, in: SMM, 11/1936. Lifflander, in: SMM, 9/1937. A national assocation will stop this propaganda, in: SMM, 2/1937. Super Market Institute: A report on the mid-year conference, Chicago 1948, S. 8; Super Markets Organize Nation-Wide Institute, in: SMM, 10/1937.
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mit dem Supermarkt immer wieder explizit als Wachstumsfaktoren thematisiert wurden.132 Die Expansion der Supermärkte ab der Mitte der 1930er Jahre wurde durch die technische Entwicklung in Kombination mit verschiedenen gesellschaftlichen Veränderungen und dem Wandel der Verbrauchergewohnheiten begünstigt. Die zunehmende Zahl von Frauen, die außer Haus arbeiteten, schätzte den Service, die längeren Öffnungszeiten und das breite Angebot an vorbereiteten Lebensmitteln.133 Die verstärkte Bewerbung der Markenartikel durch die immer populäreren Medien wie Zeitschriften oder Rundfunk, bevorteilte auch das Kernsortiment der Supermärkte, die zugleich die niedrigsten Preise für diese Waren anboten.134 Der Trend zum eigenen Auto ermöglichte den Konsumenten, die Einkaufsstätten ihrer Wahl in einem weiteren Radius aufzusuchen – die Zahl der Autobesitzer stieg zwischen 1935 und 1941 von 26.230 auf 34.416.135 Die Supermärkte mit ihren großen Laden- und Parkflächen befanden sich damals schon häufig außerhalb der städtischen Zentren. In Kombination mit der Ausstattung der Haushalte mit Kühlschranken und später mit Kühltruhen ermöglichte das Auto den weniger häufigen Einkauf von größeren Mengen. 1937 reagierte man von Händlerseite auf dieses Konsumentenverhalten mit der Erfindung des Einkaufswagens.136 Entscheidend war, dass die USamerikanischen Verbraucher trotz der Depression und des Zweiten Weltkrieges am Konsum langfristiger Gebrauchsgüter festhielten: laut Cross stieg die Zahl der Kühlschränke zwischen 1929 und 1935 um das Siebenfache an.137 Das fest etablierte und liberale Kreditsystem spielte dabei eine wesentliche Rolle. Der Zweite Weltkrieg förderte die Entwicklung der Supermärkte und des Selbstbedienungsprinzips zusätzlich durch verschiedene Faktoren.138 Erstens herrschte wie in anderen Branchen auch im Einzelhandel ein Mangel an
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Applebaum, Carson 1957, S. 126; Sédillot 1966, S. 342. Dipman, O’ Brien 1940, S. 6; Walsh 1993, S. 3. Mc Ausland 1980, S. 15; Zimmerman, in: SMM, 2/1937. German 1978, S. 79. Während des Zweiten Weltkrieges sank die Zahl der registrierten Autos bis 1945 auf 30.638 und stieg in der Nachkriegszeit schneller als je zuvor an. German 1978, S. 152. Cross 2000, S. 71. Self-Service for Survival, in: NGB, 5/1942; Self-Service Helps Orcutt Meet Wartime Problems, in: PG, 10/1943. Im April 1940 fand auf nationaler Ebene die so genannte „National Self-Service Food Week” statt, bei der der Einzelhandel die Vorteile der Selbstbedienung und des Supermarktes den Konsumenten in speziellen Werbeaktionen anpries. Zimmerman 1955, S. 128.
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Arbeitskräften, die seit dem Eintritt der USA in den Krieg 1941 zunehmend von der Rüstungsindustrie abgezogen wurden. Hinzu kam die schlechte Ausbildung des Verkaufspersonals. Eine Reaktion darauf war die Zunahme des weiblichen Personals im Einzelhandel auf 50 Prozent, die Ausdehnung der Selbstbedienung auf eine steigende Zahl an Geschäften und Artikeln, die zuvor als wenig geeignet für die Selbstbedienung galten.139 Das Filialunternehmen A&P führte beispielsweise 1939 den Verkauf von vorverpacktem Fleisch ein, der in den nachfolgenden Jahren ebenso wie die Selbstbedienung bei anderen Frischwaren expandierte.140 Die Erweiterung des SBSortiments durch die Tiefkühlkost wurde bereits angesprochen. Zweitens versuchten die Einzelhändler die Knappheit an Lebensmitteln durch die Aufnahme von Non-Food-Artikeln in ihr Sortiment zu kompensieren. Die Expansion der Supermärkte in den Bereich der Haushaltswaren, Drogerieartikel, Zeitschriften, Spielzeug usw. blieb nach 1945 eine richtungsweisende Wettbewerbsstrategie.141 Der Mangel an dem für den Verkauf dieser Artikel notwendigen Wissen wurde durch so genannte „rack jobber“ aufgefangen, die die entsprechenden Abteilungen als externe Spezialisten betreuten.142 Drittens hatte der Staat ein starkes Interesse an der Zusammenarbeit mit zentralisierten Unternehmensformen wie den Filialunternehmen und den Supermärkten, da sie bei diesen Absatzkanälen für sich Steuerungsmöglichkeiten der Distribution und des Konsums sahen.143 Viertens bedingten die sinkende Arbeitslosigkeit und die steigenden Einkommen sowie der Anspruch der Verbraucher einen bestimmten Lebensstandard zu halten trotz Preisregulierung, Rationierung und Warenknappheit eine relativ stabile Nachfrage und Frequentierung der Supermärkte. Cohen zeigt, dass sich in diesem Zusammenhang die US-amerikanischen Verbraucherinnen als weibliche „citizen consumer“ verantwortlich für die Lebensfähigkeit ihrer Nation im Krieg fühlten und eine der zentralen Kräfte hinter dem anhaltenden Massenkonsum darstellten.144
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Mc Ausland 1980, S. 39. Vgl. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 167, hier S. 38, EHI; Liebs 1985, S. 127; Mahoney 1955, S. 181. Brand 1963, S. 56. Ebd., S. 60; Brown, Applebaum, Salmon 1970, S. 8. Deutsch 2004, S. 615. Im ersten Weltkrieg war die deutsche Regierung ebenfalls an der Kooperation mit den leistungsfähigen Großbetrieben des Einzelhandels interessiert. Spiekermann 2000, S. 191. Cohen 2001, S. 211. Vgl. dazu als Quelle: Wartime Courage – Your Best Display Item Today, in: PG, 8/1943.
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Im Laufe der 1940er Jahre zeichnete sich eine Standardisierung und Stabilisierung des Vertriebswesens ab, bei dem sich der Supermarkt mit 43,8 Prozent des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel bei einem vergleichsweise geringen Anteil an Ladenlokalen von nur 4,4 Prozent bis zum Beginn der 1950er Jahre nicht nur eine entscheidende wirtschaftliche Position erkämpft hatte, sondern auch einen bedeutenden politischen und gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert aufwies.145 (Vgl. Anhang, Tabelle 1) Die pragmatischen Zielsetzungen der Rationalisierung zugunsten der Senkung der Kosten und Preise sowie der Steigerung des Umsatzes durch die neue Verkaufsform waren unmittelbar mit bestimmten soziokulturellen und ökonomischen Vorstellungen der Konsumgesellschaft besetzt. In der Nachkriegsordnung konnte der Supermarkt Teil der US-amerikanischen Symbolik für den Erfolg des Kapitalismus sowohl nach innen als nach außen werden: 1958 bezeichnete ihn das Magazin Life als die US-amerikanische Institution schlechthin.146 Als Verkörperung der US-amerikanischen Massenkonsumgesellschaft und deren Wohlstand unterstützte er die individuelle, alltägliche Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Nation ebenso wie der gesellschaftspolitischen Abgrenzung der USA gegenüber anderen Staaten. 1.3.3 Die Differenzierung der Vertriebsformen in den 1950er und 1960er Jahren Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Supermärkte einen unvergleichlichen Aufschwung: sie verdreifachten ihre Zahl bis Anfang der 1960er Jahre und erwirtschafteten 70 Prozent des Lebensmittelumsatzes.147 Gleichzeitig stellte die Fachpresse fest, dass der Neuigkeitseffekt kaum mehr Anziehungskraft auf die Konsumenten ausübte, dass die Zeit der SupermarktPioniere und ihrer spontanen Werbeaktionen vorbei war. Die Bedeutung von langfristiger Effizienz und deren sorgfältige, wissenschaftlich fundierte Planung durch ein zentralisiertes Management als Schaltstelle des Wissens rückten ins Zentrum.148 Wissenschaft und Forschung schienen immer wichtiger für den Erfolg der Unternehmen zu werden, was bei den Themen der 145 146
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Vgl.Cohen 2001, S. 214; Deutsch 2004, S. 608; Liebs 1985, S. 128. Mc Ausland 1980, S. 4. Auch: De Grazia 2005, S. 384; Deutsch 2004, S. 610; Mc Govern 2006, S. 4; Walsh 1993, S. 5. Mc Ausland 1980, S. 59. The Managerial Age, in: SMM, 10/1956; The Super Market Manager – Throwing Power in Food Retailing, in: PG, 10/1961.
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Standortfrage und der Ausdifferenzierung der Verbrauchergewohnheiten besonders hervortrat.149 Es waren v. a. die Mobilität der Bevölkerung und die Suburbanisierung der Städte, die mit entscheidenden Konsequenzen für den Einzelhandel einher gingen.150 Eine Folge dieser Veränderungen war der massive Ausbau von Shopping Centern in den Vororten, deren Entwicklung sich langsam in den 1930er und 1940er Jahren angebahnt hatte.151 Die Einkaufszentren waren nicht nur eine Reaktion des Handels auf die neue Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur, sondern prägten laut Cohen das Einkaufsverhalten der USamerikanischen Verbraucher und weitere angrenzende soziopolitische Bereiche maßgeblich durch ihre spezifische Kommerzialisierung, Privatisierung und Feminisierung von Raum.152 Für den Lebensmitteleinzelhandel stellten die Einkaufszentren einen neuen und bedeutenden Standort dar: in einer Umfrage des SMI gaben fast 70 Prozent der befragten Einzelhändler an, dass sie dort einen besseren Umsatz erzielten.153 1955 wurde die Hälfte aller neuen Supermärkte in einem Einkaufszentrum eröffnet.154 Andererseits hinderten die hohen finanziellen Anforderungen und die langfristigen Verträge ein Hindernis kleine und mittlere Unternehmer am Eintritt in die neuen Konsumräume.155 Während der Phase des Aufschwungs in den 1950er Jahren stellte das Wachstum und die Umverteilung der Bevölkerung die Grundlage für die 149
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Bishop jr., Willard R.; Brown, Earl H.: An analysis of spatial shopping behavior, in: Journal of retailing, 45, 1969, H. 2, S. 23-30, hier S. 23; Duncan, Phillips 1967, S. 25; Foresses larger Supers, in: SMM, 12/1954; Hilke 1956, S. 54; La Londe, Bernard J.: Differentials in supermarket drawing power, East Lansing 1962, S. 42; Research Replaces “Hunches”, in: SMM, 6/1953; USDA Advisory Board Stresses Research, in: SMM, 7/1955; What is valid consumer research?, in: SMM, 10/1958. Wissenschaftlichkeit wurde auf allen Unternehmensebenen als zentral angesehen. So bot z. B. die National Association of Retail Grocers 1968 einen audiovisuellen Weiterbildungskurs „Practical Science in Supermarketing” für die Angestellten an. NGB, 1/1968. Die Zahl der Vororte mit weniger als 50.000 Einwohnern nahm zwischen 1940 und 1950 um 23,9 Prozent und zwischen 1950 und 1960 um 66,9 Prozent zu, während in diesem Zeitraum die Zahl der Bevölkerung in den rein ländlichen Gegenden um 11,67 Prozent abnahm. U. S. Bureau of Census, 1970 Census. Angaben zitiert nach: German 1978, S. 127. Cohen 2004, S. 258. Cohen 2004, S. 264, 278. Appraising the Shopping Center, in: SMM, 3/1953, S.36. Auch: There’s Big Volume In Shopping Center Locations, in: PG, 3/1954. Applebaum; Carson 1957, S. 128. Charvat 1961, S. 183; Cohen 2004, S. 263.
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steigende Anzahl der Supermärkte und die zunehmende Größe sowie Sortimentsbreite der einzelnen Geschäfte dar.156 Mit immer größeren Läden ging gleichzeitig insgesamt eine Verringerung der Anzahl der Lebensmittelgeschäfte einher. Das scheinbar unermessliche Wachstum bereitete den Supermärkten allerdings auch eine Reihe von Schwierigkeiten.157 Eines der größten Probleme waren die steigenden Betriebskosten, die durch kleine Unternehmen zum Teil nicht mehr getragen werden konnten. Ursachen dafür waren die vielfältigen Serviceleistungen, häufige Modernisierungsmaßnahmen, immer höhere Grundstückspreise und steigende Lohnkosten.158 Die hohe Dichte der Supermärkte v. a. aufgrund des Baubooms nach 1945 hatte zur Folge, dass neue Absatzmärkte nur durch die Übernahme anderer Geschäfte bzw. ganzer Unternehmen oder die Einführung neuer Produkte erschlossen werden konnten. Beide Maßnahmen begünstigten wiederum die steigende Größe der Unternehmen und der einzelnen Läden, so dass mit dem Wachstum eine massive Intensivierung des Wettbewerbs einherging. Die beiden großen Entwicklungstrends der „supermarket industry“ bewegten sich trotzdem in scheinbar entgegengesetzte Richtungen. Einerseits wurde der kleine Selbstbedienungsladen in Form des „convenience store“ wiederbelebt. Meist betrieben ihn Filialunternehmen, er verfügte über ein begrenztes Sortiment und ausgedehnte Öffnungszeiten, so dass die Verbraucher bequem, schnell und zu jeder Zeit einkaufen konnten.159 Andererseits kam im Laufe der 1960er Jahre der „super store“ auf: ein Supermarkt gigantischen Ausmaßes mit einer Fläche von etwa vier Hektar.160 Gegen Ende der 1950er Jahre begannen sich die Discounter als eine neue Vertriebsform zu etablieren, die die Prinzipien der Selbstbedienung zur 156
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German 1978, S. 129; Super Market Institute: The super market industry speaks 1950, S. 17; Zimmerman 1955, S.141. Die durchschnittliche Ladenfläche stieg von ca. 1300 m2 auf ca. 1900 m2 1964, die durchschnittliche Artikelzahl erhöhte sich von 3750 1950 auf 6900 1964 und 7800 1970. German 1978, S. 136f.; Mc Ausland 1980, S. 83. Super Market Institute: A report on the mid year conference 1958, S. 15. Vgl. German 1978, S. 234; Lickey 1957, S. 392; The road ahead for discount retailing, in: SMM, 2/1962; Wanted: Realistic Store Hours…, in: SMM, 2/1956. Butt u. a. 1967, S. 25; Convenience Stores show continued strong growth, in: PG, 4/1969; Convenience Stores: Phenomenon Of The Sixties, in: NGB, 4/1969; Progress Report Convenience Stores, in: NGB, 2/1964; Selbstbedienung hat erst begonnen, in: Der wirtschaftsliche Warenweg, Beilage zum Handelsblatt, 21.7.1958. Selbstbedienung hat erst begonnen, in: Der wirtschaftliche Warenweg, Beilage zum Handelsblatt, 21.7.1958; The SUPER Super Market, in: SMM, 8/1957; Wolf on your doorstep, in: SMM, 3/1961.
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Senkung der Betriebskosten sowie der Endverbraucherpreise in eine extreme Richtung weiterentwickelten. „Discount“ bezeichnete in diesem Zusammenhang den dauerhaften Rabatt auf den vom Hersteller empfohlenen oder vom durchschnittlichen Einzelhandelsgeschäft angebotenen Preis. Das Prinzip des „discounting“ wurde schon früher, v. a. auch in den 1920er und 30er Jahren, im Sinne einer punktuellen Preispolitik und Verkaufsmethode, z. B. in den Five-and-Dime-Shops (Niedrigpreisgeschäfte), angewendet. In den 1950er Jahren entwickelte sich der Discounter zu einer eigenständigen Vertriebsform und erhielt dadurch eine neue Qualität, dass sein rasantes Wachstum in eine Phase der Prosperität fiel.161 In den USA beschränkte sich das Sortiment der frühen Discounter auf Nicht-Lebensmittel, speziell auf Haushaltsgeräte. Genauso wie die Supermärkte griffen die Discounter bestehende Rationalisierungsmaßnahmen auf: die stringente Selbstbedienung, das begrenzte Sortiment und die Konzentration auf Gewinnspannen in Dollar anstelle von Prozent pro Artikel: „Disounters placed all merchandise out on the floor and provided little or no sales help. Decor was limited to counters and pipe racks, bare wooden or linoleum floors, and harsh but economical fluorescent lighting. Shoppers made inmediate contact with the merchandise – opening and closing refrigerators, lifting the oven door, comparing seize of television screens by measuring them with their fingers, and feeling the rush of air through the blades of an electric fan. What was most appealing about the new discount stores, however, was their cutthroat prices.”162
Die ersten Discounter beschäftigten wenige Angestellte und verzichteten auf Serviceleistungen, auf eine gehobene Ausstattung sowie auf eine zentrale Lage. Die Zeitgenossen waren nicht nur der Meinung, dass die Discounter damit den gleichen Weg wie die frühen „cheapy supermarkets“ einschlugen, sondern dass die soziale Akzeptanz der Supermärkte und des Selbstbedienungsprinzips die Grundlage für die erfolgreiche Nutzung der Discounter durch die Konsumenten darstellte.163 Die Argumentation gegen die Discounter gestaltete sich ähnlich wie in den Jahrzehnten zuvor gegen die Filialbetriebe und Supermärkte. Während 161
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Rhein, Eberhard: Das Diskonthaus. Eine neue Vertriebsform in den USA, Köln 1958, S. 22. Vgl. auch: Meissner, Frank: American discount houses. A revolution in low cost mass retailing, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 84, 1960, H. 1, S. 69-97, hier S. 70-72. Zukin 2005, S. 77. Vgl. auch folgende Quellen: Baranoff, Flaherty 1963, S. 71; Duncan, Phillips 1967, S. 15; How a big A Discount Market differs from other Markets, in: SMM, 8/1961; The road ahead for discount retailing, in: SMM, 2/1962. Lowry 1969, S. 16f.; Meissner 1960, S. 73f.; Discounters follow super market path, in: SMM, 2/1965.
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die traditionellen Einzelhändler sich selbst als legitim und verantwortungsbewusst stilisierten, wurden die Discounter für ihre unmoralischen und ungesetzlichen Methoden angeprangert.164 Konkrete Vorwürfe waren: die Preise seien höher als angegeben, die Kunden würden die Verkaufsmethoden eigentlich ablehnen, die Angestellten würden schlecht bezahlt, die Qualität der Waren sei schlecht.165 Auch wenn der US-amerikanische Kongress in einer Anhörung bereits Ende der 1950er Jahre festhielt, dass die Discounter durchaus auf „ethische“ Weise Geschäfte machten und als Teil der freien US-amerikanischen Wettbewerbskultur gesehen werden müssten, hatten sie es schwer, sich ein positives Image zu schaffen.166 Die Reaktion des Einzelhandels gegenüber den Discountern wies ebenfalls Ähnlichkeiten zum früheren Umgang mit neuen Wettbewerbern auf. Presse, Fernsehen und Radio wurden aufgefordert, keine Werbung der „illegitimen Handelsformen“ anzunehmen, die Industrie und der Großhandel rief man zum Lieferboykott auf und startete eine Reihe von Gesetzesinitiativen.167 Wie im Fall der Supermärkte blieben Klagen gegen die Preisunterbietung durch die Discounter relativ wirkungslos, da die Geldstrafen mit 50 bis 100 Dollar niedrig waren und die entsprechenden Pressemeldungen eher eine gute und preiswerte Werbung für die Discounter darstellten.168 Auch die Produzenten der Markenartikel lehnten es anfangs ab, die Discounter mit ihren Waren zu beliefern, v. a. aus Angst vor der Reaktion der Warenhäuser.169 Mit ihrer zunehmenden Ausbreitung und Akzeptanz wurden die Discounter für sie dennoch zu einem wichtigen Absatzkanal. Letztlich war sowohl von Seiten der Discounter als auch von Seiten des konventionellen Einzelhandels eine Reihe von Anpassungsmaßnahmen an die neue Wettbewerbssituation zu beobachten. Die Supermärkte übernah
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Lowry 1969, S. 1; Rhein 1958, S. 57f. Lowry 1969, S. 16f., Meissner 1960, S. 77f. United States; Congress; Senate; Select Committee on Small Business: Discount-house operations. Report of the Select Committee on Small Business, United States Senate, summarizing testimony on competitive impact of discount-house operations on small business, Washington 1958, S. 6. Von Seiten der Politik erhielten die Discounter Unterstützung von einigen populistischen Kongressmitgliedern, die die Hersteller für ihre hohen Preise kritisierten. Zukin 2005, S. 77. Vgl. Ith, Hans: Das Diskonthaus in den USA, Freiburg (Schweiz) 1961, S. 101f.; Meissner 1960, S. 78; Rhein 1958, S. 57f. Rhein 1958, S. 57. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, hier S. 11, EHI. Ausführlich zur Positionierung der Industrie gegenüber den Discountern: Ith 1961, S. 88-98; Meissner 1960, S. 78f.
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men zentrale Prinzipien der Kostenkalkulation der Discounter in die eigene Unternehmenspolitik.170 Die Discounter gingen dazu über, in einer gehobenen Ausstattung ein breiteres Sortiment mit mehr Service und Kreditmöglichkeiten anzubieten.171 Während die Supermärkte ihr Sortiment immer mehr in den Non-Food-Bereich ausdehnten, begannen die Discounter verstärkt Lebensmittel zu verkaufen.172 Der anhaltende Erfolg der Discounter, die Anfang der 1960er Jahre einen geschätzten Umsatzanteil von 15 Prozent des Einzelhandelsgewinns erzielten, widerlegte die Annahme vieler Zeitgenossen, dass das Interesse an ihnen in einer wohlhabenden Gesellschaft nachlasse.173 Das Preisbewusstsein der Verbraucher basierte auf populären, gesellschaftlich anerkannten Vorstellungen vom US-amerikanischen Lebensstandard, die sich durch eine ausdifferenzierte Massenkonsumkultur und einen emanzipierten Verbraucher auszeichneten. Die entsprechenden Anforderungen an den Einzelhandel balancierten zwischen möglichst niedrigen Preisen, einer möglichst großen Warenvielfalt, der Freiheit der Wahl sowie einer bequemen, erholsamen Einkaufsatmosphäre mit qualitativ hochwertigen Waren und Service. Das Ziel der Einzelhändler, die Spanne zwischen Kosten und Gewinn möglichst groß zu halten, wurde zu einer Gratwanderung zwischen „rationalizing and romanticizing“174 des Einkaufens. Die hier vorgestellte Entwicklung von der Selbstbedienung über den Supermarkt zum Discounter sowie die sich anschließenden Assimilationsprozesse von Seiten der etablierten Einzelhandelsunternehmen und der neuen Wettbewerber repräsentiert dieses permanente Austarieren zwischen dem Anspruch der Effizienz mit niedrigen Kosten und Preisen und der Kunst des individualisierten Massenverkaufs an „Mrs. Consumer“.
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Duncan, Phillips u. a. 1967, S. 17. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, EHI; Meissner 1960, S. 90f. Applebaum, William: Die Entwicklung von Distributionsformen im Einzelhandel in den Vereinigten Staaten in amerikanischer Sicht, in: ISB-Informationen, 5/1969, S. 1-67, hier S. 16, EHI; German 1978, S. 208; Meissner 1960, S. 85. Zahlen nach: Duncan, Phillips u. a. 1967, S. 17 und Meissner 1960, S. 75. Zukin 2005, S. 78.
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2. Der Transfer des self-service von den USA in die Bundesrepublik 2.1 Transatlantischer Transfer und „Amerikanisierung“ Selbstbedienung, Supermärkte und Discounter sind unzweifelhaft USamerikanische Erfindungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit den späten 1940er Jahre gingen diese Verkaufsmethoden und Vertriebsformen in komplexen Transfer-, Rezeptions- und Adaptionsvorgängen um die ganze Welt: von den Philippinen über Neuseeland und Australien bis in afrikanische Länder.175 Auch wenn der Eindruck einer „Missionierung“ des weltweiten Einzelhandels durch US-amerikanische „Selbstbedienungsapostel“ zeitgenössisch überzeichnet scheinen mag, stellt sich für die Untersuchung des Transfers der self-service-Idee von den USA in die Bundesrepublik Deutschland die Frage nach den damit verbundenen Prozessen von „Amerikanisierung“. Im Zentrum stehen dabei die gezielten, komplexen und wechselseitigen Interaktionsprozesse, in deren Verlauf die Weitergabe, Rezeption und Adaption von bestimmten Vertriebsmodellen im Einzelhandel stattfand. Über zahlreiche Vermittlungs- und Übersetzungsstufen wurden sie aus ihrer Einbettung in das spezifische US-amerikanische Umfeld herausgelöst, hinterfragt, interpretiert und selektiv in den bundesdeutschen Kontext integriert.176 In Anlehnung an die interkulturelle Transferforschung ist ein entscheidender Ausgangspunkt für diese Analyse, „aus welchen Motiven heraus Wissen erworben, nach welchen Kriterien das Wissenswerte selektiert und zu welchen Zwecken die erworbene Information benutzt wurde.“177 Diesen einzelnen Aspekten soll im nächsten Teilkapitel nachgegangen werden. Darüber hinaus thematisiert das Kapitel III. 2. 4. die konkreten
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Australia is eager for self-service, in: SMM, 7/1957; Features of New Markets: International, in: SMM, 9/1959, 3/1960; Phillippene Women approve Self-Service, in: SMM, 4/1955; SB-Großraumläden jetzt auch in Westafrika, in: Edeka-Rundschau, 14/15a/1961. Vgl. Doering-Manteuffel 1995, S. 10; Eisenberg, Christiane: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Kaelble, Hartmut; Schwierer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 399-417, hier S. 399; Latzin 2005, S. 23; Osterhammel 2003, S. 441. Paulmann, Johannes: Kulturtransfer: Einführung in eine Forschungskonzept, in: Muhs, Rudolf; Paulmann, Johannes; Steinmetz Willibald (Hg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998, S. 21-43, hier S. 31; Zeitlin 2000, S. 5.
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Strategien der Vermittlung und Aneignung von Wissen durch USamerikanische und bundesdeutsche Akteure. Der vielschichtige Transferprozess implizierte verschiedene Dimensionen von Amerikanisierung. Jarausch und Siegrist beschreiben die Polyvalenz des Begriffs folgendermaßen: auf der einen Seite bezieht er sich auf konkrete Einflüsse und die sich daraus ergebenden materiellen, strukturellen, symbolischen Veränderungen und auf der anderen Seite beschreibt er Kategorien der Wahrnehmung und Deutung, bei denen die Wirklichkeit durch einen spezifischen kulturellen Filter aufgefasst und interpretiert wird.178 Auch andere Forscher haben darauf hingewiesen, dass es aufgrund dieser eigentümlichen Mischung von Rezeption und Realität schwierig sei, zwischen ideologischen Komponenten und tatsächlich nachweisbaren Modifikationen zu differenzieren.179 Zudem spielten bei der Weitergabe und Übernahme von Wissensinhalten bewusste und unbewusste Prozesse, emotionale und kognitive Faktoren gleichermaßen eine entscheidende Rolle. Darin wurzelte auch die tiefe Ambivalenz mit der Deutsche und Europäer seit dem 19. Jahrhundert den Vereinigten Staaten von Amerika als positivem und negativem Referenzpunkt gegenüberstanden.180 Während bestimmte technische und wirtschaftliche Entwicklungen als nachahmenswert eingeschätzt wurden, erfuhren die entsprechenden sozialen und kulturellen Grundlagen zum großen Teil Kritik und Ablehnung.181 Am häufigsten kritisierten die sich als kulturell überlegen fühlenden Europäer die US-amerikanische Massenkonsumgesellschaft: sie erweckte den Eindruck, dass „der technischzivilisatorische Fortschritt und wachsender Wohlstand mit kultureller Verflachung erkauft worden sei.“182 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ambivalente Orientierung am Leitmodell der USA in vielen verschiedenen Lebensbereichen unter Rückgriff auf Erfahrungen der 1920er und 1930er Jahre wieder aufgenommen. Allerdings änderten sich die Rahmenbedingungen für die Rezeption in zwei entscheidenden Punkten. Erstens erhielt die Entwicklung und Bewertung der Massenkonsumgesellschaft im Konkurrenzkampf der Systeme zwischen 178
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Jarausch, Konrad Hugo; Siegrist, Hannes: Amerikanisierung und Sowjetisierung. Eine vergleichende Fragestellung zur deutsch-deutschen NachkriegsgeschichteJarausch, Konrad; Siegrist, Hannes (Hg.): Amerikansierung und Sowjetisierung in Deutschland, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 11-46, hier S. 24. Auch: Fehrenbach, Poiger 2000, S. XXV. Erker 1997, S. 145. Vgl. die ausführliche Untersuchung von Nolan 2000. Vgl. Doering-Manteuffel 1995, S. 2; Kaelble 1997, S. 181; Nolan 2000, S. 14. Schildt 1995, S. 398. Auch: Lüdtke, Marßolek, von Saldern 1996, S. 14.
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den USA und der Sowjetunion einen neuen Stellenwert. Die Anhebung des Lebensstandards und die Förderung der Kaufkraft der Bevölkerung durch die gesteigerte Produktivität in allen Sektoren war eng mit USamerikanischen Vorstellungen über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Etablierung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems und einer westlichen Konsumgesellschaft verknüpft. Die Integration einer derartig gestalteten westlichen Gemeinschaft implizierte gleichzeitig eine dezidiert antikommunistische und antisowjetische Stoßrichtung.183 Zweitens entstanden im Anschluss an die unmittelbare Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit tatsächlich die notwendigen Grundlagen für die Etablierung der Massenkonsumgesellschaft in Europa. Wie bereits vor dem Krieg verstanden viele Europäer den Blick in die USA als Blick in die eigene Zukunft. Allerdings schienen nun nicht mehr nur vereinzelte Aspekte der Massenproduktion, sondern auch eine umfassende Massendistribution und breiter Massenkonsum in greifbarer Nähe. Trotz der weiterhin kritischen und ängstlichen Sicht konstruierten viele Zeitgenossen in den 1950er und 1960er Jahren ein Kontinuum zwischen den europäischen Ländern und den USA: Massenkonsum und -distribution erschienen jetzt als unvermeidlich.184 Im Kapitel III. 2. 3. soll detailliert auf die mit dieser Rezeption verbundene Konstruktion von Amerikabildern durch bundesdeutsche Beobachter eingegangen werden. Sie geben neben der Art und Weise der Wahrnehmung des „Amerikanischen“ v. a. auch Auskunft über die eigenen Befindlichkeiten und die Positionierung gegenüber den neuen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Herausforderungen der sozialen Marktwirtschaft sowie der Massendistribution und -konsumtion. Trotz der starken Orientierung an den Vereinigten Staaten von Amerika empfanden die Zeitgenossen die Wandlungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland und in Westeuropa seit den späten 1940er Jahren dezidiert nicht als Amerikanisierung. Sie betonten vielmehr die Eigenständigkeit der europäischen Entwicklung, bei der sich Akteure aus verschiedenen nationalen Kontexten bestimmter Techniken und Methoden aus den USA bedienten, um ihren Weg in die Massenkonsumgesellschaft und in marktwirtschaftliche Systeme zu bestreiten, wie es Mc Creary 1964 am Beispiel des Einzelhandels illustrierte:
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Vgl. De Grazia 2005, S. 5; Oldenziel 2005, S. 107f.; Pells, Richard: Not like Us. How Europeans have loved, hated and transformed American Culture since World War II, New York 1997, S. 53f. Baecker 1952, S. 7; Gloor, Max: Ausblick auf zukünftige Distirbutionsformen, in: Gloor, Max u. a. (Hg.): Neuzeitliche Distirbutionsformen, Bern 1963, S. 103-115, hier S. 104.
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„The real levers to change European life are in the hands of the Europeans. For instance, one of the main keys to economic change in Europe are the channels and systems of distribution – that is, the retail stores and organization for getting goods into the hands of consumers. But, since most American companies in Europe are manufacturers only, for them, trying to change distribution patterns is like trying to push one piece of string: much action at one end and little at the other.”185
Das Ziel der Übernahme US-amerikanischer Ideen und Modelle lag somit, wie bereits in der Rationalisierungsbewegung der Weimarer Zeit, in der selektiven Integration in den spezifisch deutschen Kontext. Als konkretes Ergebnis ergaben sich komplexe Kombinationen von US-amerikanischen, nationalen und lokalen Elementen.186 In solch hybriden Modellen und ihrem Entstehungsprozess drückte sich ein doppeltes Spannungsverhältnis aus. Einerseits äußerten sich darin sowohl die Annäherung zwischen dem heimischen Erfahrungshorizont und fremden Impulsen als auch die gleichzeitige Abgrenzung des Indigenen vom Fremden. Der Prozess des politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Aufbaus der Nachkriegszeit war ein nationaler Wiederaufbau, in dem es galt innerhalb des westlichen Staatengebildes und des transatlantischen Beziehungsgefüges eine bundesdeutsche Identität zu entwickeln.187 Andererseits lassen sich die strukturellen Veränderungen nicht allein auf die exogenen US-amerikanischen Wirkungsfaktoren zurückführen, sondern sie standen im engen Zusammenhang mit endogenen Modernisierungsprozessen. Die Forschung hat festgehalten, wie schwer es sei, diese Entwicklungen voneinander zu differenzieren. So geriet Amerikanisierung in der Nachkriegszeit – ebenso wie bereits in den 1920er und 1930er Jahren – zur Chiffre für die verschiedensten Vorstellungen von Modernisierung, Rationalisierung oder Massenkonsum. Zum Teil weisen Historiker darauf hin, dass die Ängste, welche sich in antiamerikanischen 185
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Mc Creary 1964, S. 3. Auch: Amerikanische Handelsspannen liegen höher. Studienbesuch beim Einzelhandel der USA, in: Pressedienst des Einzelhandels (29.9.1953), WWA K3/2325; Wilkens 1967, S. 13. Vgl. für das Fallbeispiel der deutschen Unternehmen Siemens und Henkel: Hilger 2004, S. 280. Vgl. auch: Jarausch, Siegrist 1997, S. 36. Vgl. Brändli, Sibylle: Amerikanisierung und Konsum in der Schweiz der 1950er und 1960er Jahre: Einstiege und Ausblicke, in: Tanner, Jakob u. a. (Hg.): Geschichte der Konsumgesellschaft. Märkte, Kultur und Identität (15.-20. Jahrhundert), Zürich 1998, S. 169-180, hier S. 171; Fehrenbach, Poiger 2000, S. XIII; De Grazia, Victoria: American Supermarkets versus European small shops. Or how transnational capitalism crossed paths with moral economy in Italy during the 1960s, Trondheim 2002, S. 14; Hilger 2004, S. 12; Pells 1997, S. 191; Scarpellini 2004, S. 626. Vgl. De Grazia 1997, S. 124; Fehrenbach, Poiger 2000, S. XVIII; Hilger 2004, S. 280; Jarausch, Siegrist 1997, S. 33.
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Äußerungen und Positionen ausdrückten, den Umgang mit der eigenen Modernität widerspiegelten.188 Die Amerikanisierungsdebatte und -prozesse seit den späten 1940er Jahren waren nicht nur an die Weimarer Republik rückgekoppelt, sondern genauso eng mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges verknüpft. Nach 1945 lagen in Deutschland als besiegtem und besetztem Gebiet das wirtschaftliche Potential und politische System am Boden. Ebenso hatten die normativen und sozialen Konventionen ihre Gültigkeit verloren. Auf vielen Ebenen suchte die Gesellschaft nach neuen Orientierungsmöglichkeiten.189 Trotz der starken Position der USA, die – abgesehen von den politischen Konstellationen nach 1945 – auf ihrem technologischen und wirtschaftlichen Vorsprung fußte, liegt der folgenden Untersuchung nicht die Auffassung von einer absoluten US-amerikanischen „Supermacht“ zugrunde. Vielmehr soll davon ausgegangen werden, dass es beim Aufeinandertreffen zweier gesellschaftlicher Systeme immer von den auf einer unterschiedlichen Verteilung von sozioökonomischen und politischen basierenden Ressourcen Machtverhältnissen abhängt, welche Wirklichkeitsbestimmung sich durchsetzt.190 Gleichzeitig schaffen diese Konstellationen durchaus differenzierte Wege, neue Impulse und Anregungen zu entdecken, die selbst zu Veränderungen veranlassen: „Einfluß oder Macht sind keine Alternativen, sondern wesentliche Voraussetzungen einer tiefergreifenden Verwandlung durch Übernahme oder Übertragung des jeweiligen fremden Modells.“191
In diesem Sinn schließt die Annahme von „asymmetrischen Machtbeziehungen“192, die den Hintergrund des Transfers bildeten, nicht aus, die Übernahme von technologischem und wirtschaftlichem Wissen als Aushandlungsprozess zu verstehen. Damit wird auf den notwendigen Zusammenhang zwischen Angebotsmacht und Aufnahmefähigkeit sowie auf die Eigenlogik und -dynamik von Aneignungsprozessen hingewiesen. Dabei
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Vgl. De Grazia 1997, S. 123; Gassert Philipp: Nationalsozialismus, Amerikanismus, Technologie: Zur Kritik der amerikanischen Moderne im Dritten Reich, in: Wala, Michael (Hg.): Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 147-172, hier S. 147; Jarausch, Siegrist 1997, S. 40; Klautke 2003, S. 334; Latzin 2005, S. 15; Pells 1997, S. 202; Schildt 1995, S. 399f. Jarausch, Siegrist 1997, S. 33; Kleinschmidt 2004, S. 258f.; Latzin 2005, S. 25f. Berger, Luckmann 2003, S. 117, 134; Stehr 1994, S. 366. Jarausch, Siegrist 1997, S. 22. Vgl. auch: Akira, Kipping, Schröter 2001, S. 10. Maase 1997, S. 233. Vgl. auch: Ermarth 1993, S. 12.
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sind Wahrnehmung, Denken und Handeln der Kooperationspartner immer vor dem Hintergrund der eigenen kollektiven Deutungsmuster zu verstehen.193 Diese spielen für die vorliegende Studie eine wichtige Rolle, da sich der Transfer des self-service-Modells zwischen der Ebene des Austausches von technologischem und ökonomischem Know-how als Problemlösungsmuster und der Ebene der Vermittlung von Vorstellungen über die soziokulturell geprägten Tätigkeiten des Einkaufens, Verkaufens und Konsumierens bewegte. Die Einführung von Selbstbedienung, Supermarkt und Discounter in den 1950er und 1960er Jahren war kein spezifisch bundesdeutsches Phänomen. Im gleichen Zeitraum fanden diese Neuerungen Einzug in den Einzelhandel der meisten west- und osteuropäischen Länder. Damit steht auch die Frage einer Westernisierung bzw. Europäisierung des Einzelhandels und seiner Verkaufsformen zur Debatte. Doering-Manteuffel kritisiert am Konzept der Amerikanisierung, dass es zu stark einseitig von den USA nach Europa gerichtet sei und schlägt deshalb den Begriff der „Westernisierung“ als ergänzende analytische Kategorie vor. Sein Konzept umschreibt den zirkulären Austausch auf transatlantischer und innereuropäischer Ebene, dessen Tradition ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichte und der auf der Etablierung einer gemeinsamen Werteordnung basierte.194 Tatsächlich gewann der Transfer von Wissen über neue Vertriebsformen zwischen den europäischen Ländern im Laufe der 1950er Jahre an Bedeutung. Er griff auf traditionelle Verflechtungen zurück und etablierte neue Formen der Kooperation u. a. im Rahmen der sich bildenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Politik der USA in diesem Zeitraum zunehmend auch auf die innereuropäische Selbsthilfe abzielte.195Mit der Etablierung europäischer Beziehungen in Zusammenhang mit der Modernisierung des Einzelhandels befasst sich Kapitel III. 3. der vorliegenden Arbeit. Die Europäisierung des Vertriebswesens ging allerdings über die Netzwerkbildung zur Übertragung und Übernahme von Wissen hinsichtlich der Innovationen hinaus. Die Konsumforschung hält fest, dass sich im 20. Jahrhundert Gemeinsamkeiten in der Entwicklung zwischen den europäischen Ländern abzeichneten, die mehr als nur eine gleichartige Amerikanisierung darstellten.196 Im Rahmen der Studie soll versucht werden, einige für 193 194
195 196
Vgl. Maase 1997, S. 235f., 241; Pells 1997, S. 57. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 12. Ermarth 1993, S. 16. Haustein 2007, S. XX; Kaelble 1997, S. 170.
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die Einführung der neuen Vertriebsformen zentralen „europäischen“ Aspekte zu berücksichtigen. Eine sicher lohnenswerte und spannende vergleichende Untersuchung der Modernisierung des Einzelhandels in den verschiedenen Ländern kann im Rahmen des vorliegenden Buches jedoch nicht geleistet werden.197 Die Einführung der Selbstbedienung in den sozialistischen Staaten fordert das Konzept der Amerikanisierung des Einzelhandels ebenfalls heraus. Es verweist auf die bedeutende Rolle von Interpretationsleistungen beim Transfer von wirtschaftlichen Modellen und die notwendige Unterscheidung zwischen ihrem substanziellen Gehalt und der formalen Ausgestaltung.198 In den 1950er und 1960er Jahren fanden Transfervorgänge zwischen den osteuropäischen und westeuropäischen Staaten statt, bei denen sich z. B. ostdeutsche Fachleute auf formellen und informellen Wegen Wissen über die Funktionsweise von Selbstbedienung und Supermärkten etwa auf Reisen in die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz oder nach Schweden beschafften.199 Darüber hinaus besuchten sie internationale Messen und Ausstellungen, auf denen Ladenmodelle präsentiert wurden und sie unmittelbar von Experten Informationen über Ladeneinrichtung, Warenauslage und Verpackung erhielten, die sie in ostdeutschen Lebensmittelgeschäften umsetzten.200 Fehrenbach und Poiger haben festgehalten, dass es auch in anderen Sektoren durchaus üblich war, US-amerikanische Produktionsmethoden und Werbetechniken trotz bestehender Kapitalismuskritik zu rezipieren.201 Der Siebenjahrplan der DDR von 1959 stellte die Selbstbedienung als „fortschrittlichste Verkaufsform im Einzelhandel“ heraus, die zur Rationalisie
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Vgl. die zahlreichen Einzelarbeiten zu verschiedenen europäischen Fallbeispielen: Alexander, Curth, Shaw 2004 (Großbritannien); Lescent-Giles 2005 (Frankreich, England); Schröter 2004a (Bundesrepublik Deutschland); Scarpellini 2004 (Italien); Slujter, Babette: Kijken is grijpen. Zelfbedieningswinkels, technische dynamiek en boodschappen doen in Nederland na 1945, Eindhoven 2007 (Niederlande). Vgl. Eisenberg 2003, S. 411f.; Patterson, Patrick Hyder: Making Markets Marxist? The East European Grocery Store from Rationating to Rationality to Rationalization, in: Belasco, Warren; Horowitz, Roger (Hg.): Food Chains. From Farmyard to Shopping Cart, Philadelphia 2009, S. 196-216, hier S. 200. Aktuelles aus der Selbstbedienung in Schweden, in: Der Handel, 6/1957, S. 36; In der Schweiz: Selbstbedienung auch für Fleischwaren, in: Der Handel, 6/1957, S. 39-41; Polnische Handelsdelegation in Soltau, in: Edeka-Rundschau, 7a/1968; Unsere und internationale Erfahrungen mit der Selbstbedienung, in: Der Handel, 6/1957, S. 32-39. Vgl. für Jugoslawien und andere osteuropäische Länder: Patterson 2009, S. 200. Der Handel blickt in die Welt, in: Der Handel, 6/1957, S. 58. Fehrenbach, Poiger 2000, S. XXI.
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rung und Produktivitätssteigerung beitragen sollte.202 Patterson hat deshalb vorgeschlagen, nicht von einer Amerikanisierung im Zusammenhang mit dem Transfer von Selbstbedienung und Supermärkten zu sprechen, sondern von einem „transnational transfer of culture and practice.“203 Seiner Meinung nach bildete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine transnationale Kultur des Supermarktes heraus, deren spezifische Merkmale keine exklusive Errungenschaft des Kapitalismus darstellten, die aber sehr offen für bestimmte kapitalistische Konnotationen war.204 Auch wenn im Rahmen der Studie keine umfassend komparative Analyse der Selbstbedienung in den ost- und westeuropäischen Staaten geleistet werden kann, soll versucht werden die Konstruktion der Vertriebsinnovationen als kapitalistisch geprägte Verkaufsformen und die korrespondierende Einkaufskultur in den westlichen Massenkonsumgesellschaften punktuell zu hinterfragen. 2.2 Motive und Ziele des Transfers Hinsichtlich der Motivation der Beteiligten, d. h. der Bereitwilligkeit Wissen zu transferieren und der Bereitschaft dieses Wissen aufzunehmen, lassen sich für die US-amerikanische und die bundesdeutsche Position wichtige Koinzidenten feststellen. Beiden Staaten war, wenn auch auf der Grundlage unterschiedlicher politischer und pragmatischer Ziele, daran gelegen, die
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Der Handel im Siebenjahrplan der Deutschen Demokratischen Republik und seine Aufgaben zur weiteren Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung. Beschluss des Ministerrates der DDR vom 20. August 1959 zu den Thesen der Handelskonferenz, Berlin 1959, S. 29. Vgl. die Thematisierung der Selbstbedienung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur DDR bei: Gries 2007; Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln, Weimar, Wien 1999; Rothkirch, Silke: „Moderne Menschen kaufen modern“, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft, DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 112-119. Patterson 2009, S. 197f. Ebd., S. 200. Zu den Merkmalen zählen: the transformation of the feminine domain, the joy of shopping, the promise of spontaneity and discovery, the virtue of novelty, the security of satisfaction guaranteed, the restructering of shopping sociability, the celebration of abundance, the promotion of variety and choice, the affirmation of competition, the pursuit of modernity, the ascent of leisure and the eclipse of labor, the exaltation of consumption, the acknowledgment of sovereign consumer. Auch De Grazia schlägt als Alternative zu dem exklusiven Begriff des Kapitalismus den einer „market culture“ vor, der neben zentralen kapitalistischen Merkmalen vorkapitalistische oder nicht „Marktgeprägte“ Elemente enthält. De Grazia 2002, S. 4.
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westdeutsche Wirtschaft einer umfassenden und grundsätzlichen Rationalisierung zu unterziehen sowie eine Vielzahl produktivitätssteigernder Maßnahmen zu implementieren. Allerdings wäre es falsch, pauschal von einer konzertierten Aktion des US-amerikanischen und bundesdeutschen Staates oder der Privatwirtschaft auszugehen. Der Transfer von Wissen über die Verkaufsformen im Einzelhandel fand sowohl auf formellen als auch informellen Wegen statt. Ihn prägten die Interessen und Handlungsmöglichkeiten einer Vielzahl von Akteuren, die jeweils spezifische Knoten innerhalb eines Netzwerkes darstellten.205 Zu Beginn des Wiederaufbaus spielten der Handel und besonders der Einzelhandel in der öffentlichen Diskussion um die Wiederherstellung und Neustrukturierung der bundesdeutschen Wirtschaft eine geringe Rolle. Auch bei den konkreten Maßnahmen zum Wiederaufbau standen v. a. der industrielle und der landwirtschaftliche Sektor im Vordergrund.206 Dennoch partizipierte der Einzelhandel an den US-amerikanischen Hilfsprogrammen, die als Kernbestandteile materielle Unterstützung und den Transfer von Knowhow umfassten. Zunehmend wurde man sich auf US-amerikanischer Seite darüber bewusst, dass nur eine grundlegende Umstrukturierung der verschiedenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Teilbereiche durch die Europäer selbst die langfristige Stabilisierung gewährleistete. In diesem Sinne fungierte der Transfer von Erfahrungen, Wissen und Informationen v. a. im Rahmen des Technical Assistance Program als entscheidendes Instrument der US-amerikanischen Wiederaufbaupolitik. „Through the medium of technical assistance and interchange of ‘know how’, there is gained essential knowledge and experience which enables the recipients of commodities and equipment to obtain the maximum utility therefrom. Further, the impact of supply and recovery program provides a basis for mutual efforts to bring about lasting improvements in the level of productivity and efficiency in the key areas of each participating country. Without this program, it would not be possible to provide the services and to facilitate the exchange of knowledge and experience which are essential to European recovery.”207
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Vgl. Muhs, Paulmann, Steinmetz 1998, S. 24; Kacker 1988, S. 46f. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 16. Vgl. dazu auch der Bericht des Bundesministeriums für den Marshallplan, in dem der Einzelhandel keinerlei Erwähnung findet. Bundesministerium für den Marshallplan: Zwölfter, abschließender Bericht der Deutschen Bundesregierung über die Durchführung des Marshallplanes für die Zeit bis 30. Juni 1952 und Erster und Zweiter Bericht über die Fortführung amerikanischer Wirtschaftshilfe (MSA) für die Zeit vom 1. Juli 1952 bis 31. Dezember 1952, Bonn 1953. ECA Public Advisory Board: Technical Assistance (19.1.1949), S. 2, NA RG 469, Entry 9, Box 5. Auch: Bundesministerium für den Marshallplan 1953, S. 35; Marnham, J. E.:
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Die Wirksamkeit dieser Strategie der US-amerikanischen Hilfsprogramme basierte auf dem so genannten Multiplikatoreffekt.208 Die materielle Unterstützung und der Austausch von Wissen erreichten unmittelbar nur eine begrenzte Anzahl von Personen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Entsprechend galt es mittels einiger ausgewählter Fachleuten und Experten, eine möglichst große Zahl von Unternehmen für den Produktivitätsgedanken zu gewinnen. Die Durchführung der konkreten Maßnahmen oblag letztlich den bundesdeutschen und europäischen Akteuren – eine Art „Hilfe zur Selbsthilfe“.209 Auf europäischer und nationaler Ebene wurde die Bedeutung der unternehmerischen Eigeninitiative für die Rationalisierungsbemühungen ebenfalls immer wieder hervorgehoben.210 Trotz der andauernden kontroversen Diskussion um die Auswirkungen des Marshallplans und der vorherrschenden Meinung, die Effekte der Austauschprojekte dürften nicht überbewertet werden, gingen für den Einzelhandel wichtige „katalytische“ Impulse vom Marshallplan aus.211 Neben dem tatsächlichen Informationsfluss spielte die Bildung von Netzwerken zur Förderung der Modernisierung
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Technical Assistance (20.3.1952), S. 1; NA RG 469, Entry 336, Box 21; OEEC 1954, S. 9; Wetherill, Samuel: Re: The Marshall Plan (19.3.1948), S. 3, NA RG 469, Entry 20, Box 8. Vgl. zur Bewertung durch die Forschung: Gourvish, Terry; Tiratsoo, Nick: Missionaries and Managers, in: Ebd. (Hg.): Missionaries and managers: American influences on European management education, 1945-60, Manchester, New York 1998, S. 112, hier S. 1; McGlade, Jacqueline: The US Technical Assistance and Productivty Program and the education of Western European managers, 1948-58, in: Gourvish, Terry; Tiratsoo, Nick (Hg.): Missionaries and managers: American influences on European management education, 1945-60, Manchester, New York 1998, S. 13-33. EPA-Project 326: Food Retail Consultant: Questionaire on Type B Projects (10.2.1955), NA RG 469, Entry 382, Box 9. Auch: Informationen des Verwaltungsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (25.4.1949), BAK Z14/160. Bundesministerium für den Marshallplan, Bundesministerium für Wirtschaft: Deutsches Produktivitätsprogramm (20.2.1953), S. 1, BAK B146/227a; EPA-Project 377: Followup study for retail trade association executives, Project Proposal (4.11.1956), NA RG 469, Entry 382, Box 12; FOA position regarding EPA objectives (19.8.1954), S. 3, NA RG 469, Entry 700, Box 1; Technical Assistance Program Budget for Fiscal Year 1951 und 52 (11.10.1950), S. 4, NA RG 469, Entry 1058, Box 9. OEEC 1954, S. 6. Kleinschmidt kommt für den industriellen Sektor ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass v. a. der „mentale Ertrag“ eine entscheidende, katalytische Wirkung auf die Unternehmen hatte. Kleinschmidt, Christian: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950-1985, Berlin 2002, S. 62. Vgl. zur Diskussion: Berger, Ritschl 1995. Auch: Bührer 1999, S. 190; Zeitlin 2000, S. 10f.
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des Vertriebswesens, in denen so genannte „spill-over“-Effekte wirksam wurden, eine entscheidende Rolle für den erfolgreichen Transferprozess.212 Der Einzelhandel bildete einen wichtigen Angelpunkt für die Zielsetzung, den Lebensstandard und die Kaufkraft der breiten Masse der Bevölkerung zu erhöhen, die soziale Marktwirtschaft zu etablieren und den Wirtschaftsaufschwung zu befördern. Im Technical Assistance Program für die Jahre 1951/52 wurden die Verkaufsmethoden deshalb als wichtigster neuer Förderbereich neben der Marktforschung und der Verpackung vorgestellt.213 1954 hob die Foreign Operations Administration (FOA) die Selbstbedienung in diesem Zusammenhang besonders hervor.214 Die Entwicklung eines Massenmarktes und eines wirksamen, nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten funktionierenden Distributionswesens hing in großem Maße von der Effizienzsteigerung des Einzelhandels ab.215 Dessen hoher Kostenaufwand und seine mangelhafte Leistungsfähigkeit, die man zum Teil auf die Vielzahl der kleinen unwirtschaftlichen Geschäfte und die protektionistischen, festgefahrenen Strukturen zurückführte, schlugen sich in hohen Verbraucherpreisen nieder. Diese wurde immer wieder als eines der Hauptprobleme für die Verbesserung des Lebensstandards kritisiert.216 Nur durch die Einführung rationeller Arbeitsmethoden und Vertriebsformen ließ sich eine dauerhafte Senkung der Preise zugunsten der Massenkaufkraft erreichen.217 In der US-amerikanischen Politik des Wiederaufbaus Europas, die sich zum großen Teil im Instrument des Marshallplans niederschlug, waren ökonomische und militärische Überlegungen unter dem Motto „to have both
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Vgl. Berghoff 2004b, S. 68. Eine zeitgenössische Studie spricht in diesem Zusammenhang vom „galvanising effect“. Jefferys, James B.; Knee, Derek: Retailing in Europe. Present structure and future trends, London, New York 1962, S. 124. Technical Assistance Program Budget for Fiscal Year 1951 und 52 (11.10.1950), S. 7, NA RG 469, Entry 1058, Box 9. Auch: Our International Outlook, in: SMM, 4/1953. FOA position regarding EPA objectives (19.8.1954), S. 14, NA RG 469, Entry 700, Box 1. Auch: Whidde, Howard P.: Birth of a Mass Market - Western Europe, in: Harvard Business Review, 33, 1955, S. 104f. Foreign Operations Administration: Report to the President on the Foreign Operations Administration, Washington D. C. 1953, S. 20 (nachfolgend FOA 1953); Projekt: The German Study of wholesale and retail trades (TA 09-183), (3/4/1953), BAK B140/85; Whidde 1955, S. 104f. Food and Agriculture Committee: Proposals for the Programme of Action of the Agency in the food and agriculture sector for 1954-55 (10.6.1954), S. 5, NA RG 469, Entry 700, Box 1; Mc Creary 1964, S. 107f.; OEEC 1954, S. 5. Faltblatt „Besser leben” (1951), S. 51, BAK B146/312.
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guns and butter“ eng miteinander verknüpft.218 Die politische und wirtschaftliche Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft sollte sich letztlich günstig auf deren Verteidigungsbeitrag auswirken – sowohl hinsichtlich der ideellen Einstellung als auch der Verfügbarkeit konkreter materieller und personeller Ressourcen.219 Neben den geopolitischen Aspekten stellte die FOA die Notwendigkeit der Erschließung neuer Märkte v. a. für agrarische Produkte, deren Nachfrage in den USA relativ unelastisch war, als zentralen Aspekt für die Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und die Stärkung der Wettbewerbsposition Europas auf dem Weltmarkt dar.220 In der Forschung herrscht keine Einigkeit über die tatsächliche Auswirkung dieser Überlegungen auf die Praxis. Während einige die Schaffung eines regionalen Marktes als entscheidend für die US-amerikanische Wirtschafts- und Absatzpolitik der Nachkriegszeit ansehen, halten Mc Glade und andere fest, dass der tatsächliche Anteil der Im- und Exportgeschäfte bis 1960 mit 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes letztlich doch relativ niedrig blieb.221 Unabhängig davon, wie sich der Absatz des US-amerikanischen Außenhandels tatsächlich entwickelte, war an die genannten Zielsetzungen die Steigerung der Effizienz des europäischen Handels gebunden, an der eine Reihe von Unternehmen aus verschiedenen Sektoren durchaus Interesse besaßen. Die US-amerikanische Lebensmittelindustrie hatte im Laufe der 218
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Note on the Receptivity and Resistance to introducing American Working Methods into German Industry (8.8.1952), S. 1, NA RG 469, Entry 1058, Box 10; Airgram MSA Bonn an EO Paris: Germany in a European Mass Market (11.2.1952), S. 2, NA RG 469, Entry 1058, Box 9. Mc Glade hat festgehalten, dass innerhalb der politischen Führung in den USA zwischen liberalen und konservativen Internationlisten erhebliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der wirtschaftspolitischen und militärischen Richtung ebenso wie hinsichtlich der konkreten Maßnahmen ausgehandelt wurden. Mc Glade 2000. Airgram MSA Bonn an EO Paris: Germany in a European Mass Market (11.2.1952), S. 1f., NA RG 469, Entry 1058, Box 9; Technical Assistance Program Budget for Fiscal Year 1951 und 52 (11.10.1950), S. 1, NA RG 469, Entry 1058, Box 9. FOA 1953, S. 19f. De Grazia 2005, S. 475; Pells 1997, S. 189; Wildt 1996, S. 151; Vgl. zur relativierenden Position: Mc Glade 2000, S. 57. Einen Überblick über ausländische Direktinvestitionen im Einzelhandel ausgehend von verschiedenen Ländern im 20. Jahrhundert gibt Kacker 1988, S. 61-65. Vgl. zur Aktivität US-amerikanischer Unternehmen in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg: Schug, Alexander: Missionare der globalen Konsumkultur – Corporate Identity und Absatzstrategien amerikanischer Unternehmen in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 2005, Sonderheft, H. 21, S. 307-342.
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1950er Jahre eine Vielzahl von Niederlassungen in Europa eröffnet und zielte natürlich auf den Absatz ihrer Produkte auf den dortigen Märkten.222 Darüber hinaus zeigten US-amerikanische Firmen, die im Bereich der Ausrüstung und Ausstattung von Einzelhandelsgeschäften agierten, ein reges Interesse an der Förderung der Selbstbedienung und Supermärkte.223 Eines der exponiertesten Beispiele war die Firma National Cash Register (NCR), die Kassensysteme für den Handel produzierte. Sie operierte bereits nach dem Ersten Weltkrieg auf internationaler Ebene und unterhielt eine Reihe von europäischen Niederlassungen. Dazu zählte die Nationale Registrierkassen in Augsburg, die in der Bundesrepublik Deutschland schon früh Kurse und Schulungsmaterial zum Thema Selbstbedienung anbot. Darüber hinaus gründete NCR Mitte der 1950er Jahre die Schulungseinrichtung Modern Merchandising Methods (MMM) in Dayton (Ohio), die ein umfassendes Kurs- und Weiterbildungsprogramm für ein internationales Publikum anbot. Ein deutscher Besucher der MMM-Seminare, die sozusagen zum Pflichtprogramm der Amerikareisenden gehörten, resümierte die subtile Beratungsarbeit der NCR in Dayton 1956 folgendermaßen: „Das tun sie ganz ohne Berechnung und ohne diese Hilfeleistung vom Kauf einer Kasse abhängig zu machen, der allerdings dann meist ganz von selbst erfolgt.“224 Sehr aktiv an den konkreten Austauschbeziehungen beteiligten sich USamerikanische Einzelhandelsunternehmen sowie deren Interessenverbände und Fachorganisationen. Durch die Einführung von neuen Vertriebsformen im europäischen Einzelhandel eröffnete sich ihnen zwar kein direkter materieller Vorteil, allerdings zeugte ihre Aktivität von einem ausgeprägten 222
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„U.S. Food Processors Add Plants Overseas, Aim To Tap Growing Market.“, in: Wall Street Journal, 15.8.1961, S. 1, RAC RG 3B 21, Series 2; Box 19, Folder 514. Für die unmittelbare Beteiligung US-amerikanischer Lebensmittelhersteller an der Einführung der Selbstbedienung und Supermärkte in der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich aus den vorliegenden Quellen keine Anhaltspunkte. Auf Grundlage dieses Erkenntnisstandes kann nur davon ausgegangen werden, dass diese Unternehmen indirekt von der Entwicklung des europäischen Vertriebswesens profitierten, indem die Selbstbedienungsläden und Supermärkte im Zuge der Internationalisierung des Warenangebotes, die notwendigen Kapazitäten für den Absatz neuer Produkte stellten. Vgl. die vom US Departement of Commerce in Auftrag gegebene Studie zu Absatzmöglichkeiten US-amerikanischer Ladenausstatter in bundesdeutschen Selbstbedienungsgeschäften und Supermärkten: Knight, Lester B.: Self-service store and supermarket equipment, West Germany, Washington D. C. 1965. Lidchi 1956, S. 22. Vgl. zur Organisation und inhaltlichen Gestaltung der Seminare: Brief von Der Einzelhandelsberater an Industrie- und Handelskammern (5/1965), RWWA 20/2287/3; Flyer NCR-Systembereich Handel: Internationale Seminare für Verkaufsmethoden (ca. 1969), RWWA 20/2321/2.
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Selbstbewusstsein, das „richtige Verkaufsprinzip“ auf der „richtigen Seite“ zu vertreten. Sie verstanden sich als „apostle of the American system of selfservice“ und machten es sich zu einem persönlichen Anliegen, als Experten den bundesdeutschen Einzelhandel zu missionieren.225 Die Expansion US-amerikanischer Unternehmer in den europäischen Lebensmitteleinzelhandel stellte seit dem Ende der 1950er Jahre einen weiteren Faktor bei der Umstrukturierung des Vertriebswesens dar. Allerdings blieb das tatsächliche Ausmaß an Investitionen und die Durchdringung der europäischen Märkte relativ gering. Während die International Basic Economic Corporation (IBEC) der US-amerikanischen Familie Rockefeller Anfang der 1950er Jahre eine groß angelegte Studie über die Möglichkeiten für Supermärkte in den einzelnen europäischen Ländern anfertigte, beschränkte sich ihre Aktivität ab dem Ende des Jahrzehnts auf Italien.226 In der Bundesrepublik Deutschland begann die Deutsche Supermarkt GmbH unter Federführung des kanadisch-britischen Unternehmers Garfield Weston 1959 mit der Eröffnung erster Supermärkte. Im Zusammenhang mit den konkreten Transformationsprozessen im bundesdeutschen Einzelhandel soll im Kapitel IV.2.2. genauer auf das Vorgehen der ausländischen Investoren und deren Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen werden. In den US-amerikanischen Zielsetzungen trat immer auch das Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen der Verbreitung des kapitalistischen Systems US-amerikanischen Stils und der Schaffung einer integrierten westlichen Massenkonsumgesellschaft in Abgrenzung zum sowjetischen System hervor. Die „politics of productivity“ waren eng verknüpft mit einer „diplomacy of ideas“.227 Erstens sollte der bundesdeutsche Einzelhandel nicht nur mit dem entsprechenden Faktenwissen über die Funktionsweise von Selbstbedienungsläden und Supermärkten vertraut gemacht werden, sondern es ging in den Austauschprozessen zugleich um die Übermittlung von Wertungswissen in Form von US-amerikanischen Einstellungen gegen
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Our International Outlook, in: SMM 4/1953, S.178. Auch: Brief an William Colman, Elliott Hanson, betr. Proposed Productivity Group from Germany (4.8.1950), S. 1, NA RG 469, Entry 1205, Box 11; Brief: Re American Sales Executives (25.5.1953) NA RG 469, Entry 173, Box 8. Supermarket Possibilities in Western Europe, General Summary (1956), RAC RG 3B 21, Box 20. Doering-Manteuffel 1995, S. 11. Vgl. auch: Berghahn, Volker: Zur Amerikanisierung der westdeutschen Wirtschaft, in: Herbst, Ludolf (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG: die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 227-253, hier S. 233; De Grazia 2005, S. 475; Link 1991, S. 314f.; Schröter 2004a, S. 139.
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über dem Wettbewerb, hohen Löhnen und niedrigen Preisen sowie der Konsumgesellschaft. Der US-amerikanische Produktivitätsberater Frank Bair bezeichnete diese Aufgaben 1951 als „psychological warfare“, die nicht so leicht zu bewerkstelligen sei.228 In Bezug auf den Wettbewerb hat eine Reihe von Forschungsarbeiten festgehalten, dass sich die bundesdeutschen Unternehmer mit der Adaption von Wettbewerbsprinzipien besonders schwer taten und dem US-amerikanischen „competetive capitalism“ erheblichen Widerstand entgegensetzten.229 Zweitens spiegelte sich die ideologische Komponente des Transfers von Modellen und Wissen darin wider, dass den westeuropäischen Staaten das Konzept der „Konsumdemokratie“230 als eine Art verbindendes Element nahegebracht wurde, das sich gleichzeitig als dem kommunistischen System überlegen zeigen sollte: „As Western Europe's economy grows stronger, so will its ability to resist communist pressure. […] Its rising standard of living would give the lie to communist propaganda about the decadence of the West. The contrast it would provide to the economic condition of Eastern Europe could not help but have a magnetic effect on the satellite people.”231
Die Massendistribution bildete nicht nur einen festen Teil des kapitalistischen Wirtschaftssystems unter dem Vorzeichen stetigen Wachstums, sondern fungierte im Selbstbedienungsladen und Supermarkt mit seiner Warenfülle, in die der Konsument förmlich eintauchen konnte, als öffentliche Demonstration von Wohlstand – dem Symbol US-amerikanischer Lebensweise. In den Vortragsunterlagen der National Sales Executives Inc. (NSE) anlässlich ihrer Europareise 1951 hieß es, die Selbstbedienung sei die Inkarnation der „freedom of choice“.232 So berichtete die Fachzeitschrift Super Market Merchandising 1959 von der US-amerikanischen Ausstellung in Moskau folgende Szenerie: „The Russian people were captivated by the American Supermarket Display at our national exhibition at Moscow. They couldn’t get enough of an eyeful – and mouth-
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George F. Train, Frank A. Baird: Technical Assistance (18.9.1951), S. 1, NA RG 469, Entry 170, Box 1. Bührer 1999, S. 189; Schröter 2004a, S. 139. In den Quellen dazu: OEEC 1954, S. 5. De Grazia 2005, S. 5. Vgl. auch: Oldenziel 2005, S. 107; Schindelbeck, Dirk: Marken, Moden und Kampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte, Darmstadt 2003, S. 17. Whidde 1955, S. 105; Our International Outlook, in: SMM, 4/1953. Vgl. auch von Seiten der Forschung: Gourvish, Tiratsoo 1998, S. 1. Infoblatt National Sales Executives Inc. (1951), BAK B140/70.
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ful – of all the glassed, packaged, canned, and frozen foods. In some instances they even broke open the frozen food packages to sample the contents. […] If a complete Super Market had been permitted in the exhibit, it would have created a riot.”233
Der Einzelhandel nahm durch seinen engen alltäglichen Kontakt zu den westdeutschen Konsumenten eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung der „Konsumdemokratie“ an die breite Masse der Bevölkerung ein: „Since the food distributors are very close to the people in Germany, in almost daily contact with the German housewives and consumers, they represent a very potent force to carry back to the German people the story of American economy, and the accompanying reassurance it would give them.”234
An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verknüpfung und die Akzeptanz von Massendistribution, Wohlstand und Selbstbedienung US-amerikanischer oder westlicher Prägung sich nicht zwingend und notwendigerweise aus einer bestimmten gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Entwicklung heraus ergab.235 Die Bedeutungszuweisung stellte keinen Automatismus einer unaufhaltsamen Massenkonsumgesellschaft dar, sondern vielmehr eine bewusste, aktive und kreative Handlung auf der Grundlage einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Motivation. Deutlich wird diese Einschätzung dadurch, dass es auch in der Sowjetunion und in der Mehrheit der osteuropäischen Länder seit dem Ende der 1950er Jahre zur Einführung der Selbstbedienung und in den 1960er Jahren zur Eröffnung von Supermärkten kam.236 Der rationalisierende Impetus des Selbstbedienungsprinzips ähnelte dabei dem Einzelhandel der kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme. Er zielte auf die Einsparung von Personalkosten und den effizienteren und schnelleren Absatz von größeren Warenmengen an den Endverbraucher. Laut Patterson wurde zu diesem Zweck der Transfer von vorrangig technischen, transparenten und scheinbar system 233
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Russians Mob American Supermarket, in: SMM, 9/1959. Vgl. auch die Forschung: Oldenziel 2005, S. 107f.; Strasser 2004, S. 294. Brief an William Colman, Elliott Hanson, betr. Proposed Productivity Group from Germany (4.8.1950), S. 1, NA RG 469, Entry 173, Box 8. Vgl. Oldenziel u. a. 2005, S. 109; Patterson 2009, S. 196. Möglicherweise spiegelt sich darin die von Clark und Fourastié angenommene Parallelität der Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums in kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaften wider, die u. a. auf der steigenden Produktivität des Faktors Arbeit, der Zunahme des Stellenwertes des tertiären Sektors und der Akkumulation von Kapital beruht. Vgl. Stehr 2001, S. 128f.
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neutralen Elementen des Selbstbedienungsprinzips angestrebt. Trotzdem gelang es seiner Meinung nach nicht, von der ursprünglichen kulturellen Prägung der Vertriebsformen zu abstrahieren. Deshalb entwickelte sich ausgehend von der anfänglichen Förderung der neuen Warenpräsentation durch die kommunistischen Autoritäten eine eigene Konsumkultur in den Supermärkten, die letztlich zur Unterminierung der sozialistischen Systeme beitrug.237 Im Zusammenhang mit der Vermittlung des self-service-Modells an den bundesdeutschen Einzelhandel lassen sich eine Reihe von verschiedenen Dimensionen der Konstruktion und der Bewertung ausmachen, die maßgeblich für die Vorstellung von einem westlichen Modell „modernen Verkaufens“ waren. Sie kombinierten demokratische Vorstellungen und Werte sowie einen hohen Lebensstandard und eine Konsumkultur mit ökonomischem Wachstum.238 Sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf symbolischer Ebene korrespondierte die Betonung des freien Unternehmertums und des freien Wettbewerbs mit der Wahlfreiheit des Konsumenten. In der Bundesrepublik Deutschland erzeugte die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklung der 1950er und 1960er Jahre die Grundlage und das entsprechende Klima für die Aufnahme der US-amerikanischen Ideen, in einer Form, wie es zur Zeit der Weimarer Republik noch nicht der Fall gewesen war.239 Wirtschaftsminister Ludwig Erhard propagierte den „Wohlstand für alle“ und erklärte die freie Konsumwahl zu einem Grundrecht – eindeutig auch gegenüber den Forderungen des Einzelhandels.240 Der Konsument wurde damit zu einem integralen Motor der wirtschaftlichen Entwicklung, wie es die Politik des New Deal in den USA bereits in den 1930er Jahren forciert hatte. Auch wenn Erhard 1951 auf Drängen der Alliierten vom Schwerpunkt der Konsumgüterproduktion Abstand nahm, hielt er an der
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Vgl. Patterson 2009, S. 197. Fehrenbach, Poiger 2000, S. XVIII. Doering-Manteuffel 1995, S. 6; Heßler 2004, S. 468; Lutz, Burkart: Die Singularität der europäischen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Kaelble, Hartmut (Hg.): Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 35-59, hier S. 49, Nolan 2000, S. 17. Ansprache Erhard auf der Zweiten Delegiertenversammlung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 4. und 5. Oktober 1949 in Wiesbaden, Rundschreibendienst 8/9/49 (24.11.1949), S. 17, WWA K2/2041; Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, Neuausgabe 1997, Düsseldorf 1957, S. 227; Ist unsere Marktwirtschaft noch sozial?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 15.3.1952.
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hohen Wertschätzung für den Konsum fest.241 Für die Erfüllung dieser Versprechen erwies sich eine Reihe von Voraussetzungen als entscheidend, zu denen auch die Modernisierung und Rationalisierung der Einzelhandelsstrukturen zählte. Dabei hatte Erhard in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland v. a. mit dem Misstrauen des mittelständischen Einzelhandels gegenüber dem freien Wettbewerb im marktwirtschaftlichen System zu kämpfen, hielt aber an seiner Ablehnung einer gesetzlich verankerten Berufsordnung und dem Appell, sich den neuen Wettbewerbsbedingungen zu stellen, fest.242 Gleichzeitig animierte er die Einzelhändler zu größerer Bereitschaft, von den USA zu lernen und sich gegenüber US-amerikanischen Vorschlägen zu öffnen.243 Trotz der angedeuteten Widerstände erreichte die Produktivitätswelle nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen großen Teil der bundesdeutschen Einzelhandelsunternehmen. Nach den ersten Anstrengungen zum Wiederaufbau wurde man sich seit Beginn der 1950er Jahre der Notwendigkeit von Rationalisierung und Effizienzsteigerung bewusst, um mit der zunehmenden Massenproduktion Schritt halten und Umsatzsteigerungen erzielen zu können.244 Das in den USA bereits seit über 30 Jahren erprobte Prinzip des self-service wurde zu einem konkreten Leitmodell für die Modernisierung des Vertriebswesens, an dem sich die Einzelhändler 241
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Vgl. Abelshauser 1987, S. 22; Andersen 1997, S. 15, 18. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass in den 1950er Jahren verschiedene Erklärungsmodelle für die westdeutsche Orientierung an den USA diskutiert wurden. So findet man z. B. bei Lickey die Auffassung, dass Modernisierung nachgeholt werden müsse, weil man mit den USA das Projekt eines gemeinsamen Marktes habe. Lickey 1957, S. 379. Ebenso äußerte sich Schulz-Klingauf, dass die „gegenseitige Abhängigkeit der Partner innerhalb dieses Wirtschaftsblocks […] die Anpassung der übrigen an die Formen und Methoden des am weitesten fortgeschrittenen Partners zwingend nach sich zieht.“ Schulz-Klingauf 1960, S. 279f. Damit wurde an den Gedanken Gramscis aus den 1930er Jahren angeknüpft, der Europa aufgrund der Hegemonie der Vereinigten Staaten zur nachholenden Modernisierung gezwungen sah, was zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschafts- und Familienstruktur sowie der Konsumkultur führen würde. Vgl. dazu: Tanner 1997, S. 599. Erhard, Ludwig: Der Einzelhandel für oder gegen die Marktwirtschaft? Ansprache auf der 7. Delegierten-Tagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels in Hamburg am 27.10.1954, Bonn 1954; Erhard, Wohlstand für alle, S. 147-154; Prof. Erhard: Die Wirtschaft muß expansiv bleiben!, in: Der Einzelhändler, 13/1953. Erhard 1954, S. 6f. HDE: Arbeitsbericht 1954, S. 73, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Priess 1961, S. 21; Stichworte zum Vortrag von Dpl. Kfm. Friedrich Priess, gehalten am 27.1.1953, S. 1f., BAK B102/39484.
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nach den Jahren der internationalen Isolation, wie sie Schulz-Klingauf – einer der frühen deutschen Experten auf dem Gebiet der Selbst-bedienung – beschrieb, orientieren konnten: „Die geistige Isolierung von der übrigen Welt, der auch der deutsche Handel von 1933-1945 in mancher Hinsicht unterlag, wurde nun abgelöst durch eine Fülle von Informationsmaterial, v. a. auch über die Wirtschaft jenseits des großen Wassers und ihre imponierenden Erfolge. Damit einher ging ein erfreulicher ‚Wissensdurst‛ in den aufgeschlossenen Kreisen des deutschen Einzelhandels: man fing ja ganz von vorne an, und man war für neue Wege und Methoden aufgeschlossen wie nie zuvor.“245
Dabei verknüpften die Fürsprecher der Amerika-Orientierung das spezifische Eigeninteresse an einer erhöhten Rentabilität ihrer Geschäfte zum einen mit der Meinung, die Vertriebsinnovationen wären die dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb und der Massenproduktion gerecht werdenden Formen des Verkaufens.246 Zum anderen nahmen diese Experten Partei für den Konsumenten: in gesellschaftspolitischem Sinne dienten die Selbstbedienung, Supermärkte und Discounter letztlich dem Wohle des Verbrauchers.247 Wie bereits in der Rationalisierungsdebatte der 1920er Jahre beschränkte sich der Wirksamkeitsanspruch von Rationalisierung somit nicht nur auf die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Effizienzsteigerung, sondern er wurde darüber hinaus auf die positive Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung und des Allgemeinwohls ausgedehnt. Auch wenn die bundesdeutsche Bevölkerung nicht unmittelbar an den transatlantischen Transfervorgängen partizipierte, hatte sie durchaus ein Interesse am Wandel des Einzelhandelsvertriebs, das sie im Laufe der 1950er Jahre mit der zunehmenden Nutzung der neuen Verkaufsformen
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Schulz-Klingauf 1960, S. 327f. Auch: Priess 1961, S. 10. In den Archivunterlagen der IBEC sind seit den späten 1940er Jahren sogar einige Anfragen von deutscher Privatinitiative aus zu finden, die unter Bezugnahme auf die Aktivitäten der IBEC in Lateinamerika um Direktinvestitionen mit dem Ziel der Steigerung der Produktivität der westdeutschen Wirtschaft werben. Einige der Briefe beziehen sich dabei neben der Lebensmittelproduktion auch auf den Lebensmitteleinzelhandel und die Einrichtung von Supermärkten. IBEC lehnte derartige Aktivitäten knapp mit der Begründung ab, man konzentriere sich ganz auf Lateinamerika. Vgl. Brief Franz Aichem (Güttingen, Radolfzell) an Nelson Rockefeller, betr. Kapitalinvestierung in Deutschland (7.6.1948), Brief v. Lilienfeld (Presen) an Nelson Rockefeller (29.3.1947), RAC RG 3B 21, Box 12, Folder 269. Auch: Brief Otto Kaletsch (IBEC) and W.B.D. Stroud, betr. J. Neckermann (7.3.1958), RAC RG 3B 21, Box 20, Folder 522. Schumacher, Busset 2001, S.15f.
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ausdrückte. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach gaben 1953 83 Prozent der Befragten man solle möglichst eng mit den USA zusammenarbeiten und 72 Prozent waren der Meinung, dass sich in Europa schließlich die „westliche Lebensart“ durchsetzen werde.248 Das Modell der US-amerikanischen Konsumgesellschaft bot für die Westdeutschen eine Möglichkeit, sich vom traditionellen Konsummodell zu lösen.249 De Grazia hat in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass sich eine neue soziale Allianz zwischen den lokalen Verbraucherinteressen und dem fortgeschrittenen Kapitalismus US-amerikanischen Stils bildete, bei der hohe Umsätze und niedrige Preise allen Bevölkerungsschichten der Massenkonsumgesellschaft zugutekamen.250 Der deutsche Filialunternehmer Schmitz-Scholl schrieb 1968 dazu: „Die Attraktivität der Supermärkte ist in Amerika wie auch in Westdeutschland unumstritten. Auch auf dem amerikanischen Kontinent – genau wie hier – ist die Werbung mit dem Preis, also der Preiskampf unvermeidlich und notwendig, um Stammkunden zu halten und neue zu gewinnen, denn: arme Leute müssen billig kaufen, reiche Leute wollen billig kaufen!“251
Diese komplexen Interessenlagen stellten den übergeordneten Rahmen für die am Wissensaustausch und am Modelltransfer beteiligten Akteure dar. Grundlegend für die Handlungsträger war aber ebenso die Koordinierbarkeit der Transferbereitschaft und des Transferpotential der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Nutzungsbereitschaft und dem Nutzungspotenzial der Bundesrepublik Deutschland. Wie in Kapitel III. 1. ausführlich geschildert wurde, bestand die US-amerikanische Leistungsfähigkeit einerseits im konsumgesellschaftlichen Entwicklungsvorsprung. Andererseits waren die USA bei der Organisation und Nutzung von konsumrelevantem Wissen zur Optimierung der Konsumgüterproduktion und des Warenvertriebs weit fortgeschritten. De Grazia konstatiert den enormen Unterschied zwischen verfügbarem Datenmaterial in den USA und in Europa bereits für die 1930er Jahre, und zieht schon für diesen Zeitraum die Schlussfolgerung „the sheer quantity of the U.S. data […] assured that American developments offered the basis for future comparisons and that U.S. practi 248
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Institut für Demoskopie Allensbach: Die fünfziger, sechziger Jahre. Trendbeobachtungen aus Material des Allensbacher Archivs, Allensbach 1964, S. 331, 333. De Grazia 1997, S. 119; Oldenziel 2005, S. 110. De Grazia 2002, S. 12. Auch: Oldenziel 2005, S. 110. Schmitz-Scholl, Karl: Studienreise 67. Beobachtungen und Erfahrungen, Mülheim/ Ruhr 1968, S. 12.
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ces defined the goals and means of distribution.”252 Da die USamerikanischen Unternehmer und Fachleute eben nicht nur über praktische Erfahrungen im Umgang mit der Selbstbedienung verfügten, sondern darüber hinaus über einen differenzierten Fundus an professionell und wissenschaftlich erstelltem Material auf dem Gebiet der Konsum- und Handelsforschung, waren sie in der Lage, explizites Wissen schnell und gezielt weiterzugeben. Die Aufnahme der Informationen durch die bundesdeutschen Akteure gestaltete sich durchaus ambivalent. Von den organisierten, nicht nur in der Praxis erprobten, sondern auch durch die Forschung erwiesenen Wissensbeständen ging zunächst eine gewisse Autorität aus. Diese ist allerdings nicht als eine Art repressive Wirkungsmacht zu verstehen, sondern durchaus als eine positive Definitionsmacht von „modernem“ Konsumieren und „zeitgemäßem“ Verkaufen.253 Im Sinne Foucaults sollte Macht deshalb nicht nur als restriktives Instrument und negative Instanz gesehen werden, sondern vielmehr Berücksichtigung finden, inwiefern sie in ihrer Ausübung neues Wissen und neue Diskurse produziert.254 Diese Konstellationen waren gleichzeitig stark davon geprägt, dass die europäischen Newcomer im Bereich der Selbstbedienung und Supermärkte ihr Vertrauen in das Wissen und die Fähigkeiten der US-amerikanischen Experten legten. Deren Stellenwert als erfolgreiche Sachkundige und Spezialisten bedurfte allerdings immer wieder der Rückversicherung und der Legitimation im Prozess der Annahme ihres Wissens, die sich in der Häufung von Formulierungen wie „einer der führenden Spezialisten“, „anerkannter und erfahrener Spezialist“, „hochgeschätzter Spezialist“ ausdrückte.255 Darin spiegelte sich auf sprachlicher Ebene die Kompensation einer gewissen Unsicherheit und Unwissenheit wider, die typisch für Innovationsprozesse sind. Das Vertrauen in die Spezialisten aus Übersee war ein Mittel zur Reduktion von Komplexität, denn trotz umfassender Studien des US-amerikanischen Einzelhandels durch die deutschen Beobachter bewegte sich dessen Entwicklung in weit 252
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De Grazia 1998, S. 63. Vgl. für die Marktforschung: Schröter, Harm G.: Zur Geschichte der Marktforschung in Europa im 20. Jahrhundert, in: Walter, Rolf (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.-26. April 2003 in Greifswald, Stuttgart 2004, S. 319-336. Bsp.: Nixdorf, Max: Der Lebensmitteleinzelhandel in den USA, Vortrag auf der Sitzung der Handelssachbearbeiter beim DIHT im November 1953, (11/1953), S. 1, WWA K6/87. Vgl. für die Marktforschung: Schröter 2004b. Foucault 1976, S. 35. Auch: Stehr 1994, S. 364f. „Keine Revolution im Lebensmittel-Einzelhandel“. USA Experten sprachen vor Hamburger Lebensmittel-Kaufleuten, in: Edeka-Rundschau, 6/1953.
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aus differenzierten Formen und es blieben ihnen viele Eindrücke verschlossen.256 Parallel dazu ist zu beobachten, wie die westdeutschen Unternehmer versuchten, die Verkaufsformen von den Rahmenbedingungen der USamerikanischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu abstrahieren und kompatible Anknüpfungspunkte für den heimischen Kontext herauszufiltern. Kleinschmidt beschreibt diesen Prozess als „scanning“, d. h. eine „Aktivität der Informationsbeschaffung als Voraussetzung von Managemententscheidungen, die gleichzeitig eine Reduktion von Komplexität in einer riesigen Datenflut, das Erkennen der Relevanz von Informationen wie auch deren Kompatibilität mit bereits Bekanntem impliziert.“257
Er hält fest, dass dies ein widersprüchlicher Prozess sei, in dessen Verlauf es zu einem scharfen Abtasten und gleichzeitig zu einem flüchtigen Überblicken und Überfliegen komme. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Fachleute des Einzelhandels zum Teil der Meinung waren, dass das statistische und wissenschaftliche Material wenig Nutzen habe, da es sich auf grundverschiedene Ausgangsbedingungen beziehe.258 Anstelle dessen forderten die Einzelhändler praktisches, anschauliches Wissen – man wolle sich die grundlegende Form der Funktionsweise von Selbstbedienungsläden und Supermärkte aus der Anschauung selbst herausziehen.259 Die Art und Weise wie die Verkaufsformen in den USA der 1950er und 1960er Jahre funktionierten und welche Gestalt sie annahmen, stellte für die westdeutschen Interessenten zunächst einmal eine Zukunftsutopie dar. Es konnte also nicht das Ziel sein, dem heimischen Einzelhandel die Schablone eines modernen Supermarktes überzustülpen, sondern der Weg bestand darin, die Prinzipien der Verkaufsformen herauszufiltern und hinsichtlich ihrer aktuellen Anwendbarkeit zu prüfen.260 256
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Vgl. Antos 2001, S. 25. In den Quellen zu dieser Problematik: Niederschrift über die Handelsreferentetagung am 5./6. Juni in Stuttgart (5./6.6.1962), S. 2, RWWA 181/1522/1. Kleinschmidt 2002, S. 12. Vgl. auch: Welskopp, Kleinschmidt 1994, S. 78. Vgl. Amerikaner wollen deutsche Lebensmittelpreise senken, in: Essener Allgemeine, 14.4.1953. Evaluation Meeting with the EPA group Studying Retail Trade Associations (26.12.1956), S. 1, NA RG 469, Entry 382, Box 12. Vgl. „Amerikanische Handelsspannen liegen höher. Studienbesuch beim Einzelhandel der USA“, in: Pressedienst des Einzelhandels (29.9.1953), WWA K3/2325; Grieger 1955, S. 44, 46; Menninger, Siegfrid: Verkaufsaktive Ladengestaltung von a bis z. Neuzeitlicher Ladenbau, rationelle Einrichtung, verkaufsfördernde Warenpräsentation, Bad Wörishofen 1964, S. 38; Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW):
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2.3 Amerikabilder als Spiegelbilder 2.3.1 Der Einzelhandel in der US-amerikanischen Wettbewerbswirtschaft Die Wahrnehmung und die Interpretation der verschiedenen Facetten von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur stellten einen zentralen Bestandteil der transatlantischen Rezeptions- und Aneignungsprozesse darso lautete eine Feststellung am Anfang dieses Kapitels. Das analytische Konzept der Amerikanisierung muss also unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Perspektive immer auch den Mechanismus der Zuschreibung von als USamerikanisch verstandenen Eigenschaften als bedeutendem Bestandteil der Positionierung und Abgrenzung gegenüber dem Leitmodell im Blick haben. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand lassen sich diese Zuschreibungsprozesse hauptsächlich anhand der Reiseberichte westdeutscher Amerikareisender nachvollziehen. Hinsichtlich der Auswertung dieser Art von Quellen gilt es einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Autorenkreis sowie die unterschiedlich gestalteten Veröffentlichungsformen der Berichte über den USamerikanischen Einzelhandel und die Entwicklung seiner Vertriebsformen. Zum einen sind gezielt an die Fachöffentlichkeit des bundesdeutschen Einzelhandels gerichtete Darstellungen von Einzelhandelsunternehmern und führendem Personal in Einzelhandelsfirmen erhalten. Ebenso wie die Berichterstattungen der Repräsentanten von Verbänden und Fachorganisationen des Einzelhandels, aber auch von Regierungsvertretern, die zum Teil in veröffentlichter Form, zum Teil als Archivquellen in den entsprechenden Akten der Organisationen sowie der Industrie- und Handelskammern vorliegen, zielen sie auf eine detaillierte Schilderung der Struktur und Organisation des Einzelhandels, der Entwicklung der Verkaufsformen sowie der politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen. Zum anderen können Informationen über die zeitgenössische Sichtweise auf die US-amerikanische Handels- und Konsumlandschaft aus eher populär ausgerichteten, allgemeinen Erfahrungsberichten von amerikareisenden Journalisten oder sonstigen Privatpersonen, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richteten, gewonnen werden. Beide Arten von Quellen bergen allerdings die Schwierigkeit des Umgangs mit einer Präsentation von Daten und Fakten, die großteils mit einer undifferenzierten Stereotypisierung in der Darstellung einhergeht. Diese
Großhandel und Einzelhandel in USA. Zusammengefaßter Bericht dreier Studiengruppen von Berliner Fachleuten des Groß- und Einzelhandels, München 1959, S. 9.
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Problemlage steht in engem Zusammenhang mit der Feststellung Brändlis, dass die Reiseberichte, die im Rahmen der transatlantischen Transferprozesse entstanden, ein Genre darstellten, das einen besonderen Anspruch auf die Legitimität der Erkenntnisse erhob.261 Mit ihrem „Augenzeugenbericht“ beanspruchten die Autoren „sachliche Authenzität“, Allgemeingültigkeit und Objektivität ihrer individuellen Erfahrungen.262 In dieser Einstellung der Amerikareisenden zeigt sich auch das Bemühen um Selbstdarstellung und öffentliche Anerkennung, wie es als charakteristisch für Experten angesehen wird.263 Die möglichst überzeugende Präsentation, die an den heimischen Erfahrungshorizont der Rezipienten in der Fachöffentlichkeit anzuknüpfen versuchte, hatte entscheidende Auswirkungen auf die Akzeptanz und Bewertung der entsprechenden Einsichten durch die Leser. Das damit verbundene hohe Maß an Stilisierung erschwert allerdings eine genauere Differenzierung zwischen verschiedenen Amerikabildern im Zusammenhang mit dem Einzelhandel und der Konsumgesellschaft. Die Texte lesen sich zum großen Teil wie ein Gleichstrom bestimmter Stereotype und immer wiederkehrender, detailreicher, leicht variierender Informationen.264 Deshalb können die folgenden Ausführungen zu den verschiedenen Facetten der Amerikabilder nur den „Mainstream“ an zeitgenössischen Wahrnehmungen aufgreifen und versuchen dabei die Auseinandersetzung mit den dahinterstehenden heimischen Erfahrungen, dem Wissen und den Werten der Beobachter zu hinterfragen. Die westdeutsche Rezeption der US-amerikanischen Einzelhandelslandschaft in den 1950er und 1960er Jahren stand unter dem Eindruck der fordistischen Massenproduktion und Massenkonsumgesellschaft – gemäß des Anfangs der 1950er von einem Amerikareisenden formulierten Mottos „Produzieren, verbrauchen, wegwerfen, immer neuen Anreiz für neuen Konsum schaffen.“265 Das Paradigma des Massenkonsumkreislaufs bestimmte scheinbar alle Ebenen der Wirtschaft und Funktionen des Handels. 261 262 263
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Brändli 1996, S. 106. Schmitz-Scholl 1968, o. S.; RKW 1959, S. 9. Vgl. Engstrom u. a. 2005, S. 11; Hitzler 1994, S. 16, 27; Schumacher, Busset 2001, S. 17f. Einen ähnlichen Eindruck vermitteln die Berichte deutscher Amerikareisender der Eisen- und Stahlindustrie im frühen 20. Jahrhundert. Vgl. Welskopp, Kleinschmidt 1994, S. 78. Baecker 1952, S. 9. Auch: Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW): Bericht über die Studienmission RKW 34 „Nahrungsmittel – Groß- und Einzelhandel“ und RKW 62 „Absatz- und Vertriebsfunktionen im Handel“, Saarbrücken 1956, S. 1f.
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Daraus wurde zum einen die Beobachtung abgeleitet, die Zusammenarbeit der verschiedenen Wirtschaftsstufen untereinander, aber auch die Kooperation zwischen der Einzelhandelspraxis und staatlichen sowie übergreifenden Forschungseinrichtungen funktioniere sehr gut.266 In diesem Zusammenhang wurde stets die fortgeschrittene Nutzung wissenschaftlicher Methoden im US-amerikanischen Einzelhandel betont, während diese in der Bundesrepublik Deutschland und Europa ein zentrales Manko der Rationalisierung darstellte.267 Zum anderen strichen die Amerikareisenden die zentrale Stellung des Konsumenten, seiner Wünsche und Bedürfnisse für die Arbeitsweise des Handels und der Industrie heraus.268 Da der Handel in den USA die Verbraucherzentriertheit gut beherrsche, habe er ein hohes Ansehen in der Gesellschaft und eine starke Position gegenüber dem industriellen Sektor.269 In der Bundesrepublik Deutschland vollzog sich dagegen erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre der vollständige Übergang vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt, infolge dessen der bundesdeutsche Konsument zunehmend die gezielte, wissenschaftlich fundierte Aufmerksamkeit von Handel und Industrie auf sich zog. Darüber hinaus vertraten viele westdeutsche Beobachter aus dem Einzelhandelssektor die Meinung, dass das Selbstverständnis des USamerikanischen Einzelhandels hauptsächlich vom Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und Gewinnmaximierung geprägt war. Auch auf der Ebene der offiziellen Kommunikation zwischen westdeutschen und USamerikanischen Repräsentanten stellte man dem deutschen Verständnis des Kaufmanns als „profession“ den amerikanischen „job“ gegenüber. Während der deutsche Einzelhändler „seinen Dienst am Verbraucher als Berufsaufgabe“ empfand, ginge es dem amerikanischen Kaufmann rein um den Verdienst.270 Darin drückte sich die stereotype Gleichsetzung von Massenkon
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Baecker 1952, S. 10; Blattner 1958, S. 110; Brandes 1962, S. 14; HDE 1957, S. 12, RKW 1959, S. 11, 21f.; Scheffler, Herbert: Das freie Spiel der Kräfte, in: Rewe-Echo, 7/1963. Brandes 1962, S. 37; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 20, 140; Schuck, Walter: Der größte Markt der Welt. Kaufen und Verkaufen in den USA, Düsseldorf 1953, S. 48f. Gloor 1963, S. 107; Grieger 1955, S. 9. Brandes 1962, S. 50; Effer, Franz: Der Einzelhandel in den USA -1- Mrs. Smith kauft montags ein. Reklame steht an erster Stelle – Riesiger Umsatz, in: Bonner Generalanzeiger, 22.7.1955; HDE 1957, S. 12. Brandes 1962, S. 11; Menninger 1964, S. 43; Brief Maschmeyer (HDE) an Marjorie Jacobs, betr.: Survey on the Retail Food Merchandising Team’s Activities (16.6.1953), S. 2, NA RG 469, Entry 1058, Box 10; Effer, Franz: Um den Stil des deutschen Einzelhandels, in: Westfälischer Einzelhandel (1.1.1958), S. 3, WWA K3/1304.; HDE 1957, S. 9f.;
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sum und Massendistribution mit der rein materialistischen geprägten USamerikanischen Lebensweise aus. Die Legitimation der eigenen Tätigkeit beruhte dagegen auf der individuellen und ideell fundierten Leistung des Kaufmanns für den Konsumenten. Dieser Aspekt verweist u. a. auf die feste Verankerung und die starke Stellung des deutschen Einzelhändlers innerhalb des europäischen bourgeoisen Konsummodells, wie es auch bereits für die Zeit vor 1945 als prägend für das Selbstverständnis festgehalten worden ist. In dieser Abgrenzung äußerte sich somit der traditionell verankerte Anspruch, die Entscheidungsgewalt in Sachen Konsum liege beim Verkäufer und nicht auf der Seite eines selbstbestimmten Kunden. Eine weitere häufige und bedeutende Beobachtung war, dass der Beruf des Einzelhändlers in den USA an keine Schichtzugehörigkeit gebunden sei. Die besondere Gewichtung dieses Aspektes durch die Zeitgenossen macht deutlich, wie stark das deutsche Selbstverständnis des Einzelhandels als Berufszweig sozial überformt war.271 Für den Begriff des Mittelstandes gab es keine Entsprechung im US-amerikanischen Sprachgebrauch – bei „small business“ handelte es sich hauptsächlich um einen wirtschaftspolitischen Terminus, der auf der Klassifikation nach jährlichen Umsatzraten basierte. Folgendes Zitat zeugt vom ausgeprägten Bewusstsein dieses Unterschieds: „Die gebräuchliche Bezeichnung Small Business für kleine und mittlere Betriebe in USA läßt deutlich werden, wie fremd dem wirtschaftenden Amerikaner eine Verquickung des Erwerbsdenkens mit soziologischen oder ständischen oder gar romantischen Aspekten ist. So wurde z. B. der Gruppenbegriff middle-class niemals in den Gesprächen verwendet, die mit der Studiengruppe geführt wurden.“272
De Grazia hält fest, dass das kleine Geschäft in den USA im Gegensatz zu Europa nie eine „heilig gesprochene“ soziale Institution gewesen sei.273 Nach Ansicht der meisten westdeutschen zeitgenössischen Beobachter behaupteten sich die kleinen und mittleren Betriebe trotz des scharfen Wettbewerbs erfolgreich gegen die Großunternehmen und neuen Vertriebsfor
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RKW 1959, S. 10; Schmitz-Scholl 1968, S. 60. Statement von Walter Britsch in: Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses des Deutschen Industrie- und Handelstags am 13.11.56 in Bonn, (13.11.1956), S. 4, RWWA 181/1561/2. HDE 1957, S. 10. RKW 1960, S. 10. Hervorhebung im Original. Vgl. auch: Birk (IHK Siegen) Maßnahmen zur Förderung der mittelständischen Betriebe in den USA (17.11.1959), S. 4, RWWA 1/449/2; Blattner 1958, S. 111; Weiter von Tag zu Tag. Notizen aus den USA von Heinz Fischer, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 20.3.1954. De Grazia 2005, S. 145.
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men und waren nicht grundsätzlich in ihrer Existenz gefährdet.274 Zurückgeführt wurde dieser Erfolg auf das geringe sozialpolitische Selbstverständnis des Handels: er appelliere nicht an den Staat, sondern verhelfe sich aus eigener Kraft und Motivation zur Leistungssteigerung.275 Dieser Eindruck der produktiven Selbsthilfe blendete die in der Vergangenheit stattgefundenen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Großunternehmen und Supermärkten mit den Kleinbetrieben, wie sie in Kapitel III.1. geschildert worden sind, zum großen Teil aus. Vielmehr erweckte man das Bild eines harmonischen Gefüges und friedlichen Einvernehmens innerhalb der Einzelhandelslandschaft. Möglicherweise überspielten mittelstandsnahe Autoren auf diese Weise die Befürchtungen vor einem Verdrängungswettbewerb im Rahmen der Massendistribution und versuchten den selbständigen deutschen Einzelhändlern für die zukünftige Entwicklung Mut zuzusprechen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Formen und Prinzipien des Wettbewerbs in der US-amerikanischen Wirtschaft ein vieldiskutiertes und kontroverses Thema nicht nur unter den Einzelhändlern, sondern auch in anderen wirtschaftlichen Bereichen darstellten. Der stark konkurrenzbetonte Wettbewerb wurde als ausgesprochen hart und teilweise unmoralisch empfunden, wie ein Artikel im Fachblatt für Selbstbedienung schilderte: „Das, was man hierzulande als ,Fairneß‘ [sic!] bezeichnet, hat in den Staaten – im Einverständnis aller Beteiligten – eine wesentlich geringere Bedeutung. Viele amerikanische Kaufleute lieben es, den Wettbewerb mit einem Boxkampf zu vergleichen, bei dem es sehr viel rauher zugeht, als in europäischen Ringen. Das wäre vom Verbraucherstandpunkt gewiß noch kein Nachteil. Aber es werden bestimmte europäische Moralgesetze außer Kraft gesetzt; […] So ist z. B. das Gesetz von der Wahrheit in der Reklame ziemlich bedeutungslos. Dafür wird das Prinzip der Superlative rücksichtslos angewandt. Das gleiche gilt vom Gesetz der Preiswahrheit. […] diese Art des Wettbewerbs stellt keine echte Auseinandersetzung um die beste und billigste Leistung dar, sondern ist ein kaltblütiges und brutales Spiel um den reinen Business-Effekt auf Kosten der Durchschnittsverbraucher, die der Magie der Optik unterliegen.“276
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RKW 1959, S. 12. „Amerikanische Handelsspannen liegen höher. Studienbesuch beim Einzelhandel der USA“, in: Pressedienst des Einzelhandels, 29.9.1953, WWA K3/2325; Blattner 1958, S. 111. Magischer Blickpunkt Amerika, in: Fachblatt SB, 6/1958, S. 11-15, Zitat S. 13; Effer, Franz: Der Einzelhandel in den USA -1- Mrs. Smith kauft montags ein. Reklame steht an erster Stelle - Riesiger Umsatz, in: Bonner Generalanzeiger, 22.7.1955; Auch in den USA wird nur mit Wasser gekocht!, in: Der Einzelhändler, 22/1955.
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Der US-Amerikaner Mc Creary beobachtete in den frühen 1960er Jahren, dass die Konkurrenz in den meisten europäischen Ländern eher unterdrückt worden und im Handel nur ein „passiver Wettbewerb“ zugelassen sei.277 Auch die Forschung hält für den bundesdeutschen Einzelhandel ebenso wie für andere Sektoren fest, dass bis weit in die 1950er Jahre kein Interesse an einem intensiven Preiswettbewerb bestand.278 Der Schweizer Max Gloor führte diese unterschiedliche Einstellung zum Wettbewerb auf das in Europa immer noch ausgeprägte genossenschaftliche und ständische Denken, den „Geist des Zusammengehörens“, zurück, was die Forschung heute mit dem Begriff des „cooperative captitalism“ in Abgrenzung zum „competetive capitalism“ beschreibt.279 Dieses Bild der US-amerikanischen Wettbewerbswirtschaft blieb allerdings nicht statisch bis in die 1970er Jahre. Trotz andauernder Kritik sind im Zuge der sich entwickelnden Massendistribution Elemente des Wettbewerbs US-amerikanischer Prägung in den Einzelhandel aufgenommen worden, wie z. B. das Prinzip der economies of scale und die eng damit verbundene Unternehmenskonzentration. Die liberale Wirtschaftspolitik in den USA erfuhr aber durchaus auch positive Bewertungen, da sie die Entfaltung der individuellen Freiheit des Einzelhandelsunternehmers gewährleiste.280 Der US-amerikanische Staat wurde als weniger interventionistisch eingeschätzt, so dass das Wirtschaftsleben hauptsächlich auf der privaten Initiative der Unternehmer basiere.281 Der größere wirtschaftliche Handlungsspielraum äußerte sich im Distributionswesen in verschiedenen Bereichen. Als ein Beispiel wäre der Verzicht auf die gesetzlich geregelte Preisbindung zu nennen, wohingegen die Markenartikel in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich preisgebunden waren.282 277 278
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Mc Creary 1964, S. 32, 36. Auch allgemein für die Wirtschaft: OEEC 1954, S. 5. Schröter 2001, S. 246. Vgl. für das Wettbewerbsdenken in der Industrie: Bührer 1999, S. 184, 189; Hilger 2004, S. 285. Gloor 1963, S. 105; Auch: Mc Creary 1964, S. 107. Die Unterscheidung in der Forschung geht auf Alfred Chandler zurück. Vgl. Bührer 1999, S. 184; Schröter 2001, S. 247. Baecker 1952, S. 11; HDE 1957, S. 21; RKW 1959, S. 10. Blattner 1958, S. 111; Petermann, Günter: Der Wandel der Vertriebsformen im Einzelhandel der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Behrens, Karl Christian (Hg.): Wandel im Handel. Festschrift zum 10 jährigen Bestehen der Beamten-Einkauf GmbH Koblenz, Wiesbaden 1962, S. 137-151, hier S. 140; Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW): Internationaler Erfahrungsaustausch. Zusammenstellung der Studienreisen und deren Teilnehmer im Bereich der Gewerblichen Wirtschaft, Frankfurt a. M. 1957, S. 21f.; RKW 1959, S. 11. Petermann 1962, S. 140, RKW 1959, S. 24f. So war es im Gegensatz zur Bundesrepublik in den USA möglich, ein Produkt mit zwei Preisen auszuzeichnen, nämlich dem
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Ein andere Auswirkung des „laissez faire“283 waren die freieren Ladenöffnungszeiten der US-amerikanischen Geschäfte. Es bestand keine einheitliche gesetzliche Regelung, sondern die Verkaufszeiten der Läden konnten regional variieren.284 Dagegen gab das Ladenschlussgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 28.11.1956 vor, dass die in das Gesetz eingeschlossenen Geschäfte montags bis freitags von 7.00 bis 18.30 Uhr, sonnabends von 7.00 bis 14.00 Uhr (außer am ersten Sonnabend des Monats oder wenn der Samstag ein Feiertag war) geöffnet sein durften.285 Letztlich verband sich mit diesen positiv besetzten Einschätzungen wirtschaftspolitischer Liberalität die Hoffnung auf mehr unternehmerischen Spielraum und somit einen stärkeren individuellen Einfluss der Händler auf Wettbewerbsvorteile. 2.3.2 US-amerikanische „Konsummentalitäten“ und ihre soziokulturellen Grundlagen Die Konstruktion von typisch amerikanischen und typisch deutschen Verhaltensweisen und Eigenschaften wird besonders anhand der Stereotypisierung der Konsumgesellschaften deutlich. Für den Vergleich des Konsumverhaltens in den USA und in Europa hat Kaelble vier Gegensatzpaare herausgearbeitet, die bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Debatte über die Verschiedenheit immer wieder auftauchten: Materialismus versus Idealismus, Fortschrittsglaube versus Fortschrittsskepsis, Uniformität versus Individualismus und keine soziale Distinktion durch Konsum versus klassenspezifisches Konsumverhalten.286 Darüber hinaus zeichnen sich in den Quellen von Autoren aus dem Einzelhandelssektor noch einige weitere Aspekte ab, die speziell auf das Einkaufsverhalten Bezug nahmen. Bei der Gegenüberstellung der eigenen Verbrauchergewohnheiten zu denen der Vereinigten Staaten von Amerika nahmen die Zeitgenossen ab
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normalen Preis und dem im Sonderangebot. RKW 1957, S. 34. Zum deutschen Kartellgesetz auch: Tietz, Bruno, Konsument und Einzelhandel. Strukturwandlungen in der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 1975, Frankfurt a. M. 1966, S. 39ff. RKW 1957, S. 9. Brandes 1962, S. 27; RKW 1959, S. 22f. Zu den inhaltlichen Bestimmungen des Ladenschlussgesetzes: Tietz 1966, S. 52f. Zur Diskussion um das Ladenschlussgesetz: Spiekermann 2004. Kaelble 1997, S. 179ff. Auch: Klautke 2003, S. 17; Schildt 1995, S. 413f. Vgl für die Rezeption der US-amerikanischen Konsumgesellschaft in der französischen Nachkriegszeit: Kuisel, Richard: Seducing the French. The Dilemma of Americanization, Berkeley LA 1993, S. 110-121.
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wechselnd Bezug auf ihr Selbstverständnis und die damit verbundenen Eigenschaften als Europäer und als Deutsche.287 Eine gewisse Regelmäßigkeit oder Systematik lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Es fällt aber auf, dass die Bezugnahme auf ein europäisches Selbstverständnis besonders dann erfolgt, wenn es um eher unspezifische, pauschalisierte Mentalitäten ging. Der Rückgriff auf nationalstaatliche Einheiten, wie er bei vergleichenden Betrachtungen seit dem 19. Jahrhundert typisch war, wurde damit teilweise aufgebrochen.288 Es wäre sicher eine interessante Frage, in welchem Zusammenhang und aus welchen Gründen genau eine Abgrenzung gegenüber den USA im nationalen oder im europäischen Kontext erfolgte. Bis auf einige Vermutungen und Verweise kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher auf diese Problematik eingegangen werden, da sie einen detaillierten Vergleich verschiedener europäischer Amerikabilder voraussetzen würde. Die Europäer behaupteten von sich, idealistisch und konsumabgewandt zu sein, wohingegen man die US-amerikanische Bevölkerung regelrecht als konsumabhängig darstellte. Der Amerikaner gestehe offen ein, Materialist zu sein.289 Mit seiner materialistischen Einstellung gehe, gemäß dem Eindruck der zeitgenössischen Amerikareisenden, aber positiv gewendet ein gewisser Pragmatismus einher, so dass er den Selbstbedienungsladen u. a. bevorzuge, weil die Waren hier logisch angeordnet seien, das Ladenarrangement einen schnellen Überblick über die Qualität sowie den Preis erlaube und die Ausstattung hygienisch sei.290 Europäischer Idealismus und US-amerikanischer Materialismus äußerten sich laut eines Berichts folgendermaßen: „Während der Europäer und v. a. der Deutsche bei seinen Entscheidungen möglichst grundsätzlich sein will und daher viel von seinen Idealen in seine Haltung hineinbringt, würde der Amerikaner eine solche Haltung als unnötigen Ballast empfinden.“291
Diese Einstellung bedinge auch die leichte Umstellungsfähigkeit des USAmerikaners auf neue Gegebenheiten und mache seine Wechselhaftigkeit aus, die zum ständigen Bedarf an neuen Gebrauchs- und Verbrauchsgütern 287
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Vgl. Kaelble, Hartmut: Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 23. Vgl. zum nationalstaatlich ansetzenden Vergleich: Klautke 2003, S. 342f.; Muhs, Paulmann, Steinmetz 1998, S. 23f. RKW 1957, S. 10. Auch: RKW 1956, S. 2. RKW 1957, S. 10, 43; RKW 1956, S. 26. RKW 1957, S. 10.
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führe.292 Er wurde daher als Schnell- und Großverbraucher charakterisiert.293 Eine Auswirkung dieses Konsumverhaltens, die von westdeutscher Seite äußerst negativ bewertet wurde, war das Kreditwesen. Die USAmerikaner nutzten Kredite nicht nur für den Erwerb langfristiger Anschaffungen, sondern auch beim Einkauf von Gütern des kurzfristigen Bedarfs im Supermarkt.294 Die Einstellung zum Konsumentenkredit hielt bereits eine vergleichende Untersuchung 1971 als zentralen Unterschied zwischen dem Verbraucherverhalten in den USA und Europa fest.295 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Anschreiben für den Einkauf von Waren des täglichen Bedarfs bei einem Großteil der deutschen Einzelhändler Normalität. Allerdings basierte diese Praxis auf finanziellen Engpässen in den Haushalten und erhielt ihre Legitimation aus einer gewissen Notwendigkeit der Bedarfsdeckung. In Abgrenzung dazu empfand man den Kauf von Massen- und Luxusgütern in den USA v. a. vor dem Hintergrund der in den 1950er Jahren immer noch wirksamen Sparmentalität als moralisch verwerflich. Eine zweite Dichotomie wurde zwischen europäischem Individualismus und angloamerikanischer Uniformität aufgestellt. Sie wirkte sich in den Konsumgewohnheiten auf verschiedene Weise aus. Erstens erfolgte eine Aufwertung der persönlich geprägten und individuellen Bedürfnisse der Europäer gegenüber der Massenversorgung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Bedarf an reinen Massenartikeln und die geringen Qualitätsansprüche seien typisch für den US-amerikanischen Konsumenten.296 Diese Auffassung fand ihre Zuspitzung in folgender Aussage: „Der ständige Druck einer zum Konsum erzogenen Massengesellschaft hat jedes Mitglied der Mittelschicht, wie es sie in einem solchen Ausmaß nur in Amerika gibt,
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RKW 1957, S. 11; Hundhausen, Carl: Amerika, Essen 1950, S. 57; Niederschrift über die Handelsreferententagung am 5./6. Juni in Stuttgart (5./6.6.1962), S. 2, RWWA 181/1522/1; Schuck 1953, S. 46; Stehlin begründete die leichte und schnelle Anpassungsfähigkeit an eine neue Situation folgendermaßen: „In Amerika, wo die Sozialstruktur nur eine beschränkt historische Basis hat, sind Wechsel leichter möglich als bei uns.“ Stehlin 1955, S. 52. RKW 1956, S. 23. RKW 1957, S. 24. Katona, George; Strümpel Burkhard; Zahn, Ernest: Zwei Wege zur Prosperität: Konsumverhalten, Leistungsmentalität und Bildungsbereitschaft in Amerika und Europa, Düsseldorf 1971. Ebd., S. 21. Vgl. allgemein zu diesem Stereotyp: Lüdtke, Marßolek, von Saldern 1996, S. 12.
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dazu gezwungen, seinen Geschmack, seine Moral, seine ganze Persönlichkeit der Masse anzupassen.“297
Daneben existierten auch relativierende Meinungen: „…doch können die Selbstbedienungsbetriebe (und Automaten) als Promotoren der Uniformierung angesehen werden. Aus dieser Vereinheitlichung braucht nicht notwendigerweise auf einen sinkenden, dagegen auf einen uniformen Massengeschmack geschlossen werden, denn die standardisierten Produkte können sich auf einem sehr hohen Niveau bewegen.“298
Zweitens bevorzuge der europäische und hier besonders der deutsche Konsument die individuelle Bedienung.299 Der anonyme Einkauf sei in den USA Normalität und die Kundenbedienung Ausnahme.300 Ein Autor vertrat sogar die Meinung, dass die US-Amerikanerin im Gegensatz zur deutschen Hausfrau beim Einkauf möglichst gar nicht angesprochen werden wollte.301 Die Angst vor der Ablehnung der Selbstbedienung und Supermärkte durch den Kunden aufgrund seines Bedürfnisses persönlich bedient und beraten zu werden, war für viele Einzelhändler anfänglich ein starkes Argument gegen die Einführung der Innovationen. Die Bedenken gegenüber einer Anonymisierung des Verkaufsvorgangs erwiesen sich von der Konsumentenseite zwar schnell als übertrieben, allerdings zog eine zunehmende Unpersönlichkeit tatsächlich negative Konsequenzen für den Kaufmann nach sich – die individuelle Kundenbindung lockerte sich zugunsten der freien Auswahl des Geschäftes durch den Kunden je nach Preis, Angebot oder Serviceleistungen.302 Wie es bereits in der Gegenüberstellung von idealistischer und materialistischer Einstellung anklang, wurde dem Europäer ein grundsätzlicherer, stetiger Charakter zugeschrieben, d. h. er wog Vor- und Nachteile genauer ab. Mit dieser Eigenschaft hingen – laut den Berichten – seine größere Skepsis gegenüber dem Fortschritt, aber auch seine geringere Risikobereitschaft und stärkere traditionelle Einstellung zusammen, während der US-Amerikaner grundsätzlich weniger misstrauisch sei:
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Brandes 1962, S. 11. Stehlin 1955, S. 49. Schucht 1956, S. 19. Hundhausen 1950, S. 56; RKW 1957, S. 9. Brandes 1962, S. 27. Vgl. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 101.
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„Für die Selbstbedienung bringen die fortschrittgläubigen Amerikaner viel Enthusiasmus auf. […] Vom europäischen Standpunkt aus wird die Einschränkung der Handelsleistung nur bedingt als Fortschritt aufgefasst. Von der einen Seite wird die Selbstbedienung als Rationalisierungsmassnahme und als Reaktionserscheinung auf übersteigerte Kosten (hochentwickelter Kundendienst usw.) angesehen, der in gewisser Hinsicht wie ein Rückfall in primitivere Marktformen wirkt, und Seyffert schreibt: ,Je mehr diese Freiheiten (der Konsumenten infolge radikaler Vereinfachungsmassnahmen in der Distribution) eingeschränkt werden, um so uniformer und primitiver wird der Wirtschaftsverkehr […]’.“303
Die Uniformität des Konsums in den Vereinigten Staaten von Amerika nahmen die deutschen Zeitgenossen noch in einer anderen Form wahr, nämlich dass dort „eine Einteilung in Verbraucherklassen nicht zu spüren ist.“304 Diese Beobachtung schien sich deutlich von den eigenen Erfahrungen, sich durch Konsum sozial von anderen Gesellschaftsmitgliedern abzugrenzen, zu unterscheiden. Sie spricht für die These, dass im Gegensatz zum europäischen bourgeoisen Konsummodell, bei dem die Sozialstruktur das Konsumverhalten maßgeblich bestimmte, sich in den USA ein „middlestratum of consumers“ entwickelt hatte. Dieser löste die Verbindung zwischen Klassenzugehörigkeit und einem entsprechend spezifischen Verbrauch zunehmend auf.305 Harlan Cleveland von der Economic Cooperation Administration (ECA) äußerte 1949 dazu: „Throughout the 19th century there persisted from older and less mobile forms of social organization the notion of fixed social classes and of a standard of economic expectation and consumption appropriate to each. This was reflected as much in wages as in consumption patterns.”306
Im Zusammenhang mit dem Supermarkt betonte die Einzelhandelsunternehmerin Meineke-Hayler: „Diese weitgehend entpersönlichte Form der Endverteilung wurde getragen von der Verbraucherschaft eines Volkes, in dem es niemals Stände und folglich auch kein Standes- und Klassenbewußtsein gegeben hat. Deshalb wird man sich schwer des
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Stehlin 1955, S. 45. Auch: RKW 1957, S. 9. HDE 1957, S. 9; Schuck 1953, S. 55. De Grazia 1998, S. 67f. Auch Ohmann ist der Meinung, dass die Veränderungen im Zuge des Durchbruchs des Massenkonsums in den Vereinigten Staaten von Amerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bildung einer „losen Klasse, die ein breites Feld in mittlerer Lage bevölkert“ mit sich brachte. Vgl. Brändli 2000, S. 27. The problems of Western Europe’s competitive position in the world economy and its remedies (19.7.1949), S. 2, NA RG 469, Entry 9, Box 2.
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Eindrucks erwehren können, daß der Super Market eine rein amerikanische Form der Verteilung darstellt, die sich nur in den USA durchsetzen und behaupten kann.“307
Die westdeutschen Besucher fanden in den USA vielmehr eine historisch bedingte, heterogene Bevölkerungsstruktur vor.308 Laut Strasser stellte diese gesellschaftliche Konstellation eine besondere Herausforderung für die Schaffung eines US-amerikanischen Massenmarktes dar, nämlich standardisierte Produkte für den flächendeckenden Verkauf zu erzeugen und gleichzeitig die Geschmacksunterschiede der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, je nach Region, ethnischer Zugehörigkeit, Milieu, persönlichen Interessen und anderen Faktoren auszunutzen.309 Neben der Frage der gesellschaftlichen Stratifikation handelte es sich bei der Rolle der Frau um einen zentralen Aspekt in der Wahrnehmung USamerikanischer Konsumgewohnheiten. Die starke Position der Frau im öffentlichen Leben und ihre ökonomische Funktion war ein Phänomen, das bereits in den 1920er Jahren von Europäern als beängstigend wahrgenommen und häufig negativ bewertet wurde. Nolan hält fest, dass die Zeitgenossen gleichzeitig das höhere Maß an Gleichberechtigung der Frau und ihr gesellschaftlicher Einfluss in einem eher positiven Sinne betonten.310 In der Nachkriegszeit sahen sich die westdeutschen Einzelhändler im Blick auf die amerikanische Frau mit der potenziellen Hauptansprechpartnerin der Massendistribution konfrontiert. Zunächst wurde die größere Verbreitung der weiblichen Berufstätigkeit zur Kenntnis genommen, so dass viele Frauen zwar über ein höheres Haushaltsbudget verfügten, aber weniger Zeit für den Einkauf aufbringen konnten. Deshalb erledigten sie den Einkauf mit dem Auto im Durchschnitt weniger häufig und möglichst in nur einem Laden.311 Verknüpft wurden diese Abläufe mit der Vorstellung einer bequemen Konsumentin und Hausfrau. Die Supermärkte entwickelten deshalb immer mehr Maßnahmen, um das Einkaufen annehmlicher zu gestalten, so dass „Convenience“ zu einem bedeutenden Absatzprinzip wurde.312 Bequemlichkeit förderte auch den Konsum und die Produktion von Tiefkühlkost und Kon
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Meineke-Hayler, Gerti: Super Markets in den USA, Bad Homburg, Berlin, Zürich 1957, S. 65. Brandes 1962, S. 8. Vgl. zu diesem Aspekt des Amerikabildes ausführlich in der Forschung: Pells 1997, S. 168-172. Strasser 2004, S. 140ff. Klautke 2003, S. 28; Nolan 1994, S. 122f. Lickey 1957, S. 383; Menninger 1964, S. 43; Petermann 1962, S. 139. Petermann 1962, S. 145.
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serven.313 Der Einzelhändler Schmitz-Scholl vom Filialunternehmen Tengelmann schlussfolgerte, der Griff zur Konserve bei einem so qualitativ hochwertigen Angebot an frischem Obst und Gemüse sei eindeutig ein Zeichen dafür.314 Die deutsche Hausfrau lege dagegen hohen Wert auf die eigene Zubereitung der Mahlzeiten, was als kulturell hochwertige, handwerkliche Fertigkeit gewertet wurde.315 Darüber hinaus fanden die europäischen Beobachter, dass die USAmerikanerin ihre Rolle als selbstbewusste Konsumentin sehr gut beherrsche: sie sei qualitäts- und preisbewusst.316 Letzteres fördere besonders das System der Sonderangebote und der Discounthäuser.317 In der Bundesrepublik Deutschland wurden Discounter bis weit in die 1960er Jahre als unlautere Konkurrenz angesehen, weil sich durch den von ihnen praktizierten Verkauf weit unter dem Listenpreis eine „Anarchie“ auf dem Markt entwickele.318 Die Verantwortung, die man der weiblichen Konsumentin zuschrieb, koppelte sich paradoxerweise gleichzeitig an die Interpretation, dass die Frau stark emotional anfällig für die Verführungen des Massenkonsums sei: „Und dann in den Laden und nach Herzenslust in der Riesenauswahl gesucht und angefaßt und gekramt und gekauft. […] Eins steht fest: für die Frau, meist für die Familie, ist das Einkaufen ein Fest, ein Vergnügen. Es ist unvorstellbar, wie anziehend und aufregend diese Massen-Ausstellungen auf die Frauen wirken. Sie finden einfach nicht wieder weg. Wenn sie kommen, haben sie es oft wahnsinnig eilig. nach einer halben Stunde können sie sich immer noch nicht entschließen, zur Kasse zu gehen. Ich habe Frauen gesehen, die in dem in Cellophan verpackten Fleisch herumwühlten wie bei ins im Warenhaus in den Stoffen. Eine Frau nahm 11 Braten in die Hand, ehe sie einen auswählte. Ich habe Negerinnen gesehen, die sich aus einem Haufen von 100 Kilo Brechbohnen 1 Pfund heraussuchten. Sie nahmen jede einzelne Bohne in die Hand.“319
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RKW 1956, S. 26. Schmitz-Scholl 1968, S. 26. The 5th International Food Congress: Visions and Benefits, in: SMM, 11/1962. Baecker 1952, S. 10f.; Lickey 1957, S. 379; Petermann 1962, S. 140f.; RKW 1956, S. 26, 40. Meseberg, Dietrich: Zum Nahrungsmittelabsatz in den USA, in: Jahrbuch der Absatzund Verbrauchsforschung, 1961, S. 369-401, hier S. 399. RKW 1957, S. 18. Auch: Magischer Blickpunkt Amerika, in: Fachblatt SB 6/1958, S. 1115, hier S. 13. Baecker 1952, S. 49. Die Frage der ethnischen Zugehörigkeit spielte bei der Beobachtung des Verbraucherverhaltens weder in dieser noch in den anderen vorliegenden Quellen eine Rolle. In diesem Sinne sollte dem Zitat keine rassistische Komponente unterstellt werden. Auch: Männer im Selbstbedienungsladen, in: Rewe-Echo, 9/1964.
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Brändli hat herausgearbeitet, dass in dem ambivalenten Frauenbild eine Art der „anxiety“ hervorscheint, bei der die Reisenden zwar die neuen Verkaufsformen selbst ausprobieren wollten, gleichzeitig aber vor der eigenen Verführungsmacht zurückschreckten und diese Ängste gegenüber den Konsequenzen von Massenkonsum und Massendistribution letztlich in die oben geschilderte Figur der US-amerikanischen Hausfrau hineinprojizierten. Damit wurde der Verbraucher als Subjekt der kritisierten Verhaltensweisen gleichzeitig zum Objekt der Wohlstandskritik.320 2.3.3 Der „moderne Laden“ Die Eigenschaften und das Verhalten der Verbraucher traten dem Eindruck nach stets in enge Wechselwirkung mit der Form und der Funktionsweise der US-amerikanischen Einzelhandelsgeschäfte. Den zeitgenössischen Beobachtern wurde deutlich vorgeführt, dass der „hohe Lebensstandard Amerikas und die Lebensgewohnheiten der Amerikaner […] den großen Super Markets und den Selbstbedienungsläden erst ein Gesicht“ gaben.321 Die Selbstbedienungsgeschäfte wurden als „Standardtyp“ bezeichnet, die Supermärkte als „Stromlinienform der amerikanischen Lebensmittelversorgung“.322 In diesem Zusammenhang nahm man die Entwicklung hin zu immer großflächigeren Läden kritisch unter die Lupe, auch wenn der Trend zum großen Land gleichzeitig schon früh als weltweites Phänomen vermerkt wurde.323 Gleichzeitig stellten die ungleichen Voraussetzungen der Landschaft sowie der Stadt- und Siedlungsstruktur durchgängig den zentralen, einschränkenden Faktor für die Übertragbarkeit der US-amerikanischen Verkaufsformen dar. Kaelble sieht in der unterschiedlichen Nutzung von Raum einen der zentralen gesamteuropäischen Unterschiede im Konsum
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Brändli 1996, S. 110 (Hervorhebung im Original); Brändli 1998, S. 175. Vgl. auch Fehrenbach, Poiger 2000, S. XV; Humphery 1998, S. 95. Baecker 1952, S. 36, 12; Lickey 1957, S. 381; RKW 1959 S. 9; Deutscher Industrie-und Handelstag, Handelsausschuss: Beobachtungen und Ergebnisse einer Studienreise durch die USA, Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses des Deutschen Industrie- und Handelstags am 13.11.1956 in Bonn (13.11.1956), S. 2, RWWA 181/1561/2. Grieger 1955, S. 27, 30 und Die Rationalisierungsmethoden im amerikanischen Lebensmitteleinzelhandel, in: Edeka-Rundschau, 1/1954. Baecker 1952, S. 11, 54; Falk, Baldhard G.: Moderne Vertriebsformen im Gross- und Einzelhandel: vom Wochenmarkt zum Supermarkt, vom Bauchladen zur Selbstbedienung, Freiburg i. Br.2 1965, S. 13; Lickey 1957, S. 379.
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verhalten im Vergleich zu den USA.324 Dazu zählten die dichtere Besiedlung der europäischen Länder und die stärkere Trennung von Geschäfts- und Wohnbezirken in den US-amerikanischen Städten, wobei der Prozess der Suburbanisierung erst Raum für großflächige Handelsstrukturen geschaffen hatte. Für die europäischen Zeitgenossen kamen die Größendimensionen US-amerikanischer Prägung für die eigenen modernen, fortschrittlichen Läden nicht in Frage.325 Als eine der bedeutendsten Voraussetzungen für die Art und Weise des Ein- und Verkaufens führten die Berichte den technischen Fortschritt der USA in allen Lebensbereichen an, der sich sowohl in Industrie und Handel als auch im Privathaushalt bemerkbar machte. Die lange Erfahrung mit der Verpackung der Waren, deren stetige Verbesserung sowie die automatisierte industrielle Fertigung brachte ein großes selbstbedienungsgerechtes Warensortiment hervor, das vorrangig aus Markenartikeln bestand und dem Verbraucher günstige Preise bot.326 Im privaten Haushalt äußerte sich die fortschrittliche Entwicklung im Besitz von Auto und Kühlschrank.327 Aufgrund der umfassenden Motorisierung der Bevölkerung erledigte diese den Einkauf meistens mit dem Auto. Ein Bericht des RKW zitierte 1956 eine Studie des Progressive Grocer, nach der 91 Prozent der Verbraucher den Supermarkt mit dem Auto, 7 Prozent zu Fuß und 2 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichten.328 Bei der flächendeckenden Verbreitung der Haushalte mit Kühlschränken handelte es sich um den zentralen Bestimmungsfaktor für das Verbraucherverhalten.329 In der Bundesrepublik Deutschland besaßen 1955 nur 10 Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank.330 Auto und Kühlschrank bedingten, dass der US-amerikanische Konsument größere Mengen an Lebensmitteln auf einmal einkaufen und zugleich länger lagern 324 325
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330
Kaelble 1997, S. 185. Thomas, Erwin: Entwicklungsstand und Entwicklungstendenzen im US-Einzelhandel. Anlage 3 zur Niederschrift über die Tagung der Handelsreferenten am 9./10. Juni 1969 in Aachen (9.6.1969) S. 18f., RWWA 181/1564/1. Baecker 1952, S. 10; Grieger 1955, S. 29. In der Studienmission RKW 34/ 62 wurde berichtet, dass die Artikelzahl der Lebensmittel von 2200 (1950) auf 3500 (1955) und schließlich auf 5000 (1958) gestiegen war. RKW 1956, S. 15. Grieger 1955, S. 29; Menninger 1964, S. 44. RKW 1956, S. 24. Vgl. auch: Brandes 1962, S. 13; Lickey 1957, S. 383; Petermann 1962, S. 139; RKW 1957, S. 19. Lickey sprach davon, dass 1956 im Vergleich zu 1955 die Produktionszahlen von 4,1 Millionen Stück sogar wieder abgenommen hätten und um 12 Prozent zurückgegangen seien. Lickey 1957, S. 382. Angabe nach Wildt 1996, S. 124.
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konnte. Während die deutsche Hausfrau täglich zum Lebensmittelladen ging, war in den USA der wöchentliche Einkauf typisch.331 Das Innenleben der Läden wirkte anziehend und abstoßend zugleich auf die Amerikareisenden. Zwar äußerten sie Bedenken hinsichtlich der uniformen und standardisierten Einrichtung, doch die Besucher waren fasziniert von der technischen Ausstattung mit Tiefkühlmöbeln, Neonbeleuchtung und Klimaanlagen. Auch die architektonische Gestaltung und die Warenauslage lösten ein „lustvolles Erschauern“ 332 aus: „Die formschöne und zweckmäßige Einrichtung und die vielen Angebote köstlich frischer Waren schaffen eine Kaufbereitschaft, die fast suggestiv ausgelöst wird und der man sich kaum entziehen kann.“333
Die suggestive Einflussnahme auf den Kunden erfuhr dennoch auch kritischere Töne. Zum Teil zeigte man sich „schockiert über die Verbraucherumwerbung“, die das Ziel verfolge, den Verkauf unaufhörlich zu stimulieren, während der deutsche Kaufmann einen ehrlichen Dienst an seinem Kunden leisten wolle.334 In Anknüpfung an die umfassenden werbekritischen Beobachtungen der 1920er Jahre konstatierte Baecker Anfang der 1950er Jahre, dass dem US-Amerikaner die Reklame, das Anpreisen und Empfehlen liege, während sie im Heimatland meist störend, fremd und widerspruchserregend wirke. Er führte folgenden Grund an: „Immer sind wir mißtrauisch, man wolle uns etwas aufreden. Wir müssen ja auch praktisch die wenigen Pfennige, die wir haben, verteidigen.“335 Beide Aussagen stehen symptomatisch für die Verankerung des westdeutschen Einzelhandels in einem Horizont, der Konsum noch stark als Bedarfsdeckung versteht, während die US-amerikanischen Händler und Werbefachleute auf die Weckung von neuen Bedürfnissen abzielten.336 Gleichzeitig drückte sich in dieser Kritik auch ein doppeltes Selbstverständnis der Beobachter aus: die Unternehmer und Wirtschaftsvertreter sahen sich nicht uneingeschränkt als Experten
331 332 333
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336
Petermann 1962, S. 139. Auch: RKW 1955, S. 29. Brändli 1996, S. 109. Auch: De Grazia 2005, S. 384. Grieger 1955, S. 49. Effer, Franz: Um den Stil des deutschen Einzelhandels, in: Westfälischer Einzelhandel (1.1.1958), S. 3, WWA K3/1304; Menninger, Siegfrid, 1964, S. 40f. Baecker 1952, S. 47. Vgl. auch in der Forschung: Schindelbeck, Dirk; Bien, Helmut; Kroll-Marth, Angelika: Von der Reklame zur Werbung: Deutschland 1945-1995, Frankfurt a. M. 1995, S. 235f. Vgl. Brändli 1998, S. 113; Nast 1997, S. 93; Schröter 2001, S. 255.
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auf der Seite des Handels, sondern es schwang immer ein gewisses Gefühl von „wir als Konsumenten“ in den Überlegungen mit. 2.3.4
Zusammenfassung: Das Leitmodell als Faszination und Irritation
An der Wahrnehmung und Interpretation von Aspekten des USamerikanischen Einzelhandels und Konsumverhalten wird deutlich, dass bei dem Transfer und der Transformation von Wissen Überzeugungen, kulturelle Traditionen und emotionale Faktoren eine äußerst wichtige Rolle spielen. Es ist gezeigt worden, dass das Kontrasterlebnis zwischen Fremde und Heimat mit einer Fülle an selektivem Vorwissen, Vermutungen und Vorurteilen einherging.337 Der asymmetrisch wirkende Vergleich zwischen der Entwicklung der Vertriebsformen und ihrer Rahmenbedingungen in den USA und Europa basierte auf der Wahrnehmung eines Defizits und dem Eindruck, dass das „Fremde“ eine Problemlösung anbot, die als Verbesserung gegenüber den bestehenden Zuständen des „Eigenen“ empfunden wurde.338 Dabei ermöglichte der Vorgang der Selektion und Neuinterpretation, die Vertriebsinnovationen als erfolgreiche Grundmodelle anzunehmen und in den heimischen Kontext zu integrieren. Brändli fasst das anhand der Analyse von Reiseberichten Schweizer Amerikafahrer folgendermaßen zusammen: „Der Reisebericht führt vor, wie aus dem Wechselspiel von lustvollem Erschauern, anxiety, Machbarkeitsträumen und der Kritik an der sogenannten materiellen, schematisierten Lebensweise der Amerikaner die Energie zur ,kulturverträglichen‘ Innovation gewonnen werden kann. So wie die Migros-Delegation gleichzeitig mit dem Gefährlichen, Unerwünschten und mit den Ikonen des materiellen Wohlstands (der Supermärkte und shopping centers) in Berührung kommt, meint sie den Horizont einer besseren und zeitgemässen Praxis entwerfen zu können.“339
Viele der Voraussetzungen der Selbstbedienung und Supermärkte im Bereich der Wirtschaft und des Konsums sowie die damit verbundenen stereotypen Konsummentalitäten, die im Bild der angloamerikanischen „hemmungslosen Erwerbsgesellschaft“340 kulminierten, kursierten in Europa bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Aufnahme konkreter Be 337 338 339 340
Latzin 2005, S. 25. Auch: Muhs, Paulmann, Steinmetz 1998, S. 18. Braun-Thürmann 2005, S. 7; Osterhammel 2003, S. 463. Brändli 1996, S. 113f. (Hervorhebung im Original). Schildt 1995, S. 398.
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ziehungen und der gezielten Aneignung von Informationen zur Übernahme der Verkaufsformen seit den 1950er Jahren, sahen sich die europäischen Einzelhändler mit den faszinierenden und lehrreichen, den irritierenden und abstoßenden Aspekten des Massenkonsumkreislaufs zugleich konfrontiert. Deshalb zeichnen sich die hier vorgestellten Amerikabilder durch eine ausgeprägte Ambivalenz zwischen negativen und positiven Sichtweisen auf die teilweise gleichen Referenzpunkte aus, die sich oft nicht voneinander trennen ließen.341 Darin zeigt sich gleichsam die Wandelbarkeit dessen, was als US-amerikanisch verstanden wurde. Die Rückkoppelung des Wissens über die Einzelhandels- und Konsumlandschaft in den USA an den nationalen, lokalen und individuellen Kontext verweist dabei aber auch auf die Problemlagen, die aus der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Modernisierung in den 1950er und 1960er Jahren resultierten. Die zentrale Frage, die aus den oben diskutierten Themenbereichen hervortrat, drehte sich um die Integration und Legitimation von Wohlstand und Massenkonsum in die neue gesellschaftliche und politisch-demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit. Zum einen hinterfragte der Einzelhändler das Verhältnis zwischen der ökonomischen Tätigkeit und seinem sozialen Selbstverständnis und setzte beide Aspekte neu in Beziehung zueinander. Zum anderen sah er sich im Übergangsstadium zur Massenkonsumgesellschaft durch eine neu definierte Verantwortung in seiner Rolle als Vermittler zwischen Produktion und Konsumtion sowie durch eine anders strukturierte Beziehung zum Konsumenten definiert. An die Stelle der kontrollierten und individuellen Bedürfnisbefriedigung, die im Bedienungsladen im Zentrum stand, trat die Herausforderung, den Massenkonsumkreislauf durch eine entsprechende Eigenbeteiligung in stetigem Gang zu halten. Dieser Lernprozess fand seinen Ausdruck in den Vorurteilen und der Ablehnung gegenüber egalitären Tendenzen in der US-amerikanischen Konsumgesellschaft. Brändli hat festgehalten, dass die gesellschaftspolitischen Kräfte auf der Grundlage des Zusammenspiels wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Faktoren im Verlauf der 1950er Jahre zunehmend in der Lage sein mussten, den materiellen Wohlstand mit der demokratischen Grundordnung in Einklang zu bringen.342 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass sich die Amerikabilder, die im Rahmen der Transfervorgänge der Vertriebsinnovationen entstanden, durchaus wandelten. Die Reiseberichte und Beobachtungen des ersten 341
342
Vgl. Brändli 1996, S. 108; Fehrenbach, Poiger 2000, S. XVIII; Lüdtke, Marßolek, von Saldern 1996, S. 9, 14; Maase 1997, S. 227; Pells 1997, S. 158; Schildt 1995, S. 399. Brändli 1998, S. 171.
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Nachkriegsjahrzehnts und v. a. der frühen 1950er Jahre nahmen scharfe Differenzen zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland wahr, überzeichneten diese, versuchten sie aber auch zu entschlüsseln. Mit der Etablierung der Massenkonsumgesellschaft seit Ende der 1950er Jahre spielten die Stereotype und die Rezeption von Unterschieden zwar immer noch eine Rolle, gestalteten sich aber weniger plakativ.343 Auf Grundlage der flächendeckenden Ausbreitung der Selbstbedienung diesseits und jenseits des Atlantiks, schien die US-amerikanische Konsum- und Einzelhandelslandschaft im Rahmen des Transfers von Supermärkten und Discountern nicht mehr ganz so fremd und utopisch, so dass sich die Zeitgenossen stärker auf Faktenwissen konzentrierten. Bei diesem Wandel kam sicher einem weiteren Entwicklungstrend eine entscheidende Rolle zu: während man in den 1950er Jahren in Europa erst mit dem Aufbau einer theoretischen Grundlage für die Analyse von Vertriebsformen begann, hatten Wissenschaft und Forschung seit dem Ende des Jahrzehnts bei der Beschäftigung mit Innovationen wie Supermarkt und Discounter einen etablierten Nutzen und Stellenwert erreicht. 2.4 Strategien der Wissensvermittlung und der Wissensaneignung Eisenberg charakterisiert Transferprozesse und speziell Kulturtransfers als historische Prozesse, die „für ihre Anfangsbedingungen empfindlich sind“, aber deren Entwicklung und Endzustand sich daraus nicht erschließen lasse. Sie können ihre Qualität und Richtung ändern, sie können kontinuierlich oder diskontinuierlich verlaufen.344 Im folgenden Abschnitt sollen ausgehend von dieser Prämisse Ereignisse, d. h. Reisen, Ausstellungen, Kongresse und Seminare sowie Medien in Form von Filmen und schriftlichen Dokumenten als die zentralen Kanäle des Wissenstransfers über die USamerikanischen Vertriebsinnovationen analysiert werden. Darüber hinaus geht es darum zu zeigen, auf welche Art und Weise diese Wege des Informationsaustausches und der Kontaktaufnahme durch ein dichtes Netzwerk 343
344
Vgl. Wiesen, Jonathan S.: Bildungsreisen, Handelsmessen, Werbekampgnen. Begegnungen zwischen deutschen und amerikanischen Geschäftsleuten im Zeichen des Kalten Krieges, in: Junker, Detlef (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Stuttgart, München 2001, S. 870-880, hier S. 880. Vgl. zur Entwicklung der Diskussion in Frankreich: Kuisel 1993, S. 185-187. Kuisel arbeitet die Strömung soziokultureller Selbstkritik an der Konsumgesellschaft als ein neues Element in der Auseinandersetzung der 1960er Jahre heraus. Eisenberg 2003, S. 400; Schröter 2001, S. 247.
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von individuellen Akteuren und institutionellen Arrangements verbunden waren. Die fachliche Studienreise erlangte bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für den industriellen Sektor zentrale Bedeutung, um Wissen über Mittel zur Produktivitätssteigerung und Rationalisierung aus den USA zu gewinnen.345 Im Bereich des Handels war die Reisetätigkeit in der Zeit vor 1945 wenig ausgeprägt, wurde aber seit dem Beginn der 1950er Jahre intensiv aufgenommen. Bis zur Mitte des Jahrzehnts prägte der institutionelle Rahmen des Marshallplans den Reiseverkehr zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland in besonderem Maße. Nur ein sehr kleiner Teil der westdeutschen Einzelhändler reiste aus persönlicher Initiative in die USA. Prominentestes Beispiel dafür war der regionale Filialunternehmer Herbert Eklöh. Ausgehend von den Erfahrungen seines ersten Besuchs in den Vereinigten Staaten von Amerika 1935, hatte er 1938 in Osnabrück als nur zwei Jahre dauerndes Experiment den ersten Selbstbedienungsladens in Europa betrieben. Insgesamt reise Eklöh über vierzig Mal in die USA und war eine der treibenden Kräfte bei der Einführung der Selbstbedienung und der Supermärkte in der Bundesrepublik Deutschland.346 Gleichzeitig stand er exemplarisch für eine Reihe kleiner regionaler, häufig traditionell in Familienhänden liegender Filialunternehmen, wie z. B. die Cornelius Stüssgen AG aus dem Kölner Raum, die Adolph Schürmann GmbH mit Sitz in Remscheid, das Frankfurter Unternehmen Latscha oder die Firma Johs. Schmidt aus Hamburg. In ihnen verkörperte sich der Typ vom westdeutschen Unternehmer, der eigene Modernisierungsstrategien verfolgte und dabei offen auf USamerikanische Muster Bezug nahm.347 Die Mehrzahl der Reisen waren allerdings zunächst Technical Assistance (TA) Missionen und Projekte der European Productivity Agency (EPA). Der vorliegende Quellenbestand verzeichnet für den Zeitraum zwischen 1951
345 346
347
Vgl. die Studie von Welskopp, Kleinschmidt 1994. Auch: Nolan 1994, S. 17-29. Eglau, Hans Otto: Die Kasse muß stimmen. So hatten sie Erfolg im Handel. Von der Kleiderdynastie Brenninkmeyer über die Discountbrüder Albrecht bis zur Sexversenderin Beate Uhse, Düsseldorf 1972, S. 204. Eglau gibt einen ausführlichen biographischen Einblick in die private und berufliche Entwicklung Herbert Eklöhs. Eglau 1972, S. 200209. Jarausch, Siegrist 1997, S. 36. 1926 hatte bereits eine Reise kleinerer Filialunternehmer in die USA stattgefunden, an die die USA-Reise 1951 im Rahmen des TA-Projektes „Lebensmittelfilalbetriebe“ anknüpfte. Die damalige Kontaktaufnahme mit dem USamerikanischen Verband der Filialbetriebe des Einzelhandels stellte allerdings einen Einzelfall dar. Sauer 1978, o. S.; Stüssgen, Cornelius: 50 Jahre im Sattel. Von Cornelius Stüssgen. Aufzeichnungen eines Kaufmannes, Köln 1952, S. 48.
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bis 1954 acht TA-Projekte und zwischen 1954 und 1956 neun EPAProjekte, die sich auf verschiedene Aspekte der Modernisierung des bundesdeutschen bzw. europäischen Einzelhandels konzentrierten. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Das United States Technical Assistance and Productivity Program (USTA&P) innerhalb des European Recovery Program (ERP) und die 1953 im Rahmen der Organization for European Economic Cooperation (OEEC) und der USTA&P auf US-amerikanische und europäische Initiative hin gegründete EPA zielten auf den transatlantischen und innereuropäischen Wissensaustausch zwischen Schlüsselpersonen und Fachleuten der verschiedenen Wirtschaftssektoren, um den Produktivitätsgedanken zu stimulieren, die Unternehmer zur Durchführung konkreter Rationalisierungsmaßnahmen zu bewegen und somit Katalysator für den Wiederaufbau zu sein.348 In diesem Sinne basierte die Arbeit der EPA-Projekte auf den vier Kanälen „research“, „information“, „training“ und „education“.349 Dass das Interesse an der Vermittlung von Wissen und Informationen gleichermaßen von den USA und der Bundesrepublik Deutschland ausging, äußerte sich darin, dass sowohl westdeutsche Fachleute in die Vereinigten Staaten von Amerika reisten als auch US-amerikanische Experten in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Das Bild der mitwirkenden Akteure gestaltete sich sehr vielfältig. An den Reisen in die USA nahmen – neben leitenden Personen aus allen Betriebsformen – Regierungsvertreter z. B. aus dem Bundeswirtschaftsministerium oder dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten teil.350 Anträge für eine Reise wurden vom RKW vorbereitet, das als Nationale Produktivitätszentrale (NPZ) der Bundesrepublik Deutschland operierte, dann über das entsprechende Fachministerium an das Bundesministerium für den Marshallplan weitergeleitet, das anschließend die Genehmigung der Mutual Security Agency (MSA)
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OEEC 1954, S. 5f.; Informationen des Verwaltungsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, hg. v. Presseabteilung des Verwaltungsrates Frankfurt a. M. (25.4.1949), BAK Z14/160. Vgl. ausführlich zur Geschichte der USTA&P und EPA: Bundesministerium für den Marshallplan 1953; Boel, Bent: The European Productivity Agency, 1953-1961, in: Organisation for Economic Co-operation and Development (Hg.): Explorations in OEEC history, Paris 1997, S. 113-122; Kleinschmidt 2002, S. 60-65; Latzin 2005, S. 110112. FOA position regarding EPA objectives (19.8.1954), S. 6, NA RG 469, Entry 700, Box 1. Bsp.: Amerikafahrt deutscher Genossenschafter, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 20.9.1952; Niederschrift über die Handelsreferententagung am 5./6. Juni 1962 in Stuttgart (5./6.6./1962), RWWA 181/1522/1; Projekt: The German Study of wholesale and retail trades (TA 09-183) (3/4/1953), BAK B140/85; RKW 1957.
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bzw. der Foreign Operations Administration (FOA) einholte.351 Das Reiseprogramm wurde in der Regel in Zusammenarbeit mit den US-amerikanischen Verbänden des Einzelhandels wie z. B. der National Association of Food Chains (NAFC) oder der National Sales Executices Inc. (NSE) erstellt und enthielt meist ähnliche Komponenten.352 Dazu zählten Besprechungen mit einschlägigen Wirtschaftsvereinigungen und Handelsverbänden sowie mit Behörden, wie dem Department of Commerce. Dort erhielten die Besucher allgemeine Informationen über die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Lage der USA und nahmen an Seminaren zu spezifischen Themen teil. Ebenfalls auf dem Programm stand der Besuch von Fachverlagen, Werbeagenturen sowie die Besichtigung von Verpackungsanlagen und Herstellungsbetrieben der Lebensmittelindustrie. Die Organisatoren sahen sie als entscheidend für das Verständnis der US-amerikanischen Massenproduktion und des Warenabsatzes an. Zu den Reisen gehörte weitergehenddie Besichtigung einer Vielzahl von Einzelhandelsgeschäften – von Selbstbedienungsläden und Supermärkten über Warenhäuser bis hin zu Einkaufszentren. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Diesen Programmpunkt empfanden die meisten Teilnehmer laut eigener Aussage am spannendsten und lehrreichsten. Denn dort wurde das US-amerikanische Konsummodell zum „Anfassen“ präsentiert, zum Teil
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Bundesministerium für den Marshallplan 1953, S. 34. Vgl. Kleinschmidt 2002, S. 67f. Mit dem Beschluss des „Foreign Assistance Act“ von 1948 und der Verabschiedung des Marshallplans durch den US-amerikanischen Kongress wurde die Economic Cooperation Administration (ECA) eingerichtet. 1951 wurde die ECA im Rahmen des „Mutual Security Act“ durch die Mutual Security Agency (MSA) ersetzt. 1953 trat die Foreign Operations Administration anstelle der Mutual Security Administration und der Technical Cooperation Administration. Vgl. Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels: Verkaufsstudienreisen 1952-53, BAK B140/85; Our International Outlook, in: SMM, 4/1953. Auch: Brief an William Colman, Elliott Hanson, betr. Proposed Productivity Group from Germany (4.8.1950), S. 1, NA RG 469, Entry 1205, Box 11; Brief: Re American Sales Executives (25.5.1953), NA RG 469, Entry 173, Box 8. Beispiele für die inhaltliche Gestaltung der Reisen: Eindrücke einer USA-Reise, in: Edeka-Rundschau, 11a/1962; Projekt: The German Study of wholesale and retail trades (TA 09-183), (3/4/1953), BAK B140/85; RKW 1957; RKW 1959; RKW 1960; Was wir in den USA zu sehen bekamen, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 9/1951; Weiter von Tag zu Tag. Notizen aus den USA von Heinz Fischer, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 1954 (als Reihe erschienen).
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verlangten Studiengruppen sogar nach mehr praktischer Anschauung und weniger theoretischer Anleitung.353 Praktisches Wissen und Vorbilder begriffen die Teilnehmer zum einen als hilfreicher, weil sich die theoretischen Informationen bereits von grundlegend verschiedenen Rahmenbedingungen ableiten ließen und damit ihre Gültigkeit für den westdeutschen Fall in gewisser Weise fraglich war. Zum anderen ermöglichte es der Besuch einzelner Geschäfte persönliche, sogar freundschaftliche Kontakte zu knüpfen, die sowohl die US-amerikanische als auch die westdeutsche Seite alsessentiell für die Austauschbeziehungen einschätzte.354 Alexander, Curth und Shaw kommen bezüglich des Transfers der Selbstbedienung in den britischen Einzelhandel zu der Schlussfolgerung, dass die unmittelbare Übertragung von tazitem Wissen der USamerikanischen Praktiker einen zentralen Faktor für den Erfolg des Transferprozesses darstellte.355 Der personalisierte, auf individueller Erfahrung basierende Erfolg der Vertriebsmodelle verfügte über eine besonders hohe Überzeugungskraft. Da sich die inhaltliche Gestaltung des Besuchsprogramms nicht auf einen spezifischen Aspekt konzentrierte, sondern in der Regel versuchte, eine Vielzahl von Bereichen des Einzelhandels abzudecken, stellten Selbstbedienung und Supermärkte einen Bestandteil des Programms dar, den sich besonders Interessierte v. a. in der Praxis durch die Geschäftsbesichtigungen aneigneten. Neben der Anziehungskraft des US-amerikanischen Vorführeffektes betonen alle Erfahrungsberichte die Offenheit und Freizügigkeit der Amerikaner hinsichtlich der Weitergabe von Informationen.356 Wie Kuisel auch für das französische Beispiel herausgearbeitet hat, stand dieses Verhalten im Gegensatz zur europäischen „old tradition of secrecy“.357 Während die Einzelhandelskollegen in den USA den Austausch als normalen Bestandteil des Geschäftslebens ansahen, hatte man in der Bundesrepublik Deutschland die Befürchtung, durch den offenherzigen Umgang mit eigenen Er 353
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Evaluation Meeting with the EPA group Studying Retail Trade Associations (26.12.1956), S. 1, NA RG 469, Entry 382, Box 12. Vgl. zu weiteren allgemeinen Problemen der TA-Programme in der Forschung: Gourvish, Tiratsoo 1998, S. 6. Baecker 1952, S. 54; Our international outlook, in: SMM, 4/1953; Evaluation Meeting with the EPA group Studying Retail Trade Associations (26.12.1956); NA RG 469, Entry 382, Box 12. Alexander, Curth, Shaw 2005, S. 816. Grieger 1955, S. 8; Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.3.1954; RKW 1956, S. 1. Kuisel 1993, S. 86. Auch: Jones, Joseph: Vichy France and the Postwar Economic Modernization: The Case of the Shopkeepers, in: French Historical Studies, 12, 1982, H. 4, S. 541-563., hier S. 544f.
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kenntnissen, einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden.358 Welskopp und Kleinschmidt haben im Zusammenhang mit früheren Studienreisen der Eisen- und Stahlindustrie ebenfalls eine „ausdrücklich beschworene Atmosphäre der Offenheit und Aufgeschlossenheit“ konstatiert, die wie in den vorliegenden Situationen die besondere Bedeutung des Wissensaustauschs hervorheben sollte.359 Die Betonung eines Amerikareisenden, man habe „einmalig vollständig Informationen von ausgezeichneten Fachleuten“ erhalten, mag diesen Eindruck stützen.360 Nach ihrer Rückkehr waren die Teilnehmer der Studienreisen verpflichtet, einen Bericht zu verfassen, der dann in Form von Artikeln in Fachzeitschriften oder selbständigen Publikationen veröffentlicht wurde, um die Kommunikation der Informationen an ein breites Fachpublikum zu gewährleisten und schließlich in der Praxis Anwendung finden zu können. Die „Missionen“ US-amerikanischer Experten in europäische Länder bildeten die zweite wichtige Säule der transatlantischen Austauschprogramme. Max Zimmerman vom SMI war 1947-49 im Auftrag der USamerikanischen Regierung bereits durch Europa gereist, um den Bericht „Surveying Europe’s Food Picture“ zu erstellen und die Einzelhändler bei der Einführung der Selbstbedienung zu unterstützen. 1961 nahm er die Stelle eines Beraters bei der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) an. Dazu kommentierte die US-amerikanische Fachzeitschrift Super Market Merchandising: „Now he’s setting out as a missionary, armed with facts, figures, pictures, and firm beliefs to preach the self-service gospel to the 18 European Western countries in the hope that they, too, can be served by the uniquely American creation.”361
Das Zitat vermittelt die starke Überzeugung von der Übertragbarkeit des „American way“ des Verkaufens und Einkaufens. Diese basierte auf dem bereits an anderer Stelle deutlich gewordenen Selbstverständnis der USamerikanischen Experten, mit der Implementierung der genuin US-amerikanischen Vertriebsinnovationen in Europa nicht nur einen Beitrag zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau leisten zu können, sondern mit der Vermittlung von Sachkenntnissen und Informationen 358
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Zimmerman, Max: A Challenge to World Distribution, in: SMM, 8/1953. Bereits für die Zeit vor 1945: Oder 1937, S. 52. Welskopp, Kleinschmidt 1994, S. 74. Baecker 1952, S. 8. Zimmerman joins OECD Mission, in: SMM, 3/1961. Vgl. auch: Zimmerman 1955, S. 290.
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gleichzeitig ein bestimmtes Wertungswissen zu transferieren und zu etablieren. Eine besonders lange zeitliche Dauer und umfassende Breitenwirkung besaßen die MSA-Kurse zu modernen Vertriebsmethoden unter Leitung von George Lindhal. Er hatte 1952 in einem TA-Projekt eine Umfrage zum Distributionswesen in den europäischen Ländern durchgeführt und war auf breites Interesse an Modernisierungsmaßnahmen gestoßen. Daraufhin organisierte er mit seinem „Food Marketing Team“, bestehend aus weiteren fünf Spezialisten auf dem Gebiet des Ladenbaus, der Verkaufsförderung, der Marktforschung und der Verpackung, ab 1953 das EPA-Projekt 142 und ab 1955 als Nachfolge dessen das EPA-Projekt 326 in zehn europäischen Ländern. Sie reisten durch mehr als 70 Städte, darunter Hamburg, München und Stuttgart, um Einzelhändler, aber auch Großhändler und Hersteller mit Unterstützung der Industrie- und Handelskammern über moderne Verkaufsmethoden zu informieren.362 Dazu zählten Selbstbedienung, Ladenbautechnik und Warenauslage sowie der Verkauf von Frischprodukten wie Obst, Gemüse und Fleisch. Ziel war es nicht nur, Fakten über die neuesten Absatztechniken zu vermitteln, sondern auch eine positive Atmosphäre gegenüber einer „Modernisierung“ zu erzeugen und den Gedanken des „service to the customer“ zu vermitteln. Eine Umfrage unter bundesdeutschen Teilnehmern ergab eher mäßige Auswirkungen der Veranstaltungen auf die Praxis. Als Resultate der Kurse führten 40 Prozent der Befragten an, Verbesserungsmaßnahmen vorgenommen zu haben, davon 26 Prozent im Bereich der Verpackung, 25 Prozent bei der Warenauslage, aber nur 6 Prozent bei der Selbstbedienung. Der Selbstbedienung standen die Teilnehmer sehr gespalten gegenüber: während 27 Prozent die Informationen zur Selbstbedienung interessant fanden, blieben 34 Prozent trotzdem anderer Meinung über die Ausführungen der US-Amerikaner zum self-service. Dabei waren die Argumente gegen die Selbstbedienung in den verschiedenen europäischen Ländern so gut wie identisch: sie passe nicht zum nationalen Charakter, d. h. der Kunde wolle auf jeden Fall persönliche Beratung, sie sei nur für Großunternehmen
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„Keine Revolution im Lebensmittel-Einzelhandel“. USA-Experten sprachen vor Hamburger Lebensmittel-Kaufleuten, in: Edeka-Rundschau, 13.2.1953. Zu Details über den Ablauf der Europatour auch: Airgram, betr. Progress Report – EPA Consultants (10.1.1955), NA RG 469, Entry 700, Box 1; Lehren aus Übersee, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 21.2.1953.
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geeignet und die Gefahr des Diebstahls sei zu hoch.363 Trotzdem werteten offizielle Stellen das Projekt als Erfolg, da sich eine Reihe von so genannten „follow up“-Aktivitäten vor Ort entwickelte, bei denen lokale Unternehmer und Einrichtungen, wie z. B. die Betriebswirtschaftliche Beratungsstelle (BBE) der HDE, die Themen aufgriffen und entsprechende Weiterbildungen anboten.364 Bereits der Anstoß zur Diffusion der Ideen über die Selbstbedienung durch die Seminare wurde somit als realistischer Transfermechanismus bewertet, während weniger von einer gezielten Übertragung von Wissen ausgegangen wurde.365 Die abschließende Besprechung im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten kam zu folgendem Ergebnis: „daß der Hauptzweck der Kurse, nämlich die Anregung zum Nachdenken, erreicht worden sei. Das Eis des konservativen Denkens ist gebrochen. Die Hilfsmittel, die uns die Amerikaner geboten haben, waren ausgezeichnet. Aber wir können den Amerikanern keine fertigen Rezepte abverlangen und benötigen nach langsam zu sammelnden Erfahrungen eine systematische langsame Umstellung. Dazu benötigen wir, um das eben Gelernte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, persönliche Beratung sowohl von den Amerikanern als auch von den deutschen Stellen.“ 366
Ebenfalls 1953 – wie bereits schon 1951 – reiste unabhängig von der EPA eine Gruppe von Spezialisten des US-amerikanischen Verbandes National Sales Executices Inc. (NSE) in Zusammenarbeit mit dem RKW, den regionalen Handelskammern und der Gesellschaft zur Förderung des deutschamerikanischen Handels (GDFAH) durch die Bundesrepublik Deutschland und Europa und gestaltete ein ähnliches Programm.367 Aufgrund der sich häufenden Angebote war man bei der GDFAH sogar der Meinung, dass
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MSA Mission Monthly Report Lindahl Food Marketing Team (15.4.1953), NA RG 469, Entry 337, Box 26. Vgl. BBE: Moderne Betriebsführungs- und Verkaufsmethoden im Einzelhandel. Vortragsreihe amerikanischer Einzelhandelsexperten in Deutschland, Köln 1955. Vgl. Kacker 1988, S. 45. Zu Einzelheiten der Nachbereitung der MSA-Kurse: Vermerk von Dr. Recke, betr. MSA-Kurse über moderne Ladengestaltung (14.8.1953), BAK B116/8207. Vermerk über die Abschlußbesprechung der MSA-Kurse im Bundesernährungsministerium, Dienststelle Frankfurt a. M., am 18. und 19. Juni 1953 (29.7.1953), 1. Teil, S. 4; BAK. B116/8207. Vgl. auch: Schreiterer 1955, S. 29. Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels: National Sales Executives Inc., 1951-53. BAK B140/70.
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„eine gewisse Sättigung in Bezug auf Amerika-Vorträge im allgemeinen, wie es ja auch bereits bei den Veranstaltungen der Herren des Department of Commerce zu bemerken war, eingetreten ist und insbesondere Gespräche über amerikanische Verkaufsmethoden und -techniken nicht mehr gefragt sind.“368
Interessanterweise nahmen die Reisen von US-amerikanischen Experten mit dem Auslaufen der TA- und EPA-Projekte nach 1956 stark ab, während die Zahl der westdeutschen Amerikareisenden bis in die 1970er Jahre relativ konstant blieb. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Neben finanziellen und strukturellen Gründen spiegelt sich in dieser Tendenz möglicherweise auch die Auffassung der US-amerikanischen Fachleute und Politiker wider, dass der entscheidende Anstoß für die Entwicklung der Massendistribution und des Massenkonsums zu diesem Zeitpunkt definitiv gemacht war und es nun in der Eigeninitiative der privaten Unternehmer und der Maßgabe der staatlichen Akteure lag, die einmal in Gang gesetzte Entwicklung weiter voranzutreiben. Dagegen hatte der Wissensdurst der westdeutschen Einzelhändler weiterhin Bestand, da sie sich angesichts der allmählichen Diffusion der Selbstbedienung unmittelbar mit den praktischen Problemen und immer neuen Fragen konfrontiert sahen. Die anhaltende Nachfrage nach Wissen von westdeutscher Seite verwies somit auf den in vollem Gang befindlichen Transformationsprozess. In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus festzustellen, dass sich nach 1956 private Anbieter wie z. B. die Deutsche Studienreisen Gesellschaft oder der Wirtschaftsdienst Studienreisen in der Hapag-Lloyd Reisebüro-Organisation auf die Planung und Durchführung von Reisen des Einzelhandels in die USA spezialisierten.369 Zudem erhöhten die mehrstufigen Unternehmen des Einzelhandels wie die Einkaufsgenossenschaften und freiwilligen Ketten ihre Reisetätigkeit. Gleichzeitig waren die Studienreisen natürlich einem Wandel in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und damit auch der Teilnehmenden unterworfen. Abweichend vom sehr starken Interesse an den Selbstbedienungsläden und Supermärkten in den 1950er
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Brief Oe/ Ip, betr. Deutschlandbesuch National Sales Executives (13.4.1953). Auch: Brief Holl (Einzelhandelsverband Bezirk Köln) an GFDAH, betr. Deutschlandbesuch der National Sales Executives (11.4.1953), BAK B140/70. Der Einzelhändler, 3.4.1968; Discount-Informationen 1/1968; Programm-Vorschlag für eine Reise zum Studium des Kaufhauswesens und der Einzelhandelsmethoden, Flyer der Deutschen Studienreisen Gesellschaft und „2. Reise zum Studium amerikanischer Verkaufsmethoden“, RWWA 28/66/2; Reise zum Studium von Verpackungsfragen, in: EWG 30.4.1958. Die deutsche Studienreisen Gesellschaft wurde 1951 gegründet und verfolgte das Ziel, Führungskräften aus der Wirtschaft die Gelegenheit zu geben, Unternehmen ihrer Branche vor Ort und Stelle zu studieren.
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Jahren, verschoben sich in den 1960er Jahren die Akzente mehr zu Discountern und Einkaufszentren. Dementsprechend traten neue Interessenten wie z. B. der Verband deutscher Discounthäuser hervor. Insgesamt nahm der Reiseverkehr zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland proportional im Vergleich zu den innereuropäischen Fachstudienreisen seit dem Ende der 1950er Jahre ab. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Diese Tendenzen sprechen sicher auch dafür, dass die Transferprozesse in-nerhalb Europas, wie sie in den Technical Assistance Projekten des Typ C, d. h. einem Austausch zwischen den europäischen Ländern und mit internationalen Organisationen, angelegt waren, zunehmend an Bedeutung gewannen.370 Der Besuch von Seminaren und Vorträgen im Rahmen des transatlantischen Reiseverkehrs spielte neben dem Beobachtungs- und Erfahrungslernen eine entscheidende Rolle für die Informationsvermittlung. So hatte NCR 1956 unter dem Motto „Wissen ist Macht“ begonnen, die Schulungseinrichtungen Modern Merchandising Methods (MMM) in den USA und Europa aufzubauen. Bei den Vorträgen wurden u. a. von der MSA oder der National Association of Retail Grocers of the United States (NARGUS) produzierte Lehrfilme zu verschiedenen Fragen der Selbstbedienung gezeigt. In diesem Zusammenhang wird auch die Beteiligung US-amerikanischer Universitäten am Wissenstransfer sichtbar, die über das notwendige Filmmaterial verfügten.371 Das Instruktionslernen, das in diesen Veranstaltungen praktiziert wurde, war ebenso relevant für die zahlreich stattfindenden Kongresse und Tagungen von Verbänden, Unternehmen und Fachorganisationen. Darüber hinaus bildeten sie zentrale Gelegenheiten zur Aufnahme persönlicher Kontakte und zur Bildung von Netzwerken. Die Wissensmanagementforschung hat darauf hingewiesen, wie wichtig der Austausch von Erfahrungen und Wissen face-to-face für Innovationsprozesse ist.372 Ein näherer Blick auf die Kongresse und Tagungen des Einzelhandels im Untersuchungszeitraum ergibt, dass diese nicht auf einer rein transatlantischen Ebene, sondern in einem dezidiert internationalen Umfeld stattfanden. Der Internationale Kongress für Lebensmittelverteilung (AIDA), auf dem 1000 Delegierte aus 22 Ländern zusammenkamen, die sowohl aus dem Bereich 370
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Bundesministerium für den Marshallplan: Seventh Report of the German Federal Republic on the Progress of the Marshall Plan, 1951, S. 14, NA RG 466, Entry 16A, Box 51; Food and Agriculture Comitee (10.6.1954), S. 7, NA RG 469, Entry 700, Box 1. Vgl. in der Forschung auch: Boel 1997, S. 117. Der MMM-Club stellte sich erstmalig vor, in: Edeka-Rundschau, 15./22.6.62; National Cash Register: Flyer NCR-Systembereich Handel: Internationale Seminare für Verkaufsmethoden. ca. 1969, RWWA 20/2321/2. Senker 1995. Auch: Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 815.
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der Industrie als auch des Handels stammten, wurde 1950 auf USamerikanische Anregung ins Leben gerufen. Zeitgleich fand die Gründung der International Association of Food Distribution statt.373 Anstoß für die alle zwei Jahre in verschiedenen Städten weltweit stattfindende Veranstaltung waren die Vorträge Max Zimmermans, des Leiters des SMI, der auf seiner Europatour zu der Schlussfolgerung kam, die Welt sei bereit für ein internationales „food business“-Netzwerk.374 Im Rahmen der ersten Veranstaltungen nahmen US-amerikanische Vertreter, darunter auch Repräsentanten der MSA, eine bedeutende Stellung ein, präsentiert wurden US-amerikanische und europäische Gesichtspunkte.375 Anhand der AIDA zeigt sich an einem konkreten Beispiel wie es im Laufe von Transferprozessen zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit mit supranationalen Organisationen kommen kann.376 Ziel der Veranstaltung war laut dem Vizepräsidenten: „This meeting of the minds, […] this exchange of experiences in a climate of mutual confidence – in effect, progress – permits our older countries to develop and maintain the pioneering spirit which is very substance of free enterprise, and which is the real purpose of the Congress.“377
Seine Aussage verweist nicht nur auf die zentrale Rolle des sich etablierenden Netzwerkes für die Modernisierung des Einzelhandels, sondern auch auf die große Bedeutung von Vertrauen für die Austauschbeziehungen und einen effektiven Informationsfluss.378 Ein anderes Beispiel für die institutionelle Verflechtung zugunsten eines regelmäßigen Wissensaustausches über die aktuelle internationale Entwicklung im Vertriebswesen stellte die Internationale Studientagung der Stiftung „Im Grüene“ dar. Sie wurde vom Schweizer Genossenschaftsinstitut im Umfeld des SelbstbedienungsPioniers Gottlieb Duttweiler seit 1951 im Jahresturnus veranstaltet und bot eine übergreifende Austauschplattform für alle Unternehmensformen. Die Selbstbedienung stand in diesem Rahmen 1952 unter dem Thema „Die Ein
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All Roads Lead to Ostend, in: SMM, 5/1953; Hold Second International Food Congress, in: SMM, 8/1953; Rom: Papst plädiert für rationelle Methoden, in: Rewe-Echo, 7/1956; Kacker 1988, S. 47; Zimmerman 1955, S. 290f. De Grazia 2005, S. 382. All Roads lead to Ostend, in: SMM, 5/1953; Ostend Awaits World Food Leaders, in: SMM, 3/1953; Zimmerman 1955, S. 290. Eisenberg 2003, S. 407. De Grazia weist daraufhin, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts eine ganze Vielzahl von Institutionen entstand, durch die die USA versuchte, Einfluss auf Europa zu nehmen. De Grazia 1997, S. 119. Hold Second International Food Congress, in: SMM, 8/1953. Vgl. Berghoff 2004b, S. 68.
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gliederung des Konsumenten in die Verkaufsfunktion“ und 1958 unter dem Titel „Neue Aspekte der Selbstbedienung“ ganz explizit im Zentrum des Interesses.379 Anhand der sich wandelnden Themenstellungen der einzelnen Veranstaltungen wird deutlich, wie sich die Netzwerke neuen Gegebenheiten des Konsums und der Wirtschaft anpassten. Während sich z. B. die 2. AIDA 1953 mit grundlegenden Fragen zur Produktivitätssteigerung im Einzelhandel befasste, standen 1959 unter dem Motto „More and better für all“ die Motivforschung, die Auswirkungen der europäischen Integration auf den Einzelhandel und „human relations“ auf der Tagesordnung.380 Die dritte zentrale Gelegenheit für die Zirkulation von Wissen und Informationen auf einer stark personalisierten Ebene bildeten Ausstellungen und Messen. Sie waren wichtige, regelmäßige Anlässe, zum Austausch von Erfahrungen im unmittelbaren Kontakt. Darüber hinaus boten sie die Möglichkeit, einer breiten Masse von Besuchern Modelle von „modernen“ Einzelhandelsgeschäften zu präsentieren, wie z. B. der „American Way Supermarket“, aufgestellt durch die MSA und NAFC auf der AIDA 1956 in Italien, die Sonderausstellung „Der moderne Laden“ 1957 auf der Allgemeinen Nahrungs- und Genussmittel-Ausstellung (ANUGA) in Köln oder die Präsentation eines Muster-Supermarktes auf der New Yorker Weltausstellung 1962 durch US-amerikanische Handelsverbände.381 Ein besonderer Fall war die Wanderausstellung zum Thema Selbstbedienung, die 1953 von der MSA gemeinsam mit der OEEC organisiert wurde. Die „motorisierte ‚Wanderschau moderner Verkaufsmethoden’“382 machte auf ihrer Europatour in einer Reihe deutscher Städte Station. In einem zu einem Selbstbedienungsladen ausgebauten Anhängerwagen konnten die Besucher umhergehen, es wurden Filme vorgeführt und Fachliteratur zur Verfügung gestellt. Außerdem erstellte man jedem Einzelhändler eine Skizze mit einem auf seinen konkreten Fall ausgerichteten Einrichtungsvorschlag für ein Selbstbedienungsgeschäft. Die Vermittlung von praktischem und unmittelbar anwend 379
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Ein Überblick über die Themen der Tagungen zwischen 1951 und 1962 gibt: Barnet, Edward Malcolm: Das Diskonthaus: eine neue Revolution im Einzelhandel? 11. Internationale Studientagung in Zürich, 9.-12- Juli 1962, Düsseldorf; Wien 1962, S. 161-172. 4th International Food Congress, in: SMM, 9/1959; Hohe Schule des Erfahrungsaustausches. VI. AIDA-Kongreß demonstrierte echte Zusammenarbeit, in: EdekaRundschau, 27/28/1959. Thema der AIDA 1962 war “The life-line of humanity – food from farm to table”. 5th International Food Congress, in: SMM, 9/1962. Enjoy Continental Cuisine at the International Super Market, in: SMM, 7/1962; Wholesale and Retail Food Distributors Plan Cooperative “Mass Distribution” Exhibit at International Food Congress, in: NGB, 5/1962. Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 8/1953.
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barem Wissen war also die zentrale Strategie der fahrenden Ausstellung. Ein Artikel im Handelsblatt vom 17.8.1953 benannte zwei maßgebliche Ziele der Aktion: „Zwei verbreitete Irrtümer will die Schau richtigstellen. Es ist nicht Zweck des Selbstbedienungsladens, Personal zu sparen. Dieses erhält nur andere Aufgaben. Es wird nicht mehr in der bisherigen Art bedienen, sondern in erster Linie mit dem Auffüllen und Ordnen der Regale beschäftigt sein, der Kundschaft – aber nur auf Wunsch – bei der Auswahl helfen und für jede Auskunft zur Verfügung stehen. […] Der Selbstbedienungsladen ist kein automatischer Laden. Der menschliche Kontakt zwischen Käufer und Verkäufer wird keineswegs ausgeschaltet. Im Gegenteil: Infolge Übernahme einer Reihe von Funktionen des Verkäufers durch den Kunden kann dieser eine viel größere Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Käufer verwenden.“ 383
Alexander, Curth und Shaw haben bei ihrer Analyse der Wissenstransferprozesse im Zusammenhang mit der Einführung der Selbstbedienung in Großbritannien die verschiedenen Austauschkanäle hinsichtlich ihrer Effektivität bewertet. Dabei sind sie zu der Schlussfolgerung gekommen, dass der persönliche Kontakt mit SB-Erfahrenen aus der Praxis, d. h. US-amerikanischen Einzelhändlern, aber auch spezialisierten Ladenbaufirmen, neben den staatlichen Aktivitäten den meisten Einfluss auf die Förderung der Innovationen ausübte. Die Rolle der Fachpresse und anderer Medien schätzen sie dagegen als sekundär ein.384 Auch wenn dem für den deutschen Fall insofern zuzustimmen ist, als dass Medien eine geringere Möglichkeit zum effektiven Lernen durch Interaktion boten, stellten sie meines Erachtens gerade aus diesem Grund eine entscheidende Säule für den erfolgreichen Transferprozess dar. Der unmittelbare Kontakt mit dem self-service-Modell und den US-amerikanischen Experten war, u. a. aus finanziellen Gründen, nur einer sehr begrenzten Zahl von Einzelhändlern möglich. Dagegen eröffneten die Fachpresse, wissenschaftliche und praktische Publikationen, Reiseberichte sowie Lehrfilme einen neuen Wissenskanal, der die breite Masse der Einzelhändler in den Transferprozess einbezog. Die US-amerikanischen Fachzeitschriften des Einzelhandels sowie Studien und Schriften über die Selbstbe-
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Ebd. Vgl. auch: Amerika lädt ein, in: Rewe-Echo, 9/1953; Brief an Hauptverband des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels, betr. Moderne amerikanische Verkaufsmethoden (30.1.1953), RWWA 28/145/7; Wanderschau moderner Verkaufsmethoden, in: RKW-Kurznachrichten (31.8.1953), NA RG 469, Entry 1203, Box 8. Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 812-815.
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dienung stießen auf reges Interesse der Unternehmer.385 Die verschiedenen Medien vermittelten explizites Wissen, das zeitlich und räumlich unabhängig verfügbar war. So eröffnete die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 1952 einen „Sonderdienst zur Auswertung fremdsprachlicher Fachzeitschriften für Vielbeschäftigte“, der – ebenso wie die Rationalisierungs-Gemeinschaft des Handels (RGH) oder das Institut für Selbstbedienung (ISB) – die Auswertung von Fachzeitschriften als eine seiner zentralen Aufgaben ansah.386 Inwiefern dagegen die von US-amerikanischer Seite initiierten europäisch vergleichenden Studien, wie z. B. das TA-Projekt von George Lindahl oder die Untersuchung „Retailing in Europe“ von Jefferys u. a., in der Praxis rezipiert wurden, kann anhand des vorliegenden Materials nicht beurteilt werden.387 Für staatliche aber auch private wissenschaftliche und fachliche Institutionen schufen sie einen wichtigen Ansatzpunkt für eigene Aktivitäten. In Hinblick auf die Lehrfilme zum Thema Selbstbedienung lässt sich allerdings in den Akten der US-amerikanischen Behörden ein reger Austausch- und Leihverkehr durch die westdeutschen Unternehmer erkennen. Die Verbreitung von Fachliteratur und Schulungsunterlagen gehörte neben den Produktivitätsreisen zu den Aufgaben der ECA bzw. der MSA. Die Einkaufsgenossenschaften, Konsumgenossenschaften und Filialunternehmen, aber auch Institutionen wie die Forschungsstelle für den Handel versuchten, sich von US-amerikanischer Seite produzierte Filme wie z. B. „NARGUS better stores“, „Einkaufen leicht gemacht“ oder „Importance of Selling“ von der International Cooperation Administration (ICA) in Bonn zu beschaffen.388 1953 beklagten die dortigen Behörden aufgrund der hohen Nachfrage die Knappheit an Medien und baten die MSA in Paris um die Bereitstellung von mehr Filmmaterial.389 385
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Brief Holmes (TA) an Coppinger (MSA) (4.12.1952), NA RG 469, Entry 1058, Box 10; Briefwechsel Heiber (Unna)/ Siegmund (ICA) (4/ 5/ 1955), NA RG 469, Entry 1203, Box 8. Gesellschaft für Konsumforschung (GfK): Die Stimme des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (5.12.1952), RWWA 28/310/1. Jefferys, Lindblad, Hausberger 1954. Auch: Jefferys, Knee 1962; Moss, Louis: The consumer’s food-buying habits, Paris 1958. Beispiele aus den Akten der ICA: Brief von Rosemarie Siegmund an Puskeppeleit (RKW Zweigstelle Berlin) (12.1.1955), Brief Schmertz (Amerikahaus Tübingen) an Rodes (MSA Bonn) (3.6.1953), Briefwechsel Konsumgenossenschaft Essen und ICA (7/1955), Briefwechsel Forschungssteller für den Handel und ICA (12/1955), Brief ZdK an ICA (13.3.1956), NA RG 469, Entry 1203, Box 8. Brief Rodes an Springer (MSA Paris, Technical Media Section) (27.7.1953), NA, RG 469, Entry 1203, Box 8.
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Grundsätzlich ist nicht nur hinsichtlich der Audio- und Printmedien, sondern auch in Bezug auf alle hier vorgestellten Wissenskanäle zu beobachten, dass sich der Zugang der Akteure des Einzelhandels und der Unternehmen sehr unterschiedlich gestaltete. Die verschiedenen Strategien zur Wissensaneignung reflektierten somit ein Spannungsverhältnis zwischen der Vorenthaltung und der allgemeinen Zugänglichkeit zu Wissen über die Vertriebsinnovationen.390 Sie machen auch deutlich, dass die Transaktionskosten für den Erwerb von Wissen ausschlaggebend für die ungleiche Verteilung von Informationen waren.391
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nicht nur der Wissensvorsprung der USA in Sachen Selbstbedienung die Voraussetzung für den Transferprozess bildete, sondern dass v. a. auch die Qualität der transatlantischen Beziehungen und die Art der Netzwerkbildung ausschlaggebend für den erfolgreichen Transfer waren.392 Auf beiden Seiten des Atlantiks herrschte eine interessierte Offenheit für die Übertragung der Problemlösungsmuster im Einzelhandel, die zu Beginn der 1950er Jahre durch den institutionalisierten Austausch in Form der TA- und EPA-Projekte gezielt für den Lernprozess genutzt, aber gleichzeitig auch in bestimmte Bahnen gelenkt wurde. Neben den hier vorgestellten hauptsächlich formellen Wegen des Austauschs, bestanden natürlich eine Reihe informeller Kontakte und Prozesse, die anhand der Quellenlage nur schwer nachzuweisen sind.393 Dass der Austausch um die Innovationen im Einzelhandel aber auch zunehmend von der US-amerikanischen Aufbau- und Wirtschaftspolitik unabhängige Wege nahm, wird anhand von drei Entwicklungen seit dem Ende der 1950er Jahre deutlich. Erstens kam es zu einer Umkehrung und Erweiterung der Transfernetzwerke. Europäische und westdeutsche Innovationen wurden zu Vorbildern für den US-amerikanischen Einzelhandel. Beispiele dafür waren die Technisierung auf dem Gebiet der Verpackung, das Lochkartensystem oder die Einführung des Discount-Prinzips in Lebensmittelgeschäften durch die Familie Albrecht.394 Der bundesdeutsche Einzelhandel bildete nun einen Referenzpunkt für Innovationsbemühungen in anderen 390 391 392 393 394
Vgl. Fried, Kailer 2003, S. 18. Vgl. Antos 2001, S. 14. Kacker 1988; Latzin 2005, S. 25. Vgl. Kacker 1988, S. 47 Can we learn from Europe?, in: SMM, 9/1965; Central Meat Packaging in Germany, in: SMM, 6/1964; German Chain Suceeds with Centralized Meats, in: PG, 3/1967; The Punchcard Store is Here! Revolutionary European System, in: NGB, 7/1964. Besonders früh wurden die Märkte des Schweizer Unternehmens Migros als vorbildlich und mit einer Reihe von nachahmenswerten Elementen rezipiert. Vgl. z. B.: Migros Gives Switzerland Most spectacular Market, in: SMM, 2/1953.
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Ländern, z. B. Japan oder der Türkei.395 In diesem Sinne gestalteten sich die Austauschbeziehungen nicht in Form eines einseitig gerichteten nachholenden Transfers, sondern waren stark von „crossing influences“ zwischen den Kontinenten geprägt.396 Zweitens erfolgte die Einführung von Selbstbedienung und Supermärkten nicht ausschließlich über behutsames Anlernen und Beobachten, sondern die westdeutschen Einzelhändler machten seit den späten 1950er Jahren ihre Erfahrungen mit der modernen Verkaufsform verstärkt im Rahmen des heimischen Wettbewerbs. US-amerikanische Unternehmer drängten auf den europäischen Markt und eröffneten Supermärkte, deren niedrige Preisspanne den Konsumenten zugute kam. 1957 machte die International Basic Economy Corporation (IBEC) von Nelson A. Rockefeller den Anfang mit der Eröffnung des Supermarket Italiani.397 Die Einzelhändler sahen sich einer scharfen Konkurrenz um den Verbraucher ausgesetzt und mussten zwangsweise über Modernisierungsmaßnahmen in ihren eigenen Unternehmen nachdenken, was sie letztlich offener für neue Verkaufsmethoden machte.398 In der Bundesrepublik Deutschland stellte die Eröffnung von Supermärkten durch den nordamerikanischen Weston-Konzern Anfang der 1960er Jahre ein Beispiel für diese Art des „Erfahrungslernens“ dar, die im Kapitel IV. 2. ausführlicher diskutiert werden soll. Ein dritter Faktor für die Verschiebung im Kräftefeld des Wissensaustauschs war die wachsende Bedeutung europäischer Netzwerke, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht.
3. Europäische Netzwerke zur Förderung innovativer Verkaufssysteme Trotz der Tatsache, dass Selbstbedienung und Supermärkte ursprünglich US-amerikanische Erfindungen waren und die Implementierung in anderen nationalen Kontexten hauptsächlich auf den transatlantischen Austauschprozessen beruhte, ist in den 1950er und 1960er Jahren ein reger und stetig
395
396 397 398
Brief von Kazuo Matsumoto (Botschaftssekretär der japanischen Botschaft) an Ministerialrat Tsentser (Bundesministerium für Wirtschaft) (12.7.1967), BAK B102/225677; Cornelia 3/1957; Discount-Informationen, 1/1968, S. 6f.; Edeka Zentrale, Jahresbericht 1967; Die Edeka – wieder das Ziel vieler Gäste aus dem Ausland, in: Edeka-Rundschau, 18a/1961; Türkischer Besuch bei der Edeka Goslar, in: Edeka-Rundschau, 21./28.6.1967. Lescent-Giles 2005, S. 192. De Grazia 2005; Scarpellini 2004. Vgl. für die Industrie: Hilger 2004, S. 281.
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ansteigender Erfahrungsaustausch über die Innovationen innerhalb Europas zu beobachten. Das nachfolgende Teilkapitel soll deutlich machen, inwiefern verschiedene Formen der innereuropäischen Zusammenarbeit zugunsten der Rationalisierung im Einzelhandel Einfluss auf die erfolgreiche Einführung von Selbstbedienung und Supermärkten in der Bundesrepublik Deutschland hatten. Ebenso wie für den transatlantischen Transferprozess stellt sich zunächst die Frage nach den zentralen Akteuren und Wissenskanälen der Austauschbeziehungen. Gleichzeitig ist zu prüfen, in welche Spannungsfelder verschiedener sozioökonomischer und politischer Entwicklungen die innereuropäische Zirkulation von Wissen über die neuen Verkaufsformen eingebettet war. Die Entwicklung der nationalen Handelslandschaften und die Arbeit der Einzelhandelsunternehmen prägte dabei v.a. die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 sowie die allmählichen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Verflechtungen des gemeinsamen Marktes. Neben den offiziellen staats- und europapolitischen Beziehungen zeichnete sich im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre eine Vielzahl von intereuropäischen Kooperationen im Bereich des Einzelhandels ab, die auf verschiedenen persönlichen, fachlichen und unternehmerischen Netzwerken beruhten und in ihrer geographischen Reichweite und Institutionalisierung stark variierten. Die konkreten Austauschbeziehungen gingen dabei stets mit der Reflektion über europäische Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Konsum- und Einzelhandelslandschaften einher, wie sie zum Teil bereits im Zusammenhang mit der Reflexion des US-amerikanischen Leitmodells vor dem Hintergrund des heimischen Erfahrungshorizonts angesprochen worden sind. Aus der Wahrnehmung gemeinsamer Entwicklungstrends des europäischen Einzelhandels heraus gelangten Experten und Praktiker zu der Einsicht, dass man von einer gegenseitigen Kommunikation und Kooperation noch auf ganz andere Weise profitieren könne als von der Beobachtung der US-amerikanischen Strukturen. Der innereuropäische Austausch sollte die Partizipation einer breiteren Masse von Einzelhändlern und – auf der Basis einer Reihe von Gemeinsamkeiten – eine unmittelbarere Nutzung von Erkenntnissen ermöglichen.399 Diesen Trend fasste eine Stellungnahme der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) folgendermaßen zusammen: 399
Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 105; Priess, Friedrich: Zur Problematik der Selbstbedienungsläden, in: Bericht der Arbeitstagung des Ausschusses für Absatzwirtschaft bei der Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer in Baden-
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„On the one hand, the trade patterns if the EEC countries vary considerably from one another; on the other, they show nearly similar, though differently timed, trends. The development in the various countries could be symbolized by several people on various steps of the same ladder, all climbing more or less quickly to the top.” 400
Die EWG ging ebenso wie eine Reihe europäisch vergleichender Studien von der Hypothese aus, dass sich im Grunde genommen alle europäischen bzw. westeuropäischen Länder auf dem Weg zur Massenkonsumgesellschaft befanden.401 Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellten die zunächst schlechte Versorgungslage in der Nachkriegszeit und der im Vergleich zu den USA niedrigere Lebensstandard in den europäischen Ländern dar. Die 1950er und 1960er Jahre zeichneten sich dann durch einen wirtschaftlichen Aufschwung und den zunehmenden Wohlstand in Europa aus.402 Es ist klar, dass dabei entscheidende Unterschiede hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs und der Entwicklungsmuster in den einzelnen Ländern bestanden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann allerdings auf das damit verbundene Problem sozioökonomischer Konvergenzen in Europa, wie es sich z. B. auf der Grundlage vergleichender Untersuchungen zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte oder einzelner Konsumbereiche thematisieren lässt, nicht detaillierter eingegangen werden.403 Es bleibt aber festzuhalten, dass zeitgenössische, komparative Studien eine Reihe von europäischen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Konsumgewohnheiten und der Struktur des Einzelhandelssektors herausgearbeitet haben, die relevant für den Innovationsprozess im Vertriebswesen waren. 400
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Baden vom 28. und 29. April 1952 (1952), S. 7, 10, WWA K3/1284; DIHT: Tätigkeitsbericht für 1.956/57, S. 252, WWA S7/562. Zitiert nach Wilkens 1967, S. 7. Auch: Brandes 1962, S. 46; Whidde 1955, S. 101. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten des Strukturwandels im Einzelhandel in Europa insgesamt: HDE: Arbeitsbericht 1972, S. 90. Beispiele für europäisch vergleichende Studien im Untersuchungszeitraum: Henksmeier 1961; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954; Jefferys, Knee 1962; Magnus-Hannaford, R. G.: Education and training for distribution, Paris 1959; Moss 1958; Organisation for Economic Co-operation and Development: The distribution sector. Evolution and government policies. A report by Industry Committee, Paris 1973; Wilkens 1967. Vgl. Brunn, Gerhard: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Bonn 2004, S. 160; Kaelble 1997, S. 192; Schröter 2004a, S. 142. Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die vergleichend angelegten Studien: Haustein 2007; Kramper, Peter: From Economic Convergence to Convergens in Affluence? Income Growth, Household Expenditure and the Rise of Mass Consumption in Britain and West Germany, 1950-1974, London 2000.
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Auch wenn die wettbewerbliche Struktur des Einzelhandels stark von den verschiedenen nationalen Rahmenbedingungen abhing, ermittelten Jefferys u. a. Mitte der 1950er Jahre, dass in den meisten Ländern 80 Prozent des Einzelhandels von selbständigen Unternehmen und nur 14-18 Prozent von großbetrieblichen Firmen ausgeübt wurde.404 In den USA dagegen betrug der Anteil des selbständigen Einzelhandels bis 1960 nur ca. 36 Prozent.405 Gleichzeitig nahmen in einigen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Schweden und England die Konsumgenossenschaften ein weit größeres Gewicht ein als im US-amerikanischen Einzelhandel. Keines der europäischen Länder hatte vor den 1940er Jahren eine umfassende Rationalisierung des Verkaufswesens erfahren, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren in den USA auftrat.406 Ein zentrales Merkmal der „europäischen Konsumgesellschaften“ war die große Abhängigkeit der Konsumgewohnheiten von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse.407 In der Forschung wird dieser Zusammenhang mit dem bereits erwähnten „bourgeois model of consumption“ erfasst. Dieses war u. a. von der starken, sozial-hierarchisch geprägten Vermittlerrolle des Einzelhändlers dominiert. Seit den 1950er Jahren setzte in Europa eine allmähliche Auflösung des schichtspezifischen Konsums ein, begleitet von der Etablierung neuer Konsumpraktiken und anderer Distinktionsmechanismen in der Massenkonsumgesellschaft.408 Interessanterweise kritisierten die europäischen Einzelhändler an der Einführung der Selbstbedienung hauptsächlich, dass sie dem spezifisch nationalen Charakter der Konsumenten widersprechen würde. In den meisten Fällen wurde diese Ablehnung mit dem Wunsch des Kunden nach individueller Bedienung untermauert.409 Im Rückblick stellt sich diese Argumentation weniger als spezifisch deutsch, italienisch oder britisch dar, sondern lässt 404 405
406 407
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Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 4, 70f. Zahlenangabe nach: García Ruiz, José Luis: Cultural Resistance and the Gradual Emergence of Modern Marketing and Retailing Practices in Spain, 1950-1975, in: Business History, 49, 2007, H. 3, S. 367-384, hier S. 369. Alexander, Shaw, Curth 2004, S. 569; De Grazia 1997, S. 122. Cleveland, Harlan: The problems of Western Europe’s competitive position (19.7.1949), S. 2f., NA RG 469, Entry 9, Box 2. Vgl. De Grazia 1997, S. 120f.; De Grazia 1998, S. 59; Kaelble 1997, S. 175f. Vgl. zu dieser Problematik zusammenfassend z. B. die Auswertung der MSA-Kurse in den einzelnen europäischen Ländern: MSA Mission Monthly Report Lindahl Food Marketing Team (15.4.1953), NA RG 469, Entry 337, Box 26. Auch: Internationale Erfahrungen mit der Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 25.2.1956.
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sich vielmehr der Verhaftung am traditionellen europäischen Konsummodell und dem entsprechenden Selbstverständnis der Einzelhändler zuschreiben. Über die hohe soziale Stratifizierung des Konsumverhaltens hinaus, zeichnete sich der europäische Verbraucher laut zeitgenössischen vergleichenden Untersuchungen durch den häufigen, meist täglichen Einkauf in einem nahe gelegenen Geschäft zu Fuß aus, was sich grundlegend von der US-amerikanischen Praxis des „motorisierten Wocheneinkaufs“ unterschied.410 Einen zentralen Faktor für die räumlichen und zeitlichen Muster des Einkaufsverhaltens bildete die unterschiedliche Siedlungsstruktur in den meisten europäischen Ländern und den USA. Europa war nicht nur dichter besiedelt, sondern verfügte auch über eine weniger strenge Trennung zwischen Arbeits- und Wohnbereichen.411 Darüber hinaus betonten die Studien, dass die Mehrheit der europäischen Hausfrauen mehr Rohstoffe und weniger vorbereitete Lebensmittel oder Fertigprodukte kaufte als die Amerikanerin. Trotz dieser und anderer Gemeinsamkeiten wurden im Bereich des Lebensmittelkonsums immer wieder entscheidende Differenzen zwischen den einzelnen Nationen festgestellt, die aus den sehr unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten und regionalen Esskulturen resultierten.412 Die technischen, materiellen und organisatorischen Voraussetzungen, die für die Einführung der Vertriebsinnovationen notwendig waren, gestalteten sich in den meisten europäischen Ländern strukturell ähnlich. Seit Anfang der 1950er Jahre wurden deshalb erste gemeinsame Versuche zur Problemlösung in verschiedenen Bereichen und zur Erarbeitung konkreter Rationalisierungsmaßnahmen unternommen. Für die erfolgreiche Kooperation spielte der persönliche Kontakt, den Fachleute und Praktiker auf Reisen innerhalb Europas etablierten, eine ebenso wichtige Rolle wie für den transatlantischen Transfer. Anhand der in diesem Zusammenhang entstandenen Erfahrungsberichte und Reisedokumentationen lassen sich einige spezifische Merkmale des innereuropäischen Austauschs erkennen. Seit dem Beginn der 1960er Jahre begann der europäische Reiseverkehr anlässlich der Modernisierungsbemühungen im Einzelhandel den transatlantischen Transfer proportional zu überwiegen. Er basierte zum Großteil auf der Initiative 410
411 412
Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 100. Vgl. Kaelble 1997, S. 185. Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955; Mc Creary 1964, S. 95f.; The fifth International Food Congress, in: SMM, 11/1962.
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der Einzelhandelsunternehmen, der Einzelhandelsverbände sowie der Industrie- und Handelskammern und des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT). Europaübergreifend vermittelnd agierten auch hier andere industrielle Unternehmen wie die NCR.413 Auffallend ist die führende Rolle der Konsumgenossenschaften, die seit 1949 zu den ersten Unternehmen zählten, die einen regen Reiseverkehr mit anderen europäischen Ländern praktizierten. In den frühen 1960er Jahren verstärkten die Einkaufsgenossenschaften und freiwilligen Ketten den Austausch mit den entsprechenden Schwesterunternehmen in anderen Ländern. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Der Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Einzelhandelsunternehmen erfolgte dabei wechselseitig, d. h. westdeutsche Delegationen reisten ins Ausland und europäische Besucher kamen – über den gesamten Untersuchungszeitraum – immer auch in die Bundesrepublik Deutschland. Hinsichtlich der Reiseziele sind ebenfalls einige Besonderheiten zu erkennen. Die durch deutsche Fachleute am häufigsten frequentierten Anlaufstationen waren an erster Stelle Schweden, dann die Schweiz und an dritter Stelle England. (Vgl. Anhang, Tabelle 9) Diese drei Länder nahmen innerhalb Europas eine aktive Vorreiterrolle bei der Innovation im Vertriebswesen ein. Hinsichtlich der Verbreitung der Selbstbedienung in Europa zeigte sich in den 1950er und 1960er Jahren grundsätzlich ein starkes Nord-SüdGefälle.414 (Vgl. Anhang, Tabelle 2) In den genannten Staaten hatte der Einzelhandel in der Nachkriegszeit in geringerem Maße mit den materiellen und finanziellen Folgen des Krieges zu kämpfen und der Lebensstandard lag höher als in anderen europäischen Ländern. Natürlich zeichneten sich die europäischen Länder bereits vor dem Zweiten Weltkrieg durch ungleiche konsumgesellschaftliche Niveaus aus, die in den Quellen z. B. auf die unterschiedliche Verteilung und Entwicklung von urbanen und ländlichen Regionen sowie den Grad der Industrialisierung zurückgeführt werden.415 Gleich 413
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415
Brief Nationale Registrierkassen Augsburg an IHK Duisburg-Wesel, betr. Besichtigung von Gemeinschaftseinrichtungen des Einzelhandels in Schweden (9.8.1968), RWWA 20/2320/5; Zimmerman 1955, S. 292. Vgl. für die Niederlande: Rutte, Gerard; Koning, Josee: De Supermarkt. 50 jaar geschiedenis, Baarn 1998, S. 48 und für Großbritannien: Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 815. Wilkens 1967, S. 62. Vgl. zur Verbreitung der Selbstbedienung in Europa auch: Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 97; Priess, Friedrich: Leistungen und Kosten in Selbstbedienungsläden, Köln 1952, S. 88. Für die Niederlande stellen Rutte u.a. ebenfalls eine starke Orientierung am Schweizer Vorbild fest. Rutte, Koning 1998, S. 70f. Urwick 1931, S. 160; Wilkens 1967, S. 9, 64.
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zeitig war die Einzelhandelslandschaft Schwedens, der Schweiz und Englands in den 1950er Jahren durch die herausragende Stellung der Konsumgenossenschaften geprägt. Sie nahmen in allen Ländern nicht nur eine starke Wettbewerbsposition ein, sondern beteiligten sich auch maßgeblich an der Einführung und Verbreitung der Selbstbedienung. Für die Zeitgenossen repräsentierte Schweden das „Amerika Europas“ – immer wieder betonte man die Fortschrittlichkeit des schwedischen Einzelhandels und im gleichen Atemzug dessen starke Ausrichtung am amerikanischen Vorbild.416 Schröter ist der Meinung, dass die rasche und frühe Ausbreitung US-amerikanischer Ideen in Schweden u. a. auf die umfangreichen und langjährigen traditionellen familiären Beziehungen zwischen den beiden Ländern zurückzuführen sei.417 Neben dem ausgeprägten Reiseverkehr und den damit verbundenen Möglichkeiten des praktischen Anschauungslernens etablierten sich seit den frühen 1950er Jahren auf europäischer Ebene eine Reihe von Organisationen und Vereinigungen, die sich mit der Modernisierung des Vertriebswesens im Allgemeinen und mit der Selbstbedienung im Speziellen befassten. Diese können als selbstkoordinierte Netzwerke verstanden werden, die alternativ zu den Strukturen von Markt und Politik agierten.418 Dabei gaben konkrete Probleme, wie z. B. die Verpackung, der Verkauf von Frischwaren wie Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst oder die neuartige Möblierung von Selbstbedienungsläden, den Anlass, neue länderübergreifende Fachverbände zu gründen.419 Im Rahmen der Netzwerke wurden Erfahrungen zu 416
417 418 419
Gesamtbericht über die Studienreise der Handelsreferenten deutscher Industrie- und Handelskammern nach Schweden 25.-30.5.1965, (10.9.1965), S. 1; RWWA 20/2320/3. Bezeichnend v. a. S. 12: „Der schwedische Käufer erwirbt ohne Rücksicht auf gewohnheitsmäßige Bindungen an bestimmte Einzelhandelsgeschäfte seine Waren dort, wo er glaubt, sie am besten, billigsten und bequemsten bekommen zu können. Er bevorzugt im allgemeinen keinen bestimmten Geschäftstyp; einmal werden billigste Waren in Großpackungen zu Diskontpreisen in vielfach sehr primitiv eingerichteten Selbstbedienungswarenhäusern erworben, ein anderes mal (sic!) hochwertige Güter in aufwendig eingerichteten und relativ teuren Fachgeschäften und Großwarenhäusern. Die Nivellierung in der Massengesellschaft scheint im Wohlfahrtsstaat Schweden besonders weit fortgeschritten. Die Unterschiede in den Einkaufsgewohnheiten sind sehr gering. Bei problemlosen Artikeln wird im Allgemeinen die Selbstbedienung bevorzugt, bei beratungsbedürftigen Waren fachkundige Hilfe beim Einkauf verlangt.“ Schröter 2004a, S. 151. Vgl. Berghoff 2004b, S .67. Beispiele: 1958 Gründung der INRA EUROPA als erstem gesamteuropäischen Institut für Marktforschung (EWG 15.5.1958); 1948 Gründung der European Society for Opi-
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aktuellen Problemlagen ausgetauscht und gezielt nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten gesucht. Eines der ersten Beispiele war die Europäische Verpackungsvereinigung (EPF), die 1953 unter der Mitwirkung von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Skandinavien, Portugal, der Schweiz und Spanien ins Leben gerufen wurde. Anfang der 1960er Jahre war die Zahl der Mitglieder auf zwanzig Länder und fünf assoziierte Staaten angewachsen. Die Arbeit der EPF basierte auf der Herausforderung, dass nur die flächendeckende Einführung standardisierter und typisierter Verpackungen eine Modernisierung des Verkaufens und Einkaufens ermöglichte. Zu ihren Aufgaben zählten die Erstellung eines Fachwörterbuchs zum Thema „Verpackung“ und die Anfertigung von Lehrfilmen.420 Die Tätigkeit der EPF versinnbildlicht damit, dass ein sinnvoller Austausch von Wissen sowie die Kooperation zur Entwicklung neuer Ideen auf einheitlichen Sprachregelungen und gemeinsamen inhaltlichen Definitionen beruhte. 1960 gründeten verschiedene europäische Institutionen, die sich mit der Förderung der Selbstbedienung befassten, die Internationale SelbstbedienungsOrganisation (ISSO). Die Arbeit der ISSO zeigt sich in der Vielzahl von internationalen und europaweiten Publikationen, wie z. B. die seit 1964 jährlich erschienene Broschüre „Self-Service“. Sie gab einen Überblick über die aktuellsten Entwicklungen im Einzelhandel – von der Anzahl an Selbstbedienungsgeschäften und Supermärkten, über die Größenklassen der Lebensmittelgeschäfte bis zu den Anteilen der Betriebsformen an den Selbstbedienungsläden und Supermärkten in den einzelnen Ländern.421 Auch für das deutsche Pendant – das Institut für Selbstbedienung (ISB) – nahm die Übersetzung und Veröffentlichung von Fachartikeln aus ganz Europa einen zentralen Stellenwert ein. Neben der relativ überschaubaren Anzahl von dauerhaften Institutionen kam es zur Netzwerkbildung und dem Austausch von Wissen zwischen den europäischen Einzelhändlern und Experten aus anderen Bereichen bei konkreten Veranstaltungen. Europäische Fachleute aus dem Bereich des Einzelhandels, der Werbung, der Verpackungsindustrie sowie der Markt- und 420
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nion Survey and Market Research (ESOMAR) (Schröter 2004b, S.327f.); Internationales Treffen des unternehmerischen Fachladenbaus, in: Fachblatt SB, 8/1958, S. 10. Aus der Geschichte der europäischen Verpackungs-Vereinigung, in: Die neue Verpackung, 7/1958. Deutsch, Paul: Die Betriebsformen des Einzelhandels. Eine betriebswirtschaftliche Struktur- und Entwicklungsanalyse auf internationaler Ebene, Stuttgart 1968, S. 120f.; ISSO: Selbstbedienung 1964-69.
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Konsumforschung organisierten einmalige oder immer wieder stattfindende Tagungen und Kongresse. Herausragende Initiatoren dafür waren z. B. die Stiftung Im Grüene in der Schweiz, der deutsche Club für Moderne Markt Methoden (MMM-Club) oder die nationalen Selbstbedienungsinstitute. So initiierte die britische Self-Service Development Association 1955 in London einen mehrtägigen Workshop zu allen Fragen rund um die Selbstbedienung, den Fachleute des Einzelhandels, der Verpackungs-, Ladenbau- und Tiefkühlindustrie, Verbraucherverbänden u. v. m. gestalteten und der eine große Resonanz unter deutschen Einzelhändlern und anderen Interessenten erfuhr.422 Die europäische Vernetzung des Einzelhandels in lockeren, nach fachlichen und aktuellen Interessenslagen ausgerichteten Veranstaltungen und Organisationen wurde in den 1950er und 1960er Jahren durch die zunehmende Kooperation der nationalen Einzelhandelsunternehmen auf europäischer und internationaler Ebene ergänzt. Die Filialbetriebe, die selbständigen Einzelhändler, die Einkaufsgenossenschaften, die Konsumgenossenschaften und die freiwilligen Ketten begannen national übergreifend mit Schwesterunternehmen in anderen europäischen Ländern zusammenzuarbeiten. Da sie jeweils auf der Grundlage ähnlicher oder gleicher betrieblicher Strukturen und unternehmerischer Prinzipien operierten, bedingte diese Form der Vernetzung einen besonders positiven „spill-over“-Effekt.423 Die Unternehmer ließen sich von den Problemlösungsstrategien der Schwesterunternehmen inspirieren und versprachen sich davon nicht zuletzt entsprechende Wettbewerbsvorteile im eigenen Land. Zum Teil konnten die Einzelhändler dabei auf traditionelle Netzwerke zurückgreifen. Die westdeutschen Konsumgenossenschaften z. B. nahmen nach 1945 ihre Arbeit im 1895 gegründeten Internationalen Genossenschaftsbund (IGB) wieder auf. Innerhalb des „Ausschußes für Rationalisierung der Warenverteilung“ wurde bereits 1951 ein „Arbeitsausschuss für Selbstbedienung“ eingerichtet, der zunächst aus einem schwedischen, schottischen, finnischen und Schweizer Vertreter bestand und weitere Spezialisten aus anderen Ländern zur Bera-
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Brief von Bundesministerium für Wirtschaft (II S 1) an den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, betr. OEEC-Dokumente EPA/EC/1862 und 2023 vom 17.1. und 7.2.1955, Conference on Self-Service im April 1955 in London (Fiche 29) und Programm: 12.4.-14.4.1955 in London (Fiche 41-44), BAK B146/1107. Vgl. für andere Veranstaltungen: Dr. Gross: „Ein Unternehmen leiten heißt Zukunft gestalten“. Zweiter MMM-Kongreß diskutierte über Chancen in dynamischen Märkten, in: EdekaRundschau, 6./13.3.64. Vgl. Berghoff 2004b, S. 68.
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tung heranzog.424 In diesem Rahmen empfahl man 1953 die Einrichtung eines Supermarktes mit einer Grundfläche von 1000 m2, wie es ihn in Stockholm gab, als beispielhaftes Vorbild für die anderen Genossenschaftsländer.425 Darüber hinaus kamen Konsumgenossenschaftler aus der Schweiz, Österreich und der Bundesrepublik Deutschland jährlich in den so genannten „Gemeinschaftswochen“ zum Erfahrungsaustausch über aktuelle Probleme des Einzelhandels zusammen.426 Die sehr spezifische betriebliche Struktur und Unternehmenskultur der Konsumgenossenschaften förderte neben der ausgeprägten internationalen Ausrichtung der konsumgenossenschaftlichen Idee sicher die besonders frühe und besonders enge Zusammenarbeit mit „gleichgesinnten“ Schwesterfirmen.427 Für die anderen Betriebsformen des westdeutschen Einzelhandels, wie die Einkaufsgenossenschaften und die Filialunternehmen, lässt sich ebenfalls ein zunehmender Austausch von Erfahrungen und Informationen im Rahmen von Arbeitskreisen und Weiterbildungen beobachten. So lud z. B. die Edeka 1954 Vertreter aus neun Ländern zu einer „Arbeitswoche der Einkaufsgesellschaft und -genossenschaften“ über aktuelle Probleme im Verkauf ein. 1956 trafen sich finnische, schwedische und Schweizer Ladenbauarchitekten beim Edeka-Werbedienst in Hamburg zu einem „Gedankenund Erfahrungsaustausch über die Ladenmodernisierung“.428 Andere Zusammenschlüsse, die eine Plattform für ähnliche Austauschbeziehungen boten, waren das 1953 gegründete Internationale Komitee der LebensmittelFilialbetriebe (CIES), die internationalen Zusammenschlüsse der Klein-, Mit 424
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Bericht über die 1. Tagung des „Ausschuß für Rationalisierung der Warenverteilung“ im „Internationalen Genossenschafts-Bund“ am 13. Dezember 1951; FfZ 18-6, 5.14. Auch: Rationalisierung der Warenverteilung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.1.1952; Selbstbedienung im Dienste des Verbrauchers, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Tagungsbericht, Sitzung des gesamten Rationalisierungs-Ausschusses des IGB, Mittwoch, den 26. August 1953, in: Klein, Fritz: Bericht über eine Autoreise nach Dänemark und Schweden vom 21.-31. August 1953 (10.9.1953), FfZ 18-6, 5.14. Erfahrungsaustausch – über die Grenzen hinweg, in: Haushalt und Heim, 11/1955, FfZ 11-P5. Vgl. z. B. zur schon sehr frühen Rezeption des englischen, schwedischen und Schweizer Vorbilds durch die westdeutschen Konsumgenossenschaften: Selbstbedienung in Schweden, 42 genossenschaftliche Selbstbedienungsläden in der Schweiz, Englische Erfahrungen mit dem Selbstbedienungssystem, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 24.3.1951. Vgl. Scholten 2004, S. 173. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1953, S. 11; Jahresbericht 1956, S. 19, WWA S7/577; „Ihr Deutschen habt mächtig aufgeholt!“. Edeka Ladenbau-Informationstreffen in Hamburg, in: Edeka-Rundschau, 6/7/1958.
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tel- und Großbetriebe wie die Internationale Vereinigung der Klein- und Mittelbetriebe (IVKMH) oder die Internationale Vereinigung der größeren Betriebe des Einzelhandels (FIGED).429 Eine eigene Form der europäischen Integration des Einzelhandelssektors der 1950er Jahre stellten die multinational operierenden freiwilligen Ketten dar.430 Als erste freiwillige Handelsketten in der Bundesrepublik Deutschland wurden 1950 die A&O und 1953 die Spar gegründet. Letztere entstand auf Anregung der seit 1932 bestehenden niederländischen Spar und war Ende der 1950er Jahre in zehn europäischen Ländern unter Federführung der Internationale SPAR Centrale N.V. mit Sitz in Amsterdam vertreten. Andere international organisierte freiwillige Ketten waren die VIVO International (Rotterdam), die T.I.P. International (Amsterdam) oder die Coöperatieve Vereniging CENTRA International (Utrecht). Die Vertreter der nationalen Unternehmen fanden sich regelmäßig auf Tagungen und Kongressen zusammen, um gemeinsame Probleme und mögliche Lösungsansätze zu diskutieren.431 Über diese Netzwerkbeziehungen hinaus entwickelten die freiwilligen Ketten, aber auch die Einkaufsgenossenschaften zunehmend länderübergreifende ökonomische Aktivitäten. Daraus ergaben sich konkrete wirtschaftliche Zusammenschlüsse wie z. B. die 1964 gegründete Inter-Einkauf mit der Edeka oder die Eurogroup mit der Rewe als westdeutschen Mitgliedern. Die Eurogroup führte 1967 eine national übergreifende Handelsmarke für den Verkauf in ihren Unternehmen ein, Anfang der 1970er Jahre zielte man dann auf die Schaffung eines integrierten, multinationalen Handelsunternehmens.432
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Vgl. z. B.: Auszug aus den Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des Deutschen Industrie- und Handelstages Bonn (19.10.1962), BWA K9/2655; Rationalisierung der Distribution als permanente Aufgabe, in: Edeka-Rundschau, 10a/1964. Im Laufe der 1950er Jahre entstand neben der Anknüpfung an frühere Traditionen eine Vielzahl von europäischen und internationalen Zusammenschlüssen des Einzelhandels. Neben den bereits erwähnten Verbänden zählten z. B. der Rat der Handelsverbände Europas, die Internationale Handelskammer oder das Komitee der EWG-Handelsverbände. In ihrem Arbeitsbericht von 1959 beklagte die HDE sogar eine „Organisationswut“ der Zusammenschlüsse. HDE: Arbeitsbericht 1959, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4, S. 97. Vgl. Disch 1966, S. 130; Gloor 1963, S. 109; Jefferys, Knee 1962, S. 78; Wilkens 1967, S. 24. Vgl. Was die Konkurrenz zeigt, in: Der neue Weg, 1/1959. Disch 1966, S. 129f.; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1965, S. 10, Geschäftsbericht 1966, S. 8, Geschäftsbericht 1967, S. 9, Geschäftsbericht 1971, S. 9, WWA S7/572. Weitere Mitglieder der Eurogroup waren neben der Rewe die ICA (Schweden), die Londis Grovisions (England), die UNA (Frankreich), der Sperwer-Verbond (Niederlande) und die Trica (Dänemark).
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Ein Schwerpunkt der europäischen Zentralen der multinationalen Unternehmen lag auf der Beschaffung und Verteilung von Waren an die nationalen Einzelhandelsbetriebe. Diese Vorgänge sind in enger Verbindung mit der zunehmenden Standardisierung von Waren, Verpackungen, technischen Abläufen und Geräten im Rahmen des sich entwickelnden europäischen und internationalen Marktes zu sehen. Sie stellten sowohl Auslöser dieser Normierungs- und Standardisierungstendenzen als auch deren Konsequenzen dar. Neben den logistischen und organisatorischen Anforderungen musste mit dieser Aufgabe die Förderung einer effizienten Absatzpolitik der vielen, einzelnen Geschäfte verbunden sein, um die komplexe Warenzirkulation in Bewegung zu halten.433 Das immer internationalere und umfassendere Warensortiment in den äußerst differenzierten Einkaufsstätten der 1960er und 1970er Jahre, wie z. B. den Supermärkten und Verbrauchermärkten, erforderte eine minutiöse Planung des Verkaufsvorgangs. Dieser umfasste eine zentrale, einheitliche Steuerung des Managements und der Arbeitsabläufe, der Ladeneinrichtung und der Technik, ebenso wie die nationale und regionale Standort- und Konsumenten-orientierte Vertriebspolitik. Die auf den ersten Blick gegensätzlich wirkenden Entwicklungen von Standardisierung und Differenzierung als Folgen des immer größeren werdenden europäischen Binnenmarktes waren hier aufs Engste miteinander verknüpft. Auf Regierungsebene legte bereits die 1948 gegründete OEEC die Grundlagen für die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern zugunsten der Förderung der Produktivität in der Wirtschaft und zur Hebung des Lebensstandards. Neben den erwähnten EPA-Projekten, bei denen europäisch gemischte Gruppen in die USA reisten und der Reiseverkehr innerhalb Europas gefördert werden sollte, wurden im Auftrag der OEEC eine Reihe von vergleichenden Studien durchgeführt. Sie befassten sich mit dem Entwicklungsstand der Produktivität im Einzelhandel und sollten eine Arbeitsgrundlage für weitere konkrete Maßnahmen bilden.434 Mit der Intensivierung der Zirkulation von praktischem und theoretischem Wissen zwischen den europäischen Ländern versuchte man, die Leistungen des Einzel 433
434
Vgl. zum entsprechenden Themenspektrum: Internationaler Erfahrungsaustausch im Zeichen europäischer Kooperation, in: Edeka-Rundschau, 8/1967; Im Zeichen europäischer Zusammenarbeit, in: Edeka-Rundschau, 10/1968. Henksmeier 1961; Jefferys 1954; Magnus-Hannaford 1959; Moss 1958. Zu den europäischen Studienreisen zur Selbstbedienung: Sitzung der Ad-Hoc Fachgruppe „Produktivität im Vertrieb“ bei der OEEC, Europäisches Produktivitäts-Büro, Sitzung des SubKomitees für Produktivitätsstudien, Überarbeitete Empfehlungen (10./11.12.1953), BAK B146/1107.
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handels insgesamt zu verbessern.435 So schlugen Jefferys u. a. in ihrer 1954 veröffentlichten Studie die Bildung einer gesamteuropäischen Kommission zum Studium und zur Förderung der Selbstbedienung sowie anderer neuer Vertriebsformen vor. Darüber hinaus empfahlen sie die Erstellung eines Handbuches durch die EPA, das die Einzelhändler in ihren Bemühungen um die Einführung der Selbstbedienung unterstützen sollte.436 1961 erschien die von Karl-Heinz Henksmeier koordinierte Studie zu den wirtschaftlichen Leistungen der Selbstbedienung in 13 OEEC-Ländern. Ihr Ziel war ebenfalls nicht nur, den Erfahrungsaustausch zwischen den Ländern zu koordinieren, sondern auch gezielte Maßnahmen zur Kostensenkung im Einzelhandel und zur Förderung der Selbstbedienung zu erarbeiten.437 Über die tatsächliche Wirksamkeit der Studien in der konkreten Praxis allerdings lässt sich aus dem reinen Impetus heraus kein Urteil fällen. Mit der Gründung der EWG 1957 entstand für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungstendenzen im Einzelhandel eine neue Plattform. Wie die erste Zusammenkunft der leitenden Regierungsvertreter für Fragen des Binnenhandels 1961 unterstrich, enthielt der EWG-Vertrag zwar keine konkreten Bestimmungen zum Handel, allerdings berührten die Handelsbeziehungen zwischen den Ländern und die Freizügigkeit des Warenverkehrs in weiten Teilen. Die Politiker kamen zu dem Schluss, dass – neben der Analyse rechtlicher und steuerlicher Besonderheiten der nationalen Einzelhandelslandschaften – die Entwicklung der Verkaufsformen genauer beobachtet werden sollte. Ihrer Meinung nach bildeten Selbstbedienung und Supermärkte länderübergreifend nicht zu unterschätzende, dynamische Faktoren im Einzelhandel. Gleichzeitig stellten sie in den Augen der Regierungsvertreter aber auch ein wirtschaftspolitisches Problem dar, weil sie in vielen Ländern auf starke Ablehnung durch die traditionellen Einzelhändler stießen.438 Die neuen Rahmenbedingungen des gemeinsamen Marktes, der im Zuge der EWG entstand, nahm die Fachöffentlichkeit für den Einzelhandel als Chance und Herausforderung wahr. Schreiterer resümierte 1959: 435 436 437 438
Ebd., S. 7. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 151f. Henksmeier 1961, S. 7. Britsch, Walter: Bericht über die erste Zusammenkunft der leitenden Beamten für Binnenhandelsfragen aus den Mitgliedsländern der EWG am 28.2.1961 (1.3.1961), BAK B102/35911. Vgl. zum Problem der Handelsgesetzgebung: Dohrendorf, Heinrich: Was erwartet der deutsche Handel von EWG und FHZ?, in: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 31.3.1958, S. 109-111, hier S. 110.
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„Mit dem Abbau der Zölle und Handelshemmnisse, mit der Herstellung eines gemeinsamen Außenzolltarifs und schließlich mit der Schaffung der angestrebten Wirtschaftsunion erfolgt auch eine neue betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Handelswege und der Betriebspolitik mit dem Ziel einer rationelleren Warenverteilung. In Sprache der Praxis übersetzt bedeutet das: Mehr – besser – billiger – rascher – verkaufen!“439
Es eröffneten sich neue Möglichkeiten für die Steigerung des Absatzes, der sich zugleich einer differenzierten Konsumentenstruktur anpassen musste. Die hauptsächliche Problemlage bestand für den Einzelhandel darin, ein zunehmend breiteres und differenziertes Sortiment anzubieten. Für Selbstbedienungsgeschäfte führten v. a. die Europäisierung und Internationalisierung des Warenangebotes, die stärkere Einbeziehung von NichtLebensmitteln, die Vergrößerung der Verkaufsräume sowie die Notwendigkeit der zunehmenden technischen Rationalisierung zu weitreichenden Konsequenzen.440 Die neuartige Komplexität der Handelstätigkeit vor dem Hintergrund des europäischen Marktes und das Wissen darum schufen eine neue Herausforderung. Ziel musste es sein, die Ebene des nationalen und zum Teil auch des europäischen Wettbewerbs zu überblicken und auf der Grundlage dieser Kenntnisse handlungs- und konkurrenzfähig zu agieren. Die damit verbundene Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Tätigkeiten trug zur Vergrößerung der Unternehmen bei. Der Wettbewerb für kleine und mittlere Einzelhandelsbetriebe gestaltete sich dagegen immer schwieriger.441 Für die Investitionsfähigkeit und die Kapitalstärke der Einzelhandelsunternehmen
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Schreiterer 1959, S. 3 (Hervorhebung im Original). Ebenso: Lickey 1957, S. 379. Auch die Hersteller von Einrichtungsgegenständen und der technischen Ausstattung der Einzelhandelsgeschäfte begannen auf die neuen Marktbedingungen zu reagieren. So produzierte z. B. die Firma Linde, die u. a. auf Tiefkühl- und Regalsystem für den Lebensmittelhandel spezialisiert war, unter dem Namen „Linde Europa-S-Programm“ zunehmend international standardisierte Einrichtungen. Vgl. Anzeige von Linde, in: Rewe-Echo, 4/1968. Schreiterer, Gerhard: Absatz- und Verkaufsprobleme des Handels im Gemeinsamen Markt, in: Der Markenartikel 1959, S. 3-9, hier S. 5. Vgl. Der Handel im Gemeinsamen Markt, in: Der Einzelhändler, 11/1962; Dohrendorf 1958, S. 109; HDE: Arbeitsbericht 1957, S. 116f., Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Menzel, Bernhard: Die Rewe Gruppe. Auftrag der Gegenwart, Köln 1962, S. 10; Münchmeyer, Alwin: Chancen für kleinere Unternehmen, in: EWG 15.11.1958; Der Einzelhandel und die wirtschaftliche Einheit Europas (9/1952), WWA K3/ 1294. Darüber hinaus hatte man auch Bedenken, dass sich der Wettbewerb aufgrund der Mobilität der Arbeitskräfte verschärfen würde. HDE, Arbeitsbericht 1957, S. 116; Schreiterer 1959, S. 8.
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entstanden ebenfalls neue Maßstäbe. Die Edeka plädierte aus diesem Grund Anfang der 1960er Jahre für die Schaffung so genannter „Programmierungsstäbe“, die „die wesentlichen Entwicklungsfaktoren erkennen und darauf basierend die betriebswirtschaftlich und -organisatorisch, ferner einund verkaufspolitisch sowie strukturell notwendigen Entscheidungen vorschlagmäßig vorbereiten“ sollten.442 Auch die Zunahme an Gründungen von internationalen Zusammenschlüsse der freiwilligen Ketten und der Einkaufsgenossenschaften seit Ende der 1950er Jahre erwies sich in diesem Sinne als eine Reaktion auf die veränderten Marktbedingungen.443 Mit der Einführung der Niederlassungsfreiheit für Einzelhandelsunternehmen 1966 erhielten die Dimensionen des Wettbewerbs rein rechtlich noch einmal eine neue Qualität. Auch wenn sich die Europäisierung der Einzelhandelsunternehmen im Lebensmittelsektor im Laufe der 1960er Jahre allmählich und regional verschieden entwickelte, kam es v. a. in Grenzregionen zu Konflikten, wie z. B. die ausführliche Diskussion der Wettbewerbssituation des Einzelhandels an der deutsch-niederländischen Grenze durch die Industrie- und Handelskammern deutlich macht.444 Trotzdem ergab diese Entwicklung für die 1960er und die frühen 1970er Jahre kein umfassendes Problem für den bundesdeutschen Einzelhandel, was sicherlich mit der Tatsache zusammenhängt, dass die Freizügigkeit und gemeinschaftliche europäische Regelung in anderen wirtschaftlichen Bereichen, wie in der Wettbewerbspolitik, dem Arbeitsmarkt, Verkehrswesen relativ eingeschränkt blieb und somit den Einzelhandel in gewisser Weise tangierte.445 Die Analyse der transatlantischen, internationalen und europäischen Transferbeziehungen im Verlauf des Innovationsprozesses im bundesdeutschen Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre hat gezeigt, dass diese sich aus einer Vielzahl von miteinander verschränkten und vernetzten Aushandlungsprozessen zusammensetzten. Dabei sind hinsichtlich der beteiligten 442 443
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Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1962, S. 10, WWA S7/577. HDE: Arbeitsbericht 1957, S. 116, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Menzel, Bernhard: Der europäische Markt und der Einzelhandel, in: Rewe-Echo, 4/1967. Der Handel im Gemeinsamen Markt, in: Der Einzelhändler, 11/1962; Der Wind des Wettbewerbs bläst scharf aus allen Ecken, in: Rewe-Echo, 6/1965; Wettbewerbslage des Einzelhandels an der deutsch-niederländischen Grenze (1954-63), WWA K5/24872494. In den Akten beschwerten sich westdeutsche Einzelhandelsfirmen im niederländisch-deutschen Grenzgebiet darüber, dass die deutschen Konsumenten zunehmend ihren Einkauf in niederländischen Unternehmen tätigten, die die Kunden zum Teil mit günstigeren Preisen und mit einer in den Augen der deutschen Firmen aggressiven Werbung lockten. Vgl. Brunn 2004, S. 161f.
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Akteure und ihrer Motivation, der Strategien des Wissensaustausches, aber auch hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und Interessenlagen im Laufe des Untersuchungszeitraums vielfach Verschiebungen zu beobachten. Während die USA in der Anfangszeit der Einführung der Selbstbedienung im bundesdeutschen Einzelhandel eine aktive Vorbildfunktion ausübten und als Katalysator für die Modernisierung wirkten, nahm mit der Verbreitung der neuen Verkaufsformen außerhalb der Vereinigten Staaten die Bedeutung innereuropäische Referenzpunkte zu. Trotzdem blieb der US-amerikanische Einzelhandel auch bei der Einführung späterer Innovationen wie dem Supermarkt, dem Discounter oder dem Einkaufszentrum ein zentrales Leitmodell. Für den Wandel der Transferformationen waren Verschiebungen im internationalen Kräftefeld ebenso ausschlaggebend wie die Eigendynamik der Aneignungsprozesse.446 Im Anschluss an die Phase des Wiederaufbaus im Einzelhandel in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielten die USA und die institutionellen Angebote der US-amerikanischen Wiederaufbaupolitik eine wichtige Rolle bei den ersten Modernisierungsversuchen. Allerdings erlangten die europäischen Länder bald mehr Eigenständigkeit im Rahmen der US-amerikanisch initiierten Hilfsplanung durch die „Nationalen Produktivitätszentralen“ auf nationaler Ebene und auf europäischer Ebene durch die OEEC. Da sich mit dem wirtschaftlichen und politischen Erstarken der europäischen Staaten der Fokus der Einzelhändler stärker auf ähnliche Entwicklungen im näheren Umfeld richtete, kam es zur eigenständigen Entwicklung von Austauschbeziehungen und Ideen zur Problemlösung.447 Die Intensivierung der Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Netzwerke war dabei v. a. für die Ausdifferenzierung und die flächendeckende Verbreitung der neuen Verkaufsformen von Bedeutung. Neben den regelmäßig stattfindenden Ausstellungen und Messen etablierten sich unternehmerische und fachliche Interessensverbände, die einen kontinuierlichen Austausch pflegten. In diesem Rahmen verschränkten sich staatliche, privatwirtschaftliche und verbandsorganisatorische Ebenen eng miteinander. Parallel zu den innereuropäischen Entwicklungen blieb allerdings der Kontakt mit den US-amerikanischen Praktikern und Experten sowie das Interesse an der Entwicklung des Einzelhandels und der Verkaufsformen in den USA dauerhaft bestehen und bildete immer einen wichtigen Bestandteil der Auseinandersetzung mit der Modernisierung des „europäischen“ und
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Vgl. Eisenberg 2003, S. 407. Vgl. Scholten 2004, S. 173; Schröter 2001, S. 263. Vgl. auch: Boel 1997, S. 117; Mc Glade 2000, S. 70.
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„nationalen“ Vertriebswesens. Deshalb sind die beschriebenen Prozesse von „Amerikanisierung“ und „Europäisierung“ in engem Zusammenhang zu sehen. Das skizzierte Zusammenwirken der verschiedenen Akteure, ihrer Strategien und Wissenskanäle auf transatlantischer, internationaler und europäischer Ebene spricht dafür, den Transferprozess als Teil einer selektiv und flexibel gestalteten Westernisierung zu verstehen, bei der sich nationale, europäische und amerikanische Interessen im Prozess der Aushandlung um die Etablierung der Massenkonsumgesellschaften und dem dazu passenden Distributionssystem befanden.
IV.
Die Transformation der bundesdeutschen Verkaufslandschaft
1. Der Übergang von der Bedienung zur Selbstbedienung 1.1 Der Einzelhandel im Experimentierstadium 1949-1957 1.1.1 Hindernisse für die Umstellung der Läden: Die Ausgangsbedingungen der frühen 1950er Jahre Die Hamburger Konsumgenossenschaft Produktion eröffnete im August 1949 den ersten bundesdeutschen Selbstbedienungsladen nach dem Zweiten Weltkrieg. In seiner Anfangszeit verzeichnete der Laden eine sehr positive Bilanz. Trotzdem erfolgte die Einrichtung weiterer Selbstbedienungsläden erst zögerlich im Laufe des nächsten Jahres.1 (Vgl. Anhang, Tabelle 3) Bis 1957 stieg die Zahl der Selbstbedienungsgeschäfte allmählich auf 1379 und erreichte danach sprunghafte jährliche Zuwachsraten von bis zu 300 Prozent. Zu Beginn waren die Filialbetriebe und die Konsumgenossenschaften bei der Umstellung auf Selbstbedienung führend, während die selbständigen Einzelhändler bis zur Mitte der 1950er Jahre besonders große Zurückhaltung zeigten. (Vgl. Anhang, Tabelle 4) Neben einer Reihe von technischen, finanziellen und betriebswirtschaftlichen Schwierigkeiten hatte die Selbstbedienung bis in die späten 1950er Jahre mit Widerständen von verschiedenen Seiten zu kämpfen. Besonders die skeptische bis ablehnende Haltung vieler Einzelhändler gegenüber der neuen Verkaufsform verdeutlichte, in welcher Weise neue Ideen auf traditionell bewährte Vorstellungen und Praktiken trafen. Die Umstellung von Bedienung auf Selbstbedienung in der Praxis sowie die Diskussion über die damit verbundenen Vor- und Nachteile waren dabei von den umfassenden wirtschaftlichen und soziokulturellen Wandlungsprozessen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte bestimmt. Gleichzeitig prägten die unterschiedlichen Einzelhandelsbetriebe mit ihrer jeweils individuellen Unternehmenskultur und -politik den Strukturwandel des Vertriebswesens maßgeblich. Ausgehend davon stehen in den nachfolgenden Ausführungen die Aneignungs- und Lernprozesse der bundesdeutschen Einzelhandelsunternehmer 1
Vgl. Erste Erfahrungen mit der Selbstbedienung in Hamburg, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1950. Die Konsumgenossenschaft Produktion hatte bereits in den 1920er Jahren auf einer Ausstellung mit der Selbstbedienung experimentiert. Vgl. Selbstbedienung schon vor 30 Jahren, in: Der Mitarbeiter, 12/1958, FfZ 18-7, 1.5.
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im Rahmen des Innovationsprozesses der 1950er und 1960er Jahre im Zentrum. Zunächst prägten die spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit die Entwicklung des Einzelhandels. Dabei stellte der Wiederaufbau der Einzelhandelsunternehmen und der einzelnen Lebensmittelgeschäfte anfangs eher ein Hindernis für die grundlegende Modernisierung des Verkaufssystems dar. Die Einzelhandelsgeschäfte waren durch den Zweiten Weltkrieg laut der HDE zu 40 Prozent zerstört worden.2 Entsprechend bestand das zentrale Anliegen in der unmittelbaren Nachkriegszeit darin, die zerstörten Ladenlokale wiederherzustellen oder neue Geschäfte zu eröffnen, sie mit Ladenmöbeln einzurichten und das Warensortiment neu aufzubauen. Für die mehrstufigen Einzelhandelsunternehmen kam der Wiederaufbau der Lager, Produktionsanlagen und des Großhandelsbereichs hinzu.3 Diese Aufgaben banden eine große Summe des knappen Kapitals, so dass kaum finanzielle Ressourcen für die Umstellung auf Selbstbedienung zur Verfügung standen. Als potentiell förderlich für Modernisierungsinvestitionen erwies sich dagegen der nachholende Lebensmittelkonsum der Bevölkerung Anfang der 1950er Jahre. Denn die „Fresswelle“ wirkte sich positiv auf die Umsätze des Einzelhandels aus. Die hohe Nachfrage Eestätigte die Händler aber eher in ihrem Gefühl, dass grundlegende Innovationen nicht notwendig seien.4 Wie bereits in der Zwischenkriegszeit bestand zunächst ein geringer Anreiz zu Neuerungen. Gleichzeitig blieb die Furcht vor einer erneuten Rationierung in den Köpfen der Einzelhändler bis in die frühen 1950er Jahre präsent. Zumindest führten sie deren Gefahren als Grund für ernsthafte Bedenken gegenüber der auf Warenfülle und einem umfassenden Sortiment beruhenden Selbstbedienung ins Feld.5 Zusammen mit mangelnder Erfahrung, der notwendigen Anlaufzeit für die neuen Läden und damit dem subjektiven Empfinden nach unsicheren Erfolgsaussichten förderte dies die Zurückhal-
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HDE: Arbeitsbericht 1954, S. 73, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4. Berger 1972, S. 32; Cornelius-Stüssgen AG: Geschäftsbericht 1957/58, in: Cornelia, 1/1959. Eklöh, Herbert: Der Siegeszug der Selbstbedienung, in: Böckli, Hans Rudolf (Hg.): Neue Aspekte der Selbstbedienung, Rüschlikon 1958, S. 9-18, hier S. 10; Zur Entwicklung der Selbstbedienung, in: Fachblatt SB, 8/1958, S. 5f., hier S. 6. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt Schröter auch für die zögerliche Modernisierung des Werbewesens in der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Schröter 1997, S. 102. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 99; Schucht 1956, S. 33.
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Die Transformation der bundesdeutschen Verkaufslandschaft
tung gegenüber der Selbstbedienung.6 Diese Haltung änderte sich erst mit der Verschärfung des Wettbewerbs ab Mitte der 1950er Jahre grundlegend. Die ersten Überlegungen zur Rationalisierung im Einzelhandel knüpften an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an. Im Fokus stand dabei die innerbetriebliche Rationalisierung, während Maßnahmen zur Effizienzsteigerung im Verkauf erst allmählich an Bedeutung gewannen. Deshalb stieß die Selbstbedienung bis in die frühen 1950er Jahre noch nicht auf umfassendes Interesse.7 Die Entwicklung von gezielten Rationalisierungsmaßnahmen für den Verkaufsbereich verband sich eng mit dem Wiederaufbau der unternehmerischen und der organisatorischen Infrastruktur des Einzelhandelshandelssektors. Anfang der 1950er Jahre begannen die Fach- und Berufsverbände des Einzelhandels sowie die Fachabteilungen der mehrstufigen Unternehmen ihre Arbeit wieder aufzunehmen. In diesem Rahmen überführten sie die theoretischen Überlegungen zum Wiederaufbau und die allgemeine Diskussion über die Rolle des Einzelhandels im neuen wirtschaftlichen und politischen Ordnungssystem in spezifischere Problemüberlegungen und die Auslotung konkreter Handlungsmöglichkeiten. Dabei stellte der im letzten Kapitel thematisierte transatlantische und europäische Wissensaustausch einen zentralen „Push-Faktor“ für die Auseinandersetzung mit der Selbstbedienung dar. Einige Zeitgenossen vertraten die Meinung, dass der Glaube an den Erfolg der neuen Verkaufsform anfangs weniger aus den vereinzelten deutschen Versuchen resultierte, sondern auf die ausländischen Vorbilder zurückzuführen war.8 Die ausschlaggebende Rolle des USamerikanischen und westeuropäischen Orientierungswissens für die bundesdeutschen SB-Vorreiter gründete somit stark auf dem Mangel an Erfahrungswissen im heimischen Kontext. Dort wurde die Selbstbedienung vielmehr als „Experiment“ mit der Methode der „Improvisation“ wahrgenom
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Haben die Mutigen recht?, in: Rewe-Echo, 7/1957; Schreiterer 1955, S. 24; Schucht 1956, S. 14. Vgl. zur frühen Thematisierung von Rationalisierung im Einzelhandel: Brief Leihner (HDE) an Dr. Britsch (13.2.1953), Anlage Referat für den Länderausschuss „Aus der Praxis der Rationalisierung im Einzelhandel“, BAK B102/39484; Brief IHK Duisburg an die Industrie- und Handelskammern NRW und die Vereinigung der Industrie- und Handelskammern NRW, betr. Rationalisierung im Handel (11.4.1951), RWWA 20/2229/2; Fortschrittlich denken!, in: Rewe-Echo, 8/1953; HDE: Arbeitsbericht 1949, S. 14f., ZBW Kiel; Richter, Rudi: Gedanken zur Rationalisierung, in: Edeka-Rundschau, 23.6.1950. Institut für Selbstbedienung, 1988, S. 41. Zur Orientierungsfunktion des Leitbildes auch: Kleinschnidt 2004, S. 261.
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men.9 Gleichzeitig waren erste Umstellungsversuche von Bedienung auf Selbstbedienung damit auch durch das individuelle Ausprobieren der neuen Verkaufsform in der alltäglichen Praxis geprägt. Scholten charakterisiert die Frühphase des Innovationsprozesses in diesem Zusammenhang hauptsächlich als „learning by doing“.10 Parallel zu den ersten erfolgreichen Versuchen mit der Selbstbedienung zeichneten sich schnell eine Reihe grundsätzlicher und langfristiger Probleme im Lebensmitteleinzelhandel ab. Als eines der entscheidendsten Hindernisse für die Durchsetzung der Selbstbedienung erwies sich die Verpackungsfrage, die als viel diskutierte Problemstellung bis in die späten 1950er Jahre aktuell blieb. Nur vorverpackte Waren ließen eine selbständige Bedienung der Kunden zu.11 Jedoch waren Verpackungsmaterialien, wie z. B. Cellophan oder Polyethylen-Folie, im Vergleich zu den USA in der Bundesrepublik Deutschland noch teuer in der Herstellung und der Vorgang des Verpackens erfolgte nicht flächendeckend technisiert und standardisiert, was die an anderer Stelle im Selbstbedienungsladen eingesparten Kosten wieder ansteigen ließ.12 Wer also übernimmt die Aufgabe des Verpackens? Um diese zentrale Frage drehte sich die Diskussion. Der Einzelhandel warf der Industrie mangelnde Kooperationsbereitschaft vor: im Gegensatz zu den US-amerikanischen Herstellern würde sie die Kosten zur Standardisierung und Typisierung scheuen und somit die Durchsetzung der Selbstbedienung ausbremsen: „In den Vereinigten Staaten haben die Hersteller […] sehr früh erkannt, daß mit wachsendem Wohlstand ein Zeitalter des Massenabsatzes heraufdämmern und daß die Selbstbedienung das diesem Zeitalter gemäße Vertriebssystem werden würde. Deren Erfolg oder Mißerfolg wurde aber schon früh als von der Vorverpackung der Artikel abhängig erkannt. So kam es, daß die amerikanische Konsumgüterindustrie entscheidenden Einfluß auf die Ausbreitung der Selbstbedienung nahm, indem sie
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Baecker 1952, S. 59; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 98; Henksmeier 1961, S. 11; Erste Erfahrungen mit der Selbstbedienung in Hamburg, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1950; Priess 1952, S. 131; Remscheid-Alleestraße, in: Die Kaffeetasse, 11/1959. Scholten 2004, S. 167. Vgl. Gerhard 1956, S. 110f.; Hisam 1963, S. 70; Hundert Selbstbedienungsläden, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 10/1951. Vgl. Bräuer, Helmut: Die Verpackung als absatzwirtschaftliches Problem, Kallmünz 1958, S. 223; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 102; Niederschrift VerpackungsSitzung Königsstein (27.10.1951), BAK B146/312; Priess 1952, S. 125; Schucht 1956, S. 23; Sind Selbstbedienungsläden schon überall angebracht?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952.
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bei allen nur denkbaren Artikeln die Verpackung – wo immer möglich mit Markenartikelcharakter – vorantrieb. Dagegen hat sich die europäische Entwicklung der Selbstbedienung jahrelang eigentlich gegen das beinahe retardierende Verhalten einiger Konsumgüterindustrien durchsetzen müssen.“13
Solche Aussagen verdeutlichen das grundsätzlich schwierige Verhältnis zwischen Einzelhandel und Industrie. Gerade die Einzelhändler fühlten sich auf verschiedenen Ebenen nicht als gleichberechtigte Partner.14 Von Seiten der Hersteller erwiderte man die Kritik, indem man den Händlern vorhielt, deren ineffizientes Wirtschaften schlage sich in den hohen Endverbraucherpreisen nieder.15 Letztlich saß die Industrie am längeren Hebel: Vor allem die selbstständigen Einzelhändler hingen essentiell von der Art und Weise der Belieferung durch die Industrie ab und verfügten individuell kaum über Möglichkeiten, wirksame Forderungen zu stellen. Die Vorverpackung im Geschäft selbst stellte keine Alternative dar. Sie war ineffizient und kostspielig, da Verpackungsmaschinen sich nicht wirklich rentierten und die Arbeit letztendlich doch Stück für Stück per Hand erfolgen musste.16 Für die Einzelhandelszusammenschlüsse hingegen lohnte sich der Einsatz von Maschinen durchaus, da sie über die Möglichkeit verfügten Vorverpackungsarbeiten in zentralen Stellen wie den bereits vorhandenen Lagerräumen zu konzentrieren. Dabei konnten die Einkaufs- und Konsumgenossenschaften sowie Filialunternehmen an Erfahrungen mit der Verpackung aus der Zeit vor 1945 anknüpfen.17 Eine andere Möglichkeit bestand im Verleih von Verpackungsmaschinen an die Mitglieder. Indem die Einzelhandelszusammenschlüsse die Vorverpackung förderten, unterstützten sie gleichzeitig die Verbreitung der so genannten Eigenmarken. Sie ermöglichten dem Handel ein SB-fähiges Sortiment, das eine zunehmende Konkurrenz für die Markenartikelhersteller bildete.18
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Schulz-Klingauf 1960, S. 204 (Hervorhebung im Original). Auch: Deutsch 1968, S. 119; Hisam 1964, S. 71; Mc Creary 1964, S. 110; Brief Brockhausen an DIHT, betr. Der Handel als Inspirator der Produktion (5.5.1960), WWA K1/2373. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1970, S. 20, WWA S7/577; HDE: Arbeitsbericht 1949, S. 8, ZBW Kiel; Rationalisierung und Verbrauchergewohnheiten, in: EdekaRundschau, 4/1957. Sitzung des Einzelhandelsausschusses der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund, dazu Anlage: „Verhältnis des Einzelhandels zur Industrie“ (1.12.1949), S. 2, WWA K1/2383. Bräuer 1958, S. 228f.; Gerhard 1956, S. 121; Henksmeier 1961, S. 65; Riethmüller 1953, S. 50. Berger 1972, S. 28. Vgl. Disch 1966, S. 78.
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Letztlich setzten sich alle Vertreter des Einzelhandels allerdings für die vollständige Eingliederung des Verpackungsvorgangs in den industriellen Fertigungsprozess ein, denn dabei handelte es sich um eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Rentabilität der Selbstbedienung.19 Zu diesem Zweck kam es bereits in der ersten Hälfte der 1950er Jahre zur Gründung spezifischer wettbewerbsübergreifender Institutionen wie der Rationalisierungs-Gemeinschaft Verpackung (RGV) im RKW (1953), des Arbeitskreises Verpackung in Lebensmittelhandel (1954) oder der bereits erwähnten EPF, die die Kooperation zwischen Industrie und Handel sowie sektorenübergreifende Lösungsmöglichkeiten anstrebten.20 Die neuen finanziellen Anforderungen des Übergangs von der Bedienung zur Selbstbedienung waren ein weiterer Faktor, der die Entwicklung der Selbstbedienung in den 1950er Jahren stark beeinflusste. Der Umbau und die Erweiterung eines Ladens, sowie die Anschaffung der notwendigen neuen Einrichtungsgegenstände kosteten viel. Eine Untersuchung des ISB von 43 Selbstbedienungsgeschäften aus dem Jahr 1957 ergab, dass die Einrichtungskosten pro Quadratmeter 484 DM betrugen, wobei ein Großteil der Ausgaben auf neu anzuschaffendes Inventar wie Regale, Auslagen und die Registrierkasse entfiel.21 (Vgl. Anhang, Tabelle 5) Für die unabhängigen Ladenbesitzer stellte die Kostenfrage ein entscheidendes Hindernis dar, weil sie die Finanzierung allein bewältigen mussten, was „das Gespenst einer hohen Anleihe aufkommen ließ.“22 Wenn solch ein finanzieller Drahtseilakt schief ging, stand bei mittelständischen Lebensmittelgeschäften oft eine ganze Familie vor dem Nichts. Insofern speiste sich die Angst vor Verände 19
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Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Rationalisierung des Landes NRW, Ausschuss Vertrieb: Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses am Freitag, dem 7. Februar 1958 (7.2.1958), S. 4, WWA K8/395; Der Handel wünscht SB-gerecht verpackte Ware, in: Rewe-Echo, 10/1962; Die Lebensmittelverpackung ist kein Problem mehr, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.2.1955; Gerhard 1956, S. 121; Schulz-Klingauf 1960, S. 206; Wickern, Joseph: Die Selbstbedienung - eine Revolution, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 2-4, hier S. 2. Briefentwurf von Gerhardt (RKW): 1951 wird Rationalisierungs-Gemeinschaft Verpackung (RGV) ins Leben gerufen, Anlage 1: Arbeitsprogramm (1951), BAK B146/312; Aus der Geschichte der europäischen Verpackungs-Vereinigung, in: Die neue Verpackung, 7/1958; Die Lebensmittelverpackung ist kein Problem mehr, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.2.1955. Einen Überblick über die verschiedenen Institute und Organisationen zum Thema Verpackung gibt: Hoffmann, Johannes P. A.: Rationelle Verpackung, Heidelberg 1967, S. 38-42. Selbstbedienung, 3/1957/58, S. 22. Vgl. auch: Sind Selbstbedienungsläden schon überall angebracht?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. ANUGA Rundschau, 6/ 1959, S. 17. Vgl. auch: Henksmeier 1961, S. 20.
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rungen immer aus dem familiären Sicherheitsdenken und der Scheu vor existenzgefährdenden Risiken. Verschiedene Studien in den 1950er Jahren ermittelten, dass der mittelständische Einzelhandel über einen sehr geringen Anteil an Eigenkapital verfügte, der im Lebensmitteleinzelhandel nach einer Untersuchung der BBE zwischen 1953 und 1958 nur ca. 20 Prozent des notwendigen Gesamtaufwandes betrug.23 Im Laufe der 1950er Jahre entstand eine Reihe von Finanzierungsprogrammen für die Geschäftsmodernisierung, die sich an selbständige Unternehmen richteten. Eine dezidierte finanzpolitische Förderung der Selbstbedienung von staatlicher Seite gab es aber – z. B. im Gegensatz zu Spanien oder Großbritannien – nicht. Dort vergaben die Regierungen spezielle Kredite an Geschäfte, die bereit waren, auf die neue Verkaufsform umzustellen.24 In einem Vermerk argumentierte Dr. Recke vom Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, dass die staatliche Förderung der Selbstbedienung aufgrund der finanziellen Möglichkeiten begrenzt sei und man eher durch die Unterstützung von Vortragsveranstaltungen und Reisen im transatlantischen Kontext tätig werden solle.25 Auch Ludwig Erhard sah in den Kreditaktionen für den Einzelhandel lediglich einen Impuls, der es den Unternehmern ermöglichen sollte, Modernisierung und Rationalisierung im Rahmen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs allein zu bewältigen.26 Damit knüpfte der Wirtschaftsminister an frühere staatliche Positionen an, bei denen – trotz bestimmter mittelständischer Maßnahmen – immer wieder auf die Notwendigkeit des Wettbewerbs zwischen den Unternehmensformen verwiesen worden war. Darüber hinaus sah die aus früherer Zeit stammende Steuergesetzgebung vor, den Ladenumbau als freiwillige 23
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„Zu wenig Eigenkapital im Einzelhandel. Untersuchung der Betriebswirtschaftlichen Beratungsstelle über Klein- und Mittelbetriebe“, in: Blick durch die Wirtschaft, Nr. 243 (20.10.1959), WWA K3/1304. Auch: HDE: Arbeitsbericht 1955, S. 32, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Richter, Rudi: Gedanken zur Rationalisierung, in: EdekaRundschau, 23.6.1950; Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 1, BAK B102/39433. Das britische Ministry of Food vergab 1949 80 Lizenzen für die Umstellung auf Selbstbedienung aus, die sich an alle Betriebsformen richteten. Alexander, Shaw, Curth 2004, S. 571; Usherwood 2000, S. 114; Henksmeier 1961, S. 21; Wilkens 1967, S. 61, 65. Vermerk von Dr. Recke für Herrn Bundesminister durch die Hand des Herrn Staatssekretärs, betr. Rationalisierung des Handels (15.2.1955), BAK B116/8207. Erhard, Ludwig: Der Einzelhandel in der sozialen Marktwirtschaft, Aufsatz anläßlich der 5. Delegiertentagung der HDE (21.10.1952), S. 3, WWA K3/1294. Auch: Ergebnisvermerk über eine Besprechung, betreffend Probleme des Einzelhandels am 20. Februar 1952 in Bonn (20.2.1952), BAK B116/8207.
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Aufwendung des Unternehmers und nicht als notwendigen Erhaltungsaufwand einzustufen, so dass dieser nur begrenzt abschreibungsfähig war.27 Speziell die Selbständigen beklagten, dass sich die geringe finanzielle Unterstützung durch den Staat und ihre gegenüber den Großbetrieben benachteiligte Position bei der Kreditvergabe in Wettbewerbsnachteilen niederschlage, da ihr Verkauf in „unmodernen“ Geschäften erfolgen müsse. Diese Argumente, die bereits für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als zentrale Kritikpunkte an der mittelständischen Wirtschaftspolitik herausgestellt wurden, hielten sich, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, konstant über den gesamten Untersuchungszeitraum.28 Gerade die HDE knüpfte in den 1950er Jahren offensiv an die Mittelstandsrhetorik der Zeit vor 1945 an. Trotz ihres Anspruchs, eine Interessenvertretung des gesamten Einzelhandels zu sein, agierte sie stark als Sprachrohr der selbständigen Unternehmer. Die These von Briesen, dass die Argumentation eines konservativen Mittelstandsschutzes in den 1950er Jahren unter NS-Verdikt gefallen sei, lässt sich für den vorliegenden Zusammenhang nicht bestätigen.29 Anstelle dessen bediente man ähnliche Argumentationsmuster wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und v. a. auch in den 1920er und 1930er Jahren. Die HDE beschwor den Untergang des Mittelstands im Angesicht der übermächtigen Konkurrenz der Großbetriebe sowie die von Seiten der Arbeiterschaft bedrohte Stellung: „Es ist natürlich, dass die Unzufriedenheit in den Kreisen des Mittelstandes im gleichen Masse steigt, wie sein Beitrag zur sozialen Wohlfahrt und zur Steigerung des Sozialproduktes gegenüber demjenigen der sogenannten ‚Grosswirtschaft‛ und der Arbeiterschaft in der Öffentlichkeit unterbewertet oder sogar überhaupt nicht gesehen wird. Das aus dieser Vernachlässigung resultierende Gefühl der Zurücksetzung ist echt. Es geht durch alle Gruppen hindurch, die soziologisch zum Mittelstand zu
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Moderne Läden sind kein Luxus, in: Der Einzelhändler, 15.2.1957. Laut diesem Artikel warfen einige Verbraucherverbände dem Einzelhandel vor, die Renovierung und Modernisierung von Ladengeschäften sei eine „Fehlleistung volkwirtschaftlicher Werte“. Vgl. auch: Abschreibung – teils besser, teils ungeklärt, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 8/1958; Arbeitsgemeinschaft der Süddeutschen Fachverbände des Lebensmitteleinzelhandels: „Schönere Läden – leichteres Verkaufen“, Illustrierter Ratgeber der Arbeitsgemeinschaft der Süddeutschen Fachverbände des Lebensmitteleinzelhandels. 1956, S. 61, BWA F36/229; Frankfurter Programm 1958 des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels, in: Fachblatt SB, 5/1958, S. 6. Vgl. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1962, S. 11, WWA S7/577; Nochmals: Aufwendungen für Modernisierungen, in: Rewe-Echo, 8/1956. Briesen 2001, S. 243.
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rechnen sind und die immerhin 7 Mill. Beschäftigte repräsentieren (gegenüber 14 Mill. abhängigen Arbeitern und Angestellten).“30
Dabei gaben sich die Interessenvertretungen des Einzelhandels wie die HDE und die Hauptgemeinschaft des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels nicht mit dem rhetorischen Verweis auf die „staatspolitisch bedeutsame Rolle“31 des mittelständischen Einzelhandels zufrieden. Vielmehr drohten sie eine politische Radikalisierung als Gegenwehr gegen die drohende „Proletarisierung, Nivellierung und Vermassung“ an.32 Der Arbeitsbericht der HDE von 1951 konkretisierte dies: „Am Ausgang des Jahres 1951 könnte es scheinen, als behielten jene Skeptiker recht, die behaupten, auch im kommenden Jahre sei nichts von der Staatsführung zu erwarten, was die Bereitschaft erkennen ließe, die bisherige Vernachlässigung echter und berechtigter Interessen des Mittelstandes wiedergutzumachen. In diesem Falle würden allerdings auch der Mut und das Vertrauen des deutschen Einzelhandels nicht ausreichen, um eine Entwicklung aufzuhalten, die zu einer empfindlichen Schwächung der Parteien, zu einer politischen Verselbständigung des Mittelstandes und zu einer Radikalisierung des deutschen Parlamentarismus führen müßte.“33
Infolgedessen erhandelte das Bundesministerium für Wirtschaft den so genannten ersten „Expansionsstopp“ mit den Großbetrieben des Einzelhandels, d. h. den Warenhäusern und Filialunternehmen.34 Die Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittel-Filialbetriebe (ALF) begründete in ihrem Arbeitsbericht von 1952/53 die freiwillige Begrenzung der Expansionsaktivitäten mit der Stär
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HDE: Die derzeitige Situation im Einzelhandel und seine Forderungen, Köln 1952, S. 2. Auch: Gedanken zum 25jährigen Bestehen der Rewe-Zentralorganisation, in: ReweEcho, Festausgabe 1953; HDE: Arbeitsbericht 1951, S. 29, ZBW Kiel. Entschliessung des Präsidialrates der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (13.5.1953), WWA K3/1294; Bundeskanzler Dr. Adenauer lobt den Einzelhandel, in: Der Einzelhändler 10/1956; HDE, Arbeitsbericht 1951, S. 29, ZBW Kiel. HDE: Die derzeitige Situation im Einzelhandel und seine Forderungen, Köln 1952, S. 2. HDE: Arbeitsbericht 1951, S. 31, ZBW Kiel. Auch: Leihner, Emil: Die gegenwärtige Situation des Einzelhandels, in: Mitteilungen der IHK Hamburg (15.3.1952), S. 199f., WWA K3/1294; Brief Hauptverband des Deutschen Lebensmittel-Einzelhandels an Ministerialrat Recke (Bundesernährungsministerium), betr. Aussprache des Einzelhandels mit Koalitionsparteien, Anlage Exposé „Die derzeitige Situation im Einzelhandel und seine Forderungen“ als Diskussionsgrundlage (23.2.1952), S. 2, BAK B116/8207. In Italien herrschte in den 1950er Jahren das System der Vergabe von Einzelhandelslizenzen durch die Verwaltungsbehörden vor. Diese Art der staatlichen Wettbewerbsbeschränkung favorisierte v. a. die kleinen Einzelhändler, von denen man sich im Gegenzug Loyalität gegenüber der Regierungspartei erwartete. Scarpellini 2004, S. 630, 638.
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kung der verbandspolitischen Lobby des Einzelhandels. Bereits in den 1930er Jahren war die HDE an der Auseinandersetzung über die Einführung einer Sondersteuer für große Einzelhandelsunternehmen zerbrochen. Auch die „Wettbewerbsatmosphäre“ sollte somit eine Beruhigung erfahren. Gleichzeitig wurde aber zu bedenken gegeben, dass die Beschränkung des Wettbewerbs nicht auf Kosten der Verbraucher gehen dürfe.35 Dieser Einwand ging mit der Meinung von Wirtschaftsminister Erhard konform, der sich nicht bereit zeigte, eine Wettbewerbsregulierung zugunsten der kleinen Einzelhändler vorzunehmen, die den Verbraucher in seiner Konsumfreiheit einschränken würde: „Ziel eines freien Wettbewerbssystems ist das Wohl des Verbrauchers. In der preisgünstigen Versorgung aller Schichten wurden auf der ganzen Linie Fortschritte erzielt. An eine starre dogmatische Lösung in Fragen der Wettbewerbspolitik und des Kartellgesetzes habe ich nie gedacht.“36
Erhard mahnte die Einzelhändler immer wieder, sich den neuen Anforderungen anzupassen und „mitten im Fortschritt zu stehen“, damit das „Vertrauensverhältnis zwischen Kaufmann und Konsument auf die Dauer gedeihen kann“.37 Bereits in der Darstellung der Entwicklung des Einzelhandels in der Weimarer Republik und während der Zeit des Nationalsozialismus ist darauf hingewiesen worden, dass die Regierungen auf keinen Fall bereit waren, einen Schutz des Mittelstandes auf Kosten der Verbraucher zu betreiben. Auch im Rahmen des US-amerikanischen New Deal stand der Schutz und die Förderung der Verbraucher nicht nur im Zentrum der Konsumpolitik, sondern gab klare Rahmenbedingungen für die Wirtschaftspolitik gegenüber dem Einzelhandel vor. In den verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexten zeigt sich – gemäß der Argumentation Berghoffs – dass es der
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Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittel-Filialbetriebe: Arbeitsbericht 1952/53, S. 28-30. Vgl. zur Mittelstandspolitik aus Sicht der Konsumgenossenschaften: Der Mittelstand vor den Toren, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 12.5.1956. Bundesminister für Wirtschaft IP: Tages-Nachrichten (Für den Dienstgebrauch) (2.6.1954), BAK B140/329. Auch: Brief Ludwig Erhard an Hans Schmitz (Präsident der HDE) (3.10.1958), BAK B102/39433; Ergebnisvermerk über eine Besprechung, betreffend Probleme des Einzelhandels am 20. Februar 1952 in Bonn (20.2.1952), S. 1, B116/8207. Brief Ludwig Erhard an Hans Schmitz (Präsident der HDE) (3.10.1958), BAK B102/39433. Bereits Ende der 1940er Jahre dazu: Ansprache Erhards auf der Zweiten Delegiertenversammlung der HDE am 4. und 5. Oktober 1949 in Wiesbaden, in: Rundschreibendienst 8/9/1949, S. 17f., WWA K2/2041.
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staatlichen Konsumpolitik nicht nur um den Ausgleich widerstreitender Interessen ging, sondern der private Verbrauch und Lebensstandard einen ganz entscheidenden Aspekt der politischen Legitimation darstellte.38 Die historische Forschung betont ebenso den hohen Stellenwert der konsumgesellschaftlichen Entwicklung für die Legitimation der marktwirtschaftlichen und demokratischen Neuordnung in der frühen Bundesrepublik. Der mittelständische Einzelhandel hatte sich mit seinen sozioökonomischen Forderungen letztlich diesen Rahmenbedingungen unterzuordnen. Als eine Strategie im Umgang mit den neuen Anforderungen verstärkten die selbstständigen Kaufleute ab der zweiten Hälfte der 1940er Jahre allmählich und orientierten sich stärker am Wettbewerb auf der Grundlage umfassender betrieblicher Rationalisierung und Innovationsbemühungen im Verkauf.39 Im Vergleich zu den selbständigen Einzelhändlern verfügten die Einzelhandelszusammenschlüsse über eine Reihe von Wettbewerbsvorteilen für die Umstellung ihrer Geschäfte auf Selbstbedienung, die zum Teil auf ihrem größeren Kapitalstock beruhten. Die Filialunternehmen, freiwilligen Zusammenschlüsse und Konsumgenossenschaften konnten das Risiko der finanziellen Lasten, das mit der Umstellung eines Geschäftes auf Selbstbedienung einher ging, besser verteilen. Darüber hinaus setzten die Leiter der einzelnen Zweigstellen kein persönliches Kapital ein. Außerdem versuchten die Zusammenschlüsse das Problem des teuren Ladenumbaus durch die Entwicklung von so genannten Standardeinrichtungen wie z. B. die „GEGAllzweckeinrichtung“ der Konsumgenossenschaften, das „edeka best Ladeneinrichtungssystem“ der Edeka oder die „ALLSICHT-Modelle“ der A&O zu bewältigen. Auf diese Weise ließen sich die Produktionspreise senken und effiziente Modelle in den einzelnen Verteilungsstellen immer weiter nutzen.40 38 39
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Berghoff 1999, S. 13. Auch: Confino, Koshar 2001, S. 151. Vgl. Ansprache des Präsidenten Hans Schmitz auf der 12. Delegiertenversammlung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 25.10.1960 in Bad Godesberg, in: Pressedienst des Einzelhandels, Sondernummer (24.10.1960), WWA K3/1304; Entschliessung der Berliner Delegiertenversammlung der Hautgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 (27.10.1959), S. 3, BAK B102/39433; Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 18. und 19. April 1961 in Berlin, Anlage 1: Thomas, Erwin: „Aktuelle Fragen der Absatzwirtschaft“ (19.4.1961), S. 2, RWWA 181/1563/1. Vgl. „edeka best“ Baukasten, in: Edeka-Rundschau, 3./10.7.1959; 1000 GEG Standardeinrichtungen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 26.6.1954; ReweLadenbauberatung sehr gefragt, in: Rewe-Echo, 11/1955; Schulz-Klingauf 1960, S. 124;
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Neben den spezifischen Anstrengungen der Einzelhandelszusammenschlüsse sind die Ladenbaufirmen und Hersteller technischer Ausstattungen für Einzelhandelsgeschäfte, wie z. B. das Tiefkühlmöbelunternehmen Linde, die Kassenhersteller Nationale Registrierkassen Augsburg oder Anker, hervorzuheben. Ähnlich wie es Alexander u. a. für den britischen Fall herausgearbeitet haben, beschäftigten sich diese Unternehmen seit Anfang der 1950er Jahre intensiv mit der Förderung der Selbstbedienung.41 Sie richteten Fachabteilungen und Beratungsdienste für Einzelhändler ein, organisierten Weiterbildungen und entwarfen Grundriss-Pläne und Einrichtungsvorschläge für Selbstbedienungsgeschäfte. Ihre Arbeitsweise veranschaulicht die hohe Relevanz der Vermittlung von praktischem Wissen an die Einzelhändler.42 Gleichzeitig positionierten sich die entsprechenden Unternehmen mit diesen Angeboten als eine Art neue Expertengruppe im Zuge des Innovationsprozesses. Sie agierten bei der Beratung und praktischen Unterstützung zum Teil über ihre eigenen Fachbereiche hinaus, die eigentlich in der industriellen Fertigung oder Spezialisierung auf bestimmte technische Geräte lagen, da sie den Einzelhändlern weitergehendes, selbst extern aus Theorie und Praxis erworbenes Wissen für die Praxis vermittelten. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Experten nicht innerhalb festgelegter Fach- und Disziplingrenzen agieren und dass sich das Verhältnis von „Experten“ und „Laien“ immer relational gestaltet.43 An der Förderung der Selbstbedienung durch die Ladenbau- und Ausstattungsfirmen zeigt sich aber auch, wie sich die spezifische Motivation und Vorstellung der Experten auf die konkrete Gestaltung der Einzelhandelspraxis auswirkte.44 Als die Akzeptanz der Selbstbedienung zunehmend stieg, die Förderung der Hersteller also Früchte trug, eröffneten sich diesen dadurch neue Absatzmärkte. Indem sie sich einer Einkaufsgenossenschaft oder freiwilligen Ketten anschlossen, konnten auch die selbständigen Einzelhändler von den genannten finanziellen, materiellen und ideellen Ressourcen der Zusammenschlüsse profitieren. Spezifische Einrichtungen wie der „Rewe-Finanzierungsdienst“ oder die „Edeka-Kreditgarantiegemeinschaft“ vergaben „Modernisierungs 41
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Statt des Reisenden kommt der Kontakter, in: Handelsblatt, Sonderteil: Die Kettenläden, 21.5.1958, S. 15. Vgl. Alexander; Shaw; Curth 2005, S. 813f.; Usherwood 2000, S. 115f. In den Quellen dazu auch: Henksmeier 1961, S. 23. Zur Arbeit der Herstellerfirmen aus dem Bereich des Kassenwesens vgl. beispielhaft die ausführlich dokumentierte Arbeit der Nationale Registrierkassen Augsburg in den Beständen des Bayrischen Wirtschaftsarchivs: BWA F36. Vgl. Alexander, Curth, Shaw 2004, S. 571; Alexander, Shaw, Curth 2005, S. 817. Vgl. Engstrom u. a. 2005, S. 10; Hitzler 1994, S. 19; Schumacher, Busset 2001, S. 15. Vgl. Engstrom u. a. 2005, S. 9; Stehr 1994, S. 360; Vogel 2004, S. 653.
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kredite“ an die Mitglieder oder stellten bei den dazugehörigen Kreditgarantiegemeinschaften Bürgschaften für Geldanleihen zur Verfügung.45 Die Angst der mittelständischen Einzelhändler vor dem Verlust ihrer Selbständigkeit wirkte sich allerdings zunächst negativ auf die Bereitschaft zum Anschluss an eine freiwillige Gruppe oder Einkaufsgenossenschaft aus. 1952 leitete die Gründung der Spar einen Wandlungsprozess ein, bei dem sich laut HDE innerhalb von zwei Jahren auf Initiative des Großhandels 30.000 Einzelhändler zu ca. 150 freiwilligen Ketten zusammenschlossen.46 (Vgl. Anhang, Tabelle 7) Die Einkaufsgenossenschaften verzeichneten ebenfalls einen verstärkten Zulauf. Insgesamt stieg ihr Umsatzanteil am westdeutschen Lebensmitteleinzelhandel zwischen 1950 und 1961 von 2 auf 39 Prozent.47 Gleichzeitig mit dieser Entwicklung nahm der Anteil der Selbständigen an den Selbstbedienungsläden zu, da die Unternehmensstruktur und -politik der freiwilligen Zusammenschlüsse die Umstellung der angeschlossenen Lebensmittelhändler erfolgreich förderte. (Vgl. Anhang, Tabelle 4) Über den finanziellen Aspekt hinaus versuchten die Einzelhandelsgruppen zwei weitere Schwierigkeiten für die ersten Selbstbedienungsläden zu lösen: den Mangel an Informationen und heimischen Erfahrungen mit der neuen Verkaufsform sowie die fehlende fachliche Unterstützung für die Umsetzung in die Praxis. Ziel der Zusammenschlüsse war es in diesem Sinne, die Einzelhändler „aus der geistigen Isolierung, in der sie sich bisher befanden, zu befreien, sie aus der bisher weitgehend defensiven Haltung herauszuführen und zur Selbsthilfe und zum Wettbewerb zu befähigen und zu ermutigen.“48
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Carl Gabler Werbegesellschaft mbH: studie 69. Analyse des deutschen Lebensmittelhandels, München 1969, S. 15; Edeka Kreditgarantiegemeinschaft gegründet, in: EdekaRundschau, 27.4.1956; Finanzierung von SB-Läden, in: Edeka-Rundschau, 1./8.5.1959; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1953, S. 10, WWA S7/572; Schucht 1956, S. 31. Auch: Schulz-Klingauf 1960, S. 96. HDE: Arbeitsbericht 1954, S. 71, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4. Vgl. als Überblick zu den zahlreichen freiwilligen Ketten: Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969, S. 59-86. Ditt 2003, S. 328. Nieschlag 1962, S. 504. Vgl. auch: Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft: Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft vom 29. Februar 1964 (29.2.1964), S. 28, RWWA 20/1815/2; Goslaer Hauptversammlung 1956, in: Rewe-Echo, 9/1956; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 104; Priess 1952, S. 23; Schreiterer 1955, S. 24.
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Mit der zunehmenden Kooperation der unternehmerisch organisierten Einzelhändler wurde ein lange Zeit bestehendes Grundsatzproblem der Rationalisierung des Vertriebswesens aufgegriffen. Bereits in der Zwischenkriegszeit hatten die Zeitgenossen die zersplitterte und isolierte Organisationsstruktur der Einzelhandelslandschaft als zentrales Hindernis für umfassende Rationalisierungsmaßnahmen festgehalten. Zu Beginn der 1950er Jahren nahmen gerade die mehrstufigen Unternehmen mit untereinander vernetzten Zweigstellen wie die Konsumgenossenschaften und Filialbetriebe die Vorreiterrolle bei der Einführung der Selbstbedienung ein. Damit setzten sie die vielen individuell arbeitenden, kleinen Geschäfte unter Druck, was neben dem steigenden Interesse an der neuen Verkaufsform durchaus auch zu betrieblichen Umstrukturierungen, wie z. B. dem Anschluss an größere Einzelhandelsunternehmen, führte. In dieser Konstellation bestand ein entscheidender Unterschied zur Einführung der Selbstbedienung in den USA. Dort hatten die selbständigen Einzelhändler die neue Verkaufsform als Strategie gegen die starke Konkurrenz der Filialunternehmen eingesetzt, während letztere erst allmählich ihre Geschäfte umstellten. Zur spezifischen Problemlage für die Selbständigen im westdeutschen Fall heißt es in einem Artikel des Rewe-Echo von 1953: „Neue Verkaufsmethoden – moderne Ladengestaltung – Schlagworte und Probleme, die wie drohende Wetterwolken am Wettbewerbshimmel des selbständigen Lebensmitteleinzelhandels aufziehen und die Gemüter bewegen. […] Wissen ist Macht, und wer wissend ist, findet auch einen Weg, dem Fortschritt zu folgen und v.a. Schritt zu halten. Sie, lieber Rewe-Kaufmann, brauchen nicht zu resignieren und sich mit Ihren Nöten angstvoll abzukapseln. Der Rewe-Ausstattungs- und Finanzierungsdienst hat Ihnen die Voraussetzungen für die technische Durchführung Ihrer Modernisierungsabsichten geschaffen und den Weg der Finanzierung Ihrer Vorhaben geebnet und mehr als leicht gemacht.“49
Alle Einzelhandelszusammenschlüsse gründeten seit Anfang der 1950er Jahre spezifische Fachausschüsse, die sich mit den aktuellen Fragen des Verkaufs bzw. speziell mit der Selbstbedienung beschäftigten. Dabei griff man zum Teil auf Einrichtungen von vor 1945 zurück, wie z. B. den 1953 wieder ins Leben gerufene „Ausstattungsdienst“ der Edeka aus dem Jahr 1938 oder den „Ladenbau Beratungs- und Einrichtungsdienst“ der Rewe. Es kam aber auch zu Neugründungen wie dem „Arbeitskreis für SB und Schnellbedienung“ in den Konsumgenossenschaften, der Abteilung „Vertrieb“ bei der Spar (1956) oder dem „Arbeitsausschuß für Selbstbedienungsfragen“ der 49
Viele Wege führen nach Rom, in: Rewe-Echo, 11/1953.
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Rewe (1959).50 In diesen zentralen Gremien diskutierten die Einzelhändler aktuelle Probleme und erarbeiteten konkrete Strategien für die Umsetzung der Selbstbedienung. Dieses Wissen wurde – ebenso wie die unternehmensinternen Erfahrungen mit der neuen Verkaufsform – durch Rundbriefe, Zeitschriften, Leitfäden etc. an die Mitglieder vermittelt. Auf diese Weise ließ sich auch der vielbeklagte Mangel an statistischem und theoretischem Material vorübergehend kompensieren.51 Darüber hinaus konnten die Einzelladenbesitzer an Schulungen und Seminaren teilnehmen. Vor Ort erhielten sie technische und organisatorische Unterstützung durch die Außendienstmitarbeiter der Ladenbauberatungen und hauseigene Betriebsberater, wie z. B. die Kontaktleute der Edeka, die Verkaufsberater der A&O und den technischen Ladendienst der Rewe.52 Allerdings sträubten sich die „uniformierungsfeindlichen“ mittelständischen Ladeninhaber anfangs gegen eine einheitliche Gestaltung ihrer Geschäfte: „Immer wieder hatte Kaufmann Schulze Bedenken, daß sein Geschäft, das als reiner Familienbetrieb eine ganz persönliche Note hatte, diesen Charakter durch das SBSystem verlieren würde.“53
Ob die Vielzahl der Lebensmittelgeschäfte mit Bedienung tatsächlich so unterschiedlich und individuell gestaltet erschien, mag dahingestellt sein. Aufgrund ihrer persönlichen, alltäglichen Praxis waren die Einzelhändler davon überzeugt, auf die Wünsche der Kunden hinsichtlich der Einrichtung und des Warenarrangements am besten eingehen zu können. Sicher speiste sich die gewisse Resistenz gegenüber den Einrichtungsvorschlägen der Bera 50
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Geschäftsbericht von Dr. Berendt auf der Delegiertenversammlung der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V. am 18.11.1957 (18.11.1957), Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte 1956-66, Spar-Archiv; Rationalisierung der Warenverteilung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.1.1952; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1959 S. 18, WWA S7/572; Unsere Aufgabe: Rationalisierung des Vertriebswesens, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 3.5.1951; Wiederaufnahme des Edeka Ausstattungsdienstes, in: Edeka-Rundschau, 6.11.1953. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 20. Den Kontaktleuten gehört die Zukunft!, in: Edeka-Rundschau, 21.11.1958; Landesfachgemeinschaft Lebensmittel- Landesfachgemeinschaft Lebensmittel-Einzelhandel e. V. im Landesverband des Saarländischen Einzelhandels e. V.: Bundestagung des Hauptverbandes des Deutschen Lebensmittel-Einzelhandels vom 9. bis 11. Mai 1960 in Saarbrücken, Saarbrücken 1960; Mehr wissen – mehr verkaufen, in: Handelsblatt, Sonderteil: Die Kettenläden, 21.5.1958, S. 16; Menzel 1962, S. 31. ANUGA Rundschau 1959, S. 14. Auch: Etwas über die Zweckmäßigkeit der Ladeneinrichtung, in: Fachblatt SB, 7/1958, S. 22-24, hier S. 23.
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tungsdienste aus der Angst, die Ladengestaltung als einen Teil der kaufmännischen Funktion aus der Hand zu geben und somit ein gewisses Maß an Eigenständigkeit einzubüßen. Die regionalen Filialunternehmen in traditionellem Familienbesitz zeichneten sich durch den Wissensaustausch und einen regen Besuchsverkehr innerhalb von teils vor 1945 etablierten freundschaftlichen Netzwerken aus. So war es z. B. üblich, dass der Nachwuchs nach dem Abschluss der Ausbildung zum Lebensmittelkaufmann in einem anderen Filialunternehmen ein Volontariat absolvierte.54 Die Unternehmensführung leitete gezielt die Umstellung der einzelnen Filialen auf Selbstbedienung an und setzte sie in hierarchischen Organisationsstrukturen um. Dagegen waren die Möglichkeiten der zentralen Steuerung in den freiwilligen Einzelhandelszusammenschlüssen zunächst eingeschränkter. Allerdings konnte sich das Vorbild der bereits umgestellten Läden positiv auf die Einstellung der anderen Mitglieder auswirken und erzeugte einen internen Wettbewerb.55 Als entscheidend für den Erfolg dieses „spill-over-Effekts“ erwies sich die Einbettung der Innovationen in eine kohärente Unternehmensstruktur. Für die Zusammenschlüsse der mittelständischen Händler verband sich z. B. die Rechtfertigung der neuen Verkaufsform eng mit dem Anspruch, eine Selbsthilfeeinrichtung des mittelständischen Einzelhandels zu sein. Kurt Berendt formulierte es auf der Gründungsversammlung der Deutschen Handelsvereinigung Spar 1955 beispielhaft: „Sie [die SPAR] hat als Selbsthilfeorganisation des selbständigen mittelständischen Lebensmittelhandels mit den früheren konservativen Absatzmethoden gebrochen und durch Formen einer für Deutschland neuartigen Zusammenarbeit zwischen Gross- und Einzelhandel im selbständigen Lebensmittelhandel einen nicht mehr zu übersehenden Strukturwandel herbeigeführt. Die SPAR, entstanden aus dem Selbstbehauptungswillen des mittelständischen Unternehmertums gegenüber Grossbetrieben aller Art, gleichzeitig aber auch aus der Erkenntnis, mit diesen modernsten und vorbildlichen Vertriebsformen im Lebensmittelhandel wettbewerbsmäßig Schritt zu halten, hat gezeigt, dass auch in dieser Zeit des unerbitterlichen Wettbewerbskampfes der freien Marktwirtschaft der Kaufmann nicht zu kapitulieren braucht, wenn er mit den Mitteln und Möglichkeiten einer echten Rationalisierung sich dem Leistungsniveau seiner grossen Konkurrenten anzupassen vermag.“56
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Drei Generationen Schürmann und die Geschichte unseres Hauses 1881-1954, in: Die Kaffeetasse, Sonderausgabe für neu eintretende Mitglieder, 1955. Vgl. Scholten 2004, S. 181. Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Die Aufgaben der Deutschen Handelsvereinigung SPAR. Auszug aus einem Referat von Dr. Kurt Berendt auf der Gründungsversammlung der Deutschen Handelsvereinigung SPAR in Frankfurt a. M. am 13. Juni 1955
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Trotz der vielfältigen Vorteile der verschiedenen Einzelhandelsgruppen bei der Steuerung des Innovationsprozesses lief die Umwandlung der einzelnen Geschäfte keineswegs völlig konfliktfrei ab. Vielmehr sah man unternehmensintern die ungleichzeitige Umstellung auf die Selbstbedienung innerhalb der Unternehmen durchaus als Problem an. In den freiwilligen Zusammenschlüssen und Konsumgenossenschaften wendete sich der Förderauftrag an alle Mitglieder, zunächst unabhängig von der Größe und der Verkaufsform. Gleichzeitig stand das differenzierte Meinungsbild der einzelnen Ladenbesitzer bezüglich der Modernisierung der Schaffung einer einheitlichen Verkaufspolitik der Unternehmenszusammenschlüsse und somit der Etablierung eines flächendeckenden Versorgungsangebotes entgegen.57 So hält Scholten in seiner Fallstudie zur Rewe Dortmund fest, dass der mehr oder weniger kollektive Übergang zur Selbstbedienung, in Kombination mit der Einschränkung der freien Preisgestaltung sowie der Konzentration der Einzelhändler auf die Verkaufsfunktion, das in den Genossenschaften hoch gehaltene Prinzip der Selbständigkeit unmittelbar tangierte.58 Trotz der genannten internen Schwierigkeiten kann die Förder- und Beratungsarbeit der Einzelhandelszusammenschlüsse in den ersten Nachkriegsjahren bereits als eine gezielte Strategie charakterisiert werden, um die mit dem Erwerb und der Verteilung von Wissen über die neue Verkaufsform verbundenen Kosten zu reduzieren. Im Rahmen einer stringenteren und hierarchischeren Unternehmenspolitik gingen die Einzelhandelskooperationen gegen Ende der 1950er Jahre zur Schließung kleiner und unrentabler Bedienungsgeschäfte, zur Forcierung der Selbstbedienung und zu strengeren Anforderungen an die unternehmensspezifische Laden- und Produktgestaltung über. Diese Entwicklung zeigt, dass die Kontrolle der Bedingungen, die notwendig sind, um Wissen zu implementieren,einen bestimmten Grad an Macht erfordert.59 Dagegen waren die ersten Jahre der neuen Verkaufsform in der Bundesrepublik Deutschland noch vom (Wieder-)Aufbau zentraler Unternehmensstrategien und deren Etablierung unter den Mitglie-
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(13.6.1955), S. 1, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, Spar-Archiv. Helling, Paul:„Schafft bessere Läden!“, in: Edeka-Rundschau, 18.2.1955; Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm: Bericht über das Geschäftsjahr 1961, S. 6f., WWA S7/569/1; Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V., Protokoll Sitzung Gesamtvorstand des ZdK (11.3.1960), S. 3, FfZ 18-6, 5.1.3. Scholten 2004, S. 186. Vgl. Kleinschmidt 2004, S. 265; Stehr 2001, S. 74f.
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dern begleitet.60 Allerdings sollten in diesem Zusammenhang die Maßnahmen und Einrichtungen zur betrieblichen Rationalisierung der Einzelhandelszusammenschlüsse aus der Zeit vor 1945 nicht unterschätzt werden. Sie erwiesen sich in der Nachkriegszeit als entscheidende Grundlage für die Etablierung der unternehmerischen Infrastruktur in den Bereichen der Verpackung, der Werbung, des Ladenbaus, der Weiterbildung und der Beratung. Somit repräsentierten die betrieblichen Strukturen des Einzelhandels eine bereits vor 1945 erbrachte „Modernisierungsleistung“, die in der Nachkriegszeit abgerufen und modifiziert werden konnte.61 1.1.2 Gesellschaftlich fundierte Vorurteile gegenüber der Selbstbedienung Neben den sozioökonomischen, finanziellen und betriebswirtschaftlichen Problemlagen standen der Selbstbedienung in den 1950er Jahren eine Reihe soziokulturell und moralisch fundierter Einwände entgegen. Die zentralen Gegenargumente, die Einzelhändler mit unterschiedlicher Motivation anführten, waren die ablehnende Haltung der Kunden gegenüber der Selbstbedienung und die negative Entwicklung der Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer. Beide Kritikpunkte hatten bereits vor der Eröffnung des ersten bundesdeutschen Selbstbedienungsladens durch die Konsumgenossenschaft Produktion heftige Debatten in deren Führungsetage ausgelöst.62 Aber auch in den Dokumenten anderer Unternehmen, Verbände und Institutionen, den Fachzeitschriften und anderen zeitgenössischen Publikationen wurde die Einführung der Selbstbedienung im bundesdeutschen Einzelhandel mit teils großer Skepsis beobachtet. Dabei ging man von der Annahme aus, die Selbstbedienung passe nicht zur Mentalität des deutschen Konsumenten und seinem Wunsch nach individueller Bedienung sowie persönlicher Beratung. In Weiterführung dessen wurde der zwangsläufige Misserfolg der Selbstbedienung antizipiert.63 Diese scheinbar auf nationale Stereotype re 60
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Vgl. Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V.: Maßnahmen der Absatzförderung: Neuordnung Beratungsdienst, Ladeneinrichtung, Protokoll: Sitzung Gesamtvorstand des ZdK (18.1.1960), FfZ 18-6, 5.1.3. Auch: Wald 1985, S. 81. Vgl. Abelshauser 1996, S. 751. Moderne Weltstadt, in: Hamburg Archiv, 1994, FfZ 11-P5. Amerika lädt ein, in: Rewe-Echo, 9/1953; Cordts, Richard: Die Selbstbedienung dringt vor. Auch kleine Läden können auf Selbstbedienung umgestellt werden, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg (4.8.1959), RWWA 181/427/2; Ist Selbstbedienung das non plus ultra, in: Edeka-Rundschau, 14.3.1958; Ja zur Selbstbedienung!, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 21.9.1957.
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kurrierende Figur des selbstbedienungsfeindlichen Kunden diente in anderen europäischen Ländern ebenfalls als ein zentrales Argument gegen die neue Verkaufsform.64 Auch für die Anfangsphase der Selbstbedienung in den USA ist festgestellt worden, dass Unpersönlichkeit und Entindividualisierung als weit verbreitete Vorurteile gegenüber dem self-service kursierten. Der ablehnenden Haltung lag die Angst vor dem anonymen und automatisierten Charakter der Selbstbedienung zugrunde und sie war „mit den Kampfvokabeln belegt, die schon aus der Rationalisierungsdiskussion früherer Jahre“ stammten, wie Vermassung, Entpersönlichung, Entseelung und Maschinenhaftigkeit.65 So zeichnete ein Artikel der Konsumgenossenschaftlichen Rundschau 1952 folgendes symptomatisches Bild: „der Selbstbedienungsladen ist ein ¸kalter‘ Laden, man wird dort nicht heimisch, alles ist automatenhaft, die menschlichen Beziehungen fehlen.“66 Die Einwände skeptischer Einzelhändler können auch als Teil der ambivalenten Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Fortschritt verstanden werden, die in den „Zeitgeist“-Diskursen ab den 1950er Jahren über Technik, Massengesellschaft und Entfremdung laut wurde.67 Einerseits genügte die Selbstbedienung in der Sphäre des Verkaufens und Einkaufens perfekt den Ansprüchen von Masse und Tempo, die als bestimmende Faktoren der „modernen Zeit“ festgehalten wurden.68 Usherwood hat in diesem Zusammenhang betont, dass die zentrale Rolle der effektiven Verwertung von Zeit nicht nur den Verkaufsvorgang rationalisierte, sondern auch in einen breiteren Kontext der zeitgenössischen Vorstellungen von einer effizienten Haus
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Impact of American Food Team in Europe (Germany) (29.9.1955), S. 4, NA RG 469, Entry 1205, Box 11; Internationale Erfahrungen mit der Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 25.2.1956. Vgl. die Forschungsergebnisse dazu bei: Brändli 2000, S. 64; De Grazia 2005, S. 387; Slujter 2007, S. 14. Brändli 2000, S. 61. Vgl. in den Quellen: Gurtner 1958, S. 250; Schnellbedienung – ein genossenschaftliches Problem, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 27.9.1952; Selbstbedienung in Bayern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 13.5.1950; Stein, Siegfried: Die Chancen des kleinen Ladens, in: Mitteilungen der Handels- und Gewerbevertretung bei der IHK zu Dortmund (10/1960), S. 1, RWWA 1/399/4; Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 8, BAK B102/39433. Schnellbedienung – ein genossenschaftliches Problem, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 27.9.1952. Dazu ausführlich: Schildt 1995, S. 324ff.; Wildt 1991, S. 337f. Vgl. zu dieser Problematik allgemein aus Sicht des Einzelhandels in den Quellen: HDE 1954, S. 3. Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957. Vgl. auch: Wildt 1993, S. 286.
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haltsführung durch die rationale Hausfrau einzuordnen ist.69 Andererseits wies man der neuen Verkaufsform gerade aus diesen Gründen ganz klare Grenzen zu: sie sei ideal für die „gehetzten Hausfrauen der Großstadt“, aber gänzlich ungeeignet für den gemächlichen Einkauf auf dem Land.70 „In einem Dorf mit vorwiegend ländlicher Bevölkerung, die meist konservativ eingestellt und weniger von Zeitnot geplagt ist als der Großstadtmensch, dürfte ein Selbstbedienungsladen kaum Erfolgsaussichten haben.“71
Zu ähnlichen Ergebnissen kam 1953 auch eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung.72 Die Tatsache, dass die Neigung zugunsten des Einkaufs im Selbstbedienungsladen von der ländlichen zur großstädtischen Umgebung zunahm, ließ sich dabei natürlich auch auf die verschiedene Angebotsdichte und -variation der Ladentypen zurückführen.73 Wie die Quellen zeigen, wurde die Traditionsgebundenheit der ländlichen Einzelhändler im Gegensatz zu den (groß-)städtischen Unternehmern auf diese Ungleichverteilung projiziert.74 Gleichzeitig erfuhren diese Beobachtungen eine Aufladung mit soziokulturellen Stereotypen: Eine als modern verstandene, durch Zeitnot, Massenkonsum und Aufgeschlossenheit geprägte Großstadtmentalität kontrastierte man mit der als traditionell verstandenen, eher verschlossenen Menta
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Usherwood 2000, S. 121. In acht Tagen 8500 Kaufkunden, in: Edeka-Rundschau, 4.12.1953; Selbstbedienung, 1/1959, S. 18; Was halten die Verbraucher von der Selbstbedienung?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.8.1953. Schucht 1956, S. 1. Auch: Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: EdekaRundschau, 31.5.1957, Schreiterer 1951, S. 16; Stehlin 1955, S. 69. Gesellschaft für Konsumforschung: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), RWWA 28/310/1. Auch: Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses des Deutschen Industrie- und Handelstags am 17.1.1958 in Frankfurt, Anlage: Referat: Thomas, Erwin: Die Struktur des westdeutschen Gross- und Einzelhandels als Entwicklungsergebnis der Jahre ab 1950 (17.1.1958), S. 2, RWWA 181/1561/2; Nax, Heinz: Die Bestimmung der Entwicklungssituation einer Betriebsform des Einzelhandels: ein typologisches Verfahren und seine Anwendung auf das Beispiel des Supermarkts in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1965, München 1969, S. 114f. Vgl. Der „Konsum“ in einem Heidedorf, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.6.1957. Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses des DIHT am 17.1.1958 in Frankfurt, Anlage: Thomas, Erwin: Die Struktur des westdeutschen Groß- und Einzelhandels als Entwicklungsergebnis der Jahre ab 1950 (17.1.1958), S. 1, RWWA 181/1561/2.
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lität der Landbevölkerung. Eine ähnliche Dichotomie wurde zwischen alten und jungen Konsumenten konstruiert. Die tendenziell wertende Meinung, dass ältere Kunden den Selbstbedienungsladen aufgrund ihrer konservativen Einstellung ablehnen würden, mischte sich mit Erkenntnissen aus Umfragen, dass jüngere Leute Selbstbedienung eher bevorzugten.75 Wie bereits in der Weimarer Zeit stand die negative Bewertung von Phänomenen der Masse und der Anonymität u. a. in Verbindung mit einer antiamerikanischen Einstellung. So schickten mehrere Einzelhändler eine Ausgabe des Fachblatts für Selbstbedienung an den Absender zurück mit dem Kommentar, „daß, dieser amerikanische Verkaufsstil bei uns niemals ankommen wird’.“76 Allerdings wurden die anti-amerikanischen Stereotype immer unschärfer und schwächer, je mehr es sich um tatsächliche Umsetzungsversuche in die Praxis handelte, während sie in den Reisebeschreibungen und Berichten aus erster Hand viel deutlicher und differenzierter zu Tage traten. Zwar erfolgte auch in konkreten Vorschläge für die Übernahme einzelner US-amerikanischer Ideen z. B. in Fachzeitschriften oder praktischen Ratgebern immer wieder der Verweis auf die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, aber es ging diesen praxisorientierten Ausführungen mehr um die tatsächlich mögliche Integration dieser Elemente, als um einen Abgrenzungsmechanismus. Das Abschleifen der Kontrastwahrnehmung und der Stereotypisierung in der Welt der Praxis verweist darauf, dass das Wissen um das USamerikanische Vorbild über verschiedene Übersetzungsstufen vermittelt und dabei gefiltert wurde.77 75
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Gesellschaft für Konsumforschung: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 5, RWWA 28/310/1; Kurzmitteilungen (22.10.1963), BWA K1/2407; Nax 1969, S. 115; Schnellbedienung – ein genossenschaftliches Problem, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 27.9.1952. Fachblatt SB, 1967/69, S. 4. Auch: Erinnerungen eines SB-Pioniers, in: Rewe-Echo, 5/1967. Ist Selbstbedienung das non plus ultra?, in: Edeka-Rundschau, 14.3.1958; Kühn, Alfred: Selbstbedienung - nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957; Mehr Mut zum Fortschritt, in: Edeka-Rundschau, 11.5.1956; Priess 1952, S. 1. Inwiefern die PX-Läden der US-amerikanischen Streitkräfte in den 1950er Jahren ein Vorbild für den bundesdeutschen Einzelhandel waren, kann aufgrund der vorliegenden Quellen nicht beurteilt werden. So wird in einem Rundschreiben der HDE zwar betont, dass sie in einigen deutschen Städten eine gewisse Konkurrenz für den deutschen Einzelhandel darstellen würden, allerdings fand diese Problematik in der Folgezeit keine Weiterführung oder Ausdehnung. Vgl. HDE: Rundschreibendienst Nr. 164, betr. Unternehmen ausländischer Streitkräfte (1955), RWWA 28/55/3.
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Versucht man das Bild der gegenüber der Selbstbedienung skeptisch bis ablehnend eingestellten Einzelhändler und ihre Motivation etwas genauer zu differenzieren, stößt man zunächst auf den hartnäckigen Widerstand gegen die Unpersönlichkeit im Selbstbedienungsladen von Seiten der kleinen, selbständigen Ladenbesitzer. Sie lebten von einer traditionellen Stammkundschaft, die „größten Wert auf persönlichen Kontakt und eine individuelle Bedienung“ legte.78 Laut Schucht vertrage sich der Charakter ihrer Läden schlecht mit der Selbstbedienung, die auf einen sachlichen, schnellen Verkaufsvorgang ausgerichtet sei.79 Tatsächlich wird an diesem Beispiel deutlich, dass die Auflockerung und die Entpersönlichung der Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer vor allen Dingen die angestammte Position des Kaufmannes bedrohte. Deshalb betonten die Behörden in der Abschlussbesprechung der MSA-Kurse über moderne Verkaufsmethoden, dass sich weniger die Mentalität der Kunden, sondern vielmehr die der Einzelhändler ändern müsse.80 Während des Zweiten Weltkrieges hatten die persönlichen Beziehungen beim Einkauf eher eine Verstärkung erfahren, weil sich die Kunden durch einen engen Kontakt mit dem Ladeninhaber eine bessere Lebensmittelversorgung in Zeiten einer prekären Ernährungslage erhofften. Dagegen rüttelte die neue Verkaufsform am etablierten Platz des mittelständischen Einzelhändlers im so genannten europäischen „bourgeois model of consumption“.81 Innerhalb der Konsumhierarchie verfügte der Kaufmann aufgrund eben jener engen Bindung der Kunden an einen Laden und dessen angestammten Besitzer eine starke Vermittlerposition. Sie umfasste die Beziehung zwischen Ware und Kunde, die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer sowie zwischen einzelnen Kundenkreisen und ihren konsumgesellschaftlichen Vorstellungen. Dem im Arbeitsbericht der HDE von 1951 aufgestellten Motto „Vor den Ladentischen der Kaufleute sind alle Bürger gleich“ und der „Pflicht zur Toleranz im politischen und sozialen Bereich“ stand die Tatsache entgegen, dass das Lebensmittelgeschäft stark in einen „viertel- und milieu-, d. h. klassen-, partei- oder konfessionsbestimmten Kundeneinzugsbereich“ eingebettet war.82 Durch die individuelle Bedienung kannte der Kaufmann seine Kunden, er verfügte über ein spezifisches Wis 78
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ANUGA Rundschau 1959, S. 14. Auch: Pomplitz, Kurt: Die Ladenausstattung und die modernen Bedienungssysteme, in: Edeka-Rundschau, 6.11.1953. Schucht 1956, S. 22. Vermerk über die Abschlußbesprechung der MSA-Kurse im Bundesernährungsministerium am 18. und 19. Juni 1953 (29.7.1953), 2. Teil, S. 5, BAK B116/8207. De Grazia 1998, S. 70. In den Quellen dazu: Hagemann, Friedhelm: Zur sozialen Lage im selbständigen Lebensmittel-Einzelhandel, Köln 1960, S. 65; Mc Creary 1964, S. 41. HDE: Arbeitsbericht 1951, S. 28f., ZBW Kiel; Ditt 2003, S. 320.
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sen über deren Wünsche und Gewohnheiten. Zu dieser engen Bindung zwischen Kunden und Kaufmann trug auch die bis nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitete Praxis des Anschreibens bei. Im Selbstbedienungsladen dagegen herrschte – ebenso wie bereits zuvor schon in den Filialunternehmen – das Prinzip der Barzahlung vor.83 Da die neue Verkaufsform zudem bewusst auf das spezifische Kaufmannswissen über die Kunden verzichtete, befürchteten die kleinen mittelständischen Unternehmen wirtschaftliche Nachteile. Die Selbstbedienung wurde deshalb als „soziologisches Problem“ des mittelständischen Einzelhandels deklariert und nur als geeignet für die Großbetriebe des Einzelhandels eingestuft.84 Ähnliche Gründe für eine zurückhaltende Einstellung gegenüber der Selbstbedienung, die auf der Position des Verkäufers gegenüber dem Kunden beruhten, finden sich auch bei den Konsumgenossenschaften, obwohl sie sich in den ersten drei Jahren führend bei der Umstellung ihrer Geschäfte erwiesen.85 Die enge Bindung zwischen dem Laden und dem Kunden ergab sich hier durch die genossenschaftliche Mitgliedschaft. Sie erlaubte dem Konsumenten in den Verteilungsstellen einzukaufen und verschaffte ihm bestimmte Vorteile wie die Rückvergütung und die Rabattgewährung. Gleichzeitig prägten gemeinsame genossenschaftliche Ideale und Vorstellungen, wie z. B. das Prinzip der Selbsthilfe des Verbrauchers zugunsten einer qualitativ hochwertigen Versorgung zu günstigen Preisen, die Beziehung zu den Mitgliedern.86 Auch wenn das „Gesetz zur Änderung von Vor
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Hisam 1963, S. 66; Menninger, Siegfried: Einzelhändler Schulze stellt sich um, in: ANUGA Rundschau, 6/1959, S. 18; Nur Tante Emma schreibt noch an. Und einige vergessen hinterher zu zahlen, in: Neue Ruhr Zeitung, 12.9.1964. Deutscher Industrie- und Handelstag: Amerikanische Verkaufsmethoden, hier: Schlussbesprechung in Frankfurt a. M. (12.8.1953), S. 6, RWWA 28/145/7; Vermerk über die Abschlußbesprechung der MSA-Kurse im Bundesernährungsministerium am 18. und 19. Juni 1953, 2. Teil (29.7.1953), S. 6, BAK B116/8207. Vgl. auch: Bemerkungen am Rande, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.8.1953; Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957; Priess 1952, S. 2; Vermerk von Dr. Recke für Herrn Bundesminister durch die Hand des Herrn Staatssekretärs, betr. Rationalisierung des Handels (15.2.1955), S. 3f., BAK B116/8207. Vgl. ebenso für das australische Beispiel: Humphery 1998, S. 39. Vgl. Selbstbedienung in der Bewährung!, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Prägnant zum Selbstverständnis der Konsumgenossenschaften in den 1950er Jahren: Die Genossenschaftsidee heute, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 22.3.1958; Die Konsumgenossenschaftsbewegung ist Verbraucherorganisation, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 28.6.1958; Selbsthilfe – Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 24.3.1951.
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schriften des Gesetzes betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und des Rabattgesetzes“ von 1954 den Verkauf an NichtMitglieder zuließ, blieb das Mitgliederprinzip eine zentrale Säule der konsumgenossenschaftlichen Unternehmenspolitik. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Konsumgenossenschaften den Spagat zwischen einer notwendigen Rationalisierung des Verkaufs und der Aufrechterhaltung eines möglichst engen Kundenkontaktes. In der Forschung besteht die Meinung, dass der stärker unpersönliche Charakter des Einkaufs in Selbstbedienung letztendlich die Mitgliederbindung stark auflockerte und somit zum Untergang der Unternehmen beitrug.87 Weniger Bedenken hinsichtlich der Beziehung zu ihren Kunden hatten die Filialunternehmen, da zwar in den einzelnen Filialen eine persönliche Verbindung zur Stammkundschaft bestand. Das Unternehmen an sich stand rationalisierenden Maßnahmen bei der Organisation des Verkaufs aufgeschlossen gegenüber. Entsprechend finden sich in den als Quellen herangezogenen Dokumenten dieser Unternehmen kaum Belege für die oben geschilderte ablehnende Argumentation gegenüber der neuen Verkaufsform. Natürlich nahm auch die Umstellung der Filialbetriebe im Laufe der 1950er Jahre einen ungleichmäßigen Verlauf, bei dem verschiedene Gründe zur raschen oder weniger raschen Umstrukturierung der einzelnen Filialen führten.88 Trotzdem übernahmen seit 1953 insgesamt die Lebensmittelketten vorläufig die Spitzenposition in Sachen Selbstbedienung. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Ablehnung der Selbstbedienung aufgrund des sich verändernden Verhältnisses zwischen Käufer und Verkäufer einerseits aus der Angst erwuchs, dass sich die sozial bedingte Bindung an den Lebensmittelladen durch den stärker unpersönlichen Verkauf lockern würde. Andererseits projizierte der Einzelhandel diese Bedenken auf den Konsumenten.89 Dass eine derartige Auseinandersetzung mit den Neuerungen im Verkauf stark emotional gefärbt war, zeigt in diesem Zusammenhang die zeitgenössische Feststellung, dass das Abwehrverhalten gegenüber der Selbstbedienung „mehr einer gefühlsmäßigen Reaktion zuzu-
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Spiekermann 1997, S. 104. Vgl. Reith, Horst von der: Die Filialunternehmen als Hauptweg der Konzentration und Zentralisation und als führende Unternehmensform des kapitalistischen Lebensmitteleinzelhandels - untersucht an der gegenwärtigen Entwicklung der größten Filialunternehmen Westdeutschlands, Dresden 1967, S. 107-110; Weinberg 1967, S. 270ff. Eklöh 1958, S. 12; Schulz-Klingauf 1960, S. 173.
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schreiben“ sei.90 In allen Veröffentlichungen zur Produktivitätssteigerung und Rationalisierung im Allgemeinen und speziell im Einzelhandel wurde auf die Bedeutung der psychischen und geistigen Dimension hingewiesen, die laut den Quellen ein größeres Problem darstellte, als die technischen Bedingungen.91 Das Abwägen von Vor- und Nachteilen der Verkaufsformen erfolgte eng angebunden die traditionelle Praxis und die soziale Einbettung der Einzelhändler und veranlasste sie zu Vermutungen und Bewertungen, während sich bestimmtes Faktenwissen zunächst weniger ausschlaggebend und erwünscht darstellte. Kleinschmidt verweist darauf, dass Lernblockaden von Unternehmern immer auch mit Regeln und Routinen zu tun hätten, die meist erfahrungsbasiert seien und im Alltag stabilisierende ebenso wie verfestigende Wirkung ausüben könnten. Auch im Fall der Einführung der Selbstbedienung im westdeutschen Einzelhandel trifft die Beobachtung zu, dass Marktmechanismen und Informationen zu Kosten-LeistungsVerhältnissen nicht immer als die zentralen Faktoren für Veränderungsprozesse in Unternehmen wirkten.92 Denn paradoxerweise sagten sowohl der wirtschaftliche Erfolg der Selbstbedienungsgeschäfte als auch erste Umfragen unter den Verbrauchern schon Anfang der 1950er Jahre eine äußerst positive Perspektive voraus. So stellten diverse Studien die Befürwortung der Selbstbedienung durch die Konsumenten heraus. Eine EPA-Studie aus dem Jahr 1958 ergab z. B., dass nur zwölf Prozent der Befragten den Mangel an persönlichem Kontakt als Nachteil betrachteten.93
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Gurtner 1958, S. 146. Auch: Cordts, Richard: Die Selbstbedienung dringt vor, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg (4.8.1959), S. 584, RWWA 181/427/2; Henksmeier 1961, S. 24. HDE: Arbeitsbericht 1956, S. 42, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Organisation for European Economic Co-operation: Summary of the First Annual Programme of Action of the European Productivity Agency, Paris 1954, S. 5. Kleinschmidt 2004, S. 268. Auch Schröter weist darauf hin, dass Wandlungsprozesse so zäh von statten gehen, da Änderungen eng mit Werten verknüpft sind. Schröter 2004a, S. 135. Moss 1958, S. 48. Bereits die Studie der RGH von 1952 kam zu der Schlussfolgerung, dass die Konsumenten der Selbstbedienung sehr positiv gegenüber standen. Priess 1952, S. 75.
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1.1.3 Die Innovation als Vertrauenskrise: Diebstähle im Selbstbedienungsladen Die Angst vor der Zunahme von Kundendiebstählen im Selbstbedienungsladen beherrschte nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte um die Einführung der neuen Verkaufsform. Die Forschung hat auf parallele Auseinandersetzungen auch in Großbritannien und den Niederlanden hingewiesen.94 Bei einer näheren Betrachtung dieser Diskussion sind zwei verschiedene Ebenen zu erkennen. Auf der einen Seite wurde die Sorge um die höhere Diebstahlgefahr – ebenso wie die zuvor erwähnten Gegenargumente – als Grund vorgeschoben, um die Selbstbedienung als für den westdeutschen Einzelhandel ungeeignetes Prinzip zurückzuweisen, obwohl eigentlich andere Faktoren die Ablehnung bedingten.95 Auf der anderen Seite drückte die Problematisierung des Diebstahls ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Vertrauensverhältnisses in der Käufer-Verkäufer-Beziehung und der Reaktion der Kunden auf die Selbstbedienung aus. Diese Unsicherheit blieb bis in die späten 1950er Jahre ein Argument, das viele Einzelhändler am Erfolg der Selbstbedienung zweifeln ließ, obwohl es weder statistische noch empirische Belege für die Häufung von Diebstählen in den neuen Läden gab.96 Bereits der Erfahrungsbericht des ersten Selbstbedienungsgeschäftes der Konsumgenossenschaft Produktion in Hamburg war 1950 zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die Diebstahlgefahr keine besondere Rolle spielte: „Der Laden arbeitet seit dem 30. August 1949. Seither sind vier Kontrollinventuren vorgenommen worden, die alle ohne Minus abschlossen. Sicher wird auch in diesem Laden einmal etwas gestohlen – bisher konnten drei Diebstähle festgestellt werden – der Umfang ist jedoch so gering, daß die zunächst im Vordergrund stehende und immer wieder erörterte Diebstahlsgefahr heute als unbedeutend erkannt ist. Das
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Phillips, Simon; Alexander, Andrew; Shaw, Gareth: Consumer Misbehavior. The Rise of Self-Service Grocery Retailing and Shoplifting in the United Kingdom c. 1950-1970, in: Journal of Macromarketing, 25, 2005, H. 1, S. 66-75; Rutte 1998, S. 69f. In den Quellen dazu: MSA Mission Monthly Report Lindahl Food Marketing Team (15.4.1953), NA RG 469, Entry 337, Box 26. Eine Antwort auf alle Fragen des Ladendiebstahls, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 29.10.1960; Vortrags- und Diskussionsveranstaltung um die Selbstbedienung, in: Der Einzelhändler, 20.8.1958. Vgl. Wirtz, Arno, Soziologische Merkmale der Selbstbedienung als moderne Verkaufsform der Handelsbetriebe. Ein Beitrag zur sozialempirischen Handelsforschung, Bonn 1976, S. 105f.
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Vertrauen, das wir den Verbrauchern, den geplagten deutschen Menschen der Nachkriegszeit, entgegengebracht haben, ist also nicht enttäuscht worden.“97
Verschiedene Untersuchungen bestätigten immer wieder, dass es sich bei dem Laden der Konsumgenossenschaft um keine Ausnahme handelte. Eine Reihe von Studien bezifferte den durch Diebstähle verursachten Umsatzverlust auf Werte zwischen 0,1 und 1 Prozent.98 Für das trotz alledem resistente und ernsthafte Misstrauen der Einzelhändler gegenüber dem Kundenverhalten lassen sich zwei Erklärungsansätze anführen: der Bruch im Beziehungsgefüge zwischen Käufer und Verkäufer und die durch die neue Verkaufsform erzeugte Situation der Rechtsunsicherheit. Wie bereits dargestellt worden ist, führte die Einführung der Selbstbedienung zu einem unpersönlicheren und unverbindlicheren zwischenmenschlichen Verhältnis von Kaufmann und Kunde. Die neuartige, risikobehaftete Situation verlangte dem Einzelhändler ein ungewohntes Maß an Vertrauen gegenüber dem Kunden ab, wenn dieser sich im unmittelbaren Kontakt zu den Waren frei im Laden bewegte. Simmel definiert Vertrauen als einen mittleren „Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen“.99 Dieses eigentümlich ambivalente Verhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass einer Vertrauensperson die Sorge um eine Sache auf Grundlage eines gewissen Risikos übertragen wird. Der sich Anvertrauende erhofft sich aus dieser Beziehung einen bestimmten Vorteil, der aber geringer ausfällt, als der Nachteil, der ihm aus einer unerwarteten, negativen Handlungsweise des Gegenübers entstehen kann. Im Fall des Selbstbedienungsgeschäftes überließ der Kaufmann dem Kunden die selbständige Auswahl der Waren. Dadurch hoffte er, dass der Käufer möglichst viele Artikel aus den Regalen herausnehmen und anschließend an der Kasse bezahlen würde. Gleichzeitig übte die neuartige offene Warenauslage eine verführerische Anziehungskraft auf den Kunden aus, der der Ladendieb letztlich nicht widerstehen konnte.100 Welcher Kunde, wann, wo und warum diese Absicht verfolgte, konnte der Einzelhändler nicht mit völliger Gewissheit vorhersagen.
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Erste Erfahrungen mit der Selbstbedienung in Hamburg, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1950. Kühn, Alfred: Selbstbedienung – Nichts für uns?, in: Edeka-Rundschau, 22/1957; Priess 1952, S. 64; Schulz-Klingauf 1960, S. 237; Seeling, Erck-Rüdiger: Ladendiebstahl – Phänomen unserer Zeit, in: Der Einzelhändler, 15.11.1968. Zitiert nach: Frevert, Ute (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 62. Freitags werden die Finger lang. Das Institut für Selbstbedienung untersucht Ladendiebstähle, in: Blick durch die Wirtschaft (16.4.1969), WWA K3/2003.
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Für die Einschätzung der tatsächlichen Gefahr kam erschwerend hinzu, dass die Erfahrungswerte nicht verlässlich erschienen, da der Diebstahl nur anhand der Inventurdifferenzen feststellbar war, die aber eine Vielzahl anderer Warenverluste beinhalteten.101 Für Vertrauen ist also sowohl eine Erwartungs- als auch eine Erfahrungskomponente ausschlaggebend.102 Die Erfahrung, welche den Einzelhändlern hinsichtlich des Verhaltens der Käufer zur Verfügung stand, war in den ersten Jahren der Nachkriegszeit vom Eindruck der Versorgungsnotlage eines Großteils der Bevölkerung geprägt. Infolge der Knappheit an Konsumgütern und finanziellen Ressourcen entstanden spezifische Strategien bei der Lebensmittelbeschaffung. Der Schwarzmarkt etablierte sich als „unentbehrliches Versorgungsnetz“ und Diebstahl wurde teilweise als Überlebensstrategie gerechtfertigt, wie z. B. auf prominenter Ebene durch den Kölner Kardinal Frings.103 Diese Ausnahmesituation thematisierte auch der Einzelhandel: im Zusammenhang mit der Diebstahlfrage war in der Konsumgenossenschaftlichen Rundschau vom 18.3.1950 die Rede von der „gesunkenen Nachkriegsmoral“, die den Erfolg der Selbstbedienung gefährden könnte.104 Man hatte Angst, dass in der freien Warenauslage des Selbstbedienungsgeschäftes sämtliche Hemmschwellen schwinden würden, um nach dem zu greifen, was man brauchte. Auch wenn die Beschreibungen des Kundenverhaltens gegenüber der offenen Warenauslage sich im Laufe der 1950er Jahre von dieser kriegsbedingten Argumentation lösten, blieb die Anziehungskraft der Warenfülle unter anderen Vorzeichen problematisch. Die „massierten Schüttauslagen“, die „verlockende Warenpracht“ und „die Einsamkeit in der Masse des großzügigen Angebots“ formten neue Dimensionen des Konsums, in denen sich Einzelhändler und Konsumenten zurechtfinden mussten.105 Dabei zeigen sich in den 1950er Jahren kaum Anknüpfungen an den Kleptomaniediskurs
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Vgl. Pelster 1962, S. 289f.; Pirmez, Emile: Der Schutz gegen den Ladendiebstahl, in: Böckli, Hans Rudolf (Hg.): Neue Aspekte der Selbstbedienung, Rüschlikon 1958, S. 6988, hier S. 69; Schulz-Klingauf 1960, S. 236. Ebd., S. 14. Andersen 1997, S. 22f. Erste Erfahrungen mit der Selbstbedienung in Hamburg, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1950. Heimann, F.W.: Verluste durch Ladendiebstahl umstritten, in: Edeka-Rundschau, 19./26.5.1961; Freitags werden die Finger lang. Das Institut für Selbstbedienung untersucht Ladendiebstähle, in: Blick durch die Wirtschaft (16.4.1969), WWA K3/2003; Ladendiebstähle in der Stadt, in: Rewe Echo, 11/1964. Auch: Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M.8 1988, S. 46f.
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des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der Diebstahldebatte wurde durchaus Kritik an der Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaft laut, wie in folgender Aussage: „Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Veröffentlichung dieser Freisprüche in der Tagespresse beim Publikum häufig den Eindruck hervorrief, als ob Entwendung in Selbstbedienungsgeschäften kein kriminelles Vergehen, sondern so eine Art Kavaliersdelikt sei, zumal die kleptomanen Täter in der Regel den sogenannten ,bürgerlichen Kreisen‘ angehören, die so etwas ähnliches wie Opfer einer Wohlstandskriminalität seien.“106
Allerdings lässt sich in den Quellen weder eine umfassende Pathologisierung des Massenkonsums noch eine Verweiblichung oder aber Erotisierung des Ladendiebstahls ausmachen, wie sie die Kulturkritik des 19. Jahrhunderts kennzeichnete.107 Eine Erhebung des ISB zum Ladendiebstahl in den 1960er Jahren ergab, dass 50 Prozent der Ladendiebe Hausfrauen, 36 Prozent Schüler und Arbeitslose und 8 Prozent Arbeiter und Angestellte waren.108 Allerdings zog man aus derartigen Untersuchungen kaum die Schlussfolgerung, Diebstahl sei ein typisch weibliches Phänomen. Die Ursachen für den Ladendiebstahl wurden insgesamt weniger bei der psychologischen Verfassung und den Motiven der Delinquenten gesucht, sondern vielmehr ging es um die Analyse der Schwachstellen im System der Selbstbedienung.109 Mangelnde Übersichtlichkeit und Unaufmerksamkeit des Personals ließen sich als häufigste Probleme identifizieren. Durch die zunehmende Zahl der Maßnahmen zur Verhinderung von Diebstählen versuchten die Einzelhändler, das mangelnde Vertrauen durch Kontrolle zu ersetzen, wie z. B. durch eine übersichtliche Gestaltung des Ladenraums, die Pflicht des Kunden einen Einkaufskorb zu benutzen oder die Anbringung von Spiegeln und Warn-
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Entwendungen in Selbstbedienungsläden, in: Fachblatt SB, 12/1961. Vgl. auch: Diebstahl in SB-Läden, in: Der neue Weg, 4/1965; Hagen, Karlheinz: Die übelsten Kunden, in: Die RGH teilt mit, 10/1964, S. 5-7, hier S. 5; Krimineller Wohlstand, in: Der neue Weg, 4/1967. Vgl. Briesen 2001, S. 231f.; Lenz 2006, S. 90-93; Phillips, Alexander, Shaw 2005, S. 67. Seeling, Erck-Rüdiger: Ladendiebstahl – Phänomen unserer Zeit, in: Der Einzelhändler, 15.11.1968, S. 3-4. Vgl. auch: Der Diebstahl im Selbstbedienungsladen, in: Der neue Weg, 4/1966. Vgl. als eine der wenigen Ausnahmen: Böckli, Hans Rudolf: Die Motive des Ladendiebstahls, in: Ebd. (Hg.): Neue Aspekte der Selbstbedienung, Rüschlikon 1958, S. 61-88.
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schildern.110 Diese Präventivmaßnahmen sollten die mangelhaften Informationen über das Kundenverhalten durch standardisierte, nicht individuell zugeschnittene Mechanismen kompensieren, die aber letztlich wiederum eine versteckte Einschränkung der Selbstbedienung darstellten. Die Unsicherheit über die potentielle Handlungsweise der Kunden wurde weiterhin dadurch gefördert, dass der Einzelhändler sein Vertrauen einem heterogenen, teilweise anonymen Käuferpublikum entgegenbringen musste. Die Prüfung der Vertrauenswürdigkeit des Einzelnen, die normalerweise auf der Grundlage von Informationen erfolgt, stieß hier an ihre Grenzen. Die Reihe der genannten Ungewissheiten hinsichtlich des Kundenverhaltens ist ein typisches Merkmal für den Wandel von Institutionen – hier der Institution des Verkaufens und Kaufens von der Bedienung zur Selbstbedienung. Berger und Luckmann gehen davon aus, dass sich menschliches Verhalten als umso voraussagbarer und kontrollierbarer erweist, desto institutionalisierter die entsprechenden Verhaltensweisen sind.111 In diesem Sinne erscheint es charakteristisch für Umstrukturierungsphasen von Institutionen, ebenso wie für nicht-institutionalisierte Tätigkeiten, dass keine oder wenig Sicherheit bei der Beurteilung des potenziellen Verhaltens im Rahmen der neuen oder modifizierten Institution besteht. Die intensive Auseinandersetzung mit der Diebstahlfrage verwies auf den prekären Zustand des Vertrauensverhältnisses zwischen Kunde und Kaufmann – Vertrauen ist nur dann wahrnehmbar, wenn es knapp wird.112 Die bestehende Rechtsunsicherheit beim Umgang mit Diebstählen im Selbstbedienungsladen verstärkte die beschriebene Situation der Unsicherheit und des Risikos in der neu strukturierten Beziehung zwischen Verkäufer, Käufer und Ware. Dabei hatten widersprüchliche Gerichtsurteile eine breite öffentliche Diskussion um die Diebstahlgefahr entfacht.113 Die zentrale Frage drehte sich erstens darum, wann davon gesprochen werden konnte, dass der Täter die Ware in seine unmittelbare „Verfügungsgewalt“ gebracht hatte. Einige Gerichte verurteilten Ladendiebe, die das Personal beim Entwenden der Ware vom Personal beobachtete, nur für versuchten Diebstahl, da aus ihrer Sicht die „Verfügungsgewalt“ des Ladeninhabers in die 110
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Vgl. Eine Antwort auf alle Fragen des Ladendiebstahls, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 29.10.1960; Eklöh 1958, S. 15; Hagen 1964, S. 6f.; Selbstbedienung, 9/1957/ 58, S. 23f.; Pirmez 1958, S. 74; Schulz-Klingauf 1960, S. 240f. Berger, Luckmann 2003, S. 67. Frevert 2003, S. 9. Vgl. Heimann, F. W.: Verluste durch Ladendiebstahl umstritten, in: Edeka-Rundschau, 19./26.5.1961.
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sem Fall noch nicht gebrochen war. In anderen Fällen wertete die Justiz dieses Verhalten als „vollendeten Diebstahl“. Ein zweiter Streitpunkt bestand bezüglich der Berücksichtigung der gestohlenen Warenmenge. Wenn es sich um verderbliche Waren, wie z. B. Lebensmittel handelte, galt der Tatbestand des Mundraubs (§370,5 StGB), der im Fall von versuchtem Mundraub für den Täter Straffreiheit bedeutete.114 Zur Debatte stand, was als „geringer“ oder „unbedeutender“ Wert anzusehen sei. Nachdem man sich zunächst auf die Rechtsprechung von 1937 berief, die die Arbeitslosenunterstützung als Bemessungsgrundlage nahm, ging man später zu einer davon unabhängigen, individuellen Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Täters über.115 Derartige Urteile lösten bei den Einzelhändlern den Eindruck aus, sie seien beim Diebstahl kleiner Warenmengen gesetzlich nicht abgesichert, der Tatbestand werde bagatellisiert und es komme zu einer „Auflockerung der Moral“ bei den Konsumenten.116 In diesem Fall wurde der eigentliche Vertrauensbruch zwischen Kunde und Kaufmann in ein mangelhaftes institutionelles Vertrauen in die bundesdeutsche Rechtsprechung transformiert. Erst 1961 beschloss der Bundesgerichtshof eine einheitliche Regelung, die die Möglichkeit der Straffreiheit ausschloss: „Sobald der Täter im Selbstbedienungsladen mit Zueignungsabsicht Waren in seine Kleidung oder in eine mitgebrachte Tasche gesteckt hat, ist sein Gewahrsam begründet und damit der Diebstahl oder der Mundraub vollendet, auch wenn das Personal den Vorgang beobachtet hat und die weitere Verfügung ‚ohne Schwierigkeiten‛ verhindern kann.“117
Neben die Beseitigung der Rechtsunsicherheit trat zunehmend auch die Einsicht, dass die Diebstahlquote im Selbstbedienungsladen bei richtiger Organisation tatsächlich nicht maßgeblich höher lag als beim traditionellen Bedienungssystem. Diese musste sich bei vielen Einzelhändlern allerdings 114
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Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses am 24.11.1959 (24.11.1959), BWA K9/600; DIHT an Industrie- und Handelskammern, betr. Diebstahl in Selbstbedienungsläden (9.10.1959), S. 3, WWA K3/2003; Entwendungen in Selbstbedienungsläden, in: Fachblatt SB, 12/1961; Ladendiebstähle in Selbstbedienungsgeschäften, in: Der Einzelhändler, 20.4.1961; Versuchter Mundraub?, in: EdekaRundschau, 16.12.1960. Brief DIHT an Industrie- und Handelskammern, betr.: Diebstahl in Selbstbedienungsläden (9.10.1959), S. 3, WWA K3/2003. Entwendungen in Selbstbedienungsläden, in: Fachblatt SB, 12/1961. Diebstähle in Selbstbedienungsläden, in: Juristischer Pressedienst (13.12.1961), WWA K3/2003. Vgl. zu den einzelnen rechtlichen Grundlagen auch: Wie bekämpft man Kunden mit langen Fingern, in: Rewe-Echo, 2/1969.
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erst gegen die Angst vor dem Vertrauensmissbrauch des Kunden durchsetzen. Außerdem machten viele Ladenbesitzer die Erfahrung, dass ihre Unsicherheit und ein entsprechend undifferenziertes misstrauisches Verhalten gegenüber den Kunden das Geschäft schädigte, wie folgende Kundenzuschrift an die Firma Stüssgen von 1957 deutlich macht: „Mir und auch meiner Schwiegermutter passiert es bei jedem Einkauf, daß uns gerade dieser Herr [der Ladenleiter] wie Diebe verfolgt und beobachtet. Man hat geradezu Angst, in seine Manteltasche zu greifen, um sich den Zettel herauszuholen, auf dem man sich seine Besorgungen aufgeschrieben hat. Vielleicht können sie diesen Herrn dazu bewegen, seine Beobachtungen in Zukunft etwas diskreter und weniger aufdringlich zu machen.“118
In einem sukzessiven Lernprozess akzeptierten die Einzelhändler das neuartige Beziehungsgefüge zwischen Käufer und Verkäufer als Normalität. Diese Anpassung an die neuen Anforderungen und die allmähliche Regulierung moralischer, rechtlicher und soziokultureller Problemlagen bildeten die Voraussetzung, „die für das Verkaufssystem der Selbstbedienung erforderliche und charakteristische Atmosphäre des Vertrauens gegenüber dem Kunden auch in seinem Betrieb walten zu lassen“.119 1.1.4 Der allmähliche Übergang zur Voll-Selbstbedienung Mit der Eröffnung der ersten Selbstbedienungsgeschäfte in der Bundesrepublik Deutschland wurden die traditionellen Praktiken und die Kenntnisse über den Vertrieb im Einzelhandel in Frage gestellt. Damit setzte ein Aushandlungsprozess zwischen der tradierten und gesellschaftlich fest verankerten Institution des Verkaufs im Bedienungsladen und den neuen Problemlösungsmustern, Maßstäben und Praktiken der Selbstbedienung ein. Diese Konfrontation beinhaltete ein Konfliktpotential zwischen dem tradierten status quo, der einem sozialen Wandel entgegenstand und der Hinterfragung des „Gewissheitscharakters“ der althergebrachten Verkaufsform, die den sozialen Wandel zunehmend beschleunigte.120 Das folgende Teilkapitel soll zeigen, inwiefern dieses Spannungsverhältnis den Einzelhandel der 1950er Jahre prägte. In diesem Zusammenhang ist zum einen eine zeitliche Koexis
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Ladendiebstahl, in: Cornelia, 3/1957. Vgl. in der Forschung dazu: Phillips, Alexander, Shaw 2005. Schulz-Klingauf 1960, S. 238. Vgl. Berger, Luckmann 2003, S. 131.
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tenz von Bedienungs- und Selbstbedienungsladen zu beobachten. Zum anderen zeichnete sich die Entwicklung der Selbstbedienung zum dominierenden System durch verschiedene Mischformen aus den beiden Verkaufsformen aus. In den frühen 1950er Jahren hing die Modernität eines Lebensmittelgeschäfts noch nicht von der Art und Weise des Verkaufs ab. Sehr deutlich wird das z. B. im Ausstellungskatalog der Rationalisierungsausstellung „Alle sollen besser leben“, die 1953 in Düsseldorf stattfand: „In der Hallenmitte zieht ein moderner Bedienungsladen des LebensmittelEinzelhandels, der auch dem Fachmann rationelle Neuerungen im Ladenbau und in der Anordnung und Aufmachung des Warenangebots zeigt, den Blick auf sich. Hieran schließt sich ein als Marktplatz gedachter Raum, welcher von einem neuzeitlichen Selbstbedienungsladen als Beispiel für ein Geschäft ohne Bedienung und ohne Schaufenster begrenzt wird.“121
Von verschiedenen Positionen aus setzte man Rationalisierung im Einzelhandel mit beiden Verkaufsformen in Verbindung: „Beide sind in ihrer Art vollendet und stellen das Modernste und Rationellste dar, was zur Zeit gebaut wird.“122 Besonders in praktisch ausgerichteten Broschüren und Artikeln in Fachzeitschriften wurde häufig einfach nur der Ausdruck „moderner Laden“ verwendet, aus dem nicht explizit hervorging, um welche der beiden Geschäftsformen es sich handelte.123 Erst ein genauer Blick auf den Text zeigt, ob es um verschiedene Aspekte der Modernisierung im Bedienungsladen ging oder um die Selbstbedienung als moderne Verkaufsform. Auf diese Weise bestanden miteinander konkurrierende Vorstellungen von und damit verbundenes Wissen um „modernes“ Verkaufen, die gleichzeitig Anwendung in der Praxis fanden. Mit der zunehmend erfolgreichen Verbreitung der Selbstbedienungsgeschäfte und Studien zu ihrer höheren Leistungsfähigkeit geriet das System des Bedienungsladens jedoch in Bedrängnis. Die neuen Anforderungen der Massenproduktion und der sich damit entwickelnden Massenkonsumgesell
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Alle sollen besser leben! Grosse Rationalisierungs-Ausstellung Düsseldorf 1953, vom 18. Juli bis 16. August (Katalog), Düsseldorf 1953, o. S. Handel hilft besser leben. Sonderausgabe der Einzelhandelsnachrichten zur Ausstellung: Alle sollen besser leben (31.7.1953), WWA K3/1284. So z. B.: Moderne Läden, in: Der Einzelhändler, 19/1963 (ein noch sehr spätes Beispiel); Unmoderne Läden, in: Rewe-Echo, 9/1953; Priess, Friedrich, Ist mein Betrieb noch zeitgemäß?, Köln 1955, S. 5, 7; Bruckhaus, Max, Wir schmeissen den Laden. Eine kurze Anleitung zur Überprüfung des Verkaufsraumes, Köln 1959, S. 3, 6.
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schaft an die Warenverteilung problematisierten die Tradition des Bedienungsprinzips. Es wurde zudem durch die Lösungsmöglichkeiten, welche die Selbstbedienung eröffnete, hinsichtlich seiner Nützlichkeit in Frage gestellt, wie es in der folgenden Publikation aus den frühen 1950er Jahren zugespitzt, allerdings auch stark plakativ, formuliert wird: „Zusammenfassend ist festzustellen, daß die rückständigen und traditionsgebundenen, daher veralteten Verkaufsmethoden im Einzelhandel, insbesondere im Lebensmittelsektor, den Nährboden für diese neue Betriebsform geschaffen haben. Der typische Lebensmittelladen unterscheidet sich in den meisten Fällen kaum vom Kramladen des Mittelalters. Während die industrielle Produktion ständig rationalisiert wurde, ist der Einzelhandel von dieser Modernisierung unberührt geblieben. Daher ist bei ihm eine Rationalisierung nicht nur notwendig, sondern sie wird sich auch durchsetzen.“124
1952 führte die Rationalisierungs-Gemeinschaft des Handels (RGH) eine Untersuchung zu den „Leistungen und Kosten in Selbstbedienungsläden“ durch, die die „Lebensfähigkeit“ der neuen Verkaufsform prüfen sollte.125 Die Studie zeigte, dass die analysierten Geschäfte einen 87 Prozent höheren Umsatz als der durchschnittliche Lebensmitteleinzelhandel und niedrigere Kosten, v. a. bei den Raum- und Personalkosten, verzeichneten.126 Gleichzeitig hatte sie den Anspruch, unter „Berücksichtigung deutscher Wirtschaftsverhältnisse“ einen „Typ von Selbstbedienungsladen“, „der nach Form, Grösse und Struktur den wirtschaftlichen Gegebenheiten unseres Landes entspricht“ zu entwickeln.127 Aus „Angst vor Fehlentwicklungen im Einzelhandel“ war eine umfassende Veröffentlichung der Ergebnisse allerdings teilweise unerwünscht: die HDE und die Edeka z. B. lehnten die Selbstbedienung als ungeeignet für ihre Mitglieder ab.128 Einerseits kann diese Abwehrreaktion gegenüber der neuen Verkaufsmethode als Ausdruck einer konservativen Einstellung interpretiert werden. Andererseits deutet sie auf den Mangel an verlässlichen und allgemein gültigen Erfahrungswerten mit der Selbstbedienung hin, über den man sich nicht allein durch eine erste Studie hinwegsetzen konnte und wollte. Allerdings scheuten einige Einzelhändler in der Praxis nicht davor zurück, die Kenntnisse, die zu den Rationalisierungsmöglichkei 124
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Schreiterer 1951, S. 16. Auch: Selbstbedienung im Dienste des Verbrauchers, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Priess 1952, S. 130. Ebd., S. 21. Ebd., S. 130. Ditt 2003, S. 324.
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ten durch die Selbstbedienung gewonnen worden waren, zunächst selektiv auf ihre Bedienungsgeschäfte zu übertragen.129 Auf dieser Grundlage betonten breite Kreise des Einzelhandels immer wieder die Entwicklungsfähigkeit des Bedienungsladens: „Es wird besonders mit Rücksicht auf den mittelständischen Einzelhandel gesagt, daß die Selbstbedienung bei uns keineswegs die ¸alleinseligmachende’ Verkaufsform, sondern daß auch der Bedienungsladen entwicklungsfähig sei. Unbedingte Voraussetzung für einen erfolgreichen Bedienungsladen ist aber, daß er mit der Zeit geht, d. h. sich modernisiert. Die Läden, welche die Einrichtung und Bedienungsform aus Großvaters Zeiten beibehalten, dürfen über kurz oder lang zum Aussterben verurteilt sein.“ 130
Zur gleichen Schlussfolgerung war auch das Gutachten der RGH von 1952 gekommen, obwohl es die Selbstbedienung so positiv bewertet hatte.131 Eine gewisse Skepsis, ob sie die „rationellste und beste Verkaufsform“ sei, bestand bis Mitte der 1950er Jahre durchaus auch noch bei einzelnen Vertretern der Bundesregierung.132 Die traditionell verankerte, gesellschaftliche Akzeptanz des Bedienungssystems als Institution des Verkaufens und Kaufens sicherte eine ausgeprägte Widerstandsfähigkeit der althergebrachten Distributionsform gegenüber den neuen Lösungsmöglichkeiten der Selbstbedienung.133 Im Aushandlungsprozess zwischen den beiden Verkaufsformen zeichnete sich ein weitreichender Konflikt um die Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens und den damit verbundenen sozialen Bereichen ab, wie Bourdieu ihn charakterisiert: „Es geht bei diesen Kämpfen in der Tat um die Macht, Prinzipien der sozialen Gliederung (division) und mit ihnen eine bestimmte Vorstellung (vision) von der sozialen
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Grundsätzliches zur Ladengestaltung und Verkaufsförderung, in: Edeka-Rundschau, 1/1953; Laurisch, Wilhelm: Der neuzeitliche Verkaufsraum als umsatzfördernder Faktor, in: Edeka-Rundschau, 8.1.1954; Wer nicht Schritt hält, bleibt zurück, in: EdekaRundschau, 29.1.1954; Brief Deutscher Industrie- und Handelstag (Bonn) an Mitgliedskammern, betr.: Selbstbedienungsgeschäfte (18.8.1952), BWA K8/3229/1. Schucht 1956, S. 45. Auch: Ist Selbstbedienung das non plus ultra, in: EdekaRundschau, 14.3.1958; Sind Selbstbedienungsläden schon überall angebracht?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Priess 1952, S. 132. Auch: Brief DIHT an Mitgliedskammern, betr. Selbstbedienungsgeschäfte (18.8.1952), BWA K8/3229/1; Sind Selbstbedienungsläden schon überall angebracht?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Vermerk von Dr. Recke für Herrn Bundesminister durch die Hand des Herrn Staatssekretärs, betr. Rationalisierung des Handels (15.2.1955), S. 1, BAK B116/8207. Vgl. Berger, Luckmann 2003, S. 74, 126.
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Welt durchzusetzen, die, wenn sie für eine ganze soziale Gruppe verbindlich werden, ihr einen Sinn und jenen Konsens über den Sinn und v. a. über die Identität und Einheit der Gruppe geben können, der die Realität dieser Gruppeneinheit und identität ausmacht.“134
Diese Auseinandersetzung äußerte sich in der Diskussion über die Vor- und Nachteile der beiden Verkaufssysteme, die sich nicht nur auf fundiertes theoretisches und praktisches Wissen stützte, sondern zu einem großen Teil auf Wertungswissen in Bezug auf die Angemessenheit der Art und Weise des Verkaufs. Sie stand in engem Zusammenhang mit den Vorstellungen von einer zeitgenössischen Konsumgesellschaft und der entsprechenden Rolle des Einzelhändlers. Dabei zeigte sich die bereits für die früheren Rationalisierungsdebatten charakteristische Vermischung zwischen alltags- und interessengeleiteter bzw. wissenschaftlicher Argumentation. Der Grundkonflikt gestaltete sich dabei folgendermaßen: „Wir sind im Begriff, die Schwelle zu überschreiten: aus einer jahrzehntelangen Mangelwirtschaft gehen wir zu einer Überflußwirtschaft gegenüber [sic!], auf manchen Gebieten haben wir es bereits getan. […] Wir müssen dabei feststellen, daß wir bisher wenig Erfahrungen mit Überflußerscheinungen haben. Weite Kreise unserer Wirtschaft, v. a. die mittelständischen Betriebe, sind durch diese Entwicklung beunruhigt. In der letzten Zeit haben wir daher in Deutschland häufiger den Blick auf die Verhältnisse in Nordamerika gerichtet, um aus der dortigen Entwicklung vielleicht Anhaltspunkte zu gewinnen.“135
Die Reichweite der Problematisierung von Rationalisierung im Zusammenhang mit Massenproduktion und Massenkonsum ist bereits mit der Rationalisierungsdebatte der Weimarer Republik angesprochen worden. In den 1950er Jahren stellte sich nicht mehr nur die Frage nach der Beziehung zwischen Massenproduktion und Konsum, sondern eben auch nach der Rolle des Distributionswesens für die konkrete Ausformung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft. Neben den klaren ökonomischen und technischen Anforderungen an das System des Massenabsatzes, konkretisierte sich im Laufe der 1950er Jahre die Frage nach der Einstellung der Einzelhändler zu den soziokulturellen Konsequenzen von Wohlstand, Warenvielfalt und Überfluss – repräsentiert und konkretisiert wurden diese u. a. im Selbstbedienungsladen. Die Verfechter der Selbstbedienung beriefen sich in diesem Zu
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Zitiert nach: Landwehr 2001, S. 95 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch: Stehr 1994, S. 364f. Birk (IHK Siegen): Maßnahmen zur Förderung der mittelständischen Betriebe in den USA (17.11.1959), S. 2, RWWA Köln 1/449/2.
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sammenhang nicht nur auf das verbesserte Kosten-Leistungs-Verhältnis sowie die Möglichkeiten der Arbeitserleichterung und -rationalisierung, sondern fühlten sich auch als Teil einer Avantgarde modernen Lebens und Teil des sozialen Fortschritts: „Außerdem sind die Selbstbedienungsläden in der Regel nach den jeweils neuesten Erkenntnissen des Ladenbaus modern eingerichtet. Diese Läden sprechen in ihrem äußeren Bild bereits den Verbraucher an. Die Chance sowie die Erfolge der Selbstbedienung dürften zu einem Teil darin begründet sein, daß der Verbraucher in allen Lebensbereichen (z. B. Wohnungsbau und Wohnungseinrichtung, Arbeitsplatz und Arbeitsplatzgestaltung, Fließband- und Massenfertigung, Automation) ständig mit dem Fortschritt in Berührung kommt. So ist es nur natürlich, wenn er sich auch einem neuzeitlichen Verkaufssystem zuwendet, das einen seinem Lebensstil entsprechenden Einkauf ermöglicht.“136
Die Fürsprecher des Bedienungsladens beanspruchten ebenfalls zeitgemäß zu sein, ohne jedoch einem modischen Zwang zu unterliegen. Leitsätze wie „Der Kunde kauft nur, was er sieht“ und die Ware „wird – möglichst in Massen – sichtbar ausgelegt“ boten auch hier den Maßstab für die Modernisierung der bestehenden Ladeneinrichtung.137 Als Begründung für die zwangsläufige Notwendigkeit der Anpassung wurden immer wieder die gestiegenen Ansprüche der Konsumenten an die Warendarbietung und Verpackung betont.138 Gleichzeitig wurde neben der teilweisen Orientierung an den neuen Ideen vereinzelt durchaus Kritik am eigenen System laut: „Die Theke sollte in erster Linie als Arbeitstisch Verwendung finden, niemals darf sie eine Schranke sein, die den obrigkeitlichen Beamten vom Untertanen trennt.“ 139
Trotzdem hielten die skeptisch eingestellten Einzelhändler am vermeintlichen Wunsch des Kunden nach individueller Bedienung und persönlicher
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Pelster 1962, S. 206. Auch: Eklöh 1958, S. 11; Konsumgenossenschaft DortmundHamm: Bericht über das Geschäftsjahr 1961, S. 4, WWA S7/569/1. Laurisch, Wilhelm: Der neuzeitliche Verkaufsraum als umsatzfördernder Faktor, in: Edeka-Rundschau, 8.1.1954; Der moderne Laden, in: Edeka-Rundschau, 24.7.1953; Rationeller Verkauf im modernen Laden. Praktische Winke für den LebensmittelKaufmann, hg. v. HDE Wiesbaden (1956), BWA K8/3270/1; Schnieders, Harro: Haben die Mutigen recht?, in: Rewe-Echo, 7/1957. Laurisch, Wilhelm: Der neuzeitliche Verkaufsraum als umsatzfördernder Faktor, in: Edeka-Rundschau, 8.1.1954; Vorpacken der Ware – eine zusätzliche Leistung unserer Genossenschaften, in: Edeka-Rundschau, 9.7.1954. Laurisch, Wilhelm: Der neuzeitliche Verkaufsraum als umsatzfördernder Faktor, in: Edeka-Rundschau, 8.1.1954.
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Beratung als zentralem Leitsatz im Rahmen des tradierten Konsummodells fest. Der Konflikt zwischen den Fürsprechern von Bedienung und Selbstbedienung erwies sich auf dieser Grundlage als Auseinandersetzung zwischen den Theoretikern der neuen Verkaufsform und den Praktikern der traditionellen Verkaufsmethode. Dabei verfügte die praktische Erfahrung zunächst über eine größere Überzeugungs- und Wirkkraft als die theoretische Argumentation der SB-Pioniere.140 Laut Kleinschmidt stellte Erfahrung neben aktuellen Wahrnehmungen und zukunftsorientierten Leitbildern einen ausschlaggebenden Faktor für unternehmerische Entscheidungen dar.141 Die zunehmende Überzeugung vom Erfolg der neuen Vertriebsform trat erst mit deren allmählicher Bewährung in der Praxis ein. Dazu zählte nicht nur eine grundsätzlich positive Einstellung der Kunden ihr gegenüber, sondern auch der tatsächliche Einkauf im Selbstbedienungsladen. Denn auch wenn die Konsumenten bestimmte Aspekte der Selbstbedienung befürworteten, war die Möglichkeit zur tatsächlichen Nutzung dieser Geschäfte in den 1950er Jahren quantitativ noch stark begrenzt. In einer Umfrage von 1958 gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie wüssten, was ein Selbstbedienungsladen sei. Aber nur 35 Prozent hatten einen Laden in unmittelbarer Nähe zur Verfügung.142 Bis zum Anfang der 1960er Jahre bewegten sich die Kunden großteils in einer vom Bedienungsgeschäft dominierten Sphäre des Lebensmitteleinzelhandels und akzeptierten das „Bedientwerden“ als alltägliche Praxis. Noch 1957 standen 1379 Selbstbedienungsläden ca. 200.000 Bedienungsgeschäfte gegenüber.143 Doch die Einrichtung von „Mischformen“ weichte die Diskussion über die Dualität von Bedienung und Selbstbedienung in der Einzelhandelspraxis bereits zu Beginn der 1950er Jahre auf. Ebenso wie im Kontext der Rationalisierung der 1920er Jahre ist somit auch hier zwischen der Diskussion und der tatsächlichen Umsetzung in der Praxis zu unterscheiden. Die Entwederoder-Frage trat somit in den Hintergrund. Weit verbreitet herrschte die Meinung, dass die Entwicklung auf die Teilselbstbedienung als „goldenen Mittelweg“ zulaufe, der die Vorteile der beiden Verkaufsformen vereine.144 Diese Zwischenlösung wies verschiedene Ausprägungen und Bezeichnun 140 141 142 143 144
Vgl. Berger, Luckmann 2003, S. 127f. Kleinschmidt 2004, S. 270. Moss 1958, S. 119f. Vgl. Institut für Selbstbedienung 1988, S. 20. Bedienungsladen – Selbstbedienungsladen entweder – oder, in: Edeka-Rundschau, 22.10.1954; Selbstbedienungs-Test in Saarbrücken, in: Edeka-Rundschau, 17.9.1954.
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gen auf, darunter auch Selbstwahlladen oder Schnellbedienung.145 Die Zahl der Läden mit Teil-Selbstbedienung überstieg in den 1950er Jahren die Zahl derer mit Selbstbedienung bei weitem. So führten die Konsumgenossenschaften Ende 1953 allein 200 Lebensmittelgeschäfte in TeilSelbstbedienung, reine Selbstbedienungsgeschäfte gab es bundesweit – alle Unternehmensformen zusammengenommen – zu diesem Zeitpunkt nur 121.146 Ebenso vielfältig und kreativ, wie sich die Umsetzung in die Praxis gestaltete, erschienen auch die Gründe für eine teilweise Selbstbedienung. In den 1950er Jahren war es, v. a. aufgrund der ungelösten Verpackungsfrage, weit verbreitet, neben einem kompletten SB-fähigen Lebensmittelsortiment Frischwaren wie Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst, Backwaren und Feinkostartikel an einer Bedientheke anzubieten. Diese Form des Verkaufs bildete somit eine Übergangslösung, bis die technischen und hygienischen Schwierigkeiten durch praktische Innovationen überwunden werden konnten. Die „zwanglose Kombination von Selbstbedienungsladen und Bedienungsladen“ verstanden viele Einzelhändler aber auch als ein stufenweises Vorgehen bei der Umstellung. Den unmittelbaren Übergang zur Selbstbedienung nahmen sie dagegen als radikalen Übergang wahr, der entsprechend bei vielen Einzelhändlern eine „psychologische Abwehrstellung“ hervorrief.147 Dabei konnte die Aufteilung der Waren zwischen Selbstbedienungsund Bedienungsabteilungen durchaus variieren. Im Rahmen der MSA-Kurse zu modernen Verkaufsmethoden war es ein zentrales Anliegen der westdeutschen Einzelhändler gewesen, den Fokus stärker auf die Teilselbstbedienung zu legen.148 Als zweite Variante der Teilselbstbedienung existierte der Freiwahlladen. Er wurde als „spezifisch mittelständischer Typ“ des 145
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Vgl. zu den verschiedenen Formen auch: Menninger, Siegfried: Der neue Laden. Betriebswirtschaftlicher und psychologischer Leitfaden für die Modernisierung, den Neu-, Um- oder Anbau von Läden, Köln 1958, S. 47-49 Institut für Selbstbedienung 1988, S. 12. Richter, Rudi: Gedanken zum Selbstbedienungssystem, in: Edeka-Rundschau, 18./25.6.1954; Cordts, Richard: Die Selbstbedienung dringt vor, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg (4.8.1959), S. 584, RWWA 181/427/2; Deutscher Industrieund Handelstag: Amerikanische Verkaufsmethoden, hier: Schlussbesprechung in Frankfurt a. M. (12.8.1953), RWWA 28/145/7; Rationeller Verkauf im modernen Laden, 1956, S. 4, BWA K8/3270/1; Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NRW: Jahresbericht 1956, S. 14, WWA S7/570. Deutscher Industrie- und Handelstag: Brief, betr. Amerikanische Verkaufsmethoden, hier: Wanderausstellung, Termine in deutschen Städten (16.6.1953), RWWA 28/145/7.
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Selbstbedienungsladens charakterisiert.149 Die Produkte waren auf offenen Regalen für den Kunden frei zugänglich, der beim Betreten des Ladens selbst entscheiden konnte, ob er bedient werden wollte oder nicht. Zum Teil bezeichnete man die Selbstbedienung sogar als „Vorstufe für das Freiwahlsystem“, da der Kaufmann hier nach der Einführung der Selbstbedienung aufgrund bestimmter Arbeitseinsparungen „seine persönliche Leistung durch individuellere Behandlung seiner Stammkunden“ erst zur Geltung kommen lassen konnte.150 Der Tempo-Laden bildete eine dritte Form der Teilselbstbedienung, den die Konsumgenossenschaften seit 1952 als eine Mischung aus altem und neuem Verkaufssystem in Betrieb nahmen: „Tempo-Läden sind Bedienungsläden, deren Methodik ein schnelles Bedienen gestattet, das aber nicht unter dem Motto ¸Tempo-Tempo‘ zu einem seelenlosen, kalten, automatenhaften ,Abfertigen‘ werden darf. Ganz im Gegenteil! Es gibt keine Verkaufsform, die dem Personal so viel Zeit für individuelle Bedienung des einzelnen Käufers läßt, wie das Temposystem. Da das Ausschreiben von Schecks und die Berechnung der Waren entfallen, ergibt sich eine Zeitersparnis, die restlos dem Käufer gewidmet werden kann. Der Kontakt zum Mitglied bleibt also nicht nur erhalten, er kann sogar noch intensiver gestaltet werden.“151
In diesen Läden verkürzte sich die Wartezeit in der Hauptgeschäftszeit von 60-75 Minuten auf 15-20 Minuten. Darüber hinaus besaß der Tempo-Laden gegenüber der Selbstbedienung den Vorteil, dass durchaus noch ein enger Kontakt zwischen dem Kunden und den Verkäufern bestand. Gleichzeitig mit der Eröffnung der ersten Tempo-Läden kritisierte der Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK) allerdings, dass das Befördern der Körbe zur Kasse zusätzliche Arbeit darstelle und das Moment des Impulskaufes fehle, da der Kunde vom Verkäufer durch die Regale begleitet werde und die unmittelbar angezeigte Ware in den Einkaufskorb gelegt bekäme. Trotzdem wurde das System der Tempo-Läden in den 1950er Jahren als „Meilen-
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Schucht 1956, S. 48. Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957. Auch: Einzelhändler berichten über ihre Erfolge, in: Schönere Läden – leichteres Verkaufen, 1956, S. 60, BWA F36/229. Prieß, Bernhard: Schneller und Besser I-III, in: geg-Post, 7, 8, 10/ 1954, ZdK-Archiv. Auch: Erprobte Schnellbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.10.1952; Ja zur Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 21.9.1957.
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stein fortschrittlicher KONSUM-Verkaufskultur“ immer weiter ausgebaut.152 1960 betrieben die Konsumgenossenschaften 2107 SB-Läden, 2865 Tempo-Läden und 4202 Bedienungsgeschäfte.153 Ihre Vorreiterrolle bei den reinen Selbstbedienungsgeschäften hatten sie bereits ab 1953 an die Filialunternehmen verloren. Die Einstellung der Konsumgenossenschaften gegenüber der Selbstbedienung gestaltete sich von Anfang an ambivalent. Bereits 1951 warnte ein Genossenschaftsvertreter vor den Gefahren des Verpackungsluxus, des Repräsentationsbedürfnisses und dem Problem des Übereinkaufs, während er gleichzeitig meinte, die Konsumgenossenschaften seien durch die Einführung der Selbstbedienung „gesellschaftsfähig“ geworden.154 Einerseits bot die Selbstbedienung langfristig die Möglichkeit bei einer modernen Gestaltung der Geschäfte das „Arme-Leute-Kleid“ abzulegen und durch Kosteinsparungen trotzdem den Anspruch günstiger Verbraucherpreise zu erfüllen.155 Andererseits standen das Ziel der Bedarfsweckung im Selbstbedienungsladen, d. h. die Ausweitung der Sortimente und die Differenzierung der Nachfrage sowie die Anregung zum Mehr- und Impulskauf, im Gegensatz zu den konsumgenossenschaftlichen Idealen der Erziehung zu Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit: „Die Bedarfsweckung tritt als motorische Kraft immer mehr in den Vordergrund, die Bedarfsdeckung verblaßt demgegenüber. Der Versorgungsgedanke – ehemals Strukturelement der Konsumgenossenschaften – wird immer deutlicher als nicht mehr zeitgemäß erkannt. Hier liegen die tieferen Ursachen für die gegenwärtigen Strukturprobleme der Konsumgenossenschaften.“156
Bereits angesprochen worden ist das Problem der Konsumgenossenschaften, dass sich die Mitgliederbindung durch die zunehmend unpersönliche Selbstbedienung auflockerte.
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Der „Tempo-Laden“, in geg-Post 2/3 1953, ZdK-Archiv. Disch 1966, S. 100. Klein, Fritz: Bericht über die Genossenschaftliche Gemeinschaftswoche DeutschlandÖsterreich-Schweiz 1951 vom 14. bis 23. Mai 1951 in der Schweiz (1951), S. 10, FfZ 186, 5.14. Erste Erfahrungen mit der Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1950; Selbstbedienung im Dienste des Verbrauchers, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 2.2.1952. Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NRW: Jahresbericht 1960, S. 5, WWA S7/570. Zur zentralen Rolle von Sparsamkeit und finanzieller Disziplinierung auch: Die konsumgenossenschaftliche Betrachtung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 9.1.1954.
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Es ist deutlich geworden, dass die erste Hälfte der 1950er Jahre ein vielgestaltiges Experimentierfeld des Einzelhandels für die Integration der Selbstbedienung in das bestehende Verkaufswesen darstellte. Die Umstellungsversuche auf Voll- und Teilselbstbedienung können als Prozess der kreativen Aneignung verstanden werden, bei dem es nicht nur um die Ablösung der individuellen Bedienung aus dem Verkaufsvorgang ging, sondern um weitreichende soziokulturelle und wirtschaftliche Strukturveränderungen in der Übergangsphase zur Massenkonsumgesellschaft. Deshalb prägten den Zeitraum sowohl die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Selbstbedienung für die bundesdeutschen Verhältnisse geeignet war, als auch die Unsicherheit, ob sie als flächendeckendes Prinzip Erfolg haben würde. Gleichzeitig eröffnete die Innovation der Selbstbedienung eine neue Dimension des Wettbewerbs im Einzelhandel: die Verkaufsform erwies sich im Verlauf der 1950er Jahre als entscheidender Wettbewerbsfaktor. Dabei war die Debatte um die Neugestaltung der Lebensmittelgeschäfte bis zum Ende des Jahrzehnts durch die grundsätzliche Auseinandersetzung von tradierten soziokulturellen, wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Vorstellungen, Regelungen und Praktiken mit den neuen marktwirtschaftlichen und konsumgesellschaftlichen Bedingungen geprägt.157 Joseph Wickern fasste diese Entwicklung wie folgt zusammen: „1949-1959 haben wir gelernt, in der Selbstbedienung zu verkaufen, Umsätze zu machen. […] 1959-1969 werden wir lernen müssen, die in der Selbstbedienung beschlossenen Möglichkeiten zur Rationalisierung und Kostensenkung zu erkennen und anzuwenden. Um es mit plastischen Worten zu sagen: Das erste Jahrzehnt war die Lehrzeit der Selbstbedienung, das zweite ist die Gesellenzeit!“158
1.2 Systemwende 1957 1.2.1 Der Durchbruch der Selbstbedienung Das Jahr 1957 wurde in den Quellen als der Wendepunkt für die Entwicklung der Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet, mit dem viele anfängliche Schwierigkeiten der neuen Verkaufsform in der 157 158
Vgl. Brändli 1996, S. 104. Brief Dr. Joseph Wickern an Dr. Bernhard Hilgermann (IHK Köln) (25.9.1959), Anlage: Selbstbedienung 1959 (14.9.1959), S. 2, RWWA 1/449/2. Ebenso: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1963, S. 10.
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Praxis überwunden waren.159 Tatsächlich lässt sich im Vergleich der Jahre 1957 und 1958 ein quantitativer Sprung beobachten, bei dem sich die Zahl der Selbstbedienungsläden erstmals mehr als verdoppelte, um dann jährlich noch höhere Zuwachsraten zu verzeichnen. (Vgl. Anhang, Tabelle 6) Der einschneidende Charakter des Jahres 1957 bzw. die Trendwende in den späten 1950er Jahren beruhte auf dem Zusammenspiel einer Reihe von längerfristig angelegten ökonomischen und unternehmerischen Entwicklungsfaktoren. Zunehmende Prosperität und Stabilität kennzeichneten die allgemeine wirtschaftliche Lage im Verlauf der 1950er Jahre. Sie schuf die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Akkumulation von positiven Erfahrungswerten, praktischen Erfolgsergebnissen der Selbstbedienung und die Entwicklung heimischen theoretischen Wissens. Die ursprüngliche Disparität zwischen der Meinung der Experten und der Praktiker hatte sich also durch die weitgehende Bewährung in der Praxis aufgelöst.160 Rückblickend fasste Nieschlag 1960 zusammen: „Ein wesentlicher, vielleicht sogar der entscheidende Unterschied zwischen heute und damals ist in dem Umstand zu erblicken, daß früher alle Neuerungen im Handel unter großen Schmerzen geboren und die neuen Betriebsformen von dem bestehenden Handel als Bedrohung der eigenen Existenz empfunden und absolut feindlich aufgenommen wurden […] In neuer Zeit begegnen aber die Wandlungen wachsendem Verständnis. […] Allerdings erklärt sich dieser Wandel zum entscheidenden Teil daraus, daß die ¸Revolution im Handel’ in dem ¸milden Klima’ kontinuierlichen Wachstums von Warennachfrage und Handelsumsatz sowie bei günstigen Ertragsverhältnissen stattgefunden hat.“161
Im Anschluss an die Experimentierphase der Selbstbedienung wurde die Frage nach der vollen Ausschöpfung der Rationalisierungskapazitäten immer wichtiger. In diesem Zusammenhang beschreibt Schildt das Jahr 1957 als Scherenjahr für den industriellen Sektor: während bis dahin der wirtschaftliche Aufstieg v. a. auf der besseren Ausnutzung von Produktionsanlagen und mehr Arbeitskräften beruht hatte, gewannen gegen Ende der 1950er Jahre konkrete Rationalisierungsmaßnahmen stärker an Bedeu 159
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Henksmeier, Karl-Heinz: 1957: Durchbruch zur Selbstbedienung vollzogen, in: EdekaRundschau, 4./11.4.1958; Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NRW: Jahresbericht 1957, S. 41, WWA S7/570; Schulz-Klingauf 1960, S. 328; Wilkens 1967, S. 62. ANUGA Rundschau 1959, S. 14; Vgl. auch die Forschung: Berger, Luckmann 2003, S. 127; Ditt 2003, S. 325. Nieschlag 1962, S. 499.
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tung.162 Auch für den Einzelhandel lässt sich feststellen, dass die Entwicklung der Selbstbedienung in der ersten Hälfte des Jahrzehnts den Grundstein für die Entfaltung des Rationalisierungspotentials in Form von größeren Ladenflächen sowie größeren, differenzierteren und zentral gesteuerten Unternehmensstrukturen legte.163 Eine bedeutende Variable in der Umsetzung der Rationalisierung im Einzelhandel während der 1950er Jahre bildete der Bereich der Arbeitnehmer. Während man in anderen Ländern den Mangel an Verkaufspersonal als Grund für die Einführung der Selbstbedienung anführte, verzeichnete der bundesdeutsche Einzelhandel eine Zunahme der Beschäftigten.164 Die Zahl der Erwerbstätigen im Einzelhandel betrug 1950 1.274.144 Personen, 1961 2.174.731 und stieg bis 1970 auf 2.279.104. Teil dieser Entwicklung war die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit, v. a. der verheirateten Frauen. Ihr Anteil an den Beschäftigten im Einzelhandel stieg von 54,1 Prozent 1950 auf 62,2 Prozent 1961.165 Damit einher ging eine hohe Fluktuationsrate unter den weiblichen Arbeitskräften, die bei dem Filialunternehmen Stüssgen z. B. bei einem Viertel der Beschäftigten pro Jahr lag.166 Durch die stärker arbeitsteilige Gliederung des Verkaufsvorgangs in der Selbstbedienung konnte neues Personal schneller angelernt werden. Möglicherweise lag in dieser Entwicklung auch ein Grund für die positive Einstellung der Gewerkschaften gegenüber dem neuen System. Die anfänglich skeptische Haltung zu den Gefahren von mehr Arbeit für weniger Personal ebbten schnell ab, als im Verlauf des Jahrzehnts klar wurde, dass die Umstellung der Geschäfte weniger einen Abbau des Personalstandes, sondern vielmehr die Aufgliederung bestehender Funktionen und Leistungen im Arbeitsprozess nach sich zog.167 Im Kapitel V. 1. soll detailliert auf die mit der Einführung der Selbstbedienung verbundene Umstrukturierung der einzelnen Tätigkeitsfelder im Einzelhandel sowie die soziokulturellen Auswirkungen der Wandlungsprozesse von Arbeit eingegangen werden.
162 163 164 165
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Schildt 1995, S. 45. Vgl. Ditt 2003, S. 336; Scholten 2004, S. 168. Baecker 1952, S. 59. Angaben aus Statistisches Jahrbuch 1952-1990, Arbeitsstättenzählung ohne Landwirtschaft von 1950, 1960, 1970, zitiert nach: Puck 1995, S. 6. Cornelius-Stüssgen AG: Geschäftsbericht 1961/62, in: Cornelia, 1/1963, S. 1-12, hier: S. 7. Auch: Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Einzelhandelsausschusses der Kammer am 21.2.1961 (21.2.1961), RWWA 20/1815/3; Mies 1964, S. 9. Deutscher Industrie- und Handelstag: Amerikanische Verkaufsmethoden, hier: Schlussbesprechung in Frankfurt a. M. (12.8.1953), RWWA 28/145/7.
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Ein weiteres Merkmal der 1950er Jahre war der stetige Anstieg der Personalkosten im Einzelhandel – laut einer Studie des Instituts für Handelsforschung in Köln von 4,5 auf 6,4 Prozent.168 Während die Mittel zur Kostensenkung hier im Laufe des Jahrzehnts immer begrenzter schienen, schuf das System der Selbstbedienung die Voraussetzungen, um den Umsatz pro Verkaufskraft und Quadratmeter Ladenfläche zu steigern.169 Dabei basierte die Umsatzsteigerung auf einer höheren Kundenfrequenz und auf einem größeren Einkaufsbetrag pro Kunde. Mit der Zunahme der Verkaufsfläche gewannen diese Faktoren stärker an Gewicht, allerdings zeichnete sich in diesem Zusammenhang auch ein Anstieg der Einrichtungskosten ab.170 Die Steigerung des Umsatzes durch höhere Rentabilität, aber v. a. durch den Mehreinkauf der Konsumenten, entwickelte sich angesichts der sinkenden Handelsspanne zu einem zentralen Wettbewerbsvorteil. Das Prinzip der Barzahlung im Selbstbedienungsgeschäft wirkte sich ebenfalls positiv auf die langfristige Finanzlage der Lebensmittelgeschäfte aus. Neben dem guten Kosten-Leistungs-Verhältnis erwies sich die flexible zeitliche Gestaltung des Verkaufsvorgangs in Abstimmung auf das Einkaufsverhalten der Kunden im Selbstbedienungsladen als absatzfördernd. Durch die gesetzliche Einschränkung der Öffnungszeiten, die mit dem Ladenschlussgesetz von 1956 einherging, stand nicht nur für den Verkauf weniger Zeit zur Verfügung, sondern die Haupteinkaufszeiten der Konsumenten konzentrierten sich auch stärker. Das spielte den Selbstbedienungsläden in die Karten. Dort konnte die einzelne Arbeitskraft flexibler eingesetzt werden, da sie nicht den gesamten Verkaufsvorgang vom Lager bzw. der Theke bis zum Bezahlen abdecken musste. Dies entlastete das Personal und verringerte die Wartezeit der Kunden.171 Ganz entscheidend für die effiziente Ausnutzung der genannten Rationalisierungsmöglichkeiten war der technische Fortschritt in den 1950er Jahren. Eine Reihe von Innovationen und Weiterentwicklungen löste die anfänglichen Probleme des Funktionsablaufs
168 169
170
171
Was verdient der Einzelhandel?, in: Die Zeit, 23.12.1960. Der Absatz pro beschäftigte Person im Gesamteinzelhandel stieg laut dem Arbeitsbericht der HDE von 1971 im Zeitraum zwischen 1950 und 1971 um 208 Prozent an. HDE: Arbeitsbericht 1971, S. 78, ZBW Kiel. Vgl. Jefferys, Hausberger, Lindlabd 1954, S. 17; Kühn, Alfred: Selbstbedienung - nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957; Schucht 1956, S. 14; Thomas, Erwin: Die stille Revolution (18.8.1958), S. 4, WWA K3/1304. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16./17. November 1959 in Mannheim, Anlage 5: Henksmeier: Neue Tendenzen in der Selbstbedienung (16./17.11.1959), RWWA 181/1563/1. Ausführlich zum Ladenschlussgesetz: Spiekermann 2004.
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und der Rentabilität der Selbstbedienung und ergänzte somit das organisatorische Rationalisierungspotenzial. Zentrale Beispiele sind der Durchbruch der industriellen Vorverpackung, die Normierung und Standardisierung der Ladeneinrichtung sowie der vermehrte Absatz preiswerter technischer Geräte wie Kassen und Preisauszeichnungsmaschinen. Für die Erfolgsleistungen der neuen Verkaufsform im Laufe der 1950er Jahre war, über die betrieblichen und organisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen hinaus, auch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ausschlaggebend. Der Wirtschaftsaufschwung bedeutete für einen Großteil der bundesdeutschen Bevölkerung einen festen Arbeitsplatz und steigende Einkommen, die zwischen 1950 und 1960 eine jährliche Zunahme um 5,4 Prozent verzeichneten. Auf dieser Grundlage konnten die Menschen die neuen Konsummöglichkeiten nutzen und anhand ihres Einkaufsverhaltens die Präferenz für den Selbstbedienungsladen sichtbar und ökonomisch wirksam machen.172 Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die erste Hälfte der 1950er Jahre noch von Knappheit und strenger Kalkulation des Haushaltsbudgets geprägt war.173 Gegen Ende des Jahrzehnts begann sich der Massenkonsum als flächendeckendes Phänomen deutlich bemerkbar zu machen. Neben die quantitative Zunahme der Konsumausgaben trat v. a. die Differenzierung der Nachfrage, die mit einem erweiterten Sortiment und einem vielseitigen Angebot des Einzelhandels korrespondierte.174 Die Bevölkerung konnte somit gegen Ende der 1950er Jahre, die Warenfülle des Selbstbedienungsladens und die Freiheit der Wahl tatsächlich auch nutzen. Ebenfalls positiv auf die Entwicklung der Selbstbedienung wirkte sich der Wandel in der Siedlungsstruktur aus. Zum einen zeichnete sich – aufgrund der Ausdehnung der Städte und der Umgestaltung ganzer Regionen – eine zunehmende Abschwächung von Unterschieden beim Konsumverhalten in der Stadt und auf dem Land ab.175 Selbstbedienungsgeschäfte hielten
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173 174 175
Angabe nach: Hardach, Gerd: Krise und Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre, in: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 196-217, hier S. 205. Wildt 1996, S. 63ff. Dazu auch: Institut für Selbstbedienung 1988, S. 16ff. Vgl. Scholten 2004, S. 170; Wildt 1993, S. 287. Andersen 1998, S. 83; Haupt 2003, S. 120; Kaelble 1997, S. 176. In den Quellen dazu: Henksmeier, Karl-Heinz: Die Struktur der deutschen Selbstbedienungsläden im Lebensmitteleinzelhandel, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 11-19; Die Stadt kommt auf das Lande – das Land kommt in die Stadt, in: Edeka-Rundschau, 7./14.7.1961; Selbst-
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damit verstärkt Einzug in kleine Ortschaften und Dörfer. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass das Prinzip der ländlichen Selbstversorgung zunehmend hinter den Einkauf von industriell gefertigten Waren zurücktrat und sich somit ein neuer Markt eröffnete.176 Zum anderen erzeugte der Trend zum Wohnen in der Vorstadt, der in den 1950er Jahren einsetzte, einen neuen Bedarf an Lebensmittelgeschäften, die in der Regel als Selbstbedienungsläden eröffnet wurden. Neben dem Wandel des Konsumverhaltens erscheint die Umgestaltung der Unternehmensstrukturen im Einzelhandel als weiterer entscheidender Faktor für die flächendeckende Ausbreitung der Selbstbedienung gegen Ende der 1950er Jahre. Der in den frühen 1950er Jahren einsetzende Trend, sich in freiwilligen Gruppen, Einkaufsgenossenschaften und Filialen zu organisieren, nahm ab der Mitte des Jahrzehnts stark zu. Ab 1957 begannen solche Zusammenschlüsse über den nichtorganisierten Einzelhandel zu dominieren. 1968 lag der Anteil der Einzelläden am Gesamtumsatz des Lebensmitteleinzelhandels nur noch bei 2,3 Prozent.177 Die Umstellung des Vertriebswesens auf Selbstbedienung stellte dabei einen entscheidenden Teilaspekt dieser Entwicklungstendenz vom „Individual- zum Gruppenwettbewerb“ dar.178 Die Konzentration in Zusammenschlüssen förderte die Selbstbedienung. Die mehrstufigen Einzelhandelsunternehmen wiesen eine stärkere finanzielle Leistungsfähigkeit auf und konnten Wissen zentral akkumulieren und wiederverwerten. Im Rahmen der Zusammenschlüsse bestand die Möglichkeit, gezielt Einfluss auf die Mitglieder zu nehmen und diese zur Übernahme von Modernisierungsmaßnahmen zu bewegen.179 Während vor 1957 die Selbstbedienung als eine Art des fortschrittlichen Verkaufs unter den Mitgliedern der Einzelhandelsgruppen beworben wurde, ging man nun verstärkt zur Forcierung der Umstellung über. Ein Grund dafür war, dass immer deutlicher wurde, wie stark sich die Effizienz der einzelnen Geschäfte auf die Wirtschaftlichkeit der Gesamtunternehmen aus-
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179
bedienung macht auch vor kleinen Orten nicht halt, in: Edeka-Rundschau, 21./28.4.1961; Mehr leisten durch Selbstbedienung, in: Edeka-Rundschau, 1./8.5.1959. Eine Studie der RGH kam allerdings 1966 noch zu dem Ergebnis, dass das kleine Bedienungsgeschäft den ländlichen Einzelhandel weiterhin dominierte. Selbstbedienung auf dem Lande, in: Die RGH teilt mit, 9/1966, S. 19-21. Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969, S. 28. Spiekermann 1997, S. 104; Scholten 2004, S. 168, 172. Vgl. die Einschätzungen in den Quellen bei: Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969, S. 92f.; Disch 1966, S. 62. Vgl. Ditt 2003, S. 328. Auch: Hagemann 1960, S. 207.
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wirkte.180 So hielt z. B. die Edeka Zentrale noch 1969 in ihrem Jahresbericht fest, dass 40 Prozent der in Bedienung geführten Läden v. a. in ländlichen Gebieten, ein „immanentes Strukturproblem“ darstellten.181 Die Rewe teilte ihrem zentralen Ladenbauberatungsdienst seit 1960 die Aufgabe zu, alle Grundriss-Pläne zu überprüfen, zu korrigieren, aber auch abzulehnen, um ihre Mitglieder vor Fehlinvestitionen zu schützen.182 Gleichzeitig sah man den Zusammenhang zwischen der Modernisierung der Geschäfte und der gemeinschaftlichen, einheitlichen Werbung bzw. der Erzeugung eines homogenen Unternehmensimages gegenüber dem Verbraucher als immer wichtiger für den flächendeckenden Erfolg an. So bestand die Hauptaufgabe des 1959 neu geschaffenen „Technischen Ladendienstes“ der Rewe in der „Niveauanhebung der Rewe-Geschäfte auf breiter Front.“183 Derartige Überlegungen fassten die Fachabteilungen und -ausschüssen unter den Begriffen „SPAR-Stil“, der „Edeka-Laden als Wertbegriff“ oder das typische „KONSUM-Gesicht“ der Geschäfte.184 Die Selbstbedienung trug aber gleichzeitig zum Anwachsen der Unternehmenskonzentration im Einzelhandel bei, da für ihre erfolgreiche praktische Umsetzung höhere Investitionen und ein differenziertes Know-how nötig waren. Anhand dieser wechselseitigen Verknüpfung wird deutlich, „daß sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, daß die Macht dieser oder jener Entdeckung, dieser oder jener
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181 182 183 184
Edeka Dortmund eGmbH/ EDEKA Ruhr-Lippe eG: Geschäftsbericht 1965, S. 12, WWA S7/578/1; Geschäftsbericht Delegiertenversammlung der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V. am 18./19. September 1960 in Wiesbaden (18./19.9.1965), S. 3, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66. Spar-Archiv; Haben die Mutigen rech?, in: Rewe-Echo, 7/1957; 1959 – das Jahr der Modernisierung unserer Läden, in: Edeka-Rundschau, 30.1.1959; ZdK: Jahrbuch 1959, S. 57, ZdK-Archiv. Edeka Zentralorganisation: Jahresbericht 1969, S. 15, WWA S7/577. Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1960, S. 16, WWA S7/572. Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1959, S. 15, WWA S7/572. Auszug aus dem Bericht der Geschäftsführung der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V. erstattet von Dr. Berendt auf der Delegiertenversammlung am 9. Juni 1959 (9.6.1959), S. 11 und Geschäftsbericht Delegiertenversammlung der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V. am 18./19. September 1960 in Wiesbaden (18./19.9.1960), S. 3, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, Spar-Archiv; Der Konsumladen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.9.1956; Rationelleres Fertigungsprogramm der Edeka Ladenbauer, in: Edeka-Rundschau, 15./22.11.1963.
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Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor; sie sammelt und verwertet Informationen.“185
Die neuen Anforderungen und Instrumente des Massenabsatzes veränderten die Struktur des Einzelhandels damit auf der innerbetrieblichen und auf der wettbewerblichen Ebene. Die Aufgaben der Einkaufsgenossenschaften und freiwilligen Ketten verschoben sich immer stärker von der ursprünglichen Zielsetzung der Einkaufskonzentration hin zur Absatzförderung der Mitglieder an die Massenkonsumenten. Schiller hielt 1967 fest, dieser Prozess spiegele die Entwicklung von „Einkaufs- zu Verkaufsgemeinschaften“ wider.186 Dabei erfuhren die freiwilligen Zusammenschlüsse nicht nur eine positive Bewertung als erfolgreiche Selbsthilfeorganisationen, sondern brachten auch das Problem der „Sozialisierung des Mittelstandes“ mit sich.187 Da sie in ihrer Struktur den Filialunternehmen immer mehr ähnelten, fände der Wettbewerb nur noch zwischen großdimensionierten Einzelhandelsunternehmen statt, so die Kritik. Zum Teil wurde ihnen sogar ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten und somit ein Verstoß gegen das Kartellgesetz angelastet. Ludwig Erhard warnte die Genossenschaften und freiwilligen Ketten in diesem Zusammenhang davor, die Selbständigkeit ihrer Mitglieder anzutasten.188 Die zentrale Frage der späten 1950er Jahre lautete also nicht mehr, ob sich der Bedienungsladen oder das Selbstbedienungsgeschäft durchsetzen, sondern wie sich der Wettbewerb zwischen den Betriebsformen auf der Grundlage der Selbstbedienung entwickeln würde. Ab 1957 sind häufig Aussagen zu finden, wie „Die Selbstbedienung ist heute auch in der Bundesrepublik zu einer selbstverständlichen Bedienungsform geworden“ oder
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Foucault, Michel, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 45. Schiller 1967, S. 412. Auch: Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 18. und 19. April 1961 in Berlin, Anlage 1: Thomas, Erwin: „Aktuelle Fragen der Absatzwirtschaft“ (19.4.1961), S. 4, RWWA 181/1563/1. Wesentliches Ergebnis der Länderausschußsitzung Handel am 14. März 1961 im Bundesministerium für Wirtschaft (18.5.1961), S. 12f., BAK B102/39485. Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der HDE am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 5; auch: Vermerk über eine Besprechung mit dem Hauptgeschäftsführer der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Franz Effer am 15. Oktober 1959 (16.10.1959), S. 3; vgl. dazu die Stellungnahme der HDE: Ansprache Präsident Hans Schmitz (Präsident der HDE) (25.10.1960), S. 10, BAK 102/39433.
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„Der SB-Laden ist Allgemeingut geworden.“189 Der Anteil des mittelständischen Einzelhandels an den Selbstbedienungsläden war von 37 Prozent im Jahre 1957 auf 70 Prozent 1959 gestiegen und nahm im Laufe der 1960er Jahre weiter zu.190 Die Mischformen der Teilselbstbedienung wurden zum großen Teil als überholt angesehen und galten als kostspielige Umwege zur vollen Selbstbedienung. In diesem Zusammenhang erwiesen sich in den Augen des ZdK auch die Tempo-Läden der Konsumgenossenschaften zunehmend als Sackgasse.191 Zwar überwogen die Bedienungsläden im gesamten Einzelhandel noch bis zum Ende der 1960er Jahre, aber hinsichtlich des Umsatz- und Flächenanteils holten die Selbstbedienungsgeschäfte sie bereits Anfang des Jahrzehnts ein.192 Mit der Durchsetzung der Selbstbedienung zeichnete sich die Entwicklung zu immer größeren Ladenflächen deutlich als neuer Trend im Vertriebswesen des Einzelhandels ab. Dazu trugen sowohl die Verbreiterung des Sortiments aufgrund der neuen Verbraucherwünsche bei als auch die Möglichkeiten zur Steigerung der Rentabilität in größeren Selbstbedienungsgeschäften.193 So unterschieden sich z. B. die Einrichtungskosten von 463 DM für einen Selbstbedienungsladen mit einer Ladenfläche bis 80 m2 nicht wesentlich von den Kosten für eine Geschäftsgröße von 81-150 m2 mit 480 DM.194 Die Umsatzleistung dagegen variierte erheblich. Die neuen Größendimensionen veränderten auch das Wettbewerbsgefüge im Einzelhandel. 189
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Der Konsum geht mit der Zeit, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 17.9.1960; Haben die Mutigen recht?, in: Rewe-Echo, 7/1957. So auch: Brief Dr. Joseph Wickern an Dr. Bernhard Hilgermann, Anlage: Selbstbedienung 1959 (25.9.1959), S.1, RWWA 1/449/2; Ja zur Selbstbedienung!, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 21.9.1957; Selbstbedienung, 10/1959, S. 3; Schulz-Klingauf 1960, S. 11; Thomas, Erwin: Handel: Die stille Revolution, in: Wirtschafts- und Sozialpolitik (18.8.1958), S. 3, WWA K3/1304; Zur Praxis der Selbstbedienung, in: Der neue Weg, 6/1960. Disch 1966, S. 60. Trescher: Konsumgenossenschaftliche Absatzprobleme in der Sicht des ZdK. Vortrag auf Sitzung des Generalrates des ZdK (23.6.1960), S. 129, FfZ 18-6,5.1.4. Vgl. auch: Wickern, Joseph: Die Selbstbedienung – eine Revolution, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 2-4; Ja zur Selbstbedienung!, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 21.9.1957; Vom Modernisierungswunsch bis zur Verwirklichung eines Projektes, in: Edeka-Rundschau, 1./8.5.1959. Vgl. Banken 2007, S. 133. Vgl. Deutsch 1968, S. 125; Die Selbstbedienungsläden der Konsumgenossenschaften, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 3.11.1956; Priess, Friedrich: Probleme der Selbstbedienung, in: Behrens, Karl Christian (Hg.): Der Handel heute. In Memoriam Julius Hirsch, Tübingen 1962, S. 191-204, hier S. 195. Was kostet die Einrichtung eines SB-Ladens, in: Fachblatt SB, 4/1958, S. 3-5, hier S. 4.
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Für die Selbständigen ging es nun nicht mehr darum, dass die Selbstbedienung ein Monopol der Großunternehmen aufgrund deren finanzieller Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit war. Die Schwierigkeit bestand vielmehr darin, mit den immer größer werdenden Geschäften und Großraumläden hinsichtlich der Kosten-Leistung-Rechnung und gegenüber den Verbrauchern konkurrieren zu können. Die Einzelhandelsgruppen gingen zunehmend zur Ausdünnung ihres Ladennetzes über, indem man kleine Geschäfte nicht mehr auf Selbstbedienung umstellte, sondern schloss, während man gleichzeitig eine geringere Zahl von großen Geschäften eröffnete.195 Alle Akteure des Einzelhandels sahen sich mit neuen finanziellen Dimensionen konfrontiert, da neben den stetig steigenden Löhnen die Kosten für die Einrichtung, die technische Ausstattung und die Sortimentsgestaltung erheblich zugenommen hatten.196 Der Durchbruch zur Massenkonsumgesellschaft machte sich im Einzelhandel deutlich bemerkbar: die Prinzipien des Massenabsatzes waren nicht mehr nur eine Option, sondern bestimmten maßgeblich den Erfolg oder Misserfolg im Wettbewerb. Im Zuge dessen löste sich die anfängliche Skepsis gegenüber dem US-amerikanischen self-service-Modell und der Massenkonsumgesellschaft vom eigentlichen Verkaufssystem ab und spielte bei dessen flächendeckender Durchsetzung keine entscheidende Rolle mehr. In weiten Teilen lässt sich eher eine pragmatische Anpassung an das inzwischen akzeptierte System der Selbstbedienung und die neuen Dimensionen des Wettbewerbs erkennen, wie z. B. in folgender Aussagen der zunächst gegenüber der Selbstbedienung eher skeptischen Edeka-Rundschau Anfang der 1960er Jahre deutlich wird: „Die Umstellung von immer mehr Geschäften auf SB ist alles andere als nur eine aus den USA übernommene Mode. Sie ist für die meisten Betriebe der einzige Weg, um in der heutigen Zeit überhaupt noch mit Erfolg operieren zu können.“ 197
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Vgl. Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NRW: Jahresbericht 1960, S. 5, WWA S7/570; ZdK: Jahrbuch 1957, S. 96, ZdK-Archiv. Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16. und 17. November 1959 in Mannheim (16./17.11.1959), S. 9, Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 18. und 19. April 1961 in Berlin, Anlage 1: Thomas, Erwin: „Aktuelle Fragen der Absatzwirtschaft“ (19.4.1961), S. 4, RWWA 181/1563/1; Vermerk über eine Besprechung mit dem Hauptgeschäftsführer der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Franz Effer am 15. Oktober 1959 (16.10.1959), S. 4, BAK B102/39433. In Zukunft noch konsequentere Selbstbedienung notwendig, in: Edeka-Rundschau, 1./8.3.1963. Auch: Henksmeier 1961, S. 24.
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In diesem Zusammenhang bestätigt sich für den Einzelhandel die These Schildts, dass in den späten 1950er Jahren die Einsicht dominierte, es handele sich um zwangsläufige Probleme der eigenen Modernisierung und weniger um „importierte Gefahren“.198 Neben der Eigendynamik der sozioökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland spielte dabei die Integrations- und Adaptionsleistung der Einzelhandelsunternehmen eine entscheidende Rolle für den Erfolg des bundesdeutschen Selbstbedienungsladens. 1.2.2 Die Popularisierung und Verwissenschaftlichung der Selbstbedienung Neben den verstärkten Anstrengungen der Einzelhandelsunternehmen zur Förderung der Selbstbedienung waren die späten 1950er Jahre durch wettbewerbsübergreifende Initiativen geprägt, die sich ihre Verbreitung und Durchsetzung in der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel setzten. Sie trugen auf verschiedene Art und Weise dazu bei, ein umfassendes und systematisches Konzept der Selbstbedienung in Theorie und Praxis zu entwickeln. Eine lange Tradition hinsichtlich des Austauschs und der Unterstützung aktueller Fragen im Vertriebswesen hatten die Messen und Ausstellungen des Lebensmittelsektors. Schulz-Klingauf sah in der Kölner ANUGA von 1957, der seit 1919 bestehenden Allgemeinen Nahrungs- und GenussmittelAusstellung, den Wendepunkt für die Durchsetzung der Selbstbedienung.199 Sie wurde von 108.600 Einzelhandelskaufleuten besucht, die auf einer speziellen Fachtagung, dem „Tag der Selbstbedienung“, und in speziellen Ausstellungsbereichen zahlreiche Informationen erhielten. Die Messe stellte eine zentrale Vermittlungsinstanz und einen Knotenpunkt in der Verständigung über die Selbstbedienung dar, weil sie sich gleichzeitig an die Vertreter des Handels und der Industrie richtete. Als „Weltmesse der Ernährungswirtschaft“ und „Schaufenster echten Fortschritts“200 vertrat die ANUGA bis in die 1960er Jahre den Anspruch:
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Schildt 1995, S. 422. Schulz-Klingauf 1960, S. 328. Triumph des Fortschritts, in: Der Einzelhändler, 1.10.1957; Anuga: Allgemeine Nahrungs- und Genussmittel-Ausstellung Köln vom 23. September bis 1. Oktober 1961, Presseinformation Nr. 1 (1961), BAK B116/22316.
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„Die ANUGA „wird ihrem Auftrag, ein Bild der internationalen Marktsituation der gesamten Branche zu geben, in jeder Weise gerecht. Dabei dient sie den Dispositionen des Handels ebenso wie dem Absatz und dem Markttest des Produzenten. Darüber hinaus spielen auf der ANUGA fachliche Beratung und Erfahrungsaustausch, Kontakt- und Kundenpflege und nicht zuletzt auch die Repräsentation gegenüber der Verbraucherschaft eine wichtige Rolle, sie prägen zusammen das Bild dieser universellen Fachveranstaltung der Branche.“201
Anhand der vorliegenden Quellen ist es natürlich nicht möglich, auf die tatsächliche Wirksamkeit der Ausstellung beim Publikum zu schließen. Allerdings nahm die Messe eine wichtige Rolle bei der Zirkulation von praktischem Anschauungswissen und theoretischen Informationen ein und fand dauerhaft eine rege Auswertung durch die Fachöffentlichkeit. Darüber hinaus war sie ein entscheidendes Ereignis, auf dem wichtige Kontakte zwischen verschiedenen Einzelhandelsunternehmen, zwischen dem Handel und der Konsumgüterindustrie sowie zwischen den Lebensmittelgeschäften und den Ladenbau-, Einrichtungs- und Beratungsfirmen aufgebaut und gepflegt wurden. Die hier – ebenso wie auf anderen Messen und den angeschlossenen Fachtagungen wie der Ikofa (Internationale Lebensmittel- und FeinkostAusstellung, München), der Lefa (Lebensmittelfachausstellung, Hamburg) oder der 1958 gegründeten INTERPACK – stimulierten Netzwerke bildeten die Grundlage für eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis, zwischen verschiedenen Expertenkreisen und zwischen Spezialisten eines Fachgebietes.202 In den Folgejahren blieb die neue Verkaufsform ein dominierendes Thema für das Messewesen, erhielt aber entsprechend ihrer Entwicklung immer wieder neue Akzente. 1966 rief das ISB in Düsseldorf in Zusammenarbeit mit der Düsseldorfer Messegesellschaft mbH NOWEA die Euroshop als „Laden- und Schaufensterfachausstellung“ mit der Sonderschau „distributa“ und einem internationalen Kongress des ISB ins Leben. Die anfänglich kontroverse Auseinandersetzung um die Messe macht deutlich, wie sich der Stellenwert der Selbstbedienung und v. a. ihrer spezifischen und technischen Aspekte mit der Zeit veränderte.203 Während die Veranstalter 201
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Artikel-Sonderdienst: „Funktion und Gliederung der ANUGA 1965“ von C. F. von der Heyde, Direktor der Messe- und Ausstellungs-Gesellschaft mbH Köln (1965), S. 18, BAK B116/22318. Vgl. Ein vielversprechender Start. Rückblick auf die erste INTERPACK, in: Fachblatt SB 3/1958, S. 19; Koch, Walter: SB schon seit Adam und Eva, in: Rewe-Echo, 10/1958. Deutsches Handelsinstitut Köln e. V. (DHI): Euroshop, Köln 1993, S. 6-8; Die erste Euroshop war ein Erfolg, in: Rewe-Echo, 7/1966; Euroshop: Der Handel investiert wieder, in: Handelsblatt, 20.5.1968; Euroshop 66, in: Selbstbedienung und Supermarkt,
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die Notwendigkeit einer spezifischen Messe betonten, lehnten die Gegner die sie im Zusammenhang mit dem Überhandnehmen des Messewesens in den 1950er und 1960er Jahren ab.204 Die kontinuierliche Arbeit spezifischer wettbewerbsübergreifender Institutionen, die verschiedene theoretische und wissenschaftliche Ansätze verfolgten, ergänzte die regelmäßige Thematisierung der Selbstbedienung im Rahmen der Messen und Ausstellungen. Bereits eine Untersuchung der RGH zu den Selbstbedienungsläden von 1952 verfolgte das Ziel, neue „Vergleichsmaßstäbe“ und „Meßziffern“ zur Analyse der neuen Verkaufsform zu erstellen.205 In diesem Sinne widmeten sich auch die Forschungseinrichtungen des Handels, wie das Handelsinstitut an der Universität des Saarlandes (gegründet 1957), das Institut für Handelsforschung an der Universität zu Köln (gegründet 1928) und die Forschungsstelle für den Handel Berlin (FfH) (gegründet 1929), im Laufe der 1950er Jahre zunehmend der Erstellung von Statistiken, betriebswirtschaftlichen Vergleichen und wissenschaftlichen Strukturuntersuchungen zum Vertriebswesen des Einzelhandels.206 Stärker an die Praxis angebunden dagegen waren die Verbände des Handels selbst. Dazu zählten erstens die Regional- und Landesgruppen der Berufs- und Fachverbände, wie die Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittel-Filialbetriebe (ALF) oder die Hauptgemeinschaft des deutschen Lebensmitteleinzelhandels. Sie boten vor allen Dingen Weiterbildungsveranstaltungen für ihre Mitglieder an.207 Die 1953 als kommerzielles Tochterunternehmen der HDE gegründete Betriebswirtschaftliche Beratungsstelle (BBE) entwickelte neben ihrem betriebswirtschaftlichen Schwerpunkt ebenfalls Publikationen und Weiterbil
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6/1966, S. 11-15; Henksmeier, Karl-Heinz: Euroshop 66, in: Rewe Echo, 10/1964. Zu nachfolgenden Veranstaltungen z. B.: Euroshop hat sich voll durchgesetzt, in: EdekaRundschau, 6/1968. DIHT: Tätigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 1955/56, S. 201, WWA S7/562; Größer – Fachlicher – Interessanter, in: Rewe-Echo, 9/1968. Bediene Dich selbst – in Deutschland?, in: Rewe-Echo, 8/1952. Vgl. zur Vielzahl der Forschungseinrichtungen im Umkreis der Rationalisierungsproblematik: Bundesministerium für Wirtschaft: Brief von RGH an Dr. Jacobi, betr. Konferenz der Rationalisierungsinstitute beim BWM (13.3.1958) und Brief von Dr. Jacobi an Institut für Handelsforschung an der Universität zu Köln (15.8.1959), BAK B102/35911; Deutsch 1968, S. 126f.; HDE: Arbeitsbericht 1961, S. 96-124, Wirtschaftsarchiv Universität Köln, N2/4. Europäisch vergleichend: Organization for European Economic Cooperation: Documentation service on research into distribution: EPA Project 6/03-B, Paris 1961. Vgl. z. B.: Brief Landesverband des Bayrischen Einzelhandels e. V. an Einzelhandelsfirmen (o. D.), BWA K8/1462/2; Kursus in Neuwied „Die Leitung eines Selbstbedienungsladens“, in: Der Einzelhändler, 15.4.1958.
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dungen zur Selbstbedienung.208 Die Arbeit der BBE stellte auch einen Versuch dar, die in den 1950er Jahren weitergeführte traditionelle Konzentration des Verbandes auf die Sozialpolitik durch die fachliche und praktische Unterstützung der Mitglieder zu ergänzen. Weitere wichtige Stellen für die Verbreitung des Rationalisierungsgedankens im Handel waren die Industrie- und Handelskammern mit ihrem Dachverband, dem DIHT. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf die Koordination von Veranstaltungen und Weiterbildungen zur Selbstbedienung in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Sie zielten somit vorrangig auf die Popularisierung und Diffusion des neuen Wissens. Die Möglichkeit „sich an Hand eines wissenschaftlich exakten, jedoch einfach und klar geschriebenen Schrifttums über die neueste Entwicklung zu informieren“ richtete sich an die Einzelhandelsunternehmen und zielte auf eine praxisnahe, allgemeinverständliche Vermittlung von Wissen und Erfahrungen.209 Konkrete Fördermaßnahmen und ihre Umsetzung dagegen sollten den Fachverbänden und den Unternehmen selbst überlassen werden. Mit der Gründung der Rationalisierungs-Gemeinschaft des Handels (RGH) als einem Unterausschuss des RKW durch Vertreter des Groß- und Einzelhandels im Jahr 1951 wurde eine spezifische Einrichtung zur Förderung der Rationalisierung im Handel geschaffen. Ähnlich gelagerte Arbeitskreise gab es im RKW bereits in den 1920er Jahren.210 Daran anknüpfend spielte der
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Die rein quantitative Entwicklung der Weiterbildungs- und Beratungsangebote scheint die positive Aufnahme und Nutzung zu bestätigen. So gab die HDE in ihrem Arbeitsbericht von 1973 an, dass die Zahl der individuellen Betriebsberatungen zwischen 1953 und 1973 von 105 auf 8571 pro Jahr stieg. Im gleichen Zeitraum verzeichneten die Rationalisierungsvorträge, -kurse und Unternehmerseminare eine Zunahme von 75 auf 1805 pro Jahr. HDE: Arbeitsbericht 1969, S. 86f., ZBW Kiel. Vgl. zur Vielzahl der Serviceleistungen der BBE die Übersicht in: HDE: Arbeitsbericht 1973, S. 88f., Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16. und 17. November 1959 in Mannheim (16./17.11.1959), S. 3, RWWA 181/1563/1. Auch: DIHT: Leitfaden für die praktischen Arbeiten der Industrie- und Handelskammern auf dem Gebiet der Rationalisierung (ca. 1952), RWWA 1/520/5; Niederschrift über die Sitzung der Einzelhandelsdezernenten der Industrie- und Handelskammern des Landes Nordrhein-Westfalen am 30.6.1960 (30.6.1960), WWA K3/1497; DIHT: Tätigkeitsbericht 1952/53, S. 88 und 1958/59, S. 245f., WWA S7/562. Vgl. in der Forschung: Kretschmann 2003, S. 8. Zu den Beteiligten gehörten: ALF, Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels (BAG), Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA), HDE, ZdK, Zentgeno und Zentralverband der Gewerblichen Einkaufsvereinigungen. Hallier, Bernd: Praxisorientierte Handelsforschung – 50 Jahre EHI, Köln
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Anspruch der Kooperation von Theoretikern und Praktikern, Industrie und Handel, sowie den eigentlich konkurrierenden Handelsunternehmen für den Zusammenschluss ebenfalls eine zentrale Rolle: „Die Rationalisierung im Handel aber stellt das einzelne Unternehmen vor eine solche Fülle von Fragen und Problemen, die der einzelne, auf seine eigenen Erfahrungen gestellte Betrieb nicht lösen kann. Aufgabe der Rationalisierungsgemeinschaft des Handels (RGH) ist, durch Gemeinschaftsarbeit mit den Handelsbetrieben, praxisnahe Rationalisierungs- und Organisationsmethoden zu erarbeiten.“211
Schreiterer berichtete, dass die Aufgaben der RGH in der Analyse von Problemen grundsätzlicher Bedeutung, der Ausarbeitung von Vorschlägen für die Praxis und der Einrichtung von „Erfahrungs-Austausch-Gruppen“ zur Förderung des Handels bestanden.212 Dabei basierten die Tätigkeiten der RGH sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht darauf, Wissen zu erzeugen, zu vermitteln und zu nutzen. In den Broschüren, die für den praktischen Gebrauch im Einzelhandel gedacht waren, wird die Bedeutung von Wissen für die Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit eines Lebensmittelgeschäftes immer wieder besonders betont. In diesem Zusammenhang finden sich Formulierungen wie „Fehlendes Kapital durch Wissen ersetzen“213, „Wissenschaft ist ein guter Wanderstab“214, „Wissen ist besser als meinen“215 oder „Rechnen ist besser als Raten“216. In solchen Aussagen wurde nicht nur die Relevanz von Wissen für den wirtschaftlichen Erfolg herausgestellt, sondern sie implizierten gleichzeitig auch eine Bewertung des bewussten und gezielten Einsatzes von Wissen gegenüber der alltagsgeleiteten Intuition. Letztere stufte man als „alte“, eher unprofessionelle Herange
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216
2001, S. 187. Neben der RGH bestanden die Rationalisierungsgemeinschaften Mensch im Betrieb, Hauswirtschaft, Betriebsuntersuchungen, Handwerk, Bauwesen, Absatzwirtschaft, Transportwesen, Wärmewirtschaft, Typisierung, Förderung der Normung, Verpackung. Vgl. Pohl 2004, S. 9. Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.12.1958 (Hervorhebung im Original). Schreiterer 1955, S. 10f. Auch: Die Rationalisierung im Handel. Die RGH im Dienste der Praxis, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.12.1958. Bruckhaus 1959, S. 5. Ebd., S. 14. Bruckhaus, Max, Im Dutzend nicht billiger. Eine kurze Anleitung zur Sortimentsgestaltung und -kontrolle im Lebensmitteleinzelhandel, Köln 1961, S. 9. Ebd., S. 27. Vgl. dazu auch: Janssen, Claus, Die Bedeutung der Forschung für den Lebensmittelkaufmann, in: Messe- und Ausstellungs-Ges.m.b.H. Köln (Hg.), ANUGA. Allgemeine Nahrungs- und Genußmittel-Ausstellung, 28.September bis 6.Oktober 1957 in Köln, Köln 1957, S. 33-36.
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hensweise des Kaufmanns im Vergleich zur „neuen“ wissensgeleiteten Planung und Steuerung eines Einzelhandelsunternehmens als weniger fortschrittlich ein. Neben ihrer stark an der Einzelhandelspraxis orientierten Arbeit widmete sich die RGH seit dem ersten Gutachten zu „Leistungen und Kosten“ der Selbstbedienungsläden, u. a. im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, der „wissenschaftlichen Grundlagenforschung“ zur Selbstbedienung.217 Diese Studie sollte den verschiedenen Standpunkten innerhalb der Debatte um die Selbstbedienung eine gemeinsame Diskussionsgrundlage liefern, für die die Erstellung einheitlicher Vergleichsmaßstäbe fundamental war. Für den Betriebsvergleich und andere statistische und betriebswirtschaftliche Dokumentationen bestanden lange Zeit unternehmensspezifische Schlüssel, wie z. B. der „Spar-Schlüssel“ oder der „S-Index“ der Cornelius Stüssgen AG, die eine aussagekräftige, vergleichende Auswertung der Zahlen und Leistungen der Selbstbedienung erschwerten.218 Aufgrund der engen Rückkoppelung an die praktische Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse verstand die RGH ihre Arbeit weniger als reine Forschung, sondern als „Zweckforschung“.219 Im Laufe der 1950er Jahre erklärte die RGH in regelmäßigen Veröffentlichungen, wie z. B. „Rationeller Handel“ oder „Anregungen für die Freunde und Förderer der RGH“, die Selbstbedienung als zentralen Teilaspekt der Rationalisierung zur „universelle[n] Aufgabe“.220 Bei der Förderung der Selbstbedienung auf wettbewerbsübergreifender Ebene standen die verschiedenen Verbände, Arbeitsgemeinschaften, Institute und Ausschüsse in engem Kontakt miteinander. Im Rahmen zirkulärer Netzwerke tauschten sich Akteure verschiedener Ebenen untereinander aus und gestalteten gleichzeitig den Informationsfluss mit der konkreten Unter 217 218
219
220
Schulz-Klingauf 1960, S. 331. 1967 befürwortete die Gesellschafterversammlung der Spar GmbH die Ablösung des „SPAR-Schlüssels“ durch den „RGH-Schlüssel“. Protokoll über die Außerordentliche Gesellschafterversammlung und Arbeitstagung der Handelshof SPAR GmbH am 31.10. 1967 in Frankfurt a. M. (31.10.1967), Die Deutsche SPAR in Protokollen 1967-77, Gesellschaftsversammlungen Handelshof SPAR GmbH, 1967-77. Spar-Archiv. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16. und 17. November 1959 in Mannheim, Anlage 2: Schoneweg, R. (Geschäftsführer RGH): Aus der Tätigkeit der RGH und die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen RGH und Industrie- und Handelskammern (16./17.11.1959), S. 3, RWWA 181/1563/1. Der Stand der deutschen Rationalisierungsbewegung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 25.2.1956. Ein Überblick über die Gesamtarbeit der RGH findet sich in der Chronik bei: Hallier 2001.
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nehmenspraxis. Bemerkenswert ist dabei die enge und produktive Zusammenarbeit von Einzelhandelskaufleuten und -unternehmen, die eigentlich Konkurrenten darstellten. Obwohl sich mit der Ablösung des Verkäufermarktes der Kampf um den Verbraucher verschärfte, herrschte die Überzeugung vor, dass nur durch Kooperation theoretisch gesättigtes Wissen über die Selbstbedienung geschaffen werden konnte, das gleichzeitig auf breiter Basis praxistauglich und erfolgsversprechend war. Außerdem ist deutlich geworden, dass sich an diesem Prozess des Wissensaustausches und der Wissenspopularisierung sowohl alte als auch neue, wissenschaftliche und praktische Rationalisierungsträger beteiligten. Die Art und Weise der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure verweist auch darauf, dass die theoretische Fundierung der Selbstbedienung aufs Engste mit der Popularisierung der neuen Verkaufsform verknüpft war. Mit der zunehmenden Durchsetzung der Selbstbedienung in der Praxis stieg die Nachfrage nach stärker theoretisch fundiertem Wissen, gleichzeitig förderte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Verkaufsform deren Akzeptanz unter den Einzelhändlern. Anhand des im nächsten Abschnitt vorgestellten Instituts für Selbstbedienung soll diese Wechselwirkung verschiedener Wissensarten und Wissenskanäle im Innovationsprozess des Einzelhandels noch stärker verdeutlicht werden. 1.2.3 Das Institut für Selbstbedienung: Ein eigenes Institut für die neue Verkaufsform Den 1379 Selbstbedienungsläden standen Anfang 1957 200.000 Bedienungsläden gegenüber, d. h. ihr zahlenmäßiger Anteil betrug nicht einmal ein Prozent und ihr Umsatzanteil belief sich auf 4,4 Prozent.221 Diese relativ geringe Anzahl wurde u. a. auch auf die disparate Umsetzung der Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel zurückgeführt. Sie war dadurch geprägt, dass die verschiedenen Betriebsformen versuchten, eigene Maßnahmen zur Förderung der Selbstbedienung zu entwickeln, die sich stark auf die konkrete Umstellung einzelner Läden konzentrierten, aber weniger auf die Schaffung theoretischer Ansätze ausrichteten. Auch die Arbeit der bereits genannten Institutionen konnte keine gezielte, systematische Förderung der Selbstbedienung erreichen.222 In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre herrschte bei den gegenüber der Selbstbedienung positiv eingestellten Ein 221 222
Institut für Selbstbedienung 1988, S. 20. Vgl. Priess 1952, S. 24.
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zelhändlern die Überzeugung vor, dass es genau an der zentralen Grundlagenarbeit für eine effektive und erfolgreiche Umsetzung der neuen Verkaufsform mangele: „Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in den führenden Kreisen des deutschen Einzelhandels die Einsicht durchgesetzt, daß zur Grundlagenforschung und zu einem Erfahrungsaustausch auf breitester Grundlage ein spezialisiertes, neutral über allem Wettbewerb stehendes Institut geradezu eine Lebensnotwendigkeit geworden war.“223
Auf einer Tagung des Verbandes der Lebensmittelfilialbetriebe im Herbst 1956 wurde erstmals die Gründung einer speziellen Einrichtung angeregt. Man einigte sich auf ein Zusammenkommen aller interessierten Verbände des Lebensmittelhandels für den 14.12.1956.224 Am 11.1.1957 wurde der Gründungsakt des Instituts für Selbstbedienung (ISB) vollzogen, das sich in Köln mit dem Status eines eingetragenen Vereins niederließ. Die Finanzierung des ISB sicherten die Gründerverbände und der Kreis der fördernden Mitglieder, dessen Zahl sich Ende 1958 auf 48, Ende 1959 auf 74 und Ende 1960 auf 103 belief. Zu den Mitgliedern zählten Lebensmitteleinzelhändler, Einzelhandelsunternehmen aus anderen Branchen, aber auch Vertreter der Lebensmittelindustrie und Hersteller von Einrichtungsgegenständen für Selbstbedienungsläden.225 Joseph Wickern äußerte 1988 in einem Interview, dass man bewusst auf staatliche Unterstützung verzichtet habe, da ein sich daraus ergebender Aufsichtsrat für die Arbeit des Instituts eher hinderlich erschien.226 Auch für die zentrale Schaltstelle der Rationalisierung der 1920er Jahre, dem RKW, war die Betätigung frei von staatlichen Einflüssen ein wichtiger Grundsatz gewesen. Diese Einstellung lässt sich als spezifischer Abgrenzungsmechanismus einer Expertengruppe interpretieren, bei dem eine Indienstnahme für politische Interessen z. B. in den Bereichen der Wirtschafts- und Konsumpolitik
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Schulz-Klingauf 1960, S. 331. Dazu auch: Eklöh 1958, S. 15. Die beteiligten Verbänden waren: Arbeitsgemeinschaft der Berliner Nahrungsmittelwirtschaft, Arbeitsgemeinschaft „Freiwillige Gruppen des Lebensmittelhandels“, Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittelfilialbetriebe e. V., Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittelund Großbetriebe e. V., HDE, Hauptverband des Deutschen Lebensmitteleinzelhandels e. V., Verband des Deutschen Nahrungsmittelgroßhandels e. V., Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V. Vgl. Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 26.1.1957. Auflistung der fördernden Mitglieder zum Jahresabschluss: Selbstbedienung, 10/1957/58, S. 35; Selbstbedienung, 12/1959, S. 44; Selbstbedienung, 12/1960, S. 52. Institut für Selbstbedienung 1988, S. 42.
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von vornherein ausgeschlossen werden sollte. Das Selbstverständnis der Experten beruhte eher auf der Positionierung als „wissenschaftliche“ Vertreter und zugleich als Bindeglied zur wirtschaftlichen Praxis. Sie verfolgten das Ziel, bestimmte sozioökonomische und -kulturelle Vorstellungen von einem zeitgemäßen Absatzwesen durchzusetzen.227 Dafür besaßen die wirtschaftspolitischen Vorgaben eine Bedeutung, aber innerhalb des freien marktwirtschaftlichen und konsumgesellschaftlichen Rahmens empfanden die Experten diese nicht als Einschränkung, sondern sahen die eigene Arbeit eher als Teil der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Ebenso wenig wollte man sich aber in die Abhängigkeit bestimmter wirtschaftlicher Interessen begeben und setzte deshalb den Höchstsatz für den Mitgliederbeitrag auf 3000 DM pro Jahr fest.228 Dieser galt sowohl für Handels- als auch für Industrieunternehmen. An der Arbeit des Instituts beteiligten sich Vertreter aller Betriebsformen des westdeutschen Einzelhandels, was die Zusammensetzung des ersten, insgesamt zwölfköpfigen Verwaltungsrates unterstrich. Er bestand aus Filialisten, wie Herbert Eklöh von der Eklöh GmbH und Hans Schürmann von der Adolph Schürmann AG, Vertretern der Konsumgenossenschaften, z. B. Josef Aust, Repräsentanten der freiwilligen Ketten, darunter W. SchmidtRuthenbeck vom Spar-Großhandel, sowie Inhabern von Einzelgeschäften, wie Edmund Schreiber und Artur Schulz.229 Der erste Präsident des ISB war Joseph Wickern vom Kölner Filialunternehmen Cornelius Stüssgen AG. Als erster Geschäftsführer wurde Karl-Heinz Henksmeier eingesetzt, der zuvor als Geschäftsführer bei der RGH gearbeitet hatte. Die Haupttätigkeit des Instituts lag in der Hand von Experten aus verschiedenen Fachbereichen. Diese verteilten sich auf fünf Arbeitskreise für bestimmte Schwerpunktthemen der Selbstbedienung: der Arbeitskreis für Einrichtung und Organisation, der Arbeitskreis für Sortimentsfragen, der Arbeitskreis für Mitarbeiter und Ausbildungsfragen, der Studienkreis für Verpackungsfragen und der Arbeitskreis für Textil-, Bekleidungs- und Haushaltswaren. In den Ausschüssen fand ein „wechselseitiger Erfahrungsaustausch mit der Praxis“
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Vgl. Engstrom u. a. 2005, S. 10. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16. und 17. November 1959 in Mannheim, Anlage 5: Karl-Heinz Henksmeier: Neue Tendenzen in der Selbstbedienung (16./17.11.1959), S. 7, RWWA 181/1563/1. Vgl. zu Einzelheiten der Beitragsgestaltung: Institut für Selbstbedienung, in: Protokoll über die Sitzung des Gesamtvorstandes des ZdK (8.1.1957), S. 5, FfZ 18-6, 5.1.3. Institut für Selbstbedienung 1988, S. 21.
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statt.230 Die Aufgaben und Ziele des ISB fasste Henksmeier 1957 zusammen: „Das Institut für Selbstbedienung hat sich zur Aufgabe gemacht, die Erkenntnisse der Selbstbedienung zu ergründen, zu vertiefen und populär zu machen. Es will dazu beitragen, der Selbstbedienung ein weites Anwendungsgebiet zu gewinnen, um einerseits den Nutzen der Selbstbedienung allen Kreisen des Handels und der gesamten Verbraucherschaft zugänglich zu machen, andererseits durch eine Verbreiterung der Selbstbedienungs-Idee den Wünschen des Handels in Richtung auf Warenlieferant, Industrie und Landwirtschaft ein stärkeres Gewicht zu geben, und letztlich zu erreichen, daß die Handelskosten niedriger und die Verbraucherpreise gesenkt werden.“231
Es bleibt festzuhalten, dass sich die Aktivitäten des ISB auf die Erforschung der Selbstbedienung, die Nutzbarmachung von relevantem Wissen durch die Weitergabe von Informationen und die Zusammenarbeit mit der Industrie sowie anderen ähnlich ausgerichteten Organisationen konzentrierte. Die Kooperation auf internationaler Ebene mündete 1960 in die Gründung der International Self-Service Organization (ISSO) mit Sekretariat beim ISB. Die wichtigsten Partner waren die Selfservice Development Association (Großbritannien), das Institut Francais du Libre Services (Frankreich) und die Vereniging van Zelfbedienings-Bedrijven (Niederlande).232 Eine ebenso wichtige Bedeutung besaßen die Tätigkeiten des ISB innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Handel und der Industrie. Einerseits hatte man sich zum Ziel gesetzt, eine wissenschaftliche Basis für die Selbstbedienung zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde die Neugewinnung von Wissen angestrebt, die sich in der Durchführung von Betriebsvergleichen unter der Leitung des Instituts und der Erstellung von Statistiken sowie in zahlreichen Studienreisen ins europäische Ausland niederschlug, aber auch in der Sammlung, Ordnung und Analyse von bereits vorhandenem Material. Andererseits bildete die Weitergabe dieses Wissens eine zentrale Aufgabe des Instituts: es sollte allen Betriebsformen des Handels – unabhängig von der Größenordnung – bei der Umsetzung der Selbstbedienung in die Geschäftspraxis zugute kommen.
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Ebd., S. 23f. Zur genaueren Beschreibung der Aufgabenkreise und den Mitgliedern der ersten Ausschüsse: Ebd., S. 23f. Selbstbedienung, 1/1957/ 78, S. 3f. Selbstbedienung 5/1960, S. 3. An der Einrichtung der ISSO waren darüber hinaus Belgien, die Schweiz und Spanien beteiligt. Außerdem hatten andere Länder wie Dänemark, Österreich, Schweden und Norwegen ihren Beitritt in Aussicht gestellt. Vgl. Selbstbedienung, 9/1960, S. 4.
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Trotzdem gab es im Laufe der 1950er und 1960er Jahre innerhalb der verschiedenen Betriebsformen Diskussionen über die Nützlichkeit des ISB und die Bedeutung einer entsprechenden Mitgliedschaft für das eigene Unternehmen. Anfänglich sah sich das Institut dem Vorwurf ausgesetzt, es fördere durch die Forcierung der Selbstbedienung letztlich die Großunternehmen des Einzelhandels.233 Die Konsumgenossenschaften diskutierten 1957 die Frage nach den Kosten und Nutzen des finanziellen Beitrags zum ISB. Zunächst sollten sich nur die Genossenschaften mit Selbstbedienungsgeschäften an den als sehr hoch eingeschätzten Beiträgen beteiligen.234 Ende der 1960er Jahre trat die BAG als Interessenvertretung der Warenhäuser aus dem ISB mit der Begründung aus, dass die Probleme der Selbstbedienung grundlegend gelöst und ihnen die neuen Aufgaben des Instituts wenig hilfreich seien. In der Fachzeitschrift der Spar dagegen vertrat man die Meinung, dass der eigentliche Grund für den Austritt darin bestand, dass sich das ISB mit der Erforschung des Phänomens Verbrauchermarkt beschäftigte, der für die Warenhäuser selbst einen neuen, ernstzunehmenden Konkurrenten darstellte.235 Diese Auseinandersetzungen zeigen, dass sich das Institut als Gremium von Experten an der Schnittstelle verschiedener sozioökonomischer Bereiche befand und kein Ort „neutraler Wissenschaft“ und „objektiven Wissens“ war. Vielmehr treten bei den Auseinandersetzungen über Sinn und Wirken des ISB die Eigenschaften der Sozialfunktionalität von Wissen und der Sozialrelativität von Experten deutlich hervor.236 Die Praxisarbeit des ISB bot den Einzelhändlern die Gelegenheit, sich auf Schulungen und Vorträgen weiterzubilden. Die Seminare richteten sich aber auch an Vertreter der Industrie, v. a. aus der Verpackungsbranche.237 Im Rahmen der Fortbildungsarbeit wurde 1959 eine Tonbildschau entwickelt. Folgender Kommentar dazu war charakteristisch für das Verständnis des Instituts hinsichtlich der relevanten Lernprozesse, bei denen Instruktion, Beobachtung und Erfahrung zusammenspielten: „Mit dem Wissen um die Vorteile der Selbstbedienung ist es allein nicht getan. Planung, Improvisation, Systematik und neue Ideen liegen im Ablauf eines erfolgrei-
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Vortrags- und Diskussionsveranstaltung um die Selbstbedienung, in: Der Einzelhändler, 20.8.1958. Institut für Selbstbedienung, in: Protokoll über die Sitzung des Gesamtvorstandes des ZdK (8.1.1957), S. 5f., FfZ 18-6, 5.1.3. Institut für Selbstbedienung ohne die Warenhäuser, in: Der neue Weg, 2/1969. Vgl. Engstrom 2005, S. 8; Fried, Kailer 2003, S. 11; Landwehr 2002, S. 66; Schumacher, Busset 2001, S. 18; Vogel 2004, S. 643. ISB-Informationen, 15.11.1959, S. 2, EHI.
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chen Selbstbedienungsgeschäftes immer nebeneinander. Hierzu Anregungen zu geben ist die Aufgabe der ersten Tonbildschau, die vom Institut fertiggestellt worden ist.“238
Eine weitere Maßnahme war die Vermittlung von so genannten Patenschaften, bei denen Einzelhändler in Betriebe und Geschäfte eingeladen wurden. Sie arbeiteten dort für ein oder zwei Wochen mit, um Beispiele für die Funktionsweise der Selbstbedienung nicht nur vor Ort zu beobachten, sondern selbst mitzuerleben und auf diese Weise Anregungen zu erhalten.239 Die umfassende publizistische Arbeit des ISB gewährleistete die kontinuierliche Versorgung der Öffentlichkeit mit Informationen. Ab 1957 erschien die monatliche Zeitschrift Selbstbedienung, die 1962 in Selbstbedienung und Supermarkt umbenannt wurde.240 Sie verfolgte das Ziel, „den Kaufmann, gleich welcher Größe und Betriebsform, bei seiner täglichen Arbeit zu unterstützen, ihm praktische und verwertbare Vorschläge zu geben.“241 Den Inhalt bildeten zum einen Artikel zu aktuellen, spezifischen Problemen der Selbstbedienung, z. B. die Verpackungsfrage, der Verkauf von Fleisch, Obst und Gemüse in Selbstbedienung und technische Fragen zu Kühleinrichtungen oder sonstigen Maschinen. Zum anderen veröffentlichte man die Ergebnisse von Ladenanalysen und Betriebsvergleichen. Ebenso weitergegeben wurden Erfahrungen und Anregungen aus der Praxis, die das Institut erhalten hatte. Darüber hinaus fand die Entwicklung der Selbstbedienung im Ausland als wichtiger Bezugspunkt für die eigene Arbeit Berücksichtigung. Ab 1957 wurden die SB-Briefe als neue Rubrik unter dem Titel SB im Ausland in die Zeitschrift eingegliedert. Zuvor gab Herbert Eklöh diese Auswertung von US-amerikanischen Zeitschriften und anderen ausländischen Veröffentlichungen heraus.242 Neben der Zeitschrift erschienen im eigenen Verlag mit dem Namen SB-Praxis monatliche Informationsblätter für das Verkaufspersonal sowie Einzelpublikationen, die aktuelle Fachfragen, ähnlich wie in der Zeitschrift, behandelten.243 238 239
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Selbstbedienung, 2/1959, S. 10. Selbstbedienung, 2/1957/58, S. 2ff.; Vermittlungsdienst für Patenbetriebe, in: Die Kaffeetasse, 6/1958. Daneben gab es die ISB-Informationen, die aber nur an die fördernden Mitglieder und Trägerverbände gerichtet waren und dort auch ausschließlich zum internen Gebrauch dienen sollten. Sie beinhalteten hauptsächlich einen regelmäßigen Überblick über die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsausschüsse. Selbstbedienung, 12/1959, S. 3. Selbstbedienung, 4/1957/58, S. 2. Einen Überblick über die publizistische Arbeit des ISB gibt: Hallier 2001.
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Zusammengenommen verdeutlicht der Anspruch des Instituts an seine Arbeit, dass seine Position „an den gemeinsamen Schnittstellen zwischen Wissenschaftssystem und angrenzenden gesellschaftlichen Systemen“ angesiedelt war.244 Die Wissensbestände des ISB sammelten und verwerteten die Summe aller Erfahrungen mit der Selbstbedienung und ließen sie wissenschaftlich angereichert in die Praxis zurückfließen. Seine Wirkung konnte das Institut darüber hinaus nur durch eine gewisse Transparenz der Informationsbestände, der Bereitschaft zum Austausch und der Weitergabe von Daten entfalten, wie es für ähnliche Institutionen in den USA wie z. B. das Super Market Institute bereits angesprochen worden ist. Alexander u. a. haben in diesem Zusammenhang die Arbeit der britischen Schwesterorganisation des ISB, der Self-Service Development Association, als Etablierung einer community of practice beschrieben.245 Auch das deutsche ISB zeichnete sich durch die Zusammenarbeit von Praktikern und Spezialisten aus verschiedenen Fachbereichen mit dem konkreten Ziel der theoretischen Fundierung und Popularisierung der neuen Verkaufsformen sowie der Problemlösung und Umsetzung in die Einzelhandelspraxis aus. Dabei ist, ebenso wie bei den anderen Forschungseinrichtungen und Institutionen, die sich mit dem Handel beschäftigten, die spezifische Kooperation von eigentlichen Konkurrenten hervorzuheben. Somit stellte auch das ISB eine Art von wettbewerbsfreiem Raum dar, in dem Einzelhändler aller Größenordnung und Vertreter der Industrie gemeinsam an konkreten Problemlösungen arbeiteten. Die Arbeit der „Systemzentrale der Selbstbedienung“246 resultierte in einer beschleunigten Entwicklung der Selbstbedienung, so dass zwei Jahre nach der Gründung fast 10.000 Einzelhändler die neue Verkaufsform implementierten. Insofern hatte folgende Aussage gewiss ihre Berechtigung: „Die Frage: ¸Bedienung oder Selbstbedienung’ hat nur noch historische Bedeutung. Alle Zweifel erscheinen durch die Entwicklung überholt, und ich darf mit einer ge-
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Szöllösi-Janze prägt diese Formulierung im Zusammenhang mit der Situation der Wissenschaft und Forschungseinrichtungen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie lässt sich jedoch auch hier zutreffend für die Stellung des ISB verwenden. Szöllösi-Janze 2004a, S. 293. Dieser Anspruch blieb auch in der weiteren Geschichte des Instituts bestehen und noch 1988 bezeichnete der damalige Präsident das ISB als „Mittler zwischen der Absatzpraxis und den Universitäten“ und „Agent“ praktischen Wissens. Institut für Selbstbedienung 1988, S. 9. Alexander; Shaw; Curth 2005, S. 815f. Institut für Selbstbedienung 1988, S. 4.
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wissen Genugtuung feststellen, daß das Institut für Selbstbedienung sicherlich seinen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen hat.“247
Gleichzeitig macht das Zitat auch deutlich, dass die Entwicklung der Selbstbedienung eine entscheidende Legitimationsbasis für die Arbeit des Instituts darstellte. Die Befürworter und Förderer der neuen Verkaufsform, die sich im ISB zusammenfanden, beanspruchten für sich, das Sonderwissen um die Selbstbedienung in ihrer „Einrichtung“ institutionalisiert zu haben und schufen somit gleichzeitig eine Rechfertigungsgrundlage für die neuen Verkaufsformen.248 Zu dieser besonderen Rolle trug sicher auch bei, dass sich im Gegensatz zu den vielzähligen Organisationen und Zeitschriften in den USA die Beschäftigung mit dem Verkaufswesen stark auf das ISB konzentrierte.249 Der Wissensbestand und die Arbeit des ISB blieben aber nicht statisch auf die Selbstbedienung fokussiert, sondern passten sich im Laufe der 1960er Jahre der Entwicklung des Vertriebswesens an. Neue Themen waren – neben dem Supermarkt, Discounter, Verbrauchermarkt und Einkaufszentrum – die Differenzierung der technischen Entwicklung, die Veränderung der Konsumgewohnheiten und die neuen Wettbewerbsbedingungen im Einzelhandel. Das Institut für Selbstbedienung bestand bis Ende der 1980er Jahre. Es wurde 1988 in das Deutsche Handelsinstitut (DHI) umgewandelt und fusionierte 1989 mit der RGH. 1993 wurde die Einrichtung in Euro-Handelsinstitut (EHI) umbenannt und ist bis heute in Köln tätig.250
2. Die Perfektionierung der Selbstbedienung 2.1 Die Wege des Supermarktes in den bundesdeutschen Einzelhandel 2.1.1 „Großer Laden“ – Großraumladen – Supermarkt Nicht nur die quantitative Zunahme von entsprechenden Geschäften kennzeichnete den Durchbruch der Selbstbedienung gegen Ende der 1950er Jahre, sondern v. a. auch ein Anstieg der Verkaufsfläche. So nahm die durchschnittliche Ladenfläche laut ISB zwischen 1957 und 1965 von 140 auf 203
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Selbstbedienung, 10/1959, S. 3. Vgl. Stehr 1994, S. 410. Schröter 2001, S. 252. Zu gegenwärtigen Aufgaben, Organisationsstrukturen und den Arbeitsschwerpunkten des EHI: Hallier 2001.
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m2 zu.251 Die Einzelhandelsunternehmen griffen diese allmähliche Entwicklung gezielt auf, indem sie einen neuen Typ von Selbstbedienungsgeschäft schufen: den so genannten Großraumladen. Obwohl immer wieder betont wurde, dabei handele es sich einfach um einen großen Selbstbedienungsladen mit einer Fläche von weit über 100 m2, schien er dennoch bestimmte neue Eigenschaften zu besitzen, die ihn gegenüber einem herkömmlichen Lebensmittelgeschäft abgrenzten. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene spiegelte er ein stark rationalisiertes Verständnis des Verhältnisses zwischen den Handelskosten und den Handelsspannen wider. Jefferys u. a. prognostizierten als zentrales Problem des Einzelhandels in den 1960er Jahren, dass bei steigenden Personalkosten und Investitionen eine zunehmende Zahl an Unternehmen auf der Grundlage niedriger Handelsspannen und hohen Lagerumschlags einen Preiswettbewerb betreiben würde, wie er in den 1950er Jahren noch nicht stattgefunden hatte.252 Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können, musste die Rentabilität der Geschäfte so effektiv wie möglich gestaltet werden, was v. a. mit einer zunehmenden Ladengröße erreicht werden konnte. Auf großen Geschäftsflächen ließ sich das Prinzip der Arbeitsteilung besser rationell umsetzen. Dabei verfügte der Großraumladen über eine höhere Umschlaggeschwindigkeit und verkaufte 65 Prozent mehr: der Einkaufsbetrag betrug 6,10 DM pro Kunde gegenüber 3,70 DM im herkömmlichen SB-Geschäft.253 Da der Großraumladen somit sowohl höhere Gewinne erzielte als auch eine größere Rentabilität verzeichnete, wurde er seit dem Ende der 1950er Jahre von vielen Zeitgenossen als unvermeidlich angesehen.254 Zugleich ist der Großraumladen als Reaktion des Einzelhandels auf die gestiegene Kaufkraft der bundesdeutschen Konsumenten und die veränderten Verbrauchergewohnheiten zu verstehen. Auf größerer Verkaufsfläche wurde dem Kunden erstens ein Sortiment mit mehr Breite und Tiefe angeboten, das mit den differenzierten Wünschen der Bevölkerung korrespondierte. Zweitens kam das umfassende Warensortiment dem Be 251 252 253
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Institut für Selbstbedienung 1988, S. 23. Jefferys, Knee 1962, S. 129. Henksmeier, Karl Heinz: Der Supermarkt, seine technischen und organisatorischen Probleme, in: Gloor, Max u. a. (Hg.): Neuzeitliche Distributionsformen, Bern 1963, S. 33-43, hier S. 37. Erste Supermärkte der SPAR, in: Der neue Weg, 11/1959; Henksmeier 1961, S. 82; Minden plädiert für größere Läden, in: Edeka-Rundschau, 28.10.1960; Selbstbedienung und Supermärkte im Vordringen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 10.10.1959; Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 3, BAK B102/39433; Wieder neue Edeka Großraumläden, in: Edeka-Rundschau, 4/1960.
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streben der Kunden entgegen, alles unter einem Dach einzukaufen. Auf diese Weise konnte z. B. die zunehmende Zahl der erwerbstätigen Frauen den Zeitanteil des Einkaufens an ihren häuslichen Verpflichtungen reduzieren.255 So ergab 1967 eine Studie des Magazins Stern, dass zwei Reporter für die gleiche Einkaufsliste in einem Supermarkt 29 Minuten brauchten, während sie in zehn Bedienungsläden 77 Minuten verbrachten, um ihren Einkauf erfolgreich abzuschließen.256 Drittens stellte seit dem Beginn der 1960er Jahre die Ausdehnung der Warengruppen in den Großraumläden v. a. in den Bereich der Nicht-Lebensmittel, von Fleisch und Wurstwaren sowie Obst und Gemüse in voller Selbstbedienung eine Strategie dar, um die Umsätze des Lebensmitteinzelhandels zu steigern. Auf diese Weise sollten nicht nur die hohen Kosten kompensiert, sondern angesichts der zunehmenden Sättigung der Konsumenten im Bereich der Lebensmittel auch neue Absatzmärkte eröffnet werden.257 Die genannten Prinzipien des Massenabsatzes im Großraumladen entsprachen grundsätzlich der wesentlichen Funktionsweise eines USamerikanischen super markets. Trotzdem betonte man bis in die 1960er Jahre die eigenständige Entwicklung der neuen Vertriebsform auf Grundlage des in der Bundesrepublik Deutschland bereits etablierten Systems der Selbstbedienung und umging den Begriff des super market in der Bezeichnung der Läden zunächst häufig. Henksmeier war der Meinung, die deutsche Übersetzung „Übermarkt“ des englischen super market sei eigentlich schon für US-amerikanische Verhältnisse eine Überspitzung, besser eigne sich deshalb der Begriff des Großraumladens.258 Ein Beispiel für die bundesdeutschen Großraumläden stellten die so genannten Gemeinschaftsläden der Edeka – seit 1960 auch unter der Bezeichnung „Edeka-Markt“ – dar. Ab 1957 entstanden große Selbstbedienungsgeschäfte mit einer Mindest-Grundfläche 255
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Auf dem Weg zum größeren Laden: Korreferat des Vorstandsmitglieds der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V., Herrn Dr. Franz Weissbecker, München, auf der Fachtagung anläßlich der Jahreshauptversammlung der Deutschen SPAR am 5. Juni 1961 in Frankfurt a. M. (5.6.1961), S. 2, Spar Archiv: Geschäftsberichte 1956-66; DIHT: Tätitgkeitsbericht 1958/59, S. 28, WWA S7/562; Henksmeier, Karl Heinz: Angewandte Strukturpolitik, in: Eckardstein, Dudo von; Bäurle, Rolf; Nieschlag, Robert (Hg.): Der Filialbetrieb als System. Das Cornelius-Stüssgen-Modell, Köln 1972, S. 169-189, hier S. 172. Wilkens 1967, S. 67. Ditt 2003, S. 337. Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 16. und 17. November 1959 in Mannheim, Anlage 5: Karl-Heinz Henksmeier: Neue Tendenzen in der Selbstbedienung (16./17.11.1959), S. 4, RWWA 181/1563/1.
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von circa 130 m2, einem voll selbstbedienungsfähigen Frischwarensortiment und einer Nicht-Lebensmittelabteilung, die mehrere Edeka-Kaufleute gemeinsam eröffneten. Auf diese Weise verteilten sich das Risiko der höheren Investitionen und die Verantwortung für die Führung des Ladens.259 Ebenfalls zu den Großraumläden zählten die „S-Märkte“ der Cornelius Stüssgen AG, die „Superläden“ der A&O oder die „KONSUM-Märkte“ der Konsumgenossenschaften.260 Als erster genuiner Supermarkt in der Bundesrepublik Deutschland galt die 1957 von Herbert Eklöh eröffnete „Rheinlandhalle“ in Köln-Ehrenfeld. Sie setzte entscheidende Akzente für die weitere Entwicklung bundesdeutscher Supermärkte sowohl hinsichtlich der materiellen Ausstattung als auch der Arbeitsorganisation. Der von US-amerikanischen Experten eingerichtete Supermarkt bot auf einer Fläche von 1700 m2 neben einem umfassenden Lebensmittelsortiment, Backwaren, Fisch, Haushalts- und Spielwaren. Einen der Hauptanziehungspunkte bildete die Frischfleischabteilung, die in voller Selbstbedienung günstige Preise anbot. Anfänglich frequentierten täglich 300 Autokunden das Geschäft, welches selbstverständlich entsprechende Parkmöglichkeiten bot. 1963 wurde die Verkaufsfläche auf 1900 m2 und ein Sortiment von 3500 Artikeln erweitert.261 Ein Drittel der Angestellten waren Aushilfskräfte, d. h. teils halbtags arbeitendes Fachpersonal, ungelernte Arbeiter, Schüler und Studenten.262 Für die Supermärkte der 1960er Jahre handelte es sich dabei um ein entscheidendes rationalisierendes Element der effektiven Arbeitsteilung und flexiblen Arbeitsorganisation. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre setzte sich die eingedeutschte Bezeichnung „Supermarkt“ gegenüber der des „Großraumladens“ durch,wobei die beiden Vertriebsformen eine zunehmende Gleichsetzung erfuhren In
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Edeka Mainz eröffnet ersten „Edeka Markt“, in Edeka-Rundschau, 22.4.1960; Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1959, S. 9, WWA S7/577; Henksmeier 1961, S. 38f.; Verkaufsaktive Betriebe sind heute dringender denn je erforderlich, in: EdekaRundschau, 17.6.1960. Berger 1972, S. 35; Dynamischer S-Markt, in: Cornelia, 1/1965, S. 13-16, hier S. 13f.; Mit Superläden gegen Supermärkte, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 2/1960. Die S-Märkte stellten insofern eine Ausnahme dar, als dass sie sich als reines Lebensmittelgeschäft verstanden, während es für den Großraumladen eigentlich typisch war, ein umfassendes Nicht-Lebensmittel-Sortiment anzubieten. Deutschlands größter Supermarkt, in: Kurzmitteilungen 22.10.1963, WWA K5/2625; Eglau 1971, S. 207f.; Niederschrift über eine am 15.10.1957 in Köln stattgefundene Besichtigung eines neuen Supermarktgeschäftes der Firma Eklöh (16.10.1957), RWWA 8/26/1122. Erste Supermarkt-Erfahrungen. Die Hausfrau akzeptiert die neue Einkaufsform, in: Deutsche Zeitung, 23.11.1957.
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der Zeitschrift des ISB wurde die Meinung geäußert, dass man aus kundenpsychologischen Gründen auf diese Weise nicht nur den „Marktcharakter“ der Läden betonen, „sondern im Kunden die Vorstellung des Überdimensionalen und Attraktiven wecken [wolle].“263 Bereits im Zusammenhang mit dem Großraumladen war von der „zauberhaften Anziehungskraft“ der Warenfülle auf den Kunden die Rede.264 Der Einzelhandel verstand die Supermärkte als „Hallen des Überflusses“ nicht nur als die konsequente Weiterführung des Rationalisierungspotenzials der Selbstbedienung, sondern auch als die räumliche und materielle Verwirklichung der Wahlfreiheit der bundesdeutschen Massenkonsumgesellschaft.265 Damit fiel die Einführung der Supermärkte im westdeutschen Einzelhandel in eine grundlegend andere Phase der sozioökonomischen Entwicklung als in den Vereinigten Staaten von Amerika. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Stadium der „cheapy super markets“, die den Durchbruch der Verkaufsform in den USA während der Depression leisteten, übersprungen. Das Aufkommen der ersten westdeutschen Supermärkte zeichnete sich parallel zum Durchbruch der Massenkonsumgesellschaft auf dem Höhepunkt der Nachkriegsprosperität ab. Deshalb stand im Zentrum der Innovation auch weniger das Preisargument, das der zentrale Knackpunkt der ersten US-amerikanischen super markets gewesen war, sondern die Betonung lag vielmehr auf der Fülle des Angebots und den neuen Auswahlmöglichkeiten, ähnlich wie sie die zweite Generation der super markets in den USA auszeichnete. Anfang der 1960er Jahre begann die gezielte theoretische und wissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit dem Phänomen des bundesdeutschen Supermarktes. Die wissenschaftlich-theoretischen und praktischen Netzwerke, die zur Förderung, Erforschung und Umsetzung der Selbstbedienung beigetragen hatten, kamen auch beim Supermarkt sowie den im Fol 263 264
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Was ist ein Supermarkt?, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 5/1962, S. 31. Auf dem Weg zum größeren Laden: Korreferat des Vorstandsmitglieds der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V., Herrn Dr. Franz Weissbecker, München, auf der Fachtagung anläßlich der Jahreshauptversammlung der Deutschen SPAR am 5. Juni 1961 in Frankfurt a. M. (5.6.1961), S. 2, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, SPAR-Archiv. Auch: Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 3. BAK B102/39433. Wo werden wir einkaufen?, in: Rewe-Echo, 15.7.1964. Vgl. auch die Forschung: Ditt 2003, S. 337; Ruppert, Wolfgang: Zur Konsumwelt der 60er Jahre, in: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 752-767, hier S. 765; Welskopp 2004, S. 273f.
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genden neu entstehenden Vertriebsformen zum Zuge. Während gegen Ende der 1950er Jahre noch keine einheitliche Begriffsbestimmung des „Modewortes“ vorlag, erstellte das ISB 1960 zunächst folgende erste Definition: „Ein Großraumladen oder Supermarkt ist ein Selbstbedienungs-Lebensmittelgeschäft, welches außer einem vollständigen Lebensmittel-Sortiment einschließlich Frischobst, Frischgemüse und Frischfleisch auch Wasch-, Putz- und Reinigungsmittel und sonstige Artikel des Tagesbedarfs in ausreichender Breite führt. Der Jahresumsatz beträgt mindestens 3 Millionen DM.“266
1962 führte die ISSO eine einheitliche Definition des Supermarktes für ihre Mitgliedsländer ein, bei der nicht mehr der Jahresumsatz als zahlenmäßiges Kriterium angeführt wurde, sondern die Mindestgrundfläche von 400 m2. Als Grund gab man an, dass nur die Fläche eine vergleichbare Größe darstelle, während der Umsatz den angegebenen Betrag doch häufig übersteige. Auch in den USA war die Festlegung auf eine Definition der Vertriebsform des super market ein zentrales Problem gewesen. Die Schwierigkeit der definitorischen Abgrenzung des Supermarktes verweist darauf, dass sich die Verkaufsform noch in einer Phase der Entwicklung befand und eine ständige Anpassung an neue Rahmenbedingungen erfolgte. Die Unsicherheit darüber, was genau unter der Vertriebsform im bundesdeutschen Kontext zu verstehen sei, reflektierte somit die Anfänge des Innovationsprozesses, bei dem sich die sozialen und wirtschaftlichen Praktiken ebenso im Wandel befanden, wie das Wissen darüber. Die US-amerikanischen super markets hatten trotz enormer Unterschiede hinsichtlich der Größe der Verkaufs- und Parkflächen sowie der technischen und Ladenausstattung gegenüber den europäischen Supermärkten weiterhin eine wichtige Vorbildfunktion. Fachliteratur und -zeitschriften waren mit statistischen Zahlenangaben, detaillierten Ladenbeschreibungen und Erörterungen zu spezifischen Problemen US-amerikanischer Supermärkte gefüllt. Dem Grundtenor folgend ging es dabei allerdings nicht nur um ein Nacheifern des futuristischen Modells, wie es häufig bei den Selbstbedienungsgeschäften angeklungen war. Vielmehr wurde Kritik an den Größendimensionen der Unternehmen und Geschäften sowie an der Standortpolitik und Stadtentwicklung in den USA immer lauter. Sie ging einher mit der Warnung, bei der deutschen Entwicklung der neuen Ver
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Was ist ein Supermarkt?, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 5/1962, S. 31. Vgl. zur Unklarheit in der Begriffsbestimmung: Brief Risse an Diskussionskreis Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, betr. Rabattgesetz (5.10.1959), BAK B102/39449; Was ist Supermarkt?, in: Textil-Zeitung, 17.10.1959.
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triebsform nicht die gleichen Fehler zu begehen, sondern lehrreiche Schlüsse aus ihnen zu ziehen.267 Als größte Probleme erwiesen sich in diesem Zusammenhang die Verödung der US-amerikanischen Innenstädte durch die Ansiedlung der großflächigen Supermärkte außerhalb der Stadtzentren sowie die Überdimensionierung der Supermarktunternehmen und -flächen, die mit einem hohen wirtschaftlichen und finanziellen Risiko verbunden war.268 Nach vereinzelten Eröffnungen von Supermärkten Ende der 1950er Jahre v. a. von Seiten der Filialunternehmen, nahm die Zahl der Supermärkte in den 1960er Jahren stetig zu. Sie stieg von 250 Märkten im Jahr 1961 auf 2261 1972.269 (Vgl. Anhang, Tabelle 8) Typisch war in diesem Zeitraum auch die Zunahme der Verkaufsfläche der Supermärkte, die sich allerdings bei circa 500-600 m2 als Idealgröße einpendelte.270 Die flächendeckende Ausbreitung und die Vertrautheit mit der Selbstbedienung ermöglichten eine schnelle positive Annahme der neuen Einkaufsstätten durch die bundesdeutsche Bevölkerung. Trotz seiner günstigen Entwicklungsbilanz galt der Supermarkt bis in die Mitte der 1960er Jahre in der Praxis allerdings nicht als neuer Prototyp des bundesdeutschen Einzelhandels, sondern die verschiedenen Unternehmensformen betrachteten ihn durchaus mit Skepsis. Neben die Kapitalintensivität, die Supermärkte eher für Großunternehmen zu prädestinieren schien, trat das Problem neuer in- und ausländischer Wettbewerber im Lebensmitteleinzelhandel hinzu. Darüber hinaus war die Verbreitung der Supermärkte eng mit dem Wandel der Siedlungsstruktur der bundesdeutschen Bevölkerung und der Standortfrage als neuer Dimension des Wettbewerbs verknüpft. Sie steht im Fokus des folgenden Abschnitts. 2.1.2 Die Standortfrage als Schlüssel zum Erfolg Die vermehrte Eröffnung großflächiger Lebensmittelgeschäfte fand parallel zu entscheidenden Veränderungen in der Siedlungsstruktur und neuen Tendenzen in der Stadtentwicklung und Raumplanung sowie derer politischen
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Vgl. Brief DIHT an Industrie- und Handelskammern, betr. Supermärkte und Einkaufszentren; Gewerbebetriebe in neuen Wohnsiedlungen (12.8.1960), WWA K3/1304. Vgl. Auszug aus den Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT (22.10.1963), BWA K9/604; Einzelhandel und Städtebau, in: Handelsblatt, 28.11.1962; Gloor 1963, S. 106. Zahlenangabe nach: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 1.4.1972. Ab 1970 Zahlenangabe ohne Lebensmittel-Abteilungen der Waren- und Versandhäuser. Disch 1966, S. 67; Supermärkte 1962, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 10/1962, S. 6-10, hier S. 9.
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Steuerung statt. Die große Relevanz der Standortfrage im Einzelhandel bestimmten somit sowohl verschiedene gesellschaftliche und politische Faktoren als auch die immanenten wirtschaftlichen Anforderungen. In den späten 1950er Jahren hatten alle Unternehmenszusammenschlüsse begonnen, kleinere Bedienungsgeschäfte zugunsten größerer Selbstbedienungsgeschäfte zu schließen. Die so vorgenommene Ausdünnung des Ladennetzes war auch der erforderlichen Mindestzahl an Einwohnern im Einzugsgebiet größerer Geschäftskomplexe geschuldet, um die Rentabilität der Läden abzusichern. 1963 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass ein Supermarkt mit einer Verkaufsfläche von 400-500 m2 einen Einzugsbereich von 14.000 Einwohnern benötigte, bei einer Fläche über 500 m2 mehr als 20.000 Einwohner.271 Aus diesen Anforderungen ergaben sich spezifische Entwicklungen in der regionalen und lokalen Verbreitung der Supermärkte. Erstens waren Supermärkte in den Bundesländern mit hoher Bevölkerungsdichte wie NordrheinWestfalen – hier v. a. das Ruhrgebiet – und Baden-Württemberg an der Spitze weiter verbreitet, als in weniger dicht besiedelten Regionen.272 Zweitens bildeten großstädtische Zentren und städtische Ballungsgebiete die typischen Standorte von Supermärkten. 1962 gab eine Studie des ISB an, dass sich 76 Prozent der Supermärkte in Großstädten über 100.000 Einwohner befanden und 34 Prozent der Supermärkte in Städten mit mehr als einer halben Million Einwohner. In Ortschaften mit weniger als 20.000 Einwohnern, die aber insgesamt 52 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung ausmachten, lagen dagegen nur 2 Prozent der Supermärkte.273 Für die Konsumgenossenschaften ergab sich aus diesen Maßstäben zunehmend das Problem, dass in einem stark erweiterten Einzugsgebiet großflächiger Läden nicht genügend Mitgliederfamilien wohnten, so dass die Verteilungsstellen zunehmend auf Nichtmitglieder angewiesen waren. Daraus zog der ZdK die Schlussfolgerung, dass den Nichtmitgliedern – ebenso wie in den konkurrierenden Geschäften – mindestens ein Rabatt von drei Prozent geboten werden musste. Das minderte letztlich die Bereitschaft, sich überhaupt einer Konsumgenossenschaft als Mitglied anzuschließen.274 Verschärft wurde diese Problemlage dadurch, dass sich die konsumgenos 271
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Der Einzugsbereich deutscher Supermärkte, in: Kurzmitteilungen des DIHT, Abteilung Handel (25.6.1963), RWWA 8/26/1122. Vgl. auch: Nax 1969, S. 129f. Die Selbstbedienung in den Bundesländern, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 6/1962, S. 9-10, hier S. 9. Supermärkte 1962, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 10/1962, S. 6-10, hier S. 7f. Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NRW: Jahresbericht 1961, S. 36, 55, WWA S7/570.
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senschaftliche Standortpolitik grundsätzlich an den Mitgliedern orientierte, aber Strukturverschiebungen im Wohnungsbau zur Abwanderung der Bevölkerung aus traditionellen Einzugsgebieten führten.275 Für alle Einzelhandelsunternehmen ergab sich aus dem Wettbewerb zwischen den Großraumläden und Supermärkten das Problem des immer knapper werdenden Raumes. Besonders in den Innenstädten bedingte der Raummangel bei gleichzeitigem Anwachsen der Ladenflächen eine Verteuerung der Grundstückspreise. Darunter litten hauptsächlich die kapitalärmeren selbständigen Einzelhändler. Die Einzelhandelszusammenschlüsse gingen infolge dessen verstärkt dazu über, zentral gelegene Grundstücke aufzukaufen, bevor die Pläne für ein konkretes Geschäft fertig gestellt waren und erschlossen neue Absatzgebiete am Rand und außerhalb der Stadtzentren.276 Dabei wurde das Wissen um den erfolgsversprechenden Standort immer wichtiger. Die wissenschaftliche Standortanalyse, die in den 1950er Jahren noch kaum eine Rolle gespielt hatte, gewann in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung.277 Die meisten Einzelhandelszusammenschlüsse schufen spezifische Abteilungen, die sich wie z. B. die so genannten „Objektsucher“ der Rewe oder die „Abteilung Verkaufsförderung“ der Edeka gezielt mit der Analyse der Verbraucher, Wettbewerber und sonstiger Standortfaktoren in einem bestimmten Einzugsgebiet beschäftigten, bevor die Eröffnung eines Lebensmittelgeschäftes konkret in Angriff genommen wurde. Man war der Meinung, dass eine einmal getroffene falsche kapitalintensive Standortentscheidung langfristige und schwerwiegende wirtschaftliche Einbußen für das Gesamtunternehmen zur Folge haben konnte.278 Anhand des Bedeutungszuwachses der zentral gesteuerten, wissenschaftlich fundierten Standortplanung zeigt sich zum einen wie im Rahmen des Innovationsprozesses im Vertriebswesen neue Wissens- und Handlungsfelder entstanden. Zum anderen kann die Verwissenschaftlichung der Raumplanung und die darauf beruhende langfristige Ladennetzplanung in diesem 275 276
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ZdK: Jahrbuch 1960, S. 16, ZdK-Archiv. DIHT: Tätigkeitsbericht 1962, S. 86, WWA S7/562; Stadtrandgebiete werden immer interessanter, in: Der neue Weg, 9/1967. Beispiel: Ibrahim, Omar: Standortanalyse ohne Erfolg?, in: Rationeller Handel, 2/1965; Wie beeinflußt der Standort die Leistungen und Kosten der SB-Läden, in: Selbstbedienung, 4/1957/58, S. 22-24; ZdK: Jahrbuch 1960, S. 30, ZdK-Archiv. Fachberatung Ladenbau und Musterbauprogramm, in: Der neue Weg, 5/1965; Henksmeier, Karl-Heinz: Großraumläden erfordern gründliche Marktanalysen, in: Edeka-Rundschau, 19./26.5.1961; Immer mehr Großraumgeschäfte im Bereich der Edeka Berlin, in: Edeka-Rundschau, 3./10.6.1966; ZdK: Jahrbuch 1960, S. 30 und Jahrbuch 1961, S. 38, ZdK-Archiv.
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Zusammenhang als Strategie der Unternehmen verstanden werden, mit der steigenden Pluralität an Handlungsmöglichkeiten in der Einzelhandelslandschaft umzugehen. Neben den finanziellen und wirtschaftlichen Kapazitäten der Unternehmen trat damit Wissen als entscheidender Wettbewerbsvorteil und grundlegende Ressource für wirtschaftlichen Erfolg hervor.279 Neue Absatzchancen für den Lebensmitteleinzelhandel eröffneten sich durch zahlreiche neue Wohngebiete, verstärkt seit dem Ende der 1950er Jahre. Allerdings stellte das Nachfragepotenzial ein konfliktbehaftetes Feld auf wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Ebene dar. Ambrosius und Kaelble haben festgestellt, dass die neuen Siedlungsgebiete hinsichtlich der Handels- und Dienstleistungsstruktur tendenziell eher unterversorgt waren.280 Für den Einzelhandel schienen die städtischen Randlagen somit ein vielversprechendes Terrain zu sein. Allerdings stand dem die von Anfang an häufig mangelhafte Integration des Einzelhandelsnetzes in die Planungsphase entgegen. Oft erwiesen sich die Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen für den Einzelhandel als nicht transparent genug, um bei den entsprechenden Gestaltungsprozessen mitwirken zu können. Die Zeitgenossen empfanden die Planungsvorgänge der kommunalen und regionalen Träger als eher ungezielt und den Anforderungen der Versorgung nicht angemessen.281 Aus diesem Grund bildete sich 1958 der „Arbeitskreis Gewerbetriebe in neuen Wohnsiedlungen“, der auf Basis eines vom Bundesministerium für Wohnungsbau erteilten Forschungsauftrags agierte. Er beschäftigte sich mit der „Erarbeitung zuverlässiger Daten“ für die Ansiedlung von Gewerbetrieben in den neuen Siedlungsgebieten und entsprechenden Finanzierungsfragen.282 1961 nahm das Institut Gewerbebetriebe im Städtebau seine Arbeit auf, 279
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Vgl. Stehr 1994, S. 35.; Szöllösi-Janze 2004a, S. 286; Szöllösi-Janze 2004b, S. 286. Ausführlich zur Rolle wissenschaftlichen Wissens als unmittelbare Produktivkraft: Stehr 2001, S. 87-91. Ambrosius, Kaelble 1992, S. 30. 23000 SB-Läden im Lebensmittelhandel. Einkaufsmärkte in neuen Siedlungsgebieten, in: Der neue Weg, 4/1961; Die Versorgung in neuen Wohngebieten, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 23.8.1961; HDE: Arbeitsbericht 1969, S. 22-29, ZBW Kiel; Institut für Selbstbedienung: Einkaufsmärkte in neuen Wohnsiedlungen. Anregungen und Empfehlungen des Instituts für Selbstbedienung für die Planung von Einkaufsmärkten in neuen Wohnsiedlungen, Köln 1964, S. 1f. Bereits in ihrem ersten Arbeitsbericht der Nachkriegszeit hatte die HDE die Bedeutung der Standortfrage im Zusammenhang mit dem Neubau von Städten und Siedlungen betont. HDE: Arbeitsbericht 1947/48, S. 2, ZBW Kiel. Edeka Zentralorganisation: Jahresbericht 1958, S. 10, WWA S7/577; Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 14. und 15.November 1960 in Münster (14./15.11.1960), S. 16, RWWA 181/1563/1.
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dem 14 Organisationen der gewerblichen Wirtschaft angehörten, darunter der DIHT, die HDE, die BAG, der deutsche Genossenschaftsverband und die ALF. Die Aufgabe des Instituts lag in der Beratung der Städteplaner bei der Errichtung neuer Wohngebiete und bei der Neugestaltung der Stadtkerne.283 Eine zentrale Vermittlungsrolle zwischen den Behörden und der Wirtschaft nahmen in diesem Zusammenhang die Industrie- und Handelskammern ein. Ein weiteres Problemfeld bestand in der Frage, welche Betriebs- und Vertriebsformen in den neuen Wohngebieten angesiedelt werden sollten. Grundsätzlich plädierten die Interessenvertretungen des Einzelhandels für eine „gesunde Mischung von Klein-, Mittel- und Großbetrieben nach dem Status der Marktanteile“, zunächst aus den Jahren 1957/58. Dieser Maßstab unterlag allerdings ständigen Veränderungen und stieß am freien Wettbewerb letztlich an seine Grenzen.284 In der Praxis waren die selbständigen Unternehmen häufig benachteiligt, da sie im Gegensatz zu den Einzelhandelsgruppen nicht über die notwendigen Sicherheiten sowie Baukostenvorschüsse verfügten und ihnen die notwendige Finanzierungsgrundlage fehlte.285 Außerdem profitierten die Unternehmenszusammenschlüsse durch ihre netzwerkartige Struktur von einem besseren Informationsfluss über neue Projekte, Fördermittel sowie von ihren Möglichkeiten der Markt- und Standortanalyse.286 In den Augen der Selbständigen waren sie auf diese Weise in der Lage, eine „langfristig vorbereitete Expansionspolitik“ zu betreiben, „oftmals auf Basis entsprechender vertraglicher Global- und Planungsregelungen mit den Bauträgern“, was letztlich zu einem ungleichen Wettbewerb führte.287 Die Einkaufsgenossenschaften entwickelten in diesem Kontext zur Sicherung ihres Ladennetzes einen neuen Weg bei der Geschäftseröffnung: Die zuständigen Fachabteilungen wie z. B. die „Rewe Großraumladen GmbH“ oder die „Entwicklungs-Abteilungen“ der Edeka 283
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Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT 11/1961, RWWA 20/2237/2. Das ISB richtete 1962 ebenfalls einen neuen Arbeitskreis ein, der sich mit der Planung von Gewerbebetrieben in neuen Wohnsiedlungen befasste. Exposé über die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen den mittelständischen Betrieben und den Großunternehmungen des Einzelhandels bei Planungsvorhaben, insbesondere bei der Einplanung von Einzelhandelsbetrieben in neuen Wohngebieten (1959), S. 1, BAK B102/39433. DIHT: Tätigkeitsbericht 1958/59, S. 122, WWA S7/562. Der selbständige Einzelhandel in neuen Wohngebieten, in: Informationen der IHK zu Köln, Rundbrief Nr. 2, 15.5.1959, S. 3, RWWA 1/399/5. Edeka Zentralorganisation: Jahresbericht 1962, S. 11, WWA S7/577; Kampf um den Kunden tritt in neues Stadium, in: Edeka-Rundschau, 6a/1964.
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suchten nach einem passenden Standort für ein Geschäft, übernahmen die komplette Planung und Durchführung des Außen- und Innenbaus des Ladens und boten diesen dann zum Teil schlüsselfertig interessierten Einzelhändler an.288 Mit dieser Vorgehensweise rückte man zunehmend vom genossenschaftlichen Prinzip des Zusammenschlusses ab, das eine freiwillige Angliederung selbständiger Einzelhändler an eine Genossenschaft vorsah. Ein weiterer Streitpunkt in der Gestaltung der Einzelhandelsstruktur in den neuen Wohnsiedlungen lag darin, welche Art von Lebensmittelgeschäft am besten geeignet sei, um die dortige Bevölkerung zu versorgen. Selbstständige Einzelhandelsunternehmen bevorzugten im Sinne ihrer Interessen kleine „Nachbarschaftsgeschäfte“. Sie hofften, sich auf diese Weise durch eine möglichst verbrauchernahe Versorgung eine neue Stammkundschaft aufzubauen, denn die Konsumenten waren durch die verstärkte Motorisierung und Mobilität, v. a. auch in Zusammenhang mit der stärkeren Trennung von Wohn- und Arbeitsort, in der Wahl ihrer Einkaufsstätten flexibler geworden.289 Dagegen sahen die Befürworter großer Supermärkte in den Wohngebieten eine ideale Chance für diese Vertriebsform: die Verbraucherschaft bestand vorrangig aus Familien, die an einer rationellen Versorgung in den großen Geschäften mit Vollsortiment und günstigen Preisen interessiert waren.290 Mit der Baunutzungsverordnung von 1962 griff die Politik in diese Auseinandersetzung letztlich zugunsten der kleineren Betriebe ein, da sie die Ansiedlung größerer Supermärkte in bestimmten Gebieten reglementierte. So untersagte der Gesetzgeber die Eröffnung von Supermärkten in Kleinsiedlungsgebieten, reinen (kleinere Läden auch hier nur mit Ausnahme) und allgemeinen Wohn- sowie in Dorfgebieten. Zulässig waren beide Geschäftsarten in Misch-, Kern- Gewerbe-, Industrie- und Ladengebieten.291 Trotzdem konnte die verstärkte Ausdehnung der Supermärkte und Einkaufzentren außerhalb der urbanen Zentren nicht aufgehalten werden und
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Aufbau von Entwicklungs-Abteilungen für Edeka-Kaufleute, in: Edeka-Rundschau, 19./26.5.1967; Rewe-Großraumläden für tüchtige Kaufleute, in: Rewe-Echo, 7/1966; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1961, S. 18; Geschäftsbericht 1966, S. 25, WWA S7/570; Immer mehr Großraumgeschäfte im Bereich der Edeka Berlin, in: Edeka-Rundschau, 3./10.6.1966. Der Verbraucher verlangt das moderne Nachbarschaftsgeschäft, in: Edeka-Rundschau, 11a/1968; Einkaufsmärkte in neuen Wohnsiedlungen, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 5/1962, RWWA 20/2237/3; Kampf um den Kunden tritt in ein neues Stadium, in: Edeka-Rundschau, 6a/1964. Nax 1969, S. 115; Rund 23000 SB-Läden im Lebensmittelhandel. Einkaufsmärkte in neuen Siedlungsgebieten, in: Der neue Weg, 4/1961; ISB 1964, S. 7. Nax 1969, S. 120-22.
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machte die Verödung der Stadtkerne zu einem zentralen Problem des Einzelhandels. Die innerstädtischen Lebensmittel- und Fachgeschäfte hatten seit den 1960er Jahren mit der zunehmenden Abwanderung der Kunden zu außerstädtischen Einkaufsstätten zu kämpfen.292 Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang war die Notwendigkeit von Parkplätzen für die rapide steigende Zahl motorisierter Kunden.293 Die Zahl der Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik Deutschland nahm von 0,54 Millionen im Jahre 1950 bis 1965 auf 9,27 Millionen und bis 1970 auf 14,2 Millionen zu.294 Der wöchentliche Großeinkauf im Supermarkt mit dem eigenen PKW wurde in den 1960er Jahren immer häufiger. Das machte gleichzeitig Autokunden für die Geschäfte immer interessanter, da sie durchschnittlich einen höheren Einkaufsbetrag ausgaben.295 Während in den städtischen Randlagen ausreichend finanzierbarer Raum für die notwendigen Parkflächen existierte, führten die Einzelhandelsgeschäfte in den Innenstädten das Ausbleiben der Kunden auch auf die schlechte Parkplatzsituation zurück. So stellte z. B. die Kölner Stadtverwaltung schon 1959 fest, dass bei einer prognostizierten Verdopplung der Zahl der Fahrzeuge und dem baldigen Wegfall der provisorischen Parkplätze auf den Trümmerflächen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges 10.000 Parkplätze in der Innenstadt fehlen würden.296 Eine Gegenmaßnahme des innerstädtischen Einzelhandels bestand im Zusammenschluss zu Park- und Werbegemeinschaften, bei dem man gemeinsam Parkflächen erschloss.297 Insgesamt differenzierte die Pluralisierung der Geschäftslagen den Wettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel immer mehr: es ging nicht
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So stellte eine Studie des Bielefelder Lebensmitteleinzelhandels im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums 1960 fest, dass sich die Betriebe mit Umsatzausweitung nicht im Stadtzentrum, sondern in den angrenzenden Gebieten und Stadtrandlagen befanden. Bericht über eine Untersuchung von Betrieben des Lebensmittel-Einzelhandels in Bielefeld (2.4.1960), S. 12, BAK B102/114715. Der Autokunde – König von morgen, in: Der neue Weg, 1/1964; Handelsreferententagung 14. und 15. Juni 1971, Anlage 3: Standortfragen des Einzelhandels (14./15.6.1971), RWWA 181/150/1. Tietz, Bruno: „…aus der Sicht des Realisators“, in: geg; Co op (Hg.): 75 Jahre geg. Vertrauen durch Leistung. Auf dem Wege zur Stadt von morgen. Einzelhandel im Wandel. Seminar anläßlich des 75jährigen Jubiläums der GEG am 18. März 1969 im Auditorium maximum der Universität Hamburg. Hamburg 1969, S. 56-71, hier S. 60. SB-Läden mit eigenem Parkplatz, in: ISB-Informationen, 9/1963, S. 5, EHI. Parkplätze müssen geschaffen werden, in: Informationen der IHK zu Köln, Rundbrief Nr. 3, 15.8.1959, S. 1-2, RWWA 1/399/5. Der Kunde parkt, der Handel zahlt, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 8.2.1965; Infobrief IHK zu Essen, betr. Bau und Betrieb von Parkhäusern (8.2.1961), WWA K3/1497.
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mehr nur um den Preis und die Qualität der Ware, sondern auch um eine zunehmende Reihe von Serviceleistungen für den Verbraucher, von denen ausgehend er sich für oder gegen den Einkauf in einem Laden entschied. Für die Einzelhandelsunternehmen eröffnete sich in diesem Zusammenhang in den 1960er Jahren eine neue Dimension des Wettbewerbs: der Konkurrenzkampf zwischen innerstädtischen und außerstädtischen Standorten, der sich im Laufe des Jahrzehnts aufgrund der steigenden Verkaufsflächen noch verschärfte. 2.2 Der „Weston-Fall“: Die Deutsche Supermarkt GmbH des kanadischbritischen Weston-Konzerns Ende der 1950er Jahre war der Supermarkt noch keine flächendeckende Erscheinung in der Bundesrepublik Deutschland. Umso mehr bewegte der erste Versuch eines britisch-kanadischen Unternehmers, Supermärkte in Europa zu eröffnen, die bundesdeutsche Einzelhandelslandschaft. Nicht nur in den Fachzeitschriften, sondern auch in den entsprechenden Ressorts der Tagespresse schien der „Weston-Fall“ das beherrschende Thema der Jahre 1959 und 1960 gewesen zu sein. Der Einfluss Westons hinsichtlich des Umsatzanteils und der Zahl der Supermärkte blieb letztlich weit hinter den anfänglichen Spekulationen zurück. Auch die befürchteten vielen Nachahmer fand er nicht: Kiesewetter hat festgehalten, dass die Anzahl US-amerikanischer Einzelhandelsunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1963 und 1968 von lediglich einem auf fünf anstieg, um Anfang der 1970er Jahre auf drei abzufallen.298 Dennoch stellte die Debatte um das Auftauchen des Weston-Konzerns auf dem Markt einen wichtigen Push-Faktor für die Verbreitung des Supermarktes im westdeutschen Einzelhandel dar.299 Darüber hinaus gewährt die umfangreiche Diskussion des Weston-Falls beispielhaft einen Einblick in den grundsätzlichen Umgang von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik mit neuen Wettbewerbsformen. Sie spiegelt dabei sehr deutlich das Meinungsbild und die Befindlichkeiten der Einzelhändler – ihre Bedenken und Ängste – angesichts der wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. 298
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Kiesewetter, Hubert: Amerikanische Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland 1950-1974, in: Kaelble, Hartmut (Hg.): Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 63-81, hier S. 74. Vgl. Kacker 1988, S. 48. Für den britischen Fall: Alexander; Shaw; Curth 2005, S. 814f.
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Garfield Weston war als kanadischer Lebensmittelhersteller und -händler Mitte der 1930er Jahre nach Großbritannien gegangen und hatte dort eine Reihe von Lebensmittelfabriken und -geschäften eröffnet. 1959 gründete er in der Bundesrepublik Deutschland die Deutsche Supermarkt GmbH, mit dem Ziel eine Reihe von Supermärkten in Bayern und im Ruhrgebiet zu eröffnen. Da es in Westdeutschland keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit für Einzelhandelsunternehmen gab, sollten die Geschäfte auch als Experimentierfeld für eine mögliche Ausdehnung in andere europäische Länder dienen.300 Bereits im Frühjahr 1956 hatte IBEC, das US-amerikanische Unternehmen der Familie Rockefeller, zu diesem Zweck schon einmal verschiedene europäische Länder sondiert. Angesichts des sehr gut etablierten Netzes der Lebensmittelgeschäfte sah die Firma jedoch kein vielsprechendes Potential für eigene Projekte und entschied sich gegen die Bundesrepublik.301 Schließlich begann IBEC den Einstieg in den europäischen Markt mit der Firma Supermarket Italiani in Mailand und später in Florenz.302 Die größte Schwierigkeit für die Eröffnung der geplanten 500-1000 m2 umfassenden Geschäfte bestand in Italien für IBEC und in Westdeutschland für Weston darin, ausreichend große Räumlichkeiten in zentraler Lage zu finden. Dies war sicherlich ein entscheidender Grund dafür, dass Weston den Aufbau eines Ladennetzes zunächst mit dem Kauf bestehender Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen begann. Gleichzeitig beherzigte diese Vorgehensweise zwei grundlegende Aspekte für die erfolgreiche Implementierung von Innovationen: den Anschluss an lokale Praktiken bzw. Erfahrungen und die Rekrutierung bereits vorhandenen Wissens. Erstens befanden sich die Supermärkte so unmittelbar in etablierten Einzugsgebieten bestehender Lebensmittelgeschäfte, die zum großen Teil eine lange Tradition aufwiesen. Zweitens konnten durch die Zusammenarbeit mit lokalen westdeutschen Unternehmen wichtige Informationen über den Einzelhandelssektor und den Markt gewonnen werden. Letzteres war auch für Rockefeller der ausschlaggebende Anreiz für die enge Kooperation mit lokalen Investoren.303 300
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Vermerk von Britsch, betr. Übernahme der Firma Silberbauer durch die WestonGruppe (21.10.1959), BAK B102/39449; Vermerk von Britsch, betr. Empfang von Mr. Weston durch Herrn Minister am 21.3.1961 zum Thema Geschäftspolitik der Deutschen Supermarkt-Handels-GmbH (20.3.1961), BAK B102/39449. Memorandum von W. D. Bradford an Mitglieder des IBEC board und staff, betr. Supermarket Possibilities in Western Europe (23.7.1956), S. 2, RAC RG 3B 21, Box 19, Folder 518. Vgl. ausführlich De Grazia 2002; De Grazia 2005; Scarpellini 2004. Scarpellini 2004, S. 632f.
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1959 übernahm Weston in München das Familienfilialunternehmen Florian Silberbauer KG. Er erwarb die zehn bestehenden und drei noch im Bau befindlichen Filialen. Im Anschluss daran verkaufte die Münchner Rudolf Bücherl GmbH nach längeren Verhandlungen ihre Ladenobjekte an ihn, behielt jedoch die dazugehörigen Grundstücke. Darauf reagierte die Einzelhandelsbranche mit scharfer Kritik. Die zwei ursprünglich selbst mittelständischen Unternehmen wurden nun als „Verräter“ der eigenen Sache gebrandmarkt, schließlich hatten sie mit dem Verkauf den Markt für die ausländischen Investoren geöffnet. Im Ruhrgebiet übernahm die Deutsche Supermarkt GmbH im ersten Quartal 1960 das Filialunternehmen Noleg, das über 40 Filialen und einen Umsatz von 40 Millionen DM verfügte. Mit dem Düsseldorfer Unternehmen Allkost ging sie eine Interessengemeinschaft ein. Diese Vorgehensweise des Weston-Konzerns erregte auch deshalb Aufsehen, da sie in den Augen der bundesdeutschen Einzelhändler eine offensichtliche Demonstration der Finanzkraft des Unternehmens darstellte. Demzufolge dominierte das Bild des kapitalintensiven Großunternehmens die Angst der Einzelhändler vor dem Wettbewerb mit den neuen Supermärkten.304 Zum einen gab es dabei Kritik an der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung des Bundestages mit der Konzentration in verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren: die Situation im Lebensmittelhandel wurde in dieser Debatte als marginal betrachtet, so der Vorwurf. Zum anderen erklärte man in diesem Zusammenhang – wie bereits vor 1945 – die Benachteiligung des mittelständischen Einzelhandels zu einem gesellschaftspolitischen Problem ersten Ranges. Das Motto lautete: „Die Großbetriebe mit ihrem fast unerschöpflichen Kapital sind die größte Gefahr für den selbständigen Lebensmittelhandel“.305 Man verwies darauf, dass die Eröffnung der Kleinpreisläden in den 1930er Jahren und das Aufkommen der Warenhäuser eine „ähnliche Angstpsychose“ hervorgerufen hatten.306 Der Bundesregierung sollte deutlich gemacht werden, dass die Verdrängung des selbständigen
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Brief der IHK Oberbayern an DIHT (17.9.1959), BWA K9/604; Vermerk von Rickertsen, betr. Gespräch von Herrn Minister mit der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (10.9.1959); Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 2, BAK B102/39433; Spar: Geschäftsbericht 1959, S. 5, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, Spar-Archiv; Weston – deutscher Lebensmittelhandel 1:1, in: Rewe-Echo, 9/1960, Zdk: Jahrbuch 1959, S. 32, ZdK-Archiv. SOS Weston greift an!, in: Rewe-Echo, 9/1959; Vermerk von Dr. Britsch, betr. Delegiertentagung der HDE am 20. und 21.10.1959 in Berlin (20.8.1959), BAK B102/39433. Der Kaufmann an der Ecke und der Supermarkt, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 214/1959; SOS Weston greift an!, in: Rewe-Echo, 9/1959.
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Einzelhandels durch die Supermärkte gravierende „politische, v. a. mittelstandspolitische Probleme“ mit sich bringe.307 Der Präsident der HDE Hans Schmitz formulierte 1960 dazu in einer Ansprache: „Wenn die kleineren und mittleren selbständigen Unternehmen in ihrem Kampf gegen die Expansion der Grossen zum Erliegen kommen sollten, dann müsste das schliesslich zu einer Proletarisierung jener breiten bürgerlichen Schicht von Unternehmern führen, die zu den staatserhaltenden Trägern unserer Gesellschaft gehören. Besondere Sorgen um ihre Zukunft haben die Lebensmittelkaufleute durch die Gründung neuer Grossbetriebe – nicht nur ausländischer Herkunft. Der WestonKonzern besitzt – 1 ½ Jahre nach Gründung – bereits über 80 Supermärkte. Verstehen Sie uns nicht falsch, man fürchtet nicht Supermärkte als Verkaufssystem, sondern das dahinterstehende Grosskapital, gegen dessen mögliche Manipulationen man machtlos ist.“308
Beanstandet wurde insbesondere die Preispolitik der Supermärkte, bei der sich die mittelständischen Einzelhändler „preispolitisch zum Mitmachen veranlasst“ sahen, „auch wenn die gegenüber jedermann vertretbare normale kaufmännische Kalkulation es an und für sich nicht zuließe.“309 Ähnliche Argumente brachten auch die italienischen Einzelhändler gegen die Supermarket Italiani vor.310 Ganz konkret warf man dem Weston-Konzern vor, dass seine auf einem hohen Kapitalstock basierenden Verkaufsmethoden nicht dem deutschen Verständnis von Wettbewerb entsprechen würden: „Wie jede Freiheit, so hat auch die Wettbewerbsfreiheit in sich begründete sittliche Grenzen. Wenn ein oder einige Unternehmen den Markt so eindeutig beherrschen, dass kein wirklicher Wettbewerb mehr vorhanden sein kann, dann sind diese Grenzen überschritten.“311
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Brief der IHK Oberbayern an DIHT (17.9.1959), BWA K9/604; Brief von Britsch an Ministerialrat Seibt, betr. Empfang von Mr. Weston, Mr. Floyd, Mr. Fielding und Baron von Hellingrath am 12.11.1959 (7.11.1959), BAK B102/39449. Auch: Vermerk von II C1, betr. Vordringen amerikanischer und kanadischer Handels-Unternehmen in Deutschland (25.2.1959), BAK B102/39449. Ansprache Hans Schmitz (Präsident der HDE) (25.10.1960), S. 7f., BAK B102/39433. Auch: Ergebnisniederschrift, betr. Besprechung der Arbeitsgruppe Mittelstand am 19.11.1958 (15.11.1958), S. 5, B102/14923. Im Weston was Neues…, in: Rewe-Echo, 1/1960. Scarpellini 2004, S. 638f. Vgl. für andere Länder: Kacker 1988, S. 52f. Vermerk über eine Besprechung mit dem Hauptgeschäftsführer der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Franz Effer am 15. Oktober 1959 (16.10.1959), S. 2, BAK B102/39433.
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Weston entgegnete in einem Gespräch mit Ludwig Erhard: „Seine Absicht sei nicht die, den deutschen Lebensmittel-Einzelhandel zu gefährden, sondern in einem Leistungswettbewerb als Preisregulativ mitzuwirken. Die Idee der Supermarkets sei nicht seine Erfindung oder seine persönliche Angelegenheit, sondern habe über die ganze westliche Welt Anklang gefunden. Er wolle sie in Deutschland vertreten.“312
Die Deutsche Supermarkt GmbH stieß mit dem Preiswettbewerb ein Thema an, das der Einzelhandel im Verlauf der 1950er Jahre zum großen Teil vermieden hatte. Die Ablehnung eines Konkurrenzkampfes auf der Grundlage des Preises beruhte neben der gesetzlich geregelten Preisbindung und der großen Nachfrage in den 1950er Jahren auch auf einem common sense über die Art und Weise eines „fairen Wettbewerbs“. Demgegenüber hielt sich Weston zwar an das Preisbindungsgesetz, zeichnete aber alle Festpreise mit einem dreiprozentigen Rabatt aus – eine durchaus zulässige, aber nicht übliche Praxis.313 Somit gab die Verkaufspolitik der Deutschen Supermarkt GmbH einen entscheidenden Impuls für die zunehmende Bedeutung des Preiswettbewerbs. Auch deutsche Unternehmen begannen mit der Methode umfangreicher Rabatte zu arbeiten, wie z. B. der 1960 von den Industrie- und Handelskammern viel diskutierte Fall der Firma Schätzlein im Ruhrgebiet zeigt. Sie orientierte sich an der „amerikanischen Praxis“ und verkaufte Waren unter dem Einkaufspreis.314 Von der Fachwelt wurden dagegen die US-amerikanischen Managementideen und Arbeitsmethoden, die Weston in sein bundesdeutsches Unternehmen einbrachte, kaum thematisiert. In den Quellen finden sich zwar einige unspezifische Bemerkungen zu den „Gefahren der Überfremdung“ durch das ausländische Unternehmen und seine Unangepasstheit an den deutschen Markt, allerdings werden diese nicht genauer ausgeführt.315 Inso
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Vermerk von Britsch, betr. Empfang der Herren Weston (Weston-Konzern England) und Baron von Hellingrath durch Herrn Minister am 12.11.1959 (13.11.1959), S. 1, BAK B102/39449. Brief von Frau Dr. med. Steinbiß an Bundeswirtschaftsminister Erhard (12.1.1960), BAK B102/39449. Vermerk von Britsch, betr. Aussprache des Lebensmittel-Einzelhandels von Essen, Gelsenkirchen, Oberhausen und Mühlheim bei der Industrie- und Handelskammer Essen am 29.4.1960 (30.4.1960), BAK B102/39449. Zur Preispolitik der Supermärkte auch: Niederschrift über die Sitzung der Einzelhandelsdezernenten der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW am 2.11.1960 (2.11.1960), S. 3f., WWA K3/1497. Vermerk von Dr. Britsch, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 20. und 21.10.1959 in Berlin (20.8.1959), S. 1f.; Vermerk von
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fern müssen sie eher als Teil eines allgemeinen, auf Stereotypen beruhenden Abgrenzungsmechanismus aufgefasst werden. Dass es bei dieser Auseinandersetzung stark um Muster der Fremdwahrnehmung vor dem heimischen Hintergrund und weniger um Kritik an konkreten Methoden ging, verdeutlicht auch folgender Kommentar zur Eröffnung einer Filiale der Deutschen Supermarkt GmbH in Bielefeld: „Nur so viel amerikanisch, daß es nicht durchaus europäisch wirkt – so wenig europäisch, daß es schon amerikanisch wirkt! Die ersten nach Redaktionsschluß aus Bielefeld eingetroffenen Informationen lassen jedenfalls erkennen, daß die sogenannte ¸Deutsche Supermarkt Handels-GmbH‘ hier ein Debüt gegeben hat, das ganz offensichtlich darauf abgestellt war, keine ¸wer-fürchtet-sich-vor-dem-schwarzenMann‘-Psychose aufkommen zu lassen. Keine bezahlte Zeile in Bielefelds Tageszeitungen, keine Super-lative [sic!], keine amerikanisierten technischen Hilfsmittel. Das ‚alles-unter-einem-Dach‛-Sortiment hält sich in Grenzen und preispolitisch hielt man sich in Grenzen. Das aber sind alles erste Eindrücke.“316
Das Zitat verweist aber gleichzeitig darauf, dass die unternehmenspolitische Strategie Westons nicht auf einer völligen Konfrontation des bundesdeutschen Marktes mit dem US-amerikanischen Modell fußte. Vielmehr fand die Etablierung der neuen Supermärkte in differenzierten Anpassungsprozessen an die europäischen Rahmenbedingungen sowohl in Bezug auf den Verbraucher als auch in Bezug auf den Einzelhandelswettbewerb statt. Eine gleichgeartete Entwicklung hat Scarpellini für die Supermarket Italiani herausgearbeitet.317 Aufgrund mangelnder Quellen aus der Perspektive Westons und seines deutschen Tochterunternehmens sowie aufgrund der eher polemisch gestalteten Debatte in der westdeutschen Fachöffentlichkeit sind ganz konkrete Aussagen über diese Anpassungsprozesse allerdings nicht in dem gleichen Maße möglich, wie für das italienische Beispiel. Eher am Rande wurde die angeblich übertarifliche Bezahlung der Angestellten der Deutschen Supermarkt GmbH diskutiert. In einem Brief an den Bundeswirtschaftsminister führte eine Bundestagsabgeordnete an, dass ein junger Einzelhandelsangestellter durchschnittlich 210 DM nach Tarif verdiente, in einem Supermarkt der Deutschen Supermarkt GmbH in Bielefeld dagegen 400 DM. Im Antwortbrief verwies das Ministerium auf den akuten Arbeitskräftemangel, 316 317
Rickertsen, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 9, BAK B102/39433. Weston bemühte nun auch Merkur, in: Rewe-Echo, 15.11.1960. Vgl. Scarpellini 2004. Vgl. zur Anpassung Westons auch: Was Weston wirklich will, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 9/1959.
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durch den es nicht vermeiden lasse, gute Arbeitskräfte im Einzelhandel über Tarif zu bezahlen.318 In der britischen Tochtergesellschaft des WestonKonzerns Fine Fare war – ebenso wie in den Supermarket Italiani der IBEC – geplant, eine große Anzahl kanadischer bzw. US-amerikanischer Angestellter und Experten zu beschäftigen, um einen möglichst starken Einfluss nordamerikanischer Expertise zu gewährleisten.319 Für den bundesdeutschen Fall dagegen ist ein derartiges Vorgehen nicht bekannt, auch wenn vereinzelt sicherlich Personal aus der Führungsetage an der Durchführung von Projekten der Deutschen Supermarkt GmbH beteiligt war. Das Bundesministerium für Wirtschaft nahm die Besorgnis über den Weston-Fall durchaus ernst und beschaffte umfassende Informationen über den Konzern im Ausland, um Garfield Weston dann auch zu mehreren persönlichen Gesprächen einzuladen. Im Gegensatz zu den Supermarket Italiani erhielt die Deutsche Supermarkt GmbH keine staatliche Unterstützung, wie z. B. durch die Suche nach passenden lokalen Partnern, die Bereitstellung von Marktinformationen oder die Werbung für die Effektivität der Supermärkte.320 Die deutschen Behörden vertraten aber die Meinung, dass durch die neuen Geschäfte ein Bedarf geweckt werden könne, von dem letztlich auch die kleinen und mittleren Unternehmen profitieren könnten.321 In diesem Sinne betonte Weston in den Gesprächen mit dem Ministerium, dass er im Sinne der Erhardschen Wirtschafts- und Konsumpolitik handele: „Sie wissen, dass ich den grössten Teil meiner Lebensarbeit der Verbesserung, Modernisierung und Verbilligung der Lebensmittelversorgung in den verschiedensten Ländern der Welt gewidmet habe. In dieser Linie spielt auch der Supermarkt eine grosse Rolle. Er wird auch in Deutschland in zunehmendem Masse seine Funktion zur Erleichterung für die Hausfrau und zur Senkung oder wenigstens Stabilisierung der Preise erfüllen. Ich weiss, dass dies im Sinne Ihrer Wirtschaftspolitik liegt, ich weiss aber auch, dass daneben auf andere Gesichtspunkte Rücksicht genommen werden muss. Selbstverständlich beabsichtige ich daher Ihrem Wunsche zu entspre-
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Brief von Frau Dr. med Steinbiß am Bundeswirtschaftsminister Erhard (12.1.1960); Antwortbrief des Bundeswirtschaftsministeriums (13.4.1960), BAK B102/39449. Vgl. zur Tariffrage auch: Weston – deutscher Lebensmittelhandel 1:1, in: Rewe-Echo, 9/1960. Alexander; Shaw; Curth 2005, S. 814; Scarpellini 2004, S. 636. Vgl. Scarpellini 2004, S. 636. Brief von Rickertsen an Referat II B 2, betr. Informationstagung für Redakteure der Handwerkspresse (24.3.1960), BAK B102/39449.
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chen und bei der Errichtung der Supermärkte in Deutschland vernünftig und unter Abwägung aller Umstände vorzugehen.“322
Gleichzeitig lehnte die bundesdeutsche Regierung ein gesetzliches Einschreiten gegen die Eröffnung der Supermärkte ab. Auch sonstige ursprünglich angekündigte Beschränkungen auf eine bestimmte Zahl oder auf eine regionale Verteilung der Supermärkte wurden nicht in die Tat umgesetzt.323 Stattdessen blieb das Bundeswirtschaftsministerium in diesem Zusammenhang eher abwartend, und neutral, da auch die Aktivitäten des Unternehmens im In- und Ausland keine rechtlichen Verstöße aufwiesen. Der Grundsatzreferent Ludwig Erhards, Dr. Wolfram Langer, betonte, man solle „ruhig Blut bewahren“, bei den ersten Selbstbedienungsläden habe der Handel auch nach dem Staat gerufen und nun betreibe die Mehrzahl der mittelständischen Einzelhändler eigene Geschäfte dieser Art. Damit knüpfte er an die in der Politik und vom DIHT vertretene Argumentation an, dass die Supermärkte letztlich eine Entwicklung über die Selbstbedienung hinaus waren und ihre Verbreitung sich somit nicht vermeiden oder unterbinden ließ.324
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Brief von Garfield Weston an den Bundeswirtschaftsminister Erhard (17.11.1959), S. 1. Vgl. auch: Brief von Britsch an Ministerialrat Seibt, betr. Empfang von Mr. Weston, Mr. Floyd, Mr. Fielding und Baron von Hellingrath am 12.11.1959 (7.11.1959); Vermerk von Britsch, betr. Übernahme der Firma Silberbauer durch die Weston-Gruppe (21.10.1959), BAK B102/39449. Vgl. zu dieser Argumentation im Fall Rockefeller und der Supermarket Italiani: Scarpellini 2004, S. 631f. Vemerk von Rickertsen, betr. Gespräch von Herrn Minister mit der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (10.9.1959), BAK B102/39433. In Frankreich dagegen kam es Anfang der 1970er Jahre nach massiven Protesten der mittelständischen Einzelhändler in Form von Straßenbarrikaden, Ämterbesetzung, Streiks und Demonstrationen zu einer gesetzlichen Regelung, nach der über 60 Jahre alte Kaufleute, die 20 Jahre als Kaufmann und davon 10 Jahre in leitender Position tätig waren, eine Prämie von 800023.000 Franc erhielten, wenn sie ihr Geschäft aufgrund zurückgehender Umsätze aufgaben und nicht verkaufen konnten. Finanziert wurde diese Abfindung v. a. auf Kosten der großen Supermärkte: es wurde eine Sondersteuer von 3 Franc pro m2 und von nach 1963 eröffneten Supermärkten über 400 m2 von 15 Franc pro m2 Verkaufs- und Parkfläche erhoben. Abfindung für „Tante Emma“ geplant, in: Schnelldienst, 30.5.1972, RWWA 20/2300/5. Weston bemühte nun auch Merkur, in: Rewe-Echo, 11/1960. Auch: Brief DIHT an IHK Oberbayern (1.10.1959), BWA K9/604; Brief Risse an Diskussionskreis Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, betr. Rabattgesetz (5.10.1959), S. 1, BAK B102/39449; Supermarkt-Bäume wachsen nicht in den Himmel, in: Edeka-Rundschau, 26.10.1959; Vermerk von Rickertsen, betr. Delegiertentagung der
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Trotz alledem kam es zu weiteren Protesten gegen die Deutsche Supermarkt GmbH v. a. von Seiten des selbständigen Einzelhandels. Gewalttätige Ausschreitungen wie im Fall der Supermarket Italiani in Mailand, die mit Stinkbomben und Spraydosen angegriffen wurden und in denen einheimische Einzelhändler die Packungen zerstörten, blieben in der Bundesrepublik Deutschland allerdings aus.325 Im Anschluss an eine Initiative des Kölner Einzelhandelsverbandes wurde eine kleine Anfrage im Bundestag gestellt, die die steuerliche Legalität des Unternehmens in Frage zu stellen versuchte. Unter dem Titel „Der Staat verschenkt Supermärkte“ monierten die Kölner das konzentrationsfördernde Umsatzsteuerrecht als eine „unerträgliche Rechtslage“. Der konkrete Vorwurf gegenüber der Deutschen Supermarkt GmbH lautete, dass sie einen Großteil der Waren im eigenen Unternehmen herstelle, deren Umsätze dann aufgrund der deutschen Rechtslage nicht versteuert werden müssten. Damit spare das Unternehmen insgesamt vier Prozent Steuern ein – ein Betrag, von dem man wiederum 118 neue Läden errichten könne.326 Die Deutsche Supermarkt GmbH widersprach dieser Behauptung und erklärte, das Sortiment ihrer Läden stimme weitgehend mit dem westdeutschen Einzelhandel überein.327 Auch das Bundesfinanzministerium antwortete negativ auf die „Kleine (Weston-)Anfrage“: die Behörde argumentierte, die Berechnungen des Bezirksverbandes Köln seien falsch. Entsprechend groß war die Enttäuschung im Einzelhandel. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass der Streit um die Umsatzsteuer, die die Großunternehmen gegenüber den Einzelgeschäften bevorzugte, bereits seit den 1950er Jahren ein dauerhafter Kritikpunkt an der staatlichen Wirtschaftspolitik war. Jetzt war ein konkreter Anlass gefunden, um diese Ungleichbehandlung zu thematisieren und im Zusammenhang mit einem ausländischen Unternehmen in gewisser Weise nach außen zu projizieren.328 Für Arend 325 326
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Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.1959 in Berlin (30.10.1959), S. 3, BAK B102/39433. Scarpellini 2004, S. 639. Der Staat verschenkt Supermärkte, in: Der Einzelhändler, 4.11.1959. Auch: Brief von Risse an HDE, betr. Veröffentlichung „Staat finanziert Weston-Konzern“ im Handelsblatt vom 20./21.11.1959 (30.11.1959), BAK B102/39449; Konzentration – Das Thema Nr. 1. im Einzelhandel, in: Bayrischer Einzelhandel, 6/1960, BWA K9/570. Deutsche Supermarkt GmbH, in: Industriekurier, 13.4.1960. Weston – deutscher Lebensmittelhandel 1:1, in: Rewe-Echo, 9/1960. Vgl. zur (früheren) Diskussion der Umsatzsteuer: Entschliessung der Berliner Delegiertenversammlung der Hautgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 27.10.59 (27.10.1959), S. 1, BAK B102/39433; HDE: Die derzeitige Situation des Einzelhandels und seine Forderungen, Köln 1952, S. 7f.
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Moje von der Hauptgemeinschaft des deutschen Lebensmitteleinzelhandels war die Reaktion des Ministeriums ein Zeichen dafür, „daß die Bundesregierung eine gute Gelegenheit vertan habe, den leistungswilligen Mittelstand zu weiteren Anstrengungen zu ermutigen.“329 Hans Schmitz scheute als Präsident der HDE wie schon in den 1950er Jahren nicht davor zurück, die Kritik an der Politik gegenüber dem Weston-Konzern extrem zuzuspitzen: „Unsere Kaufleute sind in der grossen Mehrheit vernünftige, ruhig und massvoll denkende Menschen mit ausgeprägtem staatsbürgerlichen Bewusstsein. Lässt man ihnen Gerechtigkeit widerfahren, werden sie das mit angemessener Anhänglichkeit vergelten… Der Einzelhandel ist aber zugleich ein wichtiges Instrument der öffentlichen Meinungsbildung. Hunderttausende von Kaufleuten sprechen jahraus, jahrein mit Millionen […] ihrer Mitbürger, und vom Verkaufsgespräch zur Unterhaltung über Fragen der aktuellen Politik ist es vielfach nur ein Schritt. Welchen Einfluss ein unzufriedener Mittelstand auf das politische Geschehen ausüben kann, das haben wir vor 30 Jahren erfahren. Der zufriedene Kaufmann dagegen hat ungezählte Möglichkeiten, das Vertrauen zur Staatsführung und zu den Grundsätzen des demokratischen Lebens zu stärken.“330
Dass solche Äußerungen nicht nur überzogene und leere Drohungen darstellten, sondern der mittelständische Einzelhandel durchaus über politisches Gewicht verfügte, hat die Forschung auch für andere Länder gezeigt, wie z. B. Rutte u. a. für den niederländischen Fall, wo die Unternehmer ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotential bildeten.331 Im März des Wahljahres 1961 lud das Bundeswirtschaftsministerium Weston zu einem erneu 329 330
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Und nun kommen die Japaner, in: Rewe-Echo, 6/1960. Ansprache Präsident Hans Schmitz (Präsident der HDE) (25.10.1960); auch: Vermerk von Dr. Britsch, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 20. und 21.10.1959 in Berlin (20.8.1959), S. 1, BAK B102/39433. Der Amerikaner Mc Creary erkannte bereits Mitte der 1960er für Europa vergleichend den problematischen Zusammenhang zwischen der Mittelstandsfrage und dem Eindringen USamerikanischer Unternehmen in den europäischen Einzelhandel, blieb aber dennoch optimistisch: „In Europe, which is less acclimated to change than America, equally vast upheavals are just reaching the painful stage. To have American companies leading the surge of change would be like waving a bright red flag before Europe's righteous and politically articulate petit bourgeois shopkeepers. There is a certain wisdom in Americans keeping their interest in retailing to an investment and consulting role. But retailing in Europe is such an obvious growth field (for highly competent operators) that more U.S. companies will move across the Atlantic.” Mc Creary 1964, S. 125. Rutte, Koning 1998, S. 80. Vgl. auch: Kacker 1988, S. 52; Scarpellini 2004, S. 637f. Für Frankreich: Abfindung für „Tante Emma“ geplant, in: Schnelldienst Nr. 42, 30.5.1972, RWWA 20/2300/5.
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ten Gespräch über die aktuelle Entwicklung des Unternehmens ein. Jetzt reagierte Erhard deutlich bestimmter als zuvor. Zwar sei er Anhänger des freien Wettbewerbs, so der Minister, dennoch müsse er als Politiker – besonders im Wahljahr – gewisse Rücksichten nehmen und „dafür Sorge tragen, daß sich irgendwelche Strukturwandlungen nicht so plötzlich und einschneidend vollziehen, daß die mittelständischen Unternehmen zugrunde gehen.“332 Weiter führte Erhard aus: „Die Tatsache, daß das drittgrößte Unternehmen der Welt auf dem deutschen Lebensmittelmarkt aufgetreten sei, habe den deutschen Einzelhändlern einen Schock versetzt, den man nur psychologisch verstehen könne. An die seit vielen Jahrzehnten bestehenden deutschen Filialbetriebe, wie Kaiser’s Kaffeegeschäft, Tengelmann usw. habe sich der deutsche Einzelhändler gewöhnt. Der Weston-Konzern hingegen sei für ihn eine unbekannte Größe mit unerschöpflichem Kapital.“ 333
Die praktischen Auswirkungen dieser Gespräche waren gering, eher setzten sie ein öffentlichkeitswirksames Zeichen von Seiten der Bundesregierung. Die Auseinandersetzung zeigt, in welchem komplexen Verhältnis Konsumund Wirtschaftspolitik zueinander standen und inwiefern neben langfristigen Überlegungen auch das politische Tagesgeschäft eine Rolle spielte. Während an anderer Stelle von Regierungsseite das Wohl des Verbrauchers ins Zentrum gestellt wurde, stand im Wahljahr 1961 eine wirtschaftspolitische Problematisierung des Weston-Falls im Vordergrund. Allerdings zeugt die Äußerung Erhards auch vom Bewusstsein der offiziellen Stellen, dass das Problem weniger in einer faktischen Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Lebensmitteleinzelhandels durch die Deutsche Supermarkt GmbH bestand, sondern auf der schmerzlichen Notwendigkeit einer allmählichen Anpassung der westdeutschen Unternehmer an die neue Wettbewerbssituation beruhte. War Westons Modell ein westdeutsches Erfolgsmodell? Die letztlich ausschlaggebende Reaktion der Bevölkerung auf die Geschäfte der Deutschen Supermarkt GmbH ist aufgrund der Quellenlage nicht leicht einzuschätzen.
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Vermerk von Britsch, betr. Empfang von Mr. Weston durch Herrn Minister am 21.3.1961 zum Thema Geschäftspolitik der Deutschen Supermarkt-Handels-GmbH (20.3.1961), BAK B102/39449. Ebd. Vgl. zur Einschätzung der Lage von Regierungsseite auch: Brief Rickertsen an Bundeskanzleramt z. Hd. Herrn Regierungsrat Dr. Ehm, betr. Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 25.10.1960 Anlage 1: Entwurf einer Ansprache des Herrn Bundeskanzlers bei der Delegiertentagung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels am 25.10.1960, 1. Entwurf der Ansprache (13.10.1960), BAK B102/39433.
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Franz Hayler, der die Silberbauer KG an Weston verkauft hatte, vertrat die Meinung, dass die Diskussion der Fach- und Wirtschaftswelt über die neuen Geschäfte das Interesse der Verbraucher geweckt habe: „Die Leute des WESTON-Konzerns haben mit ihrer Gründung der Deutschen Supermarket GmbH in Westdeutschland leider eine Diskussion ausgelöst, die sich zu einer ununterbrochenen billigen Propagandawelle für die Deutsche Supermarket GmbH auswirkt. Die Verbraucher müssen den Eindruck bekommen, dass jetzt etwas ganz neues und grossartiges kommt und erwarten eine besondere Leistung. […] Wesentlich neues werden die Leute aber nicht aufweisen können. Die Verbände des Einzelhandels hätten gut daran getan, die ProPaganda-Wirkung [sic!] für die Deutsche Supermarket GmbH dadurch abzuschwächen, indem auf die Entwicklung der letzten 2-3 Jahre hingewiesen worden wäre. Schliesslich hat sich in diesen Jahren in Westdeutschland, angelehnt an die amerikanischen Erfahrungen und angepasst an die deutschen Verhältnisse eine grosse Zahl von Selbstbedienungsläden, die Supermarkt-Charakter haben, entwickelt.“334
Inwiefern die Verkaufsstrategien und die Einrichtung der Supermärkte einen Bruch gegenüber dem traditionellen Konsummodell darstellten, wie es Scarpellini für den Fall der Supermarket Italiani herausgearbeitet hat, ist ebenfalls schwer zu beurteilen. Da es in der Bundesrepublik Deutschland bereits eine Reihe von supermarktähnlichen Großraumläden und vereinzelte Supermärkte gab, war diese Art des Einkaufens den Konsumenten nicht völlig unvertraut. Über die erste Neugier hinaus hatten die Supermärkte durchaus eine längerfristige Anziehungskraft auf die Verbraucher – was sich letztlich als ausschlaggebend für den dauerhaften geschäftlichen Erfolgs erwies.335 Die Deutsche Supermarkt GmbH erweiterte ihr Filialnetz in den 1960er Jahren und entwickelte sich bis 1972 zum drittgrößten Filialbetrieb im bundesdeutschen Lebensmitteleinzelhandel.336 Nachahmer fand das Vorgehen Westons trotzdem kaum, auch wenn im Einzelhandel eine Zeit lang immer wieder die Angst vor neuen ausländischen Investoren aus den USA, Großbritannien und Japan geschürt wurde.337 Banken gibt als möglichen Grund für das ge 334
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Brief Dr. Franz Hayler an Dr. Walter Britsch (15.10.1959). Vgl. auch: Furcht vor Supermärkten, in: Pressedienst des Handels (24.9.1959), BAK B102/39449; SupermarktBewegung, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 9/1959. Vgl. De Grazia 2005, S. 401. Eglau 1972, S. 209. Auch Supermarkt-Bäume wachsen nicht in den Himmel, in: Edeka-Rundschau, 26.10.1959; Einbruch des Supermarktes, in: Rheinische Post, 1.4.1960; Errichtung von Einkaufszentren durch kanadischen Konzern, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 5/1961, RWWA 20/2237/2; Hat der Supermarkt Zukunft, in: EdekaRundschau, 27.5.1960; München im Supermarkt-Rausch, in: IHK-Mitteilungen,
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ringe Engagement ausländischer Einzelhandelsunternehmen auf dem westdeutschen Markt den ausgesprochen harten Wettbewerb seit den 1960er Jahren an.338 Die Kontroverse um den Weston-Fall verlor nach 1961 schnell an Bedeutung. Zum einen kamen im Lebensmitteleinzelhandel mit der „Discountwelle“ neue Wettbewerber auf, die die öffentliche Aufmerksamkeit und das Unbehagen des traditionellen Einzelhandels auf sich zogen. Zum anderen passte sich die Mehrzahl der Einzelhandelsbetriebe pragmatisch an die neue Wettbewerbssituation an. Bereits 1959 forderte ein Appell im Rewe-Echo, „im eigenen Unternehmen eine betriebswirtschaftliche, verkaufspsychologische und werbepolitische Generalinventur zu veranstalten! Und mit etwa noch vorhandenen überfälligen Museumstheken überholte eigenbrötlerische Krämer-Standpunkte aus Urgroßvätertagen gleich mit aus dem Geschäft zu expedieren! […] Kompromißlose Modernisierung des eigenen Geschäftes. Der Verbraucher von heute hat es nicht mehr nötig, sich über „Futterkrippen“ die Ware herüberreichen zu lassen.“339
Neben der hier betonten allgemeinen Anregung zur Modernisierung durch die neuartigen Geschäftsprinzipien in den Supermärkten, begannen viele Einzelhandelszusammenschlüsse den Supermarkt als eigenen neuen Ladentyp in ihre Geschäftspolitik aufzunehmen.340 Dieses Vorgehen ging in den meisten Fällen nicht mit großen Schwierigkeiten einher, da mit der Etablierung des Großraumladens durch viele Unternehmen bereits ein sukzessiver Übergang zu den Prinzipien der neuen Verkaufsform vorgenommen worden war. 2.3 Das „Schreckgespenst“ Supermarkt und die Angst vor Großunternehmen Der Weston-Konzern sorgte nicht nur durch seine Unternehmenspolitik für Kontroversen und Veränderungen, sondern stieß auch eine umfassende 338 339 340
29.3.1960, RWWA 8/26/1122; Safeway expandiert in der Bundesrepublik, in: TeamWork, 3/1970, Spar-Archiv; Und nun kommen die Japaner, in: Rewe-Echo, 6/1960. Banken 2007, S. 137. SOS Weston greift an!, in: Rewe-Echo, 15.9.1959. Auch Supermarkt-Bäume wachsen nicht in den Himmel, in: Edeka-Rundschau, 26.10.1959; DIHT: Tätigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 1959/60, S. 82, WWA S7/562; Im Weston was Neues…, in: Rewe-Echo, 1/1960; Vermerk von Rickertsen, betr. Gespräch von Herrn Minister mit der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (10.9.1959), BAK B102/39433.
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Debatte über Großunternehmen und Supermärkte an, die den Lebensmittelhandel während der 1960er Jahre beschäftigte. Den Auslöser für die Auseinandersetzung bildete die Übernahme des Filialunternehmens von Herbert Eklöh durch die vier großen Warenhäuser Horten, Hertie, Karstadt und Kaufhof im Februar 1959. Die Eklöh GmbH war ein sehr erfolgreiches Kölner Unternehmen, das 1960 40 Supermärkte mit einer Verkaufsfläche von 15.000 m2 betrieb.341 Ziel der Aktion sollte sein, dem Kauf der Geschäfte durch Garfield Weston zuvorzukommen. In einer öffentlichen Stellungnahme der Warenhäuser hieß es: „daß die bereits in Gang befindliche Expansion großer ausländischer Supermarktunternehmungen in das Bundesgebiet zu entsprechenden Abwehrmaßnahmen des deutschen Einzelhandels zwingt.“342 Sowohl Eklöh – „deutscher Selbstbedienungspapst mit dem mittelständischen Herzen“343 – als auch die Warenhäuser wurden im Nachhinein stark für ihr Vorgehen kritisiert. Eklöh warf man aufgrund kurzfristiger Eigeninteressen einen mangelnden Blick für die eigentlichen Konsequenzen vor, wie es folgender Artikel aus dem Rewe-Echo formulierte: „Herrn Eklöh bot er [Weston] jedenfalls einen famosen Vorwand, unter sorgsam gehäkeltem nationalem Mäntelchen die Rheinlandhalle nebst Anhang an die vier großen Warenhauskonzerne, die einen Umsatz von 4,4 Milliarden Mark repräsentieren, zu versilbern.“344
Langfristig hatte die Übernahme zwei weitreichende Folgen. Zum einen rückte der Supermarkt als „neuer und zukunftsträchtiger Absatzweg“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit.345 Das zeigt auch der spätere Erwerb der Eklöh GmbH mit ihren 53 Supermärkten durch die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumgenossenschaften (GEG) im Jahre 1965. Auf diese Weise erhofften sich die Konsumgenossenschaften mehr Kompetenzen und Erfahrungen im Bereich der Supermärkte.346 Zum anderen zeigten die Warenhäuser ein zunehmendes Interesse an den Supermärkten. Mit dem Aufbau von großen Lebensmittelabteilungen in Selbstbedienung machten sie den Lebensmittelgeschäften ernste Konkurrenz. Laut Batzer u. a. verdreifachte sich die Zahl der Lebensmittelabteilungen in den großen Kaufhäusern zwischen 341 342
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Disch 1966, S. 68. Warenhäuser wenden sich Supermarkets zu. Der Erwerb der Eklöh KG hat weitreichende Folgen, in: FAZ, 19.6.1959. SOS Weston greift an!, in: Rewe-Echo, 9/1959. Ebd. Supermarkets, in: Rheinische Post, 23.6.1959. Hallier 2001, S. 203. In den Quellen dazu: Disch 1966, S. 68.
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1950 und 1970 fast.347 Der Anteil der sechs größten Warenhausunternehmen am Umsatz bei Nahrungs- und Genussmitteln lag Ende 1967 bei vier Prozent.348 Damit wurden die Warenhäuser zu einer zentralen Zielscheibe der selbständigen Einzelhändler – sie waren jetzt die „Großkonzerne“ schlechthin, die den kleinen und mittleren Lebensmittelhandel existenziell bedrohten. So eröffnete die Spar ihre ersten Supermärkte als „Abwehrmärkte gegen die Kaufhäuser“. 349 Diese hätten sich zu einer gefährlicheren Konkurrenz entwickelt, als die Filialunternehmen, lautete das Argument. In München beschwerten sich die Einzelhändler über die von den Warenhäusern in die Höhe getriebenen Grundstückspreise von bis zu 10.000 DM pro m2. In Bayern wurde die „Massierung der Großbetriebe“ als ein akutes Problem behandelt:350 „Die Radikalisierung innerhalb des Einzelhandels nehme seit einem Jahr bedenklich zu, so daß die Gefahr der Spaltung des organisierten Handels in zwei Lager bestehe; in München sei schon eine Kampfgruppe ins Leben gerufen, die andere Kampfgruppen zur Folge habe.“351
1960 kam es zu ersten Gesprächen zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und den großen Einzelhandelsfirmen, d. h. den Warenhaus- und Versandhandelsunternehmen. Ab 1964/65 trat man in konkrete Verhandlungen für einen „Expansionsstopp“ der Großunternehmen. Diese erklärten sich bereit, für zweieinhalb Jahre in Städten mit weniger als 200.000 Einwohnern keine neuen Filialen zu eröffnen.352 Die als Expansions- oder 347 348
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352
Batzer, Geml, Greipl 1971, S. 43. Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969, S. 36. Vgl. hier auch eine detaillierte Übersicht über die Filialen und Leistungsziffern der großen Warenäuser: S. 37-41. Erste Supermärkte der SPAR, in: Der neue Weg, 11/1959. Abschrift Brief vom Landesverband des Bayrischen Einzelhandels e. V. an den Präsidenten der IHK München und Oberbayern Heinz Noris (3.9.1964), S. 2f., BAK B102/139224; Expansion der Warenhauskonzerne, in: Der neue Weg, 2/1965. Vermerk von Britsch, betr. Vorsprache von Präsidialmitgliedern der HDE bei Staatssekretär Dr. Langer am 2.2.1965 (3.2.1965), S. 2, BAK B102/139224. Auch DIHT: Tätigkeitsbericht 1962, S. 86, WWA S7/562. Brief Risse an Herrn Minister und Herrn Staatssekretär Westrick, betr. Empfang der Vertreter der Großbetriebe des Einzelhandels durch Herrn Minister am 19.12.1960 (12/1960), BAK B102/39433; Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Einzelhandels- und Gewerberechtssachbearbeiter der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW, Anlage 2: Stölting: Selbstbeschränkung der Großbetriebe (8.10.1965), RWWA 20/1689/6; Zum Expansionsstopp: Neues Zukunftsdenken im Handel?, in: VPK Nr. 20, 15.7.1965, BAK B102/139225. Auch der Versandhandel wie z. B. Ne-
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Atempause bezeichnete freiwillige Beschränkung, sollte den kleinen Mitbewerbern die Gelegenheit geben, sich den neuen Marktbedingungen anzupassen. Den tieferen Sinn der Vereinbarung sah die HDE in der „Sicherung des Wachstums einer Gesellschaftsstruktur, die allen Selbständigen im Einzelhandel die im Grundgesetz garantierte freie Entfaltung ermögliche. Nur auf dieser Basis könne echter Wettbewerb als Motor der Marktwirtschaft weiterhin wirksam bleiben. Man müsse zu Fehlurteilen kommen, wenn man die Selbstbeschränkung der Großbetriebe nach rein wirtschaftlichen Maßstäben wäge.“353
Ähnlich argumentierte Bundeskanzler Erhard: mit der „Technik der Marktwirtschaft“ allein komme man nicht weiter, man müsse ihr jetzt vielmehr „gesellschaftspolitische Züge“ verleihen.354 Auch Schmücker, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, sprach von einer „zweiten Phase der sozialen Marktwirtschaft“ und führte dazu aus: „Zwar sind nach der reinen Wettbewerbstheorie Anpassungs- und Entwicklungsvorgänge ausschließlich Sache des Marktes, in die sich der Staat nicht einzumischen hat, jedoch ist die soziale Marktwirtschaft ordnungspolitisch mehr als die bloße Verwirklichung der Wettbewerbstheorie.“355
Gegenüber dem Bundeskartellamt begründete das Bundeswirtschaftsministerium sein Vorgehen mit dem Argument, es liege im Einzelhandel ein wirtschaftspolitisch nicht erwünschter Verdrängungswettbewerb vor. Obwohl mit dem „Expansionsstopp“ die Forderungen des Mittelstandes zunächst erfüllt waren, wurde das Vorgehen der Bundesregierung von verschiedenen Seiten sehr kritisch beurteilt. Es bestand unter Wirtschaftsvertretern die Meinung, dass die, wenn auch scheinbar „freiwillige“ Wettbewerbsbeschränkung gegen das Kartellgesetz verstieß. Damit sahen sie das Prinzip der Marktwirtschaft, bei dem die Leistung und nicht die Größe eines Unternehmens zähle, grundsätzlich in Frage gestellt. So befürchtete etwa der DIHT in diesem Zusammenhang, dass es zu einer Illusion über die Wettbewerbsverhältnisse kommen könne und notwendige Selbsthilfemaßnahmen vernachlässigt würden. Auch die Interessenvertretungen der Verbrau 353
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ckermann nahm einige Projekte im Bereich des stationären Lebensmitteleinzelhandels auf, allerdings hielt sich deren Umfang stark in Grenzen. Selbstbeschränkung der Großbetriebe, Anlage 2 zu Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Einzelhandels- und Gewerberechtssachbearbeiter der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW (8.10.1965), S. 3, RWWA 20/1689/6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6.
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cher sprachen sich gegen die Selbstbeschränkung aus: sie ginge letztlich zu Lasten des Konsumenten, da auf diese Weise die angebots- und preisregulierende Funktion der größeren Unternehmen reglementiert würde. Es käme zu „Wettbewerbsoasen“ und einem „Wettbewerbsnotstand“ v. a. in kleineren Städten.356 Dass der „Expansionsstopp“ trotz dieser Widerstände verabschiedet wurde, lag zum Teil sicher am zunehmenden Einfluss der Interessenvertretung des Einzelhandels. Dessen gestärkte Position im Wirtschaftskreislauf als entscheidender Schlüssel zum Massenabsatz verlieh auch seinen Lobbyisten mehr politisches Gewicht. Da die freiwillige Selbstbeschränkung gesamtwirtschaftlich mit einem Konjunkturabschwung zusammenfiel, blieb deren tatsächliche Wirksamkeit jedoch eher gedämpft. Gleichwohl stand am Ende des „Expansionsstopps“ die Einführung der Mehrwertsteuer ab dem 1. Januar 1968. Ziel des neuen Gesetzes war u. a. die Aufhebung der seit 1951 gültigen Umsatzsteuer, durch die sich die kleinen und mittleren Einzelhändler gegenüber den Großunternehmen stets benachteiligt fühlten. Parallel zu der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Debatte um die großdimensionierten Geschäfts- und Unternehmensformen, war die Praxis der Einzelhandelsunternehmen seit dem Ende der 1950er Jahre von einem durchaus kritisch begleiteten, aber dennoch pragmatischen Lernprozess im Umgang mit dem Supermarkt geprägt. Die hohen finanziellen, organisatorischen und technischen Anforderungen zwangen die Unternehmen mit der zunehmenden Eröffnung derartiger Geschäfte zu neuen Methoden in der Unternehmenspolitik. Da sich grundsätzlich die notwendigen Rationalisierungsmaßnahmen effektiver im Rahmen großbetrieblicher Strukturen umsetzen ließen, erlangten die zentral gesteuerten Einzelhandelsunternehmen, d. h. die Filialbetriebe und die Warenhäuser, zunächst eine Vorreiterrolle in Sachen Supermarkt. So ergab die erste statistische Untersuchung bundesdeutscher Supermärkte 1962, dass 63 Prozent dieser Geschäfte den Filialunternehmen, 29 Prozent den Lebensmittelabteilungen der Warenhäuser und 4 Prozent den Konsumgenossenschaften und mittelständischen Einzelhändlern gehörten.357
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DIHT: Bericht 1965, S. 76, WWA S7/562; Jahresrückblick 1965, in: FfH-Mitteilungen, 1/1966, S. 1-5, hier S. 5. Zur Diskussion ausführlich: Selbstbeschränkung der Großbetriebe, Anlage 2 zu Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Einzelhandels- und Gewerberechtssachbearbeiter der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW (8.10.1965), RWWA 20/1689/6; Zum Expansionsstopp: Neues Zukunftsdenken im Handel?, in: VPK Nr.20, 15.7.1965, BAK B102/139225. Erste Untersuchung über die deutschen Supermärkte, in: Einzelhandelsnachrichten, 19.12.1962.
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Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen den Vertriebs- und Betriebsstrukturen forcierten die freiwilligen Zusammenschlüsse und die Konsumgenossenschaften in Anlehnung an die Einzelhandelsketten eine stärker zentralisierte Unternehmenspolitik.358 Im Bereich des Verkaufs verfügten in den 1960er Jahren alle Einzelhandelszusammenschlüsse über ein straff organisiertes System von fachlichen Abteilungen, denen konkrete Aufgaben bei der Schaffung einer einheitlich gestalteten Vertriebspolitik zukamen. Dazu zählten die Ladenausstattung, die Werbeabteilung oder die Finanzierungsdienste. Unterstützt wurden diese zentralen Einrichtungen durch regionale Außenstellen und mobile Außendienstmitarbeiter, die die Läden vor Ort berieten. In den einzelnen Geschäften selbst kam es auf ein flexibles und kenntnisreiches Management sowie eine differenzierte Arbeitsorganisation an.359 In diesem Zusammenhang gewann die zentrale, auf spezifische Themen bezogene Weiter- und Ausbildung der Führungskräfte und Angestellten in den 1960er Jahren zunehmend an Bedeutung. Bestimmte Fachabteilungen, wie die „Großraumladen GmbH“ und der „RZO-Finanzierungsdienst“ der Rewe oder die „Investitionsabteilung“ des ZdK gingen sogar so weit, den Mitgliedern die Eröffnung von Supermärkten als „Komplettpakete“ zu vermitteln.360 Einerseits zielten solche Bestrebungen auf eine einheitliche Verkaufspolitik und eine für den Verbraucher immer wieder erkennbare Außendarstellung der Geschäfte. Andererseits bot dies eine Möglichkeit, um den Mitgliedern entgegenzukommen, die Supermärkte ablehnten. So stellte der ZdK 1960 fest, dass sich selbst größere und damit finanzstärkere Genossenschaften sehr zurückhaltend gegenüber der Eröffnung von Läden mit mehr als 300 m2 verhielten.361
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Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 18. und 19. April 1961 in Berlin, Anlage 1: Thomas, Erwin: „Aktuelle Fragen der Absatzwirtschaft“ (19.4.1961), S. 4, RWWA 181/1563/1; Nieschlag, Robert: Der Weg der Freiwilligen Ketten, in: Der neue Weg, 11/1969; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1958, S .4, WWA S7/570; Wald 1985, S. 81. Der Großraumladen – wessen Domäne?, in: Der neue Weg, 10/1961. Halbes Dutzend großräumige Läden für „Groß-Köln“, in: Rewe-Echo, 1/1964; Lüdorf, Hermann: Der neue Weg. Großräumigere Läden auch für den Rewe-Kaufmann, in: Rewe-Echo, 7/1962; Trescher: Konsumgenossenschaftliche Absatzprobleme in der Sicht des ZdK, Vortrag auf Sitzung des Generalrates des ZdK (23.6.1960), S. 133f., FfZ 18-6,5.1.4; ZdK: Jahrbuch 1962, S. 91f., ZdK-Archiv. Trescher: Konsumgenossenschaftliche Absatzprobleme in der Sicht des ZdK, Vortrag auf Sitzung des Generalrates des ZdK (23.6.1960), S. 133, FfZ 18-6, 5.1.4. Zur Schaffung einer einheitlichen Unternehmenspolitik im Bereich des Vertriebswesens auch: Lüdorf, Hermann: Lebensmittel-Einzelhandel im Brennpunkt struktureller Wandlungen, in: Rewe-Echo, 15.10.1963.
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Wie bereits zu Beginn der Einführung der Selbstbedienung verweist die vorhandene Skepsis auf einen bestimmten Grad an Unsicherheit, der charakteristisch für Innovationsprozesse ist. Neben dem finanziellen und wirtschaftlichen Risiko basierte dieses Gefühl auf den mangelnden Erfahrungen mit der Verkaufsform. Ein zentrales Argument, das nicht nur für die einzelnen Konsumgenossenschaften, sondern auch für viele selbständige Einzelhändler gegen den Supermarkt sprach, war die noch stärker als in den Selbstbedienungsgeschäften ausgeprägte Anonymität der Kaufhandlung. Je größer die Läden, je weniger Personal und je rationalisierter und spezialisierter die Arbeitsabläufe, desto schwieriger wurde es, eine persönliche Beziehung zum Kunden aufzubauen und zu halten.362 In diesem Zusammenhang stellte sich für die Konsumgenossenschaften außerdem die Frage, wie sich die Rückvergütung in den Supermärkten organisatorisch durchführen ließ. Den Übergang zu einer einfacher zu handhabenden grundsätzlichen Rabattgewährung lehnte man aber ab, da dies die steuerliche Rechtmäßigkeit der Rückvergütung insgesamt in Frage gestellt hätte.363 An den verschiedenen Schwierigkeiten der Konsumgenossenschaften bei der Einführung von Supermärkten zeigt sich beispielhaft die grundsätzlich problematische Auseinandersetzung zwischen dem Selbstverständnis des Unternehmens und der Entwicklung der Konsumgesellschaft der 1950er und 1960er Jahre. Diese fundamentale Problemlage charakterisierte der Genossenschaftsvertreter Schumacher 1963 im Zusammenhang mit den immer größeren Läden: „[A]uch die Konsumgenossenschaften mußten den Tendenzen einer entideologisierten, nivellierten und pluralisierten Massengesellschaft mit ihren Symptomen der mangelnden Bindungsbereitschaft, der Anonymisierung des Käufers, des sozialen Geltungsstrebens, des veränderten Verbraucherverhaltens im Zeichen des Wohlstandes, des Warenfetischismus und des Erwerbsmaterialismus ihren Tribut zollen.“364
Durch ihre zentralisierte Unternehmenspolitik versuchten die freiwilligen Zusammenschlüsse und Konsumgenossenschaften somit Vorurteile und 362
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Stein, Siegfried: Die Chancen des kleinen Ladens, in: Mitteilungen der Handels- und Gewerbevertretung bei der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund (10/1960), S. 1, RWWA 1/399/4; ZdK: Vordringen der Supermärkte in Deutschland, Protokoll Sitzung des Gesamtvorstandes des ZdK (22.6.1959), FfZ 18-6, 5.1.3. Trescher: Konsumgenossenschaftliche Absatzprobleme in der Sicht des ZdK, Vortrag auf Sitzung des Generalrates des ZdK (23.6.1960), S. 136, FfZ 18-6, 5.1.4. Schumacher, Carl: Das Leitbild der Konsumgenossenschaften in der Gegenwart, Hamburg 1963, S. 4.
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skeptische Einstellungen gegenüber dem unbekannten System zu beheben und die mangelnde Erfahrung und das fehlende Wissen ihrer einzelnen Mitglieder über die neuen Vertriebsformen zu kompensieren. Das Rewe-Echo schrieb dazu in einem programmatischen Artikel Mitte der 1960er Jahre: „Umdenken, anpassen, fortschrittlich sein! Schlagworte, gar zu oft gehört, kaum noch beachtet. Umdenkungsprozesse, in Direktionszimmern chemisch rein vollzogen, nehmen an der Front, im täglichen Kampf oft eine andere Gestalt an. Die Waffe des Fortschritts wird stumpf! Revolutionen werden meistens von wenigen gemacht. Die Masse begnügt sich mit Evolutionen. Man läßt die Dinge ‚sich entwickeln‘. Zwischen Revolution und Evolution schwankt seit Jahren der deutsche Lebensmittel-Einzelhandel. Ruhe gab es nie, wird es auch in absehbarer Zeit nicht geben.“365
Dabei konnte sich die Unternehmensführung, noch stärker als bei der Durchsetzung der Selbstbedienung, auf eine „Macht des Wissens“ über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge berufen. Angesichts einer deutlich höheren Komplexität der für die Verkaufspolitik ausschlaggebenden Faktoren als einige Jahre zuvor, benötigte das Einzelgeschäft verstärkt externe Beratung und Unterstützung für seinen langfristigen Erfolg.366 Entscheidend dafür war auch die steigende Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für den Wettbewerb im Einzelhandel, wie z. B. anhand der Standortplanung deutlich geworden ist. Darüber hinaus verstärkte sich aufgrund der gestiegenen ökonomischen und der finanziellen Ansprüche des Wettbewerbs im Lebensmittelhandel der 1960er Jahre die Abhängigkeit der einzelnen Mitglieder von der Zugehörigkeit zu einem Zusammenschluss. Dass trotzdem in stark zentralisierten Unternehmen die Konflikte nicht ausblieben, zeigt das Beispiel des Kölner Filialbetriebs Cornelius Stüssgen AG. 1963 fragten die Angestellten der Bedienungs- und Selbstbedienungsläden in der Unternehmenszeitschrift Cornelia, welche Rolle sie angesichts der zunehmenden Zahl von Supermärkten noch spielten: „Sind wir nicht nur noch gelitten, weil das Geld für den Bau der uns ablösenden S-Märkte noch nicht da ist?“ oder „Weshalb müssen wir hier in den veralteten Läden weit schwerere Arbeit verrichten als unsere Kolleginnen im benachbarten S-Markt?“.367 Beschwichtigend antwortete die Unternehmensführung, dass viele Bedie 365 366
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Freunde im Ausland – Partner des Fortschritts, in: Rewe-Echo, 15.6.1964. Vgl. z. B. die Stellungnahme der Edeka dazu: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1967, S. 5, WWA S7/577. Blatz, W.: Selbstbedienungs- und Bedienungsläden im Schatten der S-Märkte, in: Cornelia, 2/1963, S. 7.
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nungs- und Selbstbedienungsläden noch eine Weile bestehen bleiben würden. Die Aufstiegschancen in allen Geschäftstypen seien zudem gleich und die einmal erworbenen Erfahrungen und Kenntnisse könnten ebenso in die Arbeit im S-Markt – dem Supermarkt – eingebracht werden. Dass der Übergang zu den neuen Vertriebsformen auf einer innerbetrieblich-sozialen Ebene einen durchaus konfliktbehafteten Prozess darstellte, soll in Kapitel V. 1. im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wandel der Arbeit im Selbstbedienungsladen detaillierter thematisiert werden. Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit der betrieblichen Umgestaltung neu diskutiert wurde, waren die Aufgabenbereiche des Groß- und des Einzelhandels. Die Kompetenzverteilung zwischen den Unternehmensstufen wurde von verschiedenen Wirtschaftsvertretern hinterfragt, da der Einzelhandel den Aufbau und die Finanzierung der Supermärkte nicht mehr allein leisten konnte. In diesem Zusammenhang versuchten die Konsumgenossenschaften eine „Absatzförderungsgesellschaft“ bzw. eine „SupermarktGesellschaft“ als gemeinsames Instrument der GEG und des ZdK zu schaffen. Der ZdK sah sich nicht mehr in der Lage, den für Umstrukturierungen notwendigen „Zwang auszuüben“ und die „Gesamtverantwortung für die Entwicklung auf dem Absatzsektor“ zu übernehmen.368 Die GEG erklärte sich bereit, Konsumgenossenschaften zu unterstützen, die Großraumläden nicht aus eigener Kraft entwickeln konnten. Letztlich kam eine zentrale Einrichtung zum gezielten Aufbau von Supermärkten allerdings nicht zustande. Somit wirkten sich die Probleme der innerbetrieblichen Organisation unmittelbar auf die Innovationsschwäche im Bereich des Verkaufs aus.369 Auch andere Unternehmen wie Rewe und die Spar diskutierten und verwirklichten die Übernahme und Finanzierung von Supermärkten durch die Großhandelsstufe. Eine Grundlage dafür bot die Verpflichtung des Großhandels, den Einzelhandel zu fördern.370 Jedoch waren diese neuen Überlegungen 368 369
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ZdK: Protokoll Sitzung Gesamtvorstand des ZdK (11.3.1960), FfZ 18-6, 5.1.3 Vgl.: Judt, Matthias: Vom Genossen zum Aktionär: zur Geschichte der Hamburger Konsumgenossenschaft „Produktion“, in: Hamburger Wirtschafts-Chronik 2001/2, S. 197-235, hier S. 200; Schröter 2001, S. 254; Sywottek 1993b, S. 273. Zur Frage nach den Ursachen für das Scheitern der Konsumgenossenschaften seit den 1950er Jahren vgl. ausführlich die Diskussion bei: Prinz 2003; Schröter 2000. Auf dem Weg zum größeren Laden: Koreferat des Vorstandsmitglieds der Deutschen Handelsvereinigung SPAR e. V., Herrn Dr. Franz Weissbecker, München, auf der Fachtagung anläßlich der Jahreshauptversammlung der Deutschen SPAR am 5. Juni 1961 in Frankfurt a. M. (5.6.1961), S. 4, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, Spar-Archiv; Eine SPAR-Supermarkt-Tagung, in: Der neue Weg, 12/1960;
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nicht unproblematisch, da sie die funktionelle Gliederung des Absatzwesens in Einzelhandel und Großhandel in Frage stellten. Deshalb blieb der Eingriff des Großhandels und der Hersteller in die Einzelhandelsstufe, z. B. durch Direktverkäufe oder den Werks- und Behördenhandel, in den 1950er und 1960er Jahren ein dauerhaft kontroverses Thema, bei dem der Einzelhandel stets seine Kompetenzen und damit seine Absatzmöglichkeiten eingeschränkt sah. Angesichts dieser Entwicklung prognostizierte der Wirtschaftswissenschaftler Robert Nieschlag 1969, dass die Trennung zwischen der Großhandels- und der Einzelhandelsstufe immer mehr an Bedeutung verlieren würde.371 Bei den meisten Einzelhandelszusammenschlüssen und Konsumgenossenschaften mündeten die verschiedenen Ansätze, eine umfassendere und gezieltere Handlungskompetenz durch die Zentralisierung von Aufgaben, die engere Zusammenarbeit von Groß- und Einzelhandel und eine einheitliche Unternehmenspolitik zu erlangen, Ende der 1960er Jahre u. a. in die grundsätzliche Umstrukturierung der unternehmensrechtlichen Form bei: aus Genossenschaften wurden Aktiengesellschaften. Zu dieser Entwicklung trug die fundamentale Umstrukturierung des Einzelhandels, neben einer Reihe anderer wirtschaftlicher und unternehmerischer Faktoren, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sicherlich entscheidend bei.372 2.4 Die „Discount-Welle“ Kaum hatte sich die Debatte um das Vordringen der Supermärkte etwas beruhigt, sah sich der bundesdeutsche Einzelhandel bereits mit einem neuen „Schreckgespenst“ konfrontiert: dem Discounter. Allein im Laufe des Jahres 1962 stieg die Zahl der neuartigen Geschäfte von 300 auf 1500.373 Mit einer offensiven Verkaufs- und Preispolitik verschärften die Discounter den Wettbewerbsdruck. Zugleich setzten sie alle Rationalisierungsmöglichkeiten der Selbstbedienung um. In einfach ausgestatteten Geschäften in zweitran 371
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Erste Supermärkte der SPAR, in: Der neue Weg, 11/1959; SPAR-SupermarktGemeinschaft bewährt sich, in: Der neue Weg, 12/1965. Nieschlag, Robert: Der Weg der Freiwilligen Ketten, in: Der neue Weg, 11/1969. Vgl. zum grundsätzlichen Problem der Trennung der einzelnen Wirtschaftsstufen: HDE: Arbeitsbericht 1947/48, S. 3, ZBW Kiel. Vgl. Graff 1994, S. 15, 161; Prinz 2003, S. 587f. In den Quellen dazu: Neue Organisationsformen: Systembildung, in: Handelsblatt, 30.9.1968; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1971, S. 11, WWA S7/570. Jahresbericht 1962, in: FfH-Mitteilungen, 1/1963, S. 1-4, hier S. 3.
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giger Lage bedienten die Kunden sich zu 100 Prozent selbst. Durch die geringe Zahl an Verkäufern konnten die Personalkosten stark reduziert werden. Da die Waren zum Teil aus den Originalverpackungen verkauft wurden, benötigten die Discounter keine spezifischen Fachkräfte bei der Aufbereitung und Auslage. Ihr Angebot beschränkte sich auf etwa 300-600 Artikel mit geringen Lagerungsanforderungen und schnellem Lagerumschlag. Im Sinne dieses Prinzips verzichteten die neuen Läden weitgehend auf Frischwaren wie Obst und Gemüse, Wurst und Fleisch sowie Tiefkühlkost. Somit sparten sie auch bei der Verpackung und Lagerung der Produkte erhebliche Kosten ein. Nur Butter verkauften viele Discounter – als Lockangebot. Denn Butter war nach langer Zeit des Verzichts in den beiden Nachkriegsjahrzehnten ein hoch geschätztes Lebensmittel, bei dem die Verbraucher besonders empfindlich auf Preisschwankungen reagierten.374 Der weitgehende Verzicht auf Werbung, eine aufwendige Ladenausstattung und niedrigere Mietkosten an weniger zentralen Standorten senkte die Kosten.375 An diesen Rationalisierungsmaßnahmen orientierten sich auch die US-amerikanischen Discounter. Allerdings ging die Discountbewegung dort vom Markt für langfristige Gebrauchsgüter aus, während sie sich in der Bundesrepublik zunächst im Lebensmitteinzelhandel durchsetzte. Die Rationalisierungsmaßnahmen ermöglichten es den Discountern eine niedrige Handelsspanne anzusetzen und diese in Form von günstigeren Preisen an die Verbraucher weiterzugeben. Gegenüber dem traditionellen Einzelhandel lag der Preisunterschied zwischen 5 und 15 Prozent.376 Warum kam der Durchbruch für die Discounthäuser in Westdeutschland Anfang der 1960er Jahre? Die Gründe für den Erfolg lagen laut zeitgenössischer Studien darin, dass sie zu einem Zeitpunkt in den Markt eintraten, zu dem sich der traditionelle Einzelhandel durch eine starre und hohe Handelsspanne auszeichnete.377 Joseph Wickern vom ISB meinte 1963, die Discounter machten den Wettbewerb härter, brächten aber endlich auch 374
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Brief Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm an IHK Dortmund, betr. Lagebericht II. Quartal 1962 (4.7.1962), S. 3, RWWA K1/3324; Informationen der IHK Köln, Rundbrief Nr.16, 15.1.1963, RWWA 1/399/6; Mühlmann, Helmut: Das Discountprinzip, Instrument der Wettbewerbspolitik im Einzelhandel, in: Betriebswirtschaftliche Umschau 39, 1969, H. 12, S. 399-407, hier S. 403. Vgl. Bidlingmaier 1962, S. 161; Infoblatt zu Discounthäusern (ca. 1962), BWA F36/211; Teuteberg 2005, S. 33f. Mühlmann 1969, S. 9. Ebd., S. 399; Oehler, Werner: Diskontprinzip im Einzelhandel, Köln 1962, S. 19. Auch: Aktuelle Streiflichter, in: Kurzmitteilungen des der Abteilung Handel des DIHT, 9/1962, S. 1, RWWA 20/2237/3.
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„Leben in die Bude“ des Lebensmitteleinzelhandels.378 Zwar hatten bereits die Supermärkte punktuell an der traditionellen Preispolitik gekratzt, allerdings verfügten sie über keine umfassende Strategie, um die Preisgestaltung so extrem und flächendeckend herauszufordern wie die Discounter. Außerdem verkauften die Supermärkte viele Markenartikel und unterlagen damit per se der staatlich geregelten Preisbindung, die den Status quo entscheidend konservierte.379 Im Zuge der Debatte über die Discounter beschwerten sich viele Einzelhändler darüber, dass der Eindruck erweckt werde, sie agierten mit überhöhten Preisspannen und seien dem Fortschritt gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt. Die Medien sahen in den Discountern willkommene „Preisbrecher im Interesse des Verbrauchers“.380 Als zentrales Argument dafür führten sie die Ausprägung eines spezifischen Konsum- und Preisbewusstseins bei den deutschen Verbrauchern im Zuge der Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaft seit den 1950er Jahren an.381 Im Gegensatz zum ersten Nachkriegsjahrzehnt war es aufgrund des stetig steigenden Lebensstandards möglich, den Konsumenten das „Konzept eines Billigladens“ zu präsentieren, ohne dass diese sich sofort an die Zeit des Mangels erinnert fühlten.382 Damit widerlegte die Praxis die Meinung vieler traditioneller Einzelhändler, die lautete: „Bisher läßt es das Maß der hohen Ansprüche der Verbraucher nicht zu, in die Atmosphäre der Primitivität der ersten Nachkriegsjahre zurückzukehren. Bis heute ist jedenfalls das Gegenteil der Fall. Läden, die nicht oder nicht mehr modern sind,
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Wickern, Joseph: Die Anwendung des Diskontprinzips in betriebswirtschaftlicher Hinsicht im Lebensmitteleinzelhandel, Anlage 3 zu Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses am 24. Januar 1963 in Bonn (24.1.1963), S. 1, RWWA 181/1576/3. Auch: Jahresbericht 1962, in: FfH-Mitteilungen, 1/1963, S. 1-4, hier, S. 3. Mc Creary 1964, S. 121; Bruckhaus, Max; Hagen, Karlheinz: Verkaufen um jeden Preis. Das Diskontprinzip in Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1969, S. 28. Sagt, wo die Discounter sind… , in: Rewe-Echo, 6/1965; Schnitzler, Theodor, Witte, Arnold: Das Wesen des Deutschen Discounthauses, in: Discount-Informationen, 6/1964, S. 1; Wesentliches Ergebnis der Sitzung Länderausschuss Handel am 6. und 7. November 1962 im Bundesministerium für Wirtschaft (6./7.11.1962), S. 5, BAK B102/225588. Bidlingmaier 1962, S. 161; Schenk, Hans-Otto: Discountgeschäft: Seine terminologische, logische und empirische Problematik, in: FfH-Mitteilungen, 8/9/1965, S. 3-5, hier S. 2. Vgl. Andersen 1997, S. 63.
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verlieren ihre Anziehungskraft.“383
Anfang der 1960er Jahre sahen viele Einzelhandelsunternehmer somit die eigenen Bemühungen, durch hohe Investitionen einen gewissen Ausstattungsstandard zu erreichen, in Frage gestellt. Mehr noch war es für Teile des Einzelhandels unverständlich, wie sich die Konsumenten jetzt, wo sie über die höchste Kaufkraft seit dem Ende des Krieges verfügten, auf die „primitive“ Billigkonkurrenz einlassen konnten.384 Doch die Prioritäten in den (Haushalts-)Ausgaben der Bevölkerung hatten sich aufgrund des zunehmenden Wohlstandes in den 1960er Jahren verschoben – auch dies ein Faktor für den Zuspruch, den die Discounter fanden. Während der Anteil für Lebensmittel stetig sank, stiegen die Ausgaben für Freizeit, Urlaub und langfristige Verbrauchsgüter. Darin spiegelte sich auch ein Lernprozess der Bundesdeutschen im Umgang mit der Massenkonsumgesellschaft wider. Die Wahl der Einkaufsstätte und das damit verbundene Abwägen der Preise richteten sich zunehmend an individuellen Interessen in Hinblick auf den Erwerb bestimmter Gebrauchs- und Verbrauchsgüter aus.385 Gleichzeitig beherrschten die Konsumenten immer mehr den souveränen Umgang mit der Vielfalt des Warenangebotes, bei dem neben den Markenartikeln auch günstigere Alternativen wie die Eigenmarken des Einzelhandels einen immer größeren Anteil der Nachfrage einnahmen. Die Verbraucher waren nicht mehr ohne weiteres bereit, hohe Preise für Nahrungsmittel zu zahlen und stellten die Wege der Preisbildung offensiv in Frage. So gaben in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 1964 ca. 50 Prozent der Befragten an, dass die hohen Preise auf den preislichen Aufschlag durch die Unternehmen zugunsten der eigenen Gewinnmaximierung und auf die Kosten des Zwischenhandels zurückzuführen seien.386 Zu diesem geschärften Bewusstsein trugen sicher ebenfalls die leichte Rezession in den Jahren 1961 bis 1963 und der Anstieg der Lebenshaltungskosten um 2,4 Prozent seit
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Der Discount-Laden ist keine Sensation, in: Der Einzelhändler, 18.9.1962. Auch: „Discount“ ist kein Patentrezept, in: Rewe-Echo, 5/1962; Edeka Dortmund eGmbH: Geschäftsbericht 1961, S. 8, WWA S7/578/1. Menninger 1964, S. 46. Vgl. DIHT: Tätigkeitsbericht für 1962, S. 85, WWA S7/56; HDE: Arbeitsbericht 1958, S. 13, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Priess, Friedrich: Wer deckt den Massenbedarf, in: Rationeller Handel, 11/1964; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1967, S. 25, WWA S7/570. Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-67, S. 270.
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1961 bei.387 Für die Konsumenten schienen die Discounter mit ihrem sparsamen Image in allen Bereichen eine Antwort auf diese Problemlage darzustellen. Entsprechend stufte die Bundesregierung die neuen Läden in ihrem Geschäftsbericht von 1962 als Vertriebsform ein, die den neuen Anforderungen der Massenkonsumgesellschaft gerecht werde: „Trotz allem scheinen Massenkonsum und Massenproduktion noch weitergehende Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit des Handels zu stellen. Gängige und risikolose Massenware verlangt einen ihr gerecht werdenden billigen Absatzweg, der sich durch geringen Werbeaufwand, schnellen Lagerumschlag und Verzicht auf Service entsprechend kostengünstig stellt. Das Ausweichen der Verbraucher auf Betriebs- und Belegschaftshandel, Kundenausweisgeschäfte, Direkt- und Beziehungskäufe bei Großhändlern und Herstellern u. a. m. deutet zum mindesten teilweise darauf hin, daß der Handel mit seinen traditionellen Vertriebsformen dem steigendem Massenkonsum nicht immer ganz gerecht geworden ist. Hier scheinen die in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik in zunehmendem Umfang entstehenden Discounthäuser eine Chance zu haben, die in primitiven Räumen unter Verzicht auf jeglichen Kundendienst ein begrenztes Sortiment gängiger und risikoloser Massenartikel vertreiben und ihre erheblichen Kosteneinsparungen den Kunden zugutekommen lassen... Für den fortschrittlichen Fachhandel dürfte das Discounthaus in der heutigen Zeit keine ernste Gefahr darstellen.“388
Grundsätzlich anders schätzte dagegen der traditionelle Einzelhandel die Wettbewerbssituation ein. Zunächst erzeugten die ersten Discounter ein großes Maß an Unsicherheit, da nicht transparent war, mit welchen Methoden sie so günstige Preise und den hohen Zuspruch der Verbraucher erreichten. Immer wieder kam der Vorwurf der „Primitivität“ auf. Beschreibungen vom Anfang der 1960er Jahre erweckten den Eindruck, die neuen Geschäfte hätten etwas Unberechenbares und sogar Anarchisches an sich. Den Brennpunkt der Discount-Problematik stellte das Ruhrgebiet dar. In einem Bericht heißt es: „Das besonders Beunruhigende an dieser Entwicklung sei, daß die DiscountGeschäfte von heute auf morgen ihre Läden aufmachen in irgendeiner Ecke im Bezirk und alle Versuche bisher scheiterten, über irgendwelche Informationsquellen vorher in Erfahrung zu bringen, wo welche Geschäfte eröffnet werden. Bei der Eröffnung haben diese Geschäftsinhaber meistens irgendeine ganz billige Kasse, vor-
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Hardach 2000, S. 209f. Zitiert nach: Schnitzler, Theodor; Witte, Arnold: Das Wesen des Deutschen Discounthauses, in: Discount-Informationen, 6/1964, S. 2f. Vgl. auch: Wesentliches Ergebnis der Sitzung Länderausschuss Handel am 6. und 7. November 1962 im Bundesministerium für Wirtschaft (6./7.11.1962), S. 3f., BAK B102/225588.
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wiegend Additionsmaschinen auf Schubladen, die zum Teil über die im dortigen Bereich bekannte Ratio-Bochum gekauft werden.“389
Darüber hinaus wurden den Discountern unlautere Wettbewerbsmethoden zum Teil „amerikanischer Prägung“ vorgeworfen.390 Die Verschärfung des Wettbewerbs durch die offensive Preis- und Verkaufspolitik verlasse „nicht selten den Boden wirtschaftlicher Vernunft“.391 Bereits die Reisenden aus den 1950er Jahren hatten die US-amerikanischen Discounter häufig als unlautere Konkurrenz bezeichnet.392 Dabei wurden v. a. auf die Nichteinhaltung des Rabattgesetzes und der Preisbindung Bezug genommen. In den USA hätten die Discounter das „Gefüge der Festpreise“ grundlegend erschüttert, so der Vorwurf, – auch wenn es dort keine staatliche geregelte Preisbindung gab.393 In der Bundesrepublik Deutschland dagegen besaßen die traditionellen Einzelhändler ein starkes Interesse an der Beibehaltung der Preisbindung, da sie im Wettbewerb gegen die Discounter eine Art Selbstschutz bot. Sogar in Denunziationen mündete der Konflikt: Einige Unternehmer meldeten der Markenartikelindustrie Verstöße von Discountern gegen die Preisbindung.394 Gleichzeitig fühlte sich der traditionelle Einzelhandel von der Industrie getäuscht, da er nicht glaubte, dass die unliebsame Konkurrenz so günstig kalkulieren konnte, ohne dass sie Rabatte von den Herstellern erhielt.395 Die Discounter selbst sahen die Preisbindung als
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Aktennotiz, betr. Anruf Wilke – Anwachsen von Discount-Läden im Distrikt Essen von F. Leenen an E. A. Gipp (2.10.1962), BWA F36/211. Auch: Schon über 300 DiscountBetriebe in der Bundesrepublik, in: Edeka-Rundschau, 16./23.3.1962. Eine ähnliche Argumentation wurde im Zusammenhang mit der Debatte um die „cheapy supermarkts“ in den USA der 1930er Jahre geführt. Im Geschäftsbericht der Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm von 1958 wurde bereits festgehalten, dass nicht nur die starke Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet einen scharfen Wettbewerb zwischen den zahlreichen Einzelhandelsunternehmen hervorrufe, sondern dass sich darin auch die geringere Kaufkraft der Arbeitnehmer aufgrund des Bedarfsrückgangs für Eisen, Kohle und Stahl auswirke. Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm: Bericht über das Geschäftsjahr 1958, S. 1, WWA S7/569/1. Zur Spezifik des Ruhrgebiets auch: Liese, Heinz: Die Hintergründe des Wettbewerbs im Ruhrgebiet, in: Edeka-Rundschau, 1./8.6.1956. Schon über 300 Discount-Betriebe in der Bundesrepublik, in: Edeka-Rundschau, 16./23.3.1962. Edeka Dortmund eGmbH: Geschäftsbericht 1962, S. 7, WWA S7/578/1. HDE 1957, S. 18. Der Discountbegriff, in: Discount-Informationen, Sonderausgabe, 12/1967, S. 17, WWA K3/2328. Auch: Falk 1965, S. 21. Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung zur Konzentration in der Wirtschaft vom 29. Februar 1964 (29.2.1964), S. 34, RWWA 20/1815/2. Lüdorf, Hermann: Discount-Häuser im Wettbewerb, in: Rewe-Echo, 6/1962.
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„preispolitische Bevormundung“.396 Dem entsprechend vertrat die Forschungsstelle für den Handel die Meinung, dass die neuen Geschäfte einen wichtigen Beitrag zur Lockerung der Preisbindung leisteten.397 Die Bundesregierung sprach sich 1962 in einer Empfehlung für die Aufhebung der Preisbindung aus, da sie ein wesentliches Hindernis für eine konsequente Wettbewerbspolitik darstelle. In diesem Zusammenhang erkannte sie auch an, dass die Preisbindung eine Mitschuld an den überhöhten Handelsspannen und Preisen trug.398 1964 fiel der Preisbindung für Spirituosen, wenig später wurde sie für Markenschokolade aufgehoben.399 Zur gänzlichen Abschaffung kam es aber erst 1974. Interessanterweise wurde in der Debatte um die Discounter weniger auf die größenmäßig ungleiche Konkurrenz zwischen dem „kleinem“ Einzelhandel und den neuen „großen“ Wettbewerbern Bezug genommen, wie es bei den Selbstbedienungsläden und den Supermärkten der Fall gewesen war. Vielmehr problematisierte man jetzt das Vertrauensverhältnis zwischen Einzelhandel und Konsument, das durch die „unsaubere“ Verkaufspolitik der Discounter einen erheblichen Schaden erleide. Die Edeka Dortmund kommentierte, der Missbrauch der Preisempfehlung und die „spektakulären Preisbindungsprozesse“ hätten das Vertrauen des Verbrauchers in den Einzelhandel schwer erschüttert.400 Immer wieder wurde betont, dass die günstigen Preise nicht auf Kosten der Warenqualität erzielt werden dürften, da diese dem Verbraucher besonders wichtig sei: „Bei Lebensmitteln ist die Qualität wichtiger als der Preis, das Vertrauen in das Stammgeschäft entscheidender als der Rausch am billigen Einkauf; denn dieser ist schnell verflogen. Nur die Freude am guten Einkauf hält vor.“401
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Sagt, wo die Discounter sind…, in: Rewe-Echo, 6/1965. Auch: Schnitzler, Theodor, Witte, Arnold: Das Wesen des Deutschen Discounthauses, in: Discount-Informationen, 6/1964, S. 7. Jahresbericht 1962, in: FfH-Mitteilungen, 1/1963, S. 1-4, hier S. 3. Auch: DIHT, Sitzung Handelsausschuss, Aussprache zu Discount (24.1.1963), S. 7, WWA K5/2624. Schultes, Werner: Hat die Preisbindung eine Zukunft?, in: Der neue Weg, 3/1971. Edeka Dortmund eGmbH: Geschäftsbericht 1964, S. 16, WWA S7/578/1. Ebd., S. 7. Wickern, Joseph: Die Anwendung des Diskontprinzips in betriebswirtschaftlicher Hinsicht im Lebensmitteleinzelhandel, Anlage 3 zu Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses am 24. Januar 1963 in Bonn (24.1.1963), S. 5, RWWA 181/1576/3. Vgl. auch: Der Discount-Laden ist keine Sensation, in: Der Einzelhändler, 18.9.1962; Discount-Rummel treibt Blüten, in: Rewe-Echo, 15.12.1962; Edeka Dortmund eGmbH: Geschäftsbericht 1961, S. 8, WWA S7/578/1; Informationen der IHK Köln, Rundbrief Nr. 16 (15.1.1963), RWWA 1/399/6.
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Letztlich ist aus den Argumenten der Einzelhändler v. a. ein Vorwurf gegenüber dem Zuspruch der Konsumenten zur neuen Vertriebsform herauszuhören: im Grunde wisse der Kunde gar nicht, was ein Discounter sei, er achte nur auf das Versprechen des günstigsten Preises. Diese Kritik zeigt zum einen, dass ein Einstellungswandel und eine gewisse Anpassung des Einzelhandels gegenüber den veränderten, differenzierten Präferenzen der Konsumenten notwendig war. Zum anderen verweist die Auseinandersetzung auf die gestärkte Position des Verbrauchers auf der Grundlage des Käufermarktes und erster Anzeichen einer „Marktsättigung“. Im Einzelhandel musste sich eine Verbraucherorientierung jedoch erst in einem Lernprozess etablieren. Dazu zählte die Erkenntnis, dass der Wettbewerb in der Massenkonsumgesellschaft ein harter Kampf um die Gunst nicht nur des qualitätsbewussten, sondern auch des preisbewussten Konsumenten darstellte. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass ein Discounter nicht, wie man vielleicht meinen könnte, ausschließlich Verbraucherschichten mit geringem Einkommen anzog. Auch wenn es aufgrund der Quellenlage schwierig ist, detaillierte Aussagen über den Kundenkreis der neuen Vertriebsform zu machen, deuten vereinzelte Angaben darauf hin, dass sowohl einkommensstarke als auch -schwache Schichten an den günstigen Preisen für Grundnahrungsmittel interessiert waren.402 So hielt Mühlmann beispielsweise 1969 fest, dass 95 Prozent der Kunden der Discounter der Mittelschicht angehörten.403 Die Unsicherheit des etablierten Einzelhandels gegenüber den neuen Wettbewerbern äußerte sich auch darin, dass der Inhalt dessen, was der Begriff „Discount“ dem Verbraucher versprach, zunehmend zum Thema wirtschaftspolitischer Diskussion gemacht wurde. Im Kern ging es darum, die Definition zu klären: Wann konnte ein Lebensmittelgeschäft tatsächlich als Discounter verstanden werden? Daraus entwickelte sich die konkrete Streitfrage, ob beim Eintrag eines Einzelhandelsunternehmens ins Handelsregister in der Firmenbezeichnung der Begriff „Discount“ verwendet werden dürfe. Die Gegner sprachen sich dagegen aus, da dies „vom Gesichtspunkt der Firmenwahrheit nach einiger Zeit zu beanstanden sei“, während die Befürworter betonten, dass Discount dem „Mann auf der Straße ein Begriff“ 402
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Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1967, S. 25, WWA S7/570. Vgl. auch die Verbraucherstudie: Gesellschaft der Marktforschung: Einkaufen in Hamburg. Ergebnisse einer Erhebung in ganz Hamburg und einer Sonderuntersuchung in den Bezirken Harburg, Wandsbeck und Hamburg-Nord, Band 2: Motiv-Studie über das Einkaufsverhalten, Hamburg 1971. Mühlmann 1969, S. 10.
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sei.404 Darüber hinaus übernahmen viele traditionelle Einzelhändler den Begriff in ihre eigene Verkaufspolitik, indem sie „Discount-Ecken“ eröffneten oder „Discount-Angebote“ offerierten.405 Auf diese Weise trugen sie dazu bei, den Discountmärkten die Eigenschaft als eigenständige Vertriebsform abzusprechen. Bereits auf der 11. Tagung der Studienstiftung „Im Grüene“, die sich 1962 dem Discounthaus widmete, konnten sich die Beteiligten nicht auf eine einheitliche Begriffsdefinition einigen. Es sei keine spezifische Betriebsform, sondern eine Kombination verschiedener Prinzipien des Massenvertriebs, die sich nicht wesentlich von anderen Geschäftsmethoden des Einzelhandels unterscheiden würde, so das Fazit. Der Gutachterausschuss für Wettbewerbsfragen beim DIHT kam zu dem gleichen Ergebnis.406 Jedoch beklagten die Discountunternehmer, dass sie im Ausschuss nicht vertreten waren: sie seien für den DIHT „zwar wettbewerbsfähig, aber nicht salonfähig.“407 Der Ausschuss habe mit seinen Formulierungen „eine Lawine falscher Vorstellungen und eine Flut von Wettbewerbsverstößen verursacht“ und somit seine Aufgabe verletzt „für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken.“408 Die Discountunternehmen selbst wollten sich als eigenständige Vertriebsform verstanden wissen, um sich gegenüber dem traditionellen Einzelhandel abzugrenzen und das Discount-Prinzip exklusiv für sich zu einzufordern. In der Einrichtung von „Discountecken“ in konventionellen Geschäften sahen sie den Versuch, „sich die Werbewirkung der Discounter zur Irreführung der Verbraucher zunutze zu machen.“409 Beide Seiten, Befürworter und Gegner, griffen in der komplexen Auseinandersetzung um die begriffliche und inhaltliche Bestimmung auf Argumente zurück, die gleichermaßen die Vorstellungen von 404
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Niederschrift über die Sitzung der Einzelhandelsdezernenten der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW (2.10.1962), S. 2, WWA K5/2631; DIHT, Sitzung Handelsausschuss, Aussprache zu Discount (24.1.1963), S. 9-11, WWA K5/2624. Zur Rechtsprechung: Oehler 1962, S. 39-46. Vgl. auch die Auseinandersetzung in diversen Akten, WWA, K3/2328. Cloppenburg, Ulf: Die deutschen Diskonthäuser, Basel 1965, S. 157; Edeka Dortmund eGmbH: Geschäftsbericht 1962, S. 9, WWA S7/578/1; „Discount-Mode mitmachen“, in: Handelsblatt, 5.11.1962. IHK Köln: Handelsrundschau, Sonderband, 7/1962, RWWA 1/399/6; Niederschrift über die Sitzung der Einzelhandelsdezernenten der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW (2.10.1962), WWA K5/2631; Oehler 1962, S. 3, 47f. Vgl. zur Diskussion ausführlich: Die Panel-Diskussionen in: Barnet 1962, S. 123-158. Der „Deutsche Industrie- und Handelstag“ e. V. und die „Discounthäuser“ (7.1.1963), S. 1, WWA K3/2328. Ebd., S. 1, 4. Ebd., S. 1, 3f.
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einem fairen Wettbewerb zwischen den Einzelhandelsunternehmen und von der Beziehung des Einzelhandels zum Konsumenten in Zweifel zogen. Insofern stellte die Kontroverse einen Kristallisationspunkt für die fundamentale Neuorientierung des Einzelhandels dar: Er musste seinen Platz neu finden zwischen den Koordinaten einer etablierten westdeutschen Massenkonsumgesellschaft, den absolut rationalisierten Prinzipien des Massenabsatzes und der zunehmenden Ambivalenz wettbewerblicher Freiheit im System der sozialen Marktwirtschaft. Fernab aller Streitigkeiten stellte die Fachliteratur sehr wohl DiscountUnternehmen als neuen Geschäftstyp heraus. Seit der Mitte der 1960er Jahre begannen immer mehr Lebensmittelgeschäfte dezidiert als Discounter zu agieren. Prominentestes Beispiel dafür war die Für-Sie-GmbH, eine 1961 auf Anregung des Großhändlers Hans Küppers gegründete freiwillige Discounthaus-Kette.410 Ausgehend von der Für-Sie-GmbH wurde 1962 der Verband Deutscher Discounthäuser e. V. ins Leben gerufen, dem im Gründungsjahr 170 Discounter mit 260 Läden beitraten. Er sollte „die wirtschaftlichen, fachlichen und sozialpolitischen Interessen der deutschen Discounthäuser und die berufliche Betreuung seiner Mitglieder vertreten.“411 Einen Sonderfall in der Entwicklung der bundesdeutschen Discounter stellten die „Aldi-Läden“ der Brüder Karl und Theodor Albrecht dar. Sie nahmen im Schatten der „Discount-Welle“ und abseits der öffentlichen Diskussion in den 1960er Jahren einen enormen Aufschwung. Während die meisten anderen Discounter und die Diskussion über sie häufig auf den USamerikanischen Kontext Bezug nahmen, hatten die Albrecht-Brüder seit den 1950er Jahren einen individuellen Verkaufsstil entwickelt.412 Sie selbst gaben an, den Begriff „Discount“ vermeiden zu wollen, um nicht mit den übrigen Läden dieser Art gleichgesetzt zu werden.413 Der Aufstieg der Albrechts begann 1946 mit einem Lebensmittelgeschäft, das sie von ihren Eltern über
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Cloppenburg 1965, S. 62-66; Oehler 1962, S. 24-28. Ungewöhnlich viele Betreiber der Discount-Märkte stammten aus dem Großhandelssektor: sie verfügten 1967 über 41 Prozent der Märkte, während 25 Prozent vom traditionellen Einzelhandel und 15 Prozent von speziell neu gegründeten Discountunternehmen geführt wurden. Oehler 1962, S. 28. Wilkens 1967, S. 70. Zur Arbeit und zum Selbstverständnis der Interessenvertretung auch: Der Discountbegriff, in: Discount-Informationen, Sonderausgabe, 12/1967, S. 17f. Vgl. Banken 2007, S. 134. Auch: Schenk, Hans-Otto: Discountgeschäft: Seine terminologische, logische und empirische Problematik, in: FfH-Mitteilungen, 8/9/1965, S. 3-5, hier S. 4f. Cloppenburg 1965, S. 44.
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nahmen. Daraus entwickelte sich im Laufe der 1950er Jahre ein Filialunternehmen mit Schwerpunkten im Ruhrgebiet, im Raum Köln und in Südwestdeutschland. Das Erfolgsrezept der Brüder war einfach: In den ersten Nachkriegsjahren führten sie ein kleines Warensortiment, um in die Eröffnung neuer Filialen investieren zu können.414 Entgegen erster Überlegungen blieben sie bei der geringen Artikelzahl. Das Sortiment umfasste circa 300400 schnell umschlagbare Artikel. Frischwaren gab es zumeist nicht und Getränke wurden nur in Einwegflaschen ausgegeben. Da die Kassiererinnen alle Preise auswendig konnten, ersparte man sich das Auszeichnen der Waren mit Preisen. Die Beschäftigten arbeiteten zum großen Teil halbtags.415 Ein ehemaliger Mitarbeiter resümierte in den 1990er Jahren: „Aus Not und notwendiger Sparsamkeit wurde Verschwendung vermieden. Es galt das Prinzip: Wenig ist besser als zuviel. Und man meinte damit Kapital, Personal, Räumlichkeiten. Resultat dieses „Notprogramms“ war schließlich das ALDIKonzept.“416
In den 1970er Jahren expandierten die ALDI-Brüder mit ihrem Verkaufskonzept auch in den USA, indem sie zunächst die Benner Tea Company (Iowa) erwarben.417 In den nachfolgenden Jahrzehnten dehnte ALDI, ebenso wie andere deutsche Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen, v. a. im Discount-Bereich, sein Filialnetz weltweit aus. Nach den Auseinandersetzungen der Anfangszeit zeichnete sich im Verlauf der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA eine wechselseitige Assimilation von traditionellem Einzelhandel und Discountern ab. Während letztere sich eine qualitativ hochwertigere Ausstattung, ein umfassenderes Sortiment u. a. mit Frischwaren und mehr Serviceleistungen aneigneten, bemühte sich der Lebensmittelhandel verstärkt um Rationalisierungsmaßnahmen. Auf diese Weise glichen sich auch die Preise stärker an.418 Gleichzeitig verlangsamte sich die Expansionsdynamik der 414 415
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Brandes, Dieter: Konsequent einfach. Die ALDI-Erfolgsstory, München 2001, S. 19. Albrecht: erfolgreicher Discount-Jongleur, in: Rewe-Echo, 15.1.1967; In der Bundesrepublik rollt wieder die Discount-Welle, in: Edeka-Rundschau, 4./11.8.1967; Tietz, Bruno: Der Diskonteinzelhandel in der Bundesrepublik, in: FfH-Mitteilungen, 11/1965, S. 2-5, hier S. 4. Brandes 2001, S. 23. Kacker 1988, S. 49. Aktuelle Streiflichter, in: Kurzmitteilungen des der Abteilung Handel des DIHT, 9/1962, S. 2, RWWA 20/2237/3; Bidlingmaier 1962, S. 175, 180; Die Expansion der Grossdiscounter und Verbrauchermärkte, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 2/1967, S. 4, RWWA 20/2237/6; Sagt, wo die Discounter sind…, in: Rewe-
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Discounter. Die Zahl der Discounter pendelt sich bis 1970 bei 1400 ein.419 Dabei zeigte sich die Schattenseite der aggressiven Preispolitik: Nur wenige Discounter der ersten Gründungswelle etablierten sich langfristig auf dem Markt. Außerdem begannen die Einzelhandelszusammenschlüsse, wie bereits im Fall der Supermärkte, selbst Discountgeschäfte zu eröffnen: seit Ende der 1960er Jahre gab es die „Disco-Märkte“ der Rewe, die Edeka führte 1967 das Konzept ein. Das regionale Filialunternehmen Tengelmann eröffnete die „Tenga-Läden“ sowie Anfang der 1970er Jahre die PLUS-Filialen.420 Vorreiter waren jedoch die Konsumgenossenschaften, die seit 1962 die „KONDI-Läden“ betrieben. In einer einfachen Ladenausstattung, die 70 DM pro m2 kostete, wurde eine doppelt so hohe Personalleistung wie in den Selbstbedienungsgeschäften erzielt. Die Preise lagen 15 Prozent unter dem Durchschnitt.421 An den KONDI-Läden zeigt sich aber auch, dass die Konsumgenossenschaften immer weiter von ihren ursprünglichen Prinzipien und Idealen abrückten, je mehr sie sich aus wirtschaftlich-unternehmerischen Gründen dem Wettbewerb anpassten: eine Rückvergütung gab es in den KONDI-Läden für die Genossenschaftsmitglieder nicht mehr.422 2.5 Der Verbrauchermarkt und die Aufweichung der Branchengrenzen Drei neue Vertriebsformen prägten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Entwicklung der bundesdeutschen Einzelhandelslandschaft: das Einkaufszentrum, das SB-Warenhaus und der Verbrauchermarkt. Während das Einkaufszentrum Einzelhandelsgeschäfte verschiedener Branchen und Dienstleistungsbetriebe kombinierte, dehnten die anderen beiden Geschäftstypen das Discount-Prinzips aus und lockten nicht nur mit niedrigen Preisen, sondern auch einem großen Sortiment, wobei sich das SB-Warenhaus auf Nicht-Lebensmittel spezialisierte. Deshalb wurden sie häufig als Discountwarenhäuser bezeichnet. Der Verbrauchermarkt stellte für die Rationalisierung im Lebensmitteleinzelhandel der 1960er Jahre eine letzte Ent 419 420
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Echo, 6/1965; Schenk, Hans-Otto: Die Assimilation der deutschen Discounter, in: Nachdruck aus FfH-Mitteilungen, 2/1965, WWA K5/2624. Für Sie Discount: Geschäftsbericht, Krefeld 1969/70, S. 3. Vgl. Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969; Die Expansion der Grossdiscounter und Verbrauchermärkte, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 2/1967, S. 4, RWWA 20/2237/6. Discount neben Selbstbedienungsläden, in: Handelsblatt, 7./8.9.1962; Kurzmitteilungen, 24.7.1962, BWA K1/3033; Oehler 1962, S. 24. Vgl. Judt 2001, S. 230; Prinz 2003, S. 591.
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wicklungsstufe dar. Die Katalogkommission für die handels- und absatzwirtschaftliche Forschung beim Bundesministerium für Wirtschaft definierte den Verbrauchermarkt 1970 folgendermaßen: „Verbrauchermärkte – auch als Selbstbedienungswarenhäuser bezeichnet – sind Einzelhandelsbetriebe, die auf weiträumiger Verkaufsfläche (mindestens 1000 m2) ein warenhausähnliches Sortiment einschließlich Nahrungs- und Genußmittel vorwiegend in Selbstbedienung anbieten. Sie befinden sich zumeist in Stadtrandlagen und verfügen über umfangreiche Kundenparkplätze.“423
Als erster Ansatz eines Verbrauchermarktes kann der 1963 in Bochum eröffnete „Ratio-Großmarkt“ gesehen werden. Der durchaus erfolgreiche Versuch eines Lebensmittel-Großhändlers, Gebrauchsgüter an Endverbraucher durch so genannte „Bezugsscheine“ zu verkaufen, löste im Einzelhandel große Empörung aus. Denn der Großhändler zahlte dem Einzelhändler, dessen Kunden bei ihm eingekauft hatten, eine Provision von vier Prozent der Verbraucherumsätze. Dieses Vorgehen wurde allerdings relativ schnell als Verstoß gegen die Zugabeverordnung richterlich verboten.424 Der eigentliche Durchbruch des Verbrauchermarktes zeichnete sich in den Jahren 1967 und 1968 ab. Von Ende 1967 bis zum Herbst 1968 stieg ihre Zahl von 180 auf 390.425 Dabei wuchs ihr Anteil am Einzelhandelsumsatz gemeinsam mit den SB-Warenhäusern bis 1969 auf fünf Prozent, ihre Verkaufsfläche betrug 2,1 Millionen m2.426 Einige Zeitgenossen vertraten die Meinung, dass der freiwillige „Expansionsstopp“ der Großunternehmen den Erfolg der Verbrauchermärkte ermöglicht hatte, da sie Marktlücken nutzten, in denen sich die v. a. die Warenhäuser aufgrund des Abkommens zurückhielten.427 Impulse kamen sicher auch vom zeitweiligen Konjunkturabschwung bis
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Bundesministerium für Wirtschaft: Katalog E: Begriffsdefinitionen aus der Handelsund Absatzwirtschaft, Veröffentlichungen der Katalogkommission für die Handels- und Absatzwirtschaftliche Forschung beim Bundesministerium für Wirtschaft, 10/1970. RWWA 20/2268/3. Ausführlich zur Funktionsweise: Deutsch-Niederländische Handelskammer 1970; Schulte, Egon; Rougk, Hans-Georg: Der Verbrauchermarkt, Bielefeld 1969. Jahresrückblick 1964, in: FfH-Mitteilungen, 1/1965, S. 1-6, hier S. 2. Auch: Eglau 1971, S. 191f.; Falk 1965, S. 36-38. Deutsch-Niederländische Handelskammer: Verbrauchermärkte in der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 8. DIHT: Bericht 1969, S. 106f., WWA S7/562. Expansionsbeschränkung und Verbrauchermärkte (ca. 1968), S. 4, BAK B102/139227.
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1968 und der damit verbundenen Sensibilisierung des Preisbewusstseins der Verbraucher.428 Den wichtigsten Trend, den die Verbrauchermärkte markierten, war die zunehmende Bedeutung von Nicht-Lebensmitteln im Warenangebot von Lebensmittelgeschäften. Walter Britsch vom Bundesministerium für Wirtschaft prognostizierte diese Entwicklung bereits Mitte der 1960er Jahre als Übergang vom „Branchen- zum Bedarfssortiment“.429 Mit der Ausdehnung des Sortiments auf über 20.000 Artikel auf einer Verkaufsfläche von häufig über 1000 m2 rückte der „massierte“ Einkauf immer stärker ins Zentrum des Konsumverhaltens. Die umfassende Motorisierung und die entsprechende Ansiedlung der Verbrauchermärkte mit großen Parkflächen außerhalb der Städte waren Teil dieser Entwicklung. Dadurch bildeten die neuen Märkte gemeinsam mit den Einkaufszentren eine ernsthafte Bedrohung für die innerstädtischen Einzelhandelsgeschäfte.430 Außerdem zeichneten sich die Verbrauchermärkte durch die Integration einer Vielzahl von ServiceLeistungen wie Restaurants und Imbisse, Tankstellen, Friseure, Schlüsseldienste u. v. m. in die Geschäftsräume aus.431 Wie bei den Einkaufszentren sollte der Großeinkauf zu einem Familienerlebnis werden, so der Anspruch. Dies war sicherlich auch ein Grund dafür, dass die Märkte zunehmend von finanzstarken Unternehmern betrieben wurden, die ursprünglich nicht aus dem Einzelhandel, sondern aus dem Großhandel oder sogar aus Industrieunternehmen stammten. Ende der 1950er hatte es im Ruhrgebiet bereits einige vereinzelte Fälle gegeben, in denen Industrieunternehmen Supermärkte für ihre Arbeiter eröffnet hatten, die der traditionelle Einzelhandel als bedrohlich wahrnahm. Prominentestes Beispiel waren die Konsuman-
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Vgl. Hardach 2000, S. 213. Wesentliches Ergebnis der Sitzung des Länderausschusses „Handel“ am 15. Juni 1965 im Bundesministerium für Wirtschaft (20.7.1965), S. 3, BAK B102/225588. Auch: DIHT: Bericht 1965, S. 73, WWA S7/562. DIHT: Bericht 1967, S. 115, WWA S7/562; Ergebnisniederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten am 23. und 24. Mai 1967 in Hannover (23./24.5.1967), S. 1f., RWWA 181/1564/1; Landesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Grossbetriebe des Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen: Informationen über Stadtverkehr und Städtebau Nr. 66, 18.10.1968, S. 1, RWWA 181/943/2; Nieschlag, Robert: Welche Lehren lassen sich aus der Entwicklung der Verbrauchermärkte ziehen, in: Der neue Weg, 10/1969; Skript von plaza Marketing. Zusammenfassung der Referate im Rahmen des DIHTSeminars „Standortplanung“ (22.4.1971), S. 9-12, RWWA 181/150/1. Vgl. Ditt 2003, S. 341. Auch: Institut für Selbstbedienung: SB in Zahlen, Köln 1968/69, S. 50f.
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stalten von Krupp in Essen. Sie eröffneten 1958 den größten Supermarkt der Stadt. Natürlich ging das Aufkommen der ersten Verbrauchermärkte mit den bereits bekannten Vorwürfen gegenüber den neuen Wettbewerbern einher. Die großdimensionierte Anlage in Bezug auf die Verkaufs- und Parkfläche und das umfassende Sortiment stellten ebenso wie die Discount-Preise zentrale Kritikpunkte dar. Sie brachten die Auseinandersetzung zwischen Großunternehmen und kleinen mittelständischen Betrieben erneut auf die Tagesordnung. Deshalb lehnten die freiwilligen Zusammenschlüsse die Eröffnung eigener Verbrauchermärkte zunächst ab und legten ihren Schwerpunkt auf den „Ausbau gesunder mittelständischer Existenzen“.432 Aber auch die Warenhäuser waren von der Verkaufspolitik der Verbrauchermärkte betroffen: beide besaßen ein großes Sortiment, aber die neuen Märkte boten es zu viel günstigeren Preisen an.433 Nach anfänglichen Abwehrreaktionen ging der Lebensmitteleinzelhandel dazu über, eigene Verbrauchermärkte und SBWarenhäuser zu eröffnen, wie den „Allkauf-Verbrauchermarkt“ der Rewe, den „DELTA-Markt“ der Edeka, den „coop-Markt“ der Konsumgenossenschaften oder das „S-Zentrum“ der Cornelius-Stüssgen-AG.434 Anhand des letztgenannten Unternehmens lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie die Lebensmitteleinzelhändler mit den neuen Wettbewerbsanforderungen umgingen. Der Verkauf von Nicht-Lebensmitteln als unverzichtbarem Bestandteil des Warenangebotes stellte das Unternehmen nicht nur vor neue 432
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Auszug aus dem Geschäftsbericht 1963/64 von Dr. Kurt Berendt zur ordentlichen Gesellschaftsversammlung der Handelshof SPAR GmbH am 25. und 26.6.1964 (25./26.6.1964), S. 4, Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66, Spar-Archiv; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1967, S. 25, WWA S7/570. Als sich das ISB mit der Erforschung des Phänomens Verbrauchermarkt beschäftigte, trat die Interessenvertretung der Warenhäuser, die BAG, aus dem Institut aus. Kaufhof erklärte im Nachgang allerdings, dass man ausgetreten sei, weil die Probleme der Selbstbedienung grundlegend gelöst seien und ihnen die neuen Aufgaben des ISB wenig hilfreich seien. Institut für Selbstbedienung ohne die Warenhäuser, in: Der neue Weg 2/1969. Edeka forciert Gründung von eigenen Verbrauchermärkten, in: VerbrauchermarktInformationen, 3/1971; Groka-Angebot großstädtischer Prägung, in: Rewe-Echo, 10/1971; Gute Ware preiswert, in: Rewe-Echo, 9/1970; Für Sie Discount: Geschäftsbericht, Krefeld 1969/70, S. 1; Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm: Bericht 1966, S. 2, WWA S7/569/1; Protokoll über die Außerordentliche Gesellschafterversammlung und Arbeitstagung der Handelshof SPAR GmbH am 5. und 6.September 1967 in Frankfurt a. M. (5./6.9.1967), S. 2, Die deutsche Spar in Protokollen 1967-77, Gesellschaftsversammlungen Spar Handelsgesellschaft, Spar-Archiv; VerbrauchermarktKategorien der Edeka, in: FfH-Mitteilungen, 1/1968, S. 7.
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finanzielle, materielle und organisatorische Anforderungen, sondern verlangte eine Vielzahl von neuem Wissen und neuen Kompetenzen.435 Mit den potentiell größeren Absatzmöglichkeiten war also auch eine Reihe von Risiken verbunden. Deshalb gründete die Cornelius Stüssgen AG mit anderen regionalen Filialunternehmen die Kaufpark GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie bündelte zentral die verschiedenen Aufgaben für die Vorbereitung des Verkaufs von Nicht-Lebensmitteln, während die örtlichen Filialbetriebe weiterhin selbst ihre Lebensmittelabteilungen führten Da der erhoffte Erfolg jedoch ausblieb, organisierten die Einzelhandelsunternehmen ihre NonFood-Abteilungen ab 1971 wieder eigenständig.436 Der Verbrauchermarkt, der in jeweils extremer Ausprägung die Warenfülle der Supermärkte mit der Niedrigpreis-Politik der Discounter verband, bildete den vorläufigen Schlusspunkt der in den 1950er Jahren angestoßenen Ausdifferenzierung der Vertriebsformen, die auf Selbstbedienung, den damit einhergehenden Rationalisierungsmöglichkeiten und anderen Prinzipien des Massenabsatzes basierten. Neue Innovationen erreichten den Einzelhandel erst spät in den 1990er Jahren – mit dem Aufkommen des Internetshoppings. Mit den Neuerungen im Bereich des Verkaufs waren auch die Unternehmensstrukturen immer komplexer geworden. Die einzelnen Geschäftstypen erforderten neue Problemlösungen und generierten immer neue Aufgabenbereiche. Darüber hinaus stellte der gleichzeitige Betrieb von Selbstbedienungsgeschäften, Supermärkten, Discountern und Discountwarenhäusern durch ein Unternehmen völlig neue Anforderungen. Im nachfolgenden Abschnitt sollen überblicksartig noch einmal die groben Linien der sukzessiven Entwicklung einer differenzierten Vertriebslandschaft mit verschiedenen Verkaufsformen nachgezeichnet werden.
3. Zusammenfassung: Die Diversifizierung der Vertriebsformen auf dem Weg zur bundesdeutschen Massenkonsumgesellschaft Von der Eröffnung des ersten westdeutschen Lebensmittelgeschäftes in Selbstbedienung bis zur flächendeckenden Verbreitung der neuen Verkaufsform vergingen fast zehn Jahre. Kein Wunder, stellte die Selbstbedienung doch einen grundsätzlichen Bruch mit der Tradition des Bedienungsprinzips im Lebensmitteleinzelhandel dar. Eng angebunden war die Rationalisierung des Vertriebs in den 1950er Jahren an die umfassende sozioökonomische
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Mc Creary 1964, S. 122. Berger 1972, S. 36.
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und politische Neuorientierung der Bundesrepublik Deutschland. Mit der erfolgreichen Akzeptanz der Selbstbedienung durch die breite Masse der Einzelhändler und Konsumenten gegen Ende des ersten Nachkriegsjahrzehnts setzte parallel die Weiterentwicklung des Prinzips in den Großraumläden und in den Supermärkten ein. Auch sie wurden vom Einzelhandel als Innovationen im Verkaufswesen begriffen, beruhten aber auf dem bereits bestehenden Verkaufssystem und entfalteten verschiedene Potenziale der Rationalisierung in Zusammenhang mit der Vielfalt und Fülle des Warenangebotes. Fünf Jahre nach Eröffnung des ersten Supermarktes durch Herbert Eklöh traten die Discounter als weitere neue Vertriebsform im bundesdeutschen Lebensmitteleinzelhandel auf. Sie galten ebenfalls als innovative Wettbewerber, die das Prinzip der totalen Selbstbedienung zugunsten möglichst niedriger Kosten und Preise umsetzten. Wenige Jahre später stellten die Verbrauchermärkte mit der Synthese aus Warenfülle und DiscountPreisen eine neuartige Herausforderung für den Einzelhandel dar. Anfang der 1970er Jahre wurden schließlich neun Zehntel des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel durch die Selbstbedienung getätigt.437 So zusammengefasst, klingt die Entwicklung wie ein teleologischer Prozess, der auf ein immer billigeres, immer schnelleres Verkaufen von immer mehr Waren hinauslief. Eine derartige Interpretation würde aber die Wirksamkeit des Innovationsprozesses unterschätzen. Seine Besonderheit lag nicht in der Verdrängung alter Verkaufsformen durch immer neue Alternativen, sondern in der sukzessiven Pluralisierung der Vertriebslandschaft. Alle genannten Geschäftstypen bestehen bis heute nebeneinander und prägen auf unterschiedliche Weise die Angebotsstruktur im Lebensmitteleinzelhandel. Das differenzierte Spektrum verschiedener Geschäftstypen, das sich gegen Ende der 1960er Jahre herausbildete, zeugt davon, dass durch die westdeutschen Einzelhandelsunternehmer ein Prozess der aktiven und kreativen Anpassung der Selbstbedienung an die lokalen Besonderheiten stattfand. Daran wird zum einen deutlich, dass sich kein US-amerikanisches Modell von Selbstbedienung oder Supermarkt durchgesetzt hat, sondern dass die bundesdeutsche Einzelhandelslandschaft eine hybride Konstruktion aus Elementen US-amerikanischer Vorbilder, europäischer und nationaler bzw. regionaler Vorstellungen, Rahmenbedingungen und Handlungsstrategien darstellte. Zum anderen erweist sich damit eine klare entwicklungsgeschichtlich wertende Einteilung in alte und neue, moderne und traditionelle, bessere und schlechtere Verkaufsformen als nicht zweckmäßig. Die Be
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Batzer, Geml, Greipl 1971, S. 45.
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mühungen der Unternehmen, über ein möglichst breites Angebot an Einkaufsstätten zu verfügen, äußerte sich in den so genannten „Mischstrategien“, die über den Verkauf hinaus weitreichende Konsequenzen für andere betriebliche Ebenen der Einzelhandelsfirmen hatten. Mit der mehrgleisigen Vertriebspolitik korrelierte eine Zunahme der Unternehmensgröße, d. h. der Versuch mehrere Vertriebswege gleichzeitig anzubieten, führte im Lebensmitteleinzelhandel zu einem Anstieg der Konzentration von Marktanteilen. Gleichzeitig zwang der harte Wettbewerb zu Selektionsmaßnahmen innerhalb der Unternehmen. Unrentable Geschäfte konnten auch in den freiwilligen Zusammenschlüssen nicht mehr gehalten werden und es kam zur Entwicklung bestimmter Mindestanforderungen hinsichtlich des Umsatzes und der Größe, die die Mitglieder erfüllen mussten.438 Der Versuch durch die „Diversifikation der Betriebswege“439 einen möglichst großen Marktanteil zu erlangen, war gleichzeitig ein Spiegelbild der wichtigsten Entwicklung der Massenkonsumgesellschaft in den 1960er Jahren: die Differenzierung und Pluralisierung der Lebensformen und der damit verbundenen Konsummuster.440 Die Spar äußerte sich 1970 beispielhaft zu dieser neuen Problemstellung:
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„Massensterben“ im Einzelhandel?, in: IHK Münster: IHK aktuell, 2.7.1974, RWWA 181/429/2; Henning, Eleonore: Das Problem der adäquaten Qualifikation des mittelständischen Unternehmers im Einzelhandel, Köln 1971, S. 12; Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm: Bericht 1966, S. 2, WWA S7/569/1; Nieschlag, Robert: Der Weg der Freiwilligen Ketten, in: Der neue Weg, 11/1969; Weniger Betriebe, aber mehr Verkaufsfläche, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 3/1973, S. 7, RWWA 20/2238/1. So legte z. B. die SPAR zunächst fest, dass ab 1973 nur noch Einzelhandelsgeschäfte mit mindestens 300.000 DM Umsatz pro Jahr oder einem minimalen Marktanteil von 35 Prozent am Standort SPAR-Einzelhändler sein sollten. Protokoll über die Zusammenkunft der Delegierten des SPAR-Einzelhandels am Montag, dem 8.11.1971 in München (11/1971), in: Die Deutsche SPAR in Protokollen 1967-77, S. 6, SPAR-Archiv. Vgl. auch: Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1968, S. 7, WWA S7/570. Der Arbeitsbericht des DIHT stellt aber rückblickend für die 1960er Jahre fest, dass die Hälfte der Geschäftsschließungen im Einzelhandel auf persönliche Gründe der Inhaber zurückzuführen seien, darunter v. a. Alter oder Krankheit. DIHT: Bericht 1970, S. 112, WWA S7/562; Wesentliches Ergebnis der Sitzung des Länderausschusses „Handel“ am 15, Juni 1965 im Bundesministerium für Wirtschaft (20.7.1965), S. 4, BAK B102/225588. Unruhe schafft noch immer Fortschritt, in: Der neue Weg, 2/1970. Vgl. auch: Co op: Ladentypentabelle für Neuinvestitionen, 21.5.1968, RWWA 181/405/2. Thomas, Erwin: Bedeutung und Strukturwandel des Detailhandels für Konsumgüter (2.1.1973), S. 1, RWWA 181/383/3. In der Forschung: Ruppert 2000, S. 752. Vgl. zur Anpassung der Unternehmenspolitik an eine komplexer werdende Umwelt: Walsh 1993, S. 13f.
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„Für uns kann die Lösung nur heißen: Diversifikation der Betriebswege. D. h., wir müssen jede nur mögliche und für uns praktikable Vertriebsform aktiv zu betreiben versuchen. Also neben der Pflege des traditionellen LebensmitteleinzelhandelsGeschäfts, das wir in zukunftssichere, rationelle und ordentliche Größenordnungen bringen müßten –, dürfen wir uns nicht scheuen, auch in Verbrauchermärkten, Einkaufszentren und anderen, durch das schnell wandelnde Verbraucherverhalten möglicherweise sich noch eröffnenden Vertriebswegen aktiv zu werden. Nur so können wir uns unseren Marktanteil sichern und weiter ausbauen.“441
Die Geschäftstypen zielten auf unterschiedliche Muster des Einkaufsverhaltens für die verschiedene sozioökonomische und -kulturelle Parameter wie Geschlecht, Alter, Einkommen, Familienstand, regionale Zugehörigkeit, aber auch persönliche Interessen eine Rolle spielten. Das Wissen um diese Kriterien wurde mit dem Übergang vom klassenspezifischen Konsumverhalten zum Massenkonsum immer wichtiger für den unternehmerischen Erfolg. Die neuen Mechanismen der Differenzierung bedingten eine verstärkte Polarisierung des Verkaufens und Einkaufens: hier Masse (billige Preise), da Klasse (Qualität). Während die Discountmärkte den schnellen, bequemen und preisgünstigen Einkauf ermöglichten, boten kleine NachbarschaftsSupermärkte – ebenso wie die Fachgeschäfte – qualitativ hochwertige Waren und umfassende Dienstleistungen.442 Als „Selbstbedienung und Service im Spannungsfeld“ bezeichnete Theo Werdin 1970 diese Konstellation.443 Der bundesdeutsche Verbraucher verlangte jedoch die „Quadratur des Kreises“: nicht Masse oder Klasse, sondern Masse und Klasse. Laut einer Studie der OECD waren sowohl die Verschärfung des Wettbewerbs auf Grundlage des Preises als auch der Qualität in den 1960er Jahren Ausdruck wachsender Mobilität und zunehmender Kaufkraft.444 Dabei fanden sich preisbewusste Verbraucher in allen Einkommensklassen.445 Insofern behielt der selbständige Einzelhandel letztlich Recht damit, dass der bundesdeutsche Kunde nie ganz auf individuellen Service und Qualität verzichten wolle. 441
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Edeka: Auf vier Wegen zum Kunden, in: Handelsblatt, 11.12.1967; Unruhe schafft noch immer Fortschritt, in: Der neue Weg, 2/1970. Auch: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1966, S. 7, WWA S7/577; Rewe (Zentralorganisation): Jahresbericht 1973, S. 46, WWA S7/570. Vgl. Carl Gabler Werbegesellschaft mbH 1969, S. 119f., 123; Henning 1971, S. 11; Priess, Friedrich: Wer deckt den Massenbedarf?, in: Rationeller Handel, 11/1964; Rewe Zentralorganisation: Geschäftsbericht 1973, S. 36, WWA S7/570. Engagement in Kreativität, in: Der neue Weg, 10/1970. OECD 1973, S. 24. Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1973, S. 41, WWA S7/570.
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Anfang der 1970er Jahre fasste eine Marketing-Firma diese Entwicklung pointiert zusammen: „Vor dem Hintergrund der Prognose, daß das Mehr an Kaufkraft weitgehend zur Anschaffung individueller und persönlicher Bedarfsgüter Verwendung findet, zeichnen sich immer deutlichere Tendenzen zur Herausbildung zweier grundsätzlich wesensverschiedener Teilmärkte ab: auf der einen Seite ein ,Massenmarkt‘ mit weitgehend gleichartigen Waren und Leistungen, Massengütern, die keinen Geltungsnutzen vermitteln können, bzw. wo er schon abgebraucht ist (Mode!)…Diesem Markt der Massenwaren von durchaus hoher substantieller, technischer Qualität steht der Markt der Güter hoher sozialer Qualität gegenüber. Er umfaßt also gerade die als Statussymbole geltenden Bestandteile des Lebensstandards. […] Die polaren Ausprägungen dieses geänderten Einkaufsverhaltens lassen sich mit den Begriffen: Rationalität des Einkaufs auf der einen und Emotionalität des Einkaufs auf der anderen Seite beschreiben.“446
Diese Aussagen verdeutlichen, dass sich in der Parallelität von massierten und qualitätsorientierten Strukturen des Angebotes und der Nachfrage zwei bis heute zentralen Entscheidungskriterien in der Massenkonsumgesellschaft ausdrücken: Rationalität und Emotionalität. Diese bewusst und unbewusst geprägten Entscheidungsmuster liegen dem Einkaufsverhalten zugrunde und werden mit verschiedener Akzentsetzung von den unterschiedlichen Verkaufsformen angesprochen. Der in den 1950er und 1960er Jahren mit der Etablierung der Massenkonsumgesellschaft einsetzende Trend zur Pluralisierung der Lebensformen und des Konsumverhaltens, zum steigenden Lebensstandard in der Wohlstandsgesellschaft und zur Ausbildung neuer sozialer Ungleichheiten schlugen sich in einem komplexen Wechselspiel zwischen emotional und rational fundierten Komponenten des Einkaufsverhaltens nieder, auf das der Lebensmitteleinzelhandel mit der Entwicklung eines diversifizierten Vertriebswesens aus den parallel bestehenden Verkaufsformen des Selbstbedienungsgeschäftes, des Supermarktes, des Discounters und des Verbrauchermarktes reagierte.
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Skript von plaza Marketing: Verbrauchermärkte, SB-Warenhäuser, Shopping-Center – neue Vertriebsformen im Leistungsgefüge des Einzelhandels. System und Prozeß der Standortplanung für plaza – SB – Städte. Zusammenfassung der Referate im Rahmen des DIHT-Seminars „Standortplanung“ am 22. April 1971 (22.4.1971), S. 6f., RWWA 181/150/1.
V. Der Wandel von Wissensträgern und Wissensbeständen in der Konsumpraxis 1. Der Wandel von Arbeit Die Einführung der Selbstbedienung führte zu zahlreichen Veränderungen bei der Rolle der Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel. Sie erhielt eine deutliche Modifikation: einige bisher alltägliche Tätigkeiten im Laden wurden neu strukturiert, andere wurden aus dem Geschäft ausgegliedert.1 Was war charakteristisch für den Wandel der Arbeit im Einzelhandel? Nicht nur auf den Arbeitsalltag, auch auf die Aufgabenfelder der Beschäftigten an sich und die Aufgabenverteilung zwischen Handel und Produktion wirkten sich die in der Selbstbedienung implizierten Rationalisierungsmaßnahmen aus. In diesem Zusammenhang fand während der 1950er und 1960er Jahre auch eine Umstrukturierung des Aus- und Weiterbildungssystems im Einzelhandel statt. Nicht zuletzt beeinflusste der Wandel der Verkaufsformen stark die sozioökonomische Stellung der Einzelhandelsunternehmer und beschäftigten sowie deren berufliches, aber auch gesellschaftliches Selbstverständnis. Im nachfolgenden Kapitel sollen diese Aspekte als prägende Faktoren für den Wandel von Arbeit im Zuge der Einführung der Vertriebsinnovationen im westdeutschen Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre herausgearbeitet werden. Die Rationalisierungsmöglichkeiten der Selbstbedienung auszuschöpfen, bedeutete v. a., die Arbeitsteilung organisatorisch umzustrukturieren. Durch den Wandel des Verhältnisses zwischen Verkäufer und Käufer gestalteten sich der Arbeitsrhythmus und die Arbeitsinhalte des Personals neu. Im Bedienungsladen bestand die Haupttätigkeit des Einzelhändlers in der direkten Verkaufshandlung, bei der er in einer Vielzahl von Schritten die Ware direkt an den Kunden weitergab. An diese Stelle trat im Selbstbedienungsgeschäft die unvermittelte und selbständige Auswahl der Ware durch den Kunden. Statt direkter Teil dieses so genannten Kontaktkaufs zu sein, war es nun Aufgabe des Einzelhändlers, diesen indirekt positiv zu beeinflussen. Treichel beschrieb diesen Funktionswandel folgendermaßen: „Der Verkäufer wird gewißermaßen [sic!] vom Akteur (Bedienungsladen) zum Regisseur (SBLaden) des Kaufgeschehens.“2 Die Position des Akteurs nahm nun der Konsument selbst ein. Durch diese Rollenverschiebung änderte sich die Art 1 2
Vgl. Priess 1962, S. 194. Treichel 1965, S. 13. Vgl. zur Aufgliederung der Funktionen: Über die Verwaltung von Selbstbedienungsläden, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 15.7.1957.
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und Weise der Kommunikation im Selbstbedienungsladen. An die Stelle der persönlichen Verständigung zwischen dem Verkäufer und dem Kunden trat die visuelle und haptische Kommunikation des Konsumenten mit dem Produkt.3 Statt eines Verkaufsgesprächs brauchte es nun vielmehr eine Verkaufsstrategie, die bereits vor dem Betreten des Ladens durch den Kunden entwickelt werden musste.4 Die einzelnen, damit verbundenen Arbeitsschritte der Beschäftigten zeichneten sich durch eine Spezialisierung der Aufgabenfelder aus. Der Verkaufsvorgang wurde in die Tätigkeiten Lagerhaltung, Warenvorbereitung und -verpackung, Arrangement und Bewerbung der Waren, Sortimentsgestaltung und Verkaufspsychologie, Kassieren und Abschluss des Verkaufsvorgangs aufgegliedert. Aus der stärkeren Differenzierung der Tätigkeitsbereiche ergab sich auch eine Polarisierung zwischen vorwiegend männlich dominierten kaufmännisch bzw. unternehmerisch betonten Funktionen und eher auf den Verkauf ausgerichteten, weiblich konnotierten Aufgaben. Eng rückgekoppelt war diese Entwicklung an die sozialen und wirtschaftlichen Beschäftigungsbedingungen im Einzelhandelssektor der Zeit vor 1945. Einerseits prägte dessen Arbeitswelt schon immer die Unterscheidung eines kaufmännischen und eines verkäuferischen Arbeitsbereiches. Während der Kaufmann und zum Teil seine im Familienunternehmen beschäftigten Angehörigen häufig beide Funktionen ausübten, verteilten sich diese Aufgabenfelder in größeren, mehrstufigen Unternehmen zwischen dem Verkaufspersonal und der jeweiligen Geschäftsleitung. Andererseits überformte eine Geschlechterhierarchie diese funktionale Gliederung. Während Männer meist die Führungsaufgaben erledigten, nahmen Frauen vorwiegend die verkäuferischen Tätigkeiten wahr, die mit typisch weiblichen Eigenschaften wie Geduld und Empathie sowie weiblicher kommunikativer Kompetenz verknüpft waren.5 Die „Familienbetriebs- und Führerideologie“ des Nationalsozialismus hatte diese Differenzierung verfestigt und gefördert.6 Mit der funktionalen Aufteilung war gleichzeitig auch ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten von weiblichen und männlichen Beschäftigten im Einzelhandel verbunden. So hält Spiekermann für den Klein 3 4 5
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Vgl. Brewer, Porter 1993, S. 6; Tanner 1997, S. 607. Pelster 1962, S. 188; Riethmüller 1953, S. 45. Vgl. Benson 1986, S. 5; Humphery 1998, S. 91; Puck 1995, S. 63; Wald 1985, S. 66, 73. Grundsätzlich zu diesem Problem in der Arbeitswelt: Budde, Gunilla-Friederike: Einleitung: Zwei Welten? Frauenerwerbsarbeit im deutsch-deutschen Vergleich, in: Ebd. (Hg.): Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 7-18, hier S. 8. Wald 1985, S. 73.
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handel um die Jahrhundertwende fest, dass 80 Prozent der Männer eine Karriere vom Lehrling bis zum selbständigen Kleinhändler offen stand, während der Frauenanteil unter den Lehrlingen überhaupt nur bei 7,1 Prozent lag.7 Zur Benachteiligung der weiblichen Arbeitskräfte zählten auch die geringeren Verdienstmöglichkeiten bei gleicher Tätigkeit wie ihre männlichen Kollegen. Mit der Einführung der neuen Verkaufsformen ab den 1950er Jahren wurde die Tradition einer qualitativ und geschlechtlich ungleichmäßigen Strukturierung der Arbeitswelt im Einzelhandel bestätigt und teils sogar verstärkt. Die differenzierte Arbeitsteilung korrelierte mit einer Polarisierung zwischen der Höherqualifizierung und der Niedrigqualifizierung bestimmter Tätigkeiten.8 Zwar wurde in der Anfangszeit der Selbstbedienung immer wieder betont, dass die Anforderungen an Ladenleitung und Verkaufspersonal in den neuen Läden gleichermaßen gestiegen seien, allerdings zeigt die längerfristige Perspektive sehr unterschiedlich gestaltete Lernprozesse.9 Der Einzelhandelsbetrieb kann in diesem Zusammenhang als „sozialer Kosmos“ verstanden werden, der sowohl durch „unterschiedliche Formen der sozialen Praxis“ als auch durch den differenzierten Verlauf gesellschaftlicher „Klassenlinien“ gekennzeichnet war.10 Der sehr umfassende Arbeitsbereich der Verkäufer erfuhr mit der Selbstbedienung eine Begrenzung auf spezifische, schmal zugeschnittene Aufgabenfelder, wie das Kassieren, die Betreuung bestimmter Warenabteilungen, das Einräumen von Regalen oder die Vorbereitung der Waren vor dem Verkauf. An die Stelle der „Allround-Verkäuferinnen“ traten Spezialkräfte.11 Für viele ihrer Tätigkeiten war keine besondere Ausbildung notwendig, so dass verstärkt unausgebildetes Personal zum Einsatz kam. Des
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Spiekermann 1999, S. 88. Auch: Adams, Carole Elizabeth: Women clerks in Wilhelmine Germany. Issues of class and gender, Cambridge, New York 1988, S. 131; Hausen, Karin: Frauenerwerbstätigkeit und erwerbstätige Frauen. Anmerkungen zur historischen Forschung, in: Budde, Gunilla-Friederike (Hg.): Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 19-45, hier S. 24. In Zukunft noch konsequentere Selbstbedienung notwendig, in: Edeka-Rundschau, 1./8.3.1963; OEEC 1973, S. 25. Baecker 1952, S. 57; Nieschlag 1962, S. 513; Pelster 1962, S. 187f., 193; Über die Verwaltung von Selbstbedienungsläden, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 15.7.1957. Welskopp 2004, S. 276. Auch: Benson 1986, S. 283. ZdK: Protokoll Sitzung Gesamtvorstand des ZdK (18.1.1960), S. 7, FfZ 18-6, 5.1.3. Auch: Hisam 1964, S. 7. Brand gab 1963 an, dass in einem US-amerikanischen Supermarkt zwischen 200 verschiedenen Job-Klassifikationen unterschieden werden kann. Brand 1963, S. 1. In der Forschung vgl. Puck 1995, S. 58; Winter 2005, S. 40.
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sen geringere Bezahlung sparte Kosten.12 Puck hat in einer Studie gezeigt, dass die bereits im Einzelhandel beschäftigten Verkäuferinnen diese Spezialisierung in der Übergangsphase als De-Qualifizierung empfanden. Sie klagten über die Eintönigkeit der Beschäftigung, den mangelnden sozialen Kontakt, die fehlende Kommunikation mit den Kunden sowie die geringe Bewegungsfreiheit durch klar abgesteckte Funktionsabläufe. In diesem Zusammenhang zeichnete sich auch eine Entwertung des zuvor so zentralen Wissens über die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse der individuell bedienten Kundschaft ab.13 Trotz der gefühlten Nachteile ist allerdings anhand der Quellen kein nennenswerter Widerstand der Beschäftigten im Einzelhandel gegen die Einführung der Vertriebsinnovationen zu erkennen. Da die Umstrukturierung durch die Selbstbedienung die Kernaufgaben des Verkaufspersonals betraf, wäre – laut der Forschung – durchaus Protest von Seiten der Arbeitnehmer zu erwarten gewesen. Allerdings kam es weder durch die Beschäftigten selbst noch von deren gewerkschaftlichen Vertretungen zu entscheidenden Aktionen gegen den Wandel. Bedenken gegenüber einer Automatisierung der Verkaufsarbeit blieben eher auf einer unkonkreten Ebene. Vielmehr erhoffte man sich von der Selbstbedienung eine Verbesserung der Bedingungen für die Angestellten.14 Die größeren, helleren und hygienisch gestalteten Ladenräume versprachen eine bessere Arbeitsatmosphäre.15 Ab Mitte der 1950er Jahre drängte die Gewerkschaft Banken, Handel und Versicherungen auf die bessere Bezahlung der Verkäuferinnen in den Großbetrieben des Einzelhandels, die so von den höheren Umsatzleistungen in den Läden profitieren sollten.16 Bei der Einführung der Teilzeitarbeit in den 1950er und 1960er Jahren nahm der Einzelhandel eine führende Rolle ein. Denn die räumliche und 12
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In Zukunft noch konsequentere Selbstbedienung notwendig, in: Edeka-Rundschau, 1./8.3.1963; Schreiterer 1951, S. 16. Auch: Ditt 2003, S. 350; Humphery 1998, S. 89. Puck 1995, S. 94, 106. Auch: Humphery 1998, S. 89; Schröter 2001, S. 251; Wald 1985, S. 108. In den Quellen dazu: Mister Lindahl muß es ja wissen! Rationalisierung im Lebensmittelhandel, in: Allgemeine Deutsche Händler-Zeitung, 20.12.1952. DGB-Tagung: Automation – Gewinn oder Gefahr?, in: Ausblick, 3/1958, S. 9; Fahrkorb – Konkurrenz der Verkäuferin, in: Handel, Banken, Versicherungen, 4/1952. DIHT: Amerikanische Verkaufsmethoden, hier: Schlussbesprechung in Frankfurt a. M. (12.8.1953), S. 4, RWWA 28/145/7; Kundenbedienung über das Fließband, in: Ausblick, 9/1958, S. 10; Miller, O. B.: Das Personalproblem in neuer Sicht, in: Böckli, Hans Rudolf (Hg.): Neue Aspekte der Selbstbedienung, Rüschlikon 1958, S. 53-58, hier S. 54. Der Fall Eklöh, in: Ausblick, 9/1959, S. 5; Die Stellung des Großbetriebes im Einzelhandel, in: Ausblick, 3/1959, S. 4; Konzerne schlagen Kapital aus der Not der Verkäuferinnen, in: Ausblick, 9/1959, S. 1; Lebensmittel-Filialbetriebe arbeiten rationell, in: Ausblick, 12/1955, S. 12.
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zeitliche Trennung der Arbeitsschritte im Selbstbedienungsladen förderte eine flexible Personalplanung. Ditt gibt an, dass die Zahl der Teilzeit- und Werkvertragsbeschäftigten im Einzelhandel von 9,4 Prozent im Jahr 1960 auf 17,9 Prozent im Jahr 1970 anstieg.17 Für den Einzelhandel bot die Teilzeitarbeit die Möglichkeit, flexibler auf saisonale und zeitliche Schwankungen in der Kundenfrequenz eingehen zu können.18 Zugleich bot das Modell eine Option für Frauen, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Oertzen und Rietzschel haben gezeigt, dass die Frage der weiblichen Berufstätigkeit im Zusammenhang mit der Teilzeitarbeit in den 1950er und 1960er Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema zwischen Gewerkschaften, (potentiellen) Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern war. Die Historikerinnen sind der Meinung, dass sich das Teilzeitmodell bis zur Mitte der 1960er Jahre als zentraler Bestandteil eines „politisch erwünschten und gesellschaftlich weitgehend akzeptierten Erwerbsmodells für erwerbstätige Frauen und Mütter“ durchsetzte.19 Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass die Teilzeitbeschäftigung letztlich auch zur Verfestigung der traditionell schlechteren Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten von weiblichen Einzelhandelsangestellten beitrug.20 Hentilä hat am Beispiel der finnischen Verkäuferinnen detailliert gezeigt, inwieweit die Rationalisierungsmaßnahmen nach 1945 dazu beigetragen haben, dass der Einzelhandel tendenziell in den Niedriglohnbereich eingeordnet werden muss.21 Für die Fluktuation von Arbeitskräften, deren Rate im Einzelhandel weit höher lag als in anderen Bereichen, gab es drei zentrale Ursachen: die Arbeitsorganisation in Teilzeitmodellen, der enge Zuschnitt der einzelnen Tätigkeitsbereiche sowie die zunehmende Zahl von weiblichen Angestellten. In den 1960er Jahren wanderten die Arbeitnehmer verstärkt in andere Sektoren 17 18
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Ditt 2003, S. 351. Auch: OEEC 1973, S. 25. Deutsch 1968, S. 123f.; Henksmeier, Karl Heinz; Hoffmann, Friedrich: Arbeitsorganisation im SB-Laden, Köln 1963, S. 22f.; In Zukunft noch konsequentere Selbstbedienung notwendig, in: Edeka-Rundschau, 1./8.3.1963; Priess 1962, S. 195. Oertzen von, Christine; Rietzschel, Almut: Das „Kuckucksei“ Teilzeitarbeit. Die Politik der Gewerkschaften im deutsch-deutschen Vergleich, in: Gunilla-Friederike (Hg.): Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 212-251, hier S. 212. Sorgen der Verkäuferinnen im Einzelhandel, in: Augsburger Allgemeine, 31.5.1960. Zur traditionellen Unterbezahlung weiblicher Verkäuferinnen auch: Adams 1988, S. 131; Puck 1995, S. 64; Spiekermann 1999, S. 601. Allgemein auch in anderen Sektoren: Hausen 1997, S. 24. Hentilä, Marjaliisa: Keikkavaaka ja kousikka, Helsinki 1999, S. 368. Auch: Humphery 1998, S. 89; Winter 2005, S. 40.
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ab.22 Die Fachzeitschrift Der Einzelhändler gab Mitte der 1960er Jahre an, dass 67 Prozent aller Betriebsaustritte im Einzelhandel bereits im dritten Beschäftigungsjahr erfolgten.23 Von Unternehmerseite wurde betont, dass vorrangig persönliche Gründe der überwiegend weiblichen Verkaufskräfte wie Heirat und familiäre Verpflichtungen dafür ausschlaggebend waren. Demgegenüber schätzten besonders junge Arbeitnehmer ihre Arbeitsbedingungen insgesamt als schlecht ein. Tatsächlich bestätigten Umfragen in den 1950er und 1960er Jahren europaweit die Stellung des Einzelhandels als „Cinderella of occupations“ und bis heute zählt er nicht zu den bevorzugten Arbeitsplätzen.24 In einer Studie von Dibbern aus dem Jahr 1966 gaben die befragten Jugendlichen die ungünstigen Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten als Gründe an, die gegen den Einzelhandel als Arbeitsstelle sprachen. Gleichzeitig lehnte die Mehrheit die Vorstellung ab, im Geschäft als „Diener des Kunden“ zu agieren.25 Damit gleicht das Bild des Einzelhandels in Hinblick auf berufliche Aussichten und Beschäftigungsbedingungen dem der Zeit vor 1945. Selbstbedienungsgeschäfte, Supermärkte und Discounter machten das Arbeitsumfeld somit nicht viel attraktiver. Zugleich verfügten die Arbeitnehmer in den 1950er und 1960er Jahren über immer mehr alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Zur Einstellung junger Arbeitnehmer haben Jefferys und Knee in ihrer europaübergreifenden Studie von 1962 festgehalten: „The new generation of employees in retail trade will not be less ready to give service than the older generation, but they will expect such service to be a function of good organisation and not of subservience and inferior status.“26
Die Forschung hat festgehalten, dass bis in die 1950er Jahre zum großen Teil noch stark patriarchalische Strukturen in den Einzelhandelsgeschäften
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Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Einzelhandelsausschusses der Kammer am 21.2.1961 (21.1.1961), RWWA 20/1815/3; Die Fluktuation im Einzelhandel, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 20.7.1964. Trotz Personalmangel keine Abwerbung!, in: Der Einzelhändler, 15.9.1964. Magnus-Hannaford 1959, S. 15; Niederschrift über die Tagung der Handelsreferenten am 9./10.6.1969 in Aachen (9./10.6.1969), S. 2, RWWA 181/1564/1; Sorgen der Verkäuferinnen im Einzelhandel, in: Augsburger Allgemeine, 31.5.1960. Dibbern, Harald: Untersuchungen zur Lebenssituation berufstätiger Jugendlicher, dargestellt an Hamburger Lehrlingen des Einzelhandels. Ein Beitrag zur berufspädagogischen Jugendkunde, Hamburg 1966, S. 90. Auch: Institut für Selbstbedienung: SB in Zahlen, Köln 1973/74, S. 88f. In der Forschung dazu: Brändli 2000, S. 43. Jefferys, Knee 1962, S. 134. In der Forschung dazu: Scheybani 1995, S. 195; Wald 1985, S. 113.
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und -unternehmen vorherrschten, während es in der Folgezeit zur weitgehenden Auflösung der familiären Wirtschaftsstrukturen kam. Die personelle Einheit von Familienoberhaupt und Ladenbesitzer brach auf. Damit verbunden war die Lockerung von Abhängigkeiten in den Beschäftigungsverhältnissen auf der Grundlage familiärer Hierarchien und persönlicher Bindungen.27 Dieser Wandel spiegelte auch den Einzug marktwirtschaftlicher Strukturen in den traditionellen Sektor wider, wie ihn Lutz als typisch für die Nachkriegszeit festgehalten hat.28 Nicht nur in den Beschäftigungsstrukturen drückte sich das traditionelle, patriarchalische Selbstverständnis des mittelständischen Einzelhandels aus. Es war ein fester Bestandteil der Verankerung im bourgeoisen Konsummodell. Dabei prägte die soziale Relevanz als zentrale Regulierungsinstanz des Konsums das Berufsbild des Einzelhändlers.29 Gegenüber der Selbstbedienung bestand der Vorwurf, sie mache den Einzelhandel zu einer bloßen Verteilerstelle.30 In den 1950er Jahren wirkte der traditionelle Anspruch noch stark weiter und zeigte sich u. a. in dem Versuch, eine staatlich geregelte Berufsordnung des Einzelhandels zu etablieren. Sie zielte darauf ab, den Zugang zum Einzelhandel gesetzlich reglementieren, indem für die Ausübung des Berufs ein Nachweis der kaufmännischen Sachkunde und der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit vorgelegt werden sollte. Diese Vorstellung knüpfte an den während der Zeit des Nationalsozialismus eingeführten Sachkundenachweis an. Exemplarisch macht dies die folgende Forderung nach einer Berufsordnung von einem Lebensmitteleinzelhändler aus dem Jahr 1953 deutlich, die: „auf den Grundpfeilern der persönlichen Zuverlässigkeit, sowie der Sach- und Fachkunde aufgebaut ist. Nur so kann verwirklicht werden, dass eine Persönlichkeit hinter dem Verkaufstisch steht, die man als Fachmann bezeichnen kann, der auf reeller Basis seine Kunden berät und bedient. Wir wollen endlich wieder Sauberkeit und Ordnung in unseren Reihen, wollen dem fast unbekannt gewordenen Begriff ,königlicher Kaufmann‘ wieder näher rücken und Elemente, die durch totale Gewerbefreiheit Zutritt zu unseren Reihen gefunden haben, ausgemerzt wissen oder aber, sie fügen sich in den Berufsstand ein und betätigen sich als Kaufleute.“31
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Ambrosius, Kaelble 1992, S. 9, 25; Hentilä 1999, S. 369f.; Lutz 1992, S. 49f.; Scheybani 1995, S. 150, 194. Vgl. zur Situation vor den 1950er Jahren: Spiekermann 2000, S. 207. Lutz 1992, S. 49. De Grazia 1998, S.70. Auch: Mc Creary 1964, S. 41; Wald 1985, S. 112. Schmitz, Hans: Der Einzelhandel geht mit der Zeit (4.9.1958), S. 131, WWA K3/1304. Brief von HDE an Britsch, Anlage: Betrachtungen eines Geschäftsführers einer Lebensmittel-Feinkostfirma aus Württemberg zur Rede Erhards auf Rewe-JubiläumsVerbandstag (17.3.1953), S. 1f., BAK 102/39451. Ausführlich zu den Forderungen des
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Die staatliche Politik wandte sich allerdings von Beginn an entschieden gegen eine solche Regelung, die ihrer Meinung nach den markwirtschaftlichen und wettbewerblichen Prinzipien und dem Grundrecht auf freie Berufswahl widersprach.32 Eine Anpassung des Einzelhandels an die neuen ökonomischen und konsumgesellschaftlichen Rahmenbedingungen zeichnete sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ab, als statt der Fixierung auf eine statische Berufsordnung die Notwendigkeit permanenter Weiterbildung und die Reformierung der Ausbildung ins Zentrum der Fachöffentlichkeit rückte.33 Bereits vor 1945 bestanden Weiterbildungseinrichtungen, wie die 1936 gegründete Fachschule des Einzelhandels in Neuwied oder entsprechende Angebote der Einkaufsgenossenschaften. Sie trugen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Professionalisierung kaufmännischen Wissens bei.34 Gegen Ende der 1950er Jahre umfasste das Angebot zahlreiche, nach Aufgabenfeldern differenzierte Kurse und Seminare innerhalb einzelner Unternehmen, aber auch von wettbewerbsübergreifenden Einrichtungen. So gab z. B. die HDE in ihrem Arbeitsbericht von 1970 an, dass die Zahl ihrer Rationalisierungsvorträge und -kurse sowie ihrer Unternehmerseminare zwischen 1953 und 1970 von 75 auf 1571 pro Jahr gestiegen sei.35 Während es im Bereich des Verkaufs zunächst um allgemeine Fragen der Eröffnung eines Selbstbedienungsladens, der Einrichtung und der Warenpräsentation ging, zeichnete sich im Übergang zu den 1960er Jahren eine Differenzierung des Fortbildungsangebotes ab, indem sowohl das Führungspersonal als auch die Angestellten bezüglich zahlreicher Einzelaspekte des Verkaufs in Selbstbedienungsläden und Supermärkten geschult 32
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Einzelhandels: HDE: Die derzeitige Situation des Einzelhandels und seine Forderungen, Köln 1952, S. 3-7. Abschrift der Meldung der VWD „Erhard lehnt Berufsordnung ab“ am 15.6.1953 (15.6.1953) BAK B102/39451; Erhard, Ludwig: Der Einzelhandel in der sozialen Marktwirtschaft (21.10.1952), S. 4, WWA K3/1294; Niederschrift über die Länderausschuss-Sitzung Handel am 15.10.1953 (6.11.1953), BAK B102/39484; Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Berufsausübung im Handel vom Bundesminister für Wirtschaft (4.6.1956), BAK B102/39485. Edeka Zentralorganisation: Jahresbericht 1969, S. 18, WWA S7/577; HDE: Arbeitsbericht 1961, S. 79f., Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; HDE: Arbeitsblätter für Berufs- und Betriebsförderung im Einzelhandel, 10/1959, S. 1; BAK B102/39433; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1964, S. 9, WWA S7/570; Strukturbericht der Bundesregierung 1969, S. 15, BAK B102/139227. Spiekermann 1999, S. 425. HDE: Arbeitsbericht 1970, S. 80, ZBW Kiel.
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wurden.36 Gleichzeitig muss betont werden, dass die unternehmensinternen Fortbildungen ein zentrales Instrument zur Bindung der Arbeitnehmer an ein Unternehmen und zum Aufbau eines spezifischen Firmenimages darstellten. Die Ausbildungsgänge im Einzelhandel wurden ebenfalls in den 1950er und 1960er Jahren reformiert. Anfangs lehnten die Industrie- und Handelskammern die ausschließliche Ausbildung von Lehrlingen ab, mit der Begründung, dass „reine Selbstbedienungsgeschäfte nicht die Voraussetzungen erfüllen, um Lehrlinge nach dem zurzeit gültigen Berufsfeld ¸Einzelhandelskaufmann‘ ausbilden zu können. Die entscheidenden Ausbildungsgebiete, Verkaufskunde und Kundenberatung, könnten nicht vermittelt werden, da sich in dem Selbstbedienungsladen die Ware im Prinzip von selbst verkaufen soll, d. h. unter Ausschaltung des menschlichen Arbeitsfaktors.“37
Der Übergang vom „Blockberufsbild“ des Einzelhandelskaufmannes zu einem mehrstufigen Ausbildungsmodell von Verkäufer, Verkaufsberater und Einzelhandelskaufmann wurde allerdings erst ab Mitte der 1960er Jahre vollzogen.38 Trotzdem bestanden weiterhin Differenzen über den Stellenwert der Tätigkeit des Verkaufens für die Angestellten in Geschäften mit Selbstbedienung. So vertrat die Bundesversicherungsanstalt Mitte des Jahrzehnts die Ansicht, dass im Selbstbedienungsladen die Merkmale echter Verkaufstätigkeit nicht gegeben seien, da es sich nur um die „Abgabe von vorverpackten Waren, also um Artikel des Massenverbrauchs“ handele. 39 36
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Beispiele: Ein neuer Weg in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung von SBLadenleitern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 30.5.1964; Henksmeier 1962, S. 9; Haus für Berufsgestaltung, in: Landesfachgemeinschaft Lebensmittel-Einzelhandel e. V. im Landesverband des Saarländischen Einzelhandels e. V. 1960, S.23-28; Lernen – weiterbilden – Geld verdienen, in: Rewe-Echo, 15.3.1969; Mehr gewußt – mehr verdienen, in: Rewe-Echo, 16/1966. Puck dagegen kritisiert die tatsächliche Breitenwirkung der Weiterbildungsmaßnahmen in der Praxis, da keine der im Rahmen ihrer Studie teilnehmenden Frauen an einer externen Fortbildung teilnahm. Puck 1995, S. 83. Niederschrift über die Sitzung des Einzelhandelsausschusses am 16.2.1956 (16.2.1956), S. 1, RWWA 1/556/4. Auch: Fahrkorb – Konkurrenz der Verkäuferin, in: Handel, Banken, Versicherungen, 4/1952; Institut für Selbstbedienung 1988, S. 42. Neue Einzelhandelsberufe im Anerkennungsverfahren, in: Rewe-Echo, 3/1966; Reform der Berufsbilder im Einzelhandel, in: Rewe-Echo, 1.11.1973. Zum Berufsbild der Nachkriegszeit: HDE: Arbeitsbericht 1949, S. 24f., ZBW Kiel. Angestellteneigenschaften von ungelernten Verkäuferinnen in Selbstbedienungsläden, in: Der Einzelhändler, 20.6.1966.
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Von der Leitung eines Einzelunternehmens verlangte die Koordination der differenzierten Arbeitsprozesse in den neuen Geschäftstypen sowie die Steuerung der sich quantitativ und qualitativ verändernden Warenströme immer komplexeres Wissen über die wirtschaftlichen Zusammenhänge. In den Quellen wird dabei anstelle der manuellen Tätigkeiten die zentrale Rolle der geistigen Aufgaben und der unternehmerischen Fähigkeiten betont. Im Jahresbericht der Edeka-Zentrale von 1970 findet sich folgendes Resümee: „Geistkapital ist das zielsetzende und unternehmerische Element, das intellektuelle Kräfte aktiviert und das Wollen durch Können realisiert. Die Instrumente des Geistkapitals sind im wesentlichen Informationen über Märkte, Menschen und technische Möglichkeiten. Der Unternehmer wird zum Organisator und Interpreten von Informationen. Das Wissenskapital muß die Möglichkeiten neuer Wünsche und der veränderten Nachfrage am Markte erarbeiten, und das Geistkapital muß das Potential der Innovationen erkennen.“40
Sowohl in der US-amerikanischen als auch in der westdeutschen Fachliteratur der 1960er Jahre ist in diesem Zusammenhang immer mehr die Rede vom „Unternehmer“ und „Manager“ als neuem Unternehmertyp, der die traditionelle Figur des „Einzelhändlers“ und „Kaufmanns“ ablöste.41 Aber die neuen Herausforderungen berührten nicht nur das Aufgabenprofil des Einzelhandelsunternehmers. Vielmehr wandelte sich auch die Form des notwendigen Wissens, wie ein Artikel aus der Zeitschrift Selbstbedienung verdeutlicht: „Waren früher das individuelle Verkaufsgespräch und die persönliche Empfehlung tragende Säulen, so gewinnen heute die Placierung der Ware, die sich ja selbst verkaufen muß, die Raumausnutzung, die Sortimentspolitik, die Rentabilitätsberechnung einzelner Artikel u.s.w. die Vorderhand. Der Wandlungsprozeß nach innen stellt hohe Anforderungen an die Ratio des Einzelhandelskaufmanns. […] Bei der Erforschung des hier angeschnittenen Problems lasse man sich jedoch nicht so sehr
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Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1970, S. 5f., WWA S7/577. Auch: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1966, S. 8, WWA S7/577; HDE: Arbeitsbericht 1969, S. 91, ZBW Kiel; HDE: Arbeitsblätter für Berufs- und Betriebsförderung im Einzelhandel, 10/1959, S. 2, BAK B102/39433; Henning 1971, S. 11; Henksmeier, KarlHeinz: Selbstbedienung verlangt unternehmerische Fähigkeiten, in: Edeka-Rundschau, 6./13.6.1958; Meins, Heinrich: Konsumgenossenschaftliche Wirtschaft in der heutigen Zeit, Hamburg 1958, S. 5; Strukturbericht der Bundesregierung, 1969, S. 15, BAK B102/139227; Über die Verwaltung von Selbstbedienungsläden, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 15.7.1957. Menzel 1962, S. 54. Auch: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1967, S. 7, WWA S7/577.
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vom Fingerspitzengefühl beeinflußen; Gefühl ist eben nicht Ratio. Tests und Messungen sind erforderlich.“42
Dies zeigt, dass das tazite Wissen des Kaufmanns, also sein implizites Erfahrungswissen, in den Quellen häufig auch Intuition genannt, von standardisierten Kenntnissen überformt und durch eine zunehmende Verwissenschaftlichung verdrängt wurde. Die zunehmende Etablierung von spezifischen fachlichen Institutionen, wie z. B. des ISB und der RGH, aber auch die Professionalisierung in den Einzelhandelszusammenschlüssen beförderte diese Verschiebung.43 Im Laufe der 1960er Jahre ergänzte die zunehmende Technisierung im Einzelhandel die Standardisierung und Spezialisierung von Wissen und Kompetenzen. Dazu zählten seit den späten 1960er Jahren der Einsatz der ersten Computer zur Steuerung und Kontrolle des Warenflusses oder die Einführung des ban-l-Codes.44 Hilke resümierte Mitte der 1950er Jahre zur Vielfalt der Aufgabenbereiche: „Einen Supermarkt zu führen, verlangt Spezialisten auf dem Gebiet der Warenhaustechnik, Kühlschrankexperten, Ingenieure, Mechaniker, Elektriker und viele andere ausgebildete und qualifizierte Techniker. Daneben braucht der Supermarkt Männer mit guter kaufmännischer Ausbildung, mit Erfahrungen auf dem Gebiet des Einkaufs, der Werbung, des Sortiments und nicht zuletzt die Personal- und publicrelation-manager.“45
Weitergehend machte er deutlich, dass sich der Prozess der Standardisierung von einzelhandelsrelevantem Wissen und Kompetenzen nicht nur auf die Arbeitsabläufe beschränkte, sondern dass neue Handlungsträger bei der Ge 42
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Selbstbedienung, 5/1957/ 58, S. 17. Auch: HDE: Arbeitsbericht 1952, S. 40, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Schucht 1956, S. 19; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 37. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1964, S. 8, WWA S7/577; Einzelhandel und Wissenschaft (14.8.1958), WWA K3/1304; Hollander, Stanley C.: The internationalization of retailing: a foreword, in: Journal of retailing, 44, 1968, H. 1, S. 312, hier S. 5; Jefferys, Knee 1962, S. 124-126; Niederschrift über die Sitzung der Handelsreferenten der Industrie- und Handelskammern am 14./15.11.1960 in Münster (14./15.11.1960), S. 2, RWWA 181/1563/1. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1968, S. 11., WWA S7/577; HDE: Arbeitsbericht 1969, S. 87, ZBW Kiel; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1965, S. 9, WWA S7/570. Vgl. in der Forschung zur Einführung des Barcodes: Menke, Annika: The Barcode Revolution in German Food Retailing, in: Jessen, Ralph; Langer, Lydia (Hg.): Transformations of Retailing in Europa after 1945, Farnham, Surrey u. a. 2012, S. 211-225. Hilke 1956, S. 53.
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staltung des Verkaufs zum Zuge kamen. Laut Henksmeier handelte es sich bei der Selbstbedienung um die Anwendung des Prinzips der Arbeitsteilung auf die Warendistribution, das seine Wirkung über den Einzelhandel hinaus bis in die Landwirtschaft und die Industrie entfaltete.46 Mit dieser Neuverteilung von bestimmten Funktionen entstanden auf den verschiedenen Ebenen des Konsumkreislaufs neue Aufgabenfelder, die eng mit einer Spezialisierung und Differenzierung des relevanten Wissens verbunden waren. Die in diesen Differenzierungsprozessen ausgedrückte Segmentierung und Fragmentierung von Wissen über Waren sieht Appadurai als ein zentrales Merkmal komplexer kapitalistischer Gesellschaften.47 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Spezialisierung und Standardisierung eng miteinander verknüpft sind: „Die Vermehrung spezieller Aufgaben durch die Arbeitsteiligkeit erfordert Standardlösungen, die leicht erlernbar und übertragbar sind. Die Lösungen wiederum kommen nicht ohne spezialisierte Kenntnisse gewisser Situationen aus, wozu auch gehört daß man über das Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken ihrer gesellschaftlichen Bestimmung Bescheid weiß. Mit anderen Worten: Spezialisten, deren jeder wissen muß, was von ihm zur Erfüllung seiner speziellen Aufgabe erwartet wird, treten auf den Plan.“48
Das Aufkommen von neuen Experten, die zahlreiche mit dem Warenverkauf verbundene Teilaspekte in verschiedenen Disziplinen und „Wissenschaften“ zu analysieren begannen, verweist – neben der steigenden Komplexität des Absatzwesens – auch auf die zentrale ökonomische Rolle der Distribution im Massenkonsumkreislauf.49 Je räumlich, zeitlich und sozial weitläufiger der Abstand zwischen der Sphäre der Produktion und des Konsums in diesem Zusammenhang wird, desto mehr steigt – laut Appadurai – die Bedeutung der Schlüsselfunktion des Einzelhandels. Dieser kann die Überbrückung der Distanz allerdings nicht alleine leisten, sondern ist auf die Bereitstellung des notwendigen, differenzierten Wissens durch spezialisierte Akteure angewiesen.50 Die daraus resultierende Funktion der Experten lässt sich in den Kontext der von Szöllösi-Janze konstatierten übergreifenden Verwissenschaftlichungsprozesse des 20. Jahrhunderts einordnen, in deren 46
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Henksmeier 1961, S. 9f. Auch: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1964, S. 8, WWA S7/577. Appadurai 1986, S. 54. Vgl. auch zum Zusammenhang von funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften: Stehr 1994, S. 50. Berger, Luckmann 2003, S. 82. Vgl. Friedman 2004, S. 152. In den Quellen dazu bereits: Jefferys, Knee 1962, S. 124. Appadurai 1986, S. 41. Vgl. auch: Siegrist 1997, S. 20.
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Verlauf es zu einer weitgehenden Verwissenschaftlichung von Berufsfeldern und der zunehmenden Entstehung wissensbasierter Berufe kam.51 In den nachfolgenden Kapiteln soll auf einige Wissens- und Kompetenzbereiche und die damit verbundenen Expertenfiguren eingegangen werden, die für die neuen Vertriebsformen eine zentrale Rolle spielten. Anhand der Verbraucherpsychologie, der Ladeneinrichtung sowie der Warenpräsentation soll gezeigt werden, inwiefern diese einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung von Selbstbedienungsgeschäften und Supermärkten hatten.
2. Wissen über und zur Steuerung des Verbrauchers 2.1 Die Entdeckung des Verbrauchers Vor dem Hintergrund der strukturellen Veränderungen im ökonomischen Sektor und der schrittweise Etablierung der Massenkonsumgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in den 1950er Jahren der Verbraucher zur zentralen Figur des Massenkonsums auf. Nicht nur der Einzelhandel begann, den Konsumenten als einen entscheidenden, marktbestimmenden Faktor wahrzunehmen.52 Der größere Spielraum, innerhalb dem „König Kunde“ den Markt durch sein Konsumverhalten beeinflusste, beruhte auf verschiedenen Faktoren. Die steigenden Einkommen und der sich allmählich etablierende Wohlstand waren mit dem Aufkommen neuer Konsumpräferenzen verbunden. So hatte die Konsumgenossenschaftliche Rundschau bereits im Jahre 1950 vorhergesagt: „der natürliche Bedarf des Verbrauchers ist nicht der letztlich bestimmende Faktor unserer heutigen Wirtschaft.“53 Tatsächlich nahm der Anteil der Ausgaben für den so genannten „elastischen Bedarf“ gegenüber dem „starren Bedarf“ im Laufe der 1950er Jahre 51 52
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Szöllösi-Janze 2004a, S. 282. Auch: Oldenziel 2005, S. 118; Stehr 1994, S. 36. Vgl. Brose, Hanns W., Die Entdeckung des Verbrauchers. Ein Leben für die Werbung, Düsseldorf 1958, S. 11; Blümle, Ernst-Bernd Ulrich Werner: Festgabe für Professor Dr. Josef Schwarzfischer: zu seinem 70. Geburtstag, Freiburg (Schweiz) 1972, S. 33; Katona, George, Der Massenkonsum. Eine Psychologie der neuen Käuferschichten, Wien, Düsseldorf 1965, S. 7; HDE 1954, S. 9; Niederschrift über die Sitzung des Handelsausschusses des DIHT am 17.1.1958 in Frankfurt, Anlage: Thomas, Erwin: Die Struktur des westdeutschen Groß- und Einzelhandels als Entwicklungsergebnis der Jahre ab 1950 (17.1.1958), S. 12, RWWA 181/1561/2. Verbraucherbewußtsein, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 30.9.1950. Auch: Manuskript „Unsere Verbrauchergewohnheiten ändern sich“ (4.11.1964), BWA K1/3034; Wie der Einzelhandel mit der Zeit Schritt hält, in: Die Glocke, 20.7.1955.
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stetig zu. Die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten der Bevölkerung und die neuen, vielfältigen Optionen des Massenkonsums äußerten sich in der Vergrößerung des Warenangebotes und in der Differenzierung der Sortimentsstruktur. In diesem Rahmen bestand die zentrale Aufgabe des Einzelhandels nun nicht mehr nur in der Bedarfsdeckung, sondern in der Kunst der „Bedarfsweckung“.54 In den 1960er Jahren kamen die zunehmenden Auswahlmöglichkeiten hinsichtlich der Einkaufsstätten hinzu – der Kunde entschied sich zwischen kleinem Selbstbedienungsladen, Supermarkt, Discounter oder Verbrauchermarkt.55 Die Wahl zwischen den verschiedenen Optionen basierte dabei auf der Kombination einer Reihe von Elementen, die Zahn 1960 beschrieb: „Der fortschreitende Wohlstand der westlichen Völker ist – wirtschaftspsychologisch gesprochen – die wachsende Möglichkeit der Individuen, nach freiem Ermessen über Geld zu verfügen. Die bestimmende Rolle subjektiver Faktoren (persönlicher Pläne, Vorzüge, Erwartungen usw.) nimmt im Verhältnis zu gegebenen Abhängigkeiten (Einkommenslage, Familienzyklus usw.) zu.“56
Angesichts dieser Entwicklung mussten Handel und Industrie verstärkt Entscheidungen fällen, ohne genau zu wissen, welche Wahl der Verbraucher treffen würde.57 Deshalb rückte das Interesse an der psychologischen Motivation der Konsumenten immer stärker in den Vordergrund der Planung und Organisation der Produktion und des Verkaufs. Im Bedienungsladen kannte der Verkäufer seine Kunden, ihre Gewohnheiten, Wünsche und Abneigungen aus dem alltäglichen persönlichen Kontakt. Mit dem Wandel der Kaufentscheidung zu einer diskreten Selbstwahl durch den Käufer benötigte der Einzelhandel andere Wissensquellen über den Verbraucher, um Geschmack und Konsumpräferenzen vorhersagen sowie das Angebot auf diese einstellen zu können. Deshalb wurde die Verbraucherforschung zu einem zentralen Instrument, um in immer umfassenderen und differenzierten Märkten das (unternehmerische) Risiko zu reduzieren.58 Die Experten, die 54
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HDE: Arbeitsbericht 1955, S. 70, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4; Verkaufsförderung im Lebensmittel-Einzelhandel, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 4/1960. Vgl. Wildt 1993, S. 287. Zahn 1960, S. 79. Vgl. Deutsche Spar Zentrale: Teamwork 2/1970, Spar-Archiv; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 34; Meins 1958, S. 5f.; Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 9.10.1954; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1968, S. 10, WWA S7/570. Vgl. Giddens 1995, S. 39-41. Vgl. in den Quellen: Angehrn, Otto: Bessere Planung und Kontrolle des Absatzes durch Verbraucherforschung, in: Jahrbuch der Absatz- und
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sich auf wissenschaftlicher Basis mit dem Verbraucher beschäftigten, können in diesem Zusammenhang als „Entbettungsmechanismus“ verstanden werden. Sie kompensierten den persönlichen Vertrauensverlust aufgrund der Auflösung des engen sozialen Beziehungsgefüges im Einzelhandelsgeschäft. Professor Georg Bergler, der Vorstand der GfK, schrieb dazu Ende der 1950er Jahre: „Aus dieser Sachlage ist nunmehr zu verstehen, daß sich die Unternehmer nicht mehr ausschließlich auf Intuition, auf ihre schöpferischen Einfälle, auf das Fingerspitzengefühl verlassen wollen. In ihnen vereinigt sich heute der intuitive mit dem wissenschaftlichen Geist im Sinne des Forschens, Planens, Systematisierens, Analysierens: jede Hilfereichung der einschlägigen Wissenschaften wird sofort in Anspruch genommen. Und derjenige ist am besten beraten, der sich das alles als Werkzeug dienen läßt, es überlegen handhabt und dann mit Hilfe dieses Wissens in souveräner Verantwortung seine Entscheidung trifft.“59
Zum einen entstanden in den 1950er Jahren neue wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung des Verbraucherverhaltens, zum anderen entwickelten sich die bereits seit vor dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Forschungsbereiche, die in enger Verbindung zur wirtschaftlichen Praxis standen, weiter. Einen Schwerpunkt stellte die Markt- und Konsumentenforschung dar, deren Tradition sowohl in den USA als auch in Europa bis in die 1920er Jahren zurückreichte.60 Exemplarisch für die in diesem Bereich tätigen Institutionen und deren Ziele sei hier die 1934 gegründete Gesellschaft für Konsumforschung mit Sitz in Nürnberg angeführt: „Für die ¸Nürnberger Schule’ bedeutet nun die Frage nach den Bedürfnissen des Verbrauchers und die Suche nach einer Verständigung zwischen den Belangen der Produzenten und Konsumenten ein zentrales Problem im wirtschaftlichen Geschehen der Gegenwart. Aus einer Tätigkeit, die in früheren Zeiten oft unbewußt von
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Verbrauchsforschung, 3, 1957, H. 4, S. 283; Bergler, Georg: Sicherheit durch Verbrauchsforschung, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung, 3, 1957, H. 4, S. 294-305, hier S. 297; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 34. Bergler 1957, S. 301. Vgl. Haas, Stefan: Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft, in: Prinz, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 291-314, hier S. 312.
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erfolgreichen Landwirten, Handwerkern und Kaufleuten ausgeübt wurde, ist heute ein besonderer Zweig der Wissenschaft, die Konsumforschung, geworden.“61
Eine der neuen, auf die veränderten Bedingungen der Massenkonsumgesellschaft ausgerichteten Methoden in der Konsumforschung war die Motivforschung. Innovativ daran war laut Schröter, den Fokus von der Analyse bestimmter Konsumentengruppen auf individuelle Verhaltensweisen zu richten.62 Natürlich blieben das soziale Umfeld und andere äußere Umstände weiterhin wichtige Bestimmungsfaktoren für das Konsumverhalten.63 Dabei war es Ziel der Motivforschung zu ermitteln, „wovon Leute sich beim Auswählen leiten lassen“, unter Anwendung „bestimmter Techniken, um das Unbewusste und Unterbewusste zu erreichen.“64 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verbraucherverhalten war nicht nur auf den Gewinn von Wissen über den Konsumenten ausgerichtet, sondern schuf darüber hinaus neue Kategorien zur Klassifizierung des Konsumverhaltens. In einer Vielzahl von Modellen über die Psyche des Kunden entwarfen die Forscher verschiedene Ordnungssysteme dieses Wissens.65 Man schuf eine typisierte Konsumentenfigur, der bestimmte Eigenschaften und Bedürfnisse sowie bestimmte Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse zugeschrieben wurden. Diese Konstruktionen bildeten laut Humphery einen zentralen Widerspruch der Moderne ab: während einerseits versucht wurde, die Konsumenten individualisierter zu fassen, wurden sie andererseits neuen Kategorien zugeteilt. Sie beschreibt die Anstrengung, die Verbraucher auf diese Weise in ihren vielfältigen Erscheinungsformen handhabbar zu machen, folgendermaßen:
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Die Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 23.6.1951; Wo steht die Verbrauchsforschung heute?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 9.10.1954. Schröter 2004b, S. 325. Vgl. Koch, Eckart: Warenästhetik und Konsumverhalten. Ein sozial-ökonomischer Erklärungsversuch zur Manipulation des Konsumverhaltens durch Warenästhetik, Frankfurt a. M., Bern 1976, S. 32. Packard, Vance: Die geheimen Verführer, Düsseldorf 1958, S. 14. Auch Henry, Harry: Was der Verbraucher wünscht. Die Praxis der Motivforschung, Düsseldorf 1960, S. 19. Beispiele aus dem Einzelhandel: Das Mentalitäten-Modell, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT 4/1971, RWWA 20/2238/1; Verkaufspsychologie in Selbstbedienungs-, Selbstwähl- und Freiwahlläden, Demonstrationsblock (ca. 1955), BWA F36/218.
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„to make sense of the fragmentation of society into a ‘multiplicity of individuals’ by delimiting that multiplicity intellectually, and even by constituting an overaching unity through giving everyone a gendered unconscious.“66
Wie diese Aussage andeutet, spielte dabei die Kategorisierung in weibliche und männliche Typen und Eigenschaften eine zentrale Rolle. Abgesehen von einigen spezifischen zeitgenössischen Studien zu männlichen und weiblichen Aspekten des Verbraucherverhaltens, lässt sich allerdings für die Mehrzahl der vorliegenden deutschen Quellen eine eher diffuse Mischung der Ausdrücke „der Verbraucher“ und „der Konsument“ bei gleichzeitiger Verwendung von „die Hausfrau“ erkennen. Brändli kommt in ihrer Untersuchung für die Schweiz ebenfalls zu der Feststellung, dass in den zeitgenössischen Texten kein durchgehend einheitliches Geschlecht verwendet wurde. Allerdings ist ihr auf jeden Fall zuzustimmen, wenn sie betont, dass trotzdem einzelne Elemente der Bedürfnismodelle – wenn auch nicht immer explizit angesprochen – durchaus stark mit weiblichen und männlichen Eigenschaften, wie Irrationalität und Rationalität, konnotiert waren.67 So wurde z. B. der für die Selbstbedienung typische unüberlegte und spontane Kauf meistens eher weiblichen Kunden zugeschrieben.68 Auf diese Weise entstanden mit der Verbraucherpsychologie sowie der Konsum- und Marktforschung neue Handlungsfelder, von denen aus gesellschaftliche Macht zur Klassifizierung und Konstruktion von Verhaltensweisen der Verbraucher ausgeübt werden konnte.69 Gleichzeitig ist zu betonen, dass die Rückkoppelung der „Wissenschaften vom Konsum“ an den Kreislauf von Massenproduktion, Massendistribution und Massenkonsum ein Instrument zur Disziplinierung und Beeinflussung des Verbraucherverhaltens darstellte. Daraus konnten neben neuen Konsumpraktiken auch die entsprechenden Märkte resultieren70 Somit war die Verwissenschaftlichung des Wissens über den Konsumenten nicht nur von der pragmatischen Anwendungsorientierung, sondern in hohem Maße auch von einer Ökonomisierung geprägt.71
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Humphery 1998, S. 94. Brändli 2000, S. 132f. Wolff, W. H.: Das Verhalten des Verbrauchers. Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage bei 2000 Personen im Bundesgebiet durchgeführt für das Bundesministerium für Wirtschaft, Bonn, Düsseldorf 1958, S. 10. Vgl. Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, S. 51f. Auch Landwehr 2001, S. 94f. Vgl. Nolan 2000, S. 19; Strasser 2002, S. 769. Vgl. Antos 2001, S. 14; Stehr 1994, S. 35, 210; Szöllösi-Janze 2004a, S. 297.
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Ansätze zur systematischen Charakterisierung des Verbrauchers, die auf der Annahme des Menschen als rational handelndem „homo oeconomicus“ basierten, gab es bereits seit den 1920er Jahren.72 Dreißig Jahre später löste ein Modell diese Vorstellungen ab, welches den Konsumenten „zu einer dichten und spannungsreichen Figur“ machte und dessen Verhalten sich im Zusammenspiel von irrationalen und rationalen Motiven gründete.73 In Verbindung mit dem Problem der Rationalisierung des Massenabsatzes ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sich das menschliche Verhalten und die Käuferpsyche eben nicht „mechanisieren oder gar automatisieren ließen.“74 Die Selbstbedienung war ganz im Gegenteil besonders dafür geeignet, gerade die irrationalen Faktoren anzusprechen und den Kunden zu emotional gesteuerten Impulskäufen anzuregen.75 Dass der Impulskauf einer der zentralen neuen Begriffe im Zusammenhang mit der Selbstbedienung war, wurde bereits betont: „An die Stelle des Zusatzverkaufs durch ,Zusatzempfehlen’ – ein zwar immer noch viel zitierter, in der Praxis der Bedienungsläden aber so gut wie ausgestorbener Brauch – tritt der viel wirksamere Impulsivkauf, dessen Motor der natürliche Besitztrieb des Kunden und seine freie Entfaltung ist. Die Verlockung der Ware selbst, die Suggestivkraft der Warenfülle und eine geschickte Warendarbietung insgesamt geben dem Impulsivkauf mehr Spielraum.“76
Neben der Differenzierung zwischen Rationalität und Irrationalität wird hier der polarisierte Zustand des Verbrauchers durch die Spannung zwischen befriedigten und unbefriedigten Bedürfnissen angesprochen.77 Den Ausschlag dafür gab, dass die Bedürfnisse nicht immer offen, sondern auch latent existierten, so dass sie mit dem entsprechenden Angebot angesprochen werden mussten und konnten. Der Selbstbedienungsladen war prädestiniert dafür, diese Wirkung zu erzielen: der Kunde kam in unmittelbaren Kontakt mit einer Fülle von Waren und deren ansprechender Präsentation. Auf die 72 73 74
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Vgl. Brändli 2000, S. 25. Auch: Haas 2003, S. 305. Brändli 2000, S. 14. Brief DIHT an Industrie- und Handelskammern, betr. Informationsdienst für Kammerzeitschriften 14/1957 (27.4.1957), BWA K1/3034. Auch: Wer Handel treibt, muss Marktforscher werden, in: Team Work, 2/1970, S. 11, Spar-Archiv. Mellerowicz, Konrad: Der Markenartikel als Vertriebsform und als Mittel zur Steigerung der Produktivität im Vertriebe, Freiburg im Breisgau 1959, S. 103; Stehlin 1955, S. 70. Schulz-Klingauf 1960, S. 242f. (Hervorhebung im Original). Dazu auch: Die zukünftigen Vertriebsaufgaben der Konsumgenossenschaften, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 7.12.1957; Treichel 1965, S. 42f. Stehlin 1955, S. 71f.
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ser Grundlage wurden die potenziellen Wünsche des Verbrauchers, ebenso wie seine tatsächlichen Bedürfnisse, zu einem bedeutenden Gestaltungsfaktor des Massenabsatzes.78 Dabei stellten die Überproduktion und die zunehmende Sättigung des westdeutschen Käufermarktes in den 1960er Jahren neue Herausforderungen für den Lebensmitteleinzelhandel dar. Es konnte nicht länger darum gehen, nur Instrumente zur adäquaten Befriedigung der Nachfrage zu schaffen, sondern Ziel musste es sein, darüber hinaus neue Märkte zu generieren, die auf den latent vorhandenen Bedürfnissen der Verbraucher basierten. Für die verbraucherpsychologischen Überlegungen bot die Selbstbedienung eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Gleichzeitig brauchte sie diese Kenntnisse, um erfolgreich funktionieren zu können. Die neuen Vertriebsformen zeigten somit auch, dass in der Konsumgesellschaft weder die totale Manipulation des Konsumenten noch die absolute Konsumfreiheit vorherrschte. In Selbstbedienungsläden, Supermärkte usw. fand vielmehr ein Wechselspiel statt, wie König es formuliert: „Konsumhandlungen vollziehen sich in einem durch Bedürfnisse und Wünsche sowie durch Kaufanreize gebildeten sozialen Raum.“79 Die Verbraucherpsychologie und die auf ihren Erkenntnissen aufbauenden Verkaufsstrategien lieferten gemeinsam mit den Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Arbeitsorganisation die Grundlage, damit das Massendistributionswesen funktionierte, da technische Methoden der Effizienzsteigerung wie in der Produktion nur begrenzt Wirkung zeigten. Erst beide Aspekte zusammen bildeten laut Schreiterer die entscheidenden Grundpfeiler der Selbstbedienung: „Man kann die Selbstbedienungsläden als ein Konzentrat moderner verkaufspsychologischer Überlegungen (offene Ladentür – Ladenbummel – Warenfülle – Warenauslage – Selbstauswahl) und arbeits- sowie verkaufszeitsparender Maßnahmen (Abpacken, Vorwiegen, vereinfachtes Kassieren, Verzicht auf Bedienungskraft) bezeichnen.“80
Die in diesem Kontext entstehende wissenschaftliche Forschung und ihre Rückbindung an die Praxis verfolgte das Ziel, angepasste Einkaufsformen für die westdeutschen Verbraucher zu schaffen, um den Konsumkreislauf im ständigen Fluss zu halten.81 Im folgenden Kapitel gilt es zu zeigen, wie die Planung und Organisation des Selbstbedienungsladens „als Bühne für 78 79 80 81
Schulz-Klingauf 1960, S. 22. Vgl. in der Forschung: Schröter 2004a, S. 152. König 2000, S. 387. Vgl. auch: Siegrist 1997, S. 21. Schreiterer 1955, S. 17f. Vgl. Andersen 1997, S. 60.
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die präzis kalkulierte Präsentation einer großen Warenmenge“ in diesem Sinne die Verknüpfung von rationeller Effizienz und Lust zum Verbrauch widerspiegelte.82 2.2 Die praktische Anwendung von Wissen im Selbstbedienungsladen – Ladeneinrichtung und Kundenlauf Die Einführung der Selbstbedienung war von fundamentalen, qualitativen Veränderungen des Warenangebotes begleitet, das nach neuen Gesichtspunkten im Laden präsentiert werden musste.83 Welche Darbietung der Waren aber entsprach den Wünschen der Kunden am besten? Ausgehend von dieser Frage erfolgte die Umgestaltung des Arrangements: „Es wurde in ungezählten Fällen mit Erfolg der Versuch gemacht, den neueren Erkenntnissen des Käufer-Marktes und der Kunden-Mentalität entsprechende, auf die psychologischen Sonderbedingungen der Selbstbedienung zugeschnittene, lichte und freundliche ,Gehäuse’ zu schaffen, die Kaufstimmung stimulieren.“84
Aus den Quellen lassen sich immer wiederkehrende Einrichtungsgrundsätze herauslesen, die im Interesse des Kunden Übersichtlichkeit, Schnelligkeit, Bequemlichkeit, Großzügigkeit und Abwechslung fördern sollten.85 Diese Vorstellungen über die Anforderungen des Konsumenten an den Selbstbedienungsladen äußerten sich in der Gestaltung der verschiedenen Bestandteile des Geschäftes. Trotz der Vielzahl der Darstellungen lässt sich ein relativ einheitliches Bild eines nachzeichnen.86 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die konzeptionellen Überlegungen zur Gestaltung der neuen Geschäfte stark auf einem normativen Anspruch beruhten, die in der Einzelhandelspraxis sicher eine sehr unterschiedliche Umsetzung erfuhren. Außerdem unterlagen die Techniken des Ladenbaus und der Warenauslage mit der Weiterentwicklung der Vertriebsformen einem Wandlungsprozess. Sie mussten ständig den veränderten Größendimensionen, den technischen 82 83 84
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86
Brändli 2000, S. 45. Vgl. Wildt 1996, S. 149. Schulz-Klingauf 1960, S. 123. Auch: Arbeitsgemeinschaft der Süddeutschen Fachverbände des Lebensmitteleinzelhandels: Schönere Läden – leichteres Verkaufen, 1956, S. 57, BWA F36/229. Gerhard 1956, S. 107; Warum ich immer wieder bei X kaufe, in: Selbstbedienung, 4/1957/58, S. 32f. Vgl. Brändli 2000, S. 47.
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Möglichkeiten, den ästhetischen und modischen Kriterien sowie den neuesten psychologischen Kenntnissen angepasst werden. Über das Schaufenster kam ein potentieller Kunde als Erstes mit dem Lebensmittelgeschäft in Kontakt. Während der Bedienungsladen in der Regel ein „geschlossenes“ Schaufenster hatte, ermöglichte beim Selbstbedienungsladen ein „offenes“ Schaufenster den Blick in den Geschäftsraum. Nicht mehr das im Schaufenster ausgestellte Sortiment sollte zum Einkauf animieren, sondern der Laden selbst sollte mit seiner Einrichtung und mit den in ihm einkaufenden Kunden für sich werben.87 Die größte Neuerung gegenüber der traditionellen Verkaufsform vollzog sich bei den Einrichtungsgegenständen und ihrer Anordnung im Raum. Bereits öfters wurde betont, dass der Ladentisch mit der Einführung der Selbstbedienung aus dem Lebensmittelgeschäft verschwand. Gleichwohl blieben als Ausnahme die Bedientheken, an denen Frischfleisch, Feinkostwaren sowie in der Anfangszeit Obst und Gemüse verkauft wurden. Die Regale befanden sich an den Längsseiten des Verkaufsraumes. Dabei ging man davon aus, dass sich die Kunden gegen den Uhrzeigersinn im Laden bewegten, den Blick meistens nach rechts gewandt hatten und mit der rechten Hand nach der Ware griffen. Gemäß der Leitfäden für die Praxis sollten die Einzelhändler die Produkte mit der höchsten Gewinnspanne in den Regalen auf Augenhöhe positionieren.88 Daneben gab es eine Vielzahl frei stehender Einrichtungsgegenstände, die man abhängig von der Größe und dem Grundriss des Ladens anordnete, wie z. B. Gondeln, Schüttauslagen und Kühltruhen. Sie lockerten den Geschäftsraum auf, durften aber gleichzeitig nicht die Übersichtlichkeit oder die Bewegungsfreiheit des Kunden einschränken. Schaufenster und Ladeninventar galten als Gestaltungselemente, die sich nicht vor die Ware drängen sollten, sondern vielmehr den unsichtbaren Hintergrund bildeten. Sie agierten als „stummer Diener bei der Darbietung der Ware“.89 Das Zentrum des Selbstbedienungskosmos bildete die Kasse. Dort musste die gesamte Kundschaft vorbei. Dabei galt als Grundregel: Je schneller der Bezahlvorgang erfolgen konnte, an desto mehr Kunden konnte verkauft werden. Im Umkehrschluss betrachtete man in Fachkreisen die Kasse als „neuralgischen Punkt“ des Selbstbedienungsladens, denn: „Die ganze 87
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Schucht 1956, S.41; Suter 1963, S.46; Treichel 1965, S. 143; Welchen Weg geht die moderne Ladenbautechnik?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 7.3.1953. Vgl. Falk 1965, S. 25; Kline, George E.: Modern Super Markets & Superettes, New York 1956, S. 12; Schulz-Klingauf 1960, S. 127; Treichel 1965, S. 32. Schucht 1956, S. 38.
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Freude an einem guten Einkauf kann einer Kundin vergehen, wenn sie nachher lange an der Kasse warten muß.“90 Gleichzeitig stellte sie meistens die einzige Stelle im Selbstbedienungsladen dar, an der der Kunde mit dem Personal in Kontakt kam. Aus diesen Gründen wurde der Kassenorganisation große Aufmerksamkeit geschenkt. Neben einer guten Ausbildung des Kassenpersonals und der eindeutigen Auszeichnung der Preise lag das Rationalisierungspotential hier hauptsächlich in der technischen Weiterentwicklung der verschiedenen Kassenmodelle.91 Neue Möglichkeiten eröffneten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die ersten Versuche, die Kassen zu digitalisieren.92 Dass diese Innovationsprozesse allerdings für sich bereits komplexe Entwicklungs- und Aushandlungsvorgänge darstellten, bevor sie in der Einzelhandelspraxis flächendeckende Anwendung fanden, zeigt Girschik anhand ihrer Studie zur Computerisierung des Kassenwesens im Schweizer Einzelhandelsunternehmen Migros.93 Für den Einzelhandel zählten die Kassen zu den teuersten Investitionen. Sie mussten die Anforderungen der Schnelligkeit und der Wirtschaftlichkeit sowie der Sicherheit und der Bequemlichkeit für den Kunden erfüllen, um den Einkauf zu einem positiven Abschluss zu bringen.94 Als Kundenlauf bezeichnete man den Einkaufsweg eines Käufers durch den Selbstbedienungsladen, der durch bestimmte Methoden gezielt gelenkt werden konnte. Diese hatten folgendes Ziel:
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Zitate: Treichel 1965, S. 213 und Suter 1963, S. 49. Auch: Arbeitsteilung beim Kassieren, in: Handelsblatt, Beilage Der wirtschaftliche Warenweg, 21.3.1960; Brune, Ilse: Selbstbedienung verwöhnt den Kunden, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 4.3.1967; Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961; Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 81. Deutsch 1968, S. 123; Diemel, Egon; Heinrich E.: Modernes Kassieren im Lebensmitteleinzelhandel, Köln 1962, S. 12. Internationale Normung der Information, in: Rationeller Handel, 3/1971. Girschik, Katja: Als die Kassen lesen lernten. Die Anfänge der rechnergestützten Warenwirtschaft bei der Migros, in: Traverse, 12, 2005, H. 3, S. 110-125; Walsh 1993, S. 154. Vgl. Menke 2012 und das Forschungsprojekt „Digitalisierung und Individualisierung: Moderne Informationstechnologien und die Veränderung der Interaktionen zwischen Lebensmitteleinzelhandel und Konsumenten in der New Food Economy“ am Zentralinstitut für Geschichte der Technik (München) unter Leitung von Prof. Dr. Karin Zachmann. Vgl. Kassieren: Schneller, besser, teurer?, in: Handelsblatt, Beilage Der wirtschaftliche Warenweg, 16.5.1960.
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„Der kluge Detaillist hat also mit diesen Waren ein gutes Mittel in den Händen, um die Kundschaft von einem wichtigen Artikel zum anderen zu führen und sie ganz nebenbei auch die Zusatzartikel mitnehmen zu lassen.“95
Gesteuert werden konnte der Käufer hauptsächlich durch die räumliche Anordnung der Waren im Verkaufsraum. Obwohl über die Art und Weise der Verteilung der einzelnen Abteilungen im Laden divergierende Auffassungen bestanden, lassen sich einige grundlegende Prinzipien festhalten. Erstens sollte sich die Reihenfolge der Warenabteilungen nach dem Einkaufszettel und somit nach dem Speiseplan der Hausfrau richten.96 Zweitens sollten die so genannten „Magneten“, worunter meistens die Frischfleischoder Feinkosttheke verstanden wurde, im hinteren Teil des Ladens positioniert werden, damit der Kunde auf dem Weg dorthin zwangsläufig den gesamten Verkaufsraum durchqueren musste.97 Aus ähnlichen Überlegungen heraus sollten die Artikel des täglichen Bedarfs über den ganzen Laden verteilt werden.98 Drittens legte man großen Wert auf eine Zusammenstellung der Artikel in einem bestimmten Sinnzusammenhang, entweder in Produktfamilien oder in einem thematischen Kontext, z. B. „alles für den Frühstückstisch“, „alles fürs Camping“.99 Die Absicht dieser Anordnung war eindeutig: „Die kundenorientierte Sortimentsgliederung ‚denkt’ für den einkaufenden Kunden, indem sie zusammengehörige Artikel auch zusammen zeigt und dadurch eine Kettenreaktion von Käufen verursacht.“100
Die bewusste Vorstrukturierung der Präsentation des Sortiments lässt sich in die Beobachtungen Baudrillards einordnen, nach denen in der Konsumgesellschaft nur noch wenige Objekte für sich allein genommen angeboten werden, sondern sie meistens im Kontext anderer Objekte stehen.101
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96 97
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Gerhard 1956, S. 130. Auch: Schulz-Klingauf 1960, S. 126; Riethmüller 1953, S. 45f.; Suter 1963, S. 47. Selbstbedienung, 5/1957/ 58, S. 6; Riethmüller 1953, S. 40; Schucht 1956, S. 43. Gerhard 1956, S.129; Kline 1956, S.12; Selbstbedienung 1957/ 58, 5, S. 4; Schucht 1956, S. 36; Schulz-Klingauf 1960, S. 126; Suter 1963, S. 47; Treichel 1965, S. 27. Gerhard 1956, S. 129; Riethmüller 1953, S. 44; Schucht 1956, S. 43. Genossenschaftlicher Selbstbedienungsladen nun auch in Essen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 16.9.1950; Schucht 1956, S. 44. Zur Zusammenstellung der einzelnen Artikel auch: Bruckhaus, Max, Wohin damit…? Eine kurze Anleitung für die richtige Warenanordnung im Lebensmittelgeschäft, Köln 1960, S. 30, 33. Schulz-Klingauf 1960, S. 244. Baudrillard, Jean: The consumer society. Myths and structures, London 2006, S. 27.
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Neben den psychologischen Überlegungen und natürlichen Zwängen wie der Verderblichkeit und hygienischen Vorschriften basierte die Warenanordnung im Lebensmittelladen auf soziokulturellen Vorstellungen von Lebensmitteln als Zutaten zu bestimmten Speisen, als Bestandteile ritualisierter Mahlzeiten und als „artverwandte“ Lebensmittel. Aber auch die gesellschaftlich und kulturell immer wieder neu verhandelte Frage, ob ein Produkt Luxus ist oder zum Grundbedarf gehört, bestimmte seine Platzierung in der Warenauslage. Wilkens brachte den kulturellen Kontext als Faktor der Warenpräsentation 1967 zugespitzt auf den Punkt: „A pea is a pea the world over, but what you are going to do with that pea in any country – that is what makes the difference.”102 Darüber hinaus spielten für die Gestaltung und Anordnung der Warenauslage weitere Aspekte, wie die Verkaufshäufigkeit, die Handelsspanne oder der Platzbedarf der Artikel eine Rolle.103 Die wichtigste Maxime war jedoch, dass die Regale immer voll zu sein hatten. Man vertrat die Ansicht, dass die Präsentation der Waren in Massen den größten Umsatz brachte.104 In einem Artikel der Zeitschrift Selbstbedienung wurde der freie Zugang der Käufer zu den Waren, ihr Angebot nicht mehr in Einzelstücken, sondern „im Stapel, in der Häufung“ als die fundamentale Neuerung im Erscheinungsbild des Lebensmittelgeschäftes bezeichnet.105 Teils verstärkte der Handel den „Mehreindruck“ künstlich, z. B. durch die Anbringung von Spiegeln in der Obsttheke. Werner Suhr fasste die Wirkung der Ausstellung von Waren in Massen auf den Konsumenten zusammen: Die wichtigste Maxime war jedoch, dass die Regale immer voll zu sein hatten. Man vertrat die Ansicht, dass die Präsentation der Waren in Massen den größten Umsatz brachte.106 In einem Artikel der Zeitschrift Selbstbedienung wurde der freie Zugang der Käufer zu den Waren, ihr Angebot nicht mehr in Einzelstücken, sondern „im Stapel, in der Häufung“ als die fundamentale Neuerung im Erscheinungsbild des Lebensmittelgeschäftes bezeichnet.107 Teils verstärkte der Handel den „Mehreindruck“ künstlich, z. B.
102 103 104
105 106
107
Wilkens 1967, S. 18. Bruckhaus 1960, S. 25ff.; Schulz-Klingauf 1960, S. 145; Treichel 1965, S. 41. Bruckhaus 1960, S. 13; Mellerowicz 1959, S. 102f.; Riethmüller 1953, S. 46; Schreiterer 1955, S. 16; Treichel 1965, S. 25; Zehn Grundsätze für den Massenabsatz im Detailhandel, 1959, S. 1, BWA F36/598. Selbstbedienung, 5/1957/58, S. 17. Auch: RKW 1956, S. 16. Bruckhaus 1960, S. 13; Mellerowicz 1959, S. 102f.; Riethmüller 1953, S. 46; Schreiterer 1955, S. 16; Treichel 1965, S. 25; Zehn Grundsätze für den Massenabsatz im Detailhandel, 1959, S. 1, BWA F36/598. Selbstbedienung, 5/1957/58, S. 17. Auch: RKW 1956, S. 16.
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durch die Anbringung von Spiegeln in der Obsttheke. Werner Suhr fasste die Wirkung der Ausstellung von Waren in Massen auf den Konsumenten zusammen: „Das erste, was mir auffällt, ist die Tatsache, daß die ausgebreitete und bei aller Übersichtlichkeit verwirrende Fülle des Angebots auf die weibliche Kundschaft einen sowohl beruhigenden als auch beunruhigenden Eindruck macht. Beruhigend wirkt anscheinend die Erwartung, bei einem solchen Angebot zu finden, was man sucht; beunruhigend hingegen die naheliegende Möglichkeit, sich angesichts der Verlockungen – man braucht ja tatsächlich nur zuzugreifen! – zu ‚verkaufen‘, nämlich mehr oder anderes zu kaufen, als man beabsichtigt hat.“108
Die von Suhr beschriebene Ambivalenz stellte ein charakteristisches Merkmal des Wechselspiels zwischen dem stimulierenden Angebot durch das Massendistributionssystem und den Wahlmöglichkeiten in der Massenkonsumgesellschaft dar. Mit seiner Warenfülle repräsentierte der Selbstbedienungsladen einen „demonstrativen Ort des Wohlstands“, in dem sich der Konsument frei und zugleich begrenzt durch die Vorgaben des Systems bewegen konnte.109 Zu dieser Kombination aus Fülle und Freiheit schrieb ein anderer Zeitgenosse Ende der 1950er Jahre: „Die vorverpackten Erzeugnisse können beliebig in die Hand genommen werden. ,Diese Möglichkeit steigert die Kauflust beträchtlich, denn es ist wahrscheinlich ein atavistischer Zug des Menschen, daß er viel mehr Freude an Dingen hat, die er selbst ergreift, als an solchen, die man ihm übergibt.‘ Durch den Zugang zum ganzen Güterreichtum, durch das Umgebensein von Überfluß wird das Kaufen lustbetont. Dieses Lustgefühl wird verstärkt durch loses Aufschichten großer Warenmengen.“110
An der Planung der Ladeneinrichtung, der Sortimentsanordnung und der Warenauslage zeigt sich, wie dem Kunden durch die Gestaltung des Selbstbedienungsladens eine implizite Gebrauchsanweisung für dessen Benutzung gegeben wurde. Das Verhalten im Laden unterlag bestimmten standardisierten und nicht individuell festgelegten Normen, die den Kunden auf „einer unsichtbaren Bahn“ lenkten.111 In diesem Sinne interpretiert Brändli den 108
109 110
111
Suhr, Werner: Packungschancen in Selbstbedienungsläden, in: Verpackungs-Rundschau, 7/1957. Brändli 2000, S. 14, 42ff. Selowsky, Gert: Die Möglichkeiten der Rationalisierung im Einzelhandelsbetrieb mittlerer Grösse, Heidelberg 1958, S. 59f. Brändli 2000, S. 79.
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Selbstbedienungsladen als Disziplinarinstitution, bei dem zwingende Räume und eine festgelegte Architektur als disziplinierendes Instrument fungierten.112 Sie differenziert dabei zwischen drei Aspekten: erstens der Eigenschaft des Selbstbedienungsladens als hochgradig organisiertem Raum, der zweitens starke Vorgaben darüber macht, wie der Kunde sich bewegen soll und drittens in vielschichtiger Weise durch Sichtbarkeiten konstruiert ist, die eine Kontrollfunktion ausüben. Die Schaffung eines bewusst vorstrukturierten Raumes äußerte sich neben den bereits genannten Aspekten auch in den minuziösen Überlegungen zur farblichen Gestaltung des Ladens und zur Beleuchtung.113 Beiden Faktoren wurden spezifische Wirkungen zugeschrieben, die bei den Kunden bestimmte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster hervorriefen. Riethmüller war sogar der Meinung, dass eine falsche Beleuchtung zum Verlust von Kunden führen könne: „Eine Kundin wird einen Laden meiden, in dem sie das unangenehme Gefühl hat, nicht gut auszusehen.“114 Anhand der vorgestellten Kriterien, die bei der Ladengestaltung Berücksichtigung fanden, konnte herausgearbeitet werden, welche grundlegende Bedeutung Kenntnisse über den Konsumenten und seine psychische Beschaffenheit besaßen – sei es zu wissen, wie der Einkaufszettel der deutschen Hausfrau aussah oder welche Farben eine positive Auswirkung auf ihre Stimmung hatten. Bei der Gestaltung des Ladens wurde Zweckmäßigkeit immer eng mit Schönheit verknüpft. Dem Kunden sollte durch ein angenehmes „Verkaufsklima“ das Gefühl gegeben werden, der Einkauf bereite ihm Vergnügen.115 Die Neuartigkeit des Arrangements im Selbstbedienungsladen äußerte sich deshalb nicht nur in der quantitativen Zunahme des Angebots und dessen logistischer Organisation, sondern gewann auch die „immateriellen Komponenten des Vergnügens und der Ästhetik“ hinzu.116 112 113
114 115
116
Brändli 2000, S. 93ff. Auch: Humphery 1998, S. 94; Usherwood 2000, S. 120f. Vgl. Beleuchtung als wichtiger Verkaufsfaktor, in: Handelsblatt, Beilage Der deutsche Handel, 12/1954; Der Konsumladen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.9.1956; Die Farbe als Mittel zur Leistungs- und Erfolgssteigerung im Einzelhandel, Rationalisierungsbriefe des Handels, 5/1952, WWA K3/1284; Selbstbedienung 5/1957/58, S. 7. Schulz-Klingauf 1960, S. 191ff.; Welchen Weg geht die moderne Ladenbautechnik?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 7.3.1953. Riethmüller 1953, S. 35. Der „Konsum“ in einem Heidedorf, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.6.1957; Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm: Geschäftsbericht 1961, S. 3f., WWA S7/569/1; Wieder zwei neue genossenschaftliche Selbstbedienungsläden, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 23.12.1950. Brändli 2000, S. 15.
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Der moderne Selbstbedienungsladen und Supermarkt galten somit als die „ideale Synthese zwischen ästhetischer Formgebung und zeitgemäßer Sachlichkeit“.117 Dabei erfolgten die theoretischen Überlegungen immer in enger Rückbindung an die Praxis, wo sie auf ihre erfolgreiche Wirkung hin erprobt wurden. Der Selbstbedienungsladen, in dem das Wissen zur Anwendung kam, bildete die konkrete Schnittstelle zwischen dem Wissen über den Kunden, dessen eigentümlicher Instrumentalisierung durch den Verkäufer und dem entsprechenden Einkaufsverhalten. Die grundlegendsten Innovationen in der materiellen Ausstattung der Selbstbedienungsgeschäfte setzten sich im Verlauf der 1950er Jahre durch.118 Dazu zählten neben den typischen Ladenmöbeln z. B. der Einkaufskorb bzw. der Einkaufswagen sowie der Kassierstand. Die steigende Nachfrage nach diesen Einrichtungsgegenständen förderte ihre kostengünstige Produktion und Weiterentwicklung. So wurden die ersten Einkaufskörbe für den Demonstrationsraum der Nationale Registrierkassen GmbH in Augsburg von der Wanzl Metallwarenfabrik GmbH noch von Hand gefertigt. Der erste Großauftrag an die Firma waren 500 Einkaufswagen für Herbert Eklöhs Supermarkt in der Rheinlandhalle in Köln.119 Dies ist aber auch ein gutes Beispiel für den allmählichen Lernprozess von Einzelhändlern und Kunden im Umgang mit den Innovationen im Verkaufswesen. Die Mitarbeiter des Eklöh-Supermarktes sprachen sich dagegen aus, den Kunden nur Einkaufswagen für den Transport der Waren zur Verfügung zu stellen. In der Eröffnungswoche gab es eine Vielzahl von Stimmen, die „es empört ablehnten ¸eine lächerliche Figur abzugeben, indem sie der Firma Eklöh zuliebe kinderwagen-ähnliche [sic!] Gefährte vor sich herschöben.‘“120 In einer Umfrage der Nationale Registrierkassen GmbH Augsburg gaben Anfang der 1960er Jahre 62,3 Prozent der Befragten an, lieber einen Einkaufskorb zu benutzen, während nur 33,2 Prozent den Einkaufswagen bevorzugten.121 Gleichzeitig waren große Einkaufswagen wie in den USA auch aus dem Grund zunächst völlig unangemessen für die deutschen Verhältnisse, da die Gänge der Läden schmaler ausfielen und der Umfang der eingekauften Artikel viel geringer war. 117
118
119 120 121
Stuttgart – moderne Stadt – moderne Läden, in: Edeka-Rundschau, 27.6.1958. Auch: Etwas über die Zweckmässigkeit der Ladeneinrichtung, in: Fachblatt SB, 7/1958, S. 2224. Nast 1997, S. 98. Zusammenfassend zu den Aspekten der Ladenbaus: Selbstbedienung 5/1957/ 58, S. 2ff. ISB 1988, S. 38. Ebd., S. 44f. 88 Prozent für Einkauf im SB-Geschäft, in: Rewe-Echo, 7/1962.
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Aus dem Zusammenspiel von zunehmender praktischer Erfahrung, technischer Entwicklung und höheren finanziellen Investitionen erfuhr die materielle Gestaltung der neuen Lebensmittelgeschäfte v. a. seit Ende der 1950er Jahre eine Differenzierung und verstärkte Rationalisierung. Im Zuge dessen zeichneten sich verschiedene Tendenzen der Professionalisierung und Standardisierung des Ladenbaus und der Warenpräsentation ab. Während im traditionellen Bedienungsladen die Einrichtung zum großen Teil individuell in der Hand des Einzelhändlers lag, wurden nach einer ersten Experimentierphase mit den Selbstbedienungsläden standardisierte Gestaltungsprinzipien tonangebend.122 In diesem Zusammenhang etablierte sich eine neue Expertengruppe im Fachbereich des Ladenbaus. Der Arbeitsbericht der HDE aus dem Jahr 1956 hielt fest, dass sich in den letzten Jahren ein neuer Beruf – der Ladenbauberater – herausgebildet habe.123 Insgesamt erlebte die Nachkriegszeit eine Hochkonjunktur von Vereinen, Interessengemeinschaft und Arbeitsgemeinschaften, die sich den verschiedenen Themen der Ladengestaltung widmeten. Dazu zählten z. B. der Bund deutscher Schaufensterdekorateure, die Studiengemeinschaft Licht oder die Arbeitsgemeinschaft Ladenbau. Daneben gründeten die Einzelhandelszusammenschlüsse spezifische Abteilungen, in der sich Fachleute um die Einrichtung der Geschäfte kümmerten. Die Verbreitung der standardisierten Gestaltungsprinzipien erfolgte durch Broschüren, in den Unternehmenszeitschriften, aber auch durch die persönliche Beratung der Einzelhändler vor Ort.124 Außerdem entwickelte man vorgefertigte Regal- und Ladenmöbelsysteme, so genannte Baukastensysteme, die die Ausstattung der einzelnen Geschäfte kostengünstiger und rationeller machten. Gleichzeitig trugen diese Standardeinrichtungen zur Schaffung eines corporate design der verschiedenen Läden eines Unternehmens bei.125 In den 1960er Jahren verbreitete sich darüber hinaus das Modell des schlüsselfertigen Ladens, bei dem Spezialisten der Unternehmenszentrale vollständig die Konzeption und die Ausführung durchführten. Im Laufe der 1950er Jahre entstanden neben den genannten Einrichtungen der Einzelhandelsunternehmen immer mehr Ladenbaufirmen, wie z. B. combi-store, Hansa-Kontor oder Harr, die einen neuen Markt rund um die Ein 122 123 124
125
Vgl. zur Zeit vor 1945: Spiekermann 1999, S. 585-591. HDE: Arbeitsbericht 1956, S. 96, Wirtschaftsarchiv Universität Köln N2/4. Es geht um den Fortschritt im Ladenbau, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 19.3.1960. Großraumläden aus Fertigteilen, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.6.1964; Rationelleres Fertigungsprogramm der Edeka Ladenbauer, in: Edeka-Rundschau, 15./22.11.1963; Rewe (Zentralorganisation): Geschäftsbericht 1962, S. 26; 25 Jahre Selbstbedienung, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 11/1963, S. 10-20.
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richtung und Gestaltung eines Einzelhandelsgeschäftes etablierten.126 Knight gab 1965 eine Zahl von 400 deutschen Firmen an, die sich mit der Ausstattung von Selbstbedienungsgeschäften und Supermärkten beschäftigten und bezeichnete den Wettbewerb zwischen ihnen als „cut-throat“.127 Ebenso wie die Ladenbauabteilungen der Einzelhandelszusammenschlüsse und die entsprechenden Beratungsstellen der Verbände stellten die Ladenbaufirmen einen Entbettungsmechanismus dar, bei dem das Vertrauen des Kaufmanns in die eigene Intuition und in eine an die individuelle Stammkundschaft angepasste Ladeneinrichtung in ein Vertrauen in das Spezialwissen und die Fachkompetenzen der Experten transferiert wurde.128 Darüber hinaus verdeutlicht das Beispiel der Ladenbaufirmen einen Prozess der Ökonomisierung von Wissen. Die Externalisierung aus dem kaufmännischen Aufgabenbereich machte Wissen über die zeitgemäße, rationelle und absatzfördernde Einrichtung eines Ladens zur Ware, in das der Einzelhandel zunehmend Kapital investierte. Die Notwendigkeit dessen wurde Anfang der 1960er Jahre folgendermaßen begründet: „Es genügt nicht mehr, Ware als Handelsartikel zu besitzen. Jede Warenleistung muß überzeugend und kaufanreizend dargeboten werden. Diese Aufgabe ist inzwischen zu einer Wissenschaft geworden. Alle Gestaltungsmöglichkeiten, von der baulichen Konzeption über die rationelle Einrichtung bis zur psychologischen Farbgebung müssen zu einer harmonischen Einheit verschmolzen werden. Nur so kann ihr Geschäft im großen Markt von morgen wettbewerbsfähig bleiben.“129
3. Das Produkt verkauft sich selbst: neue Produkte – neue Präsentation 3.1 Der Wandel des Sortiments im Lebensmitteleinzelhandel Für die Entscheidung des Kunden, in einem bestimmten Lebensmittelgeschäft einzukaufen, war neben dem Standort, persönlichen Kriterien und der Einrichtung des Ladens das vorhandene Angebot an Waren ausschlag 126
127 128 129
Bsp.: Anzeige von Adolf Kurz KG, Fabrik für fortschrittlichen Ladenbau, in: ReweEcho, 15.11.1962; Anzeige von Linde, in: Rewe-Echo, 6/1966; Sonderheft 50 Jahre Anuga 1919 bis 1969, 1969, BAK B 116/22320. Knight 1965, S. 11. Vgl. Giddens 1995, S. 39; Stehr 1994, S. 357. Broschüre „Zukunfts-Chancen des Handels“, Ankündigung für Arbeitsgemeinschaft „Vekaufspsychologische Ladengestaltung, die Stärke des Einzelhandels“ vom 24.-29. Juni 1963 in Salzburg, 1963, BWA K9/526.
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gebend.130 Letztlich bestand die Hauptmotivation der Kunden im Erwerb und im Verbrauch von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Parallel zur Einführung der Selbstbedienung zeichnete sich ein deutlicher Wandel in der Sortimentsstruktur des Lebensmitteleinzelhandels ab. Dieser basierte zum einen auf den veränderten verkaufstechnischen Möglichkeiten, zum anderen auf dem umfassenden Wandel der Verbrauchergewohnheiten. Im folgenden Kapitel soll versucht werden, die wichtigsten Tendenzen der Umstrukturierung des Sortiments in den 1950er und 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung der Vertriebsinnovationen nachzuzeichnen. Die beiden Nachkriegsjahrzehnte prägte ein stetiger Anstieg der im Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft verkauften Artikel. Das wachsende Warenangebot konnte auf den immer ausgedehnteren Flächen der neuen Ladentypen dem Kunden in übersichtlicher Weise unmittelbar zugänglich gemacht werden. Bis in die 1960er Jahre entwickelte sich das so genannte „Vollsortiment“. Frische und handwerklich hergestellte Nahrungsmittel, wie Milch und Milchprodukte, Obst und Gemüse, Backwaren und Frischfleisch, die ursprünglich nur im Fachgeschäft verkauft wurden, erweiterten das Sortiment des Lebensmittelgeschäftes. Während sich der Verkauf von Milcherzeugnissen und von zunehmend industriell hergestellten Backwaren aufgrund der neuen verpackungstechnischen Möglichkeiten als wenig problematisch erwies, blieb der Verkauf von Obst und Gemüse sowie von Frischfleisch in Selbstbedienung bis in die 1960er Jahre ein ausführlich diskutiertes Thema und ein entscheidendes Hindernis für die Umstellung vieler Läden auf Vollselbstbedienung. Der Wunsch des Kunden, seinen Lebensmitteleinkauf nicht auf mehrere Geschäfte verteilen zu müssen, machte den Verkauf der Frischwaren aber zu einem ausschlaggebenden Wettbewerbsfaktor. Darüber hinaus stieg der Fleischkonsum v. a. von Geflügel und Schweinefleisch in der Nachkriegszeit stark an.131 Ab den späten 1950er Jahren zählten Fleischwaren, Obst und Gemüse zu den umsatzstärksten Waren. Henksmeier gab 1963 an, dass zwölf Prozent des Umsatzes im Lebensmittelgeschäft mit Fleischwaren und zehn Prozent mit Obst und Gemüse getätigt wurden.132 Diese Tendenz stieg in den nachfolgenden Jahren weiter an. 130 131 132
Vgl. Benson, Ugolini 2006, S. 10. Wildt 1993, S. 278f. Henskmeier 1963, S. 41; Auch: Liebler, Eduard: Verkauf von Fleisch und Wurst. Eine umfassende Darstellung der Arbeiten und Probleme des Fleisch- und Wurstwarenverkaufs in Selbstbedienungs- und in Bedienungsabteilungen der SB-Läden, Supermärkte, Verbrauchermärkte, SB-Warenhäuser sowie der Kauf- und Warenhäuser, Köln 1969,
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Während in der Frühphase der Selbstbedienung viele Lebensmittelgeschäfte über Bedientheken für den Verkauf dieser Waren verfügten, förderten die Entwicklung der Technik und der Verpackung, aber auch die positive Kundenresonanz und die steigenden Erfahrungswerte deren Verkauf in Selbstbedienung. Trotzdem blieben die frischen Lebensmittel aufgrund ihrer Empfindlichkeit und schnellen Verderblichkeit immer ein Risikofaktor für den Einzelhändler. Das Beispiel der Fleischprodukte zeigt, wie viele verschiedene Faktoren auf die Innovationen im Verkaufswesen einwirkten. Der Umgang mit Fleisch unterlag strengen hygienischen Vorschriften, so dass die Zerlegung, Zusammenstellung und Abpackung durch den Einzelhändler überhaupt nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen möglich war. So wurde z. B. die Hackfleischverordnung aus den 1930er Jahren erst 1965 abgewandelt. Sie ließ den Verkauf von Hackfleisch nur in Schlachtereien und Fleischereibetrieben zu.133 Auch die Anstellung des notwendigen Fachpersonals erwies sich als problematisch. German und Walsh konnten am Beispiel der Fleischabteilungen in US-amerikanischen Supermärkten zeigen, auf welche Widerstände die Zubereitung selbstbedienungsgerechter Fleischprodukte von Seiten der Metzger stieß.134 Auch für den westdeutschen Fall lassen sich in den Quellen Hinweise darauf finden, dass die Fleischer sich gegen die Einführung des Verkaufs in Selbstbedienung wendeten. So kam es beispielsweise bei den Kursen zur Selbstbedienung des MSA 1953 in Hamburg zu „unerfreulichen Demonstrationen“ der Schlachter.135 Auch in Italien initiierten die Metzger Aktionen gegen den Verkauf in den Supermarket Italiani, indem sie die Fleischtheken in diesen Läden zeitweise blockierten.136 Die hauptsächliche Befürchtung bestand darin, dass dem Handwerk und den Fachgeschäften die Existenzgrundlage entzogen würde. Die Selbstbedienungsgeschäfte verkauften die Fleischprodukte zu niedrigen Preisen als in den Fachgeschäften und die Verbraucher zeigten sich sehr empfindlich bei 133
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S.4; Priess 1961, S. 17; Schleck, Klaus: Fleischprodukte in Selbstbedienung, Köln 1965, S. 6; Zur Frage Frischfleisch in Selbstbedienungsläden, in: Der Einzelhändler, 17.9.1958. Liebler 1969, S. 5, 11; Auch: Schleck 1965, S. 6; Tietz 1966, S. 55-57; Vermerk von Claus Glismann, betr. Verkauf von Frischfleisch, Fleisch- und Wurstwaren; Hier Fa. Schweissfurt, Herten/ Westfalen (8.3.1957), BAK B116/8208. German 1978, S. 111; Walsh 1993, S. 59-88. Einzelhandelsverband Nord-Rheinprovinz, Bezirksverband Essen, betr. Vorträge amerikanischer Spezialisten für Ladenbau und Verkaufstechnik im LebensmittelEinzelhandel (10.2.1953), S. 5, RWWA 28/145/7. Scarpellini 2004, S. 655.
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der Preisentwicklung der Fleischprodukte.137 So gaben z. B. 1955 in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 74 Prozent der Befragten an, dass der Preis für Fleisch viel zu hoch liege.138 Darüber hinaus sah man Differenzen zwischen der Bezahlung, der Arbeitsweise und dem Verkaufsverständnis des Metzgereipersonals und der Leitung eines Selbstbedienungsladens.139 Neben den neuen Lebensmittel-Warengruppen beeinflusste die Zunahme vorbereiteter und vorgefertigter Waren entscheidend die Ausdifferenzierung der Sortimentsstruktur im Lebensmitteleinzelhandel. So war ab Mitte der 1950er Jahre ein steigender Konsum von Konserven und Tiefkühlprodukten zu beobachten. Insbesondere der Kauf von Obst und Gemüse in Konservendosen nahm stark zu.140 In diesem Trend kulminierte der Wunsch nach einer schnelleren und bequemeren Zubereitung der Mahlzeiten sowie nach Unabhängigkeit vom saisonalen Angebot.141 Ähnliche Gründe führten auch zur steigenden Nachfrage nach Tiefkühlprodukten. Laut Disch stieg der Umsatz an tiefgekühlten Lebensmitteln zwischen 1954 und 1964 von 4000 auf 164.500 Tonnen pro Jahr.142 Allerdings erwies sich das Fehlen einer geschlossenen Kühlkette vom Produzenten bis zum Verbraucherhaushalt zunächst als ein entscheidendes Hindernis für die flächendeckende Ausbreitung tiefgekühlter Lebensmittel. Während sich die Kühltruhen in den meisten Einzelhandelsgeschäften bis zur Mitte der 1960er Jahre durchsetzen konnten, verfügten zu diesem Zeitpunkt erst fünf Prozent der Haushalte über Tiefkühltruhen oder -fächer.143 Dennoch stieß die Tiefkühlkost laut einer Umfrage der EPA aus dem Jahr 1956 grundsätzlich auf große
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Vgl. Schleck, Klaus: Fehlt der Kaufmann in der Fleischabteilung, in: Rationeller Handel, 2/1965, S. 19-20; Vermerk von Claus Glismann, betr. Verkauf von Frischfleisch, Fleisch- und Wurstwaren (8.3.1957), S. 1, BAK B116/8208. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, S. 234. Vgl. auch: Hilke 1956, S. 65; Liebler 1969, S. 8. Liebler 1969, S. 9; Schleck, Klaus: Fehlt der Kaufmann in der Fleischabteilung, in: Rationeller Handel, 2/1965, S.19-20. Sywottek, Arnold: The Americanization of Everyday Life? Early Trends in Consumer and Leisure-Time Behavior, in: Ermarth, Michael (Hg.): America and the Shaping of German Society, 1945-1955, Oxford 1993, S. 132-152. (nachfolgend Sywottek 1993a); Wildt 1993, S. 285. Vgl. Dardemann 2005, S. 61; Sywottek 1993a, S. 148; Wildt 1993, S. 285. Disch 1966, S. 75. Ausführlich zur Geschichte der Tiefkühlkost: Teuteberg, Hans Jürgen: Zur Geschichte der Kühlkost und des Tiefgefrierens, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 36, 1991, H. 3, S. 139-155. Disch 1966, S. 75.
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Zustimmung durch die westdeutschen Konsumenten.144 Am meisten gefragt war Gemüse, v. a. Spinat, Obst, dann Fleisch und Geflügel sowie Fisch.145 Allgemein prägte ein Trend zu vorbereiteten Lebensmitteln, den so genannten Convenience-Produkten, die 1960er Jahre. Ihr Umsatzanteil stieg im Laufe des Jahrzehnts im Vergleich zu den 1950er Jahren von 5 auf 20 Prozent.146 Dazu zählten Fertignahrung für Säuglinge und Kleinkinder, Suppen in Dosen und Tüten sowie eine Vielzahl von Instantprodukten und anderen tellerfertigen Gerichten. So konnten Haushaltsfunktionen an die industrielle Produktion ausgelagert werden. Eine weitere Tendenz war die Zunahme diätischer und kalorienreduzierter Produkte. Im Anschluss an die nachholende „Fresswelle“ der frühen 1950er Jahre und an die gestiegene Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Lebensmitteln in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, drückte sich in der Reform- und Gesundheitsbewegung der 1960er Jahre ein Bewusstsein für die Folgen des Massenkonsums im Bereich der Ernährung aus.147 Die Entwicklung immer neuer vorgefertigter Produkte durch die Lebensmittelindustrie und der Wandel in den Konsumpräferenzen spiegelte sich in den Regalen der Selbstbedienungsgeschäfte und Supermärkte wider, in denen zunehmend verbrauchsfertige Lebensmittel dominierten. Solche funktional äquivalenten, industriellen Produkte verdrängten zunehmend den Konsum von typischen Erzeugnissen des traditionellen Sektors, d. h. primären Lebensmitteln.148 Mit dem Wandel der Ernährungsgewohnheiten in der Nachkriegszeit veränderte sich auch das Wissen der Konsumenten – v. a. der Hausfrauen – über die Eigenschaften und die Zubereitung von Lebensmitteln. Während Kenntnisse über die Selbstversorgung und die Konservierung im eigenen Haushalt an Relevanz einbüßten, war es eine neue Herausforderung beim 144 145
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Moss 1958, S. 13. Disch 1966, S. 74; Wie steht die Hausfrau zur Tiefkühlkost, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 11.4.1959. Batzer, Erich; Greipl, Erich: Marktpartner Handel – Lebensmittelhandel allgemein. Struktur und Entwicklungstrends, Band 1, Hamburg 1973, S. 85. Vgl. auch: Institut für Selbstbedienung: SB in Zahlen, Köln 1973/74, S. 157-159; Priess 1961, S. 19; Stern 1970, S. 6. Vgl.: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1969, S. 22, WWA S7/577; Paulig, Oswald: Leichtere Kost. Sortiments-Explosion im Supermarkt, in: Christ und Welt, 27.6.1969; Wandel in Verzehrgewohnheiten und Nahrungsmittelversorgung, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 5/1973, S. 40-44; Wie leben und essen wir 1975?, in: ReweEcho, 1.5.1969. Lutz 1992, S. 49.
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Einkauf den Überblick über die Vielfalt der neuen Produkte zu behalten.149 Dazu trug auch die zunehmende Internationalisierung des Lebensmittelangebotes bei: Nicht nur die Öffnung und Europäisierung der Märkte, sondern auch die Mobilität und Reisefreudigkeit vieler Westdeutscher beeinflusste die Zunahme von Waren mit weltweiter Herkunft.150 Sie eröffneten den Konsumenten eine weitere Möglichkeit der Differenzierung und der Schaffung neuer Ernährungsgewohnheiten, wie der berühmte „Toast Hawaii“ oder die Pizza. Dieses Nachfragepotential stellte den Einzelhandel vor die Aufgabe, Lebensmittel zeitlich effektiver und weiträumiger zu beschaffen. Schramm und Siegrist betonen allerdings, dass, auch wenn die 1960er Jahre von einer Zunahme internationaler und US-amerikanischer Produkte auf dem westdeutschen Markt gekennzeichnet waren, der Trend zu einer Internationalisierung nicht zu überschätzen sei. Ihrer Ansicht nach setzten seit Beginn der 1970er Jahre wiederum deutliche Prozesse der Regionalisierung von Konsummustern und Waren ein.151 Neben einschneidenden Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten musste der Lebensmitteleinzelhandel der 1950er und 1960er Jahre sich auch neuen Anforderungen im Bereich des Konsums von Nicht-Lebensmitteln stellen. Bestimmte Nicht-Lebensmittel wie Waschmittel, Seife oder andere Reinigungsutensilien gehörten schon vor 1945 zum Sortiment eines durchschnittlichen Lebensmittelgeschäftes. In den 1950er und 1960er Jahren nahm ihr Anteil allerdings deutlich zu. So betrug laut einer Studie des ISB von 1972 der Umsatzanteil der Nicht-Lebensmittel in den Selbstbedienungsgeschäften acht Prozent152 Die Aufnahme von „Non-Food“-Artikeln entsprach dem Wunsch der Konsumenten, möglichst viele Waren unter einem Dach einzukaufen. Zugleich stellte sie seit Beginn der 1960er Jahre für den Einzelhandel ein wichtiges Mittel zur Umsatzsteigerung dar.153 Mit steigendem Einkommen nahm der Anteil an Kosten für Lebensmittel ab, wäh 149
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Vgl. Mehr Auslandwaren auf die Theken, in: Handelsblatt, 2.6.1958; Treichel 1965, S. 125; Wie leben und essen wir 1975?, in: Rewe-Echo, 1.5.1969. Auch: Andersen 1997, S. 41. Zum Wandel der ausgeprägten ländlichen Selbstversorgung in diesem Zusammenhang vgl. Dardemann 2005. Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1966, S. 14, WWA S7/577; Priess 1961, S. 19; Treichel 1965, S. 125; Wie leben und essen wir 1975?, in: Rewe-Echo, 1.5.1969. Siegrist, Hannes; Schramm, Manuel: Regionalisierung europäischer Konsumkulturen im 20. Jahrhundert, Leipzig 2003, hier v. a. S. 16, 25f. Nichtlebensmittel mit höherem Umsatzanteil, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 8/1973, S. 2-8, hier S. 2. Die Dynamik der Selbstbedienung – eine Herausforderung, in: Rewe-Echo, 1.5.1969; Stern 1970, S. 3.
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rend sich eine verstärkte Nachfrage nach langfristigen Gebrauchsgütern und alltäglichen Verbrauchsgütern wie Hygieneartikel, Bücher und Zeitschriften oder Spielzeug entwickelte. Ein Beispiel dafür ist der sprunghafte Anstieg der Ausgaben für Kosmetikartikel gegen Ende der 1950er Jahre.154 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Wandel der Sortimentsstruktur im Lebensmitteleinzelhandel in den 1950er und 1960er Jahren eine in sich stark differenzierte Entwicklung darstellte. Sie beinhaltete scheinbar widersprüchliche Tendenzen wie die Ausdehnung des Frischwarensortiments bei gleichzeitig wachsendem Angebot an vorgefertigten Produkten, ebenso wie die parallele Standardisierung und Differenzierung von Angebot und Nachfrage. Entscheidend war dabei die flächendeckende Ausbreitung dieser Phänomene seit Ende der 1950er Jahre quer durch alle Bevölkerungsschichten. Die Vergrößerung des Sortimentes sowie die damit verbundene Nivellierung und Diversifizierung des Konsums repräsentierten bereits für die Zeitgenossen den Übergang vom Klassen- zum Massenmarkt. Dabei verbreitete sich der „gute Geschmack“ zunehmend in allen Bevölkerungsgruppen und es wirkten veränderte Mechanismen des sozialen und kulturellen Distinguierens durch neue „feine Unterschiede“ in der westdeutschen Konsumgesellschaft.155 Besonders deutlich wurden die Auswirkungen dieser Prozesse während der Formierung der Massenkonsumgesellschaft anhand der Umstrukturierung des Sortiments in den Selbstbedienungsläden, Supermärkten, Discountern und Verbrauchermärkten. 3.2 Die Verpackung Die Verpackung der Ware stellte die essentiellste Voraussetzung für die Einführung der Selbstbedienung dar. Zugleich war sie zunächst auch das größte Problem für die Umgestaltung der bundesdeutschen Lebensmittelgeschäfte. In den USA hatte die Konsumgüterindustrie die Entwicklung der Verpackung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts stark gefördert, was wiederum positive Auswirkungen auf die Selbstbedienung hatte. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen war die Selbstbedienung der erste Anstoß für eine 154 155
Wildt 1993, S. 277. Bock, Josef: Strukturwandlungen des Verbrauchs, Bonn 1957, S. 20; Schulz-Klingauf 1960, S. 199; Whidde 1955, S. 101. Wie der Einzelhandel mit der Zeit Schritt hält. Standardisierung nicht abzuwenden – Von der Bedarfsdeckung zur Bedarfsweckung, in: Die Glocke, 20.7.1955. Vgl. dazu die Forschung: Andersen 1998, S. 82f.; Berghoff 1999, S. 10; Tanner 1997, S. 607; Wildt 1993, S. 289.
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flächendeckende Ausbreitung verpackter Waren. An anderer Stelle wurde bereits darauf eingegangen, dass Industrie und Handel erst allmählich erfolgreich kooperierten. 1954 gründeten Repräsentanten des Groß- und Einzelhandels unter Mitwirkung der RGH den Arbeitskreis für Verpackungsfragen. Er setzte sich zum Ziel, der Industrie geschlossen mit neuen Ideen und Forderungen gegenüberzutreten.156 Aber auch im Einzelhandel gab es anfangs Widerstände gegen vorverpackte Produkte. So war der Einkauf von losen Waren in der Nachkriegszeit noch günstiger.157 Wie bereits ausgeführt, nahmen die Einzelhandelszusammenschlüsse in allen europäischen Ländern eine Vorreiterrolle für den Verkauf verpackter Lebensmittel ein.158 Die USA galten als Vorbild für die westdeutsche Verpackungsindustrie. Teilweise dienten die Care-Pakete und die Rationspackungen der US-amerikanischen Soldaten – laut Gebhard – als unmittelbares Anschauungsmaterial, das zur Nachahmung anregte. Außerdem bestand zwischen den USA und Europa ein aktiver Erfahrungsaustausch über alle Fragen der Verpackung, wie das Beispiel der „fahrbaren amerikanisch-deutschen Verpackungsschule“ aus dem Jahr 1955 oder die Informationsarbeit der Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels zeigt.159 Gebhard hielt darüber hinaus fest, dass die europäischen Länder und hier besonders die Vielzahl der europäischen Ausstellungen und Arbeitskreise einen förderlichen Einfluss auf das Verpackungswesen der Bundesrepublik Deutschland ausübten.160 Die Verpackung der Ware vor dem eigentlichen Verkauf implizierte eine Reihe von Rationalisierungsmöglichkeiten, die aber selbst auf eine effiziente und zentrale Lösung des Verpackungsvorgangs angewiesen waren. Während in den frühen 1950er Jahren vorrangig technische Probleme sowie die Be 156
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Die Lebensmittelverpackung ist kein Problem mehr, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.2.1955; Schucht 1956, S. 24f. Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 43. Ebd., S. 41, 44; Schucht 1956, S. 26. In der Forschung: Spiekermann 1999, S. 517f. Gebhard, Manfred, Die Entwicklung der Verpackung für Konsumfertigwaren seit 1945. Ihre Voraussetzung und Bedeutung, Nürnberg 1957, S. 10. Zum Vorbild USA auch: Anuga Pressemitteilung Nr. 89 (5.10.1955), BAK B116/1597; GFDAH: Faltblatt „Schön verpackt ist halb verkauft. Beispiele erfolgreicher Packungen aus der Musterschau amerikanischer Verpackungen“ (1954) BAK B140/274; Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels: Erfolgreiche Verpackungen amerikanischer Markenartikel. 20 Beispiele amerikanischer Verpackungen für Konsumgüter, Frankfurt a. M. 1951; Riethmüller 1953, S. 50f. In der Forschung auch: Kleinschmidt, Christian: „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Westdeutschlands Aufbruch ins Kunststoffzeitalter, in: Technikgeschichte, 68, 2001, H. 4, S. 355-372, hier S. 364; Nast 1997, S. 108. Gebhard 1957, S. 12. Zum europäischen Kontext z. B.: RGV: Informationsdienst Verpackung mit Dokumentationsdienst, 2/1956, WWA K5/2525.
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schaffung und die Finanzierung entsprechender Maschinen zur Diskussion standen, richtete sich das Interesse im Verlauf des Jahrzehnts zunehmend auf Fragen der Effizienzsteigerung und der verstärkten Rationalisierung des Verpackungsvorgangs an sich. Diskussionen über die schnellste und effektivste Zerlegung von rundem oder eckigem Gouda oder über StandardZuschnitte von Rind- und Schweinefleisch füllten die Fachzeitschriften.161 Dabei zeichnete sich die Analyse der Kosten, des Zeitaufwandes, des Materialverbrauchs und der Technisierungsmöglichkeiten konkreter Arbeitsvorgänge durch eine zunehmende Verwissenschaftlichung aus. Einer der zentralen Aspekte war dabei der Faktor der Zeitersparnis zugunsten des Kunden und des Verkäufers. Das Abwiegen und Verpacken durch die Bedienung im Laden dauerte 27,2 Sekunden, das Herausnehmen aus dem Selbstbedienungsregal 3,3 Sekunden. Für den gesamten Verkaufsvorgang bei verpackter Ware brauchte man Mitte der 1950er Jahre mit 37 Sekunden fast die Hälfte weniger Zeit als bei unverpackter Ware.162 Die Vorverpackung bedeutete eine Arbeitserleichterung für das Verkaufspersonal und verringerte die Kosten für Arbeitskräfte und Material.163 Außerdem trug sie zu mehr Effizienz beim Transport und bei der Lagerung der Waren bei, da man die Entwicklung standardisierter Größen und Formate der Produktpackungen anstrebte. Bis in die 1950er Jahre wurden die Lebensmitteleinzelhändler zum großen Teil noch mit losen Waren beliefert. Nur eine geringe Zahl der Produkte – die Markenartikel – verpackte bereits der Hersteller. Solche Artikel gab es in Deutschland bereits in den 1920er und 1930er Jahren v. a. im Genussmittelsektor, bei den Suppenwürzen und -würfeln sowie den Back- und Puddingpulvern. Aber der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Entwick 161
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ISB-Standard Zuschnitte setzen sich durch, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 2/1973, S. 46-47; Runder oder viereckiger Gouda?, in: Selbstbedienung, 4/1957/58, S. 18f.; Verpackung von Obst und Gemüse, in: Selbstbedienung, 3/1957/58, S. 12f.; Zentrale Vorverpackung von Frischeiern, in: Selbstbedienung, 3/1957/58, S. 11. Die Lebensmittelverpackung ist kein Problem mehr, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 5.2.1955; Mellerowicz 1959, S. 102. Vgl. allgemein zur Forschung im Zusammenhang mit der Verpackung: Rationalisierungs-Gemeinschaft Verpackung: Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Verpackungsgebiet. Eine Zusammenstellung v. bekanntgewordenen Dissertationen, Diplomarbeiten u. Abschlußarbeiten, Berlin 1964. Beispielsweise ergab eine Erhebung des Studienkreises für Verpackungsfragen des ISB anhand der Errechnung von Personal-, Maschinen-, Raum- und Materialkosten, dass die vollautomatische Verpackung von Reis pro Einheit insgesamt 3,39 DM kostete im Gegensatz zu 5,09 DM bei der manuellen Verpackung. Selbstbedienung, 5/1959, S. 7ff. Vgl. zur Erläuterung der Vorteile der Vorverpackung auch: Selbstbedienung, 1/1959, S. 12f.; Gebhard 1957, S. 34.
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lung.164 Neben der charakteristischen Verpackung, die einen hohen Wiedererkennungswert haben sollte, verfügten die Markenartikel über zwei weitere Merkmale, die sie auch für die Selbstbedienung als prädestiniert erscheinen ließen. Marken boten sich selbst ohne die Überzeugungskunst des Verkäufers an und animierten den Kunden aufgrund ihrer Ausstrahlungskraft zum Kauf.165 So hoben sich z. B. das Waschmittel Persil, die Suppenwürze von Maggi, die Hautcreme Nivea oder die Frigeo-Brause durch eine bestimmte Differenz von der Anonymität der Warenwelt ab. Darüber hinaus wurde eine Marke mit der Garantie für ihre Qualität verbunden und im Markennamen als wesentlichem Bestandteil der Verpackung „gründet[e] sich das Vertrauen des Verbrauchers“.166 Somit zielten die Entwicklung und der Vertrieb von Markenartikeln auf eine gewisse Beständigkeit und Berechenbarkeit des Verbrauchs. Sie beruhte auf der Gewohnheit, das Altbewährte zu kaufen. An dieses Selbstverständnis knüpfte die Markenartikelbranche nach 1945 an, wie anhand einer Anzeige für den VOX-Kaffee unter dem Titel „Der Markenkaffee mit Aroma-Garantie“ deutlich wird: „Der VOX-Kaffee fand den Weg zum Verbraucher, weil er von einer immer gleichbleibenden Mischungsqualität ist und einen ebenso konstanten Wohlgeschmack hat. […] Der Verbraucher kann also dem Kaffee unter der Marke VOX vertrauen. Er wird von diesem Kaffee nie enttäuscht.“167
Mit der Ausweitung und der Differenzierung des Massenmarktes im Verlauf der 1950er Jahre gewann das Vertrauensverhältnis, das über eine Marke etabliert wurde, immer mehr an Bedeutung. So nahm die Zahl der Markenartikel nach dem Zweiten Weltkrieg stetig zu und erreichte 1960 einen Anteil von 25 Prozent am Lebensmittelumsatz.168 Sowohl für den Produzenten und den Händler als auch für den Verbraucher stellten sie einen Mechanismus zur Reduktion der Komplexität des Marktes und des Warenangebotes dar. Die punktuelle und individuelle positive Erfahrung des Kunden mit dem Produkt wurde in ein dauerhaftes und allgemeines Vertrauen in den 164
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Wildt 1996, S. 165. Zur Entstehung und Charakteristika der Markenartikel auch: Haas 2003, S. 295ff.; Hellmann, Uwe: Zur Historie und Soziologie des Markenwesens, in: Jäckel, Michael (Hg.): Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation, Wiesbaden 2007, S. 53-71; König 2000, S. 93ff.; Spiekermann 1999, S. 523-542. Mellerowicz 1959, S. 101; Zahn 1960, S. 103. Brose 1958, S. 118. Selbstbedienung, 2/1959, S. 29. König 2000, S. 94.
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Markenartikel transferiert.169 Zum einen ermöglichte diese Stabilität es den Herstellern, im Vertriebsbereich Kosten einzusparen: die Notwendigkeit, Informationen über den Markt und die Konsumenten zu beschaffen, sank, trotzdem stieg die Sicherheit, mit der der Absatz geplant werden konnte. Zum anderen muss der Verbraucher aufgrund der „Preisfunktion“ der Markenartikel – laut Hellmann – nicht mehr zwischen verschiedenen Qualitäten vergleichen. Vielmehr fasst er den Preis als unmittelbaren Qualitätsgaranten auf.170 Dass die Markenartikel Stabilität und Vertrauen erzeugten, hatte für den Einzelhandel positive und negative Konsequenzen. Während man schon Ende des 19. Jahrhunderts die Einschränkung der händlerischen Freiheit und die Entwertung des spezifischen Warenwissens des Kaufmanns fürchtete, verstärkten die Markenartikel außerdem die in der Selbstbedienung angelegte Anonymität. Denn wenn die Kunden Qualität und Inhalt einer Ware durch die Integrität der Marke gewährleistet sahen, betrachteten sie die als Einkaufsquelle zunehmend gleichgültig.171 Wichtig war dann eher der Preis, dessen freie Gestaltung durch den Einzelhandel aufgrund der Preisbindung der zweiten Hand bis in die 1960er Jahre allerdings starken Einschränkungen unterlag. Um diesem Problem zu begegnen, begannen die Einzelhandelszusammenschlüsse eigene Handelsmarken zu entwickeln, die gleichzeitig die flächendeckende Vorverpackung von Lebensmitteln beförderten. Mit der Einführung von Eigenmarken versuchte der Handel das oben genannte Vertrauensverhältnis zwischen Markenindustrie, Markenprodukt und Konsument auf die eigene Relation zum Kunden zu transferieren. Es galt, ein vertrauensbasiertes Image zu kreieren, bei dem über den Verkauf einzelner Produkte eine stabile Beziehung zum Kunden entstand. Das Angebot von Eigenmarken stellte somit auch eine Strategie dar, sich von der immer größeren und differenzierteren Konkurrenz abzuheben. Zudem dienten die Eigenmarken als Instrument, um die Preisbindung zu umgehen, d. h. eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Lebensmittelindustrie zu erlangen.172 169
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172
Vgl. Berghoff 2004b, S. 70; Gries 1991, S. 332f.; Pfister 2000, S. 60; Spiekermann 1999, S. 507; Wildt 1993, S. 287. Hellmann 2007, S.57. In den Quellen ebenso: Mellerowicz 1959, S. 105f. Hentilä 1999, S. 366; Rhein 1958, S. 20. Zur früheren Abneigung der Kaufleute gegenüber den Markenartikeln: Lieberich 1931, S. 40f. Vgl. das konkrete Beispiel der Spar: Auszug aus dem Bericht der Geschäftsführung der Deutschen Handelsvereinigung Spar e. V. erstattet von Dr. Berendt auf der Delegiertenversammlung am 9. Juni 1959 (9.6.1959), S. 4f., Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte 1956-66, Spar-Archiv. Allgemein zu den Funktionen der Handels-
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Die Strategie der Handelsunternehmen erzielte Erfolg bei den Verbrauchern: während der Anteil der Markenartikel am Umsatz des Lebensmitteleinzelhandels zwischen 1954 und 1971 von 24 auf 37 Prozent stieg, verzeichneten die Handelsmarken im gleichen Zeitraum eine Zunahme von 9 auf 29 Prozent.173 Unabhängig von der Entwicklung des Markenwesens ist insgesamt ein starker Anstieg des Verkaufs von vorverpackten Waren in den zwei Nachkriegsjahrzehnten zu beobachten. Klöckner hat festgehalten, dass der Produktionswert der in der Bundesrepublik Deutschland hergestellten Pack- und Packhilfsmittel von 1,21 Milliarden DM 1950 auf 16,41 Milliarden DM 1975 anstieg.174 Mit der Verbreitung von verpackten Waren in den Regalen der Selbstbedienungsgeschäfte stiegen auch die Ansprüche an die Produkte. Der Verpackung kam dabei eine Reihe eigener Funktionen im direkten Kontakt mit dem Kunden zu: „Sie erfüllt bei den Konsumwaren nicht nur eine Schutzfunktion (als Transport- und Gebrauchsbehälter), sondern auch eine Verkaufs- und Symbolfunktion (als Werbungsträger). Mit beiden Eigenschaften wird sie ein Qualitätsbestandteil der Ware, das Erkennungskleid, wodurch das Produkt seinen Namen, sein Gesicht empfängt und aufhört, die lose, anonyme Ware zu sein.“175
Nichtsdestotrotz blieb die klassische Funktion der Warenverpackung, der Schutz des Inhaltes bei der Lagerung und beim Transport, weiterhin eine primäre Aufgabe. Allerdings rückte mit der Selbstbedienung verstärkt der Aspekt der Hygiene in den Vordergrund: die Verpackung sollte vor der Berührung der Ware durch die Vielzahl interessierter Kunden schützen.176 In diesem Zusammenhang spielte die Entwicklung der Kunststoffe in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle. Teuteberg gibt an, dass deren Anteil an 173 174
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marken: Handelsmarke – Markenartikel, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 10/1968, S. 4-10. Batzer, Greipl 1973, S. 88. Klöckner, Helmut: Verpackung – Fluch oder Segen? Verpackungswirtschaft der BRD 1950-2000; Grundlagen und Fakten über Entwicklung, volkswirtschaftliche Bedeutung, Verpackungsverordnung und Ökologie-Ökonomie-Problematik der Verpackung, Heusenstamm 1992, S. 27. Zahn 1960, S. 103. Auch: Bräuer 1958, S. 225-227; Schucht 1956, S. 23. Gebhard war der Meinung, dass der verstärkte Wunsch nach Hygiene und Gesundheit durch den langen Mangel und Verzicht auf diese Ansprüche während der Kriegszeit zu erklären sei. Gebhard 1957, S. 29. Dazu auch: ANUGA Rundschau 1959, S. 21; Die gute, alte Schrenztüte ist tot…, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 28.5.1955; Gerhard 1956, S. 111; Schulz-Klingauf 1960, S. 214.
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erzeugten Packstoffen in den 1960er Jahren von 8,3 auf 22,4 Prozent stieg.177 Ihre Vorteile gegenüber natürlichen Verpackungsmaterialien lagen in der Unempfindlichkeit, dem Aromaschutz und den sicheren, hygienischen Verschlussmöglichkeiten, die entscheidend zur längeren Haltbarkeit von Lebensmitteln beitrugen. Dabei verknüpften sich die Vorstellungen von zeitgemäßen Lebensmitteln in einer modernen Verpackung eng mit der Konnotation von Hygiene als fortschrittlicher Errungenschaft.178 Zu den Verkaufs- und Symbolfunktionen zählten mehrere Aspekte. Zunächst sollte die Verpackung praktisch sein – ausgehend von den Wünschen des Konsumenten. Darunter wurden einerseits das handliche Format und die leichte Handhabung beim Öffnen und Schließen verstanden.179 Andererseits zielte die Zweckmäßigkeit auf den Verkauf in „verbrauchergerechten Einheiten“, bis hin zur portionierten Abpackung.180 Nach Gebhard zeigten sich in diesem Wunsch der Verbraucher Parallelen zur Entwicklung des USamerikanischen Lebens- und Verbrauchsstils, der durch Bequemlichkeit und Schnelllebigkeit geprägt war.181 Darüber hinaus musste die Packung jetzt, da das Verkaufsgespräch wegfiel, alle Informationen über die Ware weitergeben, d. h. detaillierte Angaben über Inhalt, Qualität und Gewicht machen. Damit übernahm die Verpackung eine Reihe von Aufgaben, die im Bedienungsgeschäft das Verkaufspersonal erledigte.182 Zwischen der informativen Funktion der Verpackung und der Auszeichnung der Waren mit dem Preis bestand ein enger Zusammenhang. Das öffentliche Anschreiben der Preise, das die nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin gültige Verordnung über die Preisauszeichnung aus den 1940er Jahren gesetzlich regelte, spielte für die das Beziehungsdreieck Kunde-WareVerkäufer eine besondere Rolle.183 Während Kunde und Einzelhändler den 177
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Teuteberg, Hans Jürgen: Die Rationalisierung der Warenpackung durch das Eindringen der Kunststoffe, in: Gesellschaft, Unternehmen, 2, 1995, S. 721-756, hier S. 745. Vgl. auch: Milliardenmarkt Verpackung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 15.8.1972. Vgl. Usherwood 2000, S. 123. Vgl. ANUGA Rundschau 1959, S. 20; Gebhard 1957, S. 46; 10; GfK: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 18, RWWA 181/310/1. ANUGA Rundschau 1959, S. 20; Bergler, Georg: Verpackung und Konsum, in: Die neue Verpackung, 7/1958. Gebhard 1957, S. 28. Vgl. Bräuer 1958, S. 224; Suhr, Werner: Packungschancen in Selbstbedienungsläden, in: Verpackungs-Rundschau, 7/1957; Treichel 1965, S. 53. In der Forschung: Teuteberg 1995, S. 737. Vgl. zu den verschiedenen Aspekten der Preisauszeichnung im Selbstbedienungsladen:
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Preis im Bedienungsgeschäft häufig individuell verhandelten, erzeugte die Preisauszeichnung an den Selbstbedienungsregalen ein objektiveres und anonymeres Verhältnis des Konsumenten zum Preis. Im Bedienungsgeschäft ergaben sich aus der persönlichen Beziehung zum Personal in der Regel Vorteile bei der Errechnung der Einkaufssumme oder durch extra Zugaben. Dies war einer der entscheidenden Gründe dafür, in einem bestimmten Geschäft regelmäßig einzukaufen und zum Stammkunden zu werden. Gleichzeitig leistete das persönliche Vertrauen des Kunden in die Angemessenheit der Preisforderung durch den Kaufmann einen entscheidenden Beitrag zum erfolgreichen Abschluss des Verkaufsgesprächs an der Ladentheke und zum wiederholten Einkauf.184 Mit den scheinbar gleichen Preisen für alle Kunden eines Selbstbedienungsgeschäftes wurde das Vertrauensverhältnis zwischen Käufer und Verkäufer entpersönlicht. Gleichzeitig folgte die Preisauszeichnung notwendigerweise als Konsequenz aus der Anonymisierung und der zunehmenden Selbstständigkeit beim Einkaufen. Sie ermöglichte dem Konsument auch, sich in verschiedene Läden zu begeben und die Preise frei von sozialer Kontrolle durch andere wartende Kunden oder durch den Verkäufer zu vergleichen. Zeitgenössische Umfragen kamen in den 1950er und 1960er Jahren zu dem Ergebnis, dass die Konsumenten die Abwesenheit des sozialen Drucks bei der Entscheidung für bestimmte Qualitäten und Preise sowie die stärkere Ungezwungenheit der Kaufentscheidung in Läden mit Selbstbedienung als zentralen Vorteil der neuen Vertriebsform einschätzten.185 Die Fähigkeit verpackter Waren, sich selbst zu verkaufen, beinhaltete eine ausgeprägte ästhetische Dimension, die in der Massenkonsumgesellschaft eine wichtige Rolle spielte. Beim Einkaufen von Lebensmitteln trat die Ästhetik als neuer Reiz neben die kulinarische Anziehungskraft der Produk 184 185
Institut für Selbstbedienung: Preisauszeichnung: Kernpunkt der Warenmanipulation, Köln 1968, S. 3f. Vgl. Treichel 1965, S. 57. Brief IHK Düsseldorf an Industrie- und Handelskammern NRW, betr. Verringerung der Distributionskosten (19.6.1958), S. 6, WWA K2/2042; Diemel, Heinrich 1962, S. 28; Dr. Hilpert KG: Einstellung der baden-württembergischen Bevölkerung zu ausgewählten Vertriebsformen des Einzelhandels. Eine Spezialuntersuchung der Industriellen und Psychologischen Marktforschung Dr. Hilpert KG, München, Stuttgart 1964, S. 110; Käuferkritik, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 3/1962, S. 4, RWWA 20/2237/3; Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: EdekaRundschau, 31.5.1957; Schreiterer 1951, S. 12; Verbraucher und Selbstbedienung, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 4/1962, S. 20.
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te.186 Für eine geschmackvolle Präsentation der Ware waren zwei Dinge ausschlaggebend. Zum einen setzte man in den 1950er Jahren stark auf die Sichtbarkeit des Produktes selbst: „Erfahrungsgemäß erweist sich die Ware selbst als die beste Dekoration und Augenweide für den Käufer. Deshalb strebt man ja in der Verpackung zur Sichtbarmachung des Inhalts.“187
Das erklärt sicher auch die Beliebtheit transparenter Kunststoffe als Verpackungsmaterialien, darunter v. a. Folien (etwa Cellophan) und das im Laufe der 1950er Jahre nach US-amerikanischen Vorbild zunehmend produzierte Polyethylen. Wildt interpretiert die Faszination für die transparente Verpackung aus Plastik und Glas damit, dass die Durchsichtigkeit dem Kunden den Inhalt unmittelbar und zum Greifen nah vor Augen führte, ihn aber gleichzeitig auf Distanz hielt.188 Daneben bot die durchsichtige Verpackung sicher auch eine Möglichkeit, mit der sich die Kunden selbst von Frische der Waren überzeugen konnten, die teilweise bei Selbstbedienungsläden in Frage gestellt wurden. Zum anderen war das Design der Packung als Zusammenspiel von textlicher und bildlicher Gestaltung aus Form, Farbe und Grafik entscheidend für die Anziehungskraft eines Produktes. Die Feststellung Haugs, dass sich die Ausdehnung der Warenästhetik auf die Verbrauchsgüter darin äußere, dass der ästhetische Schein der Ware – das Gebrauchswertversprechen – zunehmend die Rolle einer eigenen Verkaufsaktion einnehme,189 bestätigt sich in damaligen Äußerungen wie „Man kauft heute wieder mehr mit den Augen.“190 oder „Wir kaufen heute nicht so sehr Waren als Verpackungen!“191. Die Einführung der Selbstbedienung bildete in
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Andersen 1997, S. 74; Wachtel, Joachim: Vom Ballenbinder zur Selbstbedienung: Verpackung - anno dazumal und heute, Gütersloh 1965, S. 71. ANUGA Rundschau 1959, S. 21. Dazu auch: Schucht 1956, S. 23; Schulz-Klingauf 1960, S. 213f.; Wachtel 1965, S. 60. Usherwood 2000, S. 124; Wildt 1996, S. 170. Dazu auch Zeitgenossen: Gebhard 1957, S. 23. Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M.8 1988, S. 17. Auch: Bergler, Georg: Verpackung und Konsum, in: Die neue Verpackung, 7/1958; Sander, Horst: Die Verpackung als Informationsmedium: eine absatzwirtschaftliche und werbepsychologische Untersuchung der Informationsleistungen der Konsumgüterverpackung, Bochum 1972, S. 125; Tanner 1997, S. 609. Die gute, alte Schrenztüte ist tot…, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 28.5.1955. Wachsende Bedeutung der Warenverpackung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 10.1.1959.
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diesem Sinne die Übergangsphase für die „Verlagerung des ‚Gebrauchswertversprechens‘ […] von der kommunikativen Überzeugungsarbeit des Verkäufers auf die semiotische Kraft der Warenästhetik“.192 Die Besonderheit aller hier beschriebenen neuen Ansprüche an die Verpackung bestand darin, dass das Produkt mit seiner Warenhülle Tausende von Verbrauchern zugleich zum Kauf anregen musste, während sich im Bedienungsladen ein guter Verkäufer dem Kunden anpassen konnte und ihn individuell von einem bestimmten Produkt zu überzeugen wusste.193 In Rückgriff auf Nast lässt sich die notwendige Wirkkraft einer ästhetisch reizvollen Warenhülle den Begriffen der Identifikations- und der Imagefunktion beschreiben.194 Erstere zielt auf die für die Markenartikel schon immer zentrale sofortige Erkennbarkeit und Abhebung von anderen Produkten. Die Imagefunktion bezog sich darauf, dass den Konsumenten ein Produkt, das er kaufte, emotional ansprach, weil er mit ihm bestimmte ideelle Werte assoziierte. Solche Vorstellungen, die die Konsumenten mit einem konkreten Produkt verbanden, erzeugte nicht allein die Verpackung, sondern sie hingen in großem Maße von der Wirkung der Werbung außerhalb des Selbstbedienungsladens ab, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll. Verpackung und Werbung gewannen als integrale Bestandteile der Warenpräsentation und des Warenverkaufs stark an Bedeutung. In ihnen sahen die Zeitgenossen die zentralen absatzfördernden Elemente der sich entwickelnden Massendistribution, wie anhand einer Aussage über die Verpackung deutlich wird: „Mit Hilfe der Verpackung lässt sich eine Masse in beliebig viele Teilmassen aufteilen, wo die Größe oder das Volumen der Verpackung den Maßstab abgeben. Aus der Masse wird so der Massenartikel. Aber durch die entsprechende Gestaltung der Packung läßt sich der Massenartikel gleichzeitig differenzieren. Je besser es gelingt, in der Art der Packung die Besonderheit der Ware zum Ausdruck zu bringen, desto stärker wird ihre Stellung im Wettbewerb. Mit der Freistellung wird eine neue Art von Individualisierung erreicht.“195
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Wildt 1993, S. 287. Auch: Usherwood 2000, S. 127. Nast 1997, S. 157. Vgl. Ebd., S. 158. Bergler, Georg: Verpackung und Konsum, in: Die neue Verpackung, 7/1958. Auch: Hoffmann 1967, S. 29; Pentzlin, Kurt: Verpackung von Nahrungs- und Genußmitteln. Vorträge der 7. RGV-Verpackungstagung im Haus der Technik, Essen, Berlin 1963, S. 21.
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Eine erfolgreiche selbstbedienungsgerechte Verpackung vereinte die rationellen Prinzipien des Massenabsatzwesens sowohl mit den neuen quantitativen Ansprüchen der Konsumgesellschaft als auch mit der qualitativen Differenzierung der Massennachfrage. Die überwiegend positive Bewertung der neuen Möglichkeiten von verpackten, durch Werbung bereits vorverkauften Waren für Einzelhandel, Konsument und Produktion ist im Kontext des Entfaltungsprozesses der auf Wachstum und Konsum eingestellten Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit zu verorten. Erste kritische Stimmen gegenüber den Problemen der expandierenden Verpackungswirtschaft kamen gegen Ende der 1960er Jahre auf.196 Trotzdem dominierte weiterhin die Kombination von Effizienz- und Konsumsteigerung. Exemplarisch unterstreicht dies eine Aussage aus dem Jahr 1972: die Selbstbedienung sei auf der Grundlage verpackter Waren durch die Einsparung von Personalkosten und günstigere Endverbraucherpreise immer noch günstiger, als die Entsorgung des Verpackungsmülls.197 Allerdings nahm ein ökologisches Bewusstsein im Zusammenhang mit der Problematisierung des Massenkonsums in der Fachöffentlichkeit des Einzelhandels und auf politischer Ebene erst im Verlauf der 1970er Jahre konkrete Formen an.198 3.3 Die Werbung Im Zusammenhang mit der Selbstbedienung nennen die Quellen drei verschiedene Verständnisweisen von Werbung. An erster Stelle ging es um Werbung für den Selbstbedienungsladen, die über die neuartige Verkaufsform aufklären und Anreize zum ersten Besuch geben sollte.199 Dabei stand auch die Rolle von Werbung im Ladenraum zur Debatte: Wie sollte sie in den neuen Geschäftsräumen und den Schaufenstern, in Handzetteln und in Kundenzeitungen eingesetzt werden?200 In diesem Kapitel wird der Bereich der Produktwerbung thematisiert und die neuen Anforderungen, die der Verkauf in Selbstbedienung an sie stellte. Im Rahmen der vorliegenden Stu-
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Vgl. Kleinschmidt 2001, S. 358. Sendlinger, Gerhard: Selbstbedienung und Verpackungsmüll, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 2/1972, S. 68. Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft: Verpackung und Recycling, Frankfurt a. M. 1976, S. 2. Anregungen gab z. B. Gerhard 1956, S. 147ff. Schulz-Klingauf 1960, S. 247f.
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die kann allerdings nur ein minimaler Ausschnitt der sehr gut erforschten Werbegeschichte der 1950er und 1960er Jahre vorgestellt werden.201 Da die persönliche Überzeugungskunst des Einzelhändlers im Selbstbedienungsgeschäft eine immer geringere Rolle spielte, mussten neben der Verpackung andere Wege erschlossen werden, um den Konsumenten für den Kauf eines Produktes zu gewinnen. Der Werbung kam in diesem Zusammenhang eine immer größere Bedeutung zu. In den 1950er Jahren bezeichnete man sie auch als „Vorverkauf“. Stehlin sah dessen Funktion darin, den Kunden dazu zu veranlassen, „automatisch“ zum richtigen Produkt zu greifen.202 Zahn schloss sich der Meinung an, dass die Bewerbung der Produkte außerhalb der Geschäfte einen reibungsloseren und schnelleren Einkauf ermöglichte. So konnten letztlich wiederum mehr Waren in kürzerer Zeit verkauft werden.203 Eine Anzeige für die Margarine Rama veranschaulicht exemplarisch, dass die umfassende Werbung für ein Produkt auch dem Einzelhändler Vorteile brachte: „Moderne Verkaufssysteme erfordern verkaufsaktive Schwerpunkte und v. a. Waren, die für sich selbst sprechen. Mit Rama führen Sie einen Markenartikel, der das Vertrauen vieler Millionen Hausfrauen besitzt; Ihre Kundin weiß es: Rama ist von Natur aus gut. Und täglich wird Rama durch Presse, Funk, Film und Plakat für Sie vor-verkauft.“204
Die beiden zentralen Funktionen der Werbung waren seit Ende des 19. Jahrhundertes die Kommunikation und die Signifikation.205 Werbung enthielt für den Verbraucher Informationen über das Produkt. Gleichzeitig beschränkte sie sich nicht auf die tatsächliche Beschaffenheit der Ware, sondern die Werbebotschaft spielte immer auf die mögliche Bedeutung des Produktes für den Konsumenten an.206 Mit der Werbung für ein konkretes Produkt wurden dem Konsumenten immer auch Vorstellungen und Bilder vermittelt, die er in Verbindung mit der Ware erwerben konnte: „Man bietet nicht mehr nur Nahrungsmittel an, sondern vermittelt Appetit und lukullisches Wohlbehagen. Man verkauft nicht mehr nur Seife, sondern Sauberkeit
201 202 203 204 205 206
Ausführlich zur Geschichte der Werbung in den 1950er Jahren z. B.: Schindelbeck 2003. Stehlin 1955, S. 76. Zahn 1960, S. 99. Selbstbedienung, 8/1959, S. 33. Haas 2003, S. 296, 298. Vgl. Zahn 1960, S. 123; Schulz-Klingauf 1960, S. 51. In der Forschung: Tanner 1997, S. 609.
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und Hygiene, nicht mehr nur Zahnpasta, sondern Gesundheit für die Zähne, nicht Kosmetik, sondern Schönheit, nicht Spirituosen, sondern Prestige u.s.w.“207
Die Assoziation von Waren mit bestimmten Vorstellungen und die Erzeugung von Bedeutungen müssen wie im zitierten Beispiel immer an die Welt des Verbrauchers anschließen. Sie hängen somit von einem komplexen Wechselspiel zwischen dem sozialen Umfeld, der wirtschaftlichen Situation und dem kulturellen Hintergrund der Zielgruppe ab.208 Als typisch für die 1950er Jahre sieht die Forschung die Kombination von verankerten Moralprinzipien, wie Sparsamkeit und Disziplin mit neuen lust- und genussbetonten Verhaltensmustern.209 Die Ambivalenz zwischen den traditionell verankerten Konsummustern und den neuen Konsummöglichkeiten in der Übergangsphase der Mangelzur Überflussgesellschaft drückte sich nicht nur in den inhaltlichen Aussagen der Produktwerbung aus, sondern auch in der Auseinandersetzung des Einzelhandels mit der Gestaltung der Reklame. Im Zusammenhang mit der Rezeption des US-amerikanischen Vorbilds wurde bereits angesprochen, dass die westdeutschen Einzelhändler den Formen der Werbung jenseits des Atlantiks ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden.210 Als besonders kritikwürdig erachteten sie deren starke und offensive Ausrichtung auf die Bedarfsweckung. Im Laufe der 1950er Jahre wurde diese Funktion von Werbung allerdings auch im bundesdeutschen Kontext zur verbreiteten Praxis. So konstatierte Meins am Ende des Jahrzehnts, dass man sich im Übergang von einer „informierenden“ zu einer „marktschaffenden“ Werbung befin
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Treichel 1965, S. 53. Einen ausführlichen Überblick darüber, an welche Vielzahl von unterschiedlichen Gefühle und Werte, wie z. B. Sicherheit, Selbstwertgefühl, Kraft, Unsterblichkeit, die Werbung appellierte, gibt: Packard 1958, hier v. a. S. 93ff. Strasser ist der Meinung, dass die Kampagnen am effektivsten waren, die neue Bedürfnisse und Gewohnheiten erzeugten. Die Vermarktung neuer Produkte musste v. a. an die sich schnell ändernden Lebensgewohnheiten in Verbindung anschließen. Strasser 2004, S. 95. Vgl. auch: Ruppert 2000, S. 765; Schenk, Ingrid: Werbung und Konsumverhalten in transatlantischer Perspektive, in: Junker, Detlef (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Stuttgart, München 2001, S. 881-888, hier S. 883; Wagner-Braun, Margarete: Die Frau in der Konsumgüterwerbung im 20. Jahrhundert, in: Walter, Rolf (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.-26. April 2003 in Greifswald, Stuttgart 2004, S. 415-436, hier S. 417. Vgl. Nast 1997, S. 163; Gries, Rainer, Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk, „Ins Gehirn der Masse kriechen!“. Werbung und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995, S. 119; Sywottek 1990, S. 97. Vgl. z. B.: Backer 1952, S. 47; Menninger 1964, S. 40f.
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de.211 Einen Sonderfall stellte dabei die grundsätzlich ambivalente Position der Konsumgenossenschaften gegenüber der Werbung dar. Einerseits übten sie v. a. in den frühen 1950er Jahren eine scharfe Kritik an der Produktwerbung – sie mache den Konsumenten zum „Sklaven der Reklame“.212 Andererseits entwickelten die Konsumgenossenschaften ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, die die Produktwerbung für die Steigerung des Absatzes darstellte.213 Dieser Anpassungsprozess an die neuen wirtschaftlichen Anforderungen beruhte auf der allmählichen Akzeptanz der Bedarfsweckung als zentralem Element des Massenabsatzes. Dagegen trat das konsumgenossenschaftliche Prinzip der Bedarfsdeckung allmählich zurück. Aber auch für die anderen Einzelhandelsunternehmen war der Einstellungswandel gegenüber der Funktion von Werbung Teil des Lernprozesses im Umgang mit den neuen Rahmenbedingungen der Massenkonsumgesellschaft und der Marktwirtschaft.214 Ihr immer detaillierteres und differenziertes Wissen über die Wünsche, Träume, Hoffnungen und Ängste des Verbrauchers gewann die Werbebranche mit Hilfe der sich professionalisierenden Reklamepsychologie und Motivforschung: „Es hat sich in der Praxis erwiesen, daß Werbung und Absatzförderung um so mehr an Wirkung gewinnen, je stärker und profunder ihr Wissen um die engen emotionalen Beziehungen zwischen Ware und Käufer ist.“215
Auf dieser Grundlage wurde die zeitgemäße Werbung in Wort, Bild und Ton zu einem gezielten und rationellen Instrument zur Stimulierung des Konsums, wie Zahn erläutert:
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Meins 1958, S. 8. Schenk hält fest, dass in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zunehmend betont wurde, Luxusgüter seien zur Notwendigkeit geworden und Konsum diene letztlich auch der Erzielung immaterieller Werte. Die 1960er Jahre waren ihrer Meinung nach davon geprägt, dass eine ständige Verbesserung der Güter notwendig war. Die materielle Warenwelt symbolisierte Wohlstand und eine entsprechend ausgerichtete Zukunft. Schenk 2001, S. 883. Irrwege der Kundenwerbung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.2.1950. Auch: Privatwirtschaftliche Reklame und konsumgenossenschaftliche Werbung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 10.2.1951. Werbung tut not, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.4.1950. Ein kritischer Umgang mit den Möglichkeiten der Einflussnahme und der gesellschaftlichen Bedeutung von Werbung setzte in einem breiten Kontext erst in den 1960er Jahren ein. Packards „Die geheimen Verführer“ von 1958 kann sicher als eine er ersten vereinzelten kritischen Stimmen dazu gelten. Vgl. Haas 2003, S. 313. Dichter, Ernest, Strategie im Reich der Wünsche, Düsseldorf 1961, S. 118.
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„Die Streuung der Plakat- und Inserataktionen läßt sich immer besser berechnen und richten, beabsichtigte Wirkungen lassen sich lokalisieren, konzentrieren, kontrollieren, antizipieren. So kann die Reklame mit weniger Risiko angewendet und als kurz- oder langfristige Investition in die methodische Planung des Geschäfts einbezogen werden. […] Aus einer Nebensache ist Hauptsache geworden. Die Reklame wurde jenes spezifische Organ der Unternehmung, das die Nachfrage nach den immer besseren Gütern zu produzieren und zu provozieren, zu steuern und aufrechtzuerhalten hat.“216
Auch in der Werbebranche setzte sich die in anderen Bereichen bereits festgestellte Zusammenarbeit zwischen wirtschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Forschung durch. Dabei knüpften die Fachleute an eine Reihe von Vorläufern aus den 1920er Jahren an. Haas konstatiert bereits für diesen Zeitraum eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Werbewirtschaft sowie eine zunehmende Organisation, Professionalisierung und Psychologisierung der Werbebranche.217 Über die Frage nach einer „Amerikanisierung“ der Werbung und der Werbebranche in der Vor- und Nachkriegszeit bestehen in der Forschung sehr disparate Meinungen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.218 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die neue Warenpräsentation als Zusammenspiel von Verpackung und Produktwerbung immer weniger vom Einzelhändler, sondern immer mehr von den Produzenten sowie den ihnen zur Seite stehenden Experten gesteuert wurde. Zwei spezifische Charakteristika kennzeichneten diese neuartige Konstellation: Die Hersteller verfügten über einen bestimmten Wissensbestand bezüglich ihrer Produkte, den sie an die Händler und die Verbraucher in kodierter Form weitergaben. Dieses Wissen äußerte sich in besonderem Maße. in der Warensemiotik, d. h. der Aufladung der Ware mit Zeichen und Bedeutungen, die der Interpretation und persönlichen Identifikation mit den suggerierten Bedeutungen bedurften.219 Darüber hinaus stützt die zunehmende Bedeutung von Marketing und Marktforschung Appadurais These, dass Wissen über die Ware in differenzierten Konsumgesellschaften selbst zur Ware wird: „The fact is 216 217 218
219
Zahn 1960, S. 97f. Haas 2003, S. 303ff. Vgl. die verschiedenen Standpunkte von Ross, Corey: Visions of Prosperity: The Americanization of Advertising in Interwar Germany, in: Swett, Pamela E.; Wiesen, Jonathan S.; Zeitlin, Jonathan R. (Hg.): Selling Modernity. Advertising in Twentieth-Century Germany, London 2007, S. 52-77; Schröter 1997; Schindelbeck 1995; Zimmermann 2004. Vgl. Wald 1985, S. 110; Wildt 1991, S. 340; Wildt 1993, S. 285.
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that knowledge about commodities is itself increasingly commoditized.“220 Dieses Wissen über die Ware beschränkte sich nicht mehr nur auf Aspekte der Produktion, sondern bezog sich ebenso auf die Eigenschaften und den Weg der Ware in der Distribution. Für den Umsatz und den wirtschaftlichen Erfolg der Hersteller wurde es immer wichtiger zu wissen, wer, wann, wo, was und warum kaufte. Es bestand somit ein enger Zusammenhang zwischen der Spezialisierung von Expertenwissen und der Ökonomisierung dieses Wissens. Gleichzeitig handelt es sich bei der immer stärkeren Verschränkung zwischen Konsum und Produktion nicht nur um ein zentrales Merkmal der Massenkonsumgesellschaft, sondern sie verweist einmal mehr auf die Schlüsselposition des Einzelhandels im Massenkonsumkreislauf.221
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Appadurai 1986, S. 54 (Hervorhebung im Original). Auch: Lyotard 1986, S. 24-26; Stehr 2001, S. 12. Vgl. Andersen 1997, S. 16.
VI. Der Kunde und die neue Konsumpraxis 1. Die Aneignung der Selbstbedienung als Emanzipation des Kunden Michael Wildt hat in seinem Buch zur Konsumgeschichte der 1950er Jahre festgehalten, dass Prozesse der Modernisierung nicht ohne die Aneignung von Modernität möglich sind.1 Die Durchsetzung der Selbstbedienung, Supermärkte, Discounter und Verbrauchermärkte im Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre wäre somit nicht ohne die Annahme der neuen Verkaufsform und die Aneignung der notwendigen Praktiken durch die bundesdeutschen Konsumenten denkbar. In den vorherigen Kapiteln ist deshalb die Rolle der Verbraucher an verschiedenen Stellen als integraler Bestandteil des Wandels im Einzelhandel thematisiert worden. Im folgenden Kapitel soll darauf aufbauend versucht werden, das Wechselspiel zwischen Kunde und Einzelhandel im Innovationsprozess noch einmal aus der Sichtweise des Konsumenten zu betrachten. Dieser Perspektivwechsel verfolgt verschiedene Ziele. Zunächst geht es darum, deutlich zu machen, dass bei der Umgestaltung der Lebensmittelgeschäfte ein Unterschied zwischen der Intention des Unternehmers und der Wirkung dieser Maßnahmen bestand. Die Vorstellungen der Einzelhändler über die konkrete Gestaltung der neuen Verkaufsform waren stark normativ aufgeladen und hatten häufig programmatischen Charakter. Dagegen prägten der Eigensinn der Konsumenten und ihre alltäglichen Konsumpraktiken entscheidend die tatsächliche Nutzung in der Praxis.2 Außerdem gilt es die These zu prüfen, dass die Entwicklung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft in der Nachkriegszeit eng mit Prozessen der Demokratisierung und der Nivellierung sozialer Unterschiede einherging. Inwiefern lassen sich diese Tendenzen im Zusammenhang mit der neuen Konsumpraxis im Selbstbedienungsladen und im Supermarkt nachzeichnen? Um diese beiden Problemstellungen empirisch untermauern zu können, soll versucht werden, zeitgenössische Kundenumfragen und Verbraucherstudien hinsichtlich der Parameter auszuwerten, die für die Befürwortung oder die Ablehnung der neuen Verkaufsformen ausschlagge 1 2
Wildt 1991, S. 336. Auch: Brändli 2000, S. 20; Walsh 1993, S. 29. Vgl. Brändli 2000, S. 20; Braun-Thürmann 2005, S. 7; De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 77; Sywottek, Arnold: Wege in die 50er Jahre, in: Schildt, Axel (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 13-39 (nachfolgend Sywottek 1993c), S. 17.
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bend waren. Lässt sich ein Nutzerprofil für die Selbstbedienung auf der Grundlage verschiedener sozialer und wirtschaftlicher Kriterien erstellen? Die Analyse der Sichtweise der konsumierenden Bevölkerung auf die Selbstbedienung birgt eine Reihe von inhaltlichen und methodischen Schwierigkeiten. Das zentrale Problem besteht in der schwachen Quellenlage. Während die Perspektive der Unternehmen, der Wirtschaftspolitik und der Fachöffentlichkeit gut dokumentiert ist, kam der Standpunkt des Konsumenten kaum direkt zur Sprache. Die meisten Aussagen über die Einstellung und das Verhalten der Kunden in den Quellen geben nur einen vermittelten Eindruck wieder. Sie beziehen sich häufig auf das Bild eines typisierten Konsumenten und lassen somit wenige Rückschlüsse auf die konkreten Aneignungsprozesse zu.3 In einigen Fällen haben Historiker versucht, dieses grundsätzliche Problem konsumgeschichtlicher Forschung durch den Einsatz der Oral History zu lösen, wie z. B. die Zeitzeugeninterviews in Wildts Konsumgeschichte der 1950er Jahre oder das Oral-History-Projekt zur Einführung des Supermarktes in Großbritannien an den Universitäten Exeter und Surrey.4 Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte keine umfassende Befragung von Zeitzeugen geleistet werden. Zum einen stehen dem die hohen methodischen und quantitativen Anforderungen entgegen, ohne die es keine inhaltlich hochwertigen Aussagen geben kann. Zum anderen liegt der dezidierte Schwerpunkt des Buches auf der Einführung der Vertriebsinnovationen aus der Sicht des Einzelhandels. Deshalb erfolgt die Rekonstruktion der Konsumentenperspektive hier auf der Grundlage von Dokumenten der Einzelhandelsunternehmen, von anderen wirtschaftlichen und staatlichen Akteure sowie einiger weniger Verbraucherumfragen. Da diese Studien die Absicht verfolgten, zielgerichtet ganz bestimmten Fragestellungen nachzugehen und diese zu quantifizieren, lassen sich allerdings nur bedingt qualitative Aussagen über die konkreten Aneignungsprozesse der westdeutschen Bevölkerung treffen. Die vorhandenen Quellen konzentrieren sich auf die 1950er Jahre. Mit der zunehmen
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Vgl. Brändli 2000, S. 102. Usherwood hält fest, dass das Thema Selbstbedienung und Supermärkte in britischen Frauenmagazinen und -zeitschriften der 1950er und 1960er Jahre erstaunlich wenig präsent war. Auf der Grundlage einer stichprobenartigen Quellenrecherche kann dieser Eindruck zunächst auch für den bundesdeutschen Kontext bestätigt werden. Auch in den Kundenzeitschriften der Einzelhandelsunternehmen wie z. B. der „Rewe-Post“ fanden sich kaum Hinweise auf die Einführung der neuen Verkaufsformen. Usherwood 2000, S. 116. Nell, Dawn; Alexander, Andrew u. a.: Investigating Shopper Narratives of the Supermarket in Post-War England, 1945-75, in: Oral History, Spring 2009, S. 61-73; Wildt 1996.
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Der Kunde und die neue Konsumpraxis
den Verbreitung der Selbstbedienung seit dem Ende des Jahrzehnts wurde die Einstellung der Konsumenten zur Verkaufsform weniger hinterfragt. Der Kunde schien seine Bestätigung durch die zunehmende Nutzung auszudrücken. De Grazias hat in diesem Sinne festgehalten, dass das Verhalten der Konsumenten und ihre Versorgungsstrategien v. a. dann in den Fokus gelangten, wenn sich die Konsumpraxis im Umbruch und in Zeiten der Krise befand.5 Gleichzeitig ist festzuhalten, dass das Einkaufsverhalten auf tazitem, erfahrungsbasiertem Wissen beruht, bei dem es vorrangig um die alltägliche Ausführung einer Praxis und weniger um den reflektierten Austausch und die formalisierte Weitergabe dieses Know-hows geht. Die Eröffnung der Supermärkte, Discounter und Verbrauchermärkte stellte im Gegensatz zur Umstellung von Bedienung auf Selbstbedienung für die Mehrheit der Bundesdeutschen keinen fundamentalen Wandel dar. Eher verstand man diese Geschäfte als Weiterführung und Ausdifferenzierung des in den 1950er Jahren eingeübten Konsumverhaltens. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass sich die Konsumforschung in den beiden Nachkriegsjahrzehnten ebenfalls veränderte. So wurden in den 1960er Jahren die wissenschaftliche Standortforschung und die typisierende Marktanalyse wichtiger, während die individuelle Kundenbefragung als Methode stärker in den Hintergrund trat. Eine weitere Schwierigkeit für die Analyse des Verbraucherverhaltens besteht in der sehr dichten Koinzidenz qualitativer Veränderungen verschiedener Konsumpraktiken im Untersuchungszeitraum.6 Neben den innovativen Vertriebsformen prägte den Wandel des Einkaufsverhaltens der Bevölkerung eine Vielzahl von Neuerungen in der Berufs- und Freizeitgestaltung, der Lebensweise, der Haushaltsführung u. a. Diese Aspekte sind in den vergangenen Kapiteln immer wieder in verschiedenen Kontexten als Bedingungsfaktoren für das Einkaufsverhalten diskutiert worden. Darüber hinaus liegen in der konsumhistorischen Forschung zu den 1950er Jahren einige zusammenhängende Darstellungen dieser Gesichtspunkte vor.7 Deshalb konzentrieren sich die hier vorliegenden Ausführungen schwerpunktmäßig auf das konkrete Verhalten der Kunden in den neuen Läden sowie auf deren Einstellung gegenüber den Verkaufsformen. 5 6 7
De Grazia 2002, S. 7. Ebd., S. 25; Strasser 2004, S. 95; Wildt 1993, S. 283. Vgl. z. B.: Andersen 1997; Brändli 2000; Haustein 2007; Kaelble 1997; Pfister, Ulrich: Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995; Schildt 1995; Sywottek 1993a, b, c; Wildt 1993.
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Der immer alltäglicher werdende Umgang der Käufer mit der Selbstbedienung im Verlauf der 1950er Jahre kann als ein praktischer Lernprozess aufgefasst werden. Beschreibungen von ersten Kontakten mit der neuen Verkaufsform sind von einem vorsichtigen, leicht skeptischen und zugleich bewundernden Tenor begleitet, wie z. B. in folgender Aussage einer Kundin deutlich wird: „Wohl für jede Hausfrau ist der erste Einkauf in einem Selbstbedienungsladen ein spannendes Erlebnis. Das ist auch kein Wunder. Wo gab es das: einfach Sachen aus dem Regal holen und mitnehmen? Man schielte zunächst einmal nach Käufern, die das offenbar schon gewöhnt waren. Aber die neue Form war mit bald vertraut, und Kindern, die von klein an diese Einkaufsform erleben, kommen auch ganz gut alleine zurecht.“8
Neben der hier thematisierten Neuartigkeit der Situation verwiesen die ersten Reaktionen der Kunden auf die Frage nach dem Umgang mit dem sich entfaltenden Wohlstand. Ebenso wie Brändli für das Schweizer Beispiel herausgearbeitet hat, übten die Käufer in den neuen Geschäften mit ihrer freien Zugänglichkeit zu den Waren ein spezifisches, für die sich etablierende Wohlstandsgesellschaft typisches (Konsum-)Verhalten ein.9 Der Zugang zur Warenvielfalt in den Regalen der Selbstbedienungsgeschäfte stand prinzipiell allen offen, unabhängig vom Einkommen oder der sozialen Schicht. Insofern bestand die neuartige Herausforderung für die bundesdeutschen Konsumenten darin, die eigenen finanziellen Möglichkeiten mit der materiellen Angebotsvielfalt sowie den veränderten individuellen Konsumbedürfnissen in Einklang zu bringen. Eine Hausfrau beschrieb diese Situation Anfang der 1960er Jahre: „Als Neuling muß man freilich im Selbstbedienungsladen vielfach erst einmal Lehrgeld bezahlen, weil man von einem Kaufrausch befallen wird: Die wunderschön geordneten Waren sind verlockend und handlich aufgebaut, zeigen sich alle von der besten Seite und wandern sozusagen wie von selbst in den Einkaufskorb. Aber eine rechnende Hausfrau wird durch Schaden schnell klug. Und zuviel gekaufte Waren kommen dann einfach in den Vorratsschrank oder in den Keller.“10
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Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961. Brändli 2000, S. 46. Auch: Usherwood 2000, S. 122. Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961. Auch: Die Meinung der Hausfrau, in: Die konsumgenossenschaftliche Verteilungsstelle, Werbedienst 9/1949, FfZ 11-P5; Gfk: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrich-
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Die Problematisierung der neuen Ansprüche von Massenkonsum und Massenangebot schlug sich in der Angst nieder, der Verlockung der plötzlichen Warenfülle nicht widerstehen zu können. Die Gefahr bestand darin, zu viel Geld auszugeben. Eine Zeitzeugin berichtete dazu: „Das war überwältigend, da war Peter bei mir, und mit einem Mal sagte er: ,Oh Mutti, das brauchen wir noch’, und packte ein, und mit einem Mal war ich ganz erschrocken, guckte auf das, was wir gekauft hatten und guckte in mein Portemonnaie: ,Peter!’ sagte ich, ,das können wir ja gar nicht alles bezahlen, was wir haben möchten.’ Und da ist der Junge angefangen und hat alles wieder ausgepackt, und dann sagte er: ¸Mutti, wo hast du deinen Zettel? Wir kaufen nur nach Zettel, sonst haben wir nachher kein Geld mehr.’ Der war so panisch in der Angst, daß wir kein Geld mehr hatten.“11
Auch wenn die zitierten Aussagen ein gewisses Maß an Vorsichtigkeit im Umgang mit der neuen Verkaufsform zeigen, spiegeln sie – ebenso wie andere Quellen aus Kundensicht – keine grundsätzliche Ablehnung der Selbstbedienung durch die Kunden wider. Die Einzelhändler hatten bis in die Mitte der 1950er Jahre dagegen häufig konstatiert, dass die deutschen Kunden prinzipiell nicht in Selbstbedienung einkaufen wollten. Bei dieser Einschätzung handelt es sich, wie bereits im Verlauf der Arbeit mehrmals angesprochen, eher um eine nach außen gerichtete Projektion der eigenen Bedenken gegenüber der Verkaufsform.12 Die relativ unkomplizierte Annahme der Selbstbedienung durch die Konsumenten war u. a. sicher auch darauf zurückzuführen, dass sie durch die Wochenmärkte, die Einheitspreisgeschäfte der Vorkriegszeit, die Automaten, aber auch durch die teilweise offene Warenauslage der Warenhäuser das Prinzip in gewissem Maße bereits kannten.13 Dennoch verteilten einige Einzelhandelsunternehmen in der Anfangsphase Hinweisschilder und Gebrauchsanweisungen zum Umgang mit der Selbstbedienung. Häufig begleitete das Verkaufspersonal die Kunden beim ersten Besuch durch den Laden.14 Das praktische Wissen, das
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ten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 7, RWWA 28/310/1; Schnellbedienung – ein genossenschaftliches Problem, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 27.9.1952. Vgl. zur verschiedenartigen Begründung für den Mehrkauf durch die Konsumenten: Dr. Hilpert KG 1964, S. 50. Zitiert nach: Wildt 1996, S. 156. Vgl. auch: Andersen 1997, S. 60; Suhr, Werner: Packungschancen in Selbstbedienungsläden, in: Verpackungs-Rundschau, 7/1957. Eklöh 1958, S. 12. Vgl. Ditt 2003, S. 330. Dahrendorf, Gustav: Forderungen an uns und an die Zeit. Nach einem auf dem 3. deutschen Genossenschaftstag in Köln am 6. September 1949 gehaltenen Vortrag, Hamburg
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der Kunde bei der Auswahl der Produkte und bei der Kaufentscheidung im Lebensmittelladen mit Selbstbedienung benötigte, reichte über den einzelnen Einkauf hinaus. Es war von den Neuerungen im Verpackungs- und Werbewesen sowie von der Sortimentszunahme und -ausdifferenzierung geprägt. Gleichzeitig gingen von den Lebensgewohnheiten und Konsumpräferenzen des Kunden selbst wiederum entscheidende Impulse auf diese Bereiche aus. Der Lernprozess im Umgang mit der Selbstbedienung war somit nicht auf die konkrete, zeitlich begrenzte Situation des Einkaufens beschränkt, sondern gehörte zu einem umfassenden, graduellen Wandlungsprozess der bundesdeutschen Konsumgesellschaft. Das gewandelte Selbstverständnis der Kunden beinhaltete eine Reihe von Vorteilen, da ihnen beim Einkauf eine Reihe neuer Kompetenzen zukamen. Aus Konsumentensicht sprach für die Selbstbedienung in erster Reihe der Zeitfaktor. Entsprechend bewerteten die Befragten in nahezu allen Umfragen die Zeitersparnis als einen der zentralsten Vorteile.15 Der Kunde konnte die Dauer des Einkaufs selbst bestimmen und die Wartezeit beschränkte sich auf das Anstehen an der Kasse. Allerdings wurden die Engpässe dort auch am häufigsten als Nachteil kritisiert. Die Erweiterung des Sortimentes im Selbstbedienungsladen unter dem Motto „alles unter einem Dach“ trug ebenfalls dazu bei, dass sich die Zeit für den Einkauf insgesamt verkürzte. Im Laden selbst ging der Kunde nach Belieben entweder gezielt und schnell durch die Gänge oder er sah sich in Ruhe die einzelnen Produkte an und wählte sorgfältig aus.16 Diese Möglichkeit einer ungestörten und unbeeinflussten Wahl führten die Käufer neben der übersichtlichen Warenordnung als zweitwichtigsten Grund für den Selbstbedienungsladen an.17 Der Kunde konnte sich zwischen den Regalen umschauen, ohne sich
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1949; Leistungen in Selbstbedienungsläden, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S.6-8, hier S. 7; Selbstbedienung macht auch vor kleinen Orten nicht halt, in: Edeka-Rundschau, 21./28.4.1961. Vgl. Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961; Dr. Hilpert KG 1964, S. 96; Gesellschaft der Marktforschung 1971, S. 22; GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 3, RWWA 28/310/1; Moss 1958, S. 130; Priess 1952, S. 77; 88 Prozent für Einkauf im SB-Geschäft, in: Rewe-Echo, 15.7.1962; Was halten die Verbraucher von der Selbstbedienung?, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.8.1953. Schulz-Klingauf 1960, S. 31. GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 3, RWWA
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vom Verkäufer oder von anderen Mit-Käufern, die im Bedienungsladen in der Warteschlange hinter dem Kunden gestanden hatten, beobachtet zu fühlen.18 Die Entpersönlichung des Verkaufsvorgangs rief deshalb den Eindruck hervor, einem geringeren Zwang ausgesetzt zu sein: frei von sozialem Druck konnte man sich für oder gegen den Kauf der Ware entscheiden. Diese Wahrnehmung zeigt auch, wie stark sozial reglementiert Konsum im Umfeld des Einzelhandels tatsächlich ist.19 Eine Umfrage im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ergab 1962, dass 42 Prozent der Befragten kritisierten, das Verkaufspersonal würde sie zu sehr beeinflussen. Das Verhalten der Verkäufer wurde zum Teil sogar als aufdringlich empfunden.20 In einer anderen Befragung von 1958 gaben 44 Prozent der Probanden an, dass es ihnen unangenehm sei, einen Laden zu verlassen, ohne etwas zu kaufen, wenn sie merkten, dass der Preis zu hoch war. Aufgrund der offenen Auslage in den Selbstbedienungsregalen waren sie dagegen in der Lage, die verschiedenen Produkte diskret vergleichen zu können.21 Bereits für die US-amerikanischen Selbstbedienungsläden der 1930er Jahren war die Ablehnung des „pressure selling“ ein zentrales Argument gewesen. Einschränkend bleibt dennoch festzuhalten, dass an die Stelle der „offenen“, direkten Sozialkontrolle neue sozioökonomische Mechanismen traten, die das Konsumverhalten regulierten.22 Zum einen blieb der tatsächliche Kauf der Waren weiterhin von den individuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Kunden abhängig. Die Selektion erfolgte allerdings in einem scheinbar intimeren, da anonymeren Entscheidungsprozess. Zum anderen nahmen die Verbraucher die Strategien der psychologischen Stimulierung selbst zunächst weniger wahr. Die Relevanz solcher indirekter Einflussfak 18
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28/310/1; Dr. Hilpert KG 1964, S. 82, 96; Moss 1958, S. 123, 130; Verbraucher und Selbstbedienung, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 4/1962, S. 20. Vgl. Brief IHK Düsseldorf an Industrie- und Handelskammern NRW, betr. Verringerung der Distributionskosten, (19.6.1958), S. 6, WWA K2/2042; Riethmüller 1953, S. 59; Treichel 1965, S. 10f. Appadurai 1986, S. 31. Käuferkritik, in: Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT, 3/1962, S. 4, RWWA 20/2237/3. Auch: Dr. Hilpert KG 1964, S. 110, Treichel 1965, S. 194. Wolff 1958, S. 6. Vgl. auch: Brief IHK Düsseldorf an Industrie- und Handelskammern NRW, betr. Verringerung der Distributionskosten (19.6.1958), S. 6, WWA K2/2042; Diemel, Heinrich 1962, S. 28; Dr. Hilpert KG 1964, S. 137; Hepp, Robert: Selbstherrlichkeit und Selbstbedienung. Zur Dialektik der Emanzipation, München 1971, S. 11; Kühn, Alfred: Selbstbedienung – nichts für uns, in: Edeka-Rundschau, 31.5.1957; Schreiterer 1951, S. 12; Verbraucher und Selbstbedienung, in: Selbstbedienung und Supermarkt, 4/1962, S. 20. Vgl. Baudrillard 2006, S. 59.
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toren für die Kaufentscheidung, wie Werbung oder Warenästhetik, wurde in den 1950er Jahren nur von einer kleinen Fachöffentlichkeit und einigen wenigen konsumkritischen Intellektuellen thematisiert.23 Die Verbraucherbewegung, die von politischer Seite geförderte Schaffung eines „Verbraucherbewusstseins“ sowie der Verbraucherschutz machten die Stellung des Konsumenten im Verhältnis zu Handel und Industrie seit Ende der 1950er Jahre und verstärkt im Verlauf der 1960er Jahre zu einem Thema in der breiten Öffentlichkeit.24 Eine umfassende gesellschaftliche Konsumkritik entfaltete sich jedoch erst Ende der 1960er Jahre. Im betrachteten Zeitraum wurde die neue Gestaltung der Selbstbedienungsläden weitgehend als positiv empfunden. Die freie und übersichtliche Anordnung der Waren trug in den Augen der Konsumente neben dem individuellen Einkaufstempo dazu bei, dass sie weniger vergaßen.25 Gleichzeitig machte das Arrangement den Einkauf ungeplanter und spontaner – die Käufer konnten Entdeckungen machen und Neues ausprobieren.26 Einen Einkaufszettel benutzten laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 1957 allerdings noch 59 Prozent der Konsumenten.27 Die Produktinformationen, die die Verpackung lieferte und die Auszeichnung mit Preisen ermöglichte dem Verbraucher außerdem zu Hause eine nachträgliche Kontrolle der gekauften Ware. Im Vergleich zu den genannten „sozialpsychologischen“ Vorzügen der Selbstbedienung taucht der Preisvorteil an sich kaum als Argument für den Selbstbedienungsladen auf.28 So begründeten in verschiedenen Umfragen 1953 nur 3 Prozent und 1956 23 Prozent den Einkauf im Selbstbedienungsladen mit den niedrigen Preisen. 1962 dagegen gaben 82 Prozent der Befragten den Sparfaktor als Vorteil noch vor der großen Auswahl und dem gerin 23
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Vgl. Daunton, Hilton 2001, S. 8; Hepp 1971, S. 14-16. Vgl. zur Konsumkritik in der Bundesrepublik der 1950er Jahre: Schildt 1995, S. 358f. Bsp.: DIHT: Tätigkeitsbericht 1964, S. 58f., WWA S7/562; Ergebnisniederschrift, betr. Besprechung der Arbeitsgruppe Mittelstand am 31.10.58 (4.11.1958), S. 5; BAK B102/14923. Vgl. auch in der Forschung: Siegfried 2006, S. 21 Die Hausfrauen sind für Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 13.10.1951. Auch: Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961; Priess 1952, S. 77. Die Hausfrau und der moderne Markt. Ein Interview mit der Hausfrau Maria Kern, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 18.3.1961. Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 77. Vgl. Andersen 1997, S. 60.
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geren Zeitaufwand an.29 Auch die OEEC kam 1954 für die Mehrzahl der europäischen Länder zu dem Schluss, dass die Selbstbedienung noch nicht zur Senkung der Lebensmittelpreise beigetragen habe.30 Die zunächst sehr geringe Bedeutung des sowohl durch die US-amerikanischen Förderer der Selbstbedienung als auch die Bundesregierung propagierten Preisvorteils hatte verschiedene Gründe. Die Kostensenkungsmöglichkeiten der Selbstbedienung, die sich letztlich in günstigeren Endverbraucherpreisen äußern sollten, boten Anfang der 1950er Jahre aufgrund der relativ hohen finanziellen Aufwendungen für die Umgestaltung eines Ladens noch keine eindeutigen Wettbewerbsvorteile.31 Weiterhin entwickelten sich in diesem Zeitraum für die mehrstufigen Einzelhandelszusammenschlüsse aus der Gleichzeitigkeit von Bedienung und Selbstbedienung spezifische Probleme für die Preisbildung. Die Waren mussten in beiden Geschäftsarten zum gleichen Preis angeboten werden. Außerdem schränkte der gleichzeitige Betrieb von Bedienungs- und Selbstbedienungsläden deren preissenkendes Potenzial stark ein. Ebenso begrenzte die traditionelle Gestaltung des Wettbewerbs im Einzelhandel die Preiswirksamkeit. Dazu zählten die gesetzlich festgelegte Preisbindung und die Ablehnung des Preiswettbewerbs durch einen Großteil der Unternehmen.32 Erst die Vertriebsformen der 1960er Jahre machten den Preis zu einem zentralen Aspekt bei der Wahl der Einkaufsstätte, wie anhand der Diskussion um die Discounter deutlich geworden ist. Die Qualität und die Frische der Waren wurden dagegen bis in die 1960er Jahre in den
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Moss 1958, S. 123; Disch 1966, S. 65; Gesellschaft für Konsumforschung: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 3, RWWA 28/310/1; Henksmeier 1961, S. 25. Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955. Vgl. auch die Umfrageergebnisse bei: Disch 1966, S. 65; Gesellschaft der Marktforschung 1971, S. 22; GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 3, RWWA 28/310/1; Moss 1958, S. 130. Henksmeier 1961, S. 25; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 102; Prieß, Bernhard: Neue Vertriebsmethoden, Vortrag auf Verbandstag des Verbandes der nordwestdeutschen Konsumgenossenschaften (10.6.1952), S. 4, FfZ 11-5; Self Service makes it way throughout Germany, in: Productivity News Nr. 41 (4.5.1953), NA RG 469, Entry 1205, Box 9. Vgl. Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955; Jefferys, Hausberger, Lindblad 1954, S. 103f.; Mc Creary 1964, S. 32, 36.
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neuen Geschäftstypen als schlechter eingeschätzt.33 Die Mehrheit der Kunden fand diese Läden zwar sauber und hygienisch, trotzdem bemängelten sie die Qualität und die Möglichkeit diese selbst einzuschätzen.34 Die Vorteile, die die bundesdeutschen Konsumenten im Selbstbedienungsladen sahen, waren Ausdruck des Autonomiegewinns des Kunden.35 Die Warenanordnung und -präsentation vermittelten insgesamt den Eindruck, eine freiere und individuellere Kaufentscheidung treffen zu können. Wie eng das Terrain, in dem sich der Selbstbedienungskunde „frei“ bewegte, letztlich durch die spezifische Einrichtung, die Warenanordnung und andere psychologisch-strategischen Überlegungen bereits abgesteckt war, ist im Kapitel fünf detailliert geschildert worden. Diese Lenkungsmechanismen verfügten nicht zuletzt über eine hohe Bedeutung, da sie immer mit der Schaffung einer angenehmen, lustbetonten Kaufatmosphäre einhergingen. Ganz in diesem Sinne fanden viele Kunden, dass das Einkaufen jetzt Freude mache.36 Joseph Wickern von der Cornelius Stüssgen AG fasste diese Wahrnehmung der Konsumenten Ende der 1950er Jahre zusammen: „[D]er Verbraucher empfindet das Recht der Selbstbedienung in einer ihm buchstäblich handgreiflich dargebotenen Warenfülle als eine Gunstbezeugung, als eine Verbeugung vor seiner Freiheit. Die oft lästige Empfehlung des Verkäufers, das neugierige Auge des Nachbarn, das langweilige Warten stehenden Fußes vor der Theke, alles das entfällt; der Kunde ist in seinem Laden, in seinem Reich und fühlt sich wie zu Hause. Der Kaufmann hat durch die Selbstbedienung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: er macht dem Kunden größere Freude und erleichtert sich die Arbeit.“37
Dem anfänglich beschriebenen Eindruck der Überflutung durch die Warenfülle folgte vor der Kontrastfolie der Kriegserfahrungen ein positives Gefühl der Wahlfreiheit.38 Inwiefern die neuen Konsummöglichkeiten in die
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Dr. Hilpert KG 1964, S. 82; RKW Kurznachrichten Nummer 105 (23.8.1954), NA RG 469, Entry 1203, Box 8. Dr. Hilpert KG 1964, S.82; GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 21, RWWA 28/310/1; Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 81; Moss 1958, S. 129. König 2000, S. 101; Usherwood 2000, S. 117. Die Hausfrauen sind für Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 13.10.1951. Wickern, Joseph: Die Selbstbedienung – eine Revolution, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 2-4, hier S. 3. Vgl. Dr. Hilpert KG 1964, S. 15f.; Wildt 1993, S. 286f.
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sem Zusammenhang weibliche Emanzipation verkörperten, da die überwiegende Mehrheit der Kunden Frauen waren, ist schwer einzuschätzen.39 V. a. die Unschärfe auf sprachlicher Ebene, bei der die Begriffe „Kunde“, „Verbraucher“ und „Hausfrau“ häufig miteinander vermischt wurden, stellen ein Hindernis für entsprechende geschlechtsspezifische Aussagen dar. Die größere Orientierungsfähigkeit, die der Einkauf in Selbstbedienung dem Kunden abverlangte, äußerte sich teilweise im weiter bestehenden Wunsch nach optionaler Beratung durch das Personal.40 Hauptsächlich stützte sich die Kaufentscheidung der Konsumenten aber verstärkt auf das Wissen, das die verpackten Produkte selbst und die Werbung lieferten.41 Auch wenn die rapide Zunahme der Warenvielfalt eine Desorientierung bei den Verbrauchern vermuten lassen würde, bestätigen die Quellen dies im vorliegenden Zusammenhang nicht. Vielmehr verweisen sie darauf, dass sich die Ausdehnung des Warensortimentes parallel zur Ausdifferenzierung der Konsumgesellschaft und integriert in die alltäglichen Konsumpraktiken vollzog. Selbstbedienungsläden und Supermärkte bildeten dabei die konkreten Schauplätze für das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage auf der Grundlage der zunehmenden Differenzierung und Verfeinerung des Bedarfs.42
2. Der typische Selbstbedienungs-Kunde? Die Selbstbedienung als reinen Ausdruck einer neu erworbenen Konsumfreiheit zu charakterisieren, wäre zu kurz gegriffen. Auf diese Weise würden wichtige soziale, wirtschaftliche und kulturelle Bestimmungsfaktoren für das differenzierte Konsumverhalten ausgeblendet werden.43 Dabei zeigten sich gerade im Zusammenhang mit der Selbstbedienung variierende Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen. In den Quellen finden sich eine 39 40
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Vgl. Benson 1994, S. 181, 187. Moss 1958, S. 18; Selbstbedienung mit Kontakt, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 3.5.1958. Vgl. die Umfrageergebnisse zur Inanspruchnahme der verschiedenen Orientierungsmöglichkeiten: Dr. Hilpert KG 1964, S. 21; Moss 1958, S. 17. Vgl. Haupt 2003, S. 151; Wildt 1993, S. 289. Auch die Zeitgenossen beobachteten bereits eine zunehmende Differenzierung und Verfeinerung des Bedarfs. Teilweise wurde sogar von einem „überfeinerten Geschmack“ des europäischen Verbrauchers gesprochen. Das Selbstbedienungsproblem in Europa, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 6.8.1955. Auch: Zahn 1960, S. 100. Vgl. Daunton, Hilton 2001, S. 2, 8; Haustein 2007, S. 11.
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Reihe von sozioökonomischen Kriterien, wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Haushaltsgröße und Wohnort, die für oder gegen den Einkauf im Selbstbedienungsladen sprachen. Im folgenden Abschnitt sollen diese Parameter vorgestellt und ihre Bedeutung in Bezug auf das konkrete Einkaufsverhalten beurteilt werden. Viele Verbraucherstudien gingen von der Frage aus, ob ein Selbstbedienungsgeschäft in der Nähe des Wohnortes der Konsumenten zur Verfügung stand. Bis in die späten 1950er Jahre gab über die Hälfte der Befragten an, dass dies nicht der Fall sei.44 Gleichzeitig kam eine dieser Umfragen 1958 zu dem Ergebnis, dass das unabhängige Einzelhandelsgeschäft für viele Haushalte schneller zu erreichen sei, als die Läden von Konsumgenossenschaften und Filialunternehmen.45 Wenn man davon ausgeht, dass die selbstständigen Einzelhandelsunternehmer zunächst zögerlich auf Selbstbedienung umstellten, wird deutlich, welchen Einfluss sie auf das Angebot der Verkaufsformen ausübten. Somit hing die Möglichkeit der flächendeckenden Nutzung der Selbstbedienung durch die westdeutschen Verbraucher in den 1950er Jahren eng ab von der Umstrukturierung des selbständigen Einzelhandels. Entscheidend für die Verfügbarkeit eines Selbstbedienungsladens war darüber hinaus die Größe des Wohnortes. Der Einzelhandel selbst betonte häufig, dass Selbstbedienung und Supermärkte sich eher für größere Städte und Großstädte, als für Klein- und Mittelstädte sowie ländliche Gegenden eigneten.46 Dabei argumentierte man meist mit unterschiedlichen Mentalitäten der Kunden in der Stadt und auf dem Land. Tatsächlich war für die stärkere Nutzung der neuen Verkaufsformen in größeren, dicht besiedelten Gebieten wesentlich die höhere Ladendichte und somit das vielfältigere Angebot an Einkaufsstätten ausschlaggebend. Auf der Grundlage eines größeren Einzugsgebietes konnten Einzelhandelsunternehmer die Umstellung auf Selbstbedienung sowie die Eröffnung größerer neuer Geschäfte einfacher finanzieren, als z. B. ein Kaufmann in ländlichen Regionen, der über einen
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GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 1f.; RWWA 28/310/1; Moss 1958, S. 120f. Moss 1958, S. 82. Vgl. zur hohen Bedeutung des Standortes: GfK: Einkaufsgewohnheiten in Bayern, 1954, S. 20f., FfZ 18-6, 5.15. GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 8, RWWA 28/310/1; Bevorzugen Sie männliche oder weibliche Bedienung?, in: Edeka-Rundschau, 22.8.1958. Vgl. die Daten zum Zusammenhang zwischen Ortsgröße, Selbstbedienung und Vertriebsform in: ISB-Informationen, 6/1966, S. 3, EHI.
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kleinen Kundenkreis und einen entsprechend knapp kalkulierten Umsatz verfügte.47 Die städtisch bzw. ländlich bedingte Verteilung der Selbstbedienungskunden ist zum Teil auch ein Erklärungsmoment für die regional unterschiedliche Verbreitung der neuen Verkaufsform im bundesweiten Vergleich. So verzeichneten die stark urbanisierten Regionen und Ballungsgebiete, wie sie gerade in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zu finden sind, prozentual einen höheren Anteil an Selbstbedienungsgeschäften, Supermärkten, Discountern und Verbrauchermärkten.48 Die in einigen Quellen aufgestellte Behauptung, dass die Konsumenten in diesen Gegenden grundsätzlich offener gegenüber Neuerungen und dynamischer in ihrem Konsumverhalten seien, bedürfte einer genauen Überprüfung, die aber aufgrund der vorliegenden Umfragen und Studien von Verbraucherseite nicht möglich ist.49 Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung erledigte ihren täglichen oder mehrmals wöchentlichen Einkauf weit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts traditionell zu Fuß. Nur eine kleine Minderheit zeichnete sich aufgrund der Nutzung des Autos durch eine hohe Mobilität aus. Erst in den 1960er Jahren begannen immer mehr deutsche Konsumenten mit dem Auto einzukaufen. Trotzdem wurden laut der RGH bis in die 1970er Jahre die meisten Lebensmittelkäufe in dem Wohnort nahegelegenen Geschäften getätigt.50 Die schnelle Erreichbarkeit war ein Kernkriterium für die Wahl des Lebensmittelgeschäftes. Deshalb nutzten die Konsumenten häufig ein Stammgeschäft in der Nachbarschaft als wichtigsten Anlaufpunkt. In diversen Umfragen gaben zwischen 68 bis 83 Prozent an, Stammkunde bei einem oder mehreren Lebensmittel- und Lebensmittelfachgeschäften zu sein.51 Neben dem Standort gaben die Verbraucher Gewohnheit und Loyalität gegenüber dem Einzelhändler als Gründe für den Besuch ihres Stammgeschäf 47
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Vgl. Der „Konsum“ in einem Heidedorf, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8.6.1957. Vgl. z. B. die Angaben: Henksmeier, Karl-Heinz: Die Struktur der deutschen Selbstbedienungsläden im Lebensmitteleinzelhandel, in: Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 11-19, hier v. a. S. 13f.; Leistungen der SB-Filialen in den verschiedenen Bundesländern, in: ISB-Informationen 1967; Supermärkte in der BRD, in: ISB-Informationen 1972, EHI. Nax 1969, S. 118. Neuere Untersuchungen zum Verbraucherverhalten, in: Rationeller Handel, 3/1971. Auch: Werbeträger Nürnberger Nachrichten: Einkaufen im Lebensmittelhandel. Hausfrauen berichten über ihre Einkäufe, Nürnberg 1973, S. VII. Auszug aus den Kurzmitteilungen der Abteilung Handel des DIHT (24.7.1962), BWA K9/2655; Dr. Hilpert KG 1964, S. 62; Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 76; Moss 1958, S. 71.
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tes an. Diese beiden Verhaltensmuster basierten auf der Annahme, dass sowohl der Preis als auch die Qualität der Waren in den Stammgeschäften den Erwartungen der Konsumenten entsprachen. Moss hielt 1958 fest, dass die westdeutschen Hausfrauen auf dieser Grundlage kaum Interesse an einer Veränderung ihres Einkaufsverhaltens zeigten. Dabei war die regelmäßige Frequentierung eines Stammgeschäftes bei Haushalten mit einem niedrigeren Einkommen stärker verbreitet. In den Quellen findet sich die Aussage, dass diese Kunden gleichzeitig über die wenigsten Erfahrungen mit der Selbstbedienung verfügten.52 Das Vertrauen der einkommensschwächeren Haushalte in die Verlässlichkeit der Preis-Leistung-Garantie des Stammgeschäftes minderte zum einen sicherlich die für das Ausprobieren der neuen Selbstbedienungsläden notwendige Risikobereitschaft. Zum anderen gab die Fachzeitschrift Der neue Weg als Grund für dieses Verhalten an, dass geringer verdienende Verbraucher grundsätzlich vorsichtiger mit der verführerischen Warenvielfalt in den Selbstbedienungsregalen umgingen, da für sie die genaue Kalkulation ihrer Haushaltskasse wichtig war.53 Die Haushalte mit höheren Einkommen dagegen bevorzugten tendenziell teurere Produkte wie Markenartikel und vorverpackte Waren – und damit typische Selbstbedienungsartikel. Ihr umfassenderes Wissen über die neue Verkaufsform beruhte somit auf ihrem größeren finanziellen Spielraum, der ihnen eine größere Auswahlmöglichkeit und Abwechslung beim Einkauf ermöglichte.54 Dass die Rolle des Einkommens und die Schichtzugehörigkeit ausschlaggebend für die Nutzung oder Ablehnung der Selbstbedienung waren, bestätigten verschiedene Umfragen. So stellte eine Studie der GfK Anfang der 1960er Jahre fest, dass bei einem monatlichen Einkommen bis 499 DM 39 Prozent, zwischen 500 und 749 DM 50 Prozent und bei einem Einkommen über 750 DM 61 Prozent der erfassten Konsumenten im Selbstbedienungsladen einkauften.55 Auch das Institut für Demoskopie Allensbach kam 1957 bei einer etwas abweichenden Abstufung der Einkommen zu dem Ergebnis, dass die Konsumenten die Selbstbedienung umso stärker nutzten, je größer ihre finanziellen Kapazitäten waren.56 Wenn die Einführung von Selbstbedienung 52
53
54
55 56
Moss 1958, S. 126, 161, 165. Vgl. auch: „Bevorzugen Sie männliche oder weibliche Bedienung?, in: Edeka-Rundschau, 22.8.1958. Um die Selbstbedienung: Verführerische Selbstbedienung, in: Der neue Weg, 1/1961. Vgl. auch in der Forschung: Benson 1994, S. 188. Moss 1958, S. 126; 161f. Vgl. auch: Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 76, 80. Um die Selbstbedienung: Verführerische Selbstbedienung, in: Der neue Weg, 1/1961. Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 80. Vgl. für Italien: De Grazia 2005, S. 408.
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und Supermärkten in diesem Rahmen als Einführung US-amerikanischer Praktiken in die westdeutsche Lebensweise verstanden würde, widerspräche die unterschiedliche Nutzung durch die verschiedenen Schichten der These Doering-Manteuffels, dass die unterbürgerlichen Schichten und die Arbeiterklasse besonders offen für US-amerikanische Einflüsse seien. Teilweise konnten sie sich schlicht den Einkauf in den neuen Läden nicht leisten.57 Den Konsum bestimmter Waren und das Einkaufen in bestimmten Geschäften stellt die sozial- und konsumhistorische Forschung als zentrale Faktoren der sozialen Distinktion heraus.58 Auch wenn sich in der Nutzung der Selbstbedienungsgeschäfte durch verschiedene Einkommensgruppen ein gewisser Unterschied zeigte, lassen sich keine Hinweise auf diesen Mechanismus sozialer Abgrenzung im Selbstverständnis der Konsumenten als Kunden eines Selbstbedienungs- oder Bedienungsladens finden. Entscheidend für die gesellschaftliche Einordnung der Einkaufspraktiken waren wohl hauptsächlich das entsprechende Einzugsgebiet eines Lebensmittelgeschäftes sowie die konkrete Zusammenstellung des Warenkorbes. Möglicherweise besteht in der gleichartigen, wenn auch nicht gleichmäßigen Nutzung der neuen Verkaufsformen durch alle Schichten, v. a. mit ihrer zunehmenden Verbreitung seit dem Ende der 1950er Jahre, ein Hinweis auf die Nivellierung sozialer Unterschiede durch Konsum. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Selbstbedienungsgeschäfte seit dem Ende der 1950er Jahre immer günstigere Preise anboten. Die neuen Vertriebsformen der 1960er Jahren waren aufgrund der Discount-Preise besonders für die unteren Einkommensgruppen interessant. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Selbstbedienungsgeschäfte, Supermärkte, Discounter und Verbrauchermärkte im Verlauf des Untersuchungszeitraums durch die Entwicklung variierender Preis- und Qualitätsniveaus die verschiedenen Bedürfnis- und Finanzstrukturen der Haushalte auf differenzierte Weise anzusprechen vermochten. Als weitere soziale Parameter, um die Befürwortung oder Ablehnung der Selbstbedienung zu bestimmen, griff man auf den Familienstand und damit verbunden die Haushaltsgröße sowie das Alter und das Geschlecht der Konsumenten zurück. Dabei ist wichtig zu betonen, dass in den meisten Umfragen und Studien Frauen die Mehrheit der Befragten stellten. Trotz der zunehmenden Erwerbstätigkeit v. a. verheirateter Frauen und des allmählichen Wandels im Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern blieben sie für die Gestaltung des Einkaufsverhaltens zentral. Obwohl sich also
57 58
Doering-Manteuffel 1999, S. 41. Auch: Mc Creary 1964, S. 100. Vgl. Benson 1994, S. 205; Berghoff 1999, S. 10; Pfister 2000, S. 62.
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durchaus neue soziale und ökonomische Optionen ergaben, veränderten sich die traditionellen Rollen im Bereich des Einkaufens nicht grundlegend.59 Hinsichtlich der Einstellung von Männern und Frauen gegenüber der Selbstbedienung kamen die verschiedenen Umfragen nicht zu eindeutigen und übereinstimmenden Ergebnissen.60 Häufig stand diese Differenz aber auch nicht zur Diskussion. Eher wurde betont, dass Männer insgesamt tendenziell mehr am Besuch von Lebensmittelgeschäften beteiligt seien, da sich der wöchentliche Einkauf im Laufe der 1960er Jahre zu einem Erlebnis für die ganze Familie entwickelte. Sicher trugen zur größeren Beteiligung des Mannes am Einkauf auch die steigende Menge der gekauften Artikel und die Fahrt zum Geschäft mit dem Auto bei.61 In diesem Zusammenhang hielt Nax für die 1960er Jahre fest, dass den Supermarkt vorrangig größere Haushalte und damit Familien oder stellvertretend für diese verheiratete Frauen frequentierten, wohingegen Alleinstehende ein geringeres Interesse am „Großeinkauf“ zeigten.62 Während das Geschlecht selbst einen eher geringeren Einfluss auf die Präferenz für Bedienung oder Selbstbedienung hatte, stellte das Alter der Konsumenten ein wichtiges Kriterium für das Einkaufsverhalten dar. Junge Leute kauften eher in Selbstbedienungsgeschäften ein, als die ältere Generation.63 Für die Anfangsphase der Selbstbedienung wurden dafür verschiedene Gründe angeführt. Ältere Menschen bevorzugten mehrheitlich Bedienungsläden, da sie den persönlichen Kontakt und die individuelle Beratung schätzten. Für sie waren die mit dem Einkauf verbundenen sozialen Beziehungen wichtiger, als für die jüngere, meist durch ein alltägliches Berufsleben sozial integrierte Bevölkerung. Aber auch die grundsätzliche Ablehnung des Impulskaufs durch ältere Konsumenten aufgrund ihres traditionell verankerten sparsamen und disziplinierten Ausgabenverhaltens kam zur Spra 59
60 61 62 63
Vgl. Andersen 1998, S. 85; Ambrosius, Kaelble 1992, S. 27; Benson 1994, S. 181; Haustein 2007, S. 12; Usherwood 2000, S. 128. Vgl. allgemein zur Rollenverteilung in Zusammenhang mit Produktion und Konsumtion: Lenz 2006. Vgl. Nax 1969, S. 116. Vgl. für Italien: De Grazia 2002, S. 23f.; De Grazia 2005, S. 411. Nax 1969, S. 115f. Die Hausfrauen sind für die Selbstbedienung, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 13.10.1951; GfK: Der Selbstbedienungsladen im Urteil des Verbrauchers, in: Vertrauliche Nachrichten für die Mitglieder der Gesellschaft für Konsumforschung (12.3.1953), S. 5, RWWA 28/310/1; Dr. Hilpert KG 1964, S. 102; Institut für Demoskopie Allensbach: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-64, S. 80; Um die Selbstbedienung: Verführerische Selbstbedienung, in: Der neue Weg, 1/1961.
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che.64 Gleichzeitig führten die eingeschränktere Mobilität und das geringere Einkommen älterer Menschen zur dauerhaften Nutzung eines nahe gelegenen Stammgeschäftes. Ebenso wenig bestand für sie die Möglichkeit oder Notwendigkeit von den großen Supermärkten und Verbrauchermärkten in städtischen Randlagen Gebrauch zu machen. Während die ältere Generation also tendenziell an ihrem traditionellen Konsum- und Einkaufsverhalten festhielt, etablierte sich die Selbstbedienung für die ab den 1940er Jahren Geborenen schnell als gewohnte Praxis. Trotz dieses Bildes einer vermeintlichen Resistenz der älteren Generation gegenüber den neuen Verkaufsformen, stellten sie gemeinsam mit den so genannten „Teens“ und „Twens“ aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den 1960er Jahren die bedeutendste Zielgruppe für den Einzelhandel dar.65 Im Sinne eines Fazits lässt sich sagen, dass die Aneignung der Selbstbedienung durch die westdeutschen Konsumenten nicht nur im Wechselspiel mit der neuen Angebotslandschaft des Einzelhandels erfolgte, sondern dass darüber hinaus eine Vielzahl soziokulturell und individuell begründeter Einstellungen und tradierter Praktiken eine Rolle spielte. Während über die grundsätzlichen Vorteile der neuen Verkaufsform weitgehend ein Konsens herrschte, hing die konkrete Nutzung der Vertriebsform in der Praxis stark von den persönlichen Präferenzen sowie von den geographischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen ab. Für die Einführungsphase der Selbstbedienung in den 1950er Jahren zeichneten sich dabei einige allgemeine Tendenzen ab, die das Publikum der neuen Verkaufsform als vorwiegend weiblich, jung und städtisch charakterisierten. Für eine differenziertere und konkretere Einschätzung des Konsumentenverhaltens wäre eine breitere Quellengrundlage, u. a. durch Zeitzeugeninterviews notwendig. Dieses sicher sehr lohnenswerte Vorgehen konnte aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Darüber hinaus ist mit der Weiterentwicklung der Selbstbedienung in den neuen Vertriebsformen der 1960er Jahre sicher noch einmal ein anderes Bild des Konsumentenverhaltens zu zeichnen. Scarpellini hat z. B. für den Fall der frühen italienischen Supermärkte herausgearbeitet, dass sie niedrige Einkommensklassen ebenso ansprachen wie die Mittelschicht – erstere schätzten die günstigen Preise, letztere das um 64 65
Wolff 1958, S. 10. Vgl. Andersen 1998, S. 90f. In den Quellen vgl.: Edeka (Zentralorganisation): Jahresbericht 1968, S. 20, WWA S7/577; Tietz, Bruno: Der Markt der alten Leute, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 1.2.1968; Unsere Verbrauchergewohnheiten ändern sich (4.11.1964), BWA K1/3034.
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fangreiche Sortiment und den hohen Hygienestandard.66 Auch wenn es aufgrund der Quellenlage für die Bundesrepublik Deutschland schwierig sein dürfte, detaillierte Aussagen über die Nutzung von Discountern, Supermärkten, Verbrauchermärkten, aber auch den weiter bestehenden Bedienungs- und Selbstbedienungsläden zu treffen, liefert deren Existenz an sich ein Indiz für die breite Zustimmung zur Selbstbedienung. Gleichzeitig eröffnen die Pluralisierung und die Differenzierung von Massendistribution und Massenkonsum viele spannende Fragen zu individuell und sozial determinierten Nutzerprofilen der verschiedenen Vertriebsformen.
66
Scarpellini 2004, S. 664.
VII. Schlussbetrachtung Nichts blieb, wie es war: Die 1950er und 1960er Jahre waren für den bundesdeutschen Einzelhandel eine Phase tiefgreifender und langfristiger Innovationen. Gerade die Selbstbedienung machte als Schlüsselentwicklung alles anders. Sie beendete die begrenzte Ausgabe von Konsumgütern durch einen Verkäufer hinter der Theke an den Kunden und öffnete den Weg für den Massenabsatz von Waren. Das wirkte sich massiv auf die Einzelhandelsunternehmer aus. Sie bemühten sich, in ihre neue Rolle im Massenkonsumkreislauf hineinzufinden. Bei der Umsetzung in die Praxis stieß die als Innovation wahrgenommene Selbstbedienung kreative, aber auch widersprüchliche Lern- und Adaptionsvorgänge an. Die Einzelhändler kopierten nicht einfach nur das ursprünglich US-amerikanische Verkaufsprinzip des selfservice samt einer Reihe von Vertriebsformen wie dem Supermarkt, dem Discounter und dem Verbrauchermarkt. Vielmehr integrierten sie es in den heimischen Kontext, passten es den lokalen Bedingungen an und entwickelten es weiter. Mit den neuen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen der sozialen Marktwirtschaft sowie der Etablierung der Massenkonsumgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland standen diese Prozesse in engem Zusammenhang. Zugleich erweist sich das Innovationsbestreben im Einzelhandel nicht nur als Reaktion auf die Anforderungen von Massenproduktion und Massenkonsum, sondern auch als Teil eines aktiven, langfristigen Prozesses, der zur Ausdifferenzierung der westdeutschen Handels- und Konsumlandschaft des 20. Jahrhunderts führte. Häufig werden Innovationen fast im Geheimen, von einzelnen Personen ausgetüftelt – interessant werden sie für viele erst nach einer gewissen Anlaufzeit. So ähnlich war die Situation auch bei der Eröffnung des ersten Selbstbedienungsladens 1949 in Hamburg. Die breite Öffentlichkeit nahm dies nicht als Sensation wahr. Stattdessen brauchte es einige Jahre, bis sich bundesweit immer mehr Nachahmer fanden. Kein Wunder, denn für eine breite Innovationswelle fehlten schlicht die Rahmenbedingungen. So wie viele andere wirtschaftliche Bereiche war der Handel nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst damit beschäftigt, Kriegsschäden zu beseitigen. Diesen Wiederaufbau gleich mit einer Beschleunigung und Vereinfachung des Verkaufsvorgangs zu verbinden, versuchten die Einzelhändler zunächst nur vereinzelt. Gleichwohl wurde recht schnell klar, dass die erwünschte Produktivitätssteigerung der bundesdeutschen Wirtschaft als zentralen Faktor eine umfassende Rationalisierung des Verkaufswesens voraussetzte. In diesem Zusammenhang bot die Selbstbedienung dem Handel zwei Wege, um
Schlussbetrachtung
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die Kaufbereitschaft der Bevölkerung zu steigern: zum einen senkte er die Kosten und somit die Endverbraucherpreise, zum anderen schuf er in den Selbstbedienungsläden eine stimulierende Einkaufsatmosphäre. Doch die Umstellung zielte nicht nur ökonomisch darauf ab, den Massenkonsum anzukurbeln. Von Anfang an war sie mit spezifischen soziokulturellen Vorstellungen von der „westlichen“ Massenkonsumgesellschaft und bestimmten politischen Motiven verbunden. Kein Akteur handelte uneigennützig. Für die Bundesregierung und speziell für Ludwig Erhard besaß die Verwirklichung individueller Konsumfreiheit einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert. Für die Bevölkerung selbst bot die Massenkonsumgesellschaft mit ihren neuen Läden und neuen Waren eine konkrete Möglichkeit, sich von den traditionellen Konsum- und Verhaltensmustern zu lösen. Nicht zuletzt förderten die USA produktivitätssteigernde Maßnahmen im Einzelhandel als Teil der Wiederaufbauhilfe, um das amerikanische Modell der Massenkonsum- und Wohlstandsgesellschaft in den westeuropäischen Ländern zu etablieren. Dessen Vorbildfunktion beruhte auf der Erfolgsgeschichte der Selbstbedienung im US-amerikanischen Einzelhandel, die sich aus einer spezifischen Konstellation von Massenkonsum, Massenproduktion und Massendistribution heraus entwickelt hatte. Die Verbreitung der Selbstbedienung und die Entstehung der Supermärkte und Discounter waren eng verbunden mit hohen unternehmerischen Effizienzansprüchen und dem Dienst am citizen consumer, seinen Wünschen und Bedürfnissen. Dabei spiegelte die Art und Weise des Verkaufens und Kaufens Anfang der 1950er Jahre die Vorstellung von einer Gesellschaft wider, in der Konsum nicht nur materielles Wohlbefinden, sondern v. a. Selbstverwirklichung und Freiheit verhieß. Ein solches Modell blieb für die deutschen Einzelhändler zunächst eine Zukunftsvision. Angesichts einer ganz andersartigen Entwicklung in der Bundesrepublik ließ sich das US-amerikanische Modell nicht direkt auf den westdeutschen Kontext übertragen. Vielmehr löste der Massenkonsum US-amerikanischer Prägung sehr ambivalente Haltungen aus. Internationale Netzwerke zur „Modernisierung“ des Einzelhandels Im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre baute eine Vielzahl von Politikern und Wirtschaftsvertretern, Wissenschaftlern und Einzelhandelspraktikern aus der Bundesrepublik, den USA und aus Europa ein dichtes internationales Netzwerk auf, in dem sie sich über den Innovationsprozess im Einzelhandel austauschten. In diesem Sinne können die Transferbeziehungen als eine community of practice charakterisiert werden. Denn es schlossen sich sehr
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Schlussbetrachtung
unterschiedliche Personenkreise – von Unternehmern des Einzelhandels über die Verpackungsindustrie, Werbefachleute, Herstellerfirmen von Ladeneinrichtungen, Konsum- und Handelsforscher bis hin zu Wirtschaftspolitikern – zusammen, deren Motivationen zwar unterschiedlich waren, deren konkrete Interessen aber zeitweilig übereinstimmten. Das gemeinsame Ziel, das sie einte, war, die Absatzsysteme der einzelnen europäischen Länder grundlegend zu rationalisieren, den Warenumschlag zu steigern und die Kosten zu senken. Die Transferagenten teilten auch eine gemeinsames Rollenbild: Sie verstanden sich als Experten der neuen Verkaufsformen und wurde als solche von der Fachöffentlichkeit wahrgenommen.1 Die Einzelhandelspraktiker brachten ihnen ein großes Maß an Vertrauen entgegen, das auf dem vorbildhaften Erfolg des self-service in den USA und dem damit verbundenen Wissen der Experten beruhte. Damit die Erfahrungen und die Überzeugungen der international vernetzten Akteure ihre Wirkung in der Praxis entfalten konnten, waren so genannte Multiplikator-Wirkungen bzw. spill-overEffekte von hoher Bedeutung. Nur durch sie lässt sich der erfolgreiche Einfluss des transatlantischen Austausches auf die Umgestaltung des deutschen Einzelhandels – trotz seiner starken zeitlichen und personellen Begrenztheit – erklären.2 Die Schlüsselfunktion der Experten lag nicht nur in der Aneignung relevanter Informationen, sondern auch in der Popularisierung und Diffusion der erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen. Um an das „Erfolgsgeheimnis“ der Selbstbedienung zu gelangen, entwickelten die Transferagenten eine Reihe von kreativen Strategien. Dazu zählten Reisen, Messen und Ausstellungen sowie Kongresse und Seminare. Schriftliche und audiovisuelle Medien waren ebenfalls entscheidende Kanäle der Wissensvermittlung und -aneignung. Besondere Gelegenheiten stellten persönliche Kontaktaufnahmen mit US-amerikanischen oder europäischen Experten auf Reisen oder anderen Veranstaltungen dar: sie ermöglichten den Erwerb von praktischem Anschauungswissen vor Ort und taziten Kenntnissen aus erster Hand. Allerdings verfügte aus organisatorischen und finanziellen Gründen nur ein kleiner Personenkreis über diese Möglichkeiten. Für die breite Masse der westdeutschen Interessierten v. a. aus der Einzelhandelspraxis bildeten Reiseberichte in Büchern und Zeitschriften sowie Filme und Vorträge von US-Amerikanern oder Amerikareisenden die Hauptquelle für innovationsrelevantes Wissen. Auch wenn diese Kommunikationsmittel einen weniger authentischen und unmittelbaren Kontakt mit
1 2
Vgl. Engstrom u. a. 2005, S. 10f.; Schumacher, Busset 2001, S. 15f. Vgl. Berghoff 2004b, S. 68; Berghoff, Sydow 2007, S. 10.
Schlussbetrachtung
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der Selbstbedienung boten, trugen sie maßgeblich zur flächendeckenden Verbreitung der neuen Ideen bei. Die US-amerikanischen, europäischen und westdeutschen Akteure gestalteten ihre Kooperation in den einzelnen Phasen des Innovationsprozesses mit unterschiedlicher Intensität und mit wechselnden inhaltlichen Schwerpunkten. In den 1950er Jahren und besonders im mittleren Teil des Jahrzehnts orientierten sich die Westdeutschen und die Europäer intensiv am US-amerikanischen Leitmodell. Daraus leiteten die Zeitgenossen nicht nur sachliches Wissen über die Funktion der Verkaufsform ab, sondern beschäftigten sich auch intensiv mit der wertenden Interpretation der Einzelhandels- und Konsumlandschaft. Diese Wahrnehmungsprozesse erzeugten sehr ambivalente Amerikabilder. So galt die US-amerikanische Hausfrau als emanzipiert und konsumfixiert zugleich. Dem Einzelhändler in den USA fehlte aus deutscher Perspektive jegliches Standesdünkel, er war aber letztlich nur auf seinen individuellen Gewinn bedacht. Die moderne Ladenausstattung wurde als technisch fortschrittlich und gleichzeitig beängstigend kalt wahrgenommen. Solch stets zwiespältige Bewertungen der westdeutschen Beobachter unterstreichen den widersprüchlichen Charakter des Aneignungsprozesses. Er war einerseits vom Willen zur Übernahme der Selbstbedienung und der Faszination von ihren Möglichkeiten getragen. Andererseits ging die Rezeption mit der Ablehnung verschiedener wirtschaftlicher und soziokultureller Konsequenzen der Massenkonsumgesellschaft US-amerikanischer Prägung einher. Das stetige Abwägen zwischen den Vor- und Nachteilen der Facetten des Konsums spiegelte zugleich die Auseinandersetzung der westdeutschen Beobachter mit dem Übergang vom europäischen bourgeoisen Konsummodell zu einer „westlichen“ Massenkonsumgesellschaft wider.3 In dem Maße, in dem die Massenkonsumgesellschaft für die Bundesdeutschen in den späten 1950er und in den frühen 1960er Jahren reelle Formen annahm, verblasste auch die stereotypisierende Wahrnehmung der USA. Gleichzeitig verlor das US-amerikanische Verkaufswesen seine vorrangige Orientierungsfunktion für den Einzelhandel in der Bundesrepublik. Die westdeutschen Unternehmer trieben den Innovationsprozess jetzt eigenständig voran. Bei neuen Geschäftstypen wie dem Großraumladen, dem Lebensmittel-Discounter oder dem Verbrauchermarkt handelte es sich um eine Weiterentwicklung der im heimischen Kontext etablierten und modifizierten Selbstbedienung in Kombination mit anderen Strategien des Mas 3
Vgl. De Grazia 1997, S. 123; Gassert 2000, S. 147; Jarausch, Siegrist 1997, S. 40; Latzin 2005, S. 15; Pells 1997, S. 202; Schildt 1995, S. 399f.
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Schlussbetrachtung
senabsatzes. Sie repräsentierten hybride Formen des Verkaufens und Einkaufens, die der Konsumgesellschaft, den Betriebsformen und den allgemeinen Wettbewerbsbedingungen der Bundesrepublik Deutschland angepasst waren. Zudem bot die innereuropäische Zusammenarbeit zur Förderung des Einzelhandels neue Problemlösungen auf der Grundlage ähnlicher Voraussetzungen. Trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen in den verschiedenen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg erkannten die Zeitgenossenen wichtige Parallelen der konsumgesellschaftlichen Entwicklung in Europa. Diese begriffen sie als ein neues Potenzial für den Austausch von Knowhow. Bereits seit den frühen 1950er Jahren pflegten die europäischen Konsumgenossenschaften einen regen Erfahrungsaustausch und Reiseverkehr. Im Laufe des Jahrzehnts entwickelten auch die anderen Unternehmen des Einzelhandels ein dichtes, länderübergreifendes Beziehungsnetzwerk. Gerade die neue Unternehmensform der multinationalen Einzelhandelsketten wie Spar oder A&O trug ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in besonderem Maße zur Europäisierung der Einzelhandelslandschaft bei. Aufgrund ihrer national übergreifenden wirtschaftlichen Verflechtung waren diese Unternehmen über einen formlosen Wissensaustausch hinaus an der Standardisierung des Verkaufswesens in den einzelnen Ländern interessiert. Darüber hinaus setzten sich europäisch übergreifende Organisationen, wie z. B. die EPF oder politische Gremien u. a. der EWG, zunehmend für die Verbreitung der Selbstbedienung ein. Alles in allem sind die internationalen Transferbeziehungen innerhalb des Innovationsprozesses im Einzelhandel ambivalent zu bewerten. Der These von einer Amerikanisierung des Handels kann nur bedingt zugestimmt werden. Zwar gab es in der Frühphase des Strukturwandels eine starke Orientierung an den Vereinigten Staaten. Auch förderten sie intensiv die Einführung der Selbstbedienung. Gleichzeitig aber übten die im Verlauf der 1950er Jahre immer wichtiger werdenden europäischen Netzwerke einen entscheidenden Einfluss auf die Umstrukturierung des westdeutschen Einzelhandels aus. So verschränkten sich die selektive Rezeption und kreative Adaption des US-amerikanischen Vorbildes mit einer Europäisierung der Austauschbeziehungen. Ähnliches lässt sich für die 1950er Jahre in vielen westeuropäischen Ländern beobachten, wenngleich immer mit deutlichen nationalen Eigenheiten. Insofern könnte statt von einer Amerikanisierung eher von einer Westernisierung der Verkaufslandschaften gesprochen wer-
Schlussbetrachtung
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den.4 Diese Einschätzung müsste anhand einer Reihe von Fallbeispielen aus verschiedensten Ländern im Vergleich weiter überprüft werden. Ebenso wäre eine detaillierte Analyse des osteuropäischen Kontextes für eine zusammenhängende Bewertung der europäischen Entwicklung notwendig. Der Wandel der bundesdeutschen Verkaufslandschaft Die Einführung der Selbstbedienung stieß in der Bundesrepublik einen Innovationsprozess an, der die Einzelhandelslandschaft insgesamt tiefgreifend und langfristig veränderte. Gleichwohl war in den ersten zehn Jahren nach der Eröffnung des ersten Pionierladens nicht allzu viel davon zu spüren. Noch bis zum Ende der 1950er Jahre herrschte weiterhin die Bedienung vor. Obwohl die Selbstbedienung bundesweit bekannt wurde, blieben noch über 90 Prozent der Lebensmittelgeschäfte beim vertrauten Modell. In den ersten fünf Jahren entstanden gerade einmal ca. 200 Geschäfte mit der neuen Verkaufsform. Zentrale Gründe dafür waren die allgemeinen Schwierigkeiten des Wiederaufbaus, wie der Mangel an finanziellen, personellen und materiellen Ressourcen, die schlechte Infrastruktur sowie die Knappheit an Konsumgütern. Hinzu kam mit der Verpackung der Waren ein zusätzliches, spezifisches Problem. Ein großes Hindernis bis weit in die 1960er Jahre blieben auch die finanziellen Anforderungen. Für die Einrichtung und den Betrieb eines tendenziell größeren Selbstbedienungsladens brauchte ein Einzelhändler zunächst v.a. eines: genügend Geld. Reichte die eigene Kapitalkraft nicht aus, bot der Zusammenschluss einzelner Händler in den freiwilligen Ketten und in den Einkaufsgenossenschaften eine Alternative. Hier erhielt jeder Händler zudem das für die praktische Umsetzung der neuen Verkaufsformen unbedingt notwendige Fachwissen. Mit der Schaffung zentraler Fachabteilungen, der dezentralen Beratung vor Ort sowie dem Ausbau des Weiterbildungsangebotes beschafften und verbreiteten die Einzelhandelszusammenschlüsse das nötige Know-how. So stellten sie einen entscheidenden Push-Faktor für den Innovationsprozess dar. Für viele Einzelhandelsunternehmen war mit der Umgestaltung des Verkaufs in ihren Läden somit häufig ein Wandel in der betrieblichen Organisation verbunden. Dabei benachteiligte die Selbstbedienung die Einzelladenbesitzer. Denn die Vielzahl der neuen Aufgaben im Selbstbedienungsladen konnte in zentralisierten und spezialisierten Fachabteilungen von Unternehmenszusammenschlüssen rationeller, kostengünstiger und erfolgreicher bewältigt werden. Deshalb nahm mit der Zahl der 4
Vgl. Doering-Manteuffel 1999, S. 12.
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Schlussbetrachtung
Selbstbedienungsgeschäfte auch die Zahl größerer, mehrstufiger Einzelhandelszusammenschlüsse, wie die Einkaufsgenossenschaft Edeka und oder die freiwilligen Einzelhandelsketten Spar und Rewe, zu. Doch dass einige Einzelhandelsunternehmer zu Innovationsverlierern wurden, war zu einem guten Teil auch ihre eigene Schuld. Neben den organisatorischen und wettbewerblichen Voraussetzungen erwies sich maßgeblich ihr sozioökonomisches Selbstverständnis als Nachteil. Die Mehrheit der westdeutschen Einzelhändler war in den 1950er Jahren noch stark im traditionellen bourgeoisen Konsummodell verhaftet. Alltägliche Praxis und Erfahrungswerte prägten ihre Tätigkeit. Daraus ergaben sich soziokulturell fundierte Vorurteile gegenüber den Neuerungen, die rein rationale Argumente nicht ausräumen konnten. Die veränderte Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer im Geschäft mit Selbstbedienung ließ bei den selbständigen Einzelhändlern, aber auch bei den Konsumgenossenschaften die Angst aufkommen, die bisher sehr persönliche Bindung des Kunden an einen Laden würde sich lockern und letztlich auflösen. Dahinter steckte v. a. die Erkenntnis, dass die Anonymisierung des Verkaufsvorgangs und die Lockerung der menschlichen Beziehungen im Selbstbedienungsladen eine ernsthafte Gefährdung für die traditionelle Rolle des Einzelhändlers darstellte. Der Kaufmann verlor seine in der Konsumhierarchie des „bourgeois model of consumption“ bisher fest verankerte Rolle als Vermittler und als „Kontrolleur“ der begrenzten Ausgabe von Waren. Somit erforderte die Selbstbedienung nicht weniger als eine grundsätzliche Umorientierung von den Einzelhändlern: Sie mussten ihre alltägliche Rolle im Geschäft und gegenüber den Verbrauchern neu definieren. Dies war eng verbunden mit einer allgemeinen Debatte um die gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Bedeutung der mittelständischen Unternehmer angesichts der zunehmenden Auflösung bürgerlich-hierarchischer Strukturen zugunsten einer Massenund Massenkonsumgesellschaft. Die erste Hälfte der 1950er Jahre kann als die experimentelle Phase der Selbstbedienung bezeichnet werden. Im allmählichen Übergang von der Mangel- zur Wohlstandsgesellschaft experimentierten die Einzelhändler mit der Selbstbedienung – aufgrund des fehlenden Erfahrungswissens hauptsächlich durch learning by doing. Parallel dazu betonten viele Kaufleute immer wieder die Entwicklungsfähigkeit des Bedienungsladens. In diesem Zusammenhang entstanden Mischformen wie die Freiwahlläden der mittelständischen Einzelhändler oder die Tempoläden der Konsumgenossenschaften. Während pragmatische Kompromisse und Experimente den Alltag prägten, gab es in der Fachöffentlichkeit am Beispiel des Übergangs von der Bedie-
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nung zur Selbstbedienung eine Grundsatzdebatte über ein „modernes“ bzw. „unmodernes“ Verkaufen. Die Befürworter der neuen Verkaufsform hielten die Selbstbedienungsgeschäfte nicht nur für technisch und wirtschaftlich progressiv, sondern sahen in ihnen die perfekte Antwort auf die veränderten Lebensgewohnheiten und das gewandelte Verbraucherverhalten in den 1950er und 1960er Jahren. Gleichzeitig assoziierten sie die Bedienungsgeschäfte mit einer starken Sozialkontrolle und traditionellen, aber überholten Mustern des Konsums. Gerade in eben diesen Eigenschaften sahen die Verfechter des Bedienungsprinzips dagegen eine Möglichkeit, um gegenüber den als vergängliche Mode empfundenen Pluralisierungstendenzen der Massenkonsumgesellschaft bestehen zu können. Immer wieder beschworen sie die drohenden Gefahren der Anonymisierung der sozialen Beziehungen und der Technisierung des Verkaufsvorgangs. Gegen Ende der 1950er Jahre verstummte der Streit zwischen Verfechtern der „modernen“ und Anhängern der „traditionellen“ Verkaufsmethode jedoch zunehmend angesichts des Durchbruchs der Massenkonsumgesellschaft in der Bundesrepublik. Nun sprach jeder von der Selbstbedienung als der zeitgemäßen Verkaufsform im Lebensmitteleinzelhandel schlechthin. Es folgte eine systematische und flächendeckende Verbreitung der Verkaufsform in der Zeit nach 1957. Gründe dafür gab es sowohl auf der Seite der Konsumenten als auch auf Seiten der Einzelhandelsunternehmen. Die Verbraucher verfügten über höhere Einkommen, ihre Nachfrage nach industriell gefertigten Lebensmitteln stieg und ihr Einkaufsverhalten wandelte sich aufgrund der Berufstätigkeit der Frau sowie der zunehmenden Motorisierung. Diese Faktoren führten zu einem neuen Bedarf an Lebensmittelgeschäften mit einem größeren Warensortiment sowie dem Wunsch nach einem flexiblen Verkaufsvorgang und der Möglichkeit, frei wählen zu können. Bei den Unternehmen förderte es die Selbstbedienung, dass sich Geschäfte in größeren Einzelhandelszusammenschlüssen verbanden. Nicht zu unterschätzen für die erfolgreiche Verbreitung der Selbstbedienung ab den späten 1950er Jahren waren die unternehmensübergreifenden Initiativen. Es bildete sich ein Netzwerk von verschiedenen Experteninstitutionen heraus, wie z. B. die RGH, das ISB oder die Forschungsstelle für den Handel. Bemerkenswert war hierbei die wettbewerbsübergreifende Zusammenarbeit von eigentlichen Konkurrenten im Einzelhandel. Gemeinsam förderten sie gezielt die neue Verkaufsform, indem sie – in enger Rückbindung an das differenzierter werdende Informationsbedürfnis der Praxis – Wissen sammelten und auswerteten. Die Professionalisierung bestimmter Aufgabenfelder ersetzte jetzt das praktische Ausprobieren der Pioniere. Die
390
Schlussbetrachtung
Werbung, die Verpackung, die Ladeneinrichtung, die technische Ausstattung und die Verbraucherpsychologie erfuhren eine Spezialisierung und gleichzeitige Standardisierung. Mit der festen Etablierung der Selbstbedienung im deutschen Einzelhandel ergaben sich an der Wende zu den 1960er Jahren neue Aufgaben für den Massenabsatz. Indem sie immer größere Läden eröffneten, versuchten die Unternehmer das Rationalisierungspotential weiter auszuschöpfen. Gleichzeitig sollte den finanzkräftigeren Massenkonsumenten auf diese Weise eine größere Warenfülle angeboten werden. Als deutsches Spezifikum entstand dabei der Großraumladen, den man zunächst dezidiert nicht als Supermarkt verstanden wissen wollte. Das Anwachsen der Geschäftsflächen warf jedoch verstärkt die Frage nach dem passenden Standort für neue Läden auf. Da verfügbare Flächen teuer und in den Innenstädten begrenzt waren, gewann die professionelle Standortanalyse an Gewicht für die Planung. Trotz der Anregungen, die die Fachleute in diesem Bereich aus den USA gewannen, war hier eine klare Abgrenzung gegenüber dem american way of life zu erkennen. Die Verödung der US-amerikanischen Innenstädte und die Verlagerung der Einkaufsstätten in die Vororte wurden immer wieder als warnendes Negativbeispiel der Entwicklung im Einzelhandel thematisiert. Einen wichtigen Anstoß für die Ausbreitung des Supermarktes in der Bundesrepublik gab die Eröffnung von Supermärkten durch den Kanadier Garfield Weston. Das Vorgehen der Deutschen Supermarkt GmbH löste eine breite Debatte in der Tagespresse und in der Fachöffentlichkeit aus. Faktisch bedrohte es jedoch weder die bundesdeutschen Einzelhändler flächendeckend in ihrer Existenz noch kann von einer Amerikanisierung der westdeutschen Supermärkte durch Westons Unternehmen ausgegangen werden. Die Deutsche Supermarkt GmbH bemühte sich vielmehr um Kooperationen mit lokalen Einzelhändlern und passte sich den deutschen Bedingungen an. Insofern reflektierte die kontroverse Auseinandersetzung um eine Überfremdung durch amerikanische Verkaufsmethoden in besonderem Maße die Wahrnehmungsmuster der westdeutschen Einzelhändler im Prozess der Umstrukturierung des Handels. Darüber hinaus war der Protest gegen die Deutsche Supermarkt GmbH v. a. auch eine Kritik am Verhalten der Bundesregierung. Während sie Weston vor 1961 frei gewähren ließ, mahnten der Bundeskanzler und das Bundeswirtschaftsministerium im Wahljahr 1961, Weston solle bei der Eröffnung seiner Supermärkte maßvoller vorgehen. Auf diese Weise setzten sie gegenüber den westdeutschen Einzelhändlern ein öffentlichkeitswirksames Zeichen, auch wenn keine der geforderten staatlichen Maßnahmen gegen Weston je praktisch umgesetzt wurde.
Schlussbetrachtung
391
Über das Fallbeispiel Garfield Westons hinaus ist die Einbettung des Handels in die Relation zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft auch an der Diskussion um die staatliche Regulierung großer Einzelhandelsunternehmen und großer Supermärkte in den 1960er Jahren deutlich geworden. Kleine und mittlere Einzelhändler forderten, die „Großbetriebe“ zu beschränken. Dies löste eine intensive Auseinandersetzung darüber aus, was die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik eigentlich ausmache. Sowohl auf Regierungsebene als auch auf der Ebene der Handelsverbände und der Interessenvertretungen der Verbraucher wurde exemplarisch diskutiert, wie „frei“ bzw. wie „sozial“ die Marktwirtschaft denn sein solle. In diesem Zusammenhang definierten die verschiedenen Akteure je nach Interessenlage „gute“ und „schlechte“ Formen des Wettbewerbs im Einzelhandel sehr unterschiedlich. Bis auf den zeitweiligen „Expansionsstopp“ der Großunternehmen sowie eine gesetzliche Regulierung der Standorte von großen Einzelhandelsgeschäften ergriff die Bundesregierung allerdings keine Schutzmaßnahmen zugunsten des mittelständischen Einzelhandels. Mit diesem Vorgehen knüpfte sie weitgehend an das staatliche Verhalten aus der Zeit vor 1945 an. Dafür bemühten sich die Einzelhandelsunternehmen tatsächlich verstärkt um eine Anpassung an die neuen Wettbewerbsbedingungen. Ihre wichtigste Strategie war eine straffere, stärker zentralisierte Unternehmenspolitik. Trotz der bedeutenden Umstrukturierung der Verkaufsformen bis Anfang der 1960er Jahre blieb das zentrale Problem des bundesdeutschen Einzelhandels: die hohen Preise. Erst die Eröffnung der ersten Discounter im Jahre 1961 stellte die überkommene Preispolitik des traditionellen Einzelhandels grundlegend in Frage. Die neuen Geschäfte konnten viel niedrigere Preise anbieten, weil sie drei Aspekte zum Kern der Unternehmenspolitik erhoben: Eine minimalistische Einrichtung, ein begrenztes Warensortiment und weniger Verkaufspersonal. In der Kritik an den neuen Wettbewerbern rückte der Verbraucher verstärkt ins Zentrum der Diskussion. Die zentrale Frage mit der sich die Einzelhändler konfrontiert sahen, lautete: Warum bevorzugt der bundesdeutsche Konsument die „Billigläden“, obwohl er das höchste Einkommen seit Kriegsende bezieht? Das als neuartig wahrgenommene Verbraucherverhalten machte deutlich, dass sich schlicht die Prioritäten zwischen den Ausgaben für Konsumgüter des lang- und kurzfristigen Bedarfs verschoben hatten. Außerdem war das Selbstbewusstsein der Konsumenten gestiegen. Trotz der Neigung zum günstigen Einkauf wollten viele aber nicht auf Qualität verzichten. Deshalb kombinierten die Verbrau-
392
Schlussbetrachtung
chermärkte ab Mitte der 1960er Jahre die günstigen Preise der Discounter mit der Warenfülle und Qualität der Supermärkte. Am Anfang stand die Selbstbedienung. Auf Basis dieser Schlüsselinnovation folgte eine differenzierte Entwicklung verschiedener Geschäftstypen. Mithilfe dieser Formel lässt sich der Innovationsprozess im Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre prägnant charakterisieren. Der Prozess zeichnete sich durch eine zunehmende Hybridisierung und Pluralisierung der Einzelhandelslandschaft aus. Deshalb sollte die Innovationsfolge nicht als Abfolge einander ablösender Entwicklungsstufen eines immer besseren, schnelleren und preiswerteren Verkaufens verstanden werden, sondern als Weg in eine hochdifferenzierte Vertriebslandschaft. Statt nur eine allein konnte es alle zugleich geben: Jede neue Verkaufsform erlangte ihre eigene Berechtigung im Massenabsatzsystem und setzte eigene Akzente, um die Konsumenten anzusprechen. Sie unterschieden sich in der jeweiligen Betonung des Preises bzw. der Qualität der Waren, im Umfang des Sortimentes, im Ambiente und in bestimmten Zusatzleistungen für den Kunden. Damit brachten die neuen Geschäftstypen immer wieder neue Dimensionen in den Wettbewerb ein. Gemeinsam war allen Formen eins: die rationelle Organisation des Verkaufsvorgangs in Selbstbedienung. Der Wandel des Lebensmittelgeschäftes Die Einführung der Selbstbedienung brachte für das Lebensmittelgeschäft eine Vielzahl von eng verbundenen materiellen und personellen Veränderungen mit sich. Die Relation Verkäufer-Ware-Käufer war durch bedeutende, ineinander verschachtelte Verschiebungen gekennzeichnet. Die Umgestaltung des Verkaufsvorgangs hatte entscheidende Auswirkungen sowohl auf das soziale Beziehungsgefüge zwischen Verkäufer und Käufer als auch auf deren Rollen und Rollenverständnis. Die Kaufentscheidung war nicht mehr unmittelbar von der individuellen Verhandlung mit dem Verkäufer abhängig. Dies verstand der Konsument jedoch weitgehend als positiv empfundene Freiheit, in der direkten Interaktion mit der Warenfülle eine intime und selbstbestimmte Wahl treffen zu können. Damit verkörperte der tägliche Einkauf im Lebensmittelgeschäft die Partizipation der Konsumenten an der bundesdeutschen Massenkonsumgesellschaft. Er stellte einen wichtigen Teil des Lernprozesses dar, in dessen Verlauf die Bundesdeutschen die Pluralisierung ihrer Lebensgewohnheiten und Konsumbedürfnisse praktizierten. Allerdings hat die Untersuchung verschiedener Parameter, die besonders in den 1950er Jahren für oder gegen den Einkauf im Selbstbedienungsladen sprachen, gezeigt, dass die Aneignung dieser Kompetenzen innerhalb
Schlussbetrachtung
393
der Konsumgesellschaft kein einheitlicher Prozess war. Vielmehr hing die konkrete Nutzung der neuen Läden von einer Reihe individuell, sozial und regional bestimmter Kriterien (Wohnort, finanzielle Lage, Alter, Familienstand etc.) ab. Im Gegensatz zu den Konsumenten schätzten viele Einzelhändler die Veränderung im sozialen Interaktionsgefüge zunächst nicht so positiv ein. Zwar sollte ihnen eigentlich mit Hilfe der Selbstbedienung die Arbeit erleichtert und Kosten eingespart werden, aber die Umstrukturierung der Arbeitsabläufe und die Auslagerung bestimmter Tätigkeiten aus dem Geschäft bedeutete für die Unternehmer und für die Angestellten in erster Linie ein kritisches Hinterfragen ihrer alltäglichen Arbeitsroutinen. Damit wurde auch ihre traditionelle Rolle als unmittelbar persönlich kontrollierende und regulierende Instanz während des Verkaufsvorgangs in Frage gestellt. Nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für das Führungspersonal entfaltete in diesem Zusammenhang die zunehmende Durchsetzung marktwirtschaftlicher Strukturen im Einzelhandelssektor der Nachkriegszeit zugleich ihre Wirkung.5 Das Beschäftigungsverhältnis der Angestellten zeichnete sich durch eine stärker funktionale Differenzierung der Aufgabenbereiche aus. Dies empfanden die Verkäufer im Übergang von der Bedienung zur Selbstbedienung als De-Qualifizierung. Die zunehmende Flexibilität und neue Arbeitsmodelle wie die Teilzeitarbeit wurden grundsätzlich als positiv eingeschätzt. Trotzdem schränkten sie zugleich die Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten von weiblichen Angestellten stark ein. Zunehmend überformten unternehmerische Elemente, bei denen die wissenschaftliche Planung und das langfristige Management an Relevanz zunahmen, das Selbstverständnis des Einzelhandelskaufmanns. Sie galten nun als Schlüssel zum Erfolg im differenzierten Wettbewerb um Preis und Qualität der Waren, Standort und Serviceleistungen sowie um die Ladengestaltung und die Vielfalt der Sortimente. Zugleich wirkte sich die konkrete Umstrukturierung der Aufgabenfelder der Einzelhandelsunternehmer und -angestellten weitreichend auf andere wirtschaftliche Bereiche aus. Die Externalisierung bestimmter Aufgaben bedingte die Etablierung spezialisierter Experten im Bereich der Produktwerbung und Warenverpackung, der Konsum- und Marktforschung sowie der Ladengestaltung und der technischen Ausstattung. Neben der zunehmenden Segmentierung und Fragmentierung des absatzrelevanten Wissens führte die Vermitteltheit des Verkaufsvorgangs zu einer fundamentalen Umgestaltung der Kommunikation im Einzelhandels 5
Lutz 1992, S. 49.
394
Schlussbetrachtung
geschäft: Früher kommunizierten Käufer und Verkäufer verbal, jetzt kommunizierten Käufer und Ware direkt und visuell. Dadurch veränderten sich die Bedeutung der materiellen Einrichtung der Selbstbedienungsläden und Supermärkte sowie die ästhetische Gestaltung der Produkte. Die Ware selbst wurde nicht nur zum Träger von Informationen, sondern vermittelte auch kodierte Bedeutungen und ästhetische Vorstellungen. Das „Gebrauchswertversprechen“ entwickelte sich zu einem eigenen Verkaufsfaktor, der spezifische Vermarktungsstrategien benötigte. Ebenso gewann die räumliche Gestaltung der Lebensmittelgeschäfte ein zunehmend psychologisiertes und technisiertes Eigenleben. An der Veränderung der materiellen Infrastruktur des Einzelhandels zeigte sich zum einen, dass rationelles Effizienzdenken und die Schaffung einer sinnlich stimulierenden Atmosphäre eng miteinander verknüpft waren. Zum anderen hat der Strukturwandel deutlich gemacht, dass der Einzelhandel stark von den Konsumenten als aktiv handelnde Individuen abhängt. Ein Supermarkt ohne Kunden ist kein Supermarkt. Der Innovationsprozess im Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre ist somit nur unter Berücksichtigung der engen Verschränkung aller Glieder des Massenkonsumkreislaufs zu verstehen. Das komplexe Zusammenspiel von Massenproduktion, Massendistribution und Massenkonsum äußerte sich in den Selbstbedienungsgeschäften und Supermärkten in der Verzahnung scheinbar gegensätzlicher Komponenten wie Emotionalität und Rationalität, Standardisierung und Individualisierung, Anonymität und Persönlichkeit. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Noch immer spielen die Einzelhändler auf der Klaviatur dieser Gegensätze, um das Einkaufsverhalten der Konsumenten zu stimulieren. Im Vergleich zu der Zeit, als die Selbstbedienung nach Deutschland kam, ist nur der Grad der Perfektion gestiegen. Dies führt bisweilen zu geradezu grotesken Auswüchsen: Im Supermarkt anno 2013 haben die Käufer ihre Einkaufsautonomie so verinnerlicht, dass sie sich höchst verunsichert fühlen, wenn ein Verkäufer sie direkt anspricht und sich nach ihren persönlichen Wünschen erkundigt. Insofern verwundert es nicht, dass die Unternehmen bereits am vollautomatisierten Einkaufserlebnis arbeiten, wie das Beispiel des real-, Future Stores eingangs gezeigt hat. In einer zunehmend individualisierten und pluralisierten, technisierten und psychologisierten Konsum- und Handelslandschaft ist es heute eine Selbstverständlichkeit, uns selbst zu bedienen. Vor gerade einmal 60 Jahren kam die Selbstbedienung in die Bundesrepublik Deutschland. Doch es fühlt sich an, als wäre sie schon immer da gewesen.
Abkürzungsverzeichnis
ALF AIDA ANUGA BAG BBE DIHT ECA EPA EPF ERP EWG FfH FIGED FOA GDFAH GEG GfK HDE HDLEH IBEC ICA IGB IHK Ikofa ISB ISSO IVKMH Lefa MMM MSA NCR
Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittel-Filialbetriebe Internationaler Kongress für Lebensmittelverteilung Allgemeine Nahrungs- und Genussmittel-Ausstellung Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe Betriebswirtschaftliche Beratungsstelle des Einzelhandels Deutscher Industrie- und Handelstag Economic Cooperation Administration European Productivity Agency European Packaging Federation European Recovery Program Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Forschungsstelle für den Handel Berlin Internationale Vereinigung der größeren Betriebe des Einzelhandels Foreign Operations Administration Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumgenossenschaften Gesellschaft für Konsumforschung Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels Hauptgemeinschaft des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels International Basic Economic Corporation International Cooperation Administration Internationaler Genossenschaftsbund Industrie- und Handelskammer Internationale Lebensmittel- und Feinkost-Ausstellung Institut für Selbstbedienung International Self-Service Organization Internationale Vereinigung der Klein- und Mittelbetriebe Lebensmittelfachausstellung Modern Merchandising Methods Mutual Security Agency National Cash Register
396
NGB NIRA NAFC NRW NSE OEEC OECD PG RGH RGV RKW SB SMI SMM USTA&P ZdK
Abkürzungsverzeichnis
National Grocers’ Bulletin (Zeitschrift) National Industrial Recovery Act National Association of Food Chains Nordrhein-Westfalen National Sales Executives Inc. Organization for European Economic Cooperation Organisation for Economic Co-operation and Development Progressive Grocer (Zeitschrift) Rationalisierungs-Gemeinschaft des Handels Rationalisierungs-Gemeinschaft Verpackung Rationalisierungs-Kuratorium der deutschen Wirtschaft Selbstbedienung Super Market Institute Super Market Merchandising (Zeitschrift) United States Technical Assistance and Productivity Program Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften
Anhang
Tabelle 1: Entwicklung der Supermärkte in den USA 1935 bis 19581 Jahr
Zahl der Supermärkte
Anteil am Verkauf von Lebensmitteln in %
1935
300
1,7
1940
6.175
18,3
1945
9.575
22,7
1950
14.217
31,3
1955
15.153
42,7
1958
20.413
56,9
Tabelle 2: Entwicklung der Selbstbedienung in Europa 1948 bis 19572 Land
1948
1949
1950
1951
1952
1953
1954
1955
1956
1957
Belgien
2
10
20
30
40
60
81
102
138
148
Bundesrepublik
1
39
81
121
203
326
738
1379
3183
Dänemark
2
26
55
81
136
198
349
426
623
England
130
400
600
875
1240
1820
2000
2500
3000
3750
Finnland
1
4
8
11
21
30
41
45
57
63
229
380
427
603
663
Frankreich Holland
1
Italien Norwegen
2
2
9
23
70
134
221
334
524
650
1
1
0
1
1
1
1
2
4
15
54
106
194
373
615
700
900
1288
6
10
13
13
15
35
40
60
Österreich Schweden
22
120
217
585
1048
1372
1881
2425
3005
3515
Schweiz
5
25
93
146
232
350
487
600
900
1119
1 2
Charvat, Frank J.: Supermarketing, New York 1961, S. 3. Selbstbedienung, 5/1957/58, S. 12.
398
Anhang
Tabelle 3: Die ersten 20 westdeutschen Lebensmittelgeschäfte mit Selbstbedienung3 Firma Konsumgenossenschaft
Ort
Eröffnungsdatum
Betriebsform
Hamburg
30.8.1949
Konsumgenossenschaft
B. Gümpel
Mannheim
29.1.1950
Selbständiger Einzelhändler
Schreiber & Co.
Oggersheim
31.1.1950
Filialbetrieb
Frowein & Nolden
Düsseldorf
3.2.1950
Filialbetrieb
Gustav Reuße
Dortmund
28.2.1950
Filialbetrieb
Konsumgenossenschaft Bayreuth
Bayreuth
30.4.1950
Konsumgenossenschaft
Adolph Schürmann
Remscheid
5.5.1950
Filialbetrieb
Albert Geyer
Köln-Ehrenfeld
26.5.1950
Filialbetrieb
„Selbsthilfe Belegschaft“ F.A.S.
Weil am Rhein
Juni 1950
Konsumgenossenschaft
Gustav Lidchi AG
Heilbronn
29.6.1950
Filialbetrieb
Versorgungsbetriebe Salzgitter GmbH
Braunschweig
25.8.1950
Filialbetrieb
Ottmann-Thomas
Kaiserslautern
30.9.1950
Filialbetrieb
Konsumgenossenschaft Wetzlar
Wetzlar
8.10.1950
Konsumgenossenschaft
Konsumgenossenschaft München
München
13.10.1950
Konsumgenossenschaft
M. Steffen
Bochum
21.11.1950
Selbständiger Einzelhändler
Adolf Spinner KG
Offenburg
24.11.1950
Filialbetrieb
Konsumgenossenschaft Stuttgart
StuttgartWeilimdorf
25.11.1950
Konsumgenossenschaft
Karl Gaissmaier KG
Ulm
28.11.1950
Filialbetrieb
Konsumgenossenschaft Kaufbeuren
Mindelheim
11.12.1950
Konsumgenossenschaft
Konsumgenossenschaft Essen
Essen
16.12.1950
Konsumgenossenschaft
„Produktion“
3
Institut für Selbstbedienung: 50 Jahre Selbstbedienung, Köln 1988, S. 12.
Anhang
399
Tabelle 4: Anteil der Betriebsformen des Lebensmitteleinzelhandels an Selbstbedienungsläden 1950-1957 in Prozent4 selbstständige
Jahr
Filialbetriebe und Warenhäuser
Konsumgenossenschaften
1950
41
49
10
1951
40
52
8
1952
49
45
6
1953
65
31
4
1954
67
22
11
1955
58
16
26
1956
51
12
37
1957
53
11
36
Einzelhändler
Tabelle 5: Einrichtungskosten pro Quadratmeter Verkaufsfläche (Durchschnitt von 43 SB-Läden)5 Kostengruppen
DM pro m2
%
Kosten für Wandregale, Gondeln, Schlagertische, Kassenstände, Feinkosttheke, Obst- und Gemüsestand
140
29
Aufrechnungskassen
67
14
Kühleinrichtung
80
16
Zubehör
39
8
Fußboden
20
4
Beleuchtung
23
5
Sonstige bauliche Kosten
115
24
Gesamte Einrichtungskosten
484
100
Tabelle 6: Zahl der Lebensmittelgeschäfte mit Selbstbedienung 1950-19606
4 5 6
Selbstbedienung, 1/1957/58, S. 12. Selbstbedienung, 3/1957/58, S. 22. Ditt, Karl: Rationalisierung im Einzelhandel. Die Einführung und Entwicklung der
400
Anhang
Jahr
Zahl
1950
20
1951
39
1952
81
1953
121
1954
203
1955
326
1956
738
1957
1.379
1958
3.179
1959
9.676
1960
17.132
Tabelle 7: Wichtige freiwillige Ketten in der Bundesrepublik (deutschlandweit agierend)7 Name
Hauptsitz
Gründungsjahr BRD
Internationale Dachorganisation
Afu Freiwillige Handelskette GmbH
Mannheim
1958
EO (Organisation Européenne)
A&O
Offenburg
1954
A & O International (Bern)
Centra-LebensmittelGmbH
Köln
1955
Coöperatieve Vereniging CENTRA International (Utrecht, NL)
Fachring
Wiesbaden
1957
IFA (International Food Association) (Paris)
Deutsche Spar Zentrale
7
1952
Internationale SPAR Centrale N.V. (Amster-
Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland 1949-2000, in: Prinz, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluß: Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 315-356, hier S. 325. Disch, Wolfgang: Der Groß- und Einzelhandel in der Bundesrepublik, Köln 1966, S. 131, 133; Priess, Friedrich; Graff, Dieter: Freiwillige Ketten – heute, in: Die RGH teilt mit, 5/1962, S. 3-8.
Anhang
401 dam, NL)
Deutsche T.I.P. Handelsorganisation
1955
T.I.P.International (Amsterdam, NL)
Tabelle 8: Zahl der Supermärkte in der Bundesrepublik Deutschland 1961-728 1961
250
1962
350
1963
500
1964
719
1965
1000
1966
1300
1967
1500
1968
1700
1969
1852
1970
1820
1971
2009
1972
2261
8 Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 1.4.1972 (ab 1970 ohne LebensmittelAbteilungen der Waren- und Versandhäuser).
402
Anhang
Tabelle 9: Übersicht über die Studienreisen im Einzelhandel 1949-19731 Zeitraum
Startpunkt
Ziel
Projekt/ Veranstalter
Teilnehmer
Studienzweck
1949 16.-21.5.
BRD
Schweden
ZdK
Fritz Klein u. a.
USA
BRD
National Associa- John A. Logan tion of Food Chains (National Associa(in Absprache mit tion of Food Chains) dem US-
Besichtigung von Geschäften mit Selbstbedienung der Konsumgenossenschaft Stockholm und eines Warenhauses
1950 (Frankfurt, Berlin)
amerikanischen State Department)
auf AIDA 1950 in Paris Einladung von US-amerikanischen Einzelhändlern in die BRD Diskussion über amerikanische Distributionsmethoden
1951 27.5.-26.7. BRD
14.-23.5.
BRD
USA
Schweiz
TA-Projekt 09-108: 10 Teilnehmer „Distribution Study“ v. a. westdeutsche Filialunternehmer (z. B. Günther Arbeitsgemeinschaft der Lebens- Latscha, Herbert mittel-Filialbetriebe Eklöh) unter Beteiligung der National Association of Food Chains Food
Besuch US-amerikanischer Lebensmittelfilialbetriebe
Genossenschaftliche Gemeinschaftswoche DeutschlandÖsterreich-Schweiz
Besichtigung von Selbstbedienungsläden
10 Vertreter der westdeutschen Konsumgenossenschaften 11 Schweizer
Besichtigung von Lebensmittelgeschäften, Supermärkten
verschiedene Diskussionsrunden um den Verkauf in Selbstbedienung
10 Österreicher
1
Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versucht einen repräsentativen Eindruck über die Reisetätigkeiten der 1950er und 1960er Jahre im Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten des Verkaufs im Einzelhandel zu geben. Wenn in den entsprechenden Quellen keine Angaben zu den hier angelegten Kriterien gefunden werden konnten, sind diese mit „keine Angabe“ gekennzeichnet.
Anhang
403
29.9.-7.10. BRD
England
Einladung der britischen Retail Distributor’s Association Incorporated
Vertreter der Ar- Besichtigung von Großbetrieben beitsgemeinschaft des Einzelhandels der Mittel- und Großbetriebe Hessen, NRW, Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg
USA
Europa
US-amerikanischer keine Angabe Verband National Sales Executives
Vorträge über moderne Verkaufsmethoden
BRD
Finnland
Edeka Zentrale
Vertreter der Einkaufsgenossenschaft
Beobachtung der Wettbewerbsverhältnisse
George R. Lindhal Rationalisierung im Einzelhandel
1952 Schweiz Juli
USA
BRD
keine Angabe
12.9.28.11.
BRD
USA
Projekt FOA Nr. 09- 8 Vertreter der Konsumgenossenschaften in den 178 KonsumUSA genossenschaften
6.8.-16.10. BRD
USA
TA-Projekt 09-163 8 Personen
Absatz von Obst und Gemüse in den USA
BRD
MSA
Vorträge zu modernen Verkaufsmethoden
1953 USA
George Lindahl mit 5 Experten aus dem Einzelhandel, Verpackungs- und Werbewesen unter Beteiligung der IHKn in verschiedenen Orten jeweils Kurse für 50-150 Einzelhändler, Fachverkäufer
ab 27.4.
USA
Europa
National Sales (alle OEEC- Executives Länder), BRD
4 USamerikanische Experten
Themen: Verkauf von Lebensmitteln, Fleisch, Obst und Gemüse Vorverpackung und Verpackungstechnik Besuch und Beratung von verschiedenen deutschen Einzelhandelsgeschäften
Vorträge zu modernen Verkaufsmethoden im Einzelhandel
404
23.3.-7.5.
Anhang
BRD
USA
TA-Projekt 09-183 10 deutsche Teilnehmer „Marketing – Wholesale and Retail Trade”
Vertreter aller Betriebsformen
verschiedene Themen des Absatzwesens im USamerikanischen Groß- und Einzelhandel
je 1 Vertreter vom Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen 1 Vertreter der deutschen Genossenschaftskasse BRD
USA
Edeka-Zentrale
keine Angabe
Mittelstand
USA
Europa, darunter BRD
EPA-Projekt 139:
keine Angabe
BRD: Fortsetzung der Betriebsführergespräche von 1951/52
„Marketing and Distribution”
Verkaufsmethoden und -leitung Marktforschung Werbung
21.-28.6.
USA
BRD
21.-31.8.
BRD
Schweden
Thorsten Odhe (Ökonom)
Konsumgenossen- Fritz Klein (Hamschaften burg)
Vortrag in der Schule der Konsumgenossenschaften in SassenheimHamburg und Besuch des Kongresses des ZdK in Frankfurt a. M. u. a. Tagung des Rationalisierungsausschusses des IGB
Josef Biesinger, Arthur Fritsch, Otto Keppke (Essen) 2.-7.3.
BRD
Schweden
Konsumgenossen- Fritz Klein, schaften Bernhard Gurk
9.-15.11
BRD
England
Konsumgenossen- Bernhard Gurk Sitzung des IGB Ausschusses schaften (Hamburg), Josef Rationalisierung der WarenBiesinger (Essen) verteilung
bis 1954
USA
Europa, darunter BRD
EPA-Projekt 142:
Europa
EPA-Projekt 169 1 US„Marketing and amerikanischer Distribution Survey” Experte
„Retail food team”
Sitzung des IGB Ausschusses Rationalisierung der Warenverteilung
Leitung: August Seminare und individuelle BeraSwentor (27 Jahre tung von 25.000 Einzelhändlern in Erfahrung in lei64 Städten in 10 Ländern tender Position im Einzelhandel, u. a. bei A&P)
1954 USA
Untersuchung der Einstellung der Einzelhändler und Abgleich mit der Meinung der Konsumenten
Anhang
405
ab Oktober USA 6 Wochen
USA
17.2.-10.4 BRD
Europa, darunter BRD
EPA-Projekt 260
keine Angabe
Probleme des Transfers von Waren und Serviceleistungen vom Produzenten zum Konsumenten und dabei Rolle der Marktforschung
Europa, darunter BRD
EPA-Projekt 261
1 USamerikanischer Experte
Zusammenhang zwischen Marktforschung und Steigerung der Produktivität
USA
TA-Projekt 09-237 10 Experten aus „Food Distribution diversen Bereichen Study”
„Market Research“
„Market Research in Europe“
keine Angabe
Vertreter verschiedener Betriebsformen Mett (Einzelhandels-Schule Neuwied) Recke & Gottberg (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten) 17.2.-10.4. BRD
USA
TA-Projekt 09-246 2 Einzelhändler, „Food Distribution 1 Großhändler
keine Angabe
Study – West Berlin” 8.10-1.12
BRD
USA
TA-Projekt 09-278: 10 Vertreter aus diversen Berei„Trade Journals“ chen der Unterstützung vom wirtschaftlichen RKW, BundeswirtFachpresse schaftsministerium, ICA
Besuch von Verlagen von Fachzeitschriften v. a. aus dem Bereich des Vertriebs
USA
Europa, EPA-Projekt 326 darunter „Food retailing BRD consultant” (3 Monate) (= follow up EPAProjekt 142)
Leitung: August Swentor (27 Jahre Erfahrung in leitenden Position im Einzelhandel, u. a. bei A&P)
Verbesserung der Produktivität des Einzelhandels
Schweden/ Edeka Zentrale, BRD schwedische Einkaufsgenossenschaften
keine Angabe
keine Angabe
1955
BRD/ Schweden
moderne Verkaufsmethoden Verkauf von Frischwaren
406
Anhang
11.5.-17.6. BRD
USA
HDE, Unterstützung von Außenhandelsabteilung des USamerikanischen Handelsministeriums und FOA
13 Vertreter der HDE, darunter Franz Effer (Vorstand)
Vergleich der Marktstruktur und Organisation des USamerikanischen und bundesdeutschen Einzelhandels
2 Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft und des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
1956 Juni
30.1010.12.
USA
Europa
Europa, darunter BRD
USA
American 70 USWholesale Grocer’s amerikanische Association Großhändler und ihre Ehefrauen
Besuch von verschiedenen Einrichtungen der Lebensmittel-Industrie und des Handels
EPA-Projekt 377
Besuch von USEinzelhandelsverbänden
„Retail Trade Study”
Programm durch verschiedene USamerikanische Verbände in verschiedenen Städten gestaltet
Treffen mit ehemaligen europäischen Teilnehmern von TAProjekten
Informationen zu deren Aktivitäten: Forschungsmethoden, statistischer und technischer Service, Ausbildungsprogramm
insgesamt 25-35 Europäer 13 Vertreter von Handelsverbänden, 6 Vertreter der Konsumgenossenschaften Herbst, 10 Tage
BRD
Schweden
Einladung des ZdK durch schwedische Konsumgenossenschaften
Vertreter westdeutscher Konsumgenossenschaften
Aufbau und Arbeitsweise von Selbstbedienungsgeschäften
Anhang
407
24.9.-3.11 BRD
USA
EPA 09/365/I „Produktivitätssteigerung im Berliner Handel, Gruppe I: Einzelhandel“ (Berliner Team), unter Mitarbeit von
12 Personen
Besuch von Einzelhandelsgeschäften, Verbänden, staatlichen BeVertreter des Einzelhandels, der hörden, Harvard University IHKn, der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
ICA, Council for International Progress in Management (CIPM), RKW 1957 21.-25.1.
BRD
Schweiz
Konsumgenossen- Fritz Klein, Bruno schaften Lindau, Meno Palecek
Lagerrationalisierung
Februar/
Europa
USA
EPA 367/1
keine Angabe
30.5.-22.6. BRD
USA
Deutsche Studien- keine Angabe reisen Gesellschaft
Studium der Verkaufsmethoden von Kaufhäusern und anderen Einzelhandelsgeschäften
1.-23.6.57 BRD
USA
Deutsche Studien- keine Angabe reisen Gesellschaft
Studium moderner Verkaufsmethoden
26.10.-
BRD
USA
EPA Nr. 376/2
keine Angabe
BRD
Dänemark, RKW-Projekt 20 Norwegen, Schweden
9.-29.5.
BRD
USA
Deutsche Studien- keine Angabe reisen Gesellschaft
Besuch der „National Packing Exposition“ in New York
8.-12.6.
BRD
Paris, Brüssel
Kölner Einzelhandelsverband
keine Angabe
Besichtigung diverser Geschäfte und der Weltausstellung in Brüssel
BRD
Schweden
ISB
Vertreter der Ar- keine Angabe beitskreise „Verpackungsfragen in S-Läden“ „Selbstbedienung in NichtLebensmitteln“
Betriebsberater
März
21-12. 1.-11.12
Betriebsberateranwärter
10 westdeutsche keine Angabe Betriebsberater und Betriebsberateranwärter
1958
1959 1.-4.6.
408
11.5.-9.6.
Anhang
BRD
USA
ArbeitsgemeinHeinz Wedel schaft der Fachver- (Geschäftsführer) bände des süddeutschen Lebensmitteleinzelhandels
Besuch von Einkaufszentren, Supermärkten Besuch von Seminaren über amerikanische Verkaufsmethoden bei MMM in Dayton Besuch der NARGUS-Zentrale
30.11.8.12.
BRD
England
britische Regierung Außenhandelsver- Funktionsweise des britischen und Federation of band des deutEinzelhandels British Industries schen Einzelhan- Kontakte zu Handelsverbänden dels und Herstellern, die Eindruck über 10 Teilnehmer von Bedingungen in BRD erhalten sollten Warenhäusern und Einkaufsorganisationen
BRD
USA
RKW 34 „Nah15 Teilnehmer aus keine Angabe rungsmittel – Groß- dem Saarland und Einzelhandel RKW 62 „Absatzund Vertriebsfunktionen im Handel“ Unter Mitarbeit von CIPM, BWM, RKW, Saarländische Gemeinschaft zur Förderung der Produktivität e. V.
1960 BRD
USA
RKW
8 Personen
Studium des „Small business“
Vertreter der IHKn, des DIHT; RKW, Bundeswirtschaftsministerium 1961
18.-23.9.
BRD
Schweden
UNESCOStudienreise
Vertreter der Kon- Lagereinrichtung sumgenossenschaften
BRD
Niederlande Konsumgenossen- keine Angabe schaften
Besichtigung von Supermärkten Gedankenaustausch und Fachgespräche
Anhang
409
1962 4.-25.5.
BRD
USA
ISB
keine Angabe
MMM-Seminar Besichtigung von Einkaufszentren, Supermärkten, Discountern
9.-25.4.
BRD
Frühjahr, BRD 6 Wochen
USA
USA
Wirtschaftsdienst Studienreisen mit Unterstützung der RG-Verpackung
keine Angabe
keine Angabe
Erwin Thomas (DIHT)
Verpackungs- und TransportRationalisierung Besichtigung der 31. Verpackungsausstellung in New York Studium der Bau- und Versorgungsplanung in neuen Wohngebieten
2 Vertreter der Ausbreitung und Bedeutung der HDE, je ein 1 Vertreter der BAG, Shopping Center des Bundesministerium für Wirtschaft, Finanzen, Wohnen BRD
Schweden
Rewe
3 Betriebsberater
Studium der Selbstbedienung
BRD
USA
FDE und Wirtschaftsdienst Studienreisen in der Hapag-LloydReisebüroOrganisation
keine Angabe
Besichtigung von Industrie- und Handelsbetrieben
1963 13.-29.3
moderne Verkaufsmethoden
Frühjahr
BRD
Schweden, Edeka-Zentrale Dänemark
Edeka Kaufleute, große Einkaufszentren Geschäftsführer und Mitarbeiter der Edeka Zentralorganisationen
19.-23.5.
BRD
Schweiz
Spar
100 SparKaufleute
9.-15.6.
BRD
Schweden
Spar
18 Spar-Kaufleute Besichtigung von Einkaufszentren, Kaufhäusern
(2x)
BRD
USA
Rewe-Zentrale
40 Geschäftsführer Erfahrungen in verschiedenen und Mitarbeiter Fachgebieten
22.-24.9.
BRD
Niederlande DIHT in Zusammenarbeit mit DeutschNiederländischer Handelskammer
30 Handelsreferenten
Besichtigung von Verkaufsstätten des Groß- und Einzelhandels, Produktionsstätten, Kaufhäusern
Besuch des Mittelstandsinstituts Besichtigung von verschiedenen Einkaufszentren
410
Anhang
22.9-1.10. BRD
Schweden, UNESCODänemark Studienreise
5 Mitarbeiter aus Abteilung Vertrieb und den Außenstellen der Konsumgenossenschaften
1964 April
7.-17.6.
BRD
USA
Der Einzelhandels- keine Angabe berater
Studium neuer Entwicklungstendenzen im Einzelhandel der USA
2. Fachstudienreise
Besuch des Seminars MMM in Dayton
BRD
USA
ISB
keine Angabe
BRD
USA
Rewe
17 führende Mit- keine Angabe glieder der RZO und aus der Geschäftsführung
USA
West- und keine Angabe Osteuropa, darunter BRD
35 Manager von Besuch bei der westdeutschen Großbetrieben der Spar Lebensmittelwirtschaft, freiwilligen Ketten; wissenschaftliche Experten
BRD
Schweiz
Spar
100 Teilnehmer
Besichtigung verschiedener Geschäfte und Fachgespräche
BRD
Schweden
Spar
18 Teilnehmer
Besichtigung verschiedener Geschäfte und Fachgespräche
BRD
Schweden
Rewe
17 Teilnehmer
u. a. Möglichkeiten geschäftlicher Zusammenarbeit besprochen
BRD
USA
Verband deutscher keine Angabe Discounthäuser
Studium der Discounthäuser und ihrer Verkaufsmethoden
geplant
3x
Besichtigung Muster-Supermarkt (Weltausstellung New York)
Fachseminare, Diskussionen Besuch von Discountern 1965 März
Norwegen
BRD
norwegische Handelskammer
30 norwegische Besuch der Spar-Zentrale Einzelhändler und Hamburg Nord Industrielle Interesse an Entwicklung der Selbstbedienung im Hamburger Raum
Anhang
25.-30.5.
411
BRD
Schweden
Spanien BRD
Deutsch41 Vertreter der Besichtigung moderner BetriebsSchwedische Han- IHKn und 3 Vertre- formen, v. a. Einkaufszentren und delskammer Discounter ter des DIHT Stockholm Spar-Zentrale Barcelona
45 SparEinzelhändler
Besichtigung von Supermärkten und des Main-Taunus-Zentrums (Einkaufszentrum) Diskussion über Rationalisierungsund Absatzmethoden
12.-19.9.
BRD
Dänemark, ISB
keine Angabe
Schweden 10
BRD
USA
Der Einzelhandels- keine Angabe berater
Besichtigung von Supermärkten, Shopping-Center, SBFachgeschäften, Warenhäusern Studium neuer Verkaufs- und Betriebsführungsmethoden Besuch MMM
1966 (2x)
BRD
USA
Edeka-Zentrale
Schweden
Bundesministerium keine Angabe für Wirtschaft auf Vorschlag des DIHT
Studium und Besichtigung der Gemeinschaftswarenhäuser
Schweiz,
UNESCO-Reise
26 Vertreter der Konsumgenossenschaften
keine Angabe
England BRD
Spar
keine Angabe
Besuch von 2 Supermärkten der Handelsvereinigung HamburgSüd, v. a. hinsichtlich der Werbung und Warendarbietung
BRD
Spar: wirtschafts- 30 Sparkundliche Studien- Jungkaufleute fahrt
16.-23.10. BRD
BRD
Frankreich
Schweiz
63 Geschäftsführer Studium von Managementder GenossenMethoden und der Betriebsorganischaften und sation Edeka-Kaufleute
Besuch der MIGROS Zürich Besuch von diversen Einzelhandelsgeschäften Informationen über Förderung der Forschung durch das Duttweiler Institut und das Institut für Ernährungsforschung
BRD
Schweiz
SPAR
25 Teilnehmer
keine Angabe
412
10.5.-6.8.
Anhang
BRD u. a.
USA
Experiment Nachwuchskräfte International Living aus dem Handel
Leben in Familien Kurs an der School of Business Administration an der Universität Massachusetts Betriebsbesichtigungen und Aussprache mit Fachleuten
1967 BRD
Japan
Edeka-Zentrale unter Beteiligung des japanischen Wirtschaftsministeriums
keine Angabe
29.4.-14.5. BRD
Kanada, USA
Spar International, u. a. 120 SparUnion VeGe Kaufleute Europeenne, A&0 International
Studium der aktuellen Fortschritte in der Lebensmittelverteilung
BRD
Kanada, USA
Tengelmann
keine Angabe
BRD
USA
Verband deutscher keine Angabe Discounthäuser
Studium moderner Arbeits- und Verkaufsmethoden in Verbrauchermärkten
19.4.-10.5. BRD
Thailand, Japan
Club zur Pflege des keine Angabe Erfahrungsaustausches über moderne Marktmethoden (MMM-Club)
Besichtigung diverser Supermärkte, Kaufhäuser
30.4.-16.5. BRD
USA
Verband deutscher keine Angabe Discounthäuser
Studium moderner Verkaufsmethoden
keine Angabe
Rationalisierung im Verteilungswesen
1968 21.3.-5.4.
Teilnahme am MMM-Seminar in Dayton Besuch verschiedener Einkaufszentren 26.5.-1.6.
BRD
Schweden
Verband deutscher keine Angabe Discounthäuser
Besichtigung von Einkaufszentren und Verbrauchermärkten
15.-17.5.
BRD
Schweiz
DIHT
Besichtigung von verschiedenen Betrieben des Genossenschaftshandels, neuer Warenhaustyp des Globus-Konzern und Einkaufszentren
50 Handelsreferenten
Anhang
413
31.3.-3.4.
BRD
Schweiz
Spar
24.6.-9.7.
USA
BRD
Wirtschaftsdienst Studienreisen in der Hapag-Lloyd ReisebüroOrganisation
SparJungkaufleute
keine Angabe aktuelle Tendenzen im USamerikanischen Einzelhandel Seminare, Betriebsbesichtigungen und Diskussionen mit Fachleuten
1969 7.-10.2.69 BRD
Schweden
IHK DuisburgWesel
19 Handelsrefe- Besichtigung von Gemeinschaftsrenten und Unter- einrichtungen des Einzelhandels nehmer
11.-23.4.
BRD
USA
Verein zur Förde- keine Angabe rung des Einzelhandels Sitz Hamburg e. V.
BRD
Schweden
Edeka-Zentrale
Besichtigung von diversen Geschäften und Einkaufszentren
37 Teilnehmer auf Erfa-Studienfahrt mit Kollegen der ADEG und USEGO 11 davon Edeka
10.-13.6.
BRD
Belgien
DIHT
56 Handelsreferenten
Beurteilung neuer Betriebsformen und verschärfte Konkurrenzsituation zwischen innerstädtischem Einzelhandel und Einkaufszentren außerhalb der Städte Erörterung aktueller Fragen des Handels mit Vertretern der EWG
11.8.-1.9.
BRD
USA
ISB, Super Market keine Angabe Institute
BRD
Finnland
Edeka-Zentrale
BRD
USA
IHK Duisburg und- 43 Einzelhändler Einzelhandelsverband Duisburg
BRD
USA
Henkel AG
Absatz von Obst und Gemüse
1970
6.-19.3.
18 Teilnehmer auf keine Angabe Erfa-Studienfahrt Besichtigung von Einkaufszentren und Discountern
Preisverlosung keine Angabe einer Reise an 50 Einzelhändler
414
Anhang
1971 Juni
BRD
Schweden
Spar
18.5.-4.6.
BRD
USA
Der EinzelhandelsBerater: 9. USAFachstudienreise
13.-20.6.
BRD
England/ Schottland
DIHT
Spar-Kaufleute
Besuch von Supermärkten, Einkaufszentren Besichtigung der wichtigsten Handelszentren Informationsgespräche mit Inhabern/ leitenden Angestellten USamerikanischer Einzelhandelsunternehmen
45 Vertreter der IHKn
Besichtigung von diversen Einzelhandelsunternehmen, Einkaufszentren Frage der Stadt- und Regionalplanung im Zusammenhang mit dem Einzelhandel
1972 1973 22.-25.3.
BRD
Schweiz
DIHT
keine Angabe
Besuch von Einkaufszentren und Warenhäusern
Mai
BRD
UdSSR
DIHT
keine Angabe
Besuch von Warenhäusern, einem Fachwarenhaus in Moskau touristisches Programm
BRD
Oktober
Finnland
England BRD
Spar
13 Spar-Kaufleute Verkauf von Lebensmitteln und aus der ArbeitsNon-Food-Artikeln im Einzelhandel gruppe „moderner Verkauf“
Spar, Vivo
189 Groß- und Einzelhändler
Besuch der Spar-Zentralen Hamburg Nord und Süd
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Unveröffentlichte Quellen Archiv des Euro-Handelsinstituts, Köln (EHI) ISB-Informationen Archiv der Deutschen Spar Handelsgesellschaft (Frühjahr 2007 aufgelöst) (Spar-Archiv) Deutsche Handelsvereinigung SPAR: Geschäftsberichte, 1956-66 Die deutsche Spar in Protokollen 1967-77, Gesellschaftsversammlungen Spar Handelsgesellschaft Team-Work, 1968-1970 Archiv der Sozialen Demokratie, Bonn (ASD) Ausblick, 1955-1959 (Zeitschrift der Gewerkschaft HBV) Archiv des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften, Hamburg (ZdK-Archiv) geg-Post Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK): Jahrbuch, 1949-73 Bayrisches Wirtschaftsarchiv, München (BWA) Kammer 1: Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern = K1 Kammer 8: Industrie- und Handelskammer für Oberfranken Bayreuth = K8 Kammer 9: Industrie- und Handelskammer Schwaben = K9 F 36: NCR GmbH, Augsburg Bundesarchiv Koblenz (BAK) B 102: Bundesministerium für Wirtschaft B 116: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten B 140: Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels mbH B 146: Bundesministerium für den Marshallplan Z 14: Der Berater für den Marshallplan beim Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg (FfZ) 11-P5: Nachlass Bernhard Priess 18-6: Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften 18-7: Sammlung Dr. Bengelsdorf National Archives II, College Park, Maryland/ USA (NA) Record Group 466: Records of the U.S. High Commissioner for Germany = RG 466 Record Group 469: Records of the U.S. Foreign Assistance Agencies 1948-1961 = RG 469
416
Quellen- und Literaturverzeichnis
Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln (RWWA) Kammer 1: Industrie- und Handelskammer Köln = 1 Kammer 8: Industrie- und Handelskammer Krefeld = 8 Kammer 20: Industrie- und Handelskammer Duisburg = 20 Kammer 28: Industrie- und Handelskammer Essen, Mühlheim/ Ruhr, Oberhausen = 28 DIHT 181: Deutscher Industrie- und Handelstag = 181 Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow/ USA (RAC) Record Group 3B 21: IBEC = RG 3B 21 Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund (WWA) Kammer 1: Industrie- und Handelskammer Dortmund = K1 Kammer 2: Industrie- und Handelskammer Bochum = K2 Kammer 3: Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld = K3 Kammer 5: Industrie- und Handelskammer Münster = K5 Kammer 6: Industrie- und Handelskammer für das südöstliche Westfalen zu Arnsberg = K6 Kammer 8: Südwestfälische Industrie- und Handelskammer zu Hagen = K8 Sammlungen = S7 S7/562: Deutscher Industrie- und Handelstag S7/569/1: Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm / Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm-Bochum S7/570: Verband der Konsumgenossenschaften des Landes NordrheinWestfalen S7/572: REWE Zentralorganisation S7/577: EDEKA (Zentralorganisationen), EDEKA Zentrale eGmbH, EDEKA Zentrale AG S7/578/1: EDEKA Dortmund eGmbH/ EDEKA Ruhr-Lippe eG Wirtschaftsarchiv der Universität zu Köln N2/4: Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels: Arbeitsbericht 19521968, 1973 Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaft, Kiel (ZBW Kiel) Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels: Arbeitsbericht 1947-51, 196972 2. Zeitgenössische Fachperiodika und Unternehmenszeitschriften Allgemeine Deutsche Händler-Zeitung ANUGA Rundschau Cornelia (Cornelius Stüssgen AG) Der Einzelhändler (Einzelhandelsverband Bezirk Köln) Der neue Weg (Spar)
Quellen- und Literaturverzeichnis
417
Der Handel (DDR) Die Kaffeetasse (Adolph Schürmann) Die neue Verpackung Die RGH teilt mit (RGH) Discount-Informationen Edeka-Rundschau (Edeka Zentralorganisation) Einzelhandelsnachrichten Eklöh-Spiegel (Eklöh GmbH) Fachblatt für Selbstbedienung = Fachblatt SB FfH-Mitteilungen, Neue Folge (Forschungsstelle für den Handel Berlin) Handel, Banken, Versicherung (Zeitschrift der Gewerkschaft HBV) Industriekurier Konsumgenossenschaftliche Rundschau (ZdK und GEG) National Grocer Bulletin (USA) = NGB Progressive Grocer (USA) = PG Rationeller Handel (RGH) Rewe-Echo (Rewe Zentralorganisation) Selbstbedienung (Institut für Selbstbedienung) Selbstbedienung und Supermarkt (Institut für Selbstbedienung) Super Market Merchandising (Super Market Institute, USA) = SMM Textil-Zeitung 3.
Sonstige gedruckte Quellen
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