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German Pages 325 [326] Year 2019
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 498
Restschuldbefreiung de lege lata et ferenda Zeitgeschichtliche Bedeutung, europäische Implikationen, verfassungsrechtlicher Rahmen Eine Untersuchung anlässlich des Richtlinienvorschlags COM(2016) 723 final
Von
Joshua Niclas Berg
Duncker & Humblot · Berlin
JOSHUA NICLAS BERG
Restschuldbefreiung de lege lata et ferenda
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 498
Restschuldbefreiung de lege lata et ferenda Zeitgeschichtliche Bedeutung, europäische Implikationen, verfassungsrechtlicher Rahmen Eine Untersuchung anlässlich des Richtlinienvorschlags COM(2016) 723 final
Von
Joshua Niclas Berg
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.
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„Übrigens halte ich Neuerungen nur dann für wertvoll, wenn sie nützlich und zweckentsprechend sind. Das ist bei literarischen Arbeiten dann der Fall, wenn sie bisher Unbekanntes erschließen und mutig bis zu der Tiefe der Wahrheit vordringen, die es zu enthüllen gilt.“ Ulrich Zasius, Lucubrationes, 1518, p. 68*
* Aus dem Lateinischen übertragen in: Deutsches Rechtsdenken, Heft 1, Ulrich Zasius, Von wahrer und falscher Jurisprudenz – Aus Schriften, Reden und Briefen (1507 bis 1526), S. 13, herausgegeben von Erik Wolf, 2. Auflage 1948.
Vorwort Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen. Die Disputatio fand am 28.3.2019 statt. Da die persönliche Würdigung in einem Vorwort zu einer Dissertation mittlerweile zu einer Usance geworden ist, welche den Eindruck erweckt, die Worte des Dankes wären zu einer bloßen Selbstverständlichkeit verkommen, möchte ich mit Nachdruck auf der Ernsthaftigkeit meiner Danksagung gegenüber akademischem Lehrer, Vorbildern, Familie und Weggefährten bestehen. Meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Markus Würdinger gebührt größter Dank. Er ließ mir solche Unterstützung angedeihen, wie sie wohl sonst nur von wenigen Betreuern gewährt wird. Durch ständige Diskussionsbereitschaft, stete Förderung und offenen geistigen Austausch hat er maßgeblich zum Gelingen der Promotionsschrift beigetragen. Er war sowohl Lehrer als auch Mentor und wusste immer Anregungen genau so zu geben, dass sie auf fruchtbaren Boden fielen. Er schaffte Promotionsbedingungen, die eine angemessene Balance zwischen Forschung, Lehre und nötiger geistiger Zerstreuung zuließen und somit kaum besser zur Fertigstellung der Arbeit hätten beitragen können. Auch für die schnelle Erstellung des Erstgutachtens und die Ermöglichung einer zeitnah anberaumten Disputatio möchte ich meinen Dank aussprechen. Besonderer Dank gebührt ebenso Herrn Professor Dr. Christoph Gröpl, der nicht nur das Zweitgutachten zügig erstellte, sondern mir bereits im Vorfeld stets hilfsbereit Ratschläge erteilte und sich jederzeit zu einer anregenden Diskussion bereit erklärte. Als intellektuelle Autorität eröffnete er mir aufgrund seiner fachlichen Expertise neue Perspektiven auf die der Untersuchung zu Grunde liegende rechtliche Materie, weshalb ich auch ihm zu großem Dank verpflichtet bin. Ferner danke ich der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung für die finanzielle Förderung meines Promotionsprojektes. Daneben möchte ich Frau Heike Schulz danken, ohne die ich wohl niemals den Fuß in die richtige Tür gesteckt hätte und niemals mit meinem Doktorvater in Kontakt getreten wäre. Ebenso danke ich dem gesamten Lehrstuhlteam wie auch Herrn Yves Georg und Johannes Biewer für fortwährende Unterstützung und wissenschaftlichen Austausch. Maßgeblichen Anteil am formalen Reüssieren der Doktorarbeit haben einige Korrekturleser, namentlich Petra Berg,
Vorwort
8
lisabeth Groß, Margareta Groß, Viktoria Julien, Eva Kartes, Carolin Maus, E Tatjana Robert, Viktoria Sartorius und Sophia Straub. Großes Verdienst am und großen Dank wegen des Erfolgs des Vorhabens „Promotion“ hat natürlich meine gesamte Familie durch Hilfestellung mannigfaltiger Art. Diese in Gänze aufzuzählen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Daher möchte ich insbesondere an Hans-Joachim und Petra Berg, Susen und Jan Berg, Gertrud Groß, Elisabeth Groß, Margareta Groß und Josefa Berg folgende Worte aufrichtigen Dankes richten: Erst durch euch wurden Interesse, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz geweckt, welche letztlich die Conditio sine qua non für meine heutige Laufbahn geworden sind. Meinen Großvätern Guido Berg und Josef Groß möchte ich diese Promo tionsschrift widmen. Saarbrücken, im April 2019
Joshua Berg
Inhaltsübersicht § 1 Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A.
Anlass der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
B.
Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
C.
Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 A.
Die Anfänge der Schuldbefreiung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
B.
Legislative Historie der Restschuldbefreiung in der Insolvenzordnung . . . . 34
C.
Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
D.
Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
E.
Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
§ 3 Unionsrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 A. Restschuldbefreiungstourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 B.
EuInsVO und Schutzvorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
C.
Fazit: Restschuldbefreiungstourismussowie EuInsVO und Schutzvorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)und verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 A.
Entwicklungsgeschichte des Richtlinienvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
B.
Ziel des Richtlinienvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
C.
Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
D. Kompetenzgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 E.
Nationale Implikationen der Umsetzung: Verfassungsrechtliche Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
§ 5 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 A.
Kernthesen zu § 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit .. . 280
B.
Kernthesen zu § 3 Unionsrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
C.
Kernthesen zu § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)und verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . 284
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
§ 1 Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A. Anlass der Untersuchung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 § 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 A. Die Anfänge der Schuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I.
Codex Hammurapi .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
II. Seisachtheia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 III. Altes Testament .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Römisches Privatrecht und gemeines Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 V.
Hamburger Fallitenordnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
VI. Gesetz über eine Bereinigung alter Schulden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Legislative Historie der Restschuldbefreiung in der Insolvenzordnung . . . . . . . . . . . 34 I. Reformgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II.
Inkrafttreten der Insolvenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
III. Einführung der Kostenstundungsregelungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Auswirkungen der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 V.
Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
VI. Verordnung (EU) 2015/848 und Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final 39 VII. Fazit: Anfänge der Schuldbefreiung und legislative Historie der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I.
Phänomen Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Statistischer Befund .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Kredite und Restschuldversicherungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Folgen von Überschuldung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Gesellschaftspolitische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) (Gesamt)ökonomische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) (Psycho)soziale und personale Aspekte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Inhaltsverzeichnis
12
II. Insolvenzstatistiken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Eröffnete Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Deckungsquoten und Gesamtbefriedigungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Beendete Insolvenzverfahren und Art der Beendigung .. . . . . . . . . . . . . . 51 III. Fazit: Phänomen Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 I.
Außergerichtliche Einigung im Sinne des § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO . . . . . . . . 56
II.
1. Zweck und Charakteristika des Verbraucherinsolvenzverfahrens . . . . 56 2. Entschuldung aufgrund eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Rechtswirkungen des (außergerichtlichen) Schuldenbereinigungsplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren nach §§ 306 – 309 InsO 59
1. Rechtsnatur und Rechtswirkungen des (gerichtlichen) Schuldenbereinigungsplans .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Zustimmungsersetzung nach § 309 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Insolvenzplan nach §§ 217 – 269 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Zweck des Insolvenzplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Rechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Universalwirkung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Disponible Schuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Sicherheiten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Wesentliche Aspekte des Planverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Insolvenzverfahrenseinstellung nach § 213 Abs. 1 Satz 1 InsO .. . . . . . . . . . . 66
V.
1. Unbeschränkte Nachhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Keine Verfahrenseinstellung im Restschuldbefreiungsverfahren . . . . . 67 Restschuldbefreiungsverfahren §§ 286 – 303a InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Verfahrensziel Restschuldbefreiung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Argumente pro eigenständiges, gleichrangiges Verfahrensziel . . . . . 70 b) Argumente contra eigenständiges Verfahrensziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Argumente contra gleichrangiges Verfahren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 d) Bewertung der Argumente .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Wortlautargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) Systematisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 cc) Gesetz zur Entschuldung mittelloser Personen . . . . . . . . . . . . . . . 74 dd) Formale Trennung von Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 ee) Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1 InsO . . . . . . . . . . . 75 ff) Keine Stärkung der Schuldnerposition durch den Gesetzgeber 75 gg) Gesetzesbezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Inhaltsverzeichnis
13
e) Stellungnahme: Verfahrensziel Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . 75 aa) Schuldbefreiung durch Insolvenzplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 bb) Wandel des historischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 cc) Unschärfen der Begriffsverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 dd) Asymmetrische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 ee) Fazit: Eigenständiges Verfahrensziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Zweck der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Personal-soziale Zielsetzung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) (Makro)ökonomisch-wirtschaftspolitische Zielsetzung und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Rechtswirkungen der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) Mutation der Verbindlichkeiten und Universalwirkung . . . . . . . . . . . . 81 b) Vorzeitige Restschuldbefreiung und Auswirkungen auf Sicherungsgeber .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Ausnahmen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4. Verfahrensablauf .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Antrag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Eingangsentscheidung und Abtretungsfrist .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) Versagung gem. § 290 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 d) Beginn der Restschuldbefreiungsphase und Bestellung des Treuhänders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 e) Gläubigergleichbehandlungsgebot .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 f) Einstellung gem. §§ 296, 297, 298 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 g) Entscheidung gem. § 300 Abs. 1 InsO und eventueller Widerruf .. . 87 5. Verfahrenskostenstundung nach §§ 4a ff. InsO .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Antrag und Mittellosigkeit des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Dauer der Verfahrenskostenstundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 E. Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 I.
Komparative Vorteile konsensdeterminierter Schuldbefreiungsoptionen .. 89
II.
1. Außergerichtlicher Einigungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Insolvenzverfahrenseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Komparative Nachteile konsensdeterminierter Schuldbefreiungsoptionen . 97
1. Außergerichtlicher Einigungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Insolvenzverfahrenseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Fazit: Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Inhaltsverzeichnis
14
§ 3 Unionsrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 A. Restschuldbefreiungstourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I.
Forum Shopping als erlaubter und intendierter Rechtsreflex . . . . . . . . . . . . . . 105
II.
Nachteile des Forum Shopping .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
III. Missbräuchliches Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Definition missbräuchliches Forum Shopping .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Merkmale eines rechtsethischen Missbrauchskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Folgen der Qualifizierung als „missbräuchlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Legislatorische Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsverbots . . . . . 111 5. Fazit: Missbräuchliches Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Betrügerisches Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I.
Zweck der Verordnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
II.
Funktionsweise Restschuldbefreiungstourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
1. Internationale Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO . . . 115 2. Lex concursus, Art. 7 Abs. 1 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Anerkennung des Insolvenzverfahrens nach Art. 19 EuInsVO . . . . . . . 117 III. Schutzvorkehrungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Versagung der Hauptverfahrenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Kritik: Versagung der Hauptverfahrenseröffnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Stellungnahme: Versagung der Hauptverfahrenseröffnung . . . . . . . . 120 2. Versagung der Anerkennung – Positive Kompetenzkonflikte . . . . . . . . 121 a) Maßgeblichkeit der erstgerichtlichen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Historisches Argument: Virgós/Schmit-Bericht . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Historisches Argument: Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F. . 122 cc) Gegenseitiges Vertrauen und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Zweitgerichtliche Überprüfung der internationalen Zuständigkeit . 123 aa) Wortlautargument: Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO . . . . . . . . . 124 bb) Systematisches Argument: Brüssel Ia-VO .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Folgeprobleme und mangelnder Normbezug der Gegenmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Stellungnahme: Positive Kompetenzkonflikte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Übertragbarkeit der Wertungen der Brüssel Ia-VO . . . . . . . . . . . 126 (1) Überprüfung ausschließlicher Zuständigkeiten in der Brüssel Ia-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (2) Bindung an die tatsächlichen Feststellungen . . . . . . . . . . . . . 127 bb) Intention des EU-Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 cc) Insolvenztourismus, Insolvenzimperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . 128 dd) Rechtsmittel und Partikularinsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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ee) Anerkennung der Hauptinsolvenz am Ort des „wahren“ COMI .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 d) Fazit: Positive Kompetenzkonflikte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Zweistufiges gerichtliches Kontrollsystem, Artt. 4, 5 EuInsVO . . . . . . 132 a) Prüfung der Zuständigkeit, Art. 4 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Tatsachenermittlung und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 bb) Prüfung durch den Insolvenzverwalter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 cc) Stellungnahme: Prüfung der Zuständigkeit, Art. 4 EuInsVO . 133 b) Gerichtliche Nachprüfung, Art. 5 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Anfechtung nach Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Anfechtung nach Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Fazit: Zweistufiges gerichtliches Kontrollsystem .. . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Partikularinsolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Wirkung des Partikularinsolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Tauglichkeit des Verfahrens zur Missbrauchsbekämpfung . . . . . . . . . 139 aa) Vermeidung von Sekundärinsolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Sekundärinsolvenz im Staat des COMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 cc) Keine Anwendung auf Verbraucherinsolvenzen .. . . . . . . . . . . . . 142 dd) Fazit: Tauglichkeit des Verfahrens zur Missbrauchsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5. Période suspecte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Vermutung des COMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Erwägungsgrund 30 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Fazit: Période suspecte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Öffentliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 aa) Rs. Krombacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Grundprinzipien und verfassungsmäßig garantierte Rechte und Freiheiten des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Offensichtlichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Eröffnungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Betrügerisches Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (1) Einschlägigkeit des Ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (2) Ausschluss der Ordre-public-Kontrolle resp. Subsidiarität 154 (3) Stellungnahme: Betrügerisches Forum Shopping .. . . . . . . . 156 bb) Rechtsmissbräuchliches Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Kurze oder fehlende Treuhandperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 e) Mindestbefriedigungsquote .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 f) Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung . . . 161 aa) Ordre public-Konformität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Ordre public-Verstoß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
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cc) Stellungnahme: Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 g) Fazit: Ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 C. Fazit: Restschuldbefreiungstourismussowie EuInsVO und Schutzvorkehrungen . 166 § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)und verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 A. Entwicklungsgeschichte des Richtlinienvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 I.
Rat der Europäischen Union und Europäisches Parlament .. . . . . . . . . . . . . . . . 172
II.
Kommissionsmitteilung vom 03. 10. 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
III. Kommissionsmitteilung vom 12. 12. 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 IV. Aktionsplan Unternehmertum 2020 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 V.
Kommissionsempfehlung 12. 03. 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
VI. Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 VII. Fazit: Kommissionsdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 B. Ziel des Richtlinienvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I.
Makroökonomischer Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
II.
Zweite Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
III. Fazit: Ziel des Richtlinienvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I.
Überschuldeter Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
II.
Volle Entschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
III. Entschuldungsfrist und Berufsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV. Einschränkungen bzgl. Zugang, Entschuldungs- und Verbotsfrist . . . . . . . . . 183 1. Art. 22 Abs. 1 lit. a–d RL-V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Art. 22 Abs. 3 und 4 RL-V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 D. Kompetenzgrundlage .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 I.
Rechtsgrundlagen Artt. 53 und 114 AEUV .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Auslegungsparallelen zu Art. 114 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 aa) Beeinträchtigung von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 bb) Positiver Binnenmarkteffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 53 AEUV . 192 aa) Intention des EU-Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 bb) Beeinträchtigung von Niederlassungs-/Dienstleistungsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (1) Generelle Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
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II.
17
(a) Einzelfallprüfung: Standortbedingung oder Freiheit der Standortwahl .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (b) Sensibilität in Kompetenzfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 (2) Qualifiziertes Marktzugangshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (a) Begründung des RL-V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (b) Stellungnahme des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (c) Unterrichtung durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . 196 (d) Empirischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (3) Stellungnahme: Beeinträchtigung von Niederlassungs-/ Dienstleistungsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (a) Bestimmung des maßgeblichen Standortfaktors . . . . 201 (b) Notwendigkeit einer plausiblen Begründung . . . . . . . 203 (c) Funktionaler Konnex und Souveränitätsvorbehalt .. 203 (d) Keine Anwendung auf Verbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (e) Semantische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Art. 114 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 114 AEUV 206 aa) Beschränkung im Sinne der Kapitalverkehrsfreiheit . . . . . . . . . 206 bb) Stellungnahme: Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 114 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Art. 345 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 aa) Eigentumsordnung im Sinne des Art. 345 AEUV . . . . . . . . . . . . 209 bb) Art. 345 AEUV als Kompetenzausübungsschranke . . . . . . . . . . 210 cc) Entschuldungsvorschriften als Bestandteil der Eigentumsordnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 dd) Grundstrukturen einer Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Fazit: Rechtsgrundlagen Artt. 53 und 114 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
E. Nationale Implikationen der Umsetzung: Verfassungsrechtliche Fragestellungen . 213 I.
Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Neuanfang als politische Entscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Neuanfang als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3. Verfassungsrechtliche Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Begriffliche Bestimmung und dogmatische Einordnung des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 b) Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Begriffliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Stellungnahme: Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 d) Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 e) Stellungnahme: Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
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f) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 g) Stellungnahme: Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . 229 h) Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 i) Stellungnahme: Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 aa) Objektiv-rechtliche Dimension des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Abwehrrechtliche Dimension des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4. Fazit: Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 II.
Dreijährige Entschuldungsfrist ohne Mindestquotenerfordernis .. . . . . . . . . . 236 1. Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Gewährleistungsumfang Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 b) Eigentumsrelevante Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . 241 bb) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne: Angemessenheit . . . . . 242 (1) Gläubigerinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (a) Folgeinsolvenzen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (b) Verschlechterte Zahlungsmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (c) Erhöhte Befriedigungsquote bei längerer Zugriffsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (d) Übermäßige Belastung bei fehlender Befriedigung . 243 (e) Keine Prüfung von Amts wegen sowie nachteilige Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 (2) Schuldnerinteressen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (a) Unangemessene Dauer der Zwangsvollstreckung bei geringen Befriedigungsaussichten . . . . . . . . . . . . . . 246 (b) Wertlosigkeit der Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 (c) Keine Pauschalierung des Verfahrens als missbrauchsanfällig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (d) Verantwortlichkeit der Gläubiger bei Schuldnerauswahl und Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (e) Minderung der Verantwortung der Darlehensnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (f) Durchsetzungserwägungen sind Gläubigerangelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (g) Rechtssicherheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (3) Neugläubigerinteressen vs. Altgläubigerinteressen . . . . . . . 249
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2. Stellungnahme: Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung . . . . . 250 a) Insolvenzstrafrecht zur Aufrechterhaltung der Zahlungsmoral . . . . . 251 b) Verantwortung des Schuldners .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 c) Absicherung der Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 d) Neu- und Altgläubigerinteressen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 e) Respektierung der gesetzgeberischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 253 aa) Potenziell verfassungswidrige Konstellationen .. . . . . . . . . . . . . . 254 bb) „Pauschalierung von Gerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 cc) Härte- bzw. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 dd) Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung . . . . 256 ee) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 3. Entschuldungsfrist und Mindestquotenerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Vorzeitige Entschuldung mit Erreichen von 35 % . . . . . . . . . . . . 259 bb) Leistung innerhalb dreier Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 cc) Stellungnahme: 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Verfassungsrechtliche Würdigung der dreijährigen Abtretungsfrist 261 aa) Sofortentschuldung am Ende des Insolvenzverfahrens . . . . . . . 261 (1) Verlustzuweisungsgemeinschaft und Solidaritätsmodell .. 261 (2) Zentrales Kriterium Befriedigungsaussichten und Schutz des Eigentums .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 bb) Stellungnahme: Verfassungsrechtliche Würdigung der dreijährigen Abtretungsfrist .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Fazit: Dreijährige Entschuldungsfrist ohne Mindestquotenerfordernis 267 5. Ordre public-Relevanz von Entschuldungsfrist und Mindestquotenerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Vergleich mit fehlender Nachhaftung juristischer Personen . . . . . . . . . . 270 2. Art. 3 Abs. 1 GG .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3. Verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 a) Legitimes Differenzierungsziel/-kriterium und Geeignetheit . . . . . . 275 b) Erforderlichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 aa) Gründe für eine Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 bb) Stellungnahme: Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5. Fazit: Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern . . . . . . 278
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Inhaltsverzeichnis
§ 5 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 A. Kernthesen zu § 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit .. . . . . . . . . 280 B. Kernthesen zu § 3 Unionsrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 C. Kernthesen zu § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda(COM(2016) 723 final) und verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
§ 1 Einleitung Entschuldung bedeutet Hoffnung. Entschuldung ist Neuanfang. Dem wirtschaftlich am Boden Liegenden gibt sie Linderung; ja ist sie weitreichende Genesung. Die Gesellschaft nimmt ihn wieder in ihre Mitte auf und ermöglicht ihm ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben. Das Durchlaufen des Entschuldungsverfahrens ist der notwendige Initiationsritus, der zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Reintegration führt. Die Bedeutung der Restschuldbefreiung kann in moderner Zeit kaum überschätzt werden. Noch vor wenigen Jahrhunderten war dies ganz anders – Tempora mutantur et nos mutamur in illis.1 Im Unterschied zur damaligen Zeit besteht heute der politische Wille und die weitgehend konsentierte gesellschaftliche Einsicht, dem Schuldner mit Ablauf einer bestimmten Zeit die Aussicht auf einen wirtschaftlichen Neuanfang, einen Fresh Start, zu gewähren. Vokabeln wie „lebenslängliche Schuldverstrickung“2 , „moderner Schuldturm“3 oder der Gemeinschuldner als „Sklave von Rechts wegen“4 verdeutlichen die Brisanz und Sensitivität der Thematik. Solche Wortwahl mahnt zugleich zur Vorsicht, nicht dem Hang einer emotional geführten, jeglicher juristischen Argumentation und Dogmatik baren Debatte nachzugeben. Dass dies mitunter schwer fällt, zeigt sich an den quasi messianischen Erwartungen und der fast omnipotenten Heilsfunktion, welche der Restschuldbefreiung vereinzelt zugeschrieben wird. Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“5 und „Rechtswohltat“6 machen die Runde. Die Bezeichnung der Restschuldbefreiung als „Meilenstein
1 Zum Sprichwort und seiner Übersetzung („Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.“) siehe Kasper, Reclams Lateinisches Zitaten-Lexikon, S. 362. Siehe ferner Paulus, JZ 2009, 1148, 1151: „Einen krasseren Paradigmenwechsel wird man sich kaum vorstellen können – Ächtung und Bestrafung des Schuldners bis hin zur Todesstrafe über Jahrhunderte bzw. Jahrtausende hinweg, und mit einem Mal an Stelle dessen (oder doch zumindest alternativ) die Frage nach der Hilfestellung zur Rettung.“. 2 Ackmann, ZIP 1982, 1266. 3 Medicus, DZWiR 2007, 221, 223. 4 Menzinger, Das freie Nachforderungsrecht der Konkursgläubiger, S. 47. 5 Medicus, DZWiR 2007, 221, 223. 6 BT-Drucks. 17/11268 S. 25; BT-Drucks. 12/2443, S. 91; Hergenröder DZWiR 2006, 265, 274 f.; Hergenröder/Homann, ZVI 2013, 129, 132; Komo, Der Langfristige Kredit 1989, 256 „Wohltat der Schuldbefreiung“.
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§ 1 Einleitung
in der Entwicklung des sozialen Rechtsstaats“7, als „wesentliche soziale Errungenschaft der Insolvenzordnung“8 und die Zuschreibung „existentieller Bedeutung“9 tun ihr Übriges. Was aber im Großen kaum bezweifelt wird, ist im Kleinen nach wie vor hochumstritten.10 Angesichts der wohlfeilen Lobpreisung der Schuldbefreiung nimmt es nicht wunder, dass sich auch berechtigte Skeptik und konstruktive Kritik Bahn schlagen. Insolvenzrecht verfolgt gerade das Ziel eines Interessenausgleichs zwischen Schuldnern und Gläubigern.11 Die nationale und internationale Tendenz geht mittlerweile eindeutig in Richtung einer immer schuldnerfreundlicheren Ausgestaltung. Dagegen stößt die Mahnung, „Entscheidungsfreiheit ohne Verantwortung verkümmer[e] zur Narrenfreiheit zu Lasten Dritter“12 oftmals auf taube Ohren.
A. Anlass der Untersuchung Aktuell befindet sich das Insolvenzrecht beständig im Fluss. Paulus betitelt es als eines der „machtvollst expandierenden Rechtsgebiete weltweit“13. Die jüngsten europäischen Vorstöße geben Anlass, die Materie vor dem Hintergrund supranationaler Entwicklungen erneut zu untersuchen. Nicht nur die Neufassung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren (im Folgenden: EuInsVO),14 sondern v. a. der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen
7 Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 2 Rn. 4 und Fn. 5; Henning, ZVI 2014, 7, 8: „Meilenstein unseres sozialen Rechtsstaats“. 8 Wimmer, BB 1998, 386. 9 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030. 10 Aus der unübersichtlichen Kritik, den mannigfaltigen Verbesserungsvorschlägen und den ständig neu erscheinenden Analysen sei paradigmatisch auf die konzeptionelle Kritik von Kohte, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 4b InsO Rn. 1 verwiesen, der es als „paradoxe Folge“ bezeichnet, wenn der wirtschaftliche Neuanfang mit neuer Schuldenlast wegen der ausstehenden Verfahrenskosten beginnt. 11 Köhler/Simokat, KTS 2017, 495, 496. 12 Häsemeyer, in: Gerhardt/Diederichsen/Rimmelspacher/Costede (Hrsg.), FS Henckel, S. 353, 361. 13 Paulus, NZI 2008, 1, 2. 14 Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 05. 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. L 141 v. 05. 06. 2015, S. 19 ff.
B. Ziel der Untersuchung
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und die zweite Chance (im Folgenden: RL-V)15 sind äußerst interessant. Bei letzterem geht es mitunter nicht um weniger als der strategischen, europaweit koordinierten Ausrichtung des Insolvenzrechts an dem Bedürfnis des Schuldners nach einer raschen Restschuldbefreiung. In Ermangelung umfassender monographisch-wissenschaftlicher Betrachtung des Richtlinienvorschlags bedarf es einer solchen im Hinblick auf die Restschuldbefreiung natürlicher Personen.
B. Ziel der Untersuchung Zugegebenermaßen ist über die Restschuldbefreiung schon vielerlei geschrieben worden. Kaum ein Rechtsinstitut hat wohl die Insolvenzrechtler seit seiner Einführung so sehr beschäftigt. Die Sentenz „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“16 mag zwar im Allgemeinen Gültigkeit beanspruchen, darf aber nicht Leitspruch einer Promotionsschrift sein. Es stellt sich die Frage, in welche Lücke diese Arbeit zu stoßen hat und welchen wissenschaftlichen Mehrwert sie im Diskurs um die Restschuldbefreiung zu leisten vermag. Es wäre vermessen, jedwede Erkenntnis in diesem Bereich entgegen dem Spruch „Nanos gigantum humeris insidentes“17 für sich selbst reklamieren zu wollen. Die vorliegende Untersuchung geht auf die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Restschuldbefreiung natürlicher Personen ein, ordnet sie in den bisherigen Kontext, legt dabei den Stand gegenwärtiger Forschung dar und unterzieht ihn einer erneuten analytischen Betrachtung, um letztlich lückenfüllende konstruktive Kritik zu üben und neues Wissen zu Tage zu fördern. Hierbei geht sie von Altbekanntem aus, bereitet es durch Kategorisierung und konzise Darstellung auf und versucht, Schwachpunkte bisheriger Begründungsansätze aufzuzeigen und Alternativen zu nennen, um zukünftig in klarer Terminologie und mit ausreichender theoretischer Fundierung Korrekturen zu erwägen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Insofern werden die Vorarbeiten für zukünftige Forschung geleistet. Darüber hinaus ist ein Schwerpunkt der Arbeit in den unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Fragestellungen zu erblicken. Die in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse sollen einen Grundstein für weitere 15 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, COM(2016) 723 final. 16 Goethe, Faust. Eine Tragödie. Vorspiel auf dem Theater, 1808, Direktor, S. 12. 17 Ioannis Saresberiensis, Metalogicon III, 4 Zeilen 46 – 50 (auf S. 116): „Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora uidere, non utique proprii uisus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea.“.
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§ 1 Einleitung
Diskussionen und – noch wichtiger – ein dogmatisches Zentrum schaffen, von dem aus die weitere Beschäftigung mit der Materie in klaren Bahnen verläuft. Nichts weniger als die Frage nach der Gerechtigkeit der Restschuldbefreiung bedarf der Annäherung.18 Diese Frage ist nicht abstrakt zu beantworten, sondern ausgehend von den verfassungsrechtlichen Wertungen des Grundgesetzes. Auch der ungeschulte Blick wird rasch erkennen, dass es eine absolute Gerechtigkeit, ein gänzlich austariertes Insolvenzsystem, das jedes Interesse in einen dauerhaft optimal ausgeglichenen Zustand bringt, nicht geben kann und nie geben wird. Wie die Zeit unterliegen auch die übrigen das Insolvenzrecht prägenden Implikationen dem Wandel. Insofern findet zwangsläufig eine „Pauschalierung von Gerechtigkeit“19 statt, die es beständig zu hinterfragen und an die es sich ständig von neuem anzunähern gilt. Die jüngsten Änderungen im Recht der Restschuldbefreiung bieten Anlass, die Gerechtigkeitsfrage vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund neu zu stellen. Die vorliegende Dissertation versucht im Laufe der Untersuchung, Antworten auf verschiedene konkrete Fragen zu finden, hat im Zuge dessen aber den Anspruch, die Restschuldbefreiung als Ganzes wahrzunehmen und als kohärentes System darzustellen. Wie der Titel schon andeutet, ist im Großen dreierlei zu begutachten. Zum Ersten ist die historische Entwicklung der Restschuldbefreiung zu illuminieren, um die zeitgeschichtliche Bedeutung, den Stellenwert der Schuldbefreiung im System de lege lata, zu eruieren. Eine Frage, die nicht nur anhand empirischer Statistiken nachvollziehbar ist, sondern deren Wurzeln tief in die Dogmatik des deutschen Insolvenzrechts reichen. Zum Zweiten wirft die Arbeit einen Blick auf die eu-rechtlichen Implikationen, womit – jedenfalls zunächst – nichts anderes als der Restschuldbefreiungstourismus gemeint ist. Zum Restschuldbefreiungstourismus unter Geltung der EuInsVO in ihrer alten Fassung wurde bereits viel publiziert.20 Dennoch schließt die Dissertation offene Flanken durch eine monographische Begutachtung der Schutzvorkehrungen de lege lata und einer neuen Deutung des vielfach bemühten Rechtsmissbrauchskonzepts. Zum Dritten wird den neuesten Entwicklungen auf EU-Ebene im wichtigsten Teil der Arbeit Aufmerksamkeit gezollt. Mit dem Richtlinienvorschlag – der Restschuldbefreiung de lege ferenda – stellt sich die Frage, inwieweit das deutsche Recht den Anforderungen der avisierten Richtlinie gerecht wird und an welchen Stellen Anpassungen notwendig sind. Ein besonders wichtiger Punkt 18 So trägt der Aufsatz von Pape/Grote, ZInsO 2009, 601 den Titel „Ist die Restschuldbefreiung gerecht?“. 19 Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 605. 20 Mit EuInsVO a. F. ist die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. 05. 2000 über Insolvenzverfahren, ABl. L 160 v. 30. 6. 2000, S. 1 ff., gemeint.
B. Ziel der Untersuchung
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ist die Frage nach einer ausreichenden Kompetenzgrundlage für die avisierte Richtlinie. Diese wurde so explizit noch nicht gestellt. Lediglich Würdinger21 und Jacobi22 warfen sie andeutungsweise ohne tiefergehende Untersuchung auf. Daher findet diese bedeutende Frage Eingang in die nachfolgende Begutachtung. Zuletzt stellen sich insbesondere verfassungsrechtliche Fragen, die zwar schon länger in der Diskussion sind, denen jedoch kaum (man mag wenige Ausnahmen anerkennen, deren Lücken zu füllen diese Arbeit versucht) eine längere umfassendere Untersuchung zuteil wurde. Anlässlich des Richtlinienvorschlags gewinnen auch diese wieder an Bedeutung. Entgegen Jäger sind die grundgesetzlichen Implikationen nicht nur eine Domäne der Verfassungsrechtler,23 sondern Fundament der grundlegenden Befassung mit dem Restschuldbefreiungsrecht. Gewiss ist es ein schwieriges und unbeliebtes Unterfangen, die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen der aktuellen Diskussion zu eruieren. Zum einen existiert Zurückhaltung, weil die Grundlagen schon lange gelegt wurden, zum anderen, weil es eine sehr abstrakt zu führende Diskussion ist. Nichtsdestoweniger ist ein Blick auf das Verfassungsrecht unentbehrlich und aufschlussreich, wenngleich die Details umstritten und konkrete Sätze nur mit Mühe deduzierbar sind. Dem zum Trotze müssen sich Rechtswissenschaftler jedweder Couleur die verfassungsrechtlichen Fragen gefallen lassen. Es ist zu eruieren, ob es überhaupt ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf einen wirtschaftlichen Neuanfang gibt, mithin ob die Einführung der Restschuldbefreiung aus rechtlicher Sicht zwingend notwendig war. Dies ist deswegen so interessant, da – je nach Beantwortung der Frage – der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht daran gehindert wäre, das Institut der Restschuldbefreiung gänzlich abzuschaffen. Und sollte er dies nicht erwägen, wäre jedenfalls u. U. einer Verlängerung der Abtretungsfrist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts entgegenzusetzen. Überdies ist die geplante dreijährige Entschuldungsfrist in den verfassungsrechtlichen Rahmen einzupassen. Als Grundlegung für den weiteren Gang der Untersuchung wird die Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung im Allgemeinen erörtert. Fast einhellig nehmen Rechtsprechung und Literatur diese mit durchaus a priori einleuchtenden Argumentationsfiguren an. Demgegenüber scheinen empirische Daten und grundlegende grundgesetzliche Wertungen einen solch vorschnellen Schluss ohne tiefergehende analytische Durchdringung nicht vorbehaltslos zu stützen. Grundsätzlich fordert jedes Entgegenkommen auf Schuldnerseite ein Zurückweichen der Gläubiger. 21
Würdinger, jM 2018, 90, 92; ders., KTS 2017, 445, 463. Jacobi, ZInsO 2018, 597, 598 f. 23 Jäger, ZVI 2012, 142, 145: „Je geringer die Mindestquote bemessen wird, desto größer ist der Eingriff in die Gläubigerrechte. Wie weit der Gesetzgeber hier verfassungskonform gehen darf, mögen Verfassungsrechtler entscheiden.“. 22
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§ 1 Einleitung
Die verkürzte Entschuldungsfrist ist unter dem Blickwinkel des Art. 14 GG zu würdigen. Dem folgt dann abschließend die Frage, ob eine Anwendung der Entschuldungsvorschriften des Richtlinienvorschlags nicht nur auf Unternehmer, sondern auch auf Verbraucher sub specie verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte zwingend geboten ist.
C. Gang der Untersuchung Die Untersuchung gliedert sich in drei große Teile (§ 2 – § 4). Einen ersten zum Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit, einen zweiten zu den europäischen Implikationen, allen voran dem Restschuldbefreiungstourismus, und einen dritten zum Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final. Konzeptionell ist die Untersuchung so angelegt, dass nach Beendigung eines in sich abgeschlossenen Themas eine Stellungnahme mit eigener Wertung und Argumenten folgt. Die jeweils übergeordneten Kapitel enden je nach Sinnzusammenhang mit einem abschließenden Fazit, welches als kurzes Resümee des vorstehend Gesagten fungiert. Auf die explizite Nennung prominenter Vertreter einzelner Meinungen wird im Text größtenteils verzichtet. Stattdessen stehen die vorgebrachten Ansichten und Argumente im Vordergrund, denn „diese Lehrmeinungen und ihre Methode, nicht aber irgendwelche Personen will meine Kritik treffen, die ich stets nur sachlich, nie persönlich zu führen bestrebt bin.“24. Nachdem im ersten Teil die Anfänge der Schuldbefreiung bis weit vor Christi Geburt zurückverfolgt werden, wird in aller Kürze die legislative Historie der Restschuldbefreiung im deutschen Recht nachgezeichnet. Dem schließt sich ein das Phänomen Überschuldung und die Insolvenzstatistiken betrachtendes Kapitel an, welches als empirischer Ausgangspunkt die nachfolgenden normativen Wertungen mitbeeinflusst. Hauptpunkt im ersten Teil ist die lakonische Darstellung der Schuldbefreiungsmöglichkeiten de lege lata und ihrer Verfahren. Der Restschuldbefreiung wird vergleichsweise großer Raum gewährt. Innerhalb dessen wird die Restschuldbefreiung als Verfahrensziel beleuchtet und eine Antwort auf die Frage nach der Gleichrangigkeit zwischen Restschuldbefreiung und gemeinschaftlicher Gläubigerbefriedigung als Zielen des Insolvenzverfahrens gesucht. Nach Ausführungen zum Zweck, den Rechtswirkungen und dem Verfahrensablauf sowie einem kurzen Exkurs zur Verfahrenskostenstundung werden in dem letzten Kapitel die Vor- und Nachteile der verschiedenen Schuldbefreiungsoptionen gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen. Der zweite Teil beginnt mit der begrifflichen Erläuterung von Restschuldbefreiungstourismus und Forum Shopping. Danach schließen sich grundlegende 24
Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. IX.
C. Gang der Untersuchung
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Erörterungen zu einem neuen Verständnis von Rechtsmissbrauch und einem neuen rechtsethischen Missbrauchskonzept an. Hiernach wird die Funktionsweise des Restschuldbefreiungstourismus und sein Zusammenspiel mit der EuInsVO beleuchtet. Als Schwerpunkt des zweiten Teils werden im Anschluss diverse mögliche Schutzmechanismen dargelegt, welche in Breite diskutiert werden. Bestehende Mechanismen werden konstruktiv-analytisch betrachtet und Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt. Der vorhandenen Literatur wird genügend Raum gegeben und vorgebrachte Argumente werden kritisch hinterfragt und ggf. durch weitere ergänzt oder gänzlich verworfen. Zu Anfang des dritten Teils – des Kerns der Arbeit – werden konzis die Entwicklungsschritte bis hin zum Richtlinienvorschlag recherchiert. Erläuterungen zum Ziel desselben schließen sich an und die Implementierung der eu-rechtlichen Vorgaben in deutsches Recht wird besprochen. Dabei geschieht die Betrachtung des Vorschlags eingedenk des fortschreitenden Gesetzgebungsprozesses und weiterer publizierter Stellungnahmen und Gegenentwürfen. Die kompetenzrechtliche Würdigung des Richtlinienvorschlags ist ein besonders heikles Unterfangen, könnte sie doch im Falle negativen Bescheidens den ganzen Entwurf ins Wanken bringen. Nichtsdestoweniger wird die Kompetenzgrundlage gerade für den Bereich der Entschuldung natürlicher Personen ausführlich untersucht. Anschließend wird der verfassungsrechtliche Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich weitere Änderungen bewegen müssen. Das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang wird diskutiert und eine Herleitung aus verschiedenen Grundrechten versucht. Danach erfolgt die Begutachtung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer auf drei Jahren verkürzten Abtretungsfrist. Innerhalb dessen wird allgemein die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung aufgeworfen und eine ausführliche Abwägung vorgenommen. Ebenfalls in diesem Rahmen werden die Auswirkungen des Verfassungsrechts auf die 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO und ein etwaiges Mindestquoten erfordernis eruiert. Da erst nach einer abschließenden verfassungsrechtlichen Würdigung die Ordre-public-Relevanz von Entschuldungsfrist und Mindestquotenerfordernis beurteilt werden kann, geschieht dies nun an dieser Stelle. Schlussendlich wird auch der Frage nach der verfassungsrechtlich notwendigen Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern nach Erlass der nur für Unternehmer geltenden avisierten Richtlinie nachgegangen. Nach diesem letzten Teil folgt sodann in einem eigenen Kapitel (§ 5) eine abschließende Zusammenfassung der wichtigsten Thesen der gesamten Untersuchung in prägnanter und reduzierter Form. Diese sollen die wesentlichen Erkenntnisse resümierend wiedergeben und eine kurze Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Fragen ermöglichen.
§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit Obwohl die vorliegende Arbeit keine rechtshistorische Untersuchung ist, soll zu einem kurzen Blick auf die wechselvolle Geschichte der Schuldbefreiung geraten werden, um dieses Institut und seine Genese richtig und gänzlich zu erfassen und die Entwicklungslinien bis in die heutige Zeit nachzuvollziehen.25 Auf diese Weise gewinnt man eine Vorstellung, wie drängend die Frage nach einer Entschuldung natürlicher Personen im Laufe der Geschichte war und es wird offenbar, welche Lösungen die Menschen bislang darauf fanden.26 Dabei ist nicht zu verhehlen, dass die Argumentation für und wider die Entschuldung und ihre Modalitäten – unabhängig von ihren differierenden Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Einzelfall – gewisse Kontinuitäten zeigt, die bis in die heutige aktuelle Diskussion anhalten. So ist seit den ersten Zeichen der Schuldbefreiung auch immer eine (nicht unbedingt ungeteilte) ubiquitäre rechtsethische Aufladung zu konstatieren. Dem zum Trotze ist gerade die empirische Forschung ein Verdienst moderner Zeit, welche zur Reflexion anhält und erst die Möglichkeit eines zielgenaueren Umgangs mit dem Institut der Restschuldbefreiung erlaubt.
A. Die Anfänge der Schuldbefreiung Eine gesetzliche Schuldbefreiungsmöglichkeit gibt es nicht erst seit Inkrafttreten der Restschuldbefreiungsvorschriften in der Insolvenzordnung. Bereits einige Millenien vorher wurden die ersten Vorläufer der Idee einer einseitigen, nicht auf Vertrag beruhenden Entschuldung natürlicher Personen durch Gesetz geboren.27 25 Erinnert sei an folgende Sentenz: „Iuri operam daturum prius nosse oportet, unde nomen iuris descendat.“, Ulpian Digesten 1, 1, 1, übersetzt in Behrends/Knütel/Küpisch/ Seiler (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, S. 91: „Wer das Recht studieren will, muß zunächst wissen, woher das Wort Recht, ius, stammt.“. 26 Verweise auf die Insolvenz in literarischen Werken finden sich u. a. bei Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 603 (Johann Wolfgang von Goethe „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, Thomas Mann „Buddenbrooks“); Paulus, JZ 2009, 1148 f. (Honoré de Balzac „Eugénie Grandet“; Knut Hamsun „Victoria“; Thomas Mann „Buddenbrooks“; Anatol Frances „Die Schuld des Professor Bonnard“; Adam Smith „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“); Thole, JZ 2011, 765, 768 (Daniel Dafoe „The Complete English Tradesman“); Uhlenbruck, DZWiR 2007, 1 f. (Thomas Mann „Buddenbrooks“). 27 Siehe ausführlich zu den Vorbildern der Restschuldbefreiung Bartels, KTS 2013, 351 ff.
A. Die Anfänge der Schuldbefreiung
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I. Codex Hammurapi Einen ersten Ahnen der Schuldbefreiung enthielt bereits der Codex des babylonischen Königs Hammurapi28 (regierte ca. 1792 – 1750 v. Chr.)29, welcher im Jahre 1901/1902 durch französische Ausgrabungen in der alten Elamiterhauptstadt Susa entdeckt wurde.30 Dort heißt es in § 117: „Wenn ein Bürger eine Schuldverpflichtung eingegangen ist, und er seine Ehefrau, seinen Sohn oder seine Tochter deshalb verkauft oder diese in ein Abhängigkeitsverhältnis gegeben hat, so führen sie 3 Jahre lang das Haus ihres Käufers oder dessen der sie in ein Abhängigkeitsverhältnis genommen hat, im vierten Jahre wird ihre Freilassung bewirkt“31. Der Schuldner konnte also seine Familie dem Gläubiger überlassen, womit diese in Schuldknechtschaft verfiel.32 Nach drei Jahren Arbeit im Haushalt des Gläubigers wurde die Restschuld im vierten Jahr erlassen.33
II. Seisachtheia Kein direkter Vorläufer der heutigen Restschuldbefreiung, aber bereits der Gedanke einer umfassenden Entschuldung zur Beseitigung sozialer Spannungen findet sich im antiken Griechenland des 6. vorchristlichen Jahrhunderts.34 Dort standen sich nach dem Verständnis antiker Autoren aufgrund u. a. tiefgreifender sozialer Ungleichheit (und weiteren Faktoren) zwei Schichten gegenüber – die Reichen und die Armen, die Wenigen und die Vielen.35 Die hierdurch hervorgerufenen gesellschaftlichen Friktionen gipfelten schließlich in einem Bürgerkrieg.36 28
Zu Hammurapi (auch Hammurabi) siehe Der Neue Pauly, Band 5 Gru-Iug, S. 103. Eilers, Codex Hammurabi, S. 10 werden auch die Jahre 1728 – 1686 angegeben. 30 Eilers, Codex Hammurabi, S. 7. 31 Übersetzung in Eilers, Codex Hammurabi, S. 54; ähnlich in Bartels, KTS 2013, 349, 352; Trinkner, BB 1992, 2441, 2442. 32 Zum System der Schuldknechtschaft Trinkner, BB 1992, 2441 ff. Vgl. auch Madaus, JZ 2016, 548, 553. 33 Kursorisch Hess, Insolvenzrecht, 2007, Vor. § 1 Rn. 17 – 19; Keller, Insolvenzrecht, Rn. 25; Thole, JZ 2011, 765 f. 34 Die Hauptquellen dieser Schuldenaufhebung sind einerseits die Schrift Athenaion Politeia und anderseits die Biographie Solons aus der Feder Plutarchs. 35 Schubert, Solon, S. 28: „Sozial vertiefte sich die Spaltung, wirtschaftlich geriet der eine Teil der Bürgerschaft völlig in die Abhängigkeit des anderen und daraus erwuchs eine tiefgreifende Krise.“. 36 Dreher (Hrsg.), Aristoteles – Der Staat der Athener, Kap. 5 „Solchermaßen sah die Ordnung des Staates aus; insbesondere weil die Vielen von den Wenigen sklavisch abhängig waren, erhob sich das Volk gegen die Vornehmen. Da der Bürgerkrieg heftig war, 29 Nach
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Um diesen Missständen in antiker Zeit Abhilfe zu verschaffen, verfügte Solon37 die Aufhebung aller Schulden, welche Seisachtheia (Lastenabschüttelung) genannt wurde. Ziel dieser Maßnahme war die Sicherung des inneren Friedens.38 In der Athenaion Politeia heißt es zur Seisachtheia: „Nachdem Solon Herr über die Staatsangelegenheiten geworden war, befreite er das Volk für die Gegenwart und die Zukunft, indem er die Darlehen, für die mit dem eigenen Körper gehaftet wurde, verbot; er gab Gesetze und verfügte einen Erlaß der Schulden, sowohl der privaten als auch der öffentlichen; das wird Lastenabschüttelung (seisachtheia) genannt, da man tatsächlich eine drückende Last abschüttelte.“39. Unter Seisachtheia ist also die Annullierung sämtlicher Schulden und Lasten, welche die Abgabepflicht der Hektemoroi40 einschließen, zu verstehen.41 Auch die Überlieferungen Plutarchs stützen die These von der Seisachtheia. In Plutarchs Biographie des Solon finden sich folgende Worte: „Denn dies war seine erste politische Tat, daß er verordnete, daß alle bestehenden Schulden erlassen sein und daß in Zukunft niemand gegen Verpfändung des Leibes ein Darlehen geben sollte. […] Die meisten Autoren aber sagen, die Lastenabschüttelung sei eine Aufhebung der gesamten Schulden gewesen, und damit sind die Gedichte Solons besser im Einklang.“42 Die banale Bipolarität der oben beschriebenen Struktur – nämlich die hauptsächliche Verantwortlichkeit des Gegensatzes von Arm und Reich, der Wenigen und der Vielen für die gesellschaftlichen Krisen und Aufstände jener Zeit – wird heutigentags mittlerweile angezweifelt.43 Die Ziehung von Parallelen zwischen Gegenwart und antiker Vergangenheit ist kaum möglich und scheint artifiziell. Eine hohe Verbraucherentschuldung als Ursache für einen Bürgerkrieg auszumachen, ist mehr als spekulativ. Dennoch bereitet auch heute die Ver- und Überschuldung weiter Teile der Bevölkerung Probleme, die soziale Gräben vertiefen wählten sie, nachdem die Parteien sich lange Zeit bekämpft hatten, gemeinsam Solon zum Schiedsrichter und Archonten und übertrugen ihm die Staatsgewalt.“. 37 Solon war Gesetzgeber, Dichter, Feldherr des 6. vorchristlichen Jahrhunderts und einer der sieben Weisen des antiken Griechenlands; siehe Schubert, Solon, S. 71 ff. Vgl. auch S. 10 „Gleichzeitig wird er als einer der berühmten griechischen Weisen charakterisiert, die überregional in Griechenland, Kleinasien und Unteritalien als Ratgeber, Schlichter und Gesetzgeber tätig waren.“. 38 Welwei, Athen – Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, S. 163. 39 Dreher (Hrsg.), Aristoteles – Der Staat der Athener, Kap. 6. 40 Siehe zu den Hektemoroi Schubert, Solon, S. 31; Welwei, Athen – Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, S. 155 ff.; kritisch, die Existenz der Hektemoroi bezweifelnd Meier, HZ 294 (2012), 1, 29. 41 Welwei, Athen – Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, S. 162. 42 Abgedruckt in Ziegler (Hrsg.), Plutarch – Grosse Griechen und Römer, S. 227 f. 43 Dazu instruktiv Meier, HZ 294 (2012), 1, 2 f.; vgl. auch Schubert, Solon, S. 9, 28.
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und zu persönlicher Resignation und wirtschaftlicher Stagnation führen können. Damit geht oftmals die Gefahr einer nachhaltigen Schädigung des Wirtschaftskreislaufs, persistierender gesellschaftlicher Veränderung und latenter Erosion bestehender politischer und rechtlicher Errungenschaften einher. Letztlich muss konzediert werden, dass die Datenlage aber keinen definitiven Schluss auf die tatsächliche Historizität der Seisachtheia zulässt.44 Zwar wurde die Forderung nach einem generellen Schuldenerlass oft erhoben, aber in keinem historisch nachweisbaren Fall der Antike umgesetzt.45 Nichtsdestoweniger ist der Gedanke einer Entschuldung als Akt der Gerechtigkeit und darüber hinaus die Erkenntnis einer Entschuldungsoption als politische und gesellschaftliche Notwendigkeit, um Stabilität und harmonisches Fortbestehen einer Gemeinschaft zu sichern, richtungsweisend für heutige Rechtsordnungen.
III. Altes Testament Ferner finden sich auch im Alten Testament Vorschriften, die die Idee einer Schuldbefreiung aus sozialen Gründen aufgreifen.46 So heißt es in Ex. 21, 2: „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre Sklave bleiben, im siebten Jahr soll er ohne Entgelt als freier Mann entlassen werden.“47. Deutlicher wird dies noch in Lev. 25, 10 „Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr.“48 und v. a. Dtn. 15, 1 „Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr halten.“49. Obgleich diesen Regelungen ein Ausgleich der konträren Interessen immanent ist, zeigt sich deutlich die Priorisierung der schuldnerischen Freiheit gegenüber der uneingeschränkten Schadloshaltung der Gläubiger.50
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Schubert, Solon, S. 7, 38. Schubert, Solon, S. 38. 46 Siehe ausführlicher Bartels, KTS 2013, 349, 352; ferner Trinkner, BB 1992, 2441 f. 47 Bibel, Einheitsübersetzung (2016) Altes und Neues Testament, Ex. 21, 2. 48 Bibel, Einheitsübersetzung (2016) Altes und Neues Testament, Lev. 25, 10. In der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017, Lev. 25, 10 heißt es: „Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein.“. 49 Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017, Dtn. 15, 1. In der Einheitsübersetzung (2016) heißt es „In jedem siebten Jahr sollst du die Ackerbrache einhalten.“. 50 Dazu Hess, Insolvenzrecht, 2007, Vor § 1 Rn. 21. 45
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
IV. Römisches Privatrecht und gemeines Recht Im römischen Recht51 erlaubte die lex Iulia iudiciorum privatorum et publicorum des Kaisers Augustus dem Schuldner, sich mittels der Rechtsfigur der cessio bonorum52 (Güterabtretung) vor der Vollstreckung gegen die Person und auch vor der mit der Zahlungsunfähigkeit einhergehenden infamia zu schützen.53 Er trat den Gläubigern sein gesamtes noch vorhandenes wie auch zukünftiges Hab und Gut ab und konnte diesen später im Falle nicht vollständiger Befriedigung aus dem abgetretenen Vermögen entgegenhalten, dass er kein bedeutendes Vermögen erworben habe bzw. den Neuerwerb für den Unterhalt benötige (beneficium competentiae).54 Jedoch bedeutete dies neben der Vermeidung der Infamiefolgen und einer eventuellen Personalexekution keine Restschuldbefreiung.55 Das gemeine Recht übernahm schließlich die cessio bonorum und das beneficium competentiae. Dort stellte sich die cessio bonorum als Antrag des Schuldners auf Gewährung des beneficium competentiae dar. Eine Vollstreckung in den Neuerwerb war dann unzulässig, wenn dieser unerheblich war. Um Wirkungen des beneficium competentiae herbeizuführen, musste er jedoch der Schuld geständig oder bereits verurteilt und nicht durch eigenes Verschulden in den Zustand der Insolvenz geraten sein.56 Die Gewährung hing somit maßgeblich vom Verschulden, also der Böswilligkeit oder Leichtsinnigkeit des Schuldners hinsichtlich seiner Insolvenz ab. Wurde es aber bei unverschuldeter Insolvenz gewährt, konnte es den Gläubigern auch bei erheblichem Neuerwerb entgegengehalten werden.57 51 Umfänglich zur Insolvenz im klassischen römischen Recht, Kroppenberg, Die Insolvenz im klassischen römischen Recht, passim. 52 Vgl. Dig. 42, 3, 6; zur cessio bonorum siehe auch Bartels, KTS 2013, 349, 357 f.; Bayer, Theorie des Concurs-Procecces nach gemeinem Rechte, § 12 S. 27. 53 Apathy/Klingenberg/Pennitz, Einführung in das römische Recht, § 48 X 2; Kaser, in: Bengston/Otto/von Müller, Handbuch der Altertumswissenschaft, Band X 3.4, Das römische Zivilprozessrecht, S. 316, 406; Keller, Insolvenzrecht, Rn. 25, Paulus, JZ 2009, 1148, 1150. Das Stigma der infamia wurde aber später teilweise durch weitere ehrverletzende Prozeduren aufrechterhalten; weiter zur Infamie Becker, KTS 2008, 3, 7; Thole, JZ 2011, 765, 767; Uhlenbruck, DZWiR 2007, 1 f. 54 Zum Ganzen Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S.9 f.; Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 57 m. w. N.; Stephan, in: Kirchhof/ Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vor §§ 286 Rn. 44. 55 Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 14.1; ders., JZ 2016, 548 f. 56 Bayer, Theorie des Concurs-Processes nach gemeinem Rechte, § 12 S. 28. 57 Zum Ganzen Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 9 f.; Stephan, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vor §§ 286 Rn. 44.
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V. Hamburger Fallitenordnung In Art. 107 der Hamburger Fallitenordnung von 1753 wurde Schuldnern die cessio bonorum zugestanden, sofern sie einen unverschuldeten Vermögensverlust hinreichend dokumentierten.58 So hieß es: „Diese unglückliche, des Mitleidens werthe Personen sollen, wenn sie, oder ihre Curatores, uns ihren unverschuldeten Abgang der Nahrung klärlich documentieren werden, nicht nur ihre Güter, nach abgestattetem Eide, daß sie nichts verschwiegen, verhehlet, oder an die Seite gebracht haben, ihren Creditoribus zu völliger Abtragung aller ihrer Schulden cediren können, und damit von denselben ganz frey, los und entbunden seyn […].“59. Man unterschied zwischen dem unglücklichen und dem böshaften oder vorsätzlichen, leichtsinnigen Schuldner.60 Im Gegensatz zu vorsätzlich/ böswilligen Schuldnern, waren unglückliche Schuldner keiner späteren Nachforderung der Gläubiger mehr ausgesetzt. 1869 änderte sich dies insofern, als eine Schuldbefreiung leichtsinniger Schuldner an das Erreichen von bestimmten Mindestquoten geknüpft wurde, während die Privilegien der unglücklichen Schuldner entfielen und wegen betrügerischem Bankrotts oder Entweichung verurteilte Schuldner unbeschränkt weiterhafteten. Die damaligen Quoten erscheinen aus heutiger Perspektive sehr hoch: Je nach Klasseneinteilung der Gläubiger mussten 80 %, 60 % oder 40 % der Forderungen erfüllt worden sein.61
VI. Gesetz über eine Bereinigung alter Schulden Erwähnenswert ist ferner das „Gesetz über eine Bereinigung alter Schulden“ in den Fassungen vom 17. 08. 193862 und 03. 09. 194063.64 Es handelt sich dabei 58 Das beneficium competentiae fand sich nach Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 10 außerdem noch in weiteren Kodifikationen wie der Bremer Debitverordnung von 1843, der Lübecker Konkursordnung von 1862 und der Badischen Prozessordnung von 1831. In diesen Kodifikationen soll es jedoch nicht zur gänzlichen Schuldbefreiung geführt, sondern dem Schuldner vielmehr nur seinen notwendigen Unterhalt gesichert haben. 59 Art. 107 Der Stadt Hamburg neue Falliten-Ordnung, Auf Befehl E. Hochedl. Raths publicirt den 31. Aug. 1753, abrufbar unter http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/ dlf/63242/1/(zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 60 Uhlenbruck, DZWiR 2007, 1, 3. 61 Ausführlich zum freien Nachforderungsrecht in der Hamburger Fallitenordnung Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 11 f. 62 Gesetz über die Bereinigung alter Schulden vom 17. 08. 1938, RGBl. I, 1033. 63 Bekanntmachung einer Neufassung des Gesetzes über eine Bereinigung alter Schulden vom 03. 09. 1940, RGBl. I, 1209. 64 Ausführlich zum „Gesetz über eine Bereinigung alter Schulden“ Anlauf, Vorgänger der Restschuldbefreiung nach heutigem Insolvenzrecht, S. 309 ff.
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zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte um ein über berufsständische Schranken hinauswirkendes Schuldenregelungsgesetz, in dem konkrete Entschuldungsmaßnahmen zu finden sind.65 Es heißt dort u. a.: „Gläubiger und Schuldner sollen gemeinsam dahin wirken, daß die Belastung des Schuldners mit den alten Schulden seiner Leistungsfähigkeit angepaßt wird. Soweit der Schuldner eine alte Schuld nicht tilgen kann, soll der Gläubiger die Forderung als wertlos abschreiben.“66. Es wurde ein zweistufiges Verfahren eingeführt. Dieses bestand aus einem gütlichen Einigungsversuch (§ 4 des Gesetzes über eine Bereinigung alter Schulden i. d. F. vom 17. 08. 1938 bzw. § 11 i. d. F. vom 03. 09. 1940) mit den Gläubigern und – bei Scheitern des Einigungsversuchs – der Inanspruchnahme richterlicher Vertragshilfe (§ 5 des Gesetzes über eine Bereinigung alter Schulden bzw. § 12 i. d. F. vom 03. 09. 1940). Endete auch die vom Richter moderierte gütliche Schuldenbereinigung erfolglos, war eine zwingende Schuldenbereinigung nach den entsprechenden Vorschriften durchzuführen.67
B. Legislative Historie der Restschuldbefreiung in der Insolvenzordnung Anknüpfend an den den beschriebenen Vorläufern der Schuldbefreiung immanenten umfassenden Entschuldungsgedanken der vorherigen Säkula und Millenien, wurde das heutige System der Restschuldbefreiung in Deutschland (erst) im Zuge der Insolvenzrechtsreform eingeführt.
I. Reformgründe Die Restschuldbefreiung im deutschen Insolvenzrecht ist ein recht junges Institut,68 wenngleich die ersten Überlegungen zur Reformierung der Gesetzes65
Anlauf, Vorgänger der Restschuldbefreiung nach heutigem Insolvenzrecht, S. 309. Gesetz über die Bereinigung alter Schulden vom 17. 08. 1938, RGBl. I, 1033. 67 Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vor §§ 286 Rn. 50a. 68 Die Gesamtvollstreckungsordnung enthielt mit dem Vollstreckungshindernis des § 18 Abs. 2 Satz 3 einen Vorläufer der modernen insolvenzrechtlichen, schuldnerfreundlicheren Restschuldbefreiung. § 18 Abs. 2 Satz 3 GesO lautete: „Eine Vollstreckung findet nur statt, soweit der Schuldner über ein angemessenes Einkommen hinaus zu neuem Vermögen gelangt; dies gilt nicht, wenn der Schuldner vor oder während des Verfahrens vorsätzlich oder grob fahrlässig zum Nachteil seiner Gläubiger gehandelt hat.“. Im Einzelnen zu § 18 Abs. 2 Satz 3 GesO als Vorläufer der Restschuldbefreiung Köhler/Simokat, KTS 2017, 495, 514 – 516. 66
B. Legislative Historie der Restschuldbefreiung in der Insolvenzordnung
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lage bis ins Jahr 1978 zurückreichen.69 Wie bei vielen Reformen lag das Hauptaugenmerk auf einer Optimierung hinsichtlich der effizienten Verwirklichung der Verfahrensziele. Gordischer Knoten dieser Reform war wohl die unter dem Regime von Konkurs- und Vergleichsordnung herrschende Massearmut, aufgrund derer die weit überwiegende Mehrzahl der Verfahren mangels Masse nicht eröffnet werden konnten.70 Dies beschrieb prägnant das in aller Munde liegende geflügelte Wort vom „Konkurs des Konkurses“71. Hinzu kam, dass später oftmals die Einstellung des Verfahrens wegen mangelnder Verfahrenskostendeckung erfolgte.72 Ferner waren die durchschnittlichen Konkursquoten im Falle der Verteilung an die Konkursgläubiger sehr gering.73 Mangels Abwicklung der Insolvenzfälle in einem geordneten Verfahren konnte in der Vielzahl der Fälle das Ziel, eine gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung zu gewährleisten (par condicio creditorum), wie es später explizit in § 1 InsO kodifiziert wurde, nicht erreicht werden.74 So war es also ein besonderes Anliegen des Gesetzgebers, den Schuldnern, und darunter insbesondere den privaten Verbrauchern, deren besonders gravierende Überschuldungssituation immer mehr Aufmerksamkeit fand, den Weg zum Insolvenzverfahren mit einer erleichterten Möglichkeit der Insolvenzverfahrenseröffnung zu ebnen und den Makel des Konkurses zu überwinden.75 Zum einen war dies im Interesse der Gläubiger, zum anderen konn69 Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, § 2 Rn. 8; vgl. auch Keller, Insolvenzrecht, Rn. 51. Zur Orientierung am Recht der USA Smid, DZWiR 1997, 309. Zur Geschichte auch BT-Drucks. 12/2443, S. 102 ff. 70 BT-Drucks. 12/2443, S. 72: „In den letzten Jahren (1985 – 1990) wurden über 7 5 % der Konkursanträge mangels Masse abgewiesen.“. Vgl. auch Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, § 2 Rn. 8, § 11 Rn. 118; Reischl, Insolvenzrecht, § 1 Rn. 17, der außerdem mit folgenden Worten in Rn. 6 auf die Folgen der Insolvenz und daher auf die Notwendigkeit der Durchführung eines Insolvenzverfahrens hinweist: „In einem störungsanfälligen Umfeld gefährdet jeder Zahlungsunfähige auch andere Marktteilnehmer.“; Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vor §§ 286 Rn. 51. 71 Kilger, KTS 1975, 142 f. 72 Reischl, Insolvenzrecht, § 1 Rn. 17 spricht von 20 % der eröffneten Verfahren. 73 In BT-Drucks. 12/2443, S. 72 wird von einer Befriedigungsquote nicht bevorrechtigter Gläubiger von durchschnittlich 5 % ausgegangen; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, § 2 Rn. 8 spricht von Konkursquoten i. H. v. 3 %–5 %. 74 BT Drucks. 12/2443, S. 73; vgl. dazu auch Häsemeyer, Insolvenzrecht, S. 73: „Die rechtzeitige Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vor dem vollständigen Verfall des Schuldnervermögens ist das vorrangige Reformziel, auf das sich die seitherige Diskussion hat verständigen können.“. 75 Siehe Schmidt, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 1 Rn. 11: „Die Restschuldbefreiung ist zwar sozialpolitisch ein Verbraucheranliegen, aber rechtlich und rechtspolitisch nicht auf Verbraucher beschränkt.“; Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vor §§ 286 Rn. 51. Zum Makel des Konkurses Gerhard, in: Pawlowski/Wieacker (Hrsg.), FS Michaelis, S. 100 ff.
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te der Schuldner so von den mit Inkrafttreten der Insolvenzordnung geltenden Vorschriften zur Restschuldbefreiung profitieren.76
II. Inkrafttreten der Insolvenzordnung Erst im Jahre 1999 trat die Insolvenzordnung77 in Gänze78 und damit auch die Vorschriften über die Restschuldbefreiung und das Verbraucherinsolvenzverfahren gem. § 335 InsO i. d. F. vom 05. 10. 1994 i. V. m. Art. 110 EGInsO in Kraft,79 womit nun erstmals in der Bundesrepublik ein Verbraucherinsolvenz verfahren80 und eine kraft Gesetzes allgemeine Schuldbefreiung natürlicher Personen in einem ein subjektives Recht81 begründenden Verfahren möglich waren.82 Mit der Restschuldbefreiung wurde nun die Eigenverantwortlichkeit des Schuldners gefordert,83 aber auch gestärkt. Die Insolvenzordnung löste die im Rahmen der Reichsjustizgesetze am 10. 02. 1877 in Kraft getretene Konkursordnung84 sowie auch die Vergleichs-85 und die Gesamtvollstreckungsordnung86,
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BT-Drucks. 12/2443, S. 81. Bedeutung der rechtsgeschichtlichen Entwicklung Keller, Insolvenzrecht, Rn. 24: „Sie ist vielmehr letztes Glied einer Entwicklung des Insolvenzrechts, deren genauer Beginn wohl nicht datiert werden kann, der aber wie in vielen Fällen auch im römischen Recht zu suchen ist.“. 78 Bereits am 19. 10. 1994 traten die in § 110 EGInsO genannten Vorschriften in Kraft. 79 Insolvenzordnung vom 05. 10. 1994, BGBl. I S. 2866. 80 Einführend zur Geschichte des (Verbraucher-)Insolvenzverfahrens Graf-Schlicker/ Livonius, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz nach der InsO, S. 1 ff. 81 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 7 („subjektives Recht“); Henning, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 286 Rn. 1 („Rechtsanspruch auf Restschuldbefreiung“); einen solchen Anspruch wohl zwar konstatierend, ihn aber nicht als „klar“ bezeichnend Hergenröder, ZVI 2013, 129, 132; Pehl, in: Braun (Hrsg.), Insolvenz ordnung, § 286 Rn. 3 („subjektives Recht“); Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 286 a. F. Rn. 1, 2, 16 („Rechtsanspruch eines jeden insolventen Schuldners auf Restschuldbefreiung“); Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 286 Rn. 1 („Rechtsanspruch auf die Restschuldbefreiung“). 82 Vgl. Häsemeyer, Insolvenzrecht, S. 79. Zum unbeschränkten Nachforderungsrecht Menzinger, Das freie Nachforderungsrecht der Konkursgläubiger, passim. 83 Köhler/Simokat, KTS 2017, 495, 516 „Insofern ist durch die Einführung der Restschuldbefreiung die Eigenverantwortlichkeit des Schuldners erheblich gestärkt worden.“. 84 Konkursordnung vom 10. 02. 1877, RGBl. 351. 85 Vergleichsordnung vom 26. 02. 1935, RGBl. I, 321. 86 Gesamtvollstreckungsordnung i. d. F. vom 23. 05. 1991, BGBl. I, 1186. 77 Zur
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welche allesamt gem. Art. 2 EGInsO87 i. V. m. Art. 110 EGInsO mit Wirkung vom 01. 01. 1999 aufgehoben wurden, ab.88 Dadurch wurde die Koexistenz von Konkurs- und Vergleichsrecht beendet und ein für ganz Deutschland einheitliches Insolvenzverfahren eingeführt.89
III. Einführung der Kostenstundungsregelungen Ein zentrales Problem des Verbraucherinsolvenzverfahrens bestand im Fehlen expliziter Regelungen zur Prozesskostenhilfe und der Tragung von Prozesskosten.90 Dies führte u. a. dazu, dass einem erheblichen Teil der Schuldner mangels Aufbringen der Verfahrenskosten das Verfahren versperrt blieb.91 Ein weiterer Meilenstein im Recht der Restschuldbefreiung natürlicher Personen war deswegen die Einführung der Kostenstundung der §§ 4a ff. InsO als Sonderregelung zu den §§ 114 ff. ZPO mit Art. 1 Nr. 1 i. V. m. Art. 10 Satz 1 des Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetzes92 zum 01. 12. 2001, welche den Zugang zum Insolvenzverfahren einer breiten Masse an überschuldeten Personen erst ermöglichte.93
IV. Auswirkungen der Reform Bereits im ersten Jahr nach Inkrafttreten der InsO stieg die Zahl der Insolvenzverfahrenseröffnungen von 8.963 (1998) auf 12.255 (1999) stark an. Ferner hat auch die Einführung der Kostenstundungsregelungen eine deutliche Spur in der Insolvenzstatistik hinterlassen. Im ersten Jahr nach Einführung der Kostenstundungsregelungen stieg die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren wie87
Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung vom 05. 10. 1994, BGBl. I S. 2911. Zur Entwicklung des deutschen Insolvenzrechts am Beispiel der Wiedervereinigung Köhler/Simokat, KTS 2017, 495 ff. 89 Siehe dazu die Zielsetzung BT-Drucks. 12/2443, S. 1 und die Ausführungen auf S. 82 ff. 90 Kohte, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 4a ff. Rn. 2; vgl. auch Pape/ Haarmeyer, ZInsO 1999, 135 ff. 91 Zum Ausschluss völlig mittelloser Schuldner siehe BT-Drucks. 14/5680 S. 11. 92 Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze vom 26. 10. 2001, BGBl. I, 2710. 93 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 102 bezeichnet die Kostentragung als „Grundsatzentscheidung ersten Ranges“ für die Funktionsfähgikeit des neuen Insolvenzrechts und der Restschuldbefreiung. 88
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derum sprunghaft von 25.230 (2001) auf 61.691 (2002) an. Dies kann jedenfalls – auch unter Berücksichtigung konjunktureller Veränderungen – hinsichtlich der vormalig niedrigen Eröffnungszahlen als Indikator für den Erfolg der Reform gelten. Weiteres Datenmaterial belegt diese These. Während im Jahr 1999 12.255 eröffneten Insolvenzverfahren 21.542 mangels Masse abgelehnte Insolvenzverfahren gegenüberstanden, waren dies im Jahr 2017 104.287 eröffnete Verfahren gegenüber 9.456 mangels Masse abgelehnten Verfahren. Auffällig ist die mit der Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens stark gestiegene Anzahl nicht unternehmerischer Insolvenzen. 1999 gab es auf 34.038 Insolvenzen 26.476 Unternehmensinsolvenzen, während dies 2017 von insgesamt 115.632 Insolvenzen nur noch 20.093 waren.94 Folglich ist die vom Gesetzgeber erhoffte größere Nutzung des Insolvenzverfahrens, insbesondere von Verbrauchern, eingetreten.95 Diese Insolvenzstatistik spiegelt insofern die seit langem bestehende gesellschaftliche Realität, i. e. die hohe Zahl insolventer Verbraucher, wider, die mit Einführung der Kostenstundung nach den §§ 4a ff. InsO, des Verbraucherinsolvenzverfahrens und der Restschuldbefreiung zum ersten Mal Eingang in die Insolvenzstatistik als eigenständige Kategorie fand.96
V. Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte Ab ovo war die Länge der Abtretungsfrist Gegenstand kontroverser Debatten97. Die neueste Reform des Restschuldbefreiungsrechts kam mit dem „Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung 94 Alle Zahlen § 2. B. 4. stammen von https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ Indikatoren/LangeReihen/Insolvenzen/lrins01.html;jsessionid=10F0EC89B37A8 F5D9D2B86977251A85C.cae3 (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 95 Wenngleich von dieser Zahl (115.632) neben den Unternehmensinsolvenzen noch die vergleichsweise geringe Zahl der ehemals selbstständig Tätigen, die ein Regelinsolvenzverfahren durchlaufen (13.501), die Zahl der Nachlassinsolvenzen und Insolvenzen über ein Gesamtgut (3.248) sowie die Insolvenzen natürlicher Personen als Gesellschafter und Ähnlichem (514) abgezogen werden müssen, sodass sich die Zahl der Verbraucherinsolvenzen zusammen mit der Zahl der Insolvenzen von ehemals selbstständig Tätigen im Verbraucherinsolvenzverfahren im Jahr 2017 auf 78.276 beläuft; vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/UnternehmenHandwerk/Insolvenzen/ Tabellen/AnzahlderbeantragtenInsolvenzverfahren.html (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 96 So auch Keller, Insolvenzrecht, Rn. 22. 97 Siehe nur Bindemann, Handbuch Verbraucherkonkurs, S. 17: „Wird nicht zumindest die Treuhandphase noch vor Inkrafttreten des Gesetzes auf maximal vier Jahre begrenzt, wird die Verbraucherinsolvenzreform scheitern!“. Auf europäischer Ebene siehe S. 5 des Interinstitutionellen Dossiers: 2016/0359 (COD), Brüssel, den 24. Mai 2018 (OR. en),
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der Gläubigerrechte“ vom 15. 07. 201398, welches ausweislich seines Art. 9 am 01. 07. 2014 in Kraft trat und eine abgestufte Reduzierung der Abtretungsfrist gem. § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO mit sich brachte.99 Bereits davor wurde im Jahre 2001 die Abtretungsfrist in § 287 Abs. 2 InsO durch Art. 1 Nr. 15 lit. b des Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze von sieben Jahren auf im Regelfall sechs Jahre reduziert. Ziel dieser neuesten Gesetzesnovelle war die Schaffung von Anreizen für den Schuldner im Restschuldbefreiungsverfahren, damit dieser auf eine höhere Befriedigungsquote der Gläubigerforderungen hinwirkt.100
VI. Verordnung (EU) 2015/848 und Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final Die jüngsten und weitreichendsten Änderungen im Recht der Restschuldbefreiung kommen nicht etwa vom nationalen Gesetzgeber. Die Staatengemeinschaft hat schon seit längerem das weite Feld des Insolvenzrechts für sich entdeckt. Ein erster grundlegender Konsens war das Verbot der Schuldhaft in Art. 1 des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK, welcher gem. Art. 6 des Protokolls als Zusatzartikel zur EMRK gilt. Überdies enthält Art. 11 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ein Haftverbot bei Nichterfüllung vertraglicher Verpflichtungen. Auch die EU bewegt sich als supranationaler Gesetzgeber im Bereich des Insolvenzrechts. Dort gibt sie neuerdings vermehrt materielle Vorgaben und Vorschläge zu einzelnen Rechtsinstituten, darunter auch der Restschuldbefreiung. Von den v. a. die Restschuldbefreiung betreffenden Dokumenten der Union sind besonders die Verordnung (EU) 2015/848101 und der Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final102 hervorzuheben. Diesen beiden Unionsrechtsakten ist an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet.103 9236/18, JAI 488/JUSTCIV 121/EJUSTICE 61/ECOFIN 478/COMPET 359/EMPL 232/ SOC 295/CODEC 827. 98 Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. 07. 2013, BGBl. I, 2379. 99 Zu den sich daraus ergebenden Änderungen Ley, in: Runkel/Schmidt (Hrsg.), Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, § 16 Rn. 799a ff.; vgl. auch Schmerbach, NZI 2013, 566 ff. 100 BT-Drucks. 17/13535, S. 1. 101 Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 05. 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. L 141 v. 05. 06. 2015, S. 19 ff. 102 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, COM(2016) 723 final. 103 Siehe § 3 B. und § 4.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
VII. Fazit: Anfänge der Schuldbefreiung und legislative Historie der Restschuldbefreiung Wie gezeigt, hat die Idee einer gesetzlichen Schuldbefreiung eine historisch weit zurückreichende Tradition, wenngleich das freie Nachforderungsrecht104 der Gläubiger lange Zeit unabänderlicher Standard der meisten Rechtsregime war. Von einer Restschuldbefreiung im modernen Sinne kann man bei den historischen Vorläufern natürlich nicht sprechen und auch die Historizität ist in manchen Fällen nicht beweisbar.105 Sie geben aber jedenfalls zu erkennen, wie drängend die Überschuldung von Bevölkerungsteilen Gesellschaft und Politik beschäftigt hat und wie notwendig die Herbeiführung einer rechtsethisch nachvollziehbaren und praktikablen Lösung war. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen der Insolvenz für den Einzelnen kann man zu Recht von der Restschuldbefreiung als kultureller Errungenschaft sprechen.106 Das Verständnis der Wirkung des Konkurses als „Todesstrafe des Zivilrechts“ bzw. als „privatrechtliche Todesstrafe für unternehmerisches Fehlverhalten“ ist überholt.107 Dass die Entwicklung im nationalen Insolvenzrecht natürlicher Personen damit beendet ist, liegt eher fern. Allein aufgrund der langen Historie ist zu vermuten, dass es wohl nie möglich sein wird, eine völlig akzeptierte, die Zeiten und verschiedene gesellschaftliche Zustände überdauernde Schuldbefreiung zu etablieren. Auch die jüngste deutsche Geschichte zeigt steten normativen Wandel und gesetzgeberischen Aktionismus im Bereich der Restschuldbefreiung. Darüber hinaus indizieren neben den ständigen Novellierungsersuchen verschiedenster Interessengruppen und den sich erst nach einer kurzen Bewährungszeit abzeichnenden Monita verschiedene Evaluierungsvorschriften (z. B. Art. 107 EGInsO, Art. 90 EuInsVO, Art. 33 RL-V), dass selbst der Gesetzgeber davon ausgeht, pro futuro weitere Korrekturen vornehmen zu müssen.108 Diese werden sich zum größten Teil vermutlich darin erschöpfen, die unionsrechtlichen Vorgaben in das nationale Recht zu implementieren. Beruft sich die Union erst einmal auf eine Gesetzgebungskompetenz und nimmt sie ihre Zuständigkeit wahr, ist es sehr wahrscheinlich, dass noch weitere Rechtsakte ergehen. Gerade 104 Zum unbegrenzten Nachforderungsrecht gem. § 164 Abs. 1 KO Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 1 ff. 105 Bartels, KTS 2013, 349, 384 fasst die Unterschiede zwischen der Restschuldbefreiung und einigen historischen Vorläufern prägnant zusammen und bezeichnet erstere letztlich als „schwer verkraftbaren Fremdkörper“ im Privatrecht. 106 So Würdinger, KTS 2017, 445, 448. 107 Vgl. Uhlenbruck, NZI 1998, 1. 108 Pointiert ist bei Thole, JZ 2011, 765 m. w. N. in Fn. 2 von der „Dauerbaustelle Insolvenzrecht“ die Rede. Vgl. auch der Titel des Aufsatzes Pape, ZInsO 2011, 1 ff.: „Zum Fortgang der Arbeiten auf der Dauerbaustelle InsO“.
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken
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im diffizilen Insolvenzrechtsregime mit seinen mannigfaltigen Verknüpfungen zu anderen Rechtsgebieten werden weitere Anpassungsrechtsakte folgen müssen. Vor diesem Hintergrund kann auch die Aussage der Kommission auf S. 16 des RL-V gedeutet werden.109 Auch das Europäische Parlament macht in seinem Bericht zum Richtlinienvorschlag vom 21. 08. 2018 Andeutungen in Richtung einer stärkeren Fokussierung auf die Überschuldung von Verbrauchern.110 Diese könnte sich als Vorzeichen (aus Sicht mancher Interessengruppen wohl eher Menetekel)111 einer zukünftig zwingenden, unional koordinierten Verbraucher entschuldung erweisen.
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken Um die Wichtigkeit der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit zu illustrieren, ist das Phänomen Überschuldung zu illuminieren und mit entsprechenden Statistiken zu fundieren. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Entschuldung natürlicher Personen sind solche Ausführungen deswegen unabdingbar, weil sie Aufschluss über die gesellschaftspolitische, (gesamt)ökonomische, (psycho) soziale und personale Notwendigkeit eines Entschuldungsinstrumentariums bringen und die tatsächliche Umsetzung und Zweckerreichung der bestehenden Restschuldbefreiungsmechanismen hinsichtlich ihrer Effektivität und Effizienz kritisch beleuchten.
109 COM(2016) 723 final, S. 16: „Die Kommission wird weiter verfolgen, wie die Mitgliedstaaten ihre nationalen Rahmen reformiert haben, und überwachen, wie sie diese besondere Bestimmung des Vorschlags zur zweiten Chance umsetzen, um die Situation der Überschuldung der Verbraucher zu überprüfen.“. Siehe ferner Art. 33 RL-V. Vgl. darüber hinaus auch Änderungsantrag 6 zu Erwägungsgrund 7 auf S. 10 des Berichts (A8 – 0269/2018) vom 21. August 2018 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (COM(2016)0723 – C8 – 0475/2016 – 2016/0359(COD)), abrufbar unter http://www.europarl. europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A8 – 2018 – 0269+0+ DOC+XML+V0//DE (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018): „Gleichzeitig würde mit einer weitergehenden Harmonisierung einem gemeinsamen EU-Handelsrecht zusätzlich Vorschub geleistet.“. 110 Vgl. Änderungsantrag 12 zu Erwägungsgrund 15 a auf S. 13 und Änderungsantrag 40 zu Erwägungsgrund 47 a auf S. 40 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 109). 111 Es ist davon auszugehen, dass eine unional koordinierte Verbraucherentschuldung vor allem Verbraucherinteressen betont. Insofern sind opponierende Interessengruppen leicht vorstellbar.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Die Überschuldung natürlicher Personen ist keineswegs nur ein Randphänomen der Gesellschaft, sondern zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Strukturen und tritt in einem frappierend hohen Maße auf. Es bedarf einer Durchdringung und Analyse der Überschuldungsursachen, um diese zu verstehen, zu vermeiden und der Folgen der Überschuldung Herr zu werden. Nach einer Erläuterung des Begriffes „Überschuldung“ sind die Folgen derselben zu eruieren und es ist eine evidenzbasierte Betrachtung der quantitativen Aspekte des Phänomens Überschuldung vorzunehmen. Da Insolvenz und Überschuldung Hand in Hand gehen und erstere nicht selten bei Vorliegen von letzterer eintritt, können auch die Insolvenzstatistiken für das Verständnis der Überschuldunglage in Deutschland fruchtbar gemacht werden. Diese bieten Anhaltspunkte und tragen zur Beurteilung bei, inwiefern den konträren Interessen von Schuldner und Gläubigern jeweils ausreichend Rechnung getragen wurde. Sie können die Basis für zukünftiges rechtspolitisches Agieren bilden und als Ausgangspunkt für Lösungsvorschläge dienen.112
I. Phänomen Überschuldung Überschuldung ist nicht mit Verschuldung113 gleichzusetzen. Überschuldung liegt nach Grote vor, „wenn nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten der verbleibende Einkommensrest nicht mehr zur Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen reicht.“114. Im dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es: „Ein Privathaushalt ist dann überschuldet, wenn 112 Ähnlich Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5, S. 3: „Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können dazu beitragen, Lösungsvorschläge zu entwickeln, wie Überschuldungssituationen zu verhindern sind oder wie sich Wege aus einer schwierigen finanziellen Situation finden lassen.“, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/EinkommenKonsumLebensbedingungen/Ueberschuldung/Ueberschuldung2150500167004.pdf?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 113 Verschuldung meint nach BT-Drucks. 18/11980, S. 331 nur die vorübergehenden Schuldensituation im Rahmen des normalen wirtschaftlichen Verhaltens privater Haushalte. 114 Grote, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 286 ff. Rn. 3. Im Schuldner Atlas Deutschland 2018 liest man zur Überschuldung unter „Wichtige Definitionen – Ansatz und Basisbegriffe“: „Überschuldung liegt dann vor, wenn der Schuldner die Summe seiner fälligen Zahlungsverpflichtungen mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht begleichen kann und ihm zur Deckung seines Lebensunterhaltes weder Vermögen noch Kreditmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Oder kurz: Die zu leistenden Gesamtausgaben sind höher als die Einnahmen.“, abrufbar unter https://www.creditreform.de/fileadmin/user_upload/crefo/download_de/news_termine/wirtschaftsforschung/ schuldneratlas/Analyse_SchuldnerAtlas_2018.pdf (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). Weitere Definitionsversuche listen Reill-Ruppe, Anspruch und Wirklichkeit des Rest-
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken
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Einkommen und Vermögen aller Haushaltsmitglieder über einen längeren Zeitraum trotz Reduzierung des Lebensstandards nicht ausreichen, um fällige Forderungen zu begleichen.“115. 1. Statistischer Befund
Laut dem SchuldnerAtlas Deutschland sind im Jahr 2018, basierend auf einer Hochrechnung, 6,93 Millionen Menschen (i.e. 3,46 Millionen Haushalte) in Deutschland überschuldet, was einer Überschuldungsquote von 10,04 % entspricht. Die Überschuldungsquote verharrt seit dem Jahr 2004 konstant im Bereich zwischen 9,09 % und 10,85 %.116 Auch die Statistik zur Überschuldung privater Personen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2018117 liefert grobe Anhaltspunkte für eine Analyse und kritisch-konstruktive Betrachtung der Überschuldungslage in Deutschland. Obschon die Repräsentativität der Statistik eingeschränkt ist, lassen sich mehr oder weniger valide Tendenzaussagen treffen.118 Nach der Statistik betruschuldbefreiungsverfahrens, S. 34 f. und Schröder, Überschuldung privater Haushalte und die Möglichkeit der Restschuldbefreiung, S. 51 ff. auf. 115 Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008, S. 49, abrufbar unter http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/ forschungsprojekt-a333-dritter-armuts-und-reichtumsbericht.pdf;jsessionid=3CB19B442EB51791044C6F081DD6A7E1?_ _blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). Im fünten Armuts- und Reichtumsbericht vom 13. 04. 2017, BT-Drucks. 18/11890, heißt es auf S. 331: „Im vorliegenden Bericht gelten Privathaushalte als überschuldet, wenn ihre wirtschaftliche Situation durch konkrete Anzeichen einer verfestigten, kaum noch handhabbaren Schuldensituation gekennzeichnet ist und sie Zahlungsverpflichtungen dauerhaft nicht erfüllen können. Damit wird Überschuldung klar von vorübergehenden Schulden im Rahmen des normalen wirtschaftlichen Verhaltens privater Haushalte abgegrenzt.“, abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811980.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 116 SchuldnerAtlas Deutschland 2018 (Fn. 114), S. 68 Tab. 19. 117 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5, abrufbar unter https://www.destatis. de/DE/Publikationen/Thematisch/EinkommenKonsumLebensbedingungen/Ueberschuldung/Ueberschuldung2150500177004.pdf?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 118 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 3, 30: „In Deutschland gibt es rund 1.400 Schuldnerberatungsstellen, die unter der Trägerschaft der Verbraucherund Wohlfahrtsverbände oder der Kommunen stehen bzw. Mitglied in einem der Verbände sind. Für das Berichtsjahr 2017 haben 528 Beratungsstellen teilgenommen und die Angaben von rund 127.000 Personen bereitgestellt. Diese Daten werden in die Aufbereitung einbezogen und liegen den Tabellen zugrunde. Es nehmen nicht alle Beratungsstellen in Deutschland an der Erhebung teil und die Beteiligung fällt regional sehr unterschiedlich aus. Dies schränkt die Repräsentativität der Ergebnisse der Überschuldungsstatistik ein. […] Da einerseits viele Personen die Dienste von Schuldnerberatungsstellen nicht in An-
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gen die durchschnittlichen Schulden aller beratenen Personen im Jahre 2017 30.117 Euro.119 Die fünf anteilig stärksten Ursachen von Überschuldung waren Arbeitslosigkeit (20,6 %), Trennung/Scheidung/Tod des Partners (13,3 %), Erkrankung/Sucht/Unfall (15,1 %), unwirtschaftliche Haushaltsführung (12,3 %) und gescheiterte Selbstständigkeit (8,3 %). Der Anteil allein dieser Hauptüberschuldungsgründe an allen Überschuldungsursachen betrug 69,6 %.120 58,3 % der beratenen Personen haben weniger als 10, 26,2 % haben zwischen 10 und 20 und 15,5 % der Schuldner haben 20 oder mehr Gläubiger.121 Zu den Gläubigern gehören zu 70 % Kreditinstitute, zu 31,5 % Versicherungen, zu 26,4 % Versandhäuser, zu 64,8 % öffentliche Gläubiger, zu 25,4 % Energieunternehmen, zu 47,8 % Telekommunikationsunternehmen, zu 34,8 % Gewerbetreibende und zu 21,2 % Vermieter.122 In 46,1 % der Fälle (bezogen auf 314.665 beratene Personen) wurde die Schuldenberatung ohne Insolvenzverfahren durchgeführt.123 In 35,1 % der nicht abgeschlossenen Fälle begleiteten die Schuldnerberatungsstellen den außergerichtlichen Einigungsversuch; in 20,1 % der beendeten Verfahren wurden die Schulden außergerichtlich reguliert.124 2. Kredite und Restschuldversicherungen
In der Peripherie der Überschuldungsthematik darf auch ein Blick auf die Kreditsituation in Deutschland nicht fehlen. Bis zum Jahresende 2017 gab es ca. 18 Millionen Ratenkredite; die individuelle Kreditschuld125 stieg nicht unspruch nehmen, obwohl sie überschuldet sind, und andererseits nicht alle Beratungsfälle zwangsläufig überschuldet sein müssen, kann die Statistik keinen Beitrag zur Gesamtzahl der überschuldeten Personen oder Haushalte leisten. Außerdem gibt es neben den in der Überschuldungsstatistik erfassten Schuldnerberatungsstellen auch andere Einrichtungen oder Dienstleister, die Beratungen durchführen sowie Bescheinigungen für das Scheitern außergerichtlicher Einigungsversuche ausstellen und danach das Insolvenzverfahren begleiten können. Hierzu zählen bspw. Sozialämter sowie Rechtsanwälte oder Steuer- und Wirtschaftsberater.“. 119 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 5. 120 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 8. Die Angaben beziehen sich nur auf Beratungsfälle mit Angaben zum Hauptauslöser der Überschuldung. 121 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 10. 122 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 12. 123 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 21 124 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 5 (Fn. 117), S. 21 f. 125 Nach dem iff-Überschuldungsreport 2018, S. 16 Fn. 17, abrufbar unter https://www. iff-ueberschuldungsreport.de/media.php?id=5331 (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019) umfasst die Kreditschuld „die sich aus allen bestehenden Verpflichtungen ergebende durchschnittliche Restschuld derjenigen Personen im SCHUFA-Bestand, die (mindestens) einen Ratenkredit aufgenommen haben. Hypothekarkredite und Leasingverträge sind hierbei nicht einbezogen.“.
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wesentlich an.126 Zu beachten ist aber, dass mit 97,8 % eine sehr hohe Anzahl von Verträgen vertragsgemäß bis zum Stichtag (31. 12. 2017) zurückgezahlt wurde.127 Belastbare Zahlen zu Restschuldversicherungen existieren nicht. Jedenfalls ist durch sie eine Verteuerung der Kredite zu konstatieren.128 Ferner indiziert die Studie des Bankenfachverbandes e. V. zu Restkreditversicherungen – wenngleich diese nicht statistisch repräsentativ ist – zumindest eine hohe Zahl an in Umlauf befindlichen Restschuldversicherungen.129 Allgemein ist deren Sinn insofern in Frage gestellt, als das Ausfallrisiko bei lediglich 2,2 % lag, wohingegen der Provisionsanteil und die Kosten derselben relativ hoch sind.130 3. Folgen von Überschuldung
„Menschen, die sich in einer Überschuldungssituation oder in einer Privat insolvenz befinden, stehen vor einer Vielzahl an Herausforderungen, die nicht nur rechtlicher Natur sind. Sie erleben ökonomische Einbußen, finanzielle Einschränkungen und sind darüber hinaus mit massiven Veränderungen und Einschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit in ihrem Lebensumfeld konfrontiert.“131. Die mannigfaltigen Konsequenzen132 der Überschuldung bedingen sich gegenseitig und stehen untereinander in einem interdependenten Verhältnis. a) Gesellschaftspolitische Aspekte
Überschuldung ist ein Massenphänomen. Sie zeitigt viele individuelle aber auch gesamtstaatliche Folgen. Aus der historischen Analyse zeigt sich, wie eine zunehmende Überschuldung großer Bevölkerungsteile zu Spannungen und 126
Siehe iff-Überschuldungsreport 2018 (Fn. 125), S. 16. Siehe iff-Überschuldungsreport 2018 (Fn. 125), S. 17. 128 Siehe iff-Überschuldungsreport 2018 (Fn. 125), S. 17 f. 129 Nach der Marktstudie Konsum- und Kfz-Finanzierung 2018 des Bankenfachverbandes e. V. haben ca. 32 % der Ratenkreditnutzer im Zeitraum 09. 07. 2018 – 29. 07. 2018 eine Restkreditversicherung abgeschlossen, abrufbar unter https://www.bfach.de/media/ file/24871.Marktstudie_2018_Konsum-Kfz-Finanzierung_BFACH.pdf auf S. 44 (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 130 Tiffe, VuR 2018, 81. 131 So zur Überschuldung der „Mittelschicht“ SchuldnerAtlas Deutschland 2017, S. 48, abrufbar unter https://www.creditreform.de/fileadmin/user_upload/crefo/download_de/ news_termine/wirtschaftsforschung/schuldneratlas/2017_Analyse_SchuldnerAtlas.pdf (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 132 Zu den Folgen der Überschuldung auch Reill-Ruppe, Anspruch und Wirklichkeit des Restschuldbefreiungsverfahrens, S. 43 ff. und Schröder, Überschuldung privater Haushalte und die Möglichkeit der Restschuldbefreiung, S. 85 ff. 127
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schließlich Unruhen führen kann. Die vertieften Gräben zwischen Reichen und Armen befördern die Destabilisierung der Gesellschaft und führen zur Erosion der staatlichen Werte- und Rechtsordnung. Insbesondere Kinder leiden unter den Folgen der Überschuldung.133 Der Gesetzgeber hat die grassierende Problematik erkannt und stellt sich mit verschiedenen Gesetzen und Gesetzgebungsvorhaben dieser gesellschaftspolitischen Verantwortung. b) (Gesamt)ökonomische Aspekte
Der hohe Schuldenstand der Haushalte führt zu großen Verlusten der Gläubiger und kann Kaskadeneffekte begünstigen, die sich darin äußern, dass ihrerseits auf die Begleichung von Rechnungen angewiesene Gläubiger selbst in die Überschuldung und Insolvenz geraten. Überdies sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen notleidender Kredite nicht zu vernachlässigen. Auch die mangelnde Fähigkeit zum Abführen von Steuern und Sozialabgaben beschwert den Staatshaushalt. Dazu kommt eine signifikante Zunahme von stressinduzierten Krankheiten, zu denen teils physische Erkrankungen dazutreten und so zu höheren Kosten der Gesundheitssysteme führen.134 Außerdem haben Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft in dem Maße Auftrieb, als es natürlichen Personen auf Dauer nicht gelingt, aus der Schuldenfalle bzw. dem „Schuldturm“ zu entkommen.135 Spiegelbildlich dazu vermeiden potentiell erfolgreiche Personen die Gründung einer selbstständigen Existenz.136 c) (Psycho)soziale und personale Aspekte
Daneben führt die Überschuldung zu psychosozialer und personaler Destabilisierung.137 Sie ist finanzielle Notlage und tiefe Krise138 und bedingt einen Rückgang sozialer und individueller Partizipation. Ehemals autonom agierende Personen sehen sich Restriktionen ihrer Selbstverantwortung und Eigenständigkeit ausgesetzt und müssen sich insbesondere mit dem Beginn der Insolvenz zahlreichen und anfänglich schwer zu durchdringenden Verhaltensanforderun133
BT-Drucks. 17/12650, S. 248. BT-Drucks. 17/12650, S. 247: „Mehrere Untersuchungen zeigen dabei, dass bei ökonomischem Stress vermehrt physische Krankheitserscheinungen wie Herz-Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen, Magenprobleme, Schwindelanfälle sowie verstärkter Alkohol- und Zigarettenkonsum auftreten. Gleichzeitig wird eine Zunahme von Depressionen beobachtet. Ökonomischer Stress kann sich ebenso auf die Aggressionsbereitschaft auswirken und damit die sozialen Beziehungen belasten, in denen überschuldete Menschen leben.“. 135 BT-Drucks. 12/2443, S. 81. 136 BT-Drucks. 12/2443, S. 81. 137 Vgl. BT-Drucks. 17/12650, S. 247. 138 Siehe iff-Überschuldungsreport 2018 (Fn. 125), S. 6. 134
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gen und limitierenden Regelungen unterwerfen.139 Lebensgewohnheiten müssen geändert und Wertkonzepte ggf. revidiert oder abgeändert werden. Dies setzt ein hohes Adaptionsvermögen voraus.140 Es ist eine persönliche und soziale Neuorientierung erforderlich, um die Überschuldung zu überwinden und adäquate Handlungsstrategien zur Restitution der Handlungsfähigkeit zu entwickeln.141 Das Arbeitsverhältnis ist gefährdet, obschon in den seltensten Fällen beim Vorliegen von Pfändungen eine Kündigung sozial gerechtfertigt ist.142 Ferner drohen häufig Eheprobleme143, Kriminalität, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit, Sucht und Sozialhilfebezug.144 Trotz der rechtssystematischen Entwicklung der Insolvenz im Fluss der Zeit und des damit einhergehenden schrittweisen Zurückdrängens des Stigmas der Infamia bis zum heutigen Zeitpunkt, werden überschuldete oder insolvente Schuldner in der Bevölkerung durchaus noch stigmatisiert und müssen um ihre sozialen Beziehungen bangen.145 So tritt neben die Angst um die wirtschaftliche Existenz die Furcht vor sozialer Isolation und ein beständiges Hinterfragen der eigenen Identität.146 Aus diesen drei Faktoren resultiert nicht zuletzt die Wahrnehmung der Privatinsolvenz als einschneidendes, schwerwiegendes Lebensereignis.
II. Insolvenzstatistiken Um die Dimension und reale Sprengkraft des Phänomens Überschuldung im Zusammenspiel mit Insolvenz und Restschuldbefreiung zu begreifen, ist ein illustrativer Blick auf die Insolvenzstatistik147 gewinnbringend.148 Diese indiziert mittelbar die Lage der Gesamtwirtschaft und dient insofern als konjunktureller 139
Siehe SchuldnerAtlas Deutschland 2017 (Fn. 131), S. 48 SchuldnerAtlas Deutschland 2017 (Fn. 131), S. 55 141 Siehe SchuldnerAtlas Deutschland 2017 (Fn. 131), S. 49 142 BAG, Urt. v. 04. 11. 1981 – 7 AZR 264/79 = NJW 1982, 1062 f.; Stöber, Forderungspfändung, Rn. 934. 143 Möller, Schulden der Verbraucher, S. 17. 144 Grote, in: in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 286 ff. Rn. 8. 145 Zur Stigmatisierung unternehmerischen Scheiterns siehe KOM(2007) 584 endg. 146 Siehe SchuldnerAtlas Deutschland 2017 (Fn. 131), S. 53, 56. 147 Bereits im Lehrbuch des Deutschen Konkursrechts von Ernst Jaeger aus dem Jahre 1931 finden sich die Konkursstatistiken von 1914 – 1930, Jaeger, Lehrbuch des Deutschen Konkursrechts, § 4 II. 148 Kritisch zur Aussagekraft der Insolvenzstatistik Keller, Insolvenzrecht, Rn. 22. Auf die Notwendigkeit von Realanalysen hinweisend Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 219. 140 Siehe
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Spätindikator.149 Ausgehend von der legislatorischen Intention des Gesetzgebers kann eine ständige, kritische Reflexion erfolgen, welche die Aufdeckung von Fehlentwicklungen erleichtert und so normative Korrekturen ermöglicht. Gerade die Erfolgswirksamkeit verschiedener Anreizmodelle mit unterschiedlich hohen Mindestbefriedigungsquoten sowie die tatsächliche Nutzung der Schuldbefreiungsoptionen kann durch die Statistik evaluiert und bei Bedarf überdacht werden. Der ohne empirische Daten schwer einzuschätzende Spagat zwischen höchstmöglicher Gläubigerbefriedigung und rascher Schuldbefreiung kann nur durch permanente Reflexion, allmähliche Annäherung und Neujustierung des Rechts – sprich Versuch und Irrtum –150 gelingen. Bei der Zusammenschau und Interpretation der Statistiken muss aber dem Umstand Beachtung gezollt werden, dass erst ab 1999151 ein einheitliches Insolvenzrecht mit Inkrafttreten der Insolvenzordnung gilt und dass weitere Reformgesetze 2001152 , 2012153 und 2014154 in Kraft traten, die die Insolvenzordnung in nicht unerheblichem Maße novellierten. Vor diesem Hintergrund ist die statistische Vergleichbarkeit mit früheren Jahren limitiert. Im Allgemeinen besteht ein deutliches Defizit an rechtstatsächlichem Datenmaterial, insbesondere im Bereich der Restschuldbefreiung und deren Implikationen.155 Eingedenk dieses Mangels hat der Gesetzgeber auf die Einführung des Insolvenzstatistikgesetzes156 gepocht,157 welches nach den Artt. 7 und 10 149
Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, Rn. 1891 – 1906. „Diese Lösung des Induktionsproblems führt zu einer neuen Theorie der Methode der Wissenschaft: zu einer Analyse der kritischen Methode, der Methode von Versuch und Irrtum. Es ist die Methode, kühne Hypothesen aufzustellen und sie der schärfsten Kritik auszusetzen, um herauszufinden, wo wir uns geirrt haben.“, Popper, Ausgangspunkte – Meine intellektuelle Entwicklung, S. 118. 151 Siehe § 2. B. II. 152 Siehe § 2. B. III. 153 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 07. 12. 2001, BGBl. I, S. 2582. 154 Siehe § 2. B. V. 155 BT-Drucks. 17/13535, S. 28: „Da valide Zahlen über die Befriedigungsquoten von Gläubigern unter Einbezug der Restschuldbefreiungsphase nicht existieren […].“; ferner vgl. auch S. 30 „In Deutschland stehen derzeit keine Daten über die Höhe der möglicherweise nach Einführung eines Anreizsystems erreichbaren Befriedigungsquoten zur Verfügung.“. BT-Drucks. 17/11268, S. 14: „In Deutschland sind bislang keine validen Aussagen über die Höhe der tatsächlich erzielten Befriedigungsquoten nach Erteilung der Restschuldbefreiung verfügbar.“. Ferner vgl. auch Baczanko, ZVI 2013, 209, 210: „Das der Diskussion anhaftende Defizit an empirischen Grundlagen […].“. 156 Gesetz über die Insolvenzstatistik (Insolvenzstatistikgesetz – InsStatG) vom 07. 12. 2001, BGBl. I, S. 2589. 157 BT-Drucks. 17/7511, S. 1: „Weiterhin wird das Recht der Insolvenzstatistik neu geordnet, damit in Zukunft belastbare Angaben über die finanziellen Ergebnisse und den Ausgang von Insolvenzverfahren vorliegen.“. 150
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken
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des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 07. 12. 2011158 mit Wirkung vom 01. 01. 2013 eingeführt wurde.159 Im April 2016 wurden nunmehr erstmalig für das Jahr 2013 Ergebnisse der Statistik über beendete Insolvenzverfahren und Restschuldbefreiung veröffentlicht.160 Aufgrund der Konzeption als Vollerhebung sind die Ergebnisse der Statistik als präzise einzustufen.161 Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die vorhandenen, für die Restschuldbefreiung natürlicher Personen relevanten Daten gegeben werden. 1. Eröffnete Insolvenzverfahren
In den Jahren ab 2010 (und schon ab 2005) wurden jedes Jahr mehr als 100.000 Insolvenzverfahren (ohne Unternehmensinsolvenzen, deren Zahl sich im betrachteten Zeitraum ab 2010 von 31.998 auf 20.093 jährlich reduziert hat) eröffnet (zwischen 104.287 und 153.549); nur ein kleiner Teil wurde mangels Masse abgelehnt, wobei diese Zahl seit dem Jahr 2010 rückläufig ist (zwischen 9.456 im Jahr 2017 und 12.770 im Jahr 2010). Die Verbraucherinsolvenzen einschließlich der Insolvenzen ehemals selbstständig Tätiger im vereinfachten Verfahren betrugen 2015 82.028 (80.146+6.882), 2016 84.170 (77.238+6.932) und 2017 78.276 (71.896+6.380).162 Von Interesse ist besonders die Zahl der angenommenen Schuldenbereinigungspläne, die ab dem Jahr 2010 jährlich im Bereich zwischen 1.716 bis 2.139 lag.163
158 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 07. 12. 2001, BGBl. I, S. 2582. 159 Näher zum Insolvenzstatistikgesetz Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, Rn. 1895 ff. 160 Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/UnternehmenHandwerk/Insolvenzen/Methoden/BeendeteInsolvenzverfahren. html (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 161 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 2 Reihe 4. 1. 1, Anhang 1 – Glossar S. 9, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/UnternehmenHandwerk/Insolvenzen/BeendeteInsolvenzverfahren20204111670 04.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019). 162 Alle Angaben dieses Abschnitts (§ 2 C. II. 1.) ohne weiteren Verweis sind https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Insolvenzen/lrins01.html;jsessionid=10F0EC89B37A8F5D9D2B86977251A85C.cae3 und https://www.destatis. de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/UnternehmenHandwerk/Insolvenzen/ Tabellen/AnzahlderbeantragtenInsolvenzverfahren.html (beide zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019) entnommen. 163 Siehe https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Insol venzen/lrins01.html;jsessionid=10F0EC89B37A8F5D9D2B86977251A85 C.cae3 (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019).
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
2. Deckungsquoten und Gesamtbefriedigungsquoten
Die durchschnittliche Deckungsquote (im engeren Sinne) in Insolvenzverfahren, die sich als Anteil des zur Verteilung verfügbaren Betrages an den quotenberechtigten Forderungen ergibt, betrug in denjenigen Insolvenzverfahren, welche im Jahr 2012 eröffnet und bis Ende 2016 beendet wurden, 2,6 %.164 Dabei standen 320 Millionen Euro als verfügbarer Betrag 12,4 Milliarden Euro an quotenberechtigten Forderungen gegenüber, was einen Verlust165 der Gläubiger von 12,1 Milliarden Euro bedeutete. Im Gegensatz zu Unternehmensinsolvenzverfahren (4,1 %)166 war die Deckungsquote bei Verbraucherinsolvenzen noch einmal erheblich geringer, nämlich 1,5 %167. Die Deckungsquote in vereinfachten Verfahren von ehemals selbstständig Tätigen betrug noch einmal weniger, nur 0,4 %168. Betrachtet man die Deckungsquoten in Verfahren anderer natürlicher Personen und ehemals selbstständig Tätiger im Regelinsolvenzverfahren, so sind diese mit knapp einem Prozent169 auch sehr gering. In dem jüngsten Bericht der Bundesregierung über die Wirkungen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte geht die Bundesregierung von Gesamtbefriedigungsquoten nach altem Recht (d. h. vor Inkrafttreten des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO) i. H. v. 7,87 % aus, wovon 5,93 % auf die Befriedigung im Rahmen des Restschuldbefreiungsverfahrens entfallen.170 Demgegenüber konnten nach neuem Recht gem. § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO durch Erteilung einer vorzeitigen Restschuldbefreiung durchschnittlich 46,4 % erreicht werden.171 Wie die Deckungsquoten differiert auch die Verfahrensdauer von Verbraucher- und Unternehmensinsolvenzen signifikant. Lediglich 57,7 % der im Jahr 164 Demgegenüber beschreibt die Deckungsquote im weiteren Sinne den Anteil der Summe aus den befriedigten Absonderungsrechten und dem zur Verteilung verfügbaren Betrag an den Forderungen, welche wiederum der Summe aus befriedigten Absonderungsrechten und quotenberechtigten Forderungen entsprechen. Die quotenberechtigten Forderungen enthalten die nicht befriedigten Absonderungsrechte. Die Deckungsquote im weiteren Sinne im Zeitraum 2012 – 2016 betrug 5,6 %. 165 Der Verlust errechnet sich als Differenz zwischen den quotenberechtigten Forderungen und dem zur Verteilung verfügbaren Betrag. 166 Deckungsquote im weiteren Sinne: 8,9 %. 167 Deckungsquote im weiteren Sinne: 2.7 %. 168 Deckungsquote im weiteren Sinne: 0,6 %. 169 Deckungsquote im weiteren Sinne für natürliche Personen als Gesellschafter u. A.: 3,0 %; für ehemals selbstständig Tätige mit Regelinsolvenzverfahren: 3,5 %. 170 Weiter dazu BT-Drucks. 19/4000, S. 6 f. 171 Wenngleich nur weniger als 2 % der Schuldner eine Restschuldbefreiung nach drei Jahren erteilt wurde, vgl. BT-Drucks. 19/4000, S. 5 f.
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken
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2012 eröffneten Unternehmensinsolvenzverfahren konnten bis zum Ende des Jahres 2016 abgeschlossen werden. Dem standen 95 % beendete Insolvenzverfahren von Verbrauchern und 94,6 % beendete vereinfachte Verfahren über das Vermögen von ehemals selbstständig Tätigen gegenüber. Ferner wurden 84,2 % der Regelinsolvenzverfahren von ehemals selbstständig Tätigen und 74,6 % der Insolvenzverfahren natürlicher Personen als Gesellschafter u. Ä. beendet.172 3. Beendete Insolvenzverfahren und Art der Beendigung
Weiterhin sind die Daten über die Beendigung von Insolvenzverfahren von erheblichem Interesse. Von 137.655 im Jahre 2012 eröffneten Insolvenzverfahren wurden bis Ende 2016 120.850 Insolvenzverfahren beendet, wovon 97 durch die Zustimmung der Gläubiger (nach § 213 InsO) und 326 durch rechtskräftigen Insolvenzplan beendet wurden. Dabei handelte es sich um 12.288 beendete Unternehmensinsolvenzverfahren und um 90.795 beendete Verbraucherinsolvenzverfahren, neben die noch einmal 4.739 beendete vereinfachte Insolvenzverfahren von ehemals selbstständig Tätigen traten. Außerdem wurden 11.166 Regelinsolvenzverfahren ehemals selbstständig Tätiger und 820 Verfahren natürlicher Personen als Gesellschafter u. Ä. beendet. Die Verfahrensbeendigung durch Zustimmung der Gläubiger trat bei Unternehmen in 23 Fällen ein, während dies bei Verbrauchern in 59 Fällen und bei ehemals selbstständig Tätigen im vereinfachten Verfahren nur dreimal der Fall war. Auch der Insolvenzplan wurde im Verbraucherinsolvenzverfahren wenig genutzt. Während 235 Unternehmensinsolvenzverfahren durch rechtskräftigen Insolvenzplan beendet wurden, wurden lediglich zehn Insolvenzverfahren von Verbrauchern und nur eines von ehemals selbstständig Tätigen im vereinfachten Verfahren durch dieses Instrument beendet. Die Beendigung im Regelinsolvenzverfahren ehemals selbstständig Tätiger erfolgte in 9 bzw. 67 Fällen durch Zustimmung der Gläubiger bzw. rechtskräftigen Insolvenzplan. Die Insolvenzverfahren weiterer natürlicher Personen als Gesellschafter u. Ä. wurden nur einmal durch Zustimmung der Gläubiger und neun Mal durch rechtskräftigen Insolvenzplan beendet.
172 Alle Angaben dieses Abschnitts (§ 2. C. II. 2.) ohne weiteren Verweis sind der Pressemitteilung Nr. 113 vom 28. 03. 2018 des Statistischen Bundesamtes, abrufbar unter https:// www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/03/PD18_113_52431. html (zuletzt abgerufen am 05. 01. 2019) entnommen und beziehen sich auf ganz Deutschland mit Ausnahme von Bremen. Die Angaben zu den Deckungsquoten im weiteren Sinne sind der Fachserie 2 Reihe 4. 1. 1 des Statistischen Bundesamtes (Fn. 161), S. 4 f.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Von den 120.850 beendeten Verfahren kam es 107.174 Mal zur Ankündigung der Restschuldbefreiung173 und davon wiederum 104.747 Mal zu einer Schlussverteilung.174
III. Fazit: Phänomen Überschuldung Überschuldung und Verschuldung sind grundsätzlich zwei verschiedene Phänomene. Während die Verschuldung durchaus gesellschaftlich und volkswirtschaftlich gewollt sein kann, zeitigt die Überschuldung zahlreiche sozial-ökonomische Probleme, denen Herr zu werden Aufgabe der Politik ist. Obschon zur Überschuldung kein hinreichend repräsentativer empirischer Datenbestand existiert, der exakte Konklusionen ermöglicht, indizieren die vorhandenen Daten eine sehr hohe Anzahl überschuldeter natürlicher Personen und Haushalte in der Bundesrepublik und erlauben darüberhinausgehend teilweise valide Tendenzaussagen. Die fünf Hauptüberschuldungsgründe sind Arbeitslosigkeit, Trennung/ Scheidung/Tod des Partners, Erkrankung/Sucht/Unfall, unwirtschaftliche Haushaltsführung und gescheiterte Selbstständigkeit, also Gründe, die (bis auf eine unwirtschaftliche Haushaltsführung) prima facie nicht immer unmittelbar in der individuellen Einflusssphäre des Betroffenen liegen und ihm somit nicht unbedingt persönlich vorgeworfen werden können. Eine etwaige Moralisierung des Insolvenzrechts und Gängelung des Schuldners bedarf vor diesem Hintergrund einer besonderen Rechtfertigung, zumal es kaum durchführbar erscheint, rechtlich gesichert auf die Verantwortlichkeit für das Auftreten der Hauptüberschuldungsgründe zu schließen.175 Es kann nicht gewollt sein, z. B. das im Scheidungsrecht abgeschaffte Schuldprinzip durch die Hintertür des Insolvenzrechts im Restschuldbefreiungsverfahren wieder einzuführen, sollte die Scheidung der nachgewiesene Hauptgrund für die Insolvenz sein.176 Im Einzelfall kann den Schuldner hier sicherlich ein moralischer, durchaus schwerwiegender Vorwurf treffen, wenn er durch sein Verhalten das Auftreten eines Hauptüber173 Die Ankündigung der Restschuldbefreiung erfolgte bei Insolvenzverfahren, die vor dem 01. 07. 2014 beantragt wurden. 174 Alle Angaben dieses Abschnitts (§ 2. C. II. 3.) sind der Fachserie 2 Reihe 4. 1. 1 des Statistischen Bundesamtes (Fn. 161), S. 6. 175 Die Themen Zahlungsunfähigkeit und unbeschränkte Nachhaftung sind seit jeher rechtsethisch aufgeladen, siehe dazu Menzinger, Das freie Nachforderungsrecht der Konkursgläubiger, S. 91 ff. m. w. N. 176 Zum Übergang des Verschuldens- zum Zerrütungsprinzip Weber, in: Säcker/Rix ecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 8, Vorbemerkungen zu §§ 1564 – 1568 Rn. 7, 16.
C. Phänomen Überschuldung und Insolvenzstatistiken
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schuldungsgrundes fahrlässig herbeigeführt hat. Indes kann vor Gericht nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, wann dies abstrakt-generell der Fall sein soll.177 Die Frage nach dem vorwerfbaren Verhalten ist ohne in Gesetz gegossenen gesellschaftlichen Diskurs und Konsens nicht beantwortbar. Es fehlen dem Richter somit schlichtweg handhabbare Maßstäbe, um Schuld oder Verantwortung an der Misere zu konstatieren. Es müsste dem Gesetzgeber gelingen, entweder durch die Schaffung entsprechender Generalklauseln oder durch vertypte Tatbestände die Schuld an der Insolvenz zu normieren.178 Zudem haben nur wenige Schuldner mehr als 20 Gläubiger, was zu einer weiten Anwendungsdomäne des Verbraucherinsolvenzverfahrens führt (vgl. § 304 Abs. 2 InsO). Die mit knapp über 20 % hohe Quote außergerichtlich regulierter Schulden irritiert, sprechen doch einige gewichtige Gründe, auf die an späterer Stelle noch eingegangen wird, gegen das außergerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren. Insofern scheint die Statistik an der Tatsache zu kranken, dass gerade die Schuldnerberatungsstellen als Mittler in der außergerichtlichen Einigung fungieren und auf diese hinwirken. Deswegen kann diese hohe Zahl außergerichtlicher Regulierungen durchaus plausibel sein, wenngleich sie keinen Schluss auf die außergerichtlichen Einigungen insgesamt zulässt; zum einen, weil nur knapp ein Drittel aller Schuldnerberatungsstellen Daten zur Verfügung stellten, zum anderen, weil viele Personen keine Schuldnerberatungsstellen konsultieren. Durch leicht erhältliche Konsumentenkredite wird der Konsum befördert und damit korrespondierend Ver- und Überschuldung. Das bargeldlose Zahlen trägt seinen Anteil dazu bei, indem es oftmals die psychische Hemmschwelle und Selbstreflexion beim Konsumieren verringert. Die Verschuldung für Konsumgüter ist in modernen Industriegesellschaften keine Besonderheit mehr, sondern vielmehr Normalität und teils sogar auch gewünscht.179 Dass aus Verschuldung alsbald Überschuldung werden kann, ist oftmals nur eine Frage der Zeit, gepaart mit einer Verkettung ungünstiger Lebensumstände. Da aber dennoch fast alle Verträge ordnungsgemäß erfüllt werden, gibt es wenig Anreiz für Kreditgeber, ihre Vergabepraxis zu ändern. Insofern sind die Verluste bei Ausreichung der Kredite wohl einkalkuliert und werden durch die hohe Rückzahlungsquote kompensiert.180 Außerdem zeigen die Zahlen, dass der Nutzen von Restschuld177 So auch Schröder, Überschuldung privater Haushalte und die Möglichkeit der Restschuldbefreiung, S. 321 ff. 178 Dazu vgl. auch Medicus, DZWiR 2007, 221, 225, der sich mit der Frage des Verschuldens des Schuldners an der Insolvenz beschäftigt. 179 Grote, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 286 ff. Rn. 2 f. 180 Ähnlich Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 605.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
versicherungen sehr eingeschränkt ist und diese Kredite global besehen unnötig verteuern. Überschuldung zeitigt verschiedene, gravierende Folgen. Zum einen zwingt sie als Massenphänomen den Gesetzgeber aus gesellschaftspolitischen Gründen aktiv zu werden, zum anderen rufen die ökonomischen Aspekte nach einer wirkungsvollen Vermeidungsstrategie, die die wirtschaftlichen Verluste und Konsequenzen in Grenzen hält. Außerdem kann Überschuldung zu einer existenziellen Krise führen und die Privatinsolvenz in nicht wenigen Fällen bedingen. Sie wird als einschneidendes Lebensereignis wahrgenommen, welches auch nicht unerhebliche gesundheitliche Auswirkungen haben kann. Wenngleich der Gesetzgeber aktiv das Stigma der infamia zurückdrängen will, bedarf es dazu noch einiger gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit und Information. Die Insolvenzstatistiken haben insbesondere den Nutzen, Fehlentwicklungen aufzudecken und normative Korrekturen zu ermöglichen. Gerade die ständige Reform des Anreizmodells und die Tendenz zur Verkürzung der Treuhandperiode sind Entwicklungen, deren exakte Novellierungen von der empirischen Untersuchung begleitet und unterstützt werden müssen. Die Bewertung verschiedener Schuldbefreiungsoptionen und Reformen des Restschuldbefreiungsrechts kann nur mittels eines Blicks auf rechtstatsächliche Gegebenheiten gelingen. Dem Mangel an rechtstatsächlichem Material wird mit dem Insolvenzstatistikgesetz und der Evaluierungsvorschrift des Art. 107 EGInsO bis auf weiteres einigermaßen wirkungsvoll begegnet. Die Zahl der jährlichen Insolvenzverfahrenseröffnungen ist mit über 100.000 hoch, wobei die Verbraucherinsolvenzverfahren davon den weitaus größten Teil ausmachen. Erschreckend niedrig ist hingegen die Deckungsquote. Die Gläubiger gehen im Schnitt im wahrsten Sinne des Wortes fast leer aus. Abgemildert wird dies jedoch durch die Abtretungsfrist des Restschuldbefreiungsverfahrens, innerhalb welcher es zu weiterer geringer, aber nicht unerheblicher Befriedigung kommt. Jedoch kann und darf auch die so erzielte Quote kein befriedigender Zustand sein. Hier ist legislatorischer Handlungsbedarf evident, dringende Korrekturen sind nötig. Die Art der Insolvenzverfahrensbeendigung wirft Fragen hinsichtlich der Nützlichkeit und Rechtfertigung der verschiedenen Schuldbefreiungsmöglichkeiten auf. Der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan wird in nur unerheblichem Maße genutzt. Die Insolvenzverfahrenseinstellung nach § 213 InsO ist ebenso kaum zu berücksichtigen. Der hoch gelobte Insolvenzplan spielt in praxi eine untergeordnete Rolle, wenngleich zu konstatieren ist, dass das Insolvenzplanverfahren erst seit dem 01. 07. 2014 für Verbraucher offen steht. Das Maß aller Dinge bleibt letztlich das gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren, die am häufigsten genutzte Schuldbefreiungsmethode. Zuweilen wurde bereits
D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata
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früh angemerkt, an der Notwendigkeit der Restschuldbefreiung zweifele niemand mehr.181 Ob der Vorrang des Restschuldbefreiungsverfahrens systemische Gründe hat oder nur auf statistischer Zufälligkeit und mangelnder Aufklärung natürlicher Personen in der Privatinsolvenz beruht, wird im folgenden Kapitel begutachtet.
D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata Natürlichen Personen stehen im Insolvenzverfahren verschiedene Entschuldungswege offen. Dies sind de lege lata zum einen die drei konsensdeterminierten Schuldbefreiungsmöglichkeiten, nämlich die außergerichtliche Einigung i. S .d. § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO, der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan (§§ 306 – 309 InsO) und der Insolvenzplan (§§ 217 ff. InsO). Teils wird auch die Insolvenzverfahrenseinstellung nach § 213 Abs. 1 Satz 1 InsO als vierte konsensuale Option genannt.182 Zum anderen tritt neben diese konsensualen Schuldbefreiungsoptionen das einseitige Restschuldbefreiungsverfahren nach den §§ 286 ff. InsO. Dem Schuldner werden folglich vier bzw. fünf Schuldbefreiungsoptionen an die Hand gegeben,183 die im Folgenden kurz beleuchtet werden, bevor eine Beurteilung der Optionen bzgl. ihrer praktischen Entschuldungstauglichkeit erfolgt. Dabei orientiert sich die Darstellung an den für natürliche Personen (insbesondere Verbrauchern) als Schuldnern relevanten Aspekten. Insbesondere die Rechtsnatur und Rechtswirkungen der einzelnen Optionen, sowie die Anforderungen an Inhalt und Verfahren spielen eine wesentliche Rolle bei der Wahl des geeignetsten Entschuldungsweges. Um die Schuldbefreiungsoptionen einer validen Beurteilung unterziehen zu können, werden daher die genannten Aspekte in ihren für eine Bewertung notwendigen Grundzügen nachskizziert.
181
Uhlenbruck, NZI 1998, 1, 7. Ahrens, NJW 2014, 1841, 1843; ders., in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 300 Rn. 5; Frind, BB 2014, 2179, 2180. 183 Siehe Vallender, NZI-aktuell Heft 6/2014, S. V, der von vier Wegen zur Entschuldung (außergerichtlicher Einigungsversuch, gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren, Insolvenzplanverfahren, gesetzliches Restschuldbefreiungsverfahren) spricht. Webel, in: Brünkmans/Thole (Hrsg.), Handbuch Insolvenzplan, § 28 Rn. 3 spricht von drei Wegen zur Entschuldung (Durchlaufen der Wohlverhaltensperiode, Durchführung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans und Durchlaufen eines Insolvenzplanverfahrens). 182
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
I. Außergerichtliche Einigung im Sinne des § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO Noch vor Insolvenzverfahrenseröffnung muss zumindest im Verbraucherinsolvenzverfahren gem. § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO der Nachweis des Versuchs einer außergerichtlichen Einigung über die Schuldenbereinigung innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Eröffnungsantrag geführt werden. Der Versuch muss selbst dann erfolgen, wenn weder Vermögen noch pfändbares Einkommen des Schuldners ersichtlich sind.184 1. Zweck und Charakteristika des Verbraucherinsolvenzverfahrens
Mit den §§ 304 ff. InsO hat der Gesetzgeber ein besonderes, kostensparendes, speziell auf Verbraucher zugeschnittenes Verfahren geschaffen, welches nicht alleine die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger wahren soll, sondern daneben insbesondere das Ziel einer effizienten und umfänglichen Entschuldung des in § 304 Abs. 1 InsO genannten Personenkreises verfolgt.185 Das Verbraucherinsolvenzverfahren exkludiert das Regelinsolvenzverfahren insoweit, als Verbraucher- und Regelinsolvenzverfahren nicht parallel durchgeführt werden können.186 Der Fokus liegt auf der einfachen Entschuldung der Verbraucher durch außergerichtliche Einigung und gerichtliche Schuldenbereinigung, da eine Vermögensverwertung i. d. R. aufgrund der vorherrschenden Vermögenslosigkeit wenig Sinn ergäbe.187 Subsidiär nach Scheitern von außergerichtlicher Einigung und gerichtlicher Schuldenbereinigung ist dann aber ein vereinfachtes Regelinsolvenzverfahren durchzuführen. Insgesamt zeichnet sich das Verbraucherinsolvenzverfahren durch eine hohe Kooperation der Beteiligten aus, wie sich bspw. aus § 305 Abs. 2 InsO und § 310 InsO ergibt.188 Die tradierte Erscheinung des Insolvenzgerichts und der klassischen Verfahrensmoderation hat sich damit von der gerichtsseitigen Fürsorge und Ermittlung zu mehr privatautonomer Einigung und gerichtlicher Förderung derselben gewandelt.189 184 Vgl.
Lissner, ZInsO, 2014, 229, 230 „zwingende Vorschalt-Station“; ders., ZInsO 2013, 330; ebenso und zur Beratungshilfe in Insolvenzverfahren ders., ZInsO 2012, 104 ff.; Saager, ZVI 2016, 213, 214; dazu kritisch Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 51 Rn. 131; Harder, NZI 2013, 70, 71 f. 185 Ähnlich Stephan, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vor §§ 304 – 311 Rn. 1. 186 Zu den strukturellen Unterschieden beider Verfahrensarten Laroche, VIA 2013, 52. 187 Siehe auch Ahrens, NZI 2011, 425, 426; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, § 36 Rn. 477. 188 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 304 ff. Rn. 5. 189 Vgl. Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 304 ff. Rn. 5: „Damit
D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata
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Die größte Besonderheit liegt in der Durchführung des außergerichtlichen Einigungsversuchs über eine Schuldenbereinigung und – im Falle des Scheiterns dieser – in einem gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahren. 2. Entschuldung aufgrund eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans
Die außergerichtliche Einigung über einen Schuldenbereinigungsplan wurde, wie bereits beschrieben, erstmals mit Inkrafttreten der Insolvenzordnung am 01. 01. 1999 möglich.190 Bereits ab dem 19. 10. 1994 galt die Ermächtigung des § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO i. d. F. vom 05. 10. 1994 gem. Art. 110 Abs. 2 Satz 1 EGInsO. Die Vorschrift des § 305 InsO wurde mit der Zeit umformuliert und gilt heute aufgrund der jüngsten Änderung gem. Art. 2 Nr. 6 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren vom 05. 06. 2017191 in der Fassung vom 05. 06. 2017, welche ab dem 26. 06. 2017 in Kraft trat. Mit dem Erfordernis einer ernstlichen außergerichtlichen Einigung auf Grundlage eines Schuldenbereinigungsplans als Quintessenz192 des Verbraucherinsolvenzverfahrens wird der Zweck verfolgt, eine übermäßige Belastung der Gerichte mit Verbraucherinsolvenzverfahren zu verhindern und eine flexible, dem Einzelfall Rechnung tragende Schuldenbereinigung durchzuführen.193 Sog. Nullpläne sind erlaubt.194 Verfahrenskosten sollen zu Gunsten der Gläubiger eingespart und die Justizhaushalte entlastet werden.195 Dies geschieht primär durch eine Vermeidung des gerichtlichen Verfahrens und sekundär durch eine Beschleunigung und Vereinfachung desselben im Falle des Scheiterns des außergerichtlichen Einigungsversuchs.196 Das Verfahren zur außergerichtlichen Einigung selbst ist im Gesetz nur rudimentär beschrieben. An keiner anderen Stelle als in § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO – und auch dort nur mittelbar – wird wird zugleich das bisherige Leitbild des klassischen Insolvenzgerichts nachhaltig geändert: nicht mehr gerichtsseitige Fürsorge und Ermittlungen, sondern privatautonome Einigung und gerichtliche Förderung solcher Vereinbarungen prägen das Bild.“. 190 § 2. B. II. 191 Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren vom 05. 06. 2017, BGBl. I S. 1476. 192 Schuldenbereinigungsplan als „Kernstück“ der vom Schuldner einzureichenden Unterlagen, BT-Drucks. 12/7302, S. 190. 193 BT-Drucks. 12/7302, S. 151, 190 194 BGH, Beschl. v. 10. 10. 2013 – IX ZB 97/12 = NJW-RR 2014, 118, 119; BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 = NJW 2002, 960, 961. 195 Vgl. BT-Drucks. 467/12, S. 50. 196 BayObLG, Beschl. v. 28. 07. 1999 – 4Z BR 1/99 = NZI 1999, 412, 413.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
der außergerichtliche Einigungsversuch erwähnt. Inhaltlich obliegt es den am Schuldenbereinigungsplan Beteiligten, den Schuldenbereinigungsplan durch freie, privatautonome Erklärungen zu gestalten.197 In praxi ist eine Orientierung des außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans an den Maßstäben des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans nicht notwendig, aber dennoch ratsam, da andernfalls eine Einigung eher unwahrscheinlich ist.198 Die durch den Schuldenbereinigungsplan bezweckte Einigung über den Abschluss eines Vergleichsvertrages zwischen dem Schuldner und allen Gläubigern bedarf wegen des außergerichtlichen Charakters des Vertrages der Zustimmung aller Gläubiger. Die vertragsfreiheitliche Ausgestaltung des Verfahrens verbietet ein geringeres Quorum oder eine Zustimmungsersetzung wie im gerichtlichen Verfahren (vgl. § 309 InsO). Auch gilt Schweigen nicht als Zustimmung (anders im gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahren § 307 Abs. 2 Satz1 InsO). 3. Rechtswirkungen des (außergerichtlichen) Schuldenbereinigungsplans
Der außergerichtliche Schuldenbereinigungsplan enthält ein Angebot zum Abschluss eines ausschließlich privatrechtlichen, gegenseitigen Vergleichsvertrages im Sinne des § 779 Abs. 1 BGB.199 Im Gegensatz zum ehemaligen § 78 Abs. 1 VglO i. d. F. vom 01. 01. 1964 bis zum 31. 12. 1998 und § 184 Abs. 1 KO i. d. F. vom 01. 01. 1964 bis zum 31. 12. 1998 bedarf der Schuldenbereinigungsplan keiner gerichtlichen Bestätigung, um Rechtswirkungen zu entfalten. Aufgrund seines Charakters als gegenseitiger Vertrag, der nur inter partes wirkt, können Gläubiger, die im Plan gänzlich unberücksichtigt sind, auch weiterhin ihre Forderungen gegen den Schuldner geltend machen.200 Sie erleiden keinen Rechtsverlust.201 Akzessorische Sicherheiten gehen mangels einer dem § 254 Abs. 2 InsO und § 301 Abs. 2 InsO vergleichbaren Vorschrift im Schuldenbe197
BT-Drucks. 12/7302, S. 190. Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 62 Rn. 158; Lissner, ZInsO 2014, 229. 199 Reischl, Insolvenrecht, § 12 Rn. 885; Stephan, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 305 Rn. 14; siehe zum Vergleich als gegeseitigem Vertrag Habersack, in: Säcker/ Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 6, § 779 Rn. 36 f. Im Falle einer Minimalbefriedigung oder eines vollständigen Forderungsverzichts aufgrund eines Nullplans handelt es sich nach Römermann, in: Nerlich/ Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 60 um einen Forderungserlass im Sinne von § 397 BGB. 200 So auch Ahrens, NZI 2011, 425, 427 f.; Stephan, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 305 Rn. 14. 201 So für den gerichtlichen Schuldenbereinigungsplan Schmidt-Räntsch, MDR 1994, 321, 326. 198
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reinigungsplanverfahren – sofern nichts Gegenteiliges vereinbart wurde – im gleichen Umfang verloren wie Ansprüche der Gläubiger gegen den Schuldner.202 § 294 Abs. 2 InsO gilt im Rahmen der außergerichtlichen Einigung nicht, sodass mangels eines Gleichbehandlungsgebots mit den Gläubigern unterschiedliche Regelungen getroffen werden können.
II. Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren nach §§ 306 – 309 InsO Obschon das Regelungswerk der §§ 305 ff. InsO Druck auf die Parteien zur außergerichtlichen Einigung ausübt,203 wird diese Option nur in einem Bruchteil der Fälle wahrgenommen.204 Vielmehr kommt es oftmals zum Scheitern der außergerichtlichen Einigung, worauf sodann das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren folgt. Dieses stellt eine eigene Kategorie der konsensualen Schuldbefreiungsoptionen dar.205 Es soll erneut eine Entschuldung qua Konsens, diesmal aufgrund eines gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans, versucht werden, welche gem. § 18 Abs. 1 Nr. 1 RPflG unter der Verfahrensmoderation des Insolvenzrichters steht. 1. Rechtsnatur und Rechtswirkungen des (gerichtlichen) Schuldenbereinigungsplans
Der Schuldner muss im Rahmen des Verbraucherinsolvenzverfahrens zwei verschiedene Schuldenbereinigungspläne einreichen: zum einen den Schuldenbereinigungsplan gem. § 305 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 InsO, aufgrund dessen die außergerichtliche Einigung versucht wurde, und zum anderen den Schuldenbereinigungsplan gem. § 305 Abs. 1 Nr. 4 InsO, welcher Grundlage des gerichtlichen
202 Dies gilt sowohl für den außergerichtlichen Einigungsversuch als auch für das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren. Vgl. für den gerichtlichen Schuldenbereinigungsplan LG Hamburg, Urt. v. 09. 08. 2001 – 327 O 83/01 = NZI 2002, 114. § 254 Abs. 2 und § 301 Abs. 2 InsO sind auch nicht analog anzuwenden. Siehe dazu Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, § 36 Rn. 486 Fn. 26; Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 65. 203 Pick, NJW 1995, 992, 996 f. 204 Siehe auch in diese Richtung deutend Ahrens, NJW 2011, 425, 429 ff.; Bast/Deyda/ Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471: „Schattendasein“; Römermann, in: Nerlich/ Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 5. 205 Sabel, in: Graf-Schlicker (Hrsg.), InsO, Kommentar, Vor § 304 Rn. 2: „völlig eigenständiges, vom (gescheiterten) außergerichtlichen Einigungsversuch losgelöstes gerichtliches Vergleichsverfahren.“.
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Schuldenbereinigungsplanverfahrens ist (vgl. § 305 Abs. 1 Satz 3 InsO).206 Der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan zielt aber gem. § 308 Abs. 1 Satz 2 InsO im Unterschied zum außergerichtlichen Plan auf den Abschluss eines Prozessvergleichs (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 794 BGB).207 Aus der Erfahrung des gescheiterten außergerichtlichen Einigungsversuchs gewinnt der Schuldner häufig Erkenntnisse bzgl. der Ursache des Scheiterns und kann dann die streitigen Punkte zu konsensfähigeren Vereinbarungen korrigieren. Im Großen und Ganzen orientiert sich daher der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan inhaltlich mutatis mutandis am außergerichtlichen Plan, sodass auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.208 Die Ansprüche der Gläubiger ergeben sich nach Planannahme alleine aus dem angenommenen Schuldenbereinigungsplan (arg. ex § 308 Abs. 1 Satz 2 InsO), während gem. § 308 Abs. 2 InsO Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren wegen der Fiktion der Antragsrücknahme nicht eröffnet werden. Werden Forderungen im Forderungsverzeichnis nicht berücksichtigt, bleiben die Ansprüche der Gläubiger gegen den Schuldner gem. § 308 Abs. 3 Satz 1 InsO bestehen. Für unberücksichtigte Gläubiger kann es u. U. nötig werden, wegen der Rücknahmefiktion in § 308 Abs. 2 InsO erneut ein Insolvenzverfahren zu beantragen.209 Dass die Ansprüche der Gläubiger gegen den Schuldner gem. § 308 Abs. 3 Satz 1 InsO bestehen bleiben, gilt gem. § 308 Abs. 3 Satz 2 InsO freilich nicht, wenn die Gläubiger die Ergänzung des Forderungsverzeichnisses versäumt haben. In diesem Fall erlöschen die jeweiligen Forderungen; dies gilt jedoch nur, wenn der Schuldenbereinigungsplan tatsächlich zustande kommt.210 2. Zustimmungsersetzung nach § 309 InsO
Zur Förderung gütlicher Einigungen und daraus folgend zur Gerichtsentlastung kann die Zustimmung obstruierender Gläubiger gerichtsseitig ersetzt werden.211 Im Unterschied zur außergerichtlichen Einigung gilt gem. § 309 Abs. 1 206 Vgl.
Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 11, 19. 207 Reischl, Insolvenzrecht, § 12 Rn. 884; Schmidt-Räntsch, MDR 1994, 321, 326. 208 Vgl. § 2. D. I. Ferner Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 62 Rn. 158; Lissner, ZInsO 2014, 229. Auch hier sind Nullpläne zulässig, s. BGH, Beschl. v. 10. 10. 2013 – IX ZB 97/12 = ZInsO 2013, 2333, 2334 Rn. 7. 209 Foerste, Insolvenzrecht § 38 Rn. 659. 210 Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 308 Rn. 20. 211 Zu dieser Zielsetzung vgl. die Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, in: Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, Bd. I, S. 569; siehe auch Schmidt-Räntsch, MDR 1994, 321, 325.
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Satz 1 InsO das Prinzip der Kopf-(Mehrheit hinsichtlich der Gläubigeranzahl) und Summenmehrheit (Mehrheit hinsichtlich der Summe der Ansprüche), wie es durch § 244 Abs. 1 InsO im Bereich des Insolvenzplans normiert ist.212 Zum Schutz berechtigter Interessen der Gläubiger gilt es zu beachten, dass insbesondere eine Zustimmungsersetzung – neben der Ersetzung wegen nicht angemessener Beteiligung eines Gläubigers – auch gem. § 309 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nicht stattfindet, wenn ein Gläubiger durch den Schuldenbereinigungsplan voraussichtlich wirtschaftlich schlechter gestellt wird, als er bei Durchführung des Verfahrens über die Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Erteilung von Restschuldbefreiung stünde.
III. Insolvenzplan nach §§ 217 – 269 InsO Der an das US-amerikanische Reorganisationsverfahren nach Chapter 11 des Bankruptcy Code angelehnte Insolvenzplan bietet im Gegensatz zum außergerichtlichen und gerichtlichen Schuldenplanbereinigungsverfahren auch natürlichen Personen, die keine Verbraucher im Sinne des § 304 Abs. 1 InsO sind, die Möglichkeit einer umfassenden Entschuldung.213 Dass der Insolvenzplan indes überhaupt im Verbraucherinsolvenzverfahren Relevanz entfaltet, ist keine Selbstverständlichkeit.214 Vielmehr finden die Vorschriften über den Insolvenzplan im Verbraucherinsolvenzverfahren erst Anwendung seit § 312 Abs. 2 InsO, der die Aufstellung eines Insolvenzplans im Rahmen des Verbraucherinsolvenz verfahrens ausschloss, im Zuge der Aufhebung der §§ 312 – 314 InsO durch Art. 1 Nr. 38 des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. 07. 2013215 weggefallen ist. 216 Die Öffnung des Insolvenzplanverfahrens für Verbraucher geschah v. a. im Hinblick auf die Bemühungen, Schuldnern eine weitere, effektivere Schuldbefreiungsoption neben den o. g. an die Hand zu geben, um so die Einigungschancen zwischen Schuldner und Gläubigern zu erhöhen.217 Ebenso ist die Möglichkeit der Durchführung des Insolvenzplanverfahrens im Falle der Masseunzuläng212 Zur Auslegung von Zustimmungserklärungen BGH, Beschl. v. 12. 01. 2006 – IX ZB 140/04 = ZInsO 2006, 206, 207 Rn. 6. 213 US-amerikanisches Recht als Vorbild für den Insolvenzplan Braun/Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vorbemerkung vor §§ 217 – 269 Rn. 1. 214 Ausführlich zum Insolvenzplan im Verbraucherinsolvenzverfahren Rein, ZVI 2014, 239 ff. und zur praktischen Notwendigkeit desselben Heyer, ZVI 2012, 321 f. 215 Siehe § 2. B. V. 216 Zu Insolvenzplänen im Verbraucherinsolvenzverfahren auch Madaus, NZI 2017, 697 ff. 217 BT-Drucks. 17/1353. S. 1; so auch Heyer, ZVI 2012, 321 f.
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lichkeit gem. § 210a InsO218 relativ jung.219 Außerdem ist ein Teilinsolvenzplan zur Erlangung der vorzeitigen Restschuldbefreiung zulässig.220 Da die im Insolvenzplan getroffenen Regelungen als Ausfluss der Privatautonomie, insbesondere der Gläubigerautonomie, dem konsentierten Gutdünken der Beteiligten anheimgestellt sind, sagt das Gesetz nichts Konkretes über den Inhalt des Insolvenzplans aus. Aus dem Gesetz ergibt sich aber sowohl die Gliederung des Insolvenzplans als auch das Verfahren bis zur gerichtlichen Planbestätigung. Es obliegt allein den Beteiligten inhaltliche Regeln zu vereinbaren, die ggf. von den gesetzlichen Vorschriften abweichen (vgl. § 217 Satz 1 InsO). Alle Regelungen, die nach privatrechtlichen Maßstäben möglich und zulässig sind, können getroffen werden.221 Nach § 219 InsO besteht der Insolvenzplan aus einem darstellenden und einem gestaltenden Teil und den gem. §§ 229 und 230 InsO beizufügenden Anlagen.222 1. Zweck des Insolvenzplans
Die Insolvenzplanvorschriften sollen einen Rahmen zur privatautonomen, konsensualen und marktkonformen 223 Bewältigung der Insolvenz bieten und so die Insolvenzabwicklung privatisieren und gleichzeitig deregulieren.224 Dadurch soll ein flexibles Instrumentarium geschaffen werden, welches auf den Einzelfall zugeschnittene Lösungen liefern kann.225 218 § 210a InsO ist gem. Art. 10, Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 07. 12. 2011 am 1. März 2012 in Kraft getreten, BGBl. I, S. 2582. 219 Zu Normzweck und Entstehungsgeschichte von § 210a InsO siehe Madaus, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 2, § 210a Rn. 1 – 4. 220 Dazu Harig, ZInsO 2017, 752 f.; Hänel/Harig, ZVI 2015, 282 ff. 221 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 217 Rn. 3; Braun/ Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vorbemerkung vor §§ 217 – 269 Rn. 8. Siehe aber BGH, Beschl. v. 16. 02. 2017 – IX ZB 103/15 = NZI 2017, 260 ff., wonach die Festsetzung der Insolvenzverwaltervergütung im Insolvenzplan nicht möglich ist. 222 Ein Beispiel einer möglichen Plangliederung geben Braun/Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 221 Rn. 9. 223 Zum marktkonformen Insolvenzverfahren Koch/de Bra, in: Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 66 Rn. 6 f. 224 BT-Drucks. 12/2443, S. 90. Vgl. auch Madaus, ZIP 2016, 1141. 225 Vgl. auch Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vorbemerkung vor §§ 217 – 269 Rn. 1. Zu den Vorteilen des Insolvenzplans für Unternehmen auch Reischl, Insolvenzrecht, § 11 Rn. 813. Die Sanierung eines Unternehmens anstelle seiner Zerschlagung birgt oftmals Potenzial und kann zur Masseanreicherung durch neu generierte Erträge führen. Auch sind Dritte durch das transparente und planmäßige Vorgehen eher bereit, weiteres nützliches Kapital zur Verfügung zu stellen.
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Obschon die Möglichkeit der Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens im Verbraucherinsolvenzverfahren gerade mit der primären Intention der Entschuldung geschaffen wurde, ist im Allgemeinen die oberste Maxime dieses Verfahrens die gemeinschaftliche und bestmögliche Gläubigerbefriedigung.226 Inwiefern das Insolvenzplanverfahren neben dieser doch sehr gläubigerzentrierten Perspektive seit der Öffnung für Verbraucher dem weiteren Verfahrenszweck, nämlich der Schuldbefreiung redlicher Schuldner (§ 1 Satz 2 InsO) abseits der §§ 286 ff. InsO förderlich ist, hängt insbesondere von der Ausgestaltung und den Rechtswirkungen des Verfahrens ab.227 2. Rechtswirkungen
Gem. § 254 Abs. 1 InsO treten mit Rechtskraft der gerichtlichen Bestätigung die im gestaltenden Planteil festgelegten materiellen Wirkungen gegenüber allen Beteiligten ein. a) Universalwirkung
Eine folgenschwere (wenngleich deklaratorische) 228 Regelung enthält § 254b InsO, wonach §§ 254, 254a InsO auch gegenüber Insolvenzgläubigern gelten, die ihre Forderungen nicht angemeldet haben sowie gegenüber Beteiligten, die dem Insolvenzplan widersprochen haben.229 Der Plan zeitigt dadurch eine Universalwirkung230, die sonst nur mutatis mutandis mit der Universalwirkung der Restschuldbefreiung in § 301 Abs. 1 Satz 2 InsO vergleichbar ist. Es geht dabei aber weniger um eine negative Ausschlusswirkung als vielmehr um die Unterwerfung unter die Beschränkungen des Insolvenzplans.231 226 BR-Drucks. 127/11, S. 22; BT-Drucks. 12/2443, S. 91; ebenso Andres, in: Andres/ Leithaus/Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vorbemerkung vor §§ 217 – 269 Rn. 1; Reischl, Insolvenzrecht, § 11 Rn. 813. 227 Dieser Gedanke scheint vor der Öffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens eher im Hintergrund gestanden zu haben, BT-Drucks. 12/2443, S. 91: „Die Restschuldbefreiung ist kein notwendiges Element einer planmäßigen Regelung […].“ und „Der Plan bezweckt nicht eine Rechtswohltat für den Schuldner.“. 228 Spliedt, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 254b Rn. 1; Rühle/Ober, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 254b Rn. 1; dagegen mit Zweifeln am Beteiligtenbegriff des § 254 InsO J. Schmidt, in: Bork/Kayser/ Kebekus (Hrsg.), FS Kübler, S. 621, 623 Fn. 8. 229 BGH, Beschl. v. 07. 05. 2015 – IX ZB 75/14 = ZIP 2015, 1346, 1347 Rn. 12. 230 Auch Gesamtwirkung genannt, siehe Ahrens, in: Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 76 Rn. 11. 231 Vgl. BGH, Urt. v. 10. 5. 2012 − IX ZR 206/11 = NJW-RR 2012, 1255 Rn. 10. Wegen dieser Unterwerfung unter die Planregelungen besteht immer die Gefahr des Auftretens
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b) Disponible Schuldbefreiung
Brisanz erfährt diese Vorschrift im Zusammenspiel mit § 227 Abs. 1 InsO. Gem. § 227 Abs. 1 InsO wird der Schuldner mangels abweichender Vereinbarungen von seinen Verbindlichkeiten befreit, sobald er die Insolvenzgläubiger unter den im Plan vereinbarten Konditionen befriedigt hat.232 Wird der Plan folglich angenommen und bestätigt, führt er mangels entgegenstehender Bestimmungen zu einer umfassenden Schuldbefreiung des Schuldners,233 ohne dass ein weiteres Verfahren durchlaufen werden muss und auch unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 286 ff. InsO.234 Anzumerken ist aus rechtsdogmatischer Sicht, dass die Verbindlichkeiten entgegen der ersten Vermutung nicht erlöschen, sondern als erfüll-, aber nicht erzwingbare Verbindlichkeiten, sprich Naturalobligationen,235 weiter existieren, was aus § 254 Abs. 3, § 255 Abs. 1 InsO folgt.236 c) Sicherheiten Dritter
Ferner wird der Schuldner durch den Plan gegenüber Rückgriffsberechtigten in gleicher Weise wie gegenüber den Gläubigern befreit, während sich die Insolvenzgläubiger weiterhin in Höhe der ursprünglichen, nicht aufgrund einer Quote gekürzten Forderung an Mitschuldner und Bürgen halten können (§ 254 Abs. 2 InsO). Im Falle der Inanspruchnahme steht dem Sicherungsgeber bzgl. seiner Regressansprüche folglich nur die Insolvenzplanquote gegen den Schuldner zu. sog. Nachzügler, die, obwohl sie am Insolvenzplanverfahren gar nicht teilgenommen haben, trotzdem Forderungen unter den im Insolvenzplan genannten Voraussetzungen geltend machen können. 232 BGH, Beschl. v. 07. 05. 2015 – IX ZB 75/14 = ZIP 2015, 1346, 1347 Rn. 12. 233 Schuldbefreiung bereits mit Rechtskraft des Bestätigungsbeschlusses Braun/ Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 227 Rn. 4; Breuer, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 227 Rn. 8; Harig, ZInsO 2017, 752 f.; Lüer/Streit, in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenz ordnung, Band 1, 15. Auflage, München 2019, § 227 Rn. 6; auch Spliedt, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 227 Rn. 2, nach dem dies aus der Charakterisierung der Schuldbefreiung als Durchsetzungssperre (statt Schuldenerlass) zu Lasten der Gläubiger folgt. A. A. Schuldbefreiung erst mit tatsächlicher Erfüllung der Insolvenzplanverpflichtungen Rugullis, KTS 2012, 269, 274. 234 Zur Möglichkeit der Regelung einer Restschuldbefreiung im Sinne des § 301 InsO im Insolvenzplan Harig, ZInsO 2017, 752 f. 235 BGH, Urt. v. 10. 05.2012 − IX ZR 206/11 = NZI 2013, 84 Rn. 9; Koch/de Bra, in: Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 69 Rn. 4; Naturalobligation im Kontext der Restschuldbefreiung Rein/Koch, NZI 2017, 794, 798. 236 BGH, Urt. v. 19. 05. 2011 − IX ZR 222/08 = NZI 2011, 538, 539 Rn. 8; siehe auch Rugullis, NZI 2013, 869, 870, 872 m. w. N. in Fn. 31; Einordnung als natürliche Verbindlichkeit bereits in BT-Drucks. 12/2443 S. 213.
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3. Wesentliche Aspekte des Planverfahrens
Aus § 218 InsO ergeben sich die wesentlichen Regelungen zur Planinitiative. Das Recht zur Vorlage eines Insolvenzplans steht dem Insolvenzverwalter237 und dem Schuldner, der aber keinen Kostenersatzanspruch hinsichtlich der Planaufstellungskosten hat,238 zu. Kein Initiativrecht haben die Gläubiger, die aber nach § 157 Satz 2 InsO den Verwalter im Rahmen der Gläubigerversammlung mit der Ausarbeitung eines Plans beauftragen können. Bereits mit dem Eröffnungsantrag kann der Schuldner den Plan vorlegen. Ein vorheriger Restschuldbefreiungsantrag ist nicht notwendig, um in den Genuss der schuldbefreienden Wirkung des Insolvenzplans zu kommen.239 Kernelement des auf die Einigung zwischen Gläubigern und Schuldner abzielenden Regelungsinstrumentariums ist das Obstruktionsverbot des § 245 InsO. Es manifestiert die gesetzgeberische Intention, nach Möglichkeit einen konsentierten Weg der Gläubigerbefriedigung und Schuldbefreiung einzuschlagen, indem es die Zustimmung einer ganzen Abstimmungsgruppe als erteilt fingiert, sofern keine Schlechterstellung der Gruppenangehörigen im Vergleich zum insolvenzplanlosen Verfahren bewirkt und eine angemessene Beteiligung derselben sichergestellt wird. Darüber hinaus muss die Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Plan bereits zugestimmt haben. Hieraus ergibt sich auch, dass die Zustimmungsfiktion nur anwendbar ist, wenn mindestens drei Gruppen gebildet wurden (arg. ex § 245 Abs. 1 Nr. 3 InsO).240 Nach Planannahme durch die Beteiligten und Zustimmung des Schuldners bedarf der Plan der gerichtlichen Bestätigung (§§ 248, 252 InsO). Auch an dieser Stelle kann der Plan, ähnlich wie bei § 231 InsO, scheitern, indem das Insolvenzgericht die Bestätigung wegen eines Verstoßes gegen Verfahrensvorschriften gem. § 250 InsO versagt. Neben diesen Versagungsgrund tritt der folgenreiche Minderheitenschutz des § 251 InsO, der wiederum Ausdruck des 237 Fraglich ist, ob der Insolvenzverwalter auch ein vom Auftrag der Gläubigerversammlung unabhängiges Eigeninitiativrecht zur Vorlage eines originären Insolvenzplans hat. Dafür mit ausführlicher Begründung Eidenmüller, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 218 Rn. 25 – 28. Ebenso Binz, Konkurrierende Insolvenzpläne, S. 38 ff.; Rein, ZVI 2014, 239, 240; dagegen Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 218 Rn. 3, 10. 238 Siehe m w. N. BGH, Urt. v. 06. 12. 2007 – IX ZR 113/06 = NZI 2008, 173, 175: „Er kann für die Kosten, die ihm durch die Ausarbeitung des Plans entstanden sind, jedoch keinen Ersatz aus der Masse beanspruchen […]. Genauso wenig begründet § 218 InsO einen Anspruch des Schuldners auf anwaltliche oder sonstige professionelle Beratung und Vertretung im Planverfahren auf Kosten der Masse.“. 239 Madaus, NZI 2017, 697 ff. A. A. AG Hamburg, Beschl. v. 24. 05. 2017 – 67 c IN 164/15 = NZI 2017, 567, 568 f.; kritisch auch Frind, NZI 2017, 842, 845. 240 AG Duisburg, Beschl. v. 15. 08. 2001 – 43 IN 40/00 = NZI 2001, 605, 606.
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Gedankens ist, dass der Plan als konsensuale Schuldbefreiungsoption i. d. R. nur angenommen wird, wenn keine den Nutzen aus dem Insolvenzplan überwiegenden Vorteile für den Einzelnen 241 im planlosen Verfahren erreicht werden können.242 Weil der Plan gerade auf einem Konsens der Planbeteiligten und gegenseitigen Zugeständnissen fußt, soll die Selbstbestimmung des einzelnen – teils auch nicht stimmberechtigten – Gläubigers, welche u. U. durch die Zustimmungsfiktion des § 245 InsO eingeschränkt wird, geschützt werden.243 Als Korrektiv für eine ausufernde, querulatorische Berufung auf § 251 Abs. 1 InsO dient § 251 Abs. 3 InsO, wonach ein Antrag nach Abs. 1 abzuweisen ist, wenn im gestaltenden Planteil Mittel für den Fall einer nachgewiesenen Schlechterstellung eines Beteiligten bereitgestellt werden.
IV. Insolvenzverfahrenseinstellung nach § 213 Abs. 1 Satz 1 InsO Die Ziele des Insolvenzverfahrens, wie sie in § 1 InsO normiert sind, offenbaren, dass es im Insolvenzverfahren zuvörderst um die Interessenwahrung der Verfahrensbeteiligten geht.244 Insofern steht den Verfahrensbeteiligten der Weg einer Verfahrenseinstellung nach den gesetzlichen Vorschriften offen, sofern sie ihr Einverständnis dazu geben und daher i. d. R. keine öffentlichen Interessen mehr an der Fortsetzung des Verfahrens bestehen bzw. überwiegen.245 Diese Verfahrenseinstellung gem. § 213 Abs. 1 Satz 1 InsO (bzw. § 213 Abs. 2 InsO) wird aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Zustimmung der Insolvenzgläubiger teils als eine vierte konsensuale Schuldbefreiungsoption neben den oben genannten betrachtet.246 Das Verfahren kann gem. § 213 Abs. 1 InsO erst nach Ablauf der im Eröffnungsbeschluss gem. § 28 Abs. 1 InsO bestimmten Anmeldefrist eingestellt werden und auch nur auf Antrag des Schuldners hin. Eine 241 Zum einzelnen Gläubiger im Gegensatz zur Gläubigergruppe Braun/Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 251 Rn. 1. 242 Vgl. auch BGH, Beschl. v. 24. 03. 2011 – IX ZB 80/11 = ZIP 2011, 966 Rn. 9; zum Verzicht der Glaubhaftmachung der Schlechterstellung; vgl. BGH, Beschl. v. 05. 02. 2009 – IX ZB 230/07 = ZIP 2009, 480 Rn. 22. 243 So auch Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 251 Rn. 2; Braun, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 251 Rn. 1. 244 Auch auf die Interessen der Verfahrensbeteiligten abstellend Ries, in: Uhlenbruck/ Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenzordnung, Band 1, 15. Auflage, München 2019 § 213 Rn. 1. 245 Landfermann, in: Kreft (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 213 Rn. 1. 246 Ahrens, NJW 2014, 1841, 1843; ders., in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 300 Rn. 5; Frind, BB 2014, 2179, 2180.
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Verfahrenseinstellung von Amts wegen oder allein aufgrund des Konsenses aller Gläubiger ist nicht möglich.247 1. Unbeschränkte Nachhaftung
Materiell-rechtlich hat die Einstellung aber keine Auswirkung auf das Bestehen der Forderungen; es wird lediglich rein verfahrensrechtlich darauf verzichtet, das Insolvenzverfahren weiter zu betreiben.248 Gem. § 215 Abs. 2 Satz 2 InsO i. V. m. § 201 Abs. 1 InsO können die Gläubiger ihre restlichen Forderungen dann unbeschränkt gegen den Schuldner geltend machen. Das Vollstreckungsverbot des § 89 InsO, welches nach dem Wortlaut nur während der Dauer des Insolvenzverfahrens besteht, entfällt. Die Gläubiger bleiben ungehindert, einen weiteren Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, sofern sie vom Schuldner keine Befriedigung zu erwarten haben und auch die Einzelzwangsvollstreckung keinen ausreichenden Erfolg verspricht.249 2. Keine Verfahrenseinstellung im Restschuldbefreiungsverfahren
§ 213 InsO gilt jedoch nicht für das Restschuldbefreiungsverfahrens.250 Eine Verfahrenseinstellung des Restschuldbefreiungsverfahrens könnte also dann nicht erfolgen, wenn sich die Gläubiger mit dem Erlass von Forderungen vor Ablauf der Abtretungsfrist des § 287 Abs. 2 InsO einverstanden erklären. Die Gerichte251 wendeten in diesem Fall § 213 InsO und § 299 InsO a. F. analog an und gelangten so zu einer vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung, sofern Verfahrenskosten und sonstige Masseverbindlichkeiten getilgt wurden und die restlichen Gläubigerforderungen durch Teilzahlung und Teilerlass erloschen waren. Dies war in toto zu begrüßen, da der Schuldner so nicht künstlich gezwungen wurde, die Jahre bis zum Ablauf der Abtretungsfrist sinnlos abzusitzen und bereits so von der gegenüber allen Gläubigern wirkenden Restschuldbefreiung (vgl. § 301 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 InsO) profitieren konnte.252 Die zur analogen Anwendung planwidrige Regelungslücke bestand in der 247 Ries, in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenzordnung, Band 1, 15. Auflage, München 2019, § 213 Rn. 2. 248 LG Berlin, Beschl. v. 19. 01. 2009 – 86 T 24/09 = ZInsO 2009, 443, 444; Haarmeyer, ZInsO 2009, 556, 557; Waltenberger, ZInsO 2014, 808 f. 249 Pape, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 213 Rn. 10. 250 Waltenberger, ZInsO 2014, 808, 809. 251 BGH, Beschl. v. 29. 9. 2011 − IX ZB 219/10 = NZI 2011, 947; BGH, Beschl. v. 17. 03. 2005 – IX ZB 214/04 = NZI 2005, 399; LG Berlin, Beschl. v. 19. 01. 2009 – 86 T 24/09 = ZInsO 2009, 443, 444. 252 Vgl. die Anmerkungen von Grote, NZI 2011, 947, 948.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
fehlenden Regelung zur Anordnung einer vorzeitigen Restschuldbefreiung.253 Mit der Einführung des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO durch das „Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte“ vom 15. 07. 2013 wurde diese Regelungslücke geschlossen.254 Der Befriedigung der Gläubigerforderungen steht, wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, die Teilbefriedigung der Gläubiger mit Erlass der Restforderungen gleich.255 Daher bleibt nunmehr kaum Raum für eine analoge Anwendung der §§ 213, 299 InsO.256
V. Restschuldbefreiungsverfahren §§ 286 – 303a InsO Die in praxi rechts- und sozialstaatlich wichtigste Schuldbefreiungsoption für natürliche Personen ist die Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO, die in einem eigenständigen 257 Verfahren gewährt wird. Anders als bei den konsensualen Schuldbefreiungsoptionen wird im Restschuldbefreiungsverfahren unabhängig von der Zustimmung der Gläubiger ein subjektives Recht des Schuldners auf Erteilung der Restschuldbefreiung bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen begründet.258 Dieses subjektive, indisponible259 Recht ergibt sich aus der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Restschuldbefreiungsverfahrens und aus dem Wortlaut des § 286 InsO.260 253
LG Berlin, Beschl. v. 19. 01. 2009 – 86 T 24/09 = ZInsO 2009, 443, 444 Rn. 2. So auch Ahrens, in: Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 79 Rn. 29; Pehl, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 300 Rn. 5; Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), 36. EL (Stand: Juni 2018), § 300 Rn. 3; vgl. auch Blankenburg, ZVI 2017, 89, 91 f. 255 BT-Drucks. 17/11268, S. 30; BR-Drucks. 467/12, S. 44 f. 256 Nach BT-Drucks. 17/11268, S. 30 sollte mit der Gesetzesänderung der in der Rechtsprechung entwickelte Fall der Unverhältnismäßigkeit der Durchführung des Restschuldbefreiungsverfahrens erfasst werden. Mit Würdinger, AcP 206 (2006), 946, 952 kann daher gesagt werden, dass der Gesetzgeber explizit Stellung bezogen, die Judikate der Gerichte einer Kodifikation zugeführt und sich nicht seiner politischen Verantwortung entzogen hat. 257 Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, Vorbemerkungen vor §§ 286 bis 303 Rn. 28. 258 Vgl. § 2. B. II. 259 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 11 f.; unwirksam ist ebenso ein Verzicht auf die Wirkungen der Restschuldbefreiung, vgl. Henning, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung § 286 Rn. 9. 260 Zur Bekräftigung eines Rechtsanspruchs auf Restschuldbefreiung wurde der Wortlaut des § 225 des Diskussionsentwurfs (zitiert nach Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Insolvenzrechts, S. 116) von „Ist der Schuldner eine natürliche Person, so kann er nach Maßgabe der §§ 226 bis 242 von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern 254
D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata
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Das Restschuldbefreiungsverfahren hat, wie oben herausgearbeitet, eine lange ideengeschichtliche Tradition, die sich quer durch die verschiedenen Zeit epochen und Zivilisationen zieht und auf seine besondere Bedeutung für den modernen Rechtsstaat schließen lässt.261 Als ultima ratio der Schuldbefreiung kann es in Anschlag gebracht werden, wenn außergerichtliche Einigung und gerichtlicher Schuldenbereinigungsplan scheitern oder nicht alle Gläubiger der Einigung bzw. dem gerichtlichen Plan zustimmen.262 1. Verfahrensziel Restschuldbefreiung
Der hohe Stellenwert der Restschuldbefreiung wird an prominentem Orte sichtbar. Bereits ganz am Anfang der Insolvenzordnung in § 1 Satz 2 InsO spricht der Gesetzgeber von der Schuldbefreiung des redlichen Schuldners. Damit ist zwar keine inhaltliche Regelung verbunden, doch dient das Programm des § 1 InsO insofern als Interpretament für die Auslegung der übrigen Insolvenzrechtsvorschriften und als rechtspolitisches Signal.263 Ob die Restschuldbefreiung mit ihrer Nennung an vorderster Stelle der InsO und direkt hinter dem Grundsatz gemeinschaftlicher Gläubigerbefriedigung gleichrangig neben das Ägiden unter verschiedenen Gesamtvollstreckungsrechten überdauernde, immer prioritäre Verfahrensziel der par condicio creditorum tritt, ist Gegenstand rechtswissenschaftlicher Debatte.264 befreit werden.“ in „[…] so wird er […] befreit.“ im aktuellen § 286 InsO (und auch schon in § 235 des Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 15. 04. 1992, BT-Drucks. 12/2443, S. 46 und § 346a der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 19. 04. 1994, BTDrucks. 12/7302, S. 123) geändert. 261 Vgl. § 2. A. 262 Nach nicht verfahrensleitenden Insolvenzplänen ist ein darauffolgendes Restschuldbefreiungsverfahren aus systematischen Erwägungen und mangels Restschutzbedürfnis nicht möglich; anders ist dies ggf. bei verfahrensleitenden Plänen. Zum Ganzen siehe Blankenburg, ZVI 2017, 89, 90. 263 AG Offenbach, Beschl. v. 29. 04. 1999 – 8 IK 7/99 = ZInsO 1999, 296, 297; AG Dortmund, Beschl. v. 01. 06. 1999 – 257 IK 5/99 = ZInsO 1999, 417, 418; vgl. dazu auch Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 2; Henckel, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger, Insolvenzordnung, § 1 Rn. 2; a. A. hinsichtlich Satz 2 des § 1 InsO Keller, Insolvenzrecht, Rn. 7. Kritisch zur Festschreibung von Gesetzeszwecken Smid, DZWiR 1997, 309 ff. 264 Die Restschuldbefreiung als eigenständiges Verfahrensziel anerkennend BGH, Beschl. v. 16. 03. 2000 – IX ZB 2/00 = NJW 2000, 1869, 1870; AG Duisburg, Beschl. v. 15. 06. 1999 – 60 IK 16/99 = ZIP 1999, 1399, 1408; Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 22 ff.; ders., ZZP 122 (2009), 133, 139 f.; Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 26; Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung,
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
a) Argumente pro eigenständiges, gleichrangiges Verfahrensziel
Für die Begründung eines eigenständigen, gleichrangigen Verfahrensziels wird auf den gesellschafts- und sozialpolitischen Hintergrund265 der Restschuldbefreiung abgestellt.266 Auch die systematische Auslegung legt ein solches Ergebnis wegen des Regelungsstandortes in § 1 InsO nahe. Im Regierungsentwurf wurden die Interessen des Schuldners noch in einem gesonderten Abs. 2 besonders betont,267 welcher aber durch redaktionelle Straffung zum Zwecke der Rückführung des § 1 InsO auf seine wesentlichen Elemente entfiel.268 Noch weiter geht die Auffassung, die der Restschuldbefreiung gegenüber der Gläubigerbefriedigung ein höheres Gewicht beimisst. Dabei wird wegen der Eigenheiten asymmetrischer Verfahren, die in der Begrenzung der Wirkungen des Insolvenzverfahrens durch die Dauer der Treuhandperiode269 liegen, der Schluss gezogen, die Restschuldbefreiung dominiere die Gläubigerbefriedigung.270 b) Argumente contra eigenständiges Verfahrensziel
Gegen diese These eines eigenständigen Verfahrensziels wird eingewandt, der Wortlaut des § 1 InsO („dient dazu“ in Satz 1 im Gegensatz zu „ wird Gelegenheit gegeben“) spräche eher gegen die Normierung eines solchen.271 Die ursprüngliche Form des § 1 InsO im Regierungsentwurf deute nicht etwa auf Band 1, § 1 Rn. 101; Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 17; ders., JZ 2016, 548, 549; Schmidt, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung § 1 Rn. 10. 265 Dazu oben § 2 B. I. und § 2. C. I.; auch Schmidt, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung § 1 Rn. 10. 266 In einigen Rechtsordnungen, z. B. den USA, dient das Insolvenzverfahren gerade primär zur Entschuldung des Schuldners, Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/ Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 101; Gerhardt, in: Leipold (Hrsg.), Insolvenzrecht im Umbruch, S. 1, 2; Paulus, NZI 2015, 1001; Vgl. zum eigenständigen, gleichrangigen Verfahrensziel auch AG Dortmund, Beschl. v. 01. 06. 1999 – 257 IK 5/99 = ZInsO 1999, 417, 418; BT-Drucks. 12/2443 S. 188. 267 BT-Drucks. 12/2443, S. 9. 268 BT-Drucks. 12/7302, S. 155. 269 Bezeichnung als „Treuhandperiode“ in BGH, Beschl. v. 19. 05. 2011 − IX ZB 224/09 = NZI 2011, 596, 597 Rn. 12 ff. 270 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 31: „Durch diese Regelung wird dem eigenständigen Institut der Restschuldbefreiung eine gegenüber der ebenfalls zu realisierenden Gläubigerbefriedigung dominierende Gestalt verliehen.“. 271 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97; vgl. auch Henckel, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger, Insolvenzordnung, § 1 Rn. 20.
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die Restschuldbefreiung als Verfahrensziel hin; die Nennung im jetzigen § 1 Satz 2 InsO bedeute keine Aufwertung und der redaktionellen Kürzung selbst könne keinerlei neue Beurteilung entnommen werden.272 Der systematische Standort sei nicht aussagekräftig, weil es schon zur Zeit der Konzeption der Insolvenzordnung umstritten war, ob die Restschuldbefreiung überhaupt in der Insolvenzordnung geregelt werden solle; daher spreche auch dies gegen die Restschuldbefreiung als unmittelbares Ziel des Insolvenzverfahrens.273 Ferner wird der Rekurs auf den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen vom 05. 12. 2007274 bemüht,275 nach welchem sich im Falle der Insolvenzantragsabweisung wegen Masselosigkeit an das Insolvenzverfahren unmittelbar ein Entschuldungsverfahren anschließt.276 Daraus wird der Schluss gezogen, dass, da ein Insolvenzverfahren mangels Masse gar nicht stattfindet, die Restschuldbefreiung auch nicht dessen Ziel sein könne.277 Als ausschlaggebender Punkt wird letzten Endes die Trennung des Insolvenz- vom Restschuldbefreiungsverfahrens ins Feld geführt, die sich darin manifestiert, dass die Restschuldbefreiung erst nach Durchlaufen eines eigenen, vom Insolvenzverfahren unterschiedlichen Verfahrens erlangt wird. Aufgrund dieser Distinktion könne das Ziel Restschuldbefreiung nicht schon im Insolvenzverfahren volle Strahlkraft entfalten. Es könne erst im Restschuldbefreiungsverfahren erreicht werden und beschränke sich somit darauf.278 c) Argumente contra gleichrangiges Verfahren
Wird der Restschuldbefreiung dennoch konzediert, ein eigenständiges Verfahrensziel zu sein, wird dessen Gleichrangigkeit bestritten.279 Zum einen wird 272 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97. 273 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97. 274 Entwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen, BT-Drucks. 16/7416. 275 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97 beziehen sich auf den Referentenentwurf vom 25. 01. 2007, abgedruckt in ZVI 1/2007, Beilage 1. 276 BT-Drucks. 16/7416, S. 1, 8 f., 19 f. 277 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97. 278 So Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 97, die aber zugestehen, dass das Insolvenz verfahren mittelbar die Restschuldbefreiung bezweckt („Fernziel Restschuldbefreiung“). 279 Jedenfalls die bestmögliche Gläubigerbefriedigung als vorrangigen Zweck des Insolvenzverfahrens bezeichnend BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NJW
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
aus der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1 InsO, in der es heißt „Dennoch liegt dem neuen Verfahren ein einheitliches Hauptziel zugrunde: die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger. Dieses Ziel ist in erster Linie maßgeblich für die Entscheidungen, die innerhalb des Verfahrens zu treffen sind“280, der Primat der Gläubigerbefriedigung gegenüber der Restschuldbefreiung abgeleitet, zum anderen habe sich der Gesetzgeber nicht zu einer Stärkung der Schuldnerposition bekannt.281 Auch mit der Bezeichnung des Gesetzes als Insolvenzordnung statt Konkursordnung sei keinerlei derartige programmatische Aufwertung der Schuldnerrechte verbunden.282 Darüber hinaus ist das Insolvenzrecht Teil des Zwangsvollstreckungsrechts und zielt daher unmittelbar auf den Schutz und die Durchsetzung verfassungsrechtlich geschützter privater Interessen ab.283 Demzufolge sei „vorrangiger Zweck des Insolvenzverfahrens […] unter Berücksichtigung der Lage des Schuldners die bestmögliche Befriedigung der Forderungen der Gläubiger […].“284.
2006, 2613, 2614 Rn. 34, 2617 Rn. 53; BGH, Urt. v. 01. 02. 2007 – IX ZR 96/04 = NJW-RR 2007, 557, 559 Rn. 22; BAG, Urt. v. 16. 05. 2013 – 6 AZR 556/11 =DZWiR 2013, 572, 576 Rn. 48. Busch, in: Haarmeyer/Wutzke/Förster (Hrsg.), InsO, § 1 Rn. 10; Henckel, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger, Insolvenzordnung, § 1 Rn. 20; wohl auch Kolbe, Deliktische Forderungen und Restschuldbefreiung, S. 21; Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 106, 153; Smid, DZWiR 1997, 309, 312; Thomas, in: Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen e. V. (Hrsg.), Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, S. 1763, 1765 Rn. 7; Würdinger, in: Falk/Gehrlein/Kreft/Obert (Hrsg.), FS Fischer, S. 643, 644 f.; ders., Insolvenzanfechtung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, S. 359, 361 m. w. N. Auch Cranshaw, DZWiR 2018, 1; Paulus, NZI 2015, 1001, 1002 f.: „Indem nun Deutschland das Schwergewicht seines Insolvenzrechts ausweislich des § 1 InsO auf die Befriedigung der Gläubiger legt […]“. Nur auf die bestmögliche Befriedigung der Forderungen der Gläubiger abstellend BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 2016 – 1 BvR 3102/13 = NJW 2016, 930, 932 Rn. 43. 280 BT-Drucks. 12/2443, S. 108. 281 So Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 98. 282 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 98; Grub/Rinn, ZIP 1993, 1583, 1587. 283 BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NZI 2006, 453 Rn. 34. 284 So BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NZI 2006, 453 Rn. 34, wenngleich das BVerfG in Rn. 35 auch die Interessen des Schuldners würdigt: „Auch die Interessen des Schuldners spielen eine Rolle, weil die InsO nicht nur die Verwertung seines Vermögens, sondern auch die Möglichkeit einer Entscheidung für den Erhalt eines Unternehmens des Schuldners vorsieht; außerdem gibt es für natürliche Personen die Möglichkeit der Restschuldbefreiung.“.
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d) Bewertung der Argumente
Zwar werden gewichtige Gründe sowohl gegen die Betrachtung der Restschuldbefreiung als eigenständiges Verfahrensziel der Insolvenzordnung als auch gegen die Gleichrangigkeit eines etwaigen solchen Verfahrensziels vorgebracht, diese greifen aber im Ergebnis zu kurz. aa) Wortlautargument
Dem Wortlaut der Norm kann nur aus der kontextuellen Gegenüberstellung der Wörter „dienen“ und „Gelegenheit geben“ und deren semantischer Abgrenzung kein zwingender Schluss hinsichtlich der Auslegung beider Sätze des § 1 InsO entnommen werden. Dennoch muss zugegeben werden, dass die Formulierung tendenziell eher in Richtung der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung weist. Da die semantischen Unterschiede in diesem Kontext aber mehr als nur marginal sind und für die Auslegung keinen signifikanten Beitrag leisten, ist das Wortlautargument als ungeeignet zu vernachlässigen, falls noch durchschlagendere Argumente eine hinreichend klare Antwort bieten. bb) Systematisches Argument
Ob die systematische Stellung der Restschuldbefreiung in Satz 2 direkt hinter dem Grundsatz der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung bedeutet, dass damit ein zusätzliches Verfahrensziel oder gar eine Gleichrangigkeit gemeint ist, kann nicht allein anhand des Standortes geklärt werden. Grundsätzlich indiziert die Stellung beider Grundsätze im gleichen Paragraphen eine Kongruenz von Eigenschaft und Rang, jedoch gibt insofern der Wortlaut, aus dem sich implizit ein Stufenverhältnis ergeben kann, den größeren Ausschlag. Diesem gebührt in casu zwar der Vorzug, er liefert aber wie erwähnt kein zwingendes Argument, sodass unter Berücksichtigung beider Argumente (Wortlaut und Systematik), die sich insofern widersprechen, erst recht keine abschließende Entscheidung getroffen werden kann. An dieser Wertung ändert sich auch nichts wegen der Nennung der Restschuldbefreiung in Abs. 2 des Regierungsentwurfs285. Auch der Einwand, die Restschuldbefreiung sei auch außerhalb der Insolvenz ordnung regelbar, vermag keine wegweisenden Erkenntnisse zu offenbaren. Schließlich wurde die Restschuldbefreiung nun einmal in der InsO kodifiziert. Dieses Argument zielt vielmehr auf etwas viel Grundsätzlicheres ab, nämlich die formale Trennung des Restschuldbefreiungsverfahrens vom Insolvenzverfahren. Auf diese wird an späterer Stelle noch näher eingegangen.286 285 286
BT-Drucks. 12/2443, S. 9. Siehe § 2. D. V. 1. d) bb).
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
cc) Gesetz zur Entschuldung mittelloser Personen
Ebenso wie das vorherige systematische Argument zielt der Hinweis auf das Gesetz zur Entschuldung mittelloser Personen im Ergebnis auch wieder auf die formale Trennung beider Verfahren ab, indem darauf verwiesen wird, dass das Entschuldungsverfahren losgelöst vom Insolvenzverfahren durchgeführt wird. Weil dieses Gesetzgebungsvorhaben jedoch nicht umgesetzt wurde,287 kann es nur als schwaches Indiz dienen, um auf den aktuellen Willen des Gesetzgebers zu schließen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass das Entschuldungsverfahren das Restschuldbefreiungsverfahren nicht restlos ersetzen, sondern neben dieses treten sollte.288 Ausgehend von diesem Befund ist zu konstatieren, dass im Gesetzesentwurf die Interessen mittelloser Schuldner im Fokus standen, was mit einer geringen Aufwertung der Restschuldbefreiung verbunden ist. Jedoch können durch die Analyse des Gesetzesentwurfs schwerlich zwingende Gründe für einen Vor- oder Nachrang oder die logische Vorfrage einer Anerkennung der Restschuldbefreiung als eigenständiges Verfahrensziel gefunden werden. dd) Formale Trennung von Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren
Ein argumentativ schwer in die Waagschale fallender Einwand ist die formale Trennung beider Verfahren. Beharrt man begriffsjuristisch auf dieser Distinktion, ergibt sich zwar die Restschuldbefreiung als mittelbares Fernziel des Insolvenzverfahrens, welches aber eigentlich erst im Restschuldbefreiungsverfahren an oberster Stelle steht. Von einem Gleichrang, wie ihn viele Autoren verstehen, kann dann nicht die Rede sein. Dies ist prima facie einleuchtend, wirft aber die Frage auf, ob es sich hier nicht mehr um begriffliche Rabulistik denn um die materiell sachgerechte Erfassung beider Prinzipien geht. Hinzu kommt, dass das Insolvenzplanverfahren nach § 227 InsO regelmäßig eine Schuldbefreiung vorsieht, weswegen auch schon im Insolvenz(plan)verfahren die Restschuldbefreiung eine wichtige Rolle spielt.289
287 Vgl.
Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 19 Rn. 44. der Gesetzesentwurf BT-Drucks. 16/7416, S. 19: „Ausgehend von diesem Befund hat eine von der Justizministerkonferenz eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein eigenständiges Entschuldungsverfahren konzipiert, das neben das eigentliche Restschuldbefreiungsverfahren treten sollte.“. 289 Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 16. 288 Dazu
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ee) Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1 InsO
Der Wortlaut der Begründung des Regierungsentwurfs gibt in höherem Maße Auskunft über die gesetzgeberische Intention und spricht deutlicher als § 1 InsO selbst für den Primat der Gläubigerbefriedigung. Ausgehend von der Wortwahl bzgl. der Gläubigerbefriedigung („maßgeblich für die innerhalb des Verfahrens zu treffenden Entscheidungen“, „Hauptziel“) ist die Restschuldbefreiung („nicht zu vernachlässigen“, „bietet die Möglichkeit“)290 zwar ein eigenständiges, aber lediglich sekundäres Ziel des Insolvenzverfahrens. ff) Keine Stärkung der Schuldnerposition durch den Gesetzgeber
Der pauschalen Aussage, der Gesetzgeber habe die Stärkung der Schuldnerposition nicht im Blick, kann so nicht zugestimmt werden. Wesentlicher als noch die Zuerkennung einzelner Rechte im Spannungsfeld zwischen Schuldner- und Gläubigerinteressen ist die allgemeine Gesetzgebungstendenz, die sich in den verschiedenen insolvenzrechtlichen Gesetzesänderungen abgezeichnet hat.291 Diese rückt den wirtschaftlichen Neustart des Schuldners in den Fokus und erkennt der raschen Entschuldung immer größere Bedeutung zu.292 gg) Gesetzesbezeichnung
Dass sich allein aus der Bezeichnung des Gesetzes keine neue programmatische Ausrichtung ergibt, die so erheblich wäre, eine positive wie negative Bewertung zu rechtfertigen, ist zuzustimmen.293 e) Stellungnahme: Verfahrensziel Restschuldbefreiung
Die Trennung von Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren mag zwar im Ergebnis rein formal richtig sein. Überwindet man aber diese begriffliche Kategorie, so hat sich die Restschuldbefreiung aufgrund ihres gesellschaftspo290
BT-Drucks. 12/2443, S. 108 f. B. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze vom 28. 03. 2001, BT-Drucks. 14/5680, S.1: „Das Verbraucherinsolvenzverfahren soll wirtschaftlich gescheiterten Personen über eine Restschuldbefreiung einen Neuanfang ermöglichen.“, siehe ebenso Begründung S. 11 f. Vgl. allgemein § 2. B. 292 Vgl. z. B. Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 31. 10. 2012, BT-Drucks. 17/11268, S. 13: „Das Bedürfnis nach einem schnellen Neustart besteht gleichermaßen für alle natürlichen Personen. Die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung und der moderne Arbeitsmarkt stellen den Einzelnen insgesamt vor erhebliche wirtschaftliche Risiken.“. 293 Vgl. Grub/Rinn, ZIP 1993, 1583, 1587; zur Umbenennung von Konkurs- zu Insolvenzordnung auch Paulus, NZI 2015, 1001, 1003 f. 291 Z.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
litischen, sozialpolitischen und rechtshistorischen Hintergrundes durchaus als eigenständiges Verfahrensziel jedenfalls in der Insolvenzordnung insgesamt etabliert.294 Davon geht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung aus.295 aa) Schuldbefreiung durch Insolvenzplan
Regelmäßig führt außerdem auch das Insolvenzplanverfahren zur Schuldbefreiung. Dies erhärtet die These des eigenständigen Verfahrensziels Restschuldbefreiung, wenngleich der Insolvenzplan gerade im Hinblick auf eine etwaige Gleichrangigkeit als konsensuale Schuldbefreiungsoption nicht die Argumentationskraft wie das durch Rechtsanspruch gesicherte gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren hat. bb) Wandel des historischen Willens
Noch bevor die Insolvenzordnung in Kraft trat, wurde diskutiert, ob mit der Einführung der Restschuldbefreiung und deren Anlehnung an das US-amerikanische Recht ein Paradigmenwechsel der Insolvenzzwecke verbunden sei, was damals wohl überwiegend abgelehnt wurde.296 Wie aber die legislative Historie ergibt, hat sich der Wille des Gesetzgebers im Laufe der Zeit von der Priorisierung der par condicio creditorum durch zahlreiche Gesetzesnovellen dahingehend manifestiert, dass er die Restschuldbefreiung als eigenständiges Verfahrensziel erkoren und damit „aufgewertet“ hat.297 Hinzu kommen immer weiter reichende Angleichungsbestrebungen des nationalen Rechts in Richtung der mitgliedstaatlichen Insolvenzrechte in der EU. Da diese mitunter andere 294 Ähnlich Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 17. 295 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029 m. w. N.: „Die Restschuldbefreiung stellt – neben der Gläubigerbefriedigung – ein zusätzliches Verfahrensziel des Insolvenzverfahrens dar.“. 296 Smid, DZWiR 1997, 309, 312. Vgl. dazu BT-Drucks. 12/2443, S. 105 f. 297 Erste Anklänge – obschon der Feststellung auf S. 108: „Dennoch liegt dem neuen Verfahren ein einheitliches Hauptziel zugrunde: die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger.“ – finden sich bereits im Jahr 1992 in BT-Drucks. 12/2443, S. 81: „Es ist ein zugleich soziales und freiheitliches Anliegen, dem redlichen Schuldner nach der Durchführung eines Insolvenzverfahrens über sein Vermögen leichter als heute eine endgültige Schuldenbereinigung zu ermöglichen.“; beachtenswert S. 84: „Neben der gemeinschaftlichen Haftungsverwirklichung und der vollständigen Abwicklung des Schuldnervermögens ist die endgültige Regulierung der Verbindlichkeiten des Schuldners ein dritter Zweck des einheitlichen Insolvenzverfahrens.“. Aktuell Ahrens, Das neue Privatinsolvenzrecht, S. 3 Rn. 8: „Als Kernbereich des Privatinsolvenzrechts bildet die Restschuldbefreiung das sichtbarste Zeichen eines Strukturwandels, mit dem das Insolvenzrecht aus seiner einseitigen Ausrichtung auf haftungsrechtliche und unternehmensbezogene Ziele gelöst wird.“.
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Schwerpunkte und Ziele verfolgen,298 indiziert die Angleichung an solche Systeme die latent-progressive Änderung des gesetzgeberischen Willens. Nicht zu vergessen sind Entwicklungen auf europäischer Ebene. Mit den – an späterer Stelle ausführlich diskutierten – Vorschriften zur zweiten Chance werden nach deren Umsetzung in vielen EU-Mitgliedstaaten schuldnerfreundlichere Regelungen herrschen als bisher.299 Die ganzen Modifizierungen des Insolvenz- und insbesondere Restschuldbefreiungsrechts sind auch unter dem Lichte einer Änderung des aktuellen gesetzgeberischen Willens zu interpretieren.300 cc) Unschärfen der Begriffsverwendung
Von Gleich- oder Nachrangigkeit zu sprechen, wird indes der Situation nicht gerecht. Sowohl gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung als auch Restschuldbefreiung müssen beide als Prinzipien verwirklicht werden. In welchem – natürlich unterschiedlichen – Maße dies geschieht, obliegt der Ausgestaltung des Gesetzgebers. Dass aber die Gläubiger sowohl weitestgehend befriedigt werden müssen als auch dem Schuldner in jedem Fall die Partizipation am Restschuldbefreiungsverfahren unter den gesetzlichen Bedingungen möglich sein muss, ist a priori einleuchtend. Da folglich beiden Grundsätzen Rechnung zu tragen ist, sind die Begriffe „Gleich-“ oder „Nachrang“ nicht optimal gewählt. Vielmehr ist das Restschuldbefreiungsverfahren dem Insolvenzverfahren zeitlich nachgelagert, ohne dass aus dieser zeitlichen Reihenfolge ein Bedeutungsunterschied resultiert.301 Lediglich im Hinblick auf die modale Ausgestaltung einzelner Verfahrensabschnitte können die Begriffe „Gleich-“ oder „Nachrang“ hinsichtlich der unterschiedlich stark ausgeprägten Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten Verwendung finden. Wollte man aber unabhängig von der detaillierten Ausgestaltung der Tatsache Aufmerksamkeit schenken, dass der Gesetzgeber beide Verfahrensziele letztlich realisiert sehen will, kann man insofern unter Beachtung des vorstehend Gesagten von einem Gleichrang von Gläubigerbefriedigung und Restschuldbefreiung sprechen. 298 Bspw. sei nur die Sanierung des Schuldners zu nennen; vgl. Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 228. Siehe auch der ausdrückliche Bezug auf andere Rechtsordnungen BT-Drucks. 12/2443, S. 100: „Nach dem Vorbild ausländischer Rechtsordnungen sieht der Entwurf vor, daß das Insolvenzverfahren für redliche Schuldner im Regelfall zu einer gesetzlichen Schuldenbereinigung führt.“; auch S. 101: „Dem Vorbild der meisten anderen europäischen Rechte folgend […]“; ferner vgl. S. 105 f. 299 Zu den Vorschriften vgl. Art. 19 – 23 RL-V. 300 Allgemein zur Diskontinuität im Rahmen der genetischen Auslegung Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6 Rn. 41. 301 Ähnlich Ahrens, ZZP 122 (2009), 133, 139 f.; a. A. Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 26.
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dd) Asymmetrische Verfahren
Dem steht auch nicht der Hinweis auf die Besonderheiten asymmetrischer Verfahren entgegen. Mit asymmetrischen Verfahren sind solche Verfahren gemeint, in denen die Abtretungsfrist abgelaufen, das Insolvenzverfahren aber noch nicht beendet ist.302 Vor Inkrafttreten des § 300a InsO existierte keine eigenständige Regelung im Restschuldbefreiungsrecht für den Umgang mit dem Neuerwerb des Schuldners in diesen Verfahren.303 Im Hinblick auf § 35 Abs. 1 Alt. 2 InsO war fraglich, ob der Neuerwerb auch in asymmetrischen Verfahren weiter dem Insolvenzbeschlag unterlag. Dazu urteilte der BGH, es bedürfe auch bei noch nicht abgeschlossenen Insolvenzverfahren einer Entscheidung über den Antrag auf Restschuldbefreiung nach Ablauf der Abtretungsfrist.304 Außerdem entfalle der Insolvenzbeschlag für den Neuerwerb ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Abtretungserklärung.305 Er argumentierte u. a., der Zweck der Restschuldbefreiung, „dem redlichen Schuldner sechs Jahre nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen, würde verfehlt, müsste in jedem Falle das Ende des Insolvenzverfahrens abgewartet werden, auf dessen Dauer der Schuldner kaum Einfluss hat.“306 Der Gesetzgeber erkannte schließlich ein Regelungsbedürfnis und kodifizierte mit § 300a InsO die höchstrichterliche Rechtsprechung.307 Hieraus aber den Schluss zu ziehen, die Restschuldbefreiung ginge der Gläubigerbefriedigung vor, wäre verfehlt. Selbst wenn dieser Vorrang nur auf das Restschuld- im Gegensatz zum Insolvenzverfahren bezogen wäre, handelte es sich bei der Erkenntnis, das Ziel des Restschuldbefreiungsverfahrens liege in erster Linie im Interesse des Schuldners,308 um eine evidente Tautologie. 33.
302 Vgl.
Ahrens, in: Dahl/Jauch/Wolf (Hrsg.), Festschrift Görg, S. 1 f.; Voß, VIA 2015,
303 § 300a InsO wurde durch Art. 1 Nr. 30 des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. 07. 2013, BGBl. I, 2379, 2382 neu in die InsO eingefügt. 304 BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NZI 2010, 111, 113 Rn. 14. 305 BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NZI 2010, 111, 113 Rn. 30; noch weitergehender BGH, Beschl. v. 13. 02. 2014 − IX ZB 23/13 = NZI 2014, 312, 313 Rn. 5. Außerdem kann nach BGH, Beschl. v. 23. 01. 2014 − IX ZB 33/13 = NZI 2014, 229, 230 Rn. 7 das Insolvenzverfahren nicht wegen des Wegfalls des Eröffnungsgrundes nach § 212 InsO eingestellt werden, wenn nach dem Ende der Laufzeit der Abtretungserklärung bei noch laufendem Insolvenzverfahren Restschuldbefreiung erteilt wird. 306 BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NZI 2010, 111, 113 Rn. 21; ähnlich auf den Zweck abstellend BGH, Beschl. v. 13. 02. 2014 − IX ZB 23/13 = NZI 2014, 312, 313 Rn. 7. 307 Siehe BT-Drucks. 17/11268, S. 31. Vgl. oben den Verweis auf Würdinger in Fn. 255. 308 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 31.
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Ferner ist das Insolvenzverfahren zwar partiell durch die Dauer der Treuhandperiode limitiert, aber auch dies ist nur Ausdruck des Bemühens um praktische Konkordanz beider gegenläufiger Interessen, die in concreto unterschiedlich stark ausgeformt sein können, global betrachtet jedoch beide in Anschlag zu bringen sind. Die Bedeutung der Restschuldbefreiung als Verfahrensziel spielte sicherlich eine signifikante Rolle bei der Entscheidung des BGH, jedoch sprachen weitere erhebliche Gründe für die vorgenommene Auslegung.309 Das Ergebnis aber allein mit der der Restschuldbefreiung zu begründen und daraus einen Vorrang derselben vor der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung abzuleiten, ginge zu weit. Folglich ergeben sich keine Änderungen an der vorherigen Argumentation. ee) Fazit: Eigenständiges Verfahrensziel
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände ist letzten Endes zu konstatieren, dass die Restschuldbefreiung de lege lata als eigenständiges und – im obigen Sinne – „gleichrangiges“ Verfahrensziel anzuerkennen ist. Dieses Ergebnis wird zusätzlich von der besonderen verfassungsrechtlichen Sensibilität der Materie und der jüngeren unionsrechtlichen Entwicklung mit dem Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final untermauert. Diese drängt die Restschuldbefreiung immer stärker in den Mittelpunkt insolvenzrechtlicher Rechtsregime. Somit hat sich letztlich gezeigt, dass der Paradigmenwechsel weg von einer alleinigen Priorisierung der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung hin zu einer stärkeren Fokussierung schuldnerischer Belange vollzogen wurde. Die vorgenommene Analyse klammert dabei die Frage aus, ob dies rechtsphilosophisch und gesellschaftspolitisch sinnvoll ist und beschränkt sich ganz auf die Auslegung des gesetzten Rechts. 2. Zweck der Restschuldbefreiung
Aufgrund des Grundsatzes der unbeschränkten Nachforderung nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens in § 201 Abs. 1 InsO ist eine „faktisch“ lebenslange Haftung des Schuldners nicht unüblich, zumal Ansprüche wegen § 178 Abs. 3 InsO i. V. m. § 197 Abs. 1 Nr. 5 BGB teils erst nach 30 Jahren 309 Bspw. bestünden nach BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NZI 2010, 111, 113 Rn. 36 ungerechtfertigte Vorteile für die Insolvenzgläubiger, deren Forderung durch die Restschuldbefreiung in eine Naturalobligation verwandelt wird gegenüber dem Schuldner und den Gläubigern der nach § 302 InsO privilegierten Forderungen. Außerdem wirkten sich Verschleppungsmaßnahmen einfacher Insolvenzgläubiger bei laufenden pfändbaren Einkünften des Schuldners unmittelbar zu ihren Gunsten aus. So auch BTDrucks. 17/11268, S. 31.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
verjähren.310 Der Zweck der Restschuldbefreiung besteht darin, redlichen 311 natürlichen Personen ein mit einem Rechtsanspruch abgesichertes, nicht konsensdeterminiertes Verfahren zur Entschuldung zur Verfügung zu stellen, mit dem in absehbarer Zeit unter Einhaltung mehr oder minder konkretisierter Voraussetzungen eine dauerhafte Schuldbefreiung erreicht werden kann. a) Personal-soziale Zielsetzung
Aus personaler Sicht dient die Restschuldbefreiung dem persönlichen Schutz und weiter dem Persönlichkeitsrecht des Schuldners.312 Darüber hinaus wird das Restschuldbefreiungsverfahren als Schuldenregulierungsverfahren 313, welches neben der optimalen Gläubigerbefriedigung dem Schuldner einen geordneten Ausweg aus der Insolvenz weisen soll, verstanden. Der Staat kommt hierdurch seiner sozialen und moralischen Verpflichtung zur Unterstützung des Bürgers in der Phase der Zerstörung seiner wirtschaftlichen Existenz nach. b) (Makro)ökonomisch-wirtschaftspolitische Zielsetzung und Bedeutung
Aus ökonomischer Sicht sind die Ziele des Regelungskomplexes die Reintegration in das Wirtschaftsleben durch Ermöglichung eines wirtschaftlichen Neuanfangs314 sowie eine allgemeine Partizipation am gesellschaftlichen, von der wirtschaftlichen Potenz oftmals abhängigen Leben. Humankapital soll erhalten bleiben.315 Als Reflex soll das Abgleiten großer Teile der Bevölkerung in die Schattenwirtschaft verhindert werden.316 Wirtschaftspolitisch ist eine Änderung der Kreditvergabepraxis gewünscht und eine Förderung und Stabilisierung von Verbraucherkrediten anvisiert.317 Außerdem sei die Restschuldbe310
Bei Steuerforderungen ist § 228 Satz 2 AO zu beachten. Zur Bedeutung der Redlichkeit in § 1 Satz 2 InsO Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/ Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 108. 312 Nach BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 9 ist die Restschuldbefreiung für den Schuldner von „existentieller Bedeutung“. 313 Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 17; ders., JZ 2016, 548, 550 f. 314 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, Rn. 8; BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NJW 2010, 2283, 2284 Rn. 21. Auch BT-Drucks. 17/11268 S. 43. Auf europäischer Ebene die Bedeutung für den Binnenmarkt hervorhebend COM(2012), 742 final, S. 3. 315 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 153. 316 Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), Vorbemerkung vor §§ 286 bis 303 InsO, Rn. 2. 317 Konecny, ZEuP 1995, 589, 599; Wimmer, BB 1998, 386, 387. Zur Auswirkung des Insolvenzrechts auf die Kreditvergabepraxis im Einzelnen Cerqueiro/Penas, RFS 2017, 2523 ff.; Davydenko/Franks, JF 2008, 565 ff. 311
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freiung ein Detektor zum Aufspüren notleidender Kredite und führe letztlich zur makroökonomisch wichtigen Beseitigung derselben durch Abschreibung bei den Gläubigern.318 3. Rechtswirkungen der Restschuldbefreiung
Die schon fast messianische Heilsfunktion der Restschuldbefreiung für wirtschaftlich existenzbedrohte Schuldner erklärt sich aufgrund ihres durch Rechtsanspruch gesicherten, indisponiblen Charakters und ihrer umfassenden Rechtswirkungen. a) Mutation der Verbindlichkeiten und Universalwirkung
Die Schuldbefreiung selbst bewirkt eine Mutation der Verbindlichkeiten zu Naturalobligationen (arg. ex. § 301 Abs. 3 InsO); die Gläubiger können diese nicht mehr erzwingen.319 Entscheidend ist die Universalwirkung der Restschuldbefreiung, die § 301 Abs. 1 InsO zeitigt: Danach wirkt die Restschuldbefreiung nicht nur gegen alle Insolvenzgläubiger, sondern sogar auch gegen Gläubiger, die ihre Forderung nicht angemeldet haben.320 b) Vorzeitige Restschuldbefreiung und Auswirkungen auf Sicherungsgeber
In § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO wurden vier Möglichkeiten geschaffen, eine Restschuldbefreiung vorzeitig herbeizuführen.321 Die Erfüllung einer Mindestquote ist grundsätzlich keine Voraussetzung, um in den Genuss der Schuldbefreiung nach Ablauf von spätestens sechs Jahren zu gelangen.322 Selbst im Falle der Verfahrenseinstellung nach § 211 InsO kann gem. § 289 InsO die Restschuldbefreiung erteilt werden. Jedoch ist unter gewissen Umständen, darunter die Befriedigung eines gewissen Teils der Forderungen, die Restschuldbefreiung vorzeitig zu gewähren. Sind entweder keine Forderungen angemeldet oder 318 Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 1 InsO Rn. 17; ders., JZ 2016, 548, 550 f. 319 BGH, Beschl. v. 23. 01. 2014 − IX ZB 33/13 = NZI 2014, 229, 230 Rn. 8; auch Becker, Insolvenzrecht, § 33 Rn. 1587. 320 Fischinger, KTS 2011, 51 ff. und Wagner, ZVI 2007, 9 ff. vertreten die von vielen anderen Autoren abgelehnte Auffassung, die Vorschrift sei wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG in bestimmten Situationen verfassungswidrig, z. B. als sie sich auch auf die vom Schuldner übersehenen oder weggelassenen Gläubiger erstreckt. In die Erwägungen fließt jedoch nicht die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs aus § 826 BGB ein. 321 Näher Kluth, NZI 2014, 801 ff. 322 BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 = NJW 2002, 960, 961.
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alle Insolvenzgläubiger befriedigt und die sonstigen Masseverbindlichkeiten berichtigt, so kann die Restschuldbefreiung sofort erteilt werden. Ferner ist eine Erteilung nach drei Jahren möglich, wenn der Schuldner mindestens 35 % der Verbindlichkeiten beglichen hat. In jedem Fall muss die Berichtigung der Verfahrenskosten hinzutreten. Sind nur diese berichtigt, ohne dass die genannten zusätzlichen Erfordernisse erfüllt sind, kann die Restschuldbefreiung aber bereits nach fünf Jahren erteilt werden. Die Sicherungsgeber können gem. § 301 Abs. 2 Satz 1 InsO von den Insolvenzgläubigern weiterhin in voller Höhe – wie auch in § 254 Abs. 2 InsO – in Anspruch genommen werden, während der Schuldner gegenüber den Sicherungsgebern nach § 301 Abs. 2 Satz 2 InsO befreit wird. c) Ausnahmen
Neugläubiger behalten zwar ihre Ansprüche, können aber nur auf den Neuerwerb zugreifen (vgl. § 300a InsO). Überdies sind die Massekosten nicht von der Restschuldbefreiung erfasst, da es sich insofern um Masseverbindlichkeiten und nicht um Insolvenzforderungen handelt.323 Keine Befreiung erfolgt auch gegenüber den absonderungsberechtigten Gläubigern bzgl. ihres Rechts auf abgesonderte Befriedigung.324 Daneben sind nur die in § 302 InsO genannten Verbindlichkeiten von der Restschuldbefreiung ausgenommen.325 Jedoch kann ein Anspruch der Gläubiger gegen den Schuldner aus § 826 BGB folgen, wenn der Schuldner einen Anspruch im Restschuldbefreiungsverfahren verschweigt.326 4. Verfahrensablauf
In den Genuss der Restschuldbefreiungsoption kommen ausweislich des § 286 InsO nur natürliche Personen – d. h. v. a. Verbraucher, aber auch Einzelkaufleute, persönlich haftende Gesellschafter und Freiberufler – in einem über 323 Im Falle der Verfahrenskostenstundung wird der Schuldner aber spätestens nach vier Jahren, sofern die Massekosten nicht bereits vorher beglichen wurden, von diesen Verbindlichkeiten befreit, vgl. § 4b Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 115 Abs. 2 Satz 4 ZPO. 324 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 130. 325 Ausführlich zu den von der Schuldbefreiung betroffenen Verbindlichkeiten Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 301 Rn. 3 ff. 326 BGH, Beschl. v. 20. 11. 2014 − IX ZB 56/13 = NZI 2015, 132 f. Rn. 9, 11; BGH, Beschl. v. 06. 11. 2008 – IX ZB 34/08 = NZI 2009, 66 Rn. 11; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 07. 05. 2015 − 4 W 9/15 = NZI 2015, 712 ff.; Ahrens, NZI 2015, 687 f.; ders., NZI 2013, 721 ff.
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ihr eigenes Vermögen geführten Insolvenzverfahren.327 Das Restschuldbefreiungsverfahren setzt zunächst und in jedem Fall die Eröffnung eines Insolvenz verfahrens voraus, obgleich dieses nicht in Gänze durchgeführt werden muss. Vielmehr kann die Restschuldbefreiung auch u. U. schon vor Abschluss des Insolvenzverfahrens erteilt werden.328 a) Antrag
Um das Restschuldbefreiungsverfahren in Gang zu setzen, muss der Schuldner gem. § 286 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO einen entsprechenden Antrag spätestens innerhalb zweier Wochen nach dem Hinweis gem. § 20 Abs. 2 InsO stellen. Dem ist die Abtretungserklärung, das Kernstück der Restschuldbefreiung,329 nach § 287 Abs. 2 InsO beizufügen. Kein Restschuldbefreiungsverfahren ist durchzuführen, wenn das Insolvenzverfahren nur aufgrund eines Gläubigerantrags eröffnet wird oder wenn das Insolvenzverfahren mangels Masse, falls die Massekosten nicht gestundet werden, nicht eröffnet wird.330 Gleiches gilt für die Verfahrenseinstellung nach § 207 InsO. Um einem Missbrauch des Verfahrens vorzubeugen, ist für die Zulässigkeit des Antrags § 287a Abs. 2 InsO maßgeblich, der einen ausreichenden zeitlichen Abstand aufeinanderfolgender Restschuldbefreiungsverfahren sicherstellt.331 Sind die dort genannten Sperrfristen nicht eingehalten, ist der Antrag auf Restschuldbefreiung unzulässig. Die Frist des § 287a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO lässt sich auch, falls ein ausländische Verfahren in Deutschland anerkannt wird, analog auf eine im Ausland erteilte Restschuldbefreiung anwenden.332 b) Eingangsentscheidung und Abtretungsfrist
Die Eingangsentscheidung, in der die Restschuldbefreiung gem. § 287a Abs. 1 InsO angekündigt wird, erlässt das Gericht (§ 18 Abs. 1 RPflG) bereits im Rahmen der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (arg. ex. § 287 Abs. 2 Satz 2 InsO).333 327
BT-Drucks. 12/2443, S. 189 Begründung zu § 235. BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NZI 2010, 111, 113 Rn. 20. 329 Foerste, Insolvenzrecht, § 35 Rn. 536. 330 Zur Eröffnung aufgrund eines Fremdantrags BGH, Beschl. v. 22. 10. 2015 – IX ZB 3/15 = ZInsO 2015, 2579 Rn. 7 ff.; BGH, Beschl. v. 04. 12. 2014 – IX ZB 5/14 = ZIP 2015, 186 Rn. 8. 331 Ähnlich Reischl, Insolvenzrecht, § 10 Rn. 792. 332 Sternal, in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenzordnung, Band 1, 15. Auflage, München 2019, § 287a Rn. 23; Vallender, ZInsO 2009, 616, 621. 333 BT-Drucks. 17/11268, S. 24. 328
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Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat der Schuldner gem. § 287 Abs. 2 InsO während eines sechsjährigen Zeitraums seine pfändbaren Forderun gen auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge an einen Treuhänder abzutreten. Entsprechendes gilt nach § 295 Abs. 2 InsO mutatis mutandis für Einkünfte aus einer selbstständigen Tätigkeit.334 Ab Beginn der Abtretungsfrist obliegt dem abhängig beschäftigten oder selbstständigen Schuldner laut § 287b InsO, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben. Dies ergibt sich für die Zeit nach Beendigung des Insolvenzverfah rens aus § 295 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO. Die Erwerbsobliegenheit ist streng aus zulegen, da die Verhaltensanforderungen und die Aussicht auf die Restschuld befreiung den Schuldner primär motivieren sollen, während der Treuhandzeit 335 eine höhere Gläubigerbefriedigungsquote zu erreichen.336 c) Versagung gem. § 290 InsO
Indes muss die Restschuldbefreiung u. U. durch Beschluss nach Antrag eines Insolvenzgläubigers unter den in § 290 Abs. 1 InsO genannten Voraussetzungen versagt werden. Die Entscheidung über die Versagungsanträge fällt nach dem Schlusstermin (§ 290 Abs. 2 Satz 2 InsO). Eine Berücksichtigung von nicht vom Gläubiger vorgetragenen Versagungsgründen von Amts wegen ist nicht zuläs sig.337 Ebenso ist das Nachschieben von Versagungsgründen durch den Gläubi ger als unzulässig abzuweisen.338 § 290 Abs. 1 InsO konkretisiert als Verhaltensanforderung das, was § 1 Satz 2 InsO mit Redlichkeit des Schuldners beschreibt. Nach der Konzeption der InsO muss nämlich einem unredlichen Schuldner keine Restschuldbefrei ung erteilt werden.339 Was genau unter Redlichkeit zu verstehen ist, ergibt sich erst aus der systematischen Zusammenschau der §§ 286 ff. InsO. Ein Einfalls 334 Dazu BT-Drs. 16/3227, S. 17; BGH, Beschl. v. 04. 02. 2016 – IX ZB 13/15 = ZInsO 2016, 593, 594 Rn. 10. Beachte aber Gehrlein, ZInsO 2017, 1352, 1354 ff., wonach der Schuldner durch die Freigabe ein nicht vom Insolvenzbeschlag erfasstes, neues Vermögen bilden kann; auch Henning, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 295 Rn. 40: „Erzielt der Schuldner mit seiner selbstständigen Tätigkeit mehr Einkommen als mit der angemes senen abhängigen Beschäftigung, hat er diesen ,Mehrerlös‘ nicht herauszugeben.“. 335 Bezeichnung als „Treuhandzeit“ in BGH, Beschl. v. 19. 05. 2011 – IX ZB 274/10 = ZInsO 2011, 1319, 1320 Rn. 12. 336 BT-Drucks. 12/2443, S. 188, 192: „Die Obliegenheiten des Schuldners sind insoweit immer auch unter dem Gesichtspunkt der bestmöglichen Befriedigung der Gläubiger zu sehen.“. 337 BGH, Beschl. v. 15. 07. 2010 – IX ZB 269/09 = ZInsO 2010, 1495 Rn. 3. 338 BGH, Beschl. v. 14. 05. 2009 – IX ZB 33/07 = ZInsO 2009, 1317, 1318 Rn. 5. 339 Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommen tar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 108.
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tor für eine moralische Fundierung der Restschuldbefreiungsvorschriften ist damit aber nach Ansicht einiger Autoren nicht verbunden, zumal in den §§ 286 ff. InsO nur einzelne Verhaltensanforderungen aufgestellt werden und die Restschuldbefreiung nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Zwecke verfolgt.340 Darüber hinaus wird der Redlichkeitsgedanke – sofern man diesem über die konkreten Verhaltensanforderungen hinaus einen maßgeblichen Wert zumisst – wegen der Regelung in § 287a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO durchbro chen, da dort unabhängig vom Verhalten des Schuldners die Unzulässigkeit des Restschuldbefreiungsantrags allein von einer Zehnjahresfrist abhängig ist. Der ausschlaggebende Gedanke für diese Regelung ist zum einen die Missbrauchs prävention und zum anderen die Unzumutbarkeit eines erneuten vollständigen Forderungsausfalls für die Gläubiger.341 In praxi ist § 290 Abs. 1 Nr. 5 und 6 InsO besonders häufig wegen des vor sätzlichen oder grob fahrlässigen Verschweigens von Gläubigern einschlägig.342 Bei ganz unwesentlichen Verstößen darf die Restschuldbefreiung aber nicht versagt werden.343 d) Beginn der Restschuldbefreiungsphase und Bestellung des Treuhänders
Die Restschuldbefreiungsphase beginnt, wenn keine auf § 290 InsO gestütz ten Versagungsanträge vorliegen und ein Treuhänder bestellt wird.344 Nun muss der Schuldner die Obliegenheiten des § 295 InsO einhalten, die ihn zwischen Beendigung des Insolvenzverfahrens und dem Ende der Abtretungsfrist tref fen.345 Falls die Entscheidung über die Restschuldbefreiung noch nicht ergangen ist, bestellt das Gericht mit der Entscheidung über die Insolvenzverfahrensaufhe bung oder -einstellung nach § 288 Satz 2 InsO einen Treuhänder. Im Falle der Versagung nach § 290 InsO oder der Restschuldbefreiung noch während des eröffneten Verfahrens erübrigt sich die Bestellung.346 340 Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 2 Rn. 26: die Angabe des Redlichkeitserfordernisses in § 1 Satz 2 InsO klinge nach „unnötiger Moralisierung“. 341 Vgl. dazu Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 108. 342 Reischl, Insolvenzrecht, § 10 Rn. 802. 343 AG Göttingen, Beschl. v. 23. 12. 2015 – Az. 71 IK 106/15 NOM = VuR 2017, 77 f. 344 Vgl. Blankenburg, ZVI 2017, 89, 90. 345 Vgl. auch die Statistik zur Versagung der Restschuldbefreiung nach §§ 290 und 295 InsO zwischen 1999 bis 2005 in Schmerbach, NZI 2005, 521 ff. 346 Riedel, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 288 Rn. 1.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
e) Gläubigergleichbehandlungsgebot
Ausdruck des Gläubigergleichbehandlungsgebots ist die annuelle Betragsverteilung des Treuhänders aufgrund des Schlussverzeichnisses gem. § 292 Abs. 1 Satz 2 InsO. Einen weiteren Aspekt des Gläubigergleichbehandlungsgebots stellt § 294 InsO dar. Das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO gilt ab der Aufhebung oder Einstellung des Insolvenzverfahrens.347 Beachtenswert ist, dass die Gläubiger, die ihre Ansprüche erst nach Insolvenzverfahrenseröffnung erworben haben, nur Befriedigung aus dem freien Schuldnervermögen 348 suchen können; das Zwangsvollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO gilt in der Hinsicht nicht für sie.349 Auch hinsichtlich der Massegläubiger findet das Zwangsvollstreckungsverbot keine Anwendung.350 f) Einstellung gem. §§ 296, 297, 298 InsO
Die Restschuldbefreiung kann schon während der Treuhandperiode – und u. U. danach gem. § 297a InsO – durch Antrag351 des Gläubigers oder des Treuhänders versagt werden, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 296 – 298 vorliegen. Erforderlich ist eine Teilnahme des Gläubigers am Insolvenzverfahren sowie die Glaubhaftmachung von Obliegenheitsverletzung und sich daraus ergebender Beeinträchtigung der Gläubigerbefriedigung.352 Die Gläubiger haben die Obliegenheitsverletzung nachzuweisen, während der Schuldner das mangelnde Verschulden darlegen muss.353 Es gilt die Dispositionsmaxime, weswegen der gerichtlichen Entscheidung nur die geltend gemachten Versagungsgründe zu Grunde gelegt werden können.354 347 Sternal, in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenzordnung, Band 1, 15. Auflage, München 2019, § 294 Rn. 13. 348 Zum beschränkten Vermögenszugriff des Neugläubigers Ehricke, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 294 Rn. 21. 349 Ehricke, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 294 Rn. 21. 350 BGH, Urt. v. 28. 06. 2007 – IX ZR 73/06 = ZInsO 2007, 994 Rn. 15. Ausführlich Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 294 Rn. 29. 351 BGH, Beschl. v. 19. 07. 20012 – IX ZB 215/11 = ZInsO 2012, 1580, 1581 Rn. 3 f. 352 Zur Hinderung die Versagungsanträge aufgrund mangelnder Teilnahme zu stellen BGH, Beschl. v. 09. 10. 2008 – IX ZB 16/08 = ZInsO 2009, 52 Rn. 2. Zur Beeinträchtigung der Gläubigerbefriedigung BGH, Beschl. v. 08. 02. 2007 – IX ZB 88/06 = NZI 2007, 297 Rn. 5. 353 BGH, Beschl. v. 24. 09. 2009 – IX ZB 288/08 = ZInsO 2009, 2069 Rn. 6; Döbereiner, Die Restschuldbefreiung nach der Insolvenzordnung, S. 204. 354 BGH, Beschl. v. 21. 01. 2010 – IX ZB 67/09 = ZInsO 2010, 391, 392 Rn. 11.
D. Möglichkeiten der Schuldbefreiung de lege lata
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Wie schon bei § 290 InsO so sollen auch bei § 295 InsO moralische Erwägungen nach Ansicht einiger Autoren außen vor bleiben. § 295 InsO hat den Zweck, den Schuldner zur Mitwirkung zu motivieren und so eine höhere Gläubigerquote zu erzeugen.355 Aus dieser Zwecksetzung und § 296 Abs. 1 Satz 1 InsO, der die Beeinträchtigung der Gläubigerbefriedigung fordert, folge, dass die Obliegenheiten weder edukatorische Ziele noch Strafzwecke verfolgen und auch keine Genugtuungsfunktion besitzen.356 g) Entscheidung gem. § 300 Abs. 1 InsO und eventueller Widerruf
Sofern keine vorzeitige Beendigung des Verfahrens eingetreten ist, entscheidet das Gericht gem. § 300 Abs. 1 InsO durch öffentlich bekannt zu machenden Beschluss am Ende der Treuhandperiode über die Restschuldbefreiung. Auch an dieser Stelle des Verfahrens kann die Restschuldbefreiung noch nach § 300 Abs. 3 InsO versagt werden.357 Ist die Entscheidung über die Restschuldbefreiung in Rechtskraft erwachsen, kann sie innerhalb höchstens eines Jahres nach dem Eintritt der Rechtskraft auf Antrag eines Insolvenzgläubigers gem. § 303 InsO widerrufen werden.358 5. Verfahrenskostenstundung nach §§ 4a ff. InsO
Das Restschuldbefreiungsverfahren kann nicht durchgeführt werden, wenn der Insolvenzeröffnungsantrag mangels Masse nach § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO zurückgewiesen wird. Das Gleiche gilt für eine Einstellung mangels Masse gem. § 207 Abs. 1 Satz 1 InsO. Abweisung und Einstellung können aber durch einen 355 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 295 Rn. 2. Anders wohl Medicus, DZWiR 2007, 221, 226, der hierin den Versuch erblickt, das Verschulden des Schuldners an der Insolvenz festzustellen; daher auch die Kritik an § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO, wonach der Gläubiger den Erwerb von Todes wegen in Gänze bekommen und der Gesetzgeber einer Ausschlagung seitens des Schuldners die Wirksamkeit versagen sollte. 356 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 295 Rn. 2 f.; a. A. Döbereiner, Die Restschuldbefreiung nach der Insolvenzordnung, S. 221: „erzieherische Auswirkungen“; Ehricke, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenz ordnung, Band 3, § 295 Rn. 2. Vgl. auch Konecny, ZEuP 1995, 589, 599. 357 Auch bei positiver Kenntnis des Gerichts von einem Versagungsgrund darf die Restschuldbefreiung ohne Gläubigerantrag nicht versagt werden, vgl. BGH, Beschl. v. 08. 02. 2007 – IX ZB 88/06 = NZI 2007, 297 Rn. 6, 8. 358 Aber auch die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den §§ 578 ff. ZPO kann die Entscheidung über die Restschuldbefreiung beseitigen, vgl. BGH, Beschl. v. 02. 02. 2006 – IX ZB 279/04 = NZI 2006, 234 Rn. 8.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
ausreichenden Kostenvorschuss verhindert werden (§ 26 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1, § 207 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 Alt. 1 InsO). Etwaigen Darlehensgebern wird durch § 302 Nr. 3 InsO ein Stück weit entgegengekommen. Ist der Schuldner nicht in der Lage einen entsprechenden Vorschuss aufzubringen, bleibt ihm nur noch die Möglichkeit, die Verfahrenskostenstundung nach den § 4a InsO zu beantragen.359 Primärer Zweck der Verfahrenskostenstundung ist das Ermöglichen der Entschuldung durch Restschuldbefreiung.360 Wird die Stundung bewilligt, kann das Insolvenzverfahren eröffnet und das Restschuldbefreiungsverfahren durchgeführt werden (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, § 207 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 Alt. 2 InsO).361 a) Antrag und Mittellosigkeit des Schuldners
Voraussetzung der Stundung ist zunächst gem. § 4a InsO ein Antrag des mittellosen Schuldners, d. h., sein Vermögen darf nicht ausreichen, um die in § 54 InsO genannten Kosten mit einer einmaligen Zahlung zu begleichen.362 Jedoch ist pfändbarer Neuerwerb (§ 35 Abs. 1 Alt. 2 InsO) Bestandteil des Vermögens, sodass auch weitere Arbeitseinkünfte des Schuldners zu berücksichtigen sind.363 Überdies muss sich dem Schuldner die Perspektive der Restschuldbefreiung bieten; das Ziel eines wirtschaftlichen Neuanfangs darf nicht unerreichbar sein.364 b) Dauer der Verfahrenskostenstundung
Die Stundung erfolgt für jeden Verfahrensabschnitt nach § 4a Abs. 3 Satz 2 InsO gesondert, also für das Eröffnungs-, das gerichtliche Schuldenbereinigungsplan-, das Verbraucherinsolvenz-, das Regelinsolvenz- und das Rest359 Zu Reformerwägungen hinsichtlich der Verfahrenskostenstundung Reck, ZVI 2016, 173 ff. 360 Ähnlich Foerste, Insolvenzrecht, § 36 Rn. 593: „Die Stundung dient allein dazu, die Restschuldbefreiung zu fördern.“. Reck, ZVI 2016, 173: Die Verfahrenskostenstundung dient „doch auschließlich der Zugangsmöglichkeit des mittellosen Schuldners zum Verfahren.“. 361 Zur Verfahrenskostenstundung auch im Insolvenzplanverfahren Kohte, in: Kohte/ Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 4a Rn. 45; a. A. wohl Rein, ZVI 2014, 239, 242 f. Nicht in Betracht kommt eine weitere Stundung der Verfahrenskosten nach Bestätigung des Insolvenzplans und Aufhebung des Insolvenzverfahrens, siehe BGH, Beschl. v. 05. 05. 2011 − IX ZB 136/09 = NZI 2011, 683, 684 Rn. 11, 12. 362 BGH, Beschl. v. 04. 11. 2004 – IX ZB 70/03 = ZInsO 2004, 1307, 1308. 363 Foerste, Insolvenzrecht, § 36 Rn. 592. 364 Z. B. aufgrund § 287a Abs. 2, § 290 InsO oder aufgrund ausgenommener Forderungen nach § 302 InsO. Siehe BGH, Beschl. v. 16. 01. 2014 − IX ZB 64/12 = NZI 2014, 231 Rn. 6; AG Hannover, Beschl. v. 28. 09. 2015 − 909 IK 1072/15 -9 = NZI 2016, 271, 272.
E. Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen
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schuldbefreiungsverfahren.365 Die Kosten werden bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung gestundet (§ 4a Abs. 1 Satz 1 InsO). Diese Stundung ist366 aber, falls der Schuldner im Zeitpunkt der Erteilung der Restschuldbefreiung nicht imstande ist, die Kosten sofort zur Gänze zu begleichen,367 gem. § 4b Abs. 1 InsO auf Antrag des Schuldners zu verlängern.368 Das Gericht setzt die zu zahlenden Monatsraten fest, wobei gem. § 4b Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 115 Abs. 2 Satz 4 ZPO maximal 48 Monatsraten aufzubringen sind. Dabei sind auch sog. „Nullraten“ zulässig.369 Daraus ergibt sich, dass der Schuldner höchstens vier Jahre lang nach Erteilung der Restschuldbefreiung in Anspruch genommen werden kann, gleichgültig wie hoch die nach Ablauf der 48 Monatsraten noch offenen Verfahrenskosten sind.370 Ferner kann das Gericht die Stundung nach § 4c InsO aufheben, wenn ein dort genannter Aufhebungsgrund vorliegt.
E. Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen Obschon jede der vorgestellten Schuldbefreiungsoptionen Vorzüge und Nachteile hat, ist das Restschuldbefreiungsverfahren die rechtstatsächlich am häufigsten genutzte Option. Es besteht die Notwendigkeit, insgesamt die komparativen Vor- und Nachteile des Restschuldbefreiungsverfahrens gegenüber denen der anderen Schuldbefreiungsoptionen abzuwägen, um zu klären, ob und welche konzeptionellen Gründe diese statistische Häufigkeit bedingen.
I. Komparative Vorteile konsensdeterminierter Schuldbefreiungsoptionen Ein grundlegender Unterschied zwischen den konsensualen Schuldbefreiungsoptionen und dem Restschuldbefreiungsverfahren ergibt sich aus § 287a 365 BGH, Beschl. v. 25. 09. 2003 – IX ZB 459/02 = NJW 2003, 3780, 3781; BT-Drucks. 14/5680, S. 21. 366 Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung, vgl. Andres, in: Andres/Leithaus/ Dahl (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 4b Rn. 8. Anders aber, wenn ein Aufhebungsgrund im Sinne des § 4c InsO vorliegt, vgl. Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 4b Rn. 16. 367 Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018),§ 4a Rn. 51. 368 Zum Erfordernis des Schuldnerantrags BGH, Beschl. v. 5. 5. 2011 − IX ZB 136/09 = NZI 2011, 683, 684 Rn. 10. 369 LG Dresden, Beschl. v. 11. 10. 2005 – 5 T 518/05 = ZVI 2005, 553, 554. 370 Vgl. dazu Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 4b Rn. 19; Madaus, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, § 4b InsO Rn. 19.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO.371 Während der Restschuldbefreiungsantrag bei Unterlaufen der dort genannten Fristen unzulässig ist, gelten die Fristen aufgrund des klaren Wortlauts der Norm und des systematischen Standorts nicht für die anderen Schuldbefreiungsoptionen. Überhaupt ist es nur logische Folge der privatautonomen Verfahrensgestaltung, den Gläubigern die Entscheidung einer rasch aufeinanderfolgenden, mehrmaligen Entschuldung zu überlassen. Somit ist eine mehrmalige Schuldbefreiung auf konsensualem Entschuldungswege in wesentlich geringeren zeitlichen Abständen möglich als im Restschuldbefreiungsverfahren. Wird man der unter Umständen sehr langen Dauer bis zur endgültigen Entschuldung – so sie denn eintritt – im Restschuldbefreiungsverfahren gewahr, zeigen sich die Vorteile der konsensdeterminierten Verfahren umso kontrastreicher. Gerade die ärmsten der armen Schuldner müssen das komplette Verfahren durchlaufen, welches vom außergerichtlichen Einigungsversuch über das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren372 durch die sechsjährige Treuhandperiode bis letztlich zum Ablauf der 48 zu zahlenden Monatsraten aufgrund von § 4b Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 115 Abs. 2 Satz 4 ZPO reicht.373 Dass statt dieser mehr als zehnjährigen sozial, wirtschaftlich und emotional schwierigen Phase andere Lösungen aus Schuldnersicht vorzugswürdig sind, liegt prima facie auf der Hand. Dem Vorteil einer raschen Entschuldung in konsensualen Schuldbefreiungsverfahren kann auch nicht gänzlich damit begegnet werden, dass auch im gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahren eine vorzeitige Restschuldbefreiung nach § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO erteilt werden kann. Eine vorzeitige Entschuldung gem. § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nach drei Jahren entbehrt aufgrund ihrer Praxisferne jeglicher realistischen Schuldbefreiungschance für den Großteil der Schuldner. Im Vorfeld wurden mannigfaltig Bedenken geäußert, kaum ein
371 Dazu Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 287a Rn. 35, § 300 Rn. 5. Gegen erweiternde analoge Anwendungen des § 287a Abs. 2 InsO mangels planwidriger Regelungslücke Stephan, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 287a (neu) Rn. 18 a. E.; vgl. auch die bewusste legislatorische Dezision: „Sperrfristen für anderweitige Fälle vorhergehenden Fehlverhaltens des Schuldners sind nicht vorzusehen.“, BT-Drucks. 17/11268, S. 25. 372 Das gerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren alleine kann sich schon aufgrund des hohen administrativen Aufwands über Monate hinziehen, vgl. Harder, NZI 2013, 70, 71. 373 Nicht zu vergessen sei auch eine ggf. fortbestehende Nachhaftung wegen § 302 InsO. Dazu Ahrens, ZVI 2011, 273, 274, der auf die Strenge und lange Verfahrensdauer des gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahrens vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte hinweist.
E. Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen
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Schuldner werde ohne nennenswerte Drittmittel374 die vom Rechtsausschuss375 von 25 % auf 35 % erhöhte Quote erfüllen können,376 zumal diese Quote eklatant höher sei, wenn noch Verfahrenskosten und Masseverbindlichkeiten hinzugerechnet werden.377 Aufgrund der bis dato defizitären empirischen Datenlage378 schuf der Gesetzgeber mit Art. 107 Abs. 1 EGInsO eine Evaluierungsvorschrift, die Aufschluss über die Notwendigkeit einer erneuten legislatorischen Revision geben sollte. Dabei sollte die Effektivität des Anreizsystems erst gegeben sein, wenn wenigstens 15 Prozent aller Personen, die sich in einem Restschuldbefreiungsverfahren befinden, die Möglichkeit eröffnet wird, vorzeitig Restschuldbefreiung zu erlangen.379 Nach jüngsten Erkenntnissen sind diese 15 Prozent – wie von vielen Stimmen im Vorfeld erwartet – bei weitem nicht erreicht worden. Nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei CrfibÜRgel ist es nur 8,2 % der insolventen Schuldnern gelungen, die Restschuldbefreiung nach drei Jahren zu erlangen.380 Am größten war der Prozentsatz mit 13,8 % in der Gruppe der ehemals Selbstständigen. Für die Verbraucherinsolvenzen bedeutet dies, dass insgesamt 7,7 % der insolventen Verbraucher von der 35 %-Regelung profitieren konnten, wobei es vor allem jungen Menschen gelang, das Restschuldbefreiungsverfahren entsprechend zu verkürzen. Diese Zahlen sind aber mit Vorsicht zu interpretieren, da nicht jeglicher Effekt der Anreizregelgung messbar ist oder tatsächlich gemessen wurde. Beispielsweise ist die Zahl der außergerichtlichen Einigungen und der dort erzielten Quoten nur schwierig empirisch nachweisbar. Ebenso ist die präventive Kraft einer Norm, also die Wirkung einer Norm auf die Verhaltenssteuerung eines Individuums vor ihrer tatbestandlicher Einschlägigkeit, kaum quantifizierbar.381 374 Kluth, NZI 2014, 801 sieht diese Vorschrift wohl nur für den Fall nennenswerter Drittmittel als praxistauglich an; vgl. auch Grote/Pape, ZInsO 2013, 1433, 1434. 375 BT-Drucks. 17/13535, S. 1, 11 f.; bereits BT-Drucks. 17/11268, S. 14. 376 Vgl. Baczako, ZVI 2013, 209, 213; Ritter, ZVI 2013, 135. In diesem Sinne auch Hingerl, ZVI 2012, 258, 259; Kranzusch, ZInsO 2169, 2178 f.; Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), Vorbemerkung vor §§ 286 bis 303 InsO Rn. 8. 377 Nach Grote, InsbürO 2014, 47, 49 f. beträgt die Quote insgesamt bei angemeldeten Forderungen von 40.000 € im Insolvenzverfahren zw. 60 % und 80 % und im Restschuldbefreiungsverfahren ca. 41 %. Siehe auch die Beispielsrechnungen von Leipold, ZInsO 2013, 2052 f. und Möhlen, ZInsO 2015, 1603 ff. 378 Zum Defizit an rechtstatsächlichem Datenmaterial vgl. § 2. C. II. 379 Vgl. BT-Drucks. 17/13535, S. 30. 380 Siehe https://www.crif buergel.de/de/aktuelles/pressemitteilungen/privatplei ten-nur-wenigen-verbrauchern-gelingt-schuldenschnitt (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018); darauf verweisend ZInsO 31 – 32/2018, III f. 381 Siehe instruktiv zur Restschuldbefreiung aus präventiver Perspektive Würdinger, KTS 2017, 445, 459 f.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
Ob ein Schuldner aus Angst vor der Schmach der Insolvenz noch vor Eröffnung des Verfahrens eine überobligatorische Quote leistet oder von vornherein gewillt ist, maximal die gesetzlich geforderte Quote aufzubringen und bei Scheitern außergerichtlicher Verhandlungen dann mit einer gewissen Indifferenz die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt, bedarf weiterer Aufklärung. Mittlerweile hat auch die Bundesregierung den nach Art. 107 Abs. 1 EGInsO obligatorischen Bericht vorgelegt.382 Sie konstatiert mit einem rechnerischen Anteil der vorzeitigen Restschuldbefreiung von 0,78 % bis 1,08 %383 in Bezug auf die über das Vermögen natürlicher Personen gestellten Eröffnungsanträge eine weite und vorhersehbare Unterschreitung der anvisierten 15 %.384 Obschon die Daten der Wirtschaftsauskunftei CrfibÜRgel erheblich von denen der Bundesregierung wohl aufgrund methodenimmanenter Ungenauigkeiten und verschiedener Erhebungsverfahren abweichen,385 dürfte eines sicher sein: eine vorzeitige Restschuldbefreiung in 15 % der Fälle ist bei einer 35 %-igen Mindestquote bei weitem nicht erreichbar. Soweit die angepeilten 15 % als Zielvorgabe gelten, ist festzustellen, dass die 35 %-Quote wegen ihrer fehlenden Praxistauglichkeit386 den eigentlichen Regelungszweck der Norm, nämlich bereits nach drei Jahren einen bedeutenden Teil der Schuldner von ihren Verbindlichkeiten zu befreien resp. einen Anreiz für eine überobligatorische Gläubigerbefriedigung zu bieten, konterkariert.387 Die Quote zeigt sich damit in ihrer Funktion, eine realistisch erreichbare vorzeitige Entschuldungsmöglichkeit für eine signifikante Anzahl an Schuldnern zu bieten, als empirisch widerlegt.388
382 Bericht der Bundesregierung über die Wirkungen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, BT-Drucks. 19/4000. 383 1,08 % ergeben sich, wenn man zu den 0,78 % alle jene Fälle hinzuaddiert, in denen zwischenzeitlich nach § 300 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 2 InsO wegen Vollbefriedigung der Insolvenzgläubiger, der Kosten des Verfahrens und der sonstigen Masseverbindlichkeiten Restschuldbefreiung erteilt worden ist, vgl. BT-Drucks. 19/4000, S. 5 f. 384 Bezieht man weitere Zahlen in die Ermittlung mit ein, ergeben sich Zahlen zwischen 1,01 % und 1,4 %, vgl. BT-Drucks. 19/4000, S. 5 f. 385 Auf diese Diskrepanz und methodische Restriktionen hinweisend Bornemann, jurisPR-InsR 19/2018 Anm. 1. 386 Dieses Problems war sich der Gesetzgeber durchaus bewusst, siehe BT-Drucks. 17/11268, S. 14: „Zu berücksichtigen ist, dass die Quote nicht zu hoch sein darf, um Leistungsanreize setzen zu können.“. 387 BT-Drucks. 17/11268, S. 14. 388 Angelehnt an Popper, Ausgangspunkte – Meine intellektuelle Entwicklung, S. 118 ist sie eine jener „kühnen Hypothesen“, die letztlich durch „schärfste Kritik“ als Irrtum entlarvt werden.
E. Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen
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1. Außergerichtlicher Einigungsversuch
Der für Verbraucher nach § 305 Abs. 1 Nr. 4 InsO zwingende389 außergerichtliche Schuldenbereinigungsplan ist das flexibelste und am meisten vom Grundsatz der Gläubigerautonomie geprägte Instrument. Aus dem Fehlen eines Normkonlgomerats zur außergerichtlichen Einigung resultiert ein hohes Maß an privatautonomer Gestaltungsmöglichkeit. Nicht zu vernachlässigen ist bei der Suche nach der für Schuldner geeignetsten Schuldbefreiungsoption die Tatsache, dass es vielen noch nie mit der Justiz in Berührung gekommenen Personen schwerfällt, vor ein Gericht zu treten. Umso mehr bietet der außergerichtliche Einigungsversuch einen psycho-motivationalen Anreiz, nicht das gerichtliche Verfahren zu bemühen, sondern auf außergerichtlichem, gütlichem Wege einen beidseitigen Erfolg herbeizuführen. Jedoch kann der Plan nur gegenüber den zustimmenden Verfahrensbeteiligten seine Rechtswirkungen entfalten; insofern fordert der außergerichtliche Schuldenbereinigungsplan Einstimmigkeit bei der Planannahme. Die Gläubiger werden im Wissen, dass der Schuldner durch das gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren bei Erfüllung der Voraussetzungen in jedem Fall entschuldet wird, auf eine einvernehmliche Lösung drängen, die auch ihnen zum Vorteil gereichen kann.390 Durchaus kann ein Gläubiger ein Interesse an der Aufrechterhaltung einer Geschäftsverbindung nach einem wirtschaftlichen Neuanfang des Schuldners haben oder diesem aus persönlicher Verbundenheit eine Schuldbefreiung gewähren wollen.391 Außerdem kann die Kostenregelung des § 310 InsO eine aktivere Mitwirkung der Gläubiger an der außergerichtlichen Einigung bewirken,392 zumal die Kosten des gerichtlichen Verfahrens nicht verloren sind und Bearbeitungsaufwand eingespart wird.393 Der Schuldner kann durch die außergerichtliche Einigung eine Schufa-Eintragung mangels Insolvenzverfahrenseröffnung394 und
389 Kritisch zum Zwang zur außergerichtlichen Einigung Stephan, in: Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung § 305 Rn. 6. 390 Vgl. BT-Drucks. 12/7302, S. 189. 391 Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 61. 392 Bericht des Rechtsausschusses zu § 357g der Beschlussempfehlung, BT-Drucks. 12/7302, S. 193. 393 Saager, ZVI 2016, 213, 214. 394 Die §§ 30, 9 InsO sind noch nicht einschlägig. Gleiches gilt im gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahren.
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§ 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
einen Widerruf seiner Berufszulassung395 vermeiden.396 Außerdem erlöschen die akzessorischen Sicherheiten des Schuldners mit dem Erlass der Forderung – anders als im Insolvenzplan- und Restschuldbefreiungsverfahren. Ferner kann eine zügige Entschuldung völlig unabhängig von den Fristen des § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO und ohne das Erreichen irgendwelcher Quoten vereinbart werden. Überdies ist die vertragliche Entschuldung qua außergerichtlicher Einigung auch dann zulässig, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Restschuldbefreiung offensichtlich nicht erfüllt sind.397 Von großer Bedeutung ist die konsensuale Erstreckung der Schuldbefreiung auf von der Restschuldbefreiung ausgenommenen Forderungen. In dieser Hinsicht bieten die konsensualen Entschuldungsinstrumente eine umfassendere Schuldbefreiungsmöglichkeit als das gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren. 2. Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren
Im Gegensatz zum außergerichtlichen Einigungsversuch zeichnet sich das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren durch eine höhere Normierungsdichte aus. Insbesondere können gem. § 309 InsO die Einwendungen von Gläubigern durch eine insolvenzgerichtliche Zustimmung ersetzt werden. In dieser dem Schuldner entgegenkommenden Regelung manifestiert sich die legislatorische Intention, eine Schuldbefreiung möglichst in einem konsensualen, von breiter Akzeptanz der Beteiligten getragenen Verfahren herbeizuführen. 395 Entscheidend ist grundsätzlich das jeweilige Berufs- und Ordnungsrecht. Die Insolvenzverfahrenseröffnung indiziert bspw. bei Gewerbetreibenden ungeordnete Vermögensverhältnisse und damit die Unzuverlässigkeit nach § 35 Abs. 1 GewO, vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 03. 11. 2010 – 6 A 10676/10 = NVwZ-RR 2011, 229, 230. Auch bei Architekten indiziert der mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens belegte Vermögensverfall die fehlende Eignung für den Architektenberuf, vgl. VG Saarlouis, Urt. v. 04. 09. 2013 – 1 K 13/12 –, juris; siehe auch VGH Kassel, Beschl. v. 15. 06. 2004 – 11 TP 1440/04 = NJW 2005, 919. Zum Widerruf der Anwaltszulassung wegen des aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens indizierten Vermögensverfalls siehe § 14 Abs. 2 Nr. 7 der BRAO und dazu BGH, Beschluss vom 22. 11. 2016 – AnwZ (Brfg) 48/16 mit der Anmerkung von Wozniak, jurisPR-InsR 2/2017, Anm. 1. Siehe auch Hess/Röpke, NZI 2003, 233 ff. Zum Ganzen Koerfer, Gewerbe- und Berufsrecht im Spannungsfeld zum Insolvenzverfahren, passim. Zu den Besonderheiten des (zahn-)ärztlichen Berufes in der Insolvenz Bugger, Der Selbstständige in der Insolvenz, passim. 396 Ahrens, NJW 2014, 1841, 1844. 397 Dazu auch BT-Drucks. 12/7302, S. 190: „Ein Schuldenbereinigungsplan kann aber auch in einem Fall zustande kommen, in dem der Schuldner die gesetzlichen Voraussetzungen für die Restschuldbefreiung offensichtlich nicht erfüllt […].“. Redlichkeits- und Billigkeitserwägungen spielen für die Schuldbefreiung im außergerichtlichen und gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahren also nur dann eine Rolle, wenn die Parteien dies als konkrete Voraussetzung vereinbaren.
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Gerade vor dem Hintergrund eines bis dahin etwaig gescheiterten außergerichtlichen Einigungsversuchs soll eine durch gerichtsseitige Moderation forcierte Einigung begünstigt werden. Der Schuldner kann folglich durch das Mittel der Zustimmungsersetzung leichter eine Planlösung erreichen, als dies im außergerichtlichen Verfahren möglich ist.398 Im Gegensatz zur Restschuldbefreiung vermeidet das Verfahren ein langes und kostenträchtiges Insolvenzverfahren, ist nach kurzer Zeit beendet und begünstigt darüber hinaus eine zügige Wiederherstellung der schuldnerischen Kreditfähigkeit.399 3. Insolvenzplanverfahren
Der in ein engmaschiges Normkorsett geschnürte Insolvenzplan bietet, wie auch das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren, die Möglichkeit, den Einfluss obstruierender Gläubiger auf das Zustandekommen des Plans zu beschränken.400 Auch im Insolvenzplan können die Frist bis zur Entschuldung und eine etwaig aufzubringende Mindestbefriedigungsquote flexibel vereinbart werden. Das Insolvenzplanverfahren kann allenfallsigen Unsicherheiten über die vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung vorbeugen und nach erteilter Restschuldbefreiung so die Kreditwürdigkeit des Schuldners verbessern.401 Zudem kann die Aufrechnungsmöglichkeit von Insolvenzgläubigern bei freigegebener selbstständiger Tätigkeit durch die vorzeitige Restschuldbefreiung frühzeitig beendet werden.402 Überdies kann der Plan eine Entschuldung von den Forderungen vorsehen, die von der Schuldbefreiung im Restschuldbefreiungsverfahren ausgenommen sind.403 Zwar leben Forderungen in einem Schuldenbereinigungsplan nicht wie im Insolvenzplan gem. § 255 InsO automatisch bei Eintritt der gesetzlich normierten Voraussetzungen wieder auf, sondern es muss explizit eine Wiederauflebensklausel im Schuldenbereinigungsplan vereinbart werden, jedoch zeitigt der Insolvenzplan gegenüber dem Schuldenbereinigungsplan günstigere Wirkungen hinsichtlich der Rückgriffsansprüche Dritter (vgl. § 254 Abs. 2 Satz 2 InsO).404 Bedeutung kann dem Insolvenzplanverfahren auch auf398 Zu einer Gegenüberstellung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahrens und des Insolvenzplanverfahrens siehe Frind, BB 2014, 2179, 2180. 399 Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471. 400 Zum Minderheitenschutz im Insolvenzplan Rein, ZVI 2014, 239, 243. 401 Hänel/Harig, ZVI 2015, 282, 283. 402 Hänel/Harig, ZVI 2015, 282, 283. 403 Siehe auch BGH, Beschl. v. 17. 12. 2009 – IX ZR 32/08 = NJW-Spezial 2010, 343. 404 Ein Rechtsfolgenvergleich zwischen Schuldenbereinigungsplan und Insolvenzplan findet sich in Rugullis, NZI 2013, 869 ff.
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grund der drittseitigen Zuwendung von Vermögenswerten noch während des eröffneten Insolvenzverfahrens zukommen, die den Gläubigern eine höhere Befriedigungsquote als nach der Verfahrensdurchführung verschaffen kann.405 Zu denken wäre hier z. B. an Erbschaften, die im Verfahren nach den §§ 286 ff. InsO gem. § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO nur zur Hälfte an den Treuhänder herauszugeben wären. Hinzu kommt, dass sich die Kostensituation im Einzelfall als erheblich günstiger als im gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahren (insbesondere im Falle des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO) darstellen kann.406 Der größte Vorteil des Insolvenzplans gegenüber außergerichtlichem und gerichtlichem Schuldenbereinigungsplan gründet in §§ 254, 254b InsO. Die dort normierte universelle Erstreckung der Insolvenzplanwirkungen auf alle dort genannten Insolvenzgläubiger, unabhängig von deren Forderungsanmeldung, legt die Präferierung des Insolvenzplans als vorzugswürdige konsensuale Schuldbefreiungsoption nahe. 4. Insolvenzverfahrenseinstellung
Die Insolvenzverfahrenseinstellung nach § 213 InsO ist durchaus auch eine Möglichkeit, durch einen Konsens das Verfahren einzustellen. Da sich die Einstellung selbst aber nicht auf das Bestehen der Forderungen auswirkt, kann sie nicht als konsensuale Schuldbefreiungsoption im engeren Sinne wahrgenommen werden. Erst in Kombination mit dem Abschluss eines (außergerichtlichen) Vergleichs (§ 779 BGB), Erlassvertrags (§ 397 Abs. 1 BGB) oder negativen Schuldanerkenntnisses (§ 397 Abs. 2 BGB) ergibt sich – insoweit den Gläubigern dadurch ein Anreiz zur Zustimmung zur Verfahrenseinstellung geboten wird – die gewünschte schuldenbereinigende, verkürzte Verfahrensbeendigung. Die Möglichkeit des Abschlusses solcher Verträge ist lediglich Folge der im Insolvenzverfahren weitgehend bestehenden Privat- und Gläubigerautonomie und damit nicht auf ein spezielles, vom Gesetzgeber geschaffenes Institut zur Entschuldung natürlicher Personen zurückzuführen. Genauso wenig dient die formale Verfahrenseinstellung des § 213 InsO primär der Schuldenbereinigung, sondern stellt ein Instrument zur Wahrung der Interessen der Verfahrensbeteiligten dar, welche über das Verfahrensende aufgrund ihrer Autonomie disponieren können. Die Einstellung nach § 213 InsO ist folglich als konsensua405 Vallender, NZI-aktuell Heft 6/2014, V, VI; die Befriedigung durch Drittmittel kann aber auch in einem (außergerichtlichen) Schuldenbereinigungsplan vorgesehen sein, siehe Harder, NZI 2013, 70, 71. 406 Die günstigere Kostensituation gegenüber einer vorzeitigen Restschuldbefreiung kann sich aufgrund der Nichtberücksichtigung von Drittmitteln gem. § 1 Abs. 2 Nr. 5 InsVV ergeben; ausführlich dazu Stephan, VIA 2014, 25, 27. Vgl. auch Frind, BB 2014, 2179, 2181.
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le Schuldbefreiungsoption nur im weiteren Sinne einzuordnen. Die o. g. Vorteile konsensualer Verfahren, wie z. B. eine raschere Entschuldung auch von der Restschuldbefreiung ausgenommenen Forderungen, gelten auch hier.
II. Komparative Nachteile konsensdeterminierter Schuldbefreiungsoptionen Dass die konsensualen Verfahren unter Umständen deutliche Vorteile im Vergleich zum Verfahren nach den §§ 286 ff. InsO zeitigen, wurde hinlänglich dargelegt. Nichtsdestoweniger weisen sie auch schwerwiegende komparative Nachteile auf. 1. Außergerichtlicher Einigungsversuch
Das außergerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren, welches zu nicht zu unterschätzenden Vorteilen für den Schuldner führen kann, offenbart sich bei näherer Betrachtung nicht allzu selten als janusköpfig. Eher nachteilig fällt gegen den außergerichtlichen Einigungsversuch die Tatsache in die Waagschale, dass die Gläubiger mit dem außergerichtlichen Vergleich keinen Vollstreckungstitel erlangen. Zudem besteht nicht immer ausreichende Transparenz über das Schuldnervermögen.407 Daneben muss nur im Verbraucherinsolvenzverfahren ein zwingender Versuch zur außergerichtlichen Einigung unternommen worden sein, und auch das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren steht nur den in § 304 InsO genannten Personen offen. Den restlichen natürlichen Personen ist es aber natürlich frei anheimgestellt, sich außergerichtlich zu einigen, einen Insolvenzplan zu initiieren oder einen Restschuldbefreiungsantrag zu stellen. Der deutlichste Nachteil des außergerichtlichen Verfahrens manifestiert sich jedoch gerade in seinem Charakter als konsensdeterminiertes Verfahren. Genau dieser Konsens, die Einstimmigkeit, ist die größte Schwäche des außergerichtlichen Einigungsversuchs. Das weite Feld der zulässigen Vereinbarungen ist kaum bestellbar, wenn den Gläubigern nicht im Gegenzug für ihr Entgegenkommen entsprechende Leistungen angeboten werden. Denn durch den Plan – sei es außergerichtlicher, gerichtlicher Schuldenbereinigungs- oder Insolvenzplan – wird der Schuldner ja gerade besser gestellt, als dies im gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahren der Fall wäre; andernfalls verweigerte der Schuldner die Zustimmung. Adäquate Gegenleistungen bei einer großen Anzahl an Gläubigern mit verschiedenen Interessen anzubieten und das vor dem Hintergrund eines Schuldners, für den 407
Saager, ZVI 2016, 213, 214.
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ja angesichts seiner oftmaligen Mittellosigkeit speziell das Verbraucherinsolvenzverfahren geschaffen wurde und der aus diesem Grunde kaum den Gläubigern entgegenkommen kann, ist in praxi selten der Fall.408 Dass es dem in einer wirtschaftlichen Krise steckenden Schuldner daher kaum gelingen mag, entsprechende Leistungen anzubieten und eine Zustimmung zu erreichen, liegt in der Natur der Sache, zumal den Gläubigern oftmals mehr daran gelegen ist, den Weg in ein geordnetes und die Krise strukturell erfassendes Insolvenzverfahren zu beschreiten.409 Dies zeigt auch die Praxis. In vielen Verbraucherinsolvenzverfahren gehen die Gläubiger leer aus. Nullpläne sind die Regel.410 Viele außergerichtliche Einigungsversuche scheitern.411 Der hohe bürokratische und finanzielle Aufwand im außergerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahren steht in keinem Verhältnis zu seinem Erfolg.412 Dies scheint auf der einen Seite verständlich, bei einem genaueren Blick mutet es auf der anderen Seite aber deshalb merkwürdig an, weil die Gläubiger, denen bewusst ist, dass sie keine Aussicht auf irgendeine Befriedigung genießen können, kein Interesse an der Weiterverfolgung eines Verfahrens haben und sich so auf die Einigung einlassen könnten. Jedoch reicht wohl die Hoffnung auf einen plötzlichen Vermögenserwerb des Schuldners, um das Verfahren weiter voranzutreiben und eine außergerichtliche Einigung zu verwerfen.413 Nicht vergessen werden sollte auch die nur natürliche, psychische Hemmschwelle der Gläubiger, eine so hohe endgültige Entlastung und den damit einhergehenden Vertragsbruch (pacta sunt servanda) zu billigen. Es geht im Letzten um weitgehende Verzichte der Gläubiger, denen diese nicht vorbehalts- und bedingungslos zustimmen. Daher bleibt die erfolgreiche außergerichtliche Einigung vor allem den Schuldnern vorbehalten, die ihren Gläubigern wenigstens eine geringe Quote anbieten können. Die große Masse 408 Siehe daher auch die bei Ahrens, NZI 2011, 425 f. nachskizzierten Reformbestrebungen, die außergerichtliche Einigung durch ein Zustimmungsersetzungsverfahren zu ergänzen. Zu Schwierigkeiten der außergerichtlichen Einigung mit öffentlichen Gläubigern Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 305 Rn. 22 f. 409 Allgemein zur Notwendigkeit eines Insolvenzverfahrens Ganter/Lohmann, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, § 1 Rn. 8. 410 Reck, ZVI 2016, 173. 411 Reck, ZVI 2016, 173, 174. 412 Harder, NZI 2013, 70, 71. Vgl. Reischl, Insolvenzrecht, § 12 Rn. 904 f.: Das „verfahrenstechnisch geradezu monströse außergerichtliche und gerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren“. 413 So auch Reck, ZVI 2016, 173, 174, der, um eine Quotenzahlung im Insolvenverfahren zu erhalten, von Einnahmen i. H. v. 2.000 – 2.500 € (inklusive Gerichtskostendeckung und Insolvenzverwalter-/Treuhändervergütung) ausgeht.
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an Schuldnern rettet sich aber durch die weiteren Verfahren bis letztlich ins gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren.414 2. Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren
Mutatis mutandis gilt dies ebenso für den gerichtlichen Schuldenbereinigungsplan415 und das Insolvenzplanverfahren416.417 Außerdem ist die Aufstellung des Plans nicht selten komplex und eignet sich eher weniger bei strittigen Forderungen und Fällen mit Auslandsbezug.418 Darüber hinaus bietet der Schuldenbereinigungsplan im Gegensatz zur Restschuldbefreiung nach den §§ 286 ff. InsO aufgrund seiner Inter-partes-Wirkung keinen Schutz gegenüber nicht aufgelisteten Gläubigern und den Ausgleichsansprüchen von Mitschuldnern. Selbst wenn es mit dem Instrument der Zustimmungsersetzung generell einfacher ist, einen Plan wirksam anzunehmen, kann dieses Instrument nur dann helfen, wenn eine Mehrheit der Gläubiger für die Annahme stimmt. Bei völlig mittellosen Schuldnern findet sich eine solche Mehrheit aber kaum.419 3. Insolvenzplanverfahren
Teils wird das Insolvenzplanverfahren wegen seiner Flexibilität und dem hohen Maß an Gläubigerautonomie als „Kernstück des Insolvenzrechts“ angesehen.420 Ob es diesen Nimbus jedenfalls hinsichtlich der Schuldbefreiung natürlicher Personen resp. Verbrauchern verdient, ist zweifelhaft. Der mit hohen Erwartungen überschüttete Insolvenzplan glitt jedenfalls in praxi vor Öffnung des Planverfahrens für Verbraucher in die Bedeutungslosigkeit ab.421 414 Vgl. auch Ahrens, NZI 2011, 425, 430; Baczanko, ZVI 2013, 209, 211; Lissner, ZInsO 2014, 229, 232 f.: „Der Erfolg tendiert gegen Null.“. 415 Hingerl, ZVI 2012, 258, 259 meint, das Scheitern des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans liege u. a. maßgeblich an der Gläubigerskepsis wegen der fehlenden objektiven Verifizierung der schuldnerischen Vermögensverhältnisse. 416 Im Insolvenzplanverfahren soll nach Hingerl, ZVI 2012, 258, 260 der Treuhänder – im Gegensatz zum gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahren – als Fachmann die Vermögensverhältnisse des Schuldners besser aufarbeiten können. 417 Reischl, Insolvenzrecht, § 12 Rn. 894, 897. 418 Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471, 2484. 419 Außerdem wird dem Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 309 InsO zum Vorwurf gemacht, es sei kompliziert und ineffektiv; dazu Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/ Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, Vor §§ 304 ff. Rn. 6. 420 Reischl, Insolvenzrecht, § 11 Rn. 814; vgl. auch Braun/Frank, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, Vorbemerkung vor §§ 217 – 269 Rn. 1. 421 Dazu für den Zeitraum 1999 – 2011 für Unternehmensinsolvenzen https://www. schultze-braun.de/newsroom/pressemitteilungen/show/neue-statistik-von-schultze-braun-
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Fraglich ist, ob sich dies pro futuro ändern wird.422 Seine Erstellung und Bestätigung sind komplizierter als die eines gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans.423 In der Praxis ergeben sich gerade in Kleinverfahren diverse Schwierigkeiten, angefangen von der Behandlung vergessener Gläubiger über verschiedene Kostenfragen, der Festsetzung der Verwaltervergütung bis hin zur Vollstreckbarkeit von Planregelungen.424 Zwar birgt der Insolvenzplan wie gezeigt einige Vorteile, doch sind die zahlreichen Vorschriften des Insolvenzplanverfahrens von ihrer Konzeption her grosso modo auf die Unternehmenssanierung zugeschnitten und daher nur sekundär für die Entschuldung natürlicher Personen, speziell von Verbrauchern, geeignet.425 Außerdem ergibt sich für die Planvorlage ein enges Zeitfenster, da der Plan nach dem Schlusstermin nicht mehr berücksichtigt werden kann und im Verbraucherinsolvenzverfahren i. d. R. vor Insolvenzantragstellung keine Vorbereitungen für ein Insolvenzplanverfahren getroffen werden.426 Überdies ist die Universalwirkung des Plans nicht so umfangreich wie die der gesetzlichen Restschuldbefreiung. Es besteht die Gefahr, dass im Insolvenzverfahren aufgrund der Unvollständigkeit von Gläubigerlisten427 nicht als Insolvenzgläubiger bekannte Personen nach Abschluss des Verfahrens auftauchen, die ihre Forderungen nicht bis zum Erörterungs- und Abstimmungstermin zur Insolvenztabelle angemeldet haben (sog. Nachzügler).428 Diese unterliegen wegen § 254 Abs. 1 und § 254b InsO sowohl den negativen als – und vor allem – auch den positiven Planwirkungen und könbelegt-insolvenz-3868/(zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). Danach wurde vor Öffnung des Insolvenzplanverfahrens für Verbraucher gerade einmal durchschnittlich in jedem hundertsten Unternehmensinsolvenzverfahren ein Insolvenzplan vorgelegt; vgl. Frind, ZInsO 2014, 280 ff. 422 Zum etwaigen Nachteil eines Insolvenzplanverfahrens in der Verbraucherinsolvenz wegen eines notwendigen Erörterungs- und Abstimmungstermins siehe Heyer, ZVI 2012, 321, 323; Rein, ZVI 2014, 239, 240 f. m. w. N. Siehe aber Webel, in: Brünkmans/Thole (Hrsg.), Handbuch Insolvenzplan, § 28 Rn. 3, der dem Insolvenzplan zukünftig eine nicht unerhebliche Rolle bei der Verbraucherentschuldung zuschreibt. 423 Nach Frind, ZInsO 2014, 280, 281 f. ist das Insolvenzplanverfahren wesentlich störanfälliger als das Schuldenbereinigungsplanverfahren; siehe auch ders., BB 2014, 2179. 424 Zu alledem Blankenburg, ZInsO 2015 1293 ff.; kritisch dagegen Harig, ZInsO 2017, 752, 753 f. 425 Ebenso Heyer, ZVI 2012, 321, 322; Stephan, VIA 2014, 25; Würdinger, KTS 2017, 445, 454. Dennoch kann u. U. durchaus die Möglichkeit bestehen, je nach Einzelfall die Insolvenzpläne im Verbraucherinsolvenzverfahren möglichst kurz und einfach zu halten, vgl. Rein, ZVI 2014, 293, 242. 426 Stephan, VIA 2014, 25. 427 Allgemein sind Vermögensverzeichnisse nicht selten unvollständig, so z. B. Hingerl, ZVI 2012, 258, 259. 428 BGH, Urt. v. 10. 05.2012 − IX ZR 206/11 = NZI 2013, 84 Rn. 11. Zu diesen Nachzüglern Frind, ZInsO 2014, 280, 285 f.; Stephan, VIA 2014, 25, 26.
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nen somit die entsprechende Planquote beanspruchen.429 Dies führt im für den Schuldner schlimmsten Fall zum Scheitern des ganzen Insolvenzplans. Ob der Insolvenzplan nun ein solides Mittel zur Schuldbefreiung ist, hängt maßgeblich vom Einzelfall und der jeweiligen Gewichtung der einzelnen Verfahrensvorteile ab. Im Letzten kann aber auch er dem gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahren (jedenfalls noch) nicht den Rang ablaufen.430 4. Insolvenzverfahrenseinstellung
Die Insolvenzverfahrenseinstellung hat für den Schuldner dieselben Nachteile, die auch den anderen konsensualen Verfahren wegen der Notwendigkeit eines Konsenses anhaften. Außerdem wird kaum eine Übereinkunft möglich sein, wenn bereits außergerichtliches und gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren gescheitert sind. Im Fall eines nachträglichen Vermögenserwerbs käme diese Option realistisch – alternativ zu einem Insolvenzplanverfahren – in Betracht, aber aufgrund des Fehlens von Vorschriften zu einem Mehrheitsprinzip oder einem Obstruktionsverbot, stellt sich der § 213 InsO als „umständlicher Weg“431 dar. Dazu kommt, dass vor Verfahrensbeendigung erst alle Verfahrenskosten und sonstigen Masseverbindlichkeiten getilgt werden müssen.
III. Fazit: Beurteilung der Schuldbefreiungsoptionen Zusammenfassend geht es bei den konsensualen Schuldbefreiungsoptionen um die Entlastung der Gerichte, die Generierung von Effizienzgewinnen und vor allem um das Erzielen von Synergien zu Gunsten von Schuldner und Gläubigern. Dies mag theoretisch möglich und wünschenswert sein, das Desiderat einer raschen Entschuldung qua Konsens konnte sich aber in praxi aus o. g. Gründen bislang nicht gegen das Restschuldbefreiungsverfahren durchsetzen. Da die Bezeichnung der Insolvenzverfahrenseinstellung als Schuldbefreiungsoption in die Irre führt, sollte nur noch von vier Schuldbefreiungsoptionen für natürliche Personen gesprochen werden, von denen jedenfalls zwei speziell für Verbraucher und ehemals selbstständige Personen geschaffen wurden.432 Die 429 Zum Umgang mit Nachzüglern Madaus, ZIP 2016, 1141, 1146; dagegen zum Umgang in einem Teilinsolvenzplan Harig, ZInsO 2017, 754. 430 Entgegen Hingerl, ZVI 2012, 258, 261, der annahm, dass sich ein beachtlicher Teil von Verbraucherinsolvenzverfahren über Insolvenzpläne erledigen wird. 431 Heyer, ZVI 2012, 321, 322. 432 So auch Rein, ZVI 2014, 239, 244; Vallender, NZI-aktuell Heft 6/2014, V.
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Insolvenzverfahrenseinstellung kann als konsensuale Schuldbefreiungsoption im weitesten Sinne verstanden werden. Das gesetzliche Restschuldbefreiungsverfahren ist und bleibt die am häufigsten in der Praxis beanspruchte Schuldbefreiungsoption und nimmt wegen ihres durch Rechtsanspruch gesicherten Verfahrens eine exponierte Stellung ein.433 Aufgrund dieses subjektiven Anspruchs auf Erteilung der Restschuldbefreiung bei Erfüllung der Voraussetzungen der §§ 286 ff. InsO ist das „sozialpolitische Kernstück der Insolvenzordnung“434 der geeignetste Weg für eine Vielzahl an Schuldnern, einen wirtschaftlichen Neuanfang zu wagen. Jedoch konnte die gesetzgeberische Intention eines wirtschaftlichen Neuanfangs aufgrund der Ausnahmen von der Schuldbefreiung und der langen Dauer bis zur Entschuldung trotz vielfacher legislatorischer Nachjustierungen nicht vollends realisiert werden.
433 Dazu schon BT-Drucks. 12/7302, S. 190: „Regelmäßig wird der Schuldner den Antrag auf Restschuldbefreiung stellen.“. Dazu auch bereits im Jahre 2011 Ahrens, ZVI 2011, 273: „In praktisch allen Insolvenzverfahren natürlicher Personen wird die Restschuldbefreiung beantragt, bildet doch die Aussicht, eine Schuldbefreiung zu erlangen, für den Schuldner den entscheidenden Grund, ein Insolvenzverfahren einzuleiten.“. 434 Pape, in: Hess/Pape (Hrsg.), InsO und EGInsO, Rn. 1202.
§ 3 Unionsrechtliche Dimension Bei den Überlegungen zu einer Reform zur effektiveren Schuldbefreiung darf sich die Betrachtung nicht auf das nationale Recht beschränken. Dass die Restschuldbefreiung kein eindimensionales, nur auf das nationale Recht beschränktes Konstrukt ist, zeigt sich an der europäischen Dimension des Instruments. Grundsätzlich kann ein geordnetes und effektives Insolvenzrecht je nach Handhabung einen wirtschaftlichen Standortvorteil darstellen.435 Diese und andere rechtspolitische Motive führen zwangsläufig zu einem Gefälle zwischen den Insolvenzrechtsordnungen verschiedener Staaten.436 In ihrer Vielzahl begünstigen die nationalen Insolvenzrechtsordnungen mit ihren unterschiedlichen Schuldbefreiungsverfahren das Forum Shopping437 und sind – jedenfalls nach Ansicht der Europäischen Kommission – geeignet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes zu beeinträchtigen.438 In einer globalisierten und von Interdependenzen gezeichneten Welt kommt auch der Unionsgesetzgeber nicht umhin, aufgrund der gesellschaftspolitischen, (gesamt)ökonomischen, (psycho)sozialen und personalen Schlagkraft der Entschuldung natürlicher Personen regulierend zu intervenieren. Eine Wirtschaftsunion, deren Stärke auf dem länderübergreifenden Agieren von Privatrechtssubjekten zwecks optimaler Allokation wirtschaftlicher Ressourcen und Synergien liegt, kann nicht sehenden Auges das Scheitern von Millionen natürlicher Personen ohne strukturierte und harmonisierte Verfahrensvorschriften hinnehmen, welche die sich aus der interstaatlichen Mobilität ergebenden Friktionen und Missbräuche eindämmen und verhindern. Das immense Potenzial wirtschaftlich gescheiterter natürlicher Personen darf nicht – nicht zuletzt auch, unabhängig von individuellen Aspekten, der Wettbewerbsfähigkeit wegen – brach liegen. Ausgehend von dem Diskurs um eine rasche und den Gläubigerinteressen möglichst gerecht wer435 Vgl.
Paulus, JZ 2009, 1148, 1153. Zu den Vorteilen ausländischer Insolvenzverfahren aus Sicht des Schuldners Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 25 ff.; Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 47 – 172. 437 Ausführlich zum Begriff des Forum Shopping im Insolvenzrecht Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 415 ff. Eine Defini tion des Forum Shopping gibt auch Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320; Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 99, 174. Zum Forum Shopping in der EU siehe SWD(2016) 357 final, S. 33. 438 Dazu Erwägungsgründe 3 – 5, 29 EuInsVO. 436
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dende Entschuldung natürlicher Personen steht hinter allem der Schatten eines zu diskutierenden Mindestquotenerfordernisses und einer Modifizierung der Treuhandperiode. Denn gerade in der europäischen Relation erweist sich die deutsche Treuhandperiode als recht lang.439 Um auf die Probleme zu reagieren, ist der EU-Gesetzgeber tätig geworden. Neben der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO) steht allen voran der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU.
A. Restschuldbefreiungstourismus Gerade im Hinblick auf die Restschuldbefreiung begünstigt die autonom-nationale Gesetzgebung im Zusammenspiel mit dem unionalen Legislativrahmen das, was gemeinhin Insolvenztourismus440, genauer: Restschuldbefreiungstourismus441, genannt wird. Darunter versteht man das Ausnutzen von komparativ günstigeren Entschuldungsmechanismen in ausländischen Rechtsordnungen durch Veränderung zuständigkeitsbegründender Tatsachen.442 Die Wirkungen der Entschuldungsmechanismen werden dabei grenzüberschreitend im nationa439
Ein Überblick über die Entschuldungsdauer und -möglichkeiten der Mitgliedstaaten findet sich bspw. in SWD(2016) 357 final, S. 26; SWD(2014) 61 final, S. 21; vgl. auch Henning/Allemand, in: Kayser/Smid/Riedemann (Hrsg.), FS Pannen, S. 161, 162 ff.; Hergenröder, in: Hergenröder (Hrsg.), Schulden und ihre Bewältigung, S. 78 ff.; Koch, in: Mansel/ Pfeiffer/Kronke/Kohler/Hausmann (Hrsg.), FS Jayme, S. 437, 439; Mankowski, KTS 2011, 185, 199 f.; ebenso McCormack/Keay/Brown, European Insolvency Law, S. 314 ff., 326 ff.; Mock, KTS 2013, 423, 425 ff. Zum Privatinsolvenzrecht in Österreich, der Schweiz und Tschechien siehe Hergenröder/Alsmann, ZVI 2012, 1 ff. Mit dem Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte hat der Gesetzgeber versucht, die Dauer bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung zu verkürzen. Dies ist ihm jedoch nur unerheblich gelungen; vgl. oben § 2. D. IV. 1. Siehe ferner Hess, in: Hess/ Oberhammer/Pfeiffer (Hrsg.), European Insolvency Law, S. 45 ff. 440 Zu dieser Begrifflichkeit Mock, KTS 2013, 423, 441. 441 BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961: „Restschuldbefreiungs-Tourismus“; Klupsch/Schulz, EuZW 2017, 85, 86: „Restschuldbefreiungstourismus“, Knof, ZInsO 2005, 1017: „Schuldbefreiungs-Tourismus“; Laukemann, IPRax 2014, 258 spricht von „Bankrotteur-Tourismus“; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 310: „Der Restschuldbefreiungstourismus erweist sich also als Spielart des Insolvenztourismus.“. Auf die weitere Bezeichnungen desselben Phänomens hinweisend Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 3. 442 Vgl. Jacoby, GPR 2007, 200, 201.
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len Heimatstaat und ggf. in weiteren Staaten anerkannt.443 Es handelt sich also um eine Form des Forum Shopping zum Nachteil der Gläubiger.444 Im Folgenden ist, wenn auf Forum Shopping Bezug genommen wird, ausschließlich ein solches ohne Zustimmung der Gläubiger gemeint. Im Internet wird sogar offen für eine Entschuldung in anderen Ländern geworben.445 Was scheinbar ein opportunistischer, rechtswidriger Missbrauch der Vorteile verschiedener nationaler Insolvenzrechtsordnungen ist, geschieht jedenfalls de lege lata nicht immer contra legem, selbst wenn es sich gegen den Willen der Gläubiger ereignet. Ein ausdrückliches Verbot des Forum Shopping kennt die EuInsVO nicht.446
I. Forum Shopping als erlaubter und intendierter Rechtsreflex Wie sollte es auch rechtswidrig sein, ist doch das grenzüberschreitende Momentum der Unionsbürger elementare Grundfreiheit der europäischen Verträge, die ausdrücklich in Art. 26 Abs. 2 AEUV und im Besonderen in Art. 20 Abs. 2 lit. a AEUV, Art. 21 Abs. 2 AEUV und Artt. 45, 49 AEUV statuiert ist. Im Grundsatz steht es den Bürgern als Ausfluss ihrer Privatautonomie447 frei, sich im Rahmen des geltenden Rechts zu bewegen und die Vorteile verschie443
Siehe § 3. B. II. 3. Zum Begriff des Forum Shopping in der EuInsVO siehe § 3. B. II. 445 „England Insolvenz – Alternative zur Privatinsolvenz, deutlich schneller schuldenfrei als in Deutschland“ (siehe https://www.weg-adresse.com/privatinsolvenz-in-england/?gclid=EAIaIQobChMItNH04vWn2AI VER4bCh3lMA3UEAAYASAAEgJodvD_ BwE) oder auch für eine Insolvenz in England, Irland, Frankreich und Spanien werbend (http://eca-consult.com/eu_privatinsolvenz/vergleich_der_laender/): „Das private Insolvenzverfahren in Deutschland ist viel zu lang und begünstigt ausschließlich die Gläubiger. Der Schuldner hat quasi keine Rechte und muss bemüht sein während des Verfahrens jede Art von Arbeit anzunehmen und Gläubiger zu befriedigen. Das Verfahren ist oft mit dem sozialen Abstieg verbunden. Das Verfahren dient nicht einer Sanierung und einem Neustart, um schnell der Gesellschaft wieder zur Verfügung zu stehen. Ganz im Gegenteil! Kommt es schlecht, dann erlangt man nach dem Verfahren nicht mal die Restschuldbefreiung.“. Weitere Anbieter werben mit: „Sie werden die England-Insolvenz mit uns zügig durchlaufen und ab Insolvenzanmeldung innerhalb von 12 Monaten restschuldbefreit sein. … Einfacher und angenehmer als Sie denken.“ (siehe http://www.england-insolvenz.com/ ueberblick-fuerschnellleser/ueberblick-fuer-schnellleser.html.). Außerdem „Schuldenbe freiu ng durch Flucht nach England: Jetzt noch leichter!“, abrufbar unter http://www. cross-channel-lawyers.de/tag/restschuldbefreiung-england/. Alle Internetseiten zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018. 446 Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 37 ff. 447 Zur Privatautonomie und Parteiautonomie im Europäischen Insolvenzrecht Weller/ Benz/Thomale, ZEuP 2017, 250, 261 f. 444
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dener Rechtsordnungen zu genießen.448 Forum Shopping eröffnet strategischen Insolvenzen ein weites Feld an Möglichkeiten.449 Dies führt zu einer kompetitiven Herausforderung, gar zu einem „Wettbewerb der Rechtsordnungen“450, der für die Bürger durchaus (Reflex-)Vorteile generieren kann und einem Staat den Spiegel der Selbstreflexion451 vorhält. Gereicht das Forum Shopping den Beteiligten, ergo insbesondere der Gläubigergesamtheit, zum (insbesondere finanziellen)452 Vorteil, kann wenig dagegen eingewendet werden.453 Darüber hinaus fördert dies – ob gewollt oder nicht – eine Vereinheitlichung der Rechtsordnungen durch autonome nationale Reformbestrebungen und trägt damit zu mehr Rechtsklarheit bei,454 was in jüngerer Vergangenheit insbesondere am Beispiel Österreichs mit dem Insolvenzrechtsänderungsgesetz 2017 zu beobachten war.455 Daneben ist es gerade Ausdruck und Errungenschaft einer modernen, 448 Grundlegend EuGH, Rs. C-212/97, Centros Ltd/Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 27; instruktiv Paulus, RIW 2017, 81, 84; ähnlich in Ansehung des Gesellschaftsrechts Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. Vgl. auch Latella, ECFR 2014, 479, 490. 449 Nach Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1198 ist eine strategische Insolvenz als ein freiwilliger Insolvenzantrag, der planvoll zur Erreichung eines wirtschaftlichen Ziels gestellt wird, zu verstehen. Zu Vorteilen des Forum Shopping Eidenmüller, ZGR 2006, 467, 477. 450 Dreher, JZ 1999, 105 ff.; Eidenmüller, KTS 2009, 137, 139; ders., ZGR 2006, 487: „Wettbewerb der Insolvenzrechte“; Hopt, ZIP 1998, 96, 98 f.; Jacoby, GPR 2007, 200, 201; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, passim, insbesondere S. 2, 31 f. und zum Vorteil institutionellen Wettbewerbs S. 103 f., 350 f.; Knof, ZInsO 2007, 629, 636: „Wettbewerb der Insolvenzrechte“; Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, S. 35 ff.; Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 106 ff.; Straubhaar, in: Schenk/Schmidtchen/Streit/ Vanberg (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, S. 243 ff. 451 Würdinger, JZ 2011, 177, 178. 452 Ringe, EBOR 9 (2008), 579, 600 ff. 453 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 141 f., 150. 454 Würdinger, KTS 2017, 445, 447 spricht von der „zweiten Spur der Europäisierung“: „Nicht durch eine supranationale, sondern durch eine autonom-nationale Rechtssetzung kommt es zu einer Angleichung und Annäherung der einzelnen Rechtsordnungen.“. 455 Bundesgesetz, mit dem die Insolvenzordnung, das Gerichtsgebührengesetz, das Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz und die Exekutionsordnung geändert werden (Insolvenzrechtsänderungsgesetz 2017 – IRÄG 2017), BGBl. I Nr. 122/2017. Die am 01. 11. 2017 (vgl. Art. 1 Nr. 53 zu § 279 Abs. 1 IRÄG 2017) in Österreich in Kraft getretene Novelle des Privatinsolvenzrechts brachte bedeutende Änderungen im Bereich der Restschuldbefreiung natürlicher Personen mit sich. Nicht nur die bisherige Mindestquote i. H. v. 10 %, ohne deren Erreichen eine Entschuldung im Abschöpfungsverfahren von einer Billigkeitsentscheidung des Gerichts abhängig war, fiel dem Federstrich des Gesetzgebers zum Opfer (Änderung des § 213 IO, vgl. Art. 1 Nr. 34 IRÄG 2017); darüber hinaus wurde auch die Dauer des Abschöpfungsverfahrens von sieben auf fünf Jahre reduziert (Änderung des § 199 Abs. 2 IO, vgl. Art. 1 Nr. 31 IRÄG 2017). Zu den Entwicklungen in Österreich siehe Mohr, ZIK 2017, 97, 101; Würdinger, KTS 2017, 445, 466 ff. m. w. N.
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pluralistischen, von gegenseitigem Respekt und reziproker Anerkennung geprägten Europäischen Union, dass die Mobilität und Freiheit der Unionsbürger in der Möglichkeit der Integration in andere Länder mit der Unterwerfung unter deren Rechtssystem kulminiert.
II. Nachteile des Forum Shopping Dort aber, wo verschiedene privatrechtliche Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen, kann eine solch kompetitive Ausgangslage bei der autonom-nationalen Gesetzgebung zu einer Verzerrung der Interessenabwägung führen und einseitig die Interessen der Beteiligten begünstigen und i. E. daher fehlgewichten.456 Schuldner lassen sich durch staatliche Anreize, wie der Attraktionskraft einer günstigen Schuldbefreiungsoption, motivieren, das Insolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu beantragen. Die Förderung der nationalen Insolvenzwirtschaft kann sich angesichts des großen volkswirtschaftlichen Potenzials auf dem akzessorischen Markt für Insolvenzverwaltung und insolvenzbezogenen Dienstleistungen als unerwünschter Anreiz darstellen,457 Schuldner überproportional zu bevorteilen und Gläubiger dadurch zu schaden.458 Spiegelbildlich wird der insolvenzrechtlich unattraktivere Wirtschaftsstandort geschwächt und die Konsum- und Arbeitskraft der Schuldner geht nicht selten verloren.459 Außerdem ist Forum Shopping dann negativ zu bewerten, wenn es zur Ineffizienz von Insolvenzverfahren im Sinne einer Kostenerhöhung beiträgt.460 Da Forum Shopping zu Diskrepanzen von Gesellschafts- und Insolvenzstatut führt, ist oftmals mit höheren Verfahrenskosten zu rechnen.461 Allgemein wer456 Fehrenbach, KTS 2017, 545, 547: „multipolares Interessenfeld“. Zu weiteren Nachteilen Eidenmüller, ZGR 2006, 467, 478. 457 Zu diesem Sekundärmarkt Eidenmüller, ZGR 2006, 467, 471; Klöhn, KTS 2006, 259, 264 f.; Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 163. 458 Vgl. Klöhn, KTS 2006, 259, 265. Zu den Anreizen für Anbieter verschiedener Insolvenzrechtsordnungen Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 110 ff. 459 Siehe die Studie „Harmonisation of Insolvency Law at EU Level“, abrufbar unter https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/resources/docs/ipol-juri_nt2010419633_ en.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). Auch Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 10 f. Zu den Anreizen des Wettbewerbs der Rechtsordnungen siehe Reuss, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, S. 16 Fn. 51. 460 Ringe, EBOR 9 (2008), 579, 600 f.; zu etwaigen Effizienzvorteilen und deren Realisierung Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 294 ff. 461 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 158.
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den Gläubiger sich gegen höhere Kosten für die Rechtsverfolgung aufgrund der Ungewissheit über das anwendbare Insolvenzrecht wappnen müssen.462 Hinzu kann eine suboptimale Allokation von Krediten kommen, wenn die Kreditvergabe an die Schuldner aufgrund von Unwägbarkeiten wegen nicht klarer gesetzlicher Rahmenbedingungen eingeschränkt abläuft.463 Darüber hinaus kann die verbindlich von einem Staat getroffene Interessenabwägung zu Gunsten oder zu Ungunsten einer Beteiligtengruppe gesellschaftlich oder (verfassungs-)rechtlich erheblichen Belangen dieses Staates Rechnung tragen, die noch unterhalb der Schwelle des Ordre-public-Vorbehalts liegen. Diese Abwägung durch die Erlaubnis eines Forum Shopping zu konterkarieren, widerspräche auch in gewisser Weise dem akzeptierten und gewollten Pluralismus der Rechtsordnungen, der von seiner Vielgestaltigkeit lebt und sich durch diese definiert.
III. Missbräuchliches Forum Shopping Angesichts der aufgezählten Vor- und Nachteile und eines Mangels an empirischen Daten zu den Auswirkungen des Forum Shopping ist die entscheidende Frage,464 ob die gerade aufgezählten Aspekte ausreichen, um das Forum Shopping als missbräuchlich zu qualifizieren oder ob es rechtspolitisch als Ausfluss grenzüberschreitender Freizügigkeit hingenommen werden sollte.465 Käme man zu letzterem Ergebnis, erübrigte sich jede weitere Diskussion. Die Notwendigkeit einer Definition und Grundlegung besteht aber schon allein deshalb, weil nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch der EU-Gesetzgeber mit dem Begriff operiert und ihn vom sog. betrügerischen Forum Shopping unterscheidet.466 Dabei ist einerseits überhaupt fraglich, was unter dem Begriff des „missbräuchlichen“ Forum Shopping verstanden werden soll und andererseits ist nicht einheitlich geklärt, welche Rechtsfolgen an die Qualifizierung des Forum Shopping als missbräuchlich anknüpfen. Bzgl. beider Punkte scheiden sich die Geister in Rechtsprechung und in Literatur.467 Unabhängig von den bisherigen Versuchen, ein kohärentes Rechtsmiss462
Ringe, EBOR 9 (2008), 579, 602. Klöhn, KTS 2006, 259, 263 f. Vgl. auch COM(2012), 742 final, S. 3. 464 Ähnlich zum Mangel an brauchbaren Daten siehe Eidenmüller, KTS 2009, 137, 141 f. 465 Insbesondere zum Spannungsverhältnis von Privatautonomie/Parteiautonomie und Missbrauch Weller/Benz/Thomale, ZEuP 2017, 250, 269 ff.; zum Ganzen auch Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, passim. 466 Vgl. Erwägungsgründe 29, 31, 46 EuInsVO. 467 Zu entsprechenden Vorschlägen siehe m. w. N. Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 125 ff.; Eidenmüller, KTS 2009, 137 ff.; auch Fleischer, JZ 2003, 865, 463
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brauchskonzept im europäischen Insolvenzrecht zu entwickeln, soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ein mehr moralisch-politisches Verständnis von missbräuchlichem Forum Shopping Platz greifen. 1. Definition missbräuchliches Forum Shopping
Von missbräuchlichem Forum Shopping natürlicher Personen soll vorliegend ausgegangen werden, wenn die Nutzung eines ausländischen Entschuldungsweges objektiv – und formal unter Einhaltung der anzuwendenden Rechtsregeln – zu einer einseitigen Verkürzung von Gläubigerinteressen und -rechten führt.468 Die komparativ günstigere Schuldbefreiung muss das intentional handlungsleitende Motiv des Forum Shopping sein, während die Rechtsverkürzung auf Gläubigerseite sich als reiner Rechtsreflex469 darstellen kann.470 2. Merkmale eines rechtsethischen Missbrauchskonzepts
Betrachtet man die Nachteile des Forum Shopping, wie sie eben aufgezeigt wurden, überwiegen diese grosso modo seine Vorteile, zumal diese Vorteile auf Kosten der Gläubiger teuer erkauft werden. Rechtspolitisch und ethisch ist dies nicht haltbar.471 Somit ist Ausgangspunkt der Diskussion die moralische, gesellschaftliche und politische Missbilligung dessen, was hier als missbräuchliches Forum Shopping beschrieben wird. Gerade das subjektive Moment ist Anknüpfungspunkt für die Missbilligung, da allein der objektiven Wahrnehmung formaler Rechtspositionen kein moralischer Makel anhaftet. Dem kann 870 ff.; umfassend Reuss, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, S. 199 ff. und insbesondere 318 ff. 468 Dagegen viel weiter Kindler, KTS 2014, 25, 34, nach dem ein Missbrauch schon dann anzunehmen ist, wenn Gründe für die Insolvenzverfahrenseröffnung im Ausland nicht ersichtlich sind und wenn sich der Hauptteil des Vermögens sowie die meisten Gläubiger im Wegzugstaat befinden. 469 Anders wohl Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901: „gezielte Gläubigerschädigungsabsicht“. 470 Angelehnt an EuGH, Rs. C-110/99, Emsland-Stärke GmbH/Hauptzollamt Hamburg-Jonas, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 39; EuGH, Rs. C-515/03, Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH/Hauptzollamt Hamburg-Jonas, ECLI:EU: C:2005:491, Rn. 39. Vgl. ferner Fleischer, JZ 2003, 865, 872; gegen ein subjektives Element Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 83. A. A. Knof, ZInsO 2007, 629, 636, der, jedenfalls wenn eine Sanierung nur zum Teil auf Kosten der Gläubiger erfolgt, darin nichts Missbillgenswertes erkennt. Zum Ganzen ausführlich Eidenmüller, KTS 2009, 137, 142 ff.; Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 248 f. 471 Vgl. auch Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 407.
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man entgegenhalten, es mache für die Gläubiger keinen Unterschied, ob der Schuldner die Schuldbefreiung gerade bezwecke oder ob diese auch ohne ein solches subjektives Element eintrete.472 Außerdem könnte dem weiter entgegnet werden, dass allgemein die Beeinträchtigung der Gläubigerinteressen kein taugliches Kriterium sei, um den Rechtsmissbrauchsvorwurf zu begründen.473 Dem Befund, Forum Shopping könne als rechtsmissbräuchlich qualifiziert werden, könnte so per se Ablehnung erteilt werden. Indes geht der EU-Gesetzgeber von der Existenz des missbräuchlichen Forum Shopping aus.474 Es ist gerade diese einseitige Gläubigerbenachteiligung, die politisch aus den oben genannten Gründen de lege lata nicht gewünscht ist.475 Jedenfalls ist eine Gestaltung, bei der ein subjektives Element hinzutritt, in höherem Maße fragwürdig und eher geeignet, den moralischen Vorwurf des Rechtsmissbrauchs zu begründen als allein die objektive Gläubigerbenachteiligung. Einen weiteren Hinweis auf dieses Verständnis offenbart die Wortwahl in der deutschen Fassung des Art. 90 Abs. 4 EuInsVO: dort ist von missbräuchlicher „Absicht“ die Rede.476 Ferner stellt Erwägungsgrund 30 u. a. auf den „Hauptgrund für einen Umzug“ ab. 3. Folgen der Qualifizierung als „missbräuchlich“
Folge einer Qualifizierung des Forum Shopping als missbräuchlich im Sinne obiger Definition ist zunächst allein die politische Agitation für einen gesetzgeberischen Rahmen, welcher diese Art des Forum Shopping verhindern könnte.477 Der Gesetzgeber erkennt dieses Forum Shopping ob seines moralischen Unwerts als Unbill und geht mit legislativen Maßnahmen dagegen vor, die ggf. zulässige Einschränkungen der Grundfreiheiten sind. Es gibt keine unmittelbaren Rechtsfolgen, die sich allein aus dem begrifflichen Befund des 472
Ähnlich aber Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 147. So aber Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 147. 474 Vgl. Erwägungsgründe 29, 31, 46 EuInsVO. 475 Siehe § 3. A. II. 476 Wenngleich es in der englischen Fassung nur „a study on the issue of abusive forum shopping“ und in der französischen „une étude concernant la question de la recherche abusive de la juridiction la plus favorable“ heißt. 477 Der BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 = NJW 2002, 960, 961 äußerte sich bzgl. des autonom internationalen Insolvenzrechts kritisch hinsichtlich des Vorliegens von Rechtsmissbrauch. Indes tat er dies vor dem Hintergrund eines ggf. zu bejahenden Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung. Nach dem hier vertretenen Verständnis sind aber die Qualifizierung als rechtsmissbräuchlich und der Verstoß gegen den ordre public zwei voneinander getrennt zu beurteilende Fragen. Die Qualifizierung als rechtsmissbräuchlich sagt noch nichts über einen etwaigen ordre public-Verstoß aus. 473
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Forum Shopping als rechtsmissbräuchlich ableiten.478 Vielmehr ist aus Gründen der Rechtssicherheit eine tatbestandlich klar umrissene gesetzliche Grundlage erforderlich, nach welcher sich ausdrücklich die rechtspolitisch gewünschten Rechtsfolgen ergeben.479 Daher ist es erforderlich, das missbräuchliche Forum Shopping dieser gesetzlichen Grundlage zu subsumieren.480 4. Legislatorische Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsverbots
Wenn nun dieses rechtsethische Verständnis zu Grunde gelegt wird, muss eingestanden werden, dass die obige Definition nicht zur Übernahme in einen Gesetzestext taugt. Dies würde neue Unsicherheiten wegen der Feststellung der subjektiven Komponente beschwören. Diesen Weg ist der Verordnungsgeber jedenfalls im Rahmen der EuInsVO auch gar nicht gegangen. Mit der Normierung einer Période suspecte hat er das Rechtsmissbrauchsverbot konkretisiert.481 Pro futuro wäre es ein gangbarer und daher wünschenswerter Weg, wenn er, sollte er es für nötig halten, weiter typisierende objektive Umstände, die aus seiner Sicht Indiz für eine bestimmte rechtlich zu missbilligende Gesinnung sind, in verbindlichen Normtext gießt. So leistet er zusätzliche Konkretisierung und macht den abstrakten Rechtsmissbrauchsbegriff einer Subsumtion zugänglich, die ein Stück weit mehr Rechtssicherheit zu leisten vermag als eine per se an den abstrakten Begriff anknüpfende, verbindliche und nicht normierte (richterliche) Rechtsfolgenanordnung. 5. Fazit: Missbräuchliches Forum Shopping
Mit dem hier vertretenen Missbrauchskonzept wird zugleich sämtlichen anderen Verständnissen des Rechtsmissbrauchs, z. B. dem Rechtsmissbrauch als Auslegungskonzept zur Bestimmung des Anwendungsbereichs einer Norm oder 478 A. A. Reuss, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, S. 337, welcher dem erstangerufenen Gericht die Kompetenz zuspricht, sich im Falle des Rechtsmissbrauchs für unzuständig zu erklären. 479 Die bisherigen Bemühungen einer dogmatischen Herleitung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsprinzips im Unionsrecht wie Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 62 ff. sie nachzeichnet, genügen diesen Anforderungen nicht. 480 A. A. Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 140, der als Rechtsfolge des Rechtsmissbrauchs die Aberkennung der Verlagerung des COMI nennt; das hier vertretene Konzept widerspricht auch Eidenmüller, KTS 2009, 137, 142 ff., der Rechtsmissbrauch als eigenständige (teleologische) Auslegungskategorie begreift. 481 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 149: „institutionalisiertes Missbrauchsverbot“; Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 20: „normative Konkretisierung des Missbrauchseinwands“.
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als eigenständiger Rechtsfigur,482 entgegengetreten. Allein die Deutung, Rechtsmissbrauch im Europäischen Insolvenzrecht gänzlich auf ein rechtsethisches Prinzip ohne Rechtsfolgenanordnung zu reduzieren, ist vorzugswürdig. Da die anderen Konzeptionen eine zusätzliche konkrete Einzelfallprüfung erfordern, sollte sich der missbräuchlichen Qualifizierung des Forum Shopping aus Gründen der Rechtssicherheit noch keine rechtliche Konsequenz anschließen.483 Diese Rechtsunsicherheit resultierte nicht zuletzt daraus, dass man sich mit anderen Interpretationen des Erfordernisses einer gesetzlichen Grundlage zur Korrektur des unerwünschten Zustandes entledigte. Letztlich entzog die Einführung der Période suspecte weiteren Deutungen ein Stück weit die Grundlage und machte diese insofern weitgehend obsolet.484 Die Période suspecte schnürt den weiten Begriff des Rechtsmissbrauchs in einen engen zeitlichen Rahmen und begrenzt so seine Anwendbarkeit. Des Weiteren widerspricht das vorzugswürdige rechtsethische Missbrauchskonzept der allgemeinen Negation eines rechtsmissbräuchlichen Forum Shopping durch Verlagerung des COMI im Vorfeld des Insolvenzverfahrens.485 Nach diesem Konzept kann Forum Shopping mittels Verlagerung des COMI nämlich durchaus mit dem Begriff „rechtsmissbräuchlich“ bedacht werden. Darüber hinaus bietet der EU-Gesetzgeber im Rahmen der EuInsVO mit ihrem zweistufigen gerichtlichen Kontrollsystem und der Zulassung von Partikularinsolvenzverfahren sicherere Gewähr für eine Verhinderung des rechtsethisch unerwünschten Forum Shopping.486 Sollten den Schutzvorkehrungen zum Trotze gänzlich unhaltbare Missbrauchsversuche scheinbar Erfolg versprechen, ist eine etwaige Verletzung des Ordre public zu prüfen. Mit der (unionsautonomen) Definition des missbräuchlichen Forum Shopping soll ein Beitrag zu größerer Klarheit im Diskurs über den Restschuldbe482 Rechtsmissbrauch als Auslegungskonzept Eidenmüller, KTS 2009, 137, 144; dies aufgreifend Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 238. Rechtsmissbrauch als eigenständige Rechtsfigur Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 84; vgl. auch von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, § 6 Rn. 123 und Schön, in: Wank/Hirte/Frey/Fleischer/Thüsing (Hrsg.), FS Wiedemann, S. 1271, 1282 f. 483 Die erhebliche Rechtsunsicherheit des Auslegungskonzepts eingestehend Eidenmüller, KTS 2009, 137, 159. 484 A. A. Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 231: „Festgestellt werden kann, dass die Anwendung des unionsrechtlichen Rechtsmissbrauchsgrundsatzes weder durch die Reformen der Kommission noch durch die erarbeiteten weitergehenden Ansätze obsolet wird.“. 485 Gegen eine Annahme von Rechtsmissbrauch nach den bisherigen Konzeptionen anscheinend aber Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 150; Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 134. 486 Vgl. § 3. B. III. 3. und 4 sowie § 3. C.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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freiungstourismus geleistet werden, zumal der EU-Gesetzgeber von diesem Begriff ausgeht und ihn vom betrügerischen Forum Shopping unterscheidet. Weitergehende rechtliche Schlussfolgerungen werden mit dieser Qualifizierung noch nicht automatisch einhergehen, sondern müssen gesondert durch Subsumtion unter die rechtlichen Vorschriften (de lege lata und eventualiter de lege ferenda) eruiert werden. Sollten zukünftig weitere legislatorische Maßnahmen zur normativen Konkretisierung des rechtsethisch missbräuchlichen Forum Shopping ergriffen werden, ist im Besonderen auf die Vereinbarkeit mit den unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten zu achten.
IV. Betrügerisches Forum Shopping Neben dem missbräuchlichem Forum Shopping ergibt sich eine zweite Fallgruppe, die gesonderter rechtlicher Beurteilung bedarf: das sog. betrügerische Forum Shopping.487 Diesem haftet nicht mehr das Etikett der formalen Rechtmäßigkeit an. Der europäische Gesetzgeber hat es – wie auch das missbräuchliche Forum Shopping – ausweislich des 29. Erwägungsgrundes der EuInsVO anerkannt. Unter betrügerischem Forum Shopping ist die Simulation von nicht gegebenen, zuständigkeitsbegründenden Tatsachen zu verstehen.488 Der Schuldner spiegelt unter Missachtung von Offenbarungspflichten wahrheitswidrig zuständigkeitsbegründende Tatsachen vor. Dass diese Art des Forum Shopping besonders verwerflich – weil contra legem – ist und daher bekämpft werden muss, versteht sich von selbst.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen Um das Phänomen Restschuldbefreiungstourismus in seinen rechtssystematischen Zusammenhängen zu verstehen, ist an dieser Stelle ein Blick auf die EuInsVO unabdingbar. 487 Eine Unterscheidung zwischen missbräuchlichem und betrügerischem Forum Shopping trifft auch der EuGH, Rs. C-212/97, Centros Ltd/Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 24, wenngleich die Trennlinien nicht immer deutlich werden. Vgl. auch Eidenmüller, KTS 2009, 137, 142 ff.; Fleischer, JZ 2003, 865, 870; Knof, ZInsO 2007, 629, 636 ff. Ausdrücklich zu dieser Zweiteilung Erwägungsgrund 29 EuInsVO. 488 Wenngleich der BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929, 930 Rn. 23 diesen Fall ebenso als rechtsmissbräuchlich betitelt; Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 104 weist in Fn. 584 auf die nicht immer klare Unterscheidung dieser Begriffe hin; ebenso zur Unterscheidung Reuss, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, S. 255 ff.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
Mit der auf Art. 81 AEUV gestützten Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren, der sog. EuInsVO, die gem. ihres Art. 84 Abs. 1 und Art. 92 auf nach dem 26. 06. 2017489 eröffnete Insolvenzverfahren Anwendung findet, wurde aus Gründen der Klarheit eine Neufassung (vgl. Erwägungsgrund 1 EuInsVO) der gem. Art. 91 EuInsVO aufgehobenen Verordnung (EG) Nr. 1346/2000490 vorgenommen.491 Explizit soll sich die Verordnung auch auf Verfahren erstrecken, „die eine Schuldbefreiung oder eine Schuldanpassung in Bezug auf Verbraucher und Selbständige zum Ziel haben, indem z. B. der vom Schuldner zu zahlende Betrag verringert oder die dem Schuldner gewährte Zahlungsfrist verlängert wird.“ (Erwägungsgrund 10 EuInsVO).
I. Zweck der Verordnung Angesichts der zunehmend grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Betätigung wurde das „rechtspolitische Desiderat EuInsVO“ in dem Bewusstsein der erheblichen binnenmarktrechtlichen Relevanz großer Insolvenzfälle geschaffen. Eingedenk der Unmöglichkeit, im materiellen Recht ein einziges, universal492 für die gesamte Union geltendes Insolvenzverfahren zu etablieren, bedurfte es eines koordinierenden Unionsrechtsaktes, welcher die national divergierenden Insolvenzkollisionsrechte substituiert und die Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Insolvenzverfahren gewährleistet (vgl. Erwägungsgründe 3, 4, 8, 22, 66 EuInsVO). Das Ziel war eine Vereinheitlichung des Verfahrens493 zur Schaffung von Rechtssicherheit, zur Kostenreduzierung und zur Effizienzsteigerung.494 Ein wichtiger Baustein dieser Gesamtstrategie zur Sicherung des ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes ist die Verhinderung des Forum Shopping. Darunter versteht die EuInsVO (vgl. Erwä-
489 Auch am 26. 06. 2017 eröffnete Verfahren werden von der EuInsVO erfasst, siehe Schmidt, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 84 Rn. 4. 490 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. 05. 2000 über Insolvenzverfahren, ABl. L 160 v. 30. 6. 2000, S. 1 ff. 491 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 186 ff. Kursorisch m. w. N. zur Genese der Verordnung Parzinger, NZI 2016, 63, 64; Piekenbrock, KSzW 2015, 191 f. Zu den Neuerungen Fritz, DB 2015, 1882 ff.; ders., DB 2015, 1945 ff. 492 Der Terminus „universal“ wird in Anlehnung an Erwägungsgrund 23 EuInsVO gebraucht. Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs Müller, Jura 2015, 1319, 1320 f. 493 Einheit des Verfahrens meint ein Insolvenzverfahren für einen einzigen Schuldner, so Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, § 23 Rn. 1147; siehe auch Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 279, 282. 494 Eidenmüller, IPRax 2001, 2, 5.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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gungsgrund 5 EuInsVO)495 das Herbeiführen eines ausländischen Gerichtsstandes durch Vermögensverlagerung zur Profitierung von Vorteilen ausländischer Rechtsordnungen zum Nachteil von Gläubigern.496
II. Funktionsweise Restschuldbefreiungstourismus Gem. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 4 i. V. m. Anhang A EuInsVO gilt die Verordnung für das deutsche Insolvenzverfahren.497 Der Restschuldbefreiungstourismus wird durch das Zusammenwirken der Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 ermöglicht. 1. Internationale Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO
Nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO sind die Gerichte des Mitgliedstaats498 für die Insolvenzverfahrenseröffnung zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen, der sog. COMI (Centre of Main Interests), liegt. Bis zum Beweis des Gegenteils sind dies bei selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Personen die Hauptniederlassung und bei allen anderen natürlichen Personen der gewöhnliche Aufenthaltsort. Nur das gem. Art. 4 Abs. 1 EuInsVO mit dem Eröffnungsantrag befasste Gericht hat eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit nach Art. 3 EuInsVO,499 die es verbindlich auszuüben hat.500 Natürliche Personen können somit, wenn sie das Risiko einer zukünftigen Insolvenz erkennen, ihre Hauptniederlassung oder ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen.501 Das hat zur Folge, dass die dortigen Gerichte für die Insolvenzverfahrenseröffnung zuständig sind. Die Verlegung des COMI ist 495 Zu Erwägungsgrund 5 siehe Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 25 – 27. 496 Siehe auch oben zum Restschuldbefreiungstourismus als Spielart des Forum Shopping zum Nachteil der Gläubiger § 3 A. 497 Vgl. auch Cranshaw, DZWiR 2018, 1, 6 zur Geltung der EuInsVO für das Restschuldbefreiungsverfahren der §§ 286 ff. InsO. 498 Die Verordnung gilt für alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks, dazu Erwägungsgrund 88 EuInsVO. 499 Dazu auch Erwägungsgrund 27 EuInsVO. 500 Vgl. EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 41 f. 501 Zu einem Verweis auf das Forum Shopping in den USA der achtziger Jahre und der Herausbildung sog. „Insolvenzhauptstädte“ Vallender, NZI 2007, 129, 130. Außerdem zu Nachweisen für zahlreiche Fälle des Forum Shopping Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 16 Fn. 101 und 102.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
somit Mittel des Forum Shopping.502 Vor allem in grenznahen Gebieten wird dieses Vorgehen virulent. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass einige mitgliedstaatliche Gerichte (namentlich die englischen 503, teils auch die französischen504) recht (vor)schnell die eigene Zuständigkeit bejahten und dadurch dem Restschuldbefreiungstourismus zusätzlich Vorschub leisteten.505 Zwar kann ein Zuzug und direkter Wegzug nach Zuständigkeitsbegründung den Anschein eines missbräuchlichen Forum Shopping erwecken,506 indes ist der Wegzug rechtens und das einmal begründete Forum bleibt bestehen.507
502
Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 899 f. kursorisch zu einem Fall der in England erteilten discharge Allemand, NZI 2014, 969, 972. Zum Versuch Restschuldbefreiung in England zu erlangen BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929 ff.; BGH, Beschl. v. 15. 11. 2010 − NotZ 6/10 = NJW-RR 2011, 642 ff. Vgl. auch Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 429 ff. und auf S. 751: Hinsichtlich England zeigt sich, „dass die Insolvenzanträge ausländischer […] Schuldner keine Seltenheit sind, sondern zur alltäglichen Praxis der dortigen Insolvenzgerichte gehören.“; Kindler, in: Säcker/ Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn. 17; Mankowski, NZI 2016, 93, 96 f.: laxe und großzügige Eröffnungspraxis englischer Gerichte; Mansel, in: Kronke, Herbert/Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 686; interessant dazu die Ausführungen von Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1250; Paulus, NZI 2005, 56, 62: „britannische Zuständigkeitsusurpation“; Vallender, NZI 2007, 129 ff. Zu den Motiven einer Insolvenz in England Weller, ZGR 2008, 835, 838 ff. 504 Aber auch der Restschuldbefreiungstourismus nach Frankreich, speziell in das Elsass, war für Schuldner attraktiv, vgl. z. B. BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960 ff. Auch Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 310; Mankowski, KTS 2011, 185, 200. 505 Ähnlich Commission Recommendation on a New Approach to Business Failure and Insolvency, SWD(2014) 61 final, S. 23. Ebenso COM(2012) 743 final, S.11, wonach v. a. Ostfrankreich, das Vereinigte Köngireich und Lettland Schuldner anziehen. Ferner Lautenbach, NZI 2004, 383, 385; Stürner, KTS 2017, 291, 292. Ein Vergleich der Verfahren in Deutschland, England und Frankreich sowie der Gründe für den Restschuldbefreiungstourismus in letztere Länder findet sich bei Brinkmann/Frevel, in: Basedow et al. (Hrsg.), FS Klamaris, S. 109, 113 ff. (nur zum englischen Recht); Bruns, KTS 2008, 41, 44 f. (auch zum Insolvenzrecht der USA); Dimmling, ZInsO 2007, 1198 ff. (zum Restschuldbefreiungstourismus nach England); Fikus, Restschuldbefreiung in Europa, S. 14 ff.; Mehring, ZInsO 2012, 1247 ff.; Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 24, 99 f, 103 ff. Zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986 und ausführlich zu den Rechtsfolgen der discharge Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986, S. 111 ff. 506 Hingegen wird keine Vermutung derart begündet, die Verlegung des COMI innerhalb der Période suspecte spreche für die Absicht des Forum Shopping, vgl. Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 37. Vgl. auch d’Avoine, NZI 2011, 310, 313. 507 Siehe nur EuGH, Rs. C-1/04, Staubitz-Schreiber, ECLI:EU:C:2006:39, Rn. 29; Cranshaw, DZWiR 2018, 1, 15. 503 Vgl.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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2. Lex concursus, Art. 7 Abs. 1 EuInsVO
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat hat gem. der „Grundsatznorm des […] Internationalen Insolvenzrechts“508 des Art. 7 Abs. 1 EuInsVO zur Konsequenz, dass auch das Insolvenzrecht des eröffnenden Staates gilt. Eröffnung, Abwicklung und Beendigung des Insolvenzverfahrens richten sich nach der lex concursus509 (Erwägungsgrund 66 EuInsVO). Das Hauptinsolvenzverfahren ist als ein universal geltendes Verfahren mit dem Ziel der vollständigen Erfassung des gesamten Schuldnervermögens konzipiert (Erwägungsgrund 23 EuInsVO).510 Auf der einen Seite führt das zu einem Nexus zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Insolvenzrecht (sowohl Insolvenzverfahrens- als auch materielles Insolvenzrecht)511 und fördert Prozessökonomie512 und Rechtssicherheit513. Auf der anderen Seite wird ein Schuldner angesichts des sich für ihn eröffnenden Gestaltungsspielraums immer nach Abwägung aller Vor- und Nachteile einen Staat unter der Prämisse wählen, inwiefern er dort eine möglichst rasche Schuldbefreiung durch eine Verlegung seines COMI erwirken kann. Es wird ihm regelmäßig darum gehen, seine Vermögenswerte weitgehend vor dem Zugriff der Gläubiger zu schützen. Sollte dies innerhalb des rechtlich erlaubten Gestaltungsrahmens bleiben, kann hiergegen nichts eingewendet werden. 3. Anerkennung des Insolvenzverfahrens nach Art. 19 EuInsVO
Dies ist deswegen besonders frappierend, weil nach Art. 19 Abs. 1 EuInsVO, Art. 20 Abs. 1 EuInsVO die Insolvenzverfahrenseröffnung in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt werden muss.514 Die Anerkennung erfolgt ipso iure, 508 Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 7 Rn. 1; bereits zuvor Vallender, ZInsO 2009, 616, 617: „Grundsatznorm des internationalen Insolvenzrechts.“. 509 Zum Begriff der „lex“ im internationalen Privatrecht Müller, Jura 2015, 1319, 1322. Für eine klare Abgrenzung der Termini „lex concursus“ und „lex fori concursus“ votiert Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 7 Rn. 12. 510 Der Grundsatz der Universalität wird aber durch Partikularinsolvenzverfahren durchbrochen Beck, NZI 2006, 609, 610. 511 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 90; Duursma-Kepplinger, NZI 2003, 87, 90; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 550. 512 Eidenmüller, EBOR 6 (2005), 423, 430. 513 Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 42. 514 Zur Frage, ob bereits aus Art. 7 EuInsVO oder erst Art. 19 EuInsVO folgt, dass das Insolvenzstatut des Eröffnungsstaates innerhalb der Mitgliedstaaten anwendbar ist und dies zu einer Gläubigergleichbehandlung führt, statt aller Müller, in: Mankowski/Müller/ Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 7 Rn. 5; vgl. ferner ders., Art. 19 Rn. 5.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist.515 Darüber hinaus kann vor allem die hier interessierende, im Ausland erteilte Restschuldbefreiung den nationalen Gläubigern entgegengehalten werden.516 Wird eine im Anwendungsbereich der EuInsVO erteilte Restschuldbefreiung auch in Deutschland gänzlich anerkannt, hindert sie entweder die Durchsetzbarkeit der nationalen Gläubigerforderungen oder sie führt – je nach lex fori concursus – zum vollständigen Verlust der Forderungen.517 Selbst die fehlerhafte Annahme der eigenen Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts zwingt zur Anerkennung, sofern das Gericht sich subjektiv518 nach der EuInsVO für zuständig hält.519 Ebenso ist eine Korrektur der fehlenden Zuständigkeit über den Ordre-public-Vorbehalt kaum möglich.520 Gerade mit Blick auf die einschneidenden Wirkungen einer Anerkennung fordert die Verordnung gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten.521 Sie geht von der funktionalen Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Insolvenzordnungen aus und beschränkt die Nichtanerkennung auf seltene, unbedingt erforderliche Ausnahmen (Erwägungsgrund 65 EuInsVO).522 Dieses Vertrauen sollen u. a. die mitgliedstaatlichen Rechtsbehelfssysteme und das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren verbürgen.523 515 Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 319; Huber, EuZW 2002, 490, 494; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 561. 516 Zur Anerkennung zwingt entweder Art. 19 Abs. 1 EuInsVO oder Art. 32 Abs. 1 EuInsVO, dazu m. w. N. Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 20 Rn. 8, Art. 32 Rn. 19, 23. Siehe auch Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 270 ff. 517 Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 165. 518 Eine Anerkennung scheitert aber dann, wenn das Gericht seine Zuständigkeit subjektiv auf sein autonomes internationales Verfahrensrecht stützt und objektiv die Voraussetzungen des Art. 3 EuInsVO nicht vorliegen, vgl. Mäsch, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/ EuIPR, Band II, Art. 16, Rn. 10. 519 OLG Nürnberg, Beschl. v. 15. 12. 2011 – 1 U 2/11, ECLI:DE: OLGNUER: 2011:1215.1U2. 11. 0A = NJW 2012, 862 ff.; Jacoby, GPR 2007, 200, 202. Ausführlich zu positiven und negativen Kompetenzkonflikten Mankowski, in: Mankowski/Müller/ Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 161 – 186. Vgl. auch Graf, Die Anerkennung ausländischer Insolvenzentscheidungen, S. 283 f. Vgl. ferner § 3 B. III. 2. 520 Vgl. § 3 B. III. 6. OGH, Beschl. v. 17. 03. 2005 – 8 Ob 135/04t = NZI 2005, 465, 466; LG Mosbach, Urt. v. 17. 01. 2014 – 5 T 62/13 = ZInsO 2015, 316, 317. 521 Dazu auch EuGH, Rs. C-159/02, Turner, ECLI:EU:C:2004:228, Rn. 24 f. 522 Laukemann, IPRax 2012, 207 f.; Paulus, NZI 2008, 1, 6: „wechselseitiges Vertrauen in Gleichwertigkeit der Rechtsprechung“. 523 EuGH, Rs. C-559/14, Meroni/Recoletos u. a., ECLI:EU:C:2016:349, Rn. 47; Diageo Brands BV/Simiramida-04 EOOD, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 49; LG Mosbach, Urt. v. 17. 01. 2014 – 5 T 62/13 = ZInsO 2015, 316, 317. Auf die mangelnde Praktikabilität der Zuständigkeitskontrolle durch Vorabentscheidungsverfahren hinweisend Herchen, ZIP 2005, 1401, 1402; ebenso Lüer, in: Piepenburg (Hrsg.), FS Greiner, S. 201, 211.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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III. Schutzvorkehrungen Im Bemühen um eine weitestgehende Zurückdrängung und Verhinderung des rechtspolitisch unerwünschten Restschuldbefreiungstourismus hat der Gesetzgeber mit verschiedenen Vorschriften reagiert.524 National mitgliedstaatliche Maßnahmen allein, wie bspw. das englische Annulierungsverfahren,525 sind aber nicht ausreichend. Die EU hat Normen geschaffen, welche das Potenzial zur Bildung eines dichten Regelungsnetzes im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Restschuldbefreiungstourismus haben. Neben legislatorischen Maßnahmen wurden Ansätze in Literatur und Rechtsprechung entwickelt, die ebenso diesen Zweck verfolgen.526 Es bleibt zu untersuchen, wie geeignet die nachgenannten Maßnahmen und Vorschriften einzeln und in ihrer Gesamtheit sind, um dem Restschuldbefreiungstourismus einen Riegel vorzuschieben. 1. Versagung der Hauptverfahrenseröffnung
In der Literatur wurde der Gedanke aufgeworfen, das missbräuchliche Forum Shopping führe zur Unwirksamkeit und damit Unbeachtlichkeit der COMI-Verlagerung.527 Daraus folge, dass der Staat, in dem der neue COMI gelegen ist, die Eröffnungsentscheidung versagen könne und der ursprüngliche COMI-Staat zuständig bleibe.528 Eine rechtliche Grundlage für dieses Vorgehen wurde nicht genannt. Es wurde lediglich erwogen, diese Konsequenz auf den Missbrauch der Niederlassungsfreiheit zu stützen.529 Dabei könne mit dem zwingenden Cha524 Vgl. Erwägungsgrund 29 EuInsVO: „Schutzvorkehrungen“ vor betrügerischem und missbräuchlichem Forum Shopping. Nach Prager/Keller, NZI 2013, 57, 59 leistet auch die Objektivierung der Kriterien für den COMI einen Beitrag dazu. 525 Dazu Goslar, NZI 2012, 912 ff. Zum englischen und französischen Recht Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1250. 526 Zu den hier nicht dargestellten Gestaltungsmöglichkeiten des Gläubigers vor einer Verlagerung des COMI ausführlich Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 219 ff.; Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 754 ff. 527 Ähnlich schlagen Hess/Laukemann/Seagon, IPRax 2007, 89, 91 vor, einer fradulösen Sitzverlegung im Vorfeld der Insolvenzeröffnung könne im Wege der Insolvenzanfechtung begegnet werden. Im Ergebnis zutreffend lehnen Weller, ZGR 2008, 835, 851 und Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 253 f. dies unter Verweis auf Gemeinschaftsvertrauen, Gleichwertigkeit der Insolvenzrechtsordnungen, Rechtsunsicherheit und das Prioritätsprinzip ab. 528 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. 529 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. Für das Gesellschaftsrecht EuGH, Rs. C-212/97, Centros Ltd/Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, ECLI:EU:C:1999: 126, Rn. 25. Dies ferner auch diskutierend Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 244 ff.
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rakter und der volkswirtschaftlichen Schutzrichtung des Insolvenzrechts sowie dem Insolvenzverfahren als Instrument des Gläubigerschutzes argumentiert werden.530 Die Interpretation der EuInsVO als gläubigerschützendes Korrektiv zur weitreichenden Niederlassungsfreiheit und die Absicht, das eigentlich anwendbare Insolvenzrecht zu umgehen, rechtfertigten es, die Verlagerung als unzulässig zu betrachten.531 a) Kritik: Versagung der Hauptverfahrenseröffnung
Dieser Argumentation wurden in einem Atemzug kritische Gedanken gegenübergestellt. Der Gläubigerschutz verstärke sich hierdurch nicht zwangsläufig, die Gefahr negativer Kompetenzkonflikte bestehe, der verbundene Zeitverlust könne sich negativ auf die Insolvenzmasse auswirken, der Begriff des Rechtsmissbrauchs sei zu unbestimmt und das Zuständigkeitssystem der EuInsVO würde umgangen.532 b) Stellungnahme: Versagung der Hauptverfahrenseröffnung
Dem Gericht des COMI-Staates kann solange keine Befugnis zur Eröffnungsversagung konzediert werden, wie die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO tatsächlich vorliegen. Eine andere Vorgehensweise bräche mit Wortlaut, Systematik und Telos der Verordnung. Insofern ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO apodiktisch (die Période suspecte einmal außer Acht gelassen). Es fehlt schlichtweg an einer gegensätzlichen gesetzlichen Grundlage. Systematisch betrachtet sieht die EuInsVO als einzige Möglichkeit die Anerkennungsversagung vor und dies auch nur in den engen Grenzen des Art. 33 EuInsVO. Außerdem greifen die an Ziel und Zweck der EuInsVO orientierten Bedenken durch. Ferner mag nicht in Zweifel gezogen werden, dass das Insolvenzverfahren dem Gläubigerschutz dient, doch bleibt hier die – jedenfalls national – eigene Dimension der Restschuldbefreiung als eigenständiges Verfahrensziel vollkommen unberücksichtigt.533 Zuzugeben ist die Unbestimmtheit des Begriffs „Rechtsmissbrauch“, indes wurde zur Lösung dieses Problems eine probate Definition vorgestellt.534 Bevor also eine Eröffnungsversagung als theoretische Option konstruiert wird, sind andere Mittel und Instrumente in Stellung zu bringen.
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Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. 532 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900. 533 Vgl. § 2. D. V. 1. 534 Vgl. § 3. A. III. 531
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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2. Versagung der Anerkennung – Positive Kompetenzkonflikte
Eine Möglichkeit, Zuständigkeitserschleichungen durch Scheinverlagerungen535 des COMI zu verhindern, kann sich als Antwort auf die Frage ergeben, wie mit positiven Kompetenzkonflikten umzugehen ist.536 Positive Kompetenzkonflikte sind solche Konflikte, bei denen zwei oder mehrere Staaten die internationale Zuständigkeit hinsichtlich des Hauptinsolvenzverfahrens für sich in Anspruch nehmen.537 a) Maßgeblichkeit der erstgerichtlichen Entscheidung
Die überwiegend vertretene Auffassung lässt keinen Ansatzpunkt für eine potenziell wirksame Strategie gegen Restschuldbefreiungstourismus erkennen. Sie geht von der Maßgeblichkeit der Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts aus.538. Nach ihr zwingt – wie oben erläutert – 539 die positive Eröffnungsentscheidung zur Anerkennung und führt somit grundsätzlich zur Unüberprüfbarkeit durch ein ausländisches Gericht.540 Rechtsschutz ist im Staat 535 Scheinverlagerung meint hier, dass sich der COMI tatsächlich in einem anderen Land als dem Land der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens befindet. Gemeint ist das betrügerische Forum Shopping, also die fehlerhafte Inanspruchnahme der internationalen Zuständigkeit aufgrund des erfolgreichen Versuchs des Schuldners, sich ein günstigeres Insolvenzforum mittels der wahrheitswidrigen angeblichen Verlegung des Mittelpunktes seiner hauptsächlichen Interessen zu sichern. 536 Im Gegensatz dazu helfen die im Rahmen positiver Kompetenzkonflikte angestellten Erwägungen bei einer tatsächlichen COMI-Verlagerung und zutreffenden Zuständigkeitsbegründung im Kampf gegen missbräuchliches Forum Shopping nicht weiter. 537 Nerlich/Hübner, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 33. EL (Stand: September 2017), Art. 3 EuInsVO 2000 Rn. 49. 538 EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 39 ff.; EuGH, Rs. C-444/07, MG Probud Gdynia sp. z o.o ECLI:EU:C:2010:24, Rn. 29, 47; BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929, 930 Rn. 19; OLG Celle, Beschl. v. 27. 11. 2012 – 2 U 147/12 = ZInsO 2013, 1002 ff.; OLG Nürnberg, Beschl. v. 15. 12. 2011 – 1 U 2/11, ECLI:DE:OLGNUER:2011:1215. 1U2. 11. 0A = NJW 2012, 862 ff.; OLG Wien, Beschl. vom 09. 11. 2004 – 28 R 225/04w = NZI 2005, 56, 58; LAG Hessen, Urt. v. 14.12. 2010 − 13 Sa 969/10 = NZI 2011, 203, 204. Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 49 f.; Fehrenbach, ZEuP 2013, 353, 372; Herchen, ZIP 2005, 1401; ders., ZInsO 2004, 61, 63; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 319; Huber, EuZW 2002, 490, 495; Jacoby, GPR 2007, 200, 202; Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 287; Mansel, in: Kronke, Herbert/ Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 686; Piekenbrock, KTS 2010, 200 ff.; Renger, VIA 2011, 62, 63. Zur Eurofood-Entscheidung Bachner, ECFR 2006, 310 ff.; zur Auslegung der Brüssel Ia-VO durch den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens: Gottwald, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, Vorbemerkung zu Art. 1 Rn. 38 – 47. 539 Vgl. § 3. B. II. 3. 540 Vgl. in diesem Zusammenhang Art. 102 § 3 EGInsO und dazu Pannen/Riedemann, NZI 2004, 301, 302.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
der Eröffnungsentscheidung zu suchen.541 Hiernach impliziert die EuInsVO die Geltung eines strengen Prioritätsprinzips.542 aa) Historisches Argument: Virgós/Schmit-Bericht
Einen ersten Anhaltspunkt für diese Auffassung ergibt sich mittels historischer Auslegung. Im Virgós/Schmit-Bericht543 hieß es: „Die ausländische Entscheidung darf nicht Gegenstand einer Nachprüfung in der Sache (révision au fond) sein. Sämtliche Fragen zur Sache selbst sind vor den Gerichten des Staates der Verfahrenseröffnung vorzubringen. […]. Es findet keine Überprüfung der Zuständigkeit des entscheidenden Gerichts durch die Gerichte des ersuchten Staates statt; geprüft wird lediglich, ob die Entscheidung durch das Gericht eines Vertragsstaates ergangen ist, das sich nach Artikel 3 des Insolvenzübereinkommens für zuständig erklärt hat.“544, 545 bb) Historisches Argument: Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F.
Ähnliches offenbart die Betrachtung der Erläuterungen in Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F.546: „Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts sollte in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; diese sollten die Entscheidung dieses Gerichts keiner Überprüfung unterziehen dürfen.“. 541 So bereits Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 50.; An dres/Grund, NZI 2007, 137, 141; Duursma/Duursma-Kepplinger, DZWiR 2003, 447, 450 f.; zum Annullierungsverfahren im englischen Recht Goslar, NZI 2012, 912, 915 ff. 542 EuGH, Rs. C-444/07, MG Probud Gdynia sp. z o.o, ECLI:EU:C:2010:24, Rn. 27. Vgl. zur EuInsVO a. F. Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 902; auch Thole in: Kirchhof/ Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, Art. 102 § 3 EGInsO Rn. 2. Herchen, ZIP 2005, 1401 ff.; ders., ZInsO 2004, 61, 63 f.; Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 290. Nach Herchen, ZIP 2005, 1401, 1402 kann ein Umkehrschluss aus Art. 19 Abs 2 EuInsVO zur argumentativen Fundierung des Prioritätsprinzips bemüht werden: Da die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens nach Anerkennung eines Hauptinsolvenzverfahrens ausdrücklich gestattet wird, folge hieraus, dass nach Anerkennung eines Hauptinsolvenzverfahrens kein weiteres Hauptinsolvenzverfahren eröffnet werden könne. 543 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1. 544 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 202; ferner auch zur Anerkennung Rn. 148. Dem widersprechend Mankowski, EWiR 2003, 767, 768. 545 Dem (vom Rat nicht veröffentlichten) Virgós/Schmit-Bericht entscheidendes Gewicht bei der Auslegung der EuInsVO beimessend Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 348, 373. 546 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. 05. 2000 über Insolvenzverfahren, ABl. L 160 v. 30. 6. 2000, S. 1 ff.
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cc) Gegenseitiges Vertrauen und Effizienz
Daneben streiten weitere praktische und rechtliche Aspekte für eine weitreichende Anerkennung. Dies sind z. B. allgemeine Effizienzerwägungen547, aber auch der für die Union fundamentale Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens548. Darüber hinaus wird aus der Unionstreue die Pflicht abgeleitet, sich nicht über die Eröffnungsentscheidung eines anderen Staates hinwegzusetzen.549 Außerdem kann eine ausländische, zweitgerichtliche Prüfung zu großer Rechtsunsicherheit führen. Es wird konstatiert, dass solch heftige Friktionen drohen, dass selbst die durch die Entscheidung benachteiligten Gläubiger aufgrund der weniger beschneidenden Wirkung der lex fori concursus ihre Interessen ohne eine Überprüfung besser gewahrt sehen.550 Das Anzweifeln der internationalen Zuständigkeit erschüttert die Integration und das System der EuInsVO.551 b) Zweitgerichtliche Überprüfung der internationalen Zuständigkeit
Nach anderer Ansicht552 ist eine zweitgerichtliche Überprüfung der internationalen Zuständigkeit im Rahmen der Anerkennung und eine etwaig daraus resultierende Versagung der Anerkennung möglich. Eröffnet infolge der versagten Anerkennung der Zweitstaat auch ein Hauptinsolvenzverfahren, sollen die restlichen Mitgliedstaaten nur die Verfahrenseröffnung im Zweitstaat anerkennen, sofern der COMI dort faktisch liegt.553 Die nur vom Erststaat wirksam angenommene Verfahrenseröffnung sei territorial begrenzt und gelte mangels Anerkennung nur in diesem Erststaat.554 Sie entspreche daher in ihren Wirkungen einem Sekundärinsolvenzverfahren, in dem der Verwalter keine im Ausland wirksamen Handlungen vornehmen könne.555
547 Berends, NILR 2006, 331, 352; Keggenhoff, Internationale Zuständigkeit bei grenz überschreitenden Insolvenzverfahren, S. 73. 548 Siehe auch Bachner, ECFR 2006, 310, 317; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 ff. 549 Carstens, Die internationale Zuständigkeit im europäischen Insolvenzrecht, S. 92. 550 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901: „Damit erweist man den Gläubigern regelmäßig den schlechtesten Dienst.“; Freitag/Leible, RIW 2006, 641, 645. 551 Smid, DZWiR 2005, 61, 65. 552 OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 08. 2013 – I-22 U 37/13, 22 U 37/13 = ZVI 2014, 425 ff.; AG Düsseldorf, Beschl. v. 06. 06. 2003 – 502 IN 126/03 = ZIP 2003, 1363; Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 166 – 178 m. w. N. Ackmann/Wenner, IPRax 1990, 209, 213 Fn. 61 wollen im Einzelfall bei Rechtsmissbrauch die Anerkennung der Restschuldbefreiung versagen. 553 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 178. 554 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 178. 555 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 178.
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Folgte man dieser Ansicht, so könnte sich die Überprüfung der erstgerichtlichen Entscheidung durchaus als weiterer Weg im Kampf gegen Zuständigkeitserschleichungen erweisen. aa) Wortlautargument: Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO
Ausgangspunkt dieser Ansicht ist der offene Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO,556 welcher mit den Worten „ein nach Artikel 3 zuständiges Gericht“ eher das objektiv zuständige Gericht nahelegt, weswegen die internationale Anerkennungszuständigkeit zu prüfen sei.557 Das seine Zuständigkeit subjektiv fehlerhaft annehmende Gericht greife in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Staates ein.558 bb) Systematisches Argument: Brüssel Ia-VO
Außerdem spreche ein Vergleich mit der Brüssel Ia-VO für dieses Auslegungsergebnis:559 In Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist eine international ausschließliche Zuständigkeit statuiert,560 ähnlich den ausschließlichen Zuständigkeiten in Art. 24 Brüssel Ia-VO; insofern könne eine Parallele zwischen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO und Art. 45 Abs. 1 Brüssel Ia-VO gezogen werden, der eine gerichtliche Nachprüfung der ausschließlichen Zuständigkeiten vorsieht.561 cc) Folgeprobleme und mangelnder Normbezug der Gegenmeinung
Darüber hinaus ergäben sich aus einer so weitreichenden Anerkennung wegen der dann hohen Zahl eingelegter Rechtsmittel seitens der Auslandsgläubiger und der Eröffnung vieler Partikularinsolvenzverfahren erhebliche Folgeprobleme.562 556 OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 08. 2013 – I-22 U 37/13, 22 U 37/13 = ZVI 2014, 425 ff.; Jacoby, GPR 2007, 200, 203. Auch auf den offenen Wortlaut hinweisend Goslar, NZI 2012, 912, 914. 557 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 170. Eine missverständliche Formulierung annehmend OLG Wien, Beschl. v. 09. 11. 2004 – 28 R 225/04w = NZI 2005, 56, 58; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 319. 558 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 170. 559 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351 v. 20. 12. 2012, S. 1 ff. 560 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 9. 561 Insofern legt der Wortlaut des Art. 45 Brüssel Ia-VO eine Versagungspflicht nahe. Zur Versagungspflicht und nicht nur bloßen Versagungsberechtigung Leible, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band I, Art. 45 Rn. 77 m. w. N. 562 Erwägungsgründe 40 und 41 EuInsVO sagen ausdrücklich, dass ein Sekundärinsolvenzverfahren je nach Fall die effiziente Verwaltung der Insolvenzmasse fördern oder
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Überdies biete das Prioritätsprinzip große Anreize zum Insolvenztourismus.563 Es drohe ein „Wettlauf um die Zuständigkeit der Gerichte“564. Demgegenüber führte die Nachprüfung zu einem effektiven Kontrollmechanismus und biete hinreichende Anreize, um den COMI nicht vorschnell anzunehmen.565 Insolvenztourismus und Insolvenz-Imperialismus müsse wirksam begegnet werden.566 Gegen erstgenannte Auffassung werden beachtliche Gründe ins Feld geführt. Es fehle ihr u. a. an jedwedem Normbezug, da das Prioritätsprinzip nirgendwo in der EuInsVO normiert sei.567 Zudem sei Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F. kein Ersatz für eine normative Festschreibung des Prioritätsprinzips und besage nicht ausdrücklich, dass eine Nachprüfung der Anerkennungszuständigkeit ausgeschlossen sei.568 c) Stellungnahme: Positive Kompetenzkonflikte
Die Frage nach der zweitgerichtlichen Überprüfbarkeit der ausschließlichen Zuständigkeit im Rahmen der Anerkennung nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO ergibt sich nur durch Auslegung der relevanten Vorschriften. Jedweder Auslegung Basis und Ursprung muss der Wortlaut der diskutierten Norm sein.569 Diesem kann im vorliegenden Fall kein allzu großes Gewicht beigemesauch behindern kann. Siehe auch Brinkmann, KTS 2014, 381, 388; Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 174 spricht von „Verfahrensdoppelung, Koordinationsnotwendigkeiten, erhöhten Kosten, größerer Korruptionsgefahr durch kollusives Zusammenwirken von Interessierten und Insolvenzrichtern, Verschleppungstaktiken, Firmenbestattungen und Erpressungspotenzial.“; ders., Art. 36 Rn. 1 – 3. 563 Mankowski, EWiR 2003, 1239, 1240. 564 Diese Entwicklung abwartend Lautenbach, NZI 2003, 383, 385. 565 Mankowski, EWiR 2003, 1239. 566 Mankowski, EWiR 2003, 1239: „Man muss Insolvenztourismus und Insolvenz-Imperialismus wehren“. 567 Mankowski, EWiR 2003, 767, 768. 568 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 168: „Sie [die Erwägungsgründe – Anm. d. Verf.] helfen bei der Auslegung der konstitutiven Normen, wirken aber nicht selber konstitutiv.“. Dagegen beruft sich das AG Köln; Beschl. v. 23. 01. 2004 – 71 IN 1/04 = NZI 2004, 151, 152 gerade auf Erwägungsgrund 22 a. F. 569 Der mögliche Wortsinn ist zugleich Grenze der Auslegung, so BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 = BVerfGE 71, 108 Rn. 16: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation […].“ und BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89 = BVerfGE 87, 209 Rn. 96: „Unter diesem Aspekt ist für die Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend, der die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation darstellt.“; vgl. auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 9 II.
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sen werden, lassen sich doch durchaus beide Ansichten durch ihn legitimieren. Mit „zuständig“ kann das nur subjektiv oder das tatsächlich objektiv zuständige Gericht gemeint sein, sodass beide Auffassungen sich im vom Wortlaut der Norm vorgegebenen Rahmen bewegen. Zu konzedieren ist allerdings, dass der übliche Wortsinn eher zu einem objektiven Verständnis des zuständigen Gerichts tendiert. Dieser Indikation aufgrund des Wortlautes ist jedoch wegen der nur schwach ausgeprägten Tendenz geringe Beachtung zu schenken.570 Vielmehr sind andere gewichtigere Kriterien und Argumente zu Rate zu ziehen. aa) Übertragbarkeit der Wertungen der Brüssel Ia-VO
Die Existenz der aufgezeigten Parallelen zur Brüssel Ia-VO muss zugestanden werden. Gleichwohl spricht vieles gegen eine Übertragung der dort bestehenden Regelungsgedanken im Rahmen der Auslegung der EuInsVO. (1) Überprüfung ausschließlicher Zuständigkeiten in der Brüssel Ia-VO
Im Grundsatz soll eine Überprüfung der positiven Zuständigkeitsentscheidung des Ursprungsgerichts nach Art. 45 Abs. 3 Brüssel Ia-VO gerade nicht stattfinden.571 Insofern verbietet das der Brüssel Ia-VO zu Grunde liegende und in Erwägungsgrund 26 angesprochene Prinzip des gegenseitigen Vertrauens eine Nachprüfung und gebietet eine Behandlung, „als sei sie [die gerichtliche Entscheidung – Anm. d. Verf.] im ersuchten Mitgliedstaat ergangen.“572.573 Je570 Selbst Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 169 gesteht die Schwäche des Wortlautarguments: „Allerdings sei zugestanden, dass dieses grammatische Argument kein zu großes Gewicht hat.“. 571 In der Vereinbarung eines einheitlichen Zuständigkeitssystems gem. den Artt. 4 ff. Brüssel Ia-VO eine „wesentliche Neuerung und ein[en] Fortschritt des europäischen Zivilprozessrechts gegenüber der üblichen Regelung in Anerkennungs- und Vollstreckungsverträgen“ erblickend Gottwald, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, Art. 45 Rn. 56. 572 Erwägungsgrund 26 Brüssel Ia-VO, der in Gänze lautet: „Das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege innerhalb der Union rechtfertigt den Grundsatz, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Außerdem rechtfertigt die angestrebte Reduzierung des Zeit- und Kostenaufwands bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten die Abschaffung der Vollstreckbarerklärung, die der Vollstreckung im ersuchten Mitgliedstaat bisher vorausgehen musste. Eine von den Gerichten eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung sollte daher so behandelt werden, als sei sie im ersuchten Mitgliedstaat ergangen.“. 573 Vgl. Leible, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band I, Art. 45 Rn. 72: „Hat sich das Erstgericht für international zuständig erklärt, ist das Zweitgericht hieran gebunden.“.
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doch kann jeder Berechtigte574 einen Antrag auf Versagung der Anerkennung stellen, in dessen Rahmen speziell die ausschließliche Zuständigkeit des Art. 24 Brüssel Ia-VO gem. Art. 45 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 lit. e ii) Brüssel Ia-VO durch das mit dem Antrag befasste Gericht nachgeprüft wird. Aus diesem pauschalen Hinweis auf eine Parallele zwischen der Brüssel IaVO und der EuInsVO ergibt sich aber noch keine zwingende Schlussfolgerung hinsichtlich der Zulässigkeit einer ausländischen zweitgerichtlichen Überprüfung nach der EuInsVO. Immerhin wurde die gerichtliche Nachprüfung durch ein zweites Gericht, im Gegensatz zur Brüssel Ia-VO, gerade nicht in der EuInsVO normiert. Zwar ist eine unionsautonome und -konvergente Auslegung der Sekundärrechtsakte sinnvoll und gewünscht, die Nichtregelung deutet aber eher auf die Unzulässigkeit einer solchen Nachprüfung hin.575 (2) Bindung an die tatsächlichen Feststellungen
Ferner darf gerade die Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des Ursprungsgerichts nach Art. 45 Abs. 2 Brüssel Ia-VO nicht übersehen werden. Diese zielt auf die Verhinderung von Verschleppungsversuchen, die durch das Vorbringen neuer Tatsachen unternommen werden könnten.576 Zöge man o. g. Parallele und erhielte infolgedessen diese Bindung auch in der EuInsVO aufrecht, wäre die Eignung zur Verhinderung von Zuständigkeitserschleichungen erheblich reduziert, da das Gericht nur noch die rechtlichen Feststellungen überprüfen dürfte.577 Ausgehend von einer feststehenden Tatsachenlage würde der COMI wohl aber in den seltensten Fällen aufgrund einer rein rechtlichen Nachprüfung an anderer als erstgerichtlich entschiedener Stelle verortet. Die Effektivität der Nachprüfung und ihre Existenzberechtigung – jedenfalls in dieser Ausgestaltung – wären von vornherein in Frage gestellt. Indes erfährt die 574 Es findet sich keine Definition des „Berechtigten“ in der Brüssel Ia-VO. Ausgehend von Erwägungsgrund 29 Brüssel Ia-VO sind jedenfalls Schuldner erfasst. Auch jeder Dritte, gegen den die Entscheidung geltend gemacht werden kann, soll nach Gottwald, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 2 berechtigt sein. 575 Anders die Argumentation bei Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 166, der darauf abstellt, dass eine Regelung, derzufolge eine Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts grundsätzlich ausgeschlossen ist (wie Art. 45 Abs. 3 Brüssel Ia-VO), gerade in der EuInsVO fehlt. Dass aber die ausschließliche Zuständigkeit eben doch gem. der Brüssel Ia-VO nachgeprüft werden kann, wird hier nicht erwähnt. Insofern ist die bemühte Argumentation in Rn. 166 hinsichtlich der Ziehung einer Parallele in Rn. 170 inkonsistent. 576 Jenard-Bericht, ABl. C 59 v. 05. 03. 1979, S. 1 ff. 577 Zur Überprüfung nur der rechtlichen Schlussfolgerungen BGH, Beschl. v. 02. 05. 1979 – VIII ZB 1/79 = NJW 1980, 1223.
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zweitgerichtliche Kontrolle der internationalen Zuständigkeiten auch hier einige Kritik. Diese reicht von der restriktiven Auslegung des Ausnahmekatalogs in Art. 45 Abs. 1 lit. e bis zu Vorschlägen zur Streichung de lege ferenda.578 bb) Intention des EU-Gesetzgebers
Unbestreitbar steht das Argument fehlenden Normbezugs im Raum. Schließlich ist das Prioritätsprinzip tatsächlich nirgends in den Artikeln der EuInsVO explizit geregelt. Wie der EU-Gesetzgeber die EuInsVO verstanden wissen will, ergibt sich dem zum Trotze deutlich aus dem Virgós/Schmit-Bericht und aus Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F. Angesichts der dort klar geäußerten Auffassungen muss die Maßgeblichkeit erstgerichtlicher Entscheidung der EuInsVO implizit zu Grunde gelegt werden. Mit der Neufassung der EuInsVO aus Gründen der Klarheit579 ist indes keine Änderung der legislatorischen Intention erkennbar. In diesem Zusammenhang ist Erwägungsgrund 65 EuInsVO zu lesen, welchem, weil er gerade den angesprochenen Fall betrifft, als Leitlinie der Auslegung besondere Beachtung zuteilwird. In der entscheidenden Passage ist dieser fast wortgleich mit Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F.580 Er ist nicht nur als bloße Empfehlung zu verstehen.581 cc) Insolvenztourismus, Insolvenzimperialismus
Dass das Prioritätsprinzip zum Insolvenztourismus animiert, kann nicht bestritten werden. Wie oben erläutert,582 handelt es sich dabei aber um einen Reflex der unionsrechtlichen Freiheiten, der nicht per se verdammungswürdig ist. Offenbart sich das Forum Shopping als einseitig benachteiligendes Verhalten, muss dem in der Tat entgegengesteuert werden, jedoch sollte eine zweitgerichtliche Überprüfung erst dann als Ultima-Ratio-Strategie erwogen werden, wenn der Insolvenztourismus zu unerträglichen und nicht anderweitig lösbaren Situ578 Zur restriktiven Auslegung: EuGH, Rs. C-420/07, Meletis Apostolides/David und Linda Orams, ECLI:EU:C:2009:271, Rn. 55. Zur Streichung de lege ferenda Oberhammer, in: Stein/Jonas, ZPO, Band 10, Art. 35 EuGVVO a. F. Rn. 4 ff. 579 Erwägungsgrund 1 EuInsVO. 580 Erwägungsgrund 66: „Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts sollte in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; diese Mitgliedstaaten sollten die Entscheidung dieses Gerichts keiner Überprüfung unterziehen dürfen.“. Erwägungsgrund 22 EuInsVO a. F.: „Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts sollte in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; diese sollten die Entscheidung dieses Gerichts keiner Überprüfung unterziehen dürfen.“. 581 Siehe Herchen, ZIP 2005, 1401, 1403, der darauf abstellt, dass das Wort „sollte“ zu zwingenden Regelungen im eigentlichen Verordnungstext geführt hat. 582 Siehe § 3. A. I.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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ationen führt. Und selbst dann hätte dies nur in den gesetzlichen Grenzen des Art. 33 EuInsVO zu geschehen. Der Vorwurf des Insolvenzimperialismus ist polemisch. Es geht gerade nicht um die Oktroyierung nationalstaatlicher Insolvenzrechtsvorstellungen und eine Einebnung materiellrechtlicher Standards.583 Bis zu einem gewissen Grad wird es naturgemäß zu einer Konvergenz des materiellen Rechts kommen, was aber weniger allein auf den Restschuldbefreiungstourismus als auf die unionalen Freiheiten an sich und das hohe Integrationsniveau der EU zurückzuführen ist. Widerspräche diese Angleichung fundamentalen Prinzipien eines Mitgliedstaates, bliebe es ihm noch in engen Ausnahmefällen unbenommen, sich auf den Ordre public zu berufen. Zugegebenermaßen ist dies ein recht schmaler und nicht oft erfolgversprechender Grat. Doch tritt hierbei die grundsätzliche, basale Frage jedweder supranationaler (und internationaler) Zusammenarbeit besonders ins Licht, nämlich der Zwiespalt zwischen einer tatsächlichen und vertieften Integration und der Beibehaltung und Durchsetzung rechtlicher und rechtspolitischer nationalstaatlicher Eigenheiten. dd) Rechtsmittel und Partikularinsolvenz
Die sich aus der Einlegung von Rechtsmitteln und der Durchführung einer erhöhten Anzahl von Partikularinsolvenzverfahren ergebenden, etwaig negativen Konsequenzen müssen indes in Kauf genommen werden.584 Dem Gesetzgeber waren die Konsequenzen wohl bewusst;585 dennoch hat er die Möglichkeit eines Sekundärinsolvenzverfahrens als anerkanntes Institut in der EuInsVO geschaffen. Die Existenz des Verfahrens beweist mitunter den nachvollziehbaren Unwillen der Mitgliedstaaten, sich der extraterritorialen Erstreckung eines ausländischen Rechtsregimes gänzlich legislatorisch zu beugen. Um die sich aus diesem Souveränitätsstreben resultierenden, nationalstaatlich begründeten Friktionen zumindest partiell abzumildern, wurden verschiedenen Regelungen,
583 Erwägungsgrund 22 EuInsVO: „Diese Verordnung erkennt die Tatsache an, dass aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung für die Union nicht realisierbar ist.“. 584 Selbst Mankowski, der die Bindung an die erstgerichtliche Entscheidung negiert, weist auf massive Zielkonflikte zwischen kollidierenden Verfahren bei Einräumung einer Überprüfungsoption hin; Mankowski, EWiR 2003, 1239, 1241; Mankowski, EWiR 2003, 767, 768. Ähnlich heißt es in Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 175: „Zugestanden sei allerdings, dass dann Verfahrenskollisionen drohen könnten, weil zwei Hauptinsolvenzen eröffnet werden, wenn das später angerufene Gericht das COMI bei sich und nicht im Staat des zuerst eröffnenden Gerichts sieht.“. 585 Dazu Erwägungsgründe 40, 41 EuInsVO.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
wie bspw. Artt. 36, 38, 39 EuInsVO,586 geschaffen.587 Außerdem bietet auch Art. 33 EuInsVO in seltenen Fällen eine Option, um nachteiligen Konsequenzen entgegenzusteuern. Dem Argument etwaiger Folgeprobleme sollte aufgrund des sehenden und tolerierenden Auges des Gesetzgebers somit kein zu hohes Gewicht beigemessen werden,588 zumal die Sekundärinsolvenzverfahren ihrer rechtlichen Konzeption nach zumeist geeignet sind, missbräuchlichem Forum Shopping bestimmter Schuldnerkreise wirksam Hindernisse zu bereiten.589 Die Vorteile dieses Verfahrens überwiegen seine Nachteile. ee) Anerkennung der Hauptinsolvenz am Ort des „wahren“ COMI
Zu kurz gedacht scheint die Aussage, die übrigen Mitgliedstaaten sollen diejenige Hauptinsolvenz anerkennen, die im wahren Staat des COMI eröffnet wird.590 Es stellt sich die Frage, wie diese Staaten Kenntnis vom „wahren“ COMI erlangen können und wer dies dann verbindlich für sie feststellt. Haben bereits zwei mitgliedstaatliche Gerichte ihre ausschließliche Eröffnungszuständigkeit nach eingehender rechtlicher Würdigung bejaht, ggf. unter Bindung des Zweitgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts, wird es auch für die anderen Mitgliedstaaten nicht einfach, den Staat zu ermitteln, in dem der COMI objektiv liegt. In irgendeiner Weise müsste demnach eine Prüfung der tatsächlichen Verortung des COMI durch die übrigen Mitgliedstaaten erfolgen, welche schlechtestenfalls in einer unterschiedlichen Beurteilung gipfeln könnte. d) Fazit: Positive Kompetenzkonflikte
Erklärtes Ziel der EuInsVO ist neben der Verhinderung von Forum Shopping die Verbesserung von Effizienz und Wirksamkeit von Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitender Wirkung.591 Ausschlaggebend ist der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten, der ein unumstößliches Fundament bildet und nur in unbedingt notwendigen Ausnahmefällen durchbrochen werden darf.592 Es gilt das Vertrauen in die unionale Rechtsprechung und die 586
Zur Zusicherung auch Erwägungsgrund 42 EuInsVO. Vgl. Erwägungsgründe 41, 42, 45 EuInsVO. 588 Zumal ein Sekundärinsolvenzverfahren auch der Gesamtabwicklung förderlich sein kann; zur Hilfsfunktion des Sekundärverfahrens Beck, NZI 2006, 609, 610; ausführlich Fehrenbach, Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren, S. 301 ff. m. w. N. 589 Siehe § 3. B. 4. b) dd). 590 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 178. 591 Erwägungsgründe 5 und 8 EuInsVO. 592 Erwägungsgrund 65 EuInsVO. Zum gegenseitigen Vertrauen im Zusammenhang mit der Brüssel Ia-VO vgl. Erwägungsgrund 26 Brüssel Ia-VO. Ausnahmen ergeben sich z. B. aufgrund des ordre public und der Sekundär- und Partikularinsolvenzverfahren. 587
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Gesetzgebung sowie die generelle Annahme der Ordnungsmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist.593 Letzten Endes kann die Frage nach der Auflösung positiver Kompetenzkonflikte wegen des offenen Wortlauts fernab rechtsgenetischer, -historischer und -systematischer Argumente auf eine Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen einer ausländischen, zweitgerichtlichen Überprüfung reduziert werden.594 Bei der Abwägung ist die größtmögliche Verwirklichung des Verordnungsziels als Auslegungsmaxime von besonderer Signifikanz. Es geht schlussendlich um die teleologische Schwerpunktlegung. Die erhebliche Rechtsunsicherheit und die Schädigung des Integrationsprozesses fallen sehr ins Gewicht. Darüber hinaus gebietet die zügige Durchführung des Verfahrens die Konzentration auf ein Hauptinsolvenzverfahren, welches auf einer verlässlichen Eröffnungsentscheidung fußt.595 Angesichts dieser Aspekte sowie unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung, der gerade im Insolvenzverfahren unter keinen Umständen vernachlässigt werden darf, fällt die Abwägung zu Gunsten erstgenannter Ansicht aus. Jeglicher Effizienzgedanke würde ad absurdum geführt, etablierte man eine Nachprüfung, zumal es gerade Anspruch der Verordnung ist, durch die Statuierung gemeinsamer Rechtsregeln auf der Basis gegenseitigen Vertrauens rasche, transparente und mit Rechtssicherheit verbundene wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren zu ermöglichen. Natürlich müssen betrügerisches und missbräuchliches Forum Shopping bekämpft werden. Hierfür bieten sich aber andere, durchaus potentere und weniger nachtei593 Siehe bereits Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1 Rn. 202: „Dem Übereinkommen liegt der Grundsatz des Vertrauens in die gemeinschaftliche Rechtsprechung und die generelle Annahme der Ordnungsmäßigkeit der in einem anderen Vertragsstaat ergangenen Entscheidung zugrunde. Deswegen ist eine Verweigerung der Anerkennung einer in einem anderen Vertragsstaat ergangenen Entscheidung nur zulässig, wenn sie mit der öffentlichen Ordnung des ersuchten Staates unvereinbar ist.“. 594 Vgl. Mankowski, EWiR 2003, 1239, 1241; Mankowski, EWiR 2003, 767, 768 mit dem Hinweis auf massive Zielkonflikte zwischen kollidierenden Verfahren bei Einräumung einer Überprüfungsoption und einer aggressiv-eigennützigen Auslegung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO bei der Maßgeblichkeit der erstgerichtlichen Entscheidung. 595 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1 Rn. 291 Nr. 3: „Bei Insolvenzverfahren ist der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung. Auslöser eines solchen Verfahrens ist eine kritische Finanzlage. Schnelles Handeln ist in einem solchen Fall von vorrangiger Bedeutung, um einer Wertminderung der vorhandenen Vermögenswerte zuvorzukommen. Eine Aussetzung des Insolvenzverfahrens kann möglicherweise sogar etwaige Sanierungsaussichten zunichte machen. Aus diesem Grunde schließen zahlreiche nationale Rechtsordnungen im Falle von Insolvenzverfahren eine aufschiebende Wirkung der Einschaltung einer höheren Instanz aus. Darüber hinaus gebietet auch der Kollektivcharakter des Insolvenzverfahrens, daß ein Einzelproblem nicht notwendigerweise den Gesamtverlauf des Verfahrens beeinflussen darf.“.
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lige Möglichkeiten, angefangen von der Zusammenarbeit des Art. 42 EuInsVO bis hin zu anderen Maßnahmen wie der Kompromiss des Art. 5 EuInsVO, also eine Zweitprüfung im Ursprungsstaat, oder die Zulässigkeit von Sekundärinsolvenzverfahren wie auch die Einführung einer Période suspecte, an. 3. Zweistufiges gerichtliches Kontrollsystem, Artt. 4, 5 EuInsVO
Im Zusammenspiel mit Art. 4 EuInsVO etabliert Art. 5 EuInsVO ein aufeinander aufbauendes, zweistufiges gerichtliches Kontrollsystem a) Prüfung der Zuständigkeit, Art. 4 EuInsVO
Als Reaktion auf die mangelnde Sorgfalt bei der Prüfung der internationalen Zuständigkeit – sei es, weil tatsächlich oftmals unsorgfältig gearbeitet wurde oder v. a. weil mitgliedstaatliches Recht konzeptionell eine solche Prüfung nicht kannte – wurde Art. 4 EuInsVO geschaffen.596 Er ist Teil der legislativen Strategie gegen die missbräuchliche, künstliche Verlegung des COMI.597 Verpflichtend ist eine gerichtliche598 Prüfung von Amts wegen und die Angabe der Gründe, auf denen die Zuständigkeit beruht (Art. 4 Abs. 1 EuInsVO).599 Unrichtigen Eröffnungsentscheidungen soll so früh wie möglich vorgebeugt werden.600 Dadurch wird die funktionale Äquivalenz der mitgliedstaatlichen Insolvenzverfahren erhöht und das gegenseitige Vertrauen gestärkt. Die Eröffnungsentscheidung soll an Legitimität gewinnen. Der Anspruch der Universalität und Ausschließlichkeit des Hauptverfahrens wird durch Art. 4 EuInsVO indirekt bekräftigt. aa) Tatsachenermittlung und Begründung
Die amtswegige Ermittlung der für die Zuständigkeitsbegründung relevanten Tatsachen richtet sich nach dem Recht des Forumstaates.601 Jedenfalls unions596
Für diesen Reformvorschlag bereits Laukemann, IPRax 2014, 258, 263. Siehe auch Vallender, ZIP 2015, 1513, 1516. 597 COM(2012) 744 final: „Die Fälle von Forum Shopping durch die missbräuchliche, künstliche Verlegung des Interessensmittelpunkts dürften dadurch seltener werden.“. 598 Zu dem Begriff „Gericht“ siehe Art. 2 Nr. 6 EuInsVO. 599 Siehe auch Erwägungsgrund 27 EuInsVO. 600 COM(2012) 744 final: „Mit diesen Änderungen soll gewährleistet werden, dass ein Insolvenzverfahren nur in dem Mitgliedstaat eröffnet wird, der tatsächlich für den Fall zuständig ist.“. 601 Thole, ZEuP 2014, 39, 57; Garcimartín, ZEuP 2015, 694, 709. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus BGH, Beschl. v. 01. 12. 2011 – IX ZB 232 /10, Rn. 10 – 12 = NJW 2012, 936 ff.; ebenso wenig nach Fehrenbach, GPR 2016, 282, 291; Vallender, in: Exner/Paulus
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rechtlich ist die Tatsachenermittlung von Amts wegen nicht vorgeschrieben.602 Amtsprüfung und Amtsermittlung sind auseinanderzuhalten. Auch Erwägungsgrund 32 spricht nicht per se für eine Amtsermittlungspflicht.603 Insbesondere widerspricht der Annahme der Amtsermittlung in systematischer Hinsicht die Existenz der Période suspecte in Art. 3 Abs. 1 EuInsVO. Diese würde obsolet, postulierte man eine strenge unionale Amtsermittlungspflicht.604 Es ist davon auszugehen, dass dem Verordnungsgeber dieser Umstand bekannt war und er sich bewusst, auch aus Respekt vor den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen und vor dem Hintergrund geringstmöglicher Eingriffe in das nationale materielle Insolvenzrecht, für die Période suspecte und keine unionale Amtsermittlungspflicht entschieden hat.605 Die Begründungspflicht dient u. a. dem Rechtsschutz Betroffener, die so die Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage nach Art. 5 Abs. 1 EuInsVO besser abschätzen können. Gleichzeitig ergibt sich daraus, ob ein Haupt- oder Partikularinsolvenzverfahren eröffnet wird.606 bb) Prüfung durch den Insolvenzverwalter
Um eine möglichst ausnahmslose Prüfung sicherzustellen, werden in Art. 4 Abs. 2 EuInsVO diejenigen Insolvenzsysteme adressiert, die keine Eröffnungsentscheidung kennen. Den Mitgliedstaaten wird angeraten, dem im Verfahren bestellten Verwalter aufzugeben, die mitgliedstaatliche internationale Zuständigkeit unter Angabe der jeweiligen Gründe zu prüfen. cc) Stellungnahme: Prüfung der Zuständigkeit, Art. 4 EuInsVO
Kritik provoziert die Tatsache, dass eine amtswegige Tatsachenermittlung unionsrechtlich nicht vorgeschrieben ist. Auch die fehlende Sanktionsanord-
(Hrsg.), FS Beck, S. 537, 538 f. A. A. aber Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 4 Rn. 2. 602 So wohl Mock, GPR 2013, 156, 158); offenlassend Thole, in: Kirchhof/Eidenmüller/ Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, Art. 4 EuInsVO 2015 Rn. 3; Thole/Swierczok, ZIP 2013, 550, 552; vgl. insbesondere Vallender, ZInsO 2017, 2464, 2465; Vallender, ZIP 2015, 1513, 1516; a. A. Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 258, 486 f. 603 Vgl. Thole, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, Art. 4 EuInsVO 2015 Rn. 3. 604 Ähnlich Fehrenbach, GPR 2016, 282, 292; anders aber noch Fehrenbach, Hauptund Sekundärinsolvenzverfahren, S. 87. 605 Ähnlich Vallender/Zipperer, in: Vallender (Hrsg.), EuInsVO, Art. 4 Rn. 5. 606 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 5 Rn. 13 f.
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nung bei Verletzung der Begründungspflicht gibt Anlass zu Bedenken.607 In Mitgliedstaaten, in denen bspw. der Beibringungsgrundsatz gilt, besteht eine große Gefahr der Zuständigkeitserschleichung durch das Verschweigen oder Vorspiegeln zuständigkeitsbegründender Tatsachen. Hat das Gericht Zweifel an seiner Zuständigkeit, so soll es nach Erwägungsgrund 32 EuInsVO zusätzliche Nachweise vom Schuldner fordern und je nach anwendbarem Recht den Gläubigern Gelegenheit geben, sich zur Zuständigkeitsfrage zu äußern.608 Indes handelt es sich dabei nicht um bindendes Recht, sondern nur um einen Erwägungsgrund, der lediglich einen Appell an die mitgliedstaatlichen Gerichte sendet („sollte“). Außerdem gilt dies ausdrücklich nur für den speziellen Fall, in dem es Anlass zu Zweifeln gibt. Wann dies der Fall ist, unterliegt der Einschätzung des Gerichts. Eine Sanktionsmöglichkeit für Gerichte, die dieser Aufforderung nicht nachkommen, ist eventualiter mitgliedstaatlich, aber jedenfalls nicht unionsrechtlich eröffnet. Indes ist diese Situation gerade die Domäne der neu eingeführten Période suspecte, die insofern einen Beitrag zur Verhinderung des missbräuchlichen Forum Shopping leisten kann.609 Die Zuständigkeitsprüfung des Art. 4 EuInsVO und die Période suspecte ergänzen einander und sind im Zusammenhang zu lesen. Hierdurch wird ein höheres Schutzniveau vermittelt. Des Weiteren erlegt Art. 4 Abs. 2 den Mitgliedstaaten gerade keine Pflicht auf, sondern stellt es ihrem Belieben anheim, einen Verwalter mit der Prüfung der internationalen Zuständigkeit zu betrauen. Insofern täte die Normierung einer entsprechenden Prüfpflicht not. b) Gerichtliche Nachprüfung, Art. 5 EuInsVO
Die positive610 Eröffnungsentscheidung des Hauptinsolvenzverfahrens611 kann unter dem Blickwinkel der internationalen Zuständigkeit nach Art. 5 Abs. 1 EuInsVO von Schuldner oder Gläubiger angefochten und so einer gerichtlichen612 Überprüfung unterworfen werden. Dieses Rechtsmittel entspringt 607 Zu den Folgen einer fehlenden Begründung Mankowski, in: Mankowski/Müller/ Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 5 Rn. 18 f.; a. A. Thole, ZEuP 2014, 39, 57. 608 Für den Fall eines Fremdantrags spiegelbildlich Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 5 Rn. 10. 609 Vgl. § 3. B. III. 5. 610 Anfechtungsobjekt ist die positive, nicht die negative Eröffnungsentscheidung. Insofern bringt die englische Fassung des Art. 5 Abs. 1 EuInsVO mehr Klarheit: „the deci sion opening main insolvency proceedings“. 611 Ausgehend vom klaren Wortlaut von Text und Überschrift sind keine Sekundäroder Partikularinsolvenzverfahren von Art. 5 EuInsVO erfasst, vgl. auch Garcimartín, ZEuP 2015, 694, 709. 612 Nach dem insoweit klaren Wortlaut ist Überprüfungsinstanz, auch in den Fällen des Art. 4 Abs. 2 EuInsVO, ein Gericht im Sinne von Art. 2 Nr. 6 EuInsVO.
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originär dem Unionsrecht und vereitelt kraft des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs jedwedes Überprüfungshemmnis nach der lex fori concursus.613 Die gerichtliche Nachprüfung ist dabei nicht im Anerkennungsstaat zu begehren; es ist nach Rechtsschutz im verfahrenseröffnenden Staat zu suchen.614 Dies bewirkt eine Konzentration des Verfahrens im Eröffnungsstaat und dient damit einer einheitlichen Verfahrensabwicklung, Kostenzreduzierung und Effizienzsteigerung.615 aa) Anfechtung nach Abs. 1
Mit Art. 5 EuInsVO ist eine Überprüfung der positiven Eröffnungsentscheidung verbrieft, die als weiterer Mechanismus gegen eine Zuständigkeitserschleichung zu verstehen ist.616 Im Schrifttum erfährt die positiv aufgenommene Vorschrift Kritik, weil es an einer ausdrücklichen Regelung eines Suspensiveffekts fehlt.617 Ferner ist es möglich, da nur generell die Anfechtbarkeitsoption eingeräumt wird, dass die lex fori concursus das eröffnende Gericht gleichzeitig als Überprüfungsinstanz vorsieht.618 Damit wäre die Effektivität der Regelungen infrage gestellt. Natürlich wäre dies kein Grund, direkt die Seriösität und Unabhängigkeit des Entscheidungsverfahrens in Frage zu stellen. Nichtsdestoweniger: Dass hier gewisse Friktionen nahe lägen, müsste sich auch dem unbefangenen Dritten aufdrängen. Jedenfalls hätte die Normierung eines Devolutiv effektes der Vorschrift die rechtspolitischen Bedenken nehmen können. Indes bleibt selbst bei Normierung eines Devolutiveffektes die Interessenlage gleich. Natürlich soll keinem Gericht eine Entscheidung fernab der Kriterien des Rechts unterstellt werden. Jedoch soll nur angemerkt sein, dass der abstrakten Gefahr einer tendenziösen Entscheidung unter dem Gesichtspunkt 613 Die Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens ist im Normtext nicht beschrieben (dazu Prager/Keller, NZI 2013, 57, 59: riesige Regelungslücke). Vielmehr kann mangels spezieller Vorschrift auf Art. 7 Abs. 1 rekurriert werden (kritisch dazu Mock, GPR 2013, 156, 158). Ferner sollen nach Erwägungsgrund 34 EuInsVO die „Folgen einer Anfechtung der Entscheidung, ein Insolvenzverfahren zu eröffnen, […] dem nationalen Recht unterliegen.“. Es ist also auf die lex fori concursus abzustellen. Vgl hierzu auch Fritz, DB 2015, 1882, 1885. 614 Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 50; Duursma/Duursma-Kepplinger, DZWiR 2003, 447, 450 f. 615 Vgl. § 3. B. I. 616 BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 95 Rn. 22: „eine von mehreren Schutzvorkehrungen, um betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern“. 617 Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 408. 618 „Modell der Selbstkontrolle“, vgl. Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 5 Rn. 11.
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rechtspolitischer Aspekte nicht durch eine weitere Überprüfung in demselben Staat abgeholfen wird. bb) Anfechtung nach Abs. 2
Nach Abs. 2 kann die lex fori concursus weitere Anfechtungsgründe vorsehen.619 Dies könnte ein weiterer Anknüpfungspunkt sein, betrügerisches Forum Shopping zu Lasten der ausländischen Gläubiger zu verhindern. Jedoch scheint die Annahme, ein Staat handelte freiwillig völlig altruistisch zum Wohle der ausländischen Gläubiger eines anderen Staates, zumal entgegen oben genannter Interessen, unwahrscheinlich. Allein die Existenz der EuInsVO und damit die Notwendigkeit eines supranationalen Rechtsaktes illustrieren das Unvermögen der Mitgliedstaaten, eine adäquate innerstaatliche Rechtslage unter Würdigung der konfligierenden Interessen zu schaffen. Die Hoffnung im Kampf gegen Restschuldbefreiungstourismus liegt nicht auf der nationalen Ebene: unionale supranationale Maßnahmen sind hier gefordert. c) Fazit: Zweistufiges gerichtliches Kontrollsystem
Zusammengefasst ist der Versuch, mit den Artt. 4, 5 EuInsVO ein lückenloses Rechtsschutzsystem für etwaig aufgrund von Zuständigkeitserschleichungen benachteiligte Gläubiger zu schaffen, zwar gut gemeint, die konkrete Umsetzung offenbart aber Unzulänglichkeiten, die ein Hindernis für das Erreichen des intendierten Schutzniveaus sind.620 Überall dort, wo die EuInsVO Lücken lässt, kann das ergänzende Zurückgreifen auf Art. 7 EuInsVO eine Grundlage für national unterschiedliche Verfahrensausgestaltungen bieten, die im ungünstigsten Fall wiederum Anreiz für Forum Shopping sein könnten.621 In Deutschland wurde mit dem Verweis in Art. 102 c § 4 EGInsO auf die §§ 574 ff. ZPO zurückgegriffen, um den unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Art. 4 EuInsVO und Art. 5 Abs. 1 EuInsVO vermögen dem Forum Shopping aber überhaupt nur dann etwas entgegenzusetzen, wenn die internationale Zuständigkeit wegen betrügerischen Forum Shopping zu Unrecht angenommen 619 Dass Abs. 2 wegen Art. 7 Abs. 1 EuInsVO nicht gänzlich redundant ist, ergibt sich aus seiner Freisperrungs- und Blockerfunktion hinsichtlich des Abs. 1, so Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 5 Rn. 15; a. A. bei einer entsprechenden Auslegung von Abs. 1 Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 5 Rn. 13. 620 Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 408 bezeichnen die Eröffnung eines Rechtsmittels als „wirkungsvollste Maßnahme im Rahmen der neuen EuInsVO-Regelungen“. 621 Vgl. Mock, GPR 2013, 156, 158, der auf die unterschiedliche nationale Ausgestaltung bzgl. Frist und Beschwerdebefugnis hinweist. Nach Prager/Keller, NZI 2013, 57, 59 können sich auch allgemein Unterschiede im Verfahren oder im Instanzenzug ergeben.
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wurde. Wann ein mitgliedstaatliches Gericht die Grenze zum missbräuchlichen Forum Shopping als überschritten bzw. gegen seinen Ordre public verstoßend ansieht und durch eine negative Eröffnungsentscheidung sanktioniert, liegt ohne konkretisierendes nationales oder europäisches Recht in seinem Ermessen, weswegen die Schutzwirkung der Artt. 4, 5 EuInsVO diesbzgl. limitiert ist. Jedenfalls im Gros der Fälle kann dem Gesetzgeber zu Gute gehalten werden und ist davon auszugehen, dass die Regelung zumindest Ansporn und Motivation ist, keine Fehler bei der Annahme der eigenen Zuständigkeit zu machen (präventive Wirkung der Normen) 622. Die Gerichte werden diszipliniert, keine fehlerhaften Eröffnungsentscheidungen zu erlassen.623 4. Partikularinsolvenzverfahren
Das Sekundär- bzw. isolierte Partikularinsolvenzverfahren624 ist geeignet, die aus einer (missbräuchlichen) Ausnutzung der Rechtslage resultierenden gläubigernachteiligen Konsequenzen abzumildern (vgl. Art. 3 Abs. 3 – 5 EuInsVO, Art. 19 Abs. 2 EuInsVO) und dem Forum Shopping Hindernisse zu bereiten.625 Es bietet die Möglichkeit eines Interessenausgleichs zwischen regionalen Besonderheiten und dem Bemühen um die Einheitlichkeit transnationaler Insolvenzverfahren.626 Einem nicht intendierten und schädlichen Insolvenzwettbewerb können die Anreize genommen werden.627 Im Vordergrund steht der Schutz der Interessen628 lokaler629 Gläubiger (Art. 2 Nr. 11 EuInsVO) vor den für sie nachteiligen Folgen einer ausländischen Hauptinsolvenz,630 was das Vertrauen 622
Dazu bereits § 2. E. I. Auf der anderen Seite bestand auch vor dieser Regelung die Gefahr für den Schuldner, dass nach nachträglicher Einstellung des Verfahrens zusätzlich die Versagung der Restschuldbefreiung gem. § 290 InsO droht, vgl. Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 321. 624 Partikularinsolvenzverfahren ist im Folgenden der Oberbegriff für Sekundär- und isolierte Partikularinsolvenzverfahren. 625 Brinkmann, KTS 2014, 381, 393 f. 626 Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 314; Ringe, IPRax 2013, 330, 332. 627 Mankowski, NZI 2008, 572, 576. 628 Zum Schutz „der unterschiedlichen Interessen“, der „inländischen Interessen“, bzw. dem „wirksamen Schutz lokaler Interessen“ siehe auch Erwägungsgründe 23 und 40, 46 EuInsVO und Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 32. 629 Zum Begriff der „lokalen Gläubiger“ siehe auch die Erwägungsgründe 37, 42, 43, 45 EuInsVO. Siehe auch Fritz, DB 2015, 1882, 1887; vgl. auch Mankowski, NZI 2015, 961, 963, der darauf hinweist, dass eigentlich „lokale Forderungen“ geschützt werden, nicht „lokale Gläubiger“; Thole, ZEuP 2014, 39, 62. 630 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 32. 623
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des lokalen Rechtsverkehrs stärkt.631 Daneben kann das Sekundärinsolvenzverfahren für eine effiziente Verwaltung632 der Insolvenzmasse und Verwertung633 des Gesamtvermögens förderlich und wegen der u. U. großen Differenzen der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme erforderlich sein.634 Das Hauptinsolvenzverfahren kann so von der Durchführung eines Sekundärinsolvenzverfahrens635 profitieren.636 Es gibt aber keinen Primat des Hauptinsolvenzverfahrens.637 Das Partikularinsolvenzverfahren genießt ein zu hohes Maß an Autonomie, um das Verhältnis zwischen Haupt- und Partikularinsolvenz als subordinativ zu kennzeichnen.638 Isolierte Partikularverfahren639 sind im Gegensatz zu Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 4 EuInsVO nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zu eröffnen und im Allgemeinen auch rechtspolitisch weniger erwünscht.640 a) Wirkung des Partikularinsolvenzverfahrens
Leitgedanke beider Verfahrenstypen ist die partielle insolvenzrechtliche Gleichbehandlung derjenigen ausländischen mit den inländischen Marktteilnehmern, die – solange beide Teilnehmer auf demselben Markt tätig sind – mittels einer Niederlassung als festem Band in den inländischen Markt integriert 631 Schmüser, Das Zusammenspiel zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der EuInsVO, S. 35 f. 632 Im Gegenteil können sie einer effizienten Verwaltung u. U. auch abträglich sein, Erwägungsgrund 41 EuInsVO. 633 Erwägungsgrund 48 EuInsVO. 634 Erwägungsgrund 40 EuInsVO. 635 Bei einem isolierten Partikularverfahren wird kein Hauptverfahren durchgeführt, weswegen ein solches auch nicht von dem isolierten Partikularverfahren profitieren kann. 636 Siehe Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 33; Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 298. 637 Nach Beendigung des Hauptinsolvenzverfahrens kann wohl kein Partikularinsolvenzverfahren mehr eingeleitet werden, vgl. Madaus, GPR 2013, 167, 169 f. 638 Beck, NZI 2006, 609, 610. 639 Es wird kein originär supranationales Recht eingeräumt, die Eröffnung eines isolierten Partikularinsolvenzverfahrens zu beantragen, sofern das nationale Recht kein solches Recht kennt, so Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 190. 640 Vgl. Erwägungsgrund 37 EuInsVO: „Der Grund für diese Beschränkung ist, dass die Fälle, in denen die Eröffnung eines Partikularverfahrens vor dem Hauptinsolvenzverfahren beantragt wird, auf das unumgängliche Maß beschränkt werden sollen.“. Siehe auch Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 84. Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 548.
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sind.641 Grundsätzlich entfaltet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in jedem Mitgliedstaat die Wirkungen, die ihm der Staat der Verfahrenseröffnung angedeihen lässt, es sei denn, in einem Mitgliedstaat wurde ein Verfahren nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO eröffnet (Art. 20 Abs. 1 EuInsVO). Dann unterliegt dieses Verfahren gem. Art. 35 EuInsVO den Regelungen des Staates, in dessen Hoheitsgebiet es durchgeführt wird. Somit bewirkt das Partikularinsolvenzverfahren eine Konzentration der Verfahrenswirkungen auf das im Mitgliedstaat der Sekundär- resp. isolierten Partikularverfahrenseröffnung befindliche Vermögen (Art. 3 Abs. 2 EuInsVO, Art. 34 EuInsVO). Diese Wirkungen dürfen von keinem anderen Mitgliedstaat angezweifelt werden und sind, falls nicht ein Gläubiger seine Zustimmung erteilt,642 nach der legislatorischen Konzeption des Nebenverfahrens naturgemäß auf das Territorium des verfahrensdurchführenden Staates beschränkt (dies gilt insbesondere für eine etwaige Stundung oder Schuldbefreiung643, Art. 20 Abs. 2 EuInsVO).644 Eine in einem ausländischen Hauptinsolvenzverfahren eingetretene Restschuldbefreiung kann nicht den Gläubigern eines vor dem Eintritt der Befreiung eröffneten und noch nicht abgeschlossenen Sekundärinsolvenzverfahrens entgegengehalten werden.645 Umgekehrt gilt hingegen die im Hauptinsolvenzverfahren beantragte und noch vor Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens erteilte Restschuldbefreiung auch gegenüber den Gläubigern des Sekundärinsolvenzverfahrens.646 Aufgrund der Koexistenz des territorial begrenzten Partikularinsolvenzverfahrens werden letztlich die durch Art. 19 EuInsVO beschworene Einheit des Verfahrens und das unionale Ziel effizienter und wirksamer grenzüberschreitender Insolvenzverfahren relativiert. b) Tauglichkeit des Verfahrens zur Missbrauchsbekämpfung
Die Schwäche des Partikularinsolvenzverfahrens liegt in der Anknüpfung an eine Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates (Art. 3 641 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 71. 642 Es ist für die Beschränkung unschädlich, wenn einzelne Gläubiger nicht zustimmen. Sie gilt dann jedenfalls gegenüber den zustimmenden Gläubigern, vgl. Pannen/Riedemann, in: Pannen (Hrsg.), Europäische Insolvenzverordnung, Art. 17 EuInsVO Rn. 18. 643 Mansel, in: Kronke, Herbert/Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 685. 644 Vgl. Lüer, in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender (Hrsg.), Insolvenzordnung, 14. Auflage, München 2015, Art. 17 EuInsVO 2000 Rn. 8; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 156 f. 645 BGH, Urt. v. 18. 09. 2014 – VII ZR 58/13 = NZI 2014, 969, 972 Rn. 31 f. 646 Mankowski, EWiR 2014, 751, 752. Bzgl. der Restschuldbefreiung in Partikularinsolvenzverfahren gilt nach dem deutschen internationalen Insolvenzrecht § 355 Abs. 1 InsO.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
Abs. 2 EuInsVO). Niederlassung wird in Art. 2 Nr. 10 EuInsVO legaldefiniert als jeder „Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht oder in den drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens nachgegangen ist, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt“. In diesem Zusammenhang ist dem Dreimonatszeitraum des Art. 2 Nr. 10 Alt. 2 EuInsVO, welcher wie die Période suspecte des Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 – 4 EuInsVO dem Schutz der Interessen der (im Falle einer Partikularinsolvenz lokalen) Gläubiger dient,647 besondere Beachtung zu schenken. Damit soll der Schließung von Niederlassungen zur Vermeidung von Partikularinsolvenzverfahren und weiterem benachteiligendem Schuldnerhandeln zuvorgekommen werden. aa) Vermeidung von Sekundärinsolvenzverfahren
Zwar ist das Sekundärinsolvenzverfahren eine Schutzvorkehrung im Kampf gegen unerwünschtes Forum Shopping; nichtsdestoweniger geht es dem Verordnungsgeber gerade wegen der Friktionen mit der Einheit des Verfahrens und dem Ziel effizienter grenzüberschreitender Insolvenzverfahren um die Eindämmung der Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren.648 Außerdem soll die gläubigerseitige Drohung mit der Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren zwecks Ausbedingung ungerechtfertigter Privilegien und Zugeständnisse verhindert werden.649 Diesem Zweck dient die Normierung des Rechtsinstruments der Zusicherung in Art. 36 EuInsVO, der die Gläubiger aber nach Art. 36 Abs. 5 EuInsVO zustimmen müssen.650 Hierfür gelten das qualifizierte Mehrheitsquorum und die Abstimmungsmodalitäten des Staates, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren hätte eröffnet werden können. Einstimmigkeit ist nicht erforderlich. Daher bietet die Regelung hinreichenden Schutz vor Querulanten und Akkordstörern,651 welche auch auf Kosten anderer Gläubiger das Wirksamwerden der Zusicherung hätten verhindern können.652 Nötig ist jedoch die Überzeugung – jedenfalls in Deutschland die Gewissheit 653 – des Gerichts, 647
Garcimartín, ZEuP 2015, 694, 724. Erwägungsgrund 41 EuInsVO. Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 408 sprechen von einer fatalen Tendenz; Hanisch, in: Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, 1997, S. 202, 205; Prager/Keller, WM 2015, 805, 807. 649 Mankowski, NZI 2015, 961; Parzinger, NZI 2016, 63, 66; Prager/Keller, WM 2015, 805, 807. 650 Zu einer ausführlichen Beurteilung dieses Instruments mit all seinen Schwachstellen Mankowski, NZI 2015, 961 ff.; vgl. auch Mohr, ZInsO 2018, 1285 ff. 651 Vallender, ZInsO 2017, 2464, 2468. 652 Mankowski, NZI 2015, 961, 967. 653 Mankowski, NZI 2015, 961, 970; Vallender, ZInsO 2017, 2464, 2468. 648 Vgl.
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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dass die Zusicherung die allgemeinen Interessen der lokalen Gläubiger angemessen schützt (vgl. Art. 38 Abs. 2 EuInsVO), wobei die Tatsache, dass die Gläubiger der Zusicherung zugestimmt haben, besonders berücksichtigt werden muss.654 Darüber hinaus dienen auch Art. 38 Abs. 3 und 4 EuInsVO sowie Art. 51 EuInsVO der Eindämmung von Sekundärinsolvenzverfahren.655 bb) Sekundärinsolvenz im Staat des COMI
Voraussetzung, um missbräuchlichem Forum Shopping vorbeugen zu können, ist natürlich, dass Gläubiger des wahren COMI-Staates im Falle der subjektiv fehlerhaften Zuständigkeitsannahme durch ein ausländisches Gericht zumindest ein Sekundärinsolvenzverfahren im wahren COMI-Staat anstrengen können. Läge aber den Begriffen „COMI“ und „Niederlassung“ ein Exklusivitätsverhältnis zu Grunde, könnte in dem Staat, in dem der COMI objektiv liegt, kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden – und auch der Weg über ein Hauptinsolvenzverfahren ist mit der vorzugswürdigen Meinung, die eine Anerkennung der Erstentscheidung fordert,656 abzulehnen. Dieses Ergebnis liefe jedoch evident dem Schutz der Gläubiger zuwider, sodass jedenfalls bereits aufgrund der schützenswerten Gläubigerinteressen657 ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Staat, in dessen Hoheitsgebiet der COMI objektiv liegt, zugelassen werden muss.658 Voraussetzung ist freilich das Vorliegen einer Niederlassung nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO und die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in einem anderen Staat.659 654
Erwägungsgrund 42 EuInsVO. Erwägungsgründe 41, 45 EuInsVO. Überdies dient nach Piekenbrock, KSzW 2015, 191, 196 Art. 55 EuInsVO der Vermeidung „säumnisbedingter Sekundärverfahren“. 656 Vgl. § 3. B. III. 2. a). 657 EuGH, Rs. C-327/13, Burgo Group SpA/Illochroma SA u. Jérôme Theetten, ECLI:EU:C:2014:2158, Rn. 38 spricht von „Diskriminierung der in dem Mitgliedstaat, in dem die Schuldnergesellschaft ihren Gesellschaftssitz hat, ansässigen Gläubiger“. 658 AG Mönchengladbach NZI 2004, 383 Rn. 2: „Dies gilt umso mehr, […] dass die von der Schuldnerin intendierte Entscheidung […] insofern Sperrwirkung für das Verfahren in Deutschland entfalten würde, als hier nur noch ein Sekundärverfahren durchgeführt werden könnte […].“; so auch Thole, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, Art. 3 EuInsVO 2000 Rn. 83. Vgl. auch EuGH, Rs. C-327/13, Burgo Group SpA/Illochroma SA u. Jérôme Theetten, ECLI:EU:C:2014:2158, Rn. 39: „Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 II EuInsVO dahin auszulegen ist, dass eine Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Gesellschaftssitzes Gegenstand eines Liquidationsverfahrens ist, auch Gegenstand eines Sekundärverfahrens in dem Mitgliedstaat sein kann, in dem sie ihren Gesellschaftssitz und eigene Rechtspersönlichkeit hat.“. 659 Denn die Eröffnung eines Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahrens in demselben Staat muss ausgeschlossen sein, vgl. Mankowski, NZI 2014, 967, 968. 655 Vgl.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
cc) Keine Anwendung auf Verbraucherinsolvenzen
Das Verfahren steht – sofern natürliche Personen betroffen sind – 660 ausgehend vom Niederlassungsbegriff a priori nur selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen Personen offen. Ein Verfahren über das Vermögen von Verbrauchern scheidet mangels Niederlassung aus. Somit tangiert die Regelung nicht die Insolvenzrealität des überwiegenden Teils natürlicher Personen und hat insofern nur einen stark eingeschränkten Anwendungsbereich. dd) Fazit: Tauglichkeit des Verfahrens zur Missbrauchsbekämpfung
Obschon das Partikularinsolvenzverfahren erhöhte Kosten und erhöhten Koordinationsaufwand mit sich bringt,661 birgt es dem zum Trotze nicht unbeachtliches Potenzial. Zu erwarten bleibt aber, dass sich die Zahl der Sekundärverfahrenseröffnungen – trotz allen Schwachstellen – 662 dank der Regelungen in Art. 36 ff. EuInsVO reduzieren wird. Auch wenn das Sekundärinsolvenzverfahren nicht als Erpressungsmittel und primäre Schutzvorkehrung fungieren sollte, kann es, falls die Gläubigerinteressen nicht schon durch eine Zusicherung hinreichend gewahrt sind, dem Forum Shopping Hindernisse bereiten. Gerade die Insolvenzen derjenigen natürlichen Personen sind erfasst, die durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit weiterhin nicht unbedeutendes Vermögen erwirtschaften und dadurch eine, wenn auch nur geringe, Befriedigung der Gläubiger gewährleisten können. Im Unterschied zu Verbrauchern ist dieser Personenkreis am ehesten in der Lage Zeit, Mühe und Geld für eine Verlagerung des COMI aufzubringen und somit von einer ausländischen Insolvenzrechtsordnung zu profitieren. Genau in diesem Fall bietet das Partikularinsolvenzverfahren Schutz vor gläubigerschädigenden Rechtswirkungen und -reflexen (vgl. Art. 20 Abs. 2 EuInsVO, Art. 35 EuInsVO). 5. Période suspecte
Eine der auffälligsten Änderungen in der EuInsVO ist die – unter den Mitgliedstaaten umstrittene – 663 Einführung einer Période suspecte664 in Art. 3 660 Vgl. Erwägungsgrund 9 EuInsVO. Demnach sollen von der Verordnung sowohl natürliche als auch juristische Personen als Schuldner erfasst werden. Zu Ausnahmen siehe Art. 1 Abs. 2 EuInsVO und Erwägungsgrund 19 EuInsVO. 661 Fichtner, BB 2010, 532, 533; Würdinger, IPRax 2011, 562, 564. 662 Verwiesen sei wieder auf die Darstellung von Mankowski, NZI 2015, 961 ff. 663 Mankowski, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 35. 664 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 900: „Vermutungsfrist“; Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 399 und Parzinger, NZI 2016, 63, 65: „Sperrfrist“; Fritz, DB 2015, 1882,
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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Abs. 1 UAbs. 2 – 4 EuInsVO.665 Darin ist – gleichsam als potente Schutzvorkehrung – 666 eine Normkonkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots zu sehen.667 Aus der gemeinsamen Betrachtung mit Art. 4 EuInsVO ergibt sich aus der Période suspecte eine verschärfte Darlegungslast, eine Beweisumkehrvermutung für den Antragsteller.668 a) Vermutung des COMI
Die Période suspecte knüpft an die widerlegbare Vermutung an, der COMI einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, sei ihre Hauptniederlassung. Das Äquivalent der Hauptniederlassung bei den selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen Personen ist der gewöhnliche Aufenthalt bei allen anderen natürlichen Personen. Diese Annahmen gelten nur, wenn die Hauptniederlassung nicht innerhalb von drei bzw. der gewöhnliche Aufenthalt nicht innerhalb von sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde (vgl. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 Satz 2 und UAbs. 4 Satz 2 EuInsVO, dazu auch Erwägungsgrund 32 EuInsVO).669 Daraus folgt aber nicht die Irrelevanz der Verlegung, vielmehr ist nur die Vermutung entkräftet und es wird eine Wertentscheidung anhand der Umstände des Einzelfalls notwendig.670 b) Erwägungsgrund 30 EuInsVO
Die Période suspecte dient durch die Widerlegbarkeit der Vermutung dem Ziel der Verhinderung von betrügerischem oder missbräuchlichem Forum Shopping. Die Vermutung ist aber nicht nur dann entkräftet, wenn eine Verlegung 1885: „Verdachtsperiode“ oder „Lock back Periode“; Vallender, ZInsO 2017, 2464, 2465: „Suspektperiode“. 665 Kritisch zur Aufnahme einer Période suspecte für Gesellschaften und juristische Personen Eidenmüller, KTS 2009, 137, 159; die Einführung fordernd Jacoby, GPR 2007, 200, 202. 666 Positiv die Bewertung bei Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 400, 407. 667 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 149: „institutionalisiertes Missbrauchsverbot“; Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 20: „normative Konkretisierung des Missbrauchseinwands“. 668 Dies offenlassend und nur den Fall des betrügerischen Forum Shopping ansprechend Fehrenbach, GPR 2013, 282, 292; zur Beweisumkehrvermutung Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 407; Vallender/Zipperer, in: Vallender (Hrsg.), EuInsVO, Art. 3 Rn. 19. 669 Zu Mischfällen Thole, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, Art. 3 EuInsVO 2015 Rn. 7. Zu Grenzgängern Mock, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.), BeckOK Insolvenzordnung, Art. 3 EuInsVO Rn. 26. 670 Garcimartín, ZEuP 2015, 694, 711; Commandeur/Römer, NZG 2015, 988, 989.
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des COMI innerhalb der Période suspecte bewerkstelligt wird. Vielmehr soll die Vermutung nach dem 30. Erwägungsgrund in zwei weiteren, nicht abschließend aufgezählten Situationen widerlegt sein. Zum Ersten, wenn der überwiegende Teil des Vermögens einer nicht selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts liegt und zum Zweiten, wenn der ausschlaggebende Umzugsgrund in der geänderten gerichtlichen Zuständigkeit liegt. Zu diesen beiden Aspekten muss – als ausschlaggebendes Momentum – eine wesentliche Beeinträchtigung der Gläubigerinteressen treten. Freilich ließe der Satzbau des 30. Erwägungsgrundes auch die Interpretation zu, die Beeinträchtigung wesentlicher Gläubigerinteressen müsse nur kumulativ zum zweiten Aspekt hinzutreten. Ausgehend von obiger Missbrauchsdefinition ist es jedoch naheliegender und nur konsequent, das Kriterium der Beeinträchtigung wesentlicher Gläubigerinteressen in jeder genannten Situation zu fordern. Es ist zu außerdem zu beachten, dass diese beiden weiteren Umstände, die ebenso wie die Sperrfristen eine rechtsfolgenanordnende Konkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots sind, keinen Eingang in den verbindlichen Normtext gefunden haben, sondern nur in den Erwägungsgründen zu finden sind. U. a. aus diesem Grund soll Erwägungsgrund 30 EuInsVO anders als die Période suspecte vorliegend nicht in den Rang einer eigenen Schutzvorkehrung gehoben werden. Für diese Einordnung spricht des Weiteren, dass er als nur beispielhafte Aufzählung mitunter schwierig nachweisbarer Umstände nicht die gleiche Schlagkraft zu entwickeln vermag wie die Période suspecte. Aber auch in Anbetracht des 30. Erwägungsgrundes darf nicht vorschnell von einer an sich formal zulässigen Gerichtsstandsbegründung im europäischen Ausland auf eine missbräuchliche Absicht mit der Folge der Nichteröffnung671 des Insolvenzverfahrens geschlossen werden. Indes ist dies auch gar nicht gewollt. Lediglich ist im Rahmen der Auslegung bei der Ermittlung des COMI dieser Umstand als weiteres Indiz für missbräuchliches Forum Shopping zu beachten. Folge ist aber, wie bereits angesprochen, nicht die Verneinung des COMI im Zuzugsstaat, sondern ggf. nur die Widerlegung der Vermutung, was eine genaue Prüfung des Einzelfalls erforderlich werden lässt.672 Im Rahmen dieser Prüfung ist es offen, ob der COMI im Wegzugs- oder aber im Zuzugsstaat verortet wird. Im Schrifttum wird der Gedanke aufgeworfen, der „Missbrauchsvorbehalt“ im dritten Satz des 30. Erwägungsgrundes sei allein auf Verbraucher beschränkt.673 671
rens.
Vgl. Erwägungsgrund 33 EuInsVO zur Nichteröffnung des Hauptinsolvenzverfah-
672 Ähnlich 673
Wimmer, jurisPR-InsR 7/2015, Anm. 1. Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 264.
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Dem ist aber entgegenzutreten. Erwägungsgrund 30 EuInsVO nennt nur beispielhaft Situationen, in denen die Vermutung, dass der Sitz, die Hauptniederlassung oder der gewöhnliche Aufenthalt der COMI ist, widerlegt sein kann. An der grundsätzlichen Anerkennung des missbräuchlichen Forum Shopping ändert die Formulierung im 30. Erwägungsgrund nichts.674 Außerdem ist sie so vage,675 dass im Einzelfall auch bei selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Personen der Rechtsmissbrauchsvorwurf gerechtfertigt sein kann. Ein Umkehrschluss dahingehend, dass aus der ausdrücklichen Nennung natürlicher Personen ohne selbstständig gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit in den genannten Situationen missbräuchliches Forum Shopping bei anderen natürlichen Personen mit einer selbständig gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit in denselben Situationen nicht angenommen werden kann, ist nicht zu ziehen. c) Fazit: Période suspecte
Ob die Période suspecte ausreicht, um dem Restschuldbefreiungstourismus präventiv zu begegnen, darf umso mehr bezweifelt werden, als sie relativ kurz bemessen ist.676 Ein hinreichend langfristig planender Schuldner kann einen solchen Zeitraum leicht umgehen.677 Überdies wird allgemein moniert, die Länge der Période suspecte sei immer willkürlich gewählt.678 Ferner könnte der Schuldner die Verlagerung des COMI mit der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit kombinieren, um innerhalb einer kürzeren Zeitspanne die Insolvenzverfahrenseröffnung beantragen zu können.679 Hier ist sorgfältig zu prüfen, ob die Selbstständigkeit nur vorgespiegelt wird oder ob es sich um eine „Scheinselbstständigkeit“ handelt.680 Nichtsdestoweniger ist die Einführung einer Période suspecte zu begrüßen. Die erforderlichen Nachjustierungen bringt – abhängig von dem Maß ihrer rechtstatsächlichen Notwendigkeit – die Zukunft. Unredlichen, missbräuchlich agierenden Schuldnern wird es zusehends schwerer fallen, ihren COMI kurzfristig zum Nachteile der Gläubiger zu verlegen. 674
Vgl. Erwägungsgrund 29 EuInsVO. Es ist nur eine „Vermutung“ die „widerlegt werden kann“. 676 Die Länge der Période suspecte als relativ kurz kritisierend Commandeur/Römer, NZG 2015, 988, 989; Kindler/Sakka, EuZW 2015, 460, 462; allgemein kritisch zur Sinnhaftigkeit auch Fehrenbach, GPR 2016, 282, 292; kritisch zur Période suspecte für Gesellschaften oder juristische Personen Parzinger, NZI 2016, 63, 65; ebenso in dieser Hinsicht kritisch, im Allgemeinen aber positiv Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 399, 407 f.; auch positiv Piekenbrock, KSzW 2015, 191, 194. 677 Reuss, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, S. 161. 678 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 159. 679 Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 256, 265. 680 Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 265. 675
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6. Ordre public
Einzig Art. 33 EuInsVO vermag mit dem Ordre-public-Vorbehalt ein Korrektiv im engeren Sinne gegenüber einer weitreichenden und missbräuchlichen Gerichtsstandswahl zu bieten.681 Die Einlegung des Vorbehalts und Nichtanerkennung682 der Entscheidung bei Erfüllung der Tatbestandsmerkmale steht jedenfalls unionsrechtlich im Belieben eines jeden Mitgliedstaates.683 Obschon Art. 33 EuInsVO den Mitgliedstaaten ausdrücklich Ermessen konzediert, bliebe dem deutschen Gericht bei einer Grundrechtsverletzung keine Wahl: Art. 1 Abs. 3 GG zwingt zu einer Beachtung grundrechtlicher Garantien und dementsprechend zu einer Aktivierung des Ordre-public-Vorbehalts.684 Bzgl. des Forum Shopping stechen zwei Punkte besonders hervor: Zum einen die Frage nach der Einschlägigkeit des Ordre public bei fehlerhaften oder missbräuchlich erschlichenen Eröffnungsentscheidungen und zum anderen sein Schutz vor geringen oder fehlenden Treuhandperioden in anderen Mitgliedstaaten. Ersteres ist das entscheidende Momentum, der Türöffner zum Forum Shopping. Letzteres ist dominierendes Motiv und verlockender Anreiz für Restschuldbefreiungstourismus. Daneben gibt es noch einige weitere – teils ineinandergreifende – Aspekte, die als komparative Vorteile ausländischer Rechtsordnungen Forum Shopping begünstigen und Ordre-public-Relevanz entfalten können.685 Dies sind bspw. das Fehlen einer Mindestbefriedigungsquote oder die Restschuldbefreiung von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung. Wegen der Fülle der unterschiedlichen Motive und den zahlreichen Unterschieden in den nationalen Insolvenzordnungen soll sich die nachfolgende Darstellung, unabhängig von weiteren Faktoren, auf die gerade genannten wichtigsten Aspekte konzentrieren. 681 Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 567: „Notanker“; Mankowski, KTS 2011, 185, 186 „letzte – und […] einzige – Verteidigungslinie“ und S. 217 „einzige, letzte und enge Schranke“; Mäsch, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band II, Art. 26 Rn. 2: „Sicherheitsventil“. 682 Zur theoretischen Möglichkeit der Teilanerkennung Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 209 f.; Mankowski, KTS 2011, 185, 215 f. 683 Vgl. den Wortlaut des Art. 33 EuInsVO: „kann“. Auch Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 246 f.; Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 161 f. 684 Ähnlich Mankowski, KTS 2011, 185, 215 allerdings mit Verweis auf Art. 19 Abs. 3 GG. 685 Zum Recht der Gläubiger auf effektive Verfahrensbeteiligung Laukemann, IPRax 2014, 258, 262 f. Ferner Frind/Pannen, ZIP 2016, 398 ff.; zu weiteren Gründen für Forum Shopping Schneider, Der Rechtsmissbrauchsgrundsatz im Europäischen Insolvenzrecht, S. 152 Fn. 335; Weller, ZGR 2008, 835, 838 ff.; Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 237 ff.
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Die relevantesten Erscheinungsformen des Ordre public im Sinne von Art. 33 EuInsVO sind der verfahrensrechtliche686 und der materiellrechtliche Ordre public.687 Da Art. 33 EuInsVO dem Ziel eines einheitlichen und effizienten Verfahrens auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens688 und reziproker Anerkennung diametral entgegenläuft, werden dessen Voraussetzungen sehr restriktiv interpretiert.689 Bei einer weiten Auslegung bestünde die Gefahr der Instrumentalisierung des Art. 33 EuInsVO als Blockadewerkzeug bei der Anerkennung unliebsamer ausländischer Entscheidungen.690 Im Grundsatz muss das Verbot der révision au fond bestehen bleiben.691 Ist Art. 33 EuInsVO aber einschlägig, nachdem sich ein Mitgliedstaat auf ihn berufen hat, weil die Entscheidung in einem „nicht hinnehmbaren Gegensatz zur [inländischen] Rechtsordnung“692 steht und deswegen fundamentale, unabdingbare Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt werden, so gibt er Raum für eine Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen (gemeint sind die Entscheidungen nach Art. 19, Art. 32 Abs. 1 EuInsVO)693. Dogmatisch wird dies auf die Durchbrechung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens oder auf einen Mangel der Geschäftsgrundlage für die Akzeptanz fremden Rechts zurückgeführt.694 686 Ein ordre public atténué ist abzulehnen, dazu Mäsch, EuZW 2016, 713, 717; ausführlich m. w. N.; ders., in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band II, Art. 33 Rn. 7 f., a. A. wohl Mankowski, KTS 2011, 185, 187. 687 Hess/Laukemann, in: Flitsch/Hagebusch/Oberle/Seagon/Schreiber (Hrsg.), FS Wellensiek, S. 813, 814 f.; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 206. Vallender, ZInsO 2009, 616, 619. Daneben wird auch eine kollisionsrechtliche ordre public-Kontrolle im Rahmen der Art. 33 EuInsVO für möglich gehalten, siehe Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1249; a. A. Mankowski, KTS 2011, 185, 217. Indes ist in der Praxis bislang noch kein solcher Fall aufgetreten; dazu Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn 10; Mäsch, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band II, Art. 26 Rn. 23; kritisch Müller, in: Mankowski/Müller/ Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 5. 688 Laukemann, IPRax 2012, 207 208. 689 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, ECLI:EU:C:2000:164, Rn. 21: Der ordre public sei „eng auszulegen“. Ebenso Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 205: „Unzulässig weite Auslegung der ,ordre public‘-Klausel“. Vgl. auch Erwägungsgrund 65 EuInsVO: Beschränkung der Nichtanerkennungsgründe auf das „unbedingt notwendige Maß“; Niggemann/Blenske, NZI 2003, 471, 479. 690 Vgl. Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 208. 691 Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 568. 692 EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 63. 693 Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 248. 694 Durchbrechung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens Thole in: Kirchhof/ Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4,
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
a) Öffentliche Ordnung
Für die Ausübung des Verweigerungsrechts ist eine evidente Unvereinbarkeit mit der jeweiligen nationalen öffentlichen Ordnung notwendig.695 Es ist zu beachten, dass Teil der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaates auch das Unionsrecht – und damit auch die EuInsVO – ist.696 Insofern ist der Ordre public nicht geeignet, Unionsrecht per se die praktische Wirksamkeit zu versagen, da das Unionsrecht selbst als Teil der öffentlichen Ordnung diese nicht zugleich verletzen kann.697 Art. 33 EuInsVO verlangt keine abstrakte Überprüfung hinsichtlich der Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung, sondern fordert vielmehr eine konkrete Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Fall.698 Maßgeblich ist daher allein, ob die Anerkennung oder Vollstreckung der erststaatlichen Entscheidung gegen die öffentliche Ordnung verstößt.699 Der Begriff der öffentlichen Ordnung bedarf der unionsautonomen Auslegung und Konkretisierung. Bei der Interpretation des Tatbestandsmerkmals „öffentliche Ordnung“ kann auf die Rechtsprechung des EuGH zum Ordre public des Art. 45 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO und deren Vorgänger zurückgegriffen werden.700 aa) Rs. Krombacher
Leitentscheidung war das Urteil701 des EuGH in der Rs. Krombacher, in dem es im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens um die Frage ging, wie der Begriff „öffentliche Ordnung des Vollstreckungsstaats“ im Sinne von Art. 27 Art. 26 EuInsVO 2000 Rn. 1. Mangel der Geschäftsgrundlage Müller, in: Mankowski/ Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 2. 695 Zur Voraussetzung eines „Inlandsbezugs“ siehe Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 154 ff. 696 Vgl. Knof, ZInsO 2007, 629, 633. 697 Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 248 f.; Mäsch, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band II, Art. 26 Rn. 3. 698 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 204; Laukemann, IPRax 2014, 258, 260. 699 Mankowski, KTS 2011, 185, 188 f. 700 Zur Auslegung des Art. 26 EuInsVO a. F. anhand der im Rahmen der Brüssel Ia-VO entwickelten Maßstäbe EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C: 2006:281, Rn. 63; BGH, Beschl. v. 08. 05. 2014 – IX ZB 35/12 = NZI 2014, 723 f. Rn. 7; dem zustimmend Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 154; Stürner, IPRax 2015, 535, 536. 701 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, ECLI:EU:C:2000:164, Rn. 18.
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Nr. 1702 des Übereinkommens703 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen auszulegen war. Nach dem Gerichtshof obliegt es jedem Mitgliedstaat primär selbst den Inhalt des Begriffs „öffentliche Ordnung“ zu definieren, wobei der Gerichtshof aber über die Grenzen einer Anerkennungs- und Vollstreckungsverweigerung wacht.704 Diese Einschätzung ist nur folgerichtig, soll doch der Ordre public nationalstaatlich zwingenden Gerechtigkeitsvorstellungen Raum geben. Ein unionsautonomer Ordre public kann nur insoweit gebildet werden, als er sich aus den gemeinsamen Werten und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten speist (als gemeinsamer Nenner fungiert Art. 2 EUV)705. Da dies nur die kleineste gemeinsame Schnittmenge ist, reicht der nationale Ordre public weiter als der unionsrechtliche.706 Darüber hinaus widerspricht das Konzept eines übergreifenden unionsautonomen Ordre public der Tatsache, dass der Ordre public gerade ein Rettungsanker des einzelnen Staates ist.707 Die Mitgliedstaaten können sich durchaus auch im Kernbestand ihrer öffentlichen Ordnung voneinander unterscheiden. Wegen der besonderen innerstaatlichen Anschauungen des Anerkennungsstaates, die mit den aufgrund der unionsrechtlichen Rahmenvorgaben getroffenen Wertungen des Entscheidungsstaates nicht korrespondieren, aber dennoch aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung berücksichtigungswürdig sind, ist dem Anerkennungsstaat in seltenen Fällen ein letzter Rückzugsraum zu gewähren. Wenn der Gerichtshof meint, er wache über die Grenzen, innerhalb deren sich das Gericht eines Mitgliedstaats auf den Begriff der öffentlichen Ordnung stützen darf, so trifft er zwar die Letztent702 Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens lautet: „Eine Entscheidung wird nicht anerkannt: 1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde“. 703 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 09. 1968, ABl. L 299 v. 31. 12. 1972, S. 32 ff. 704 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, ECLI:EU:C:2000:164, Rn. 22 f. So auch später EuGH, Rs. C-681/13, Diageio Brands BV/Simiramida-04 EOOD, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 42. 705 Von einem Verfassungskonsens, gar einem Verfassungskern sprechend Murswiek, NVwZ 2009, 481, 483. 706 Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 727. 707 Dazu auch Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 205; in dieselbe Richtung Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 8; a. A. Dietze, EuZW 2015, 713,717: ein europäischer „ordre public“ sei „integrationspolitisch sinnvoll“. Zuzugeben ist, dass mit zunehmender Harmonisierung die Reichweite des ordre public schwindet, vgl. Laukemann, IPRax 2012, 207, 210.
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
scheidung, jedoch kann ihm nur eine Willkür- resp. Missbrauchskontrolle708 konzediert werden.709 Weiter konstatierte der Gerichtshof, dass die Aktivierung des Ordre public einen offensichtlichen Verstoß gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz mit dem Ergebnis eines nicht hinnehmbaren Gegensatzes zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats fordere.710 Das Merkmal der Offensichtlichkeit ist nunmehr in Art. 33 EuInsVO kodifiziert. Der Erkenntnisgewinn des Urteils beschränkt sich daher lediglich darauf, den erforderlichen Verstoß gegen einen Rechtsgrundsatz als wesentlich zu qualifizieren. Die Bedeutung des unbestimmten Wesentlichkeitskriteriums bleibt dabei weiterhin unklar. Als einzige einschlägige Kategorie eines wesentlichen Verstoßes wurde konkret der Fall genannt, in dem es Verteidigern eines nicht in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten verwehrt wurde, für diesen aufzutreten. Dies sei ein Verstoß gegen das in der EMRK verbürgte Recht auf ein faires Verfahren.711 Bereits Virgós/Schmit sahen die Verteidigungsrechte der Beteiligten, allgemeiner: die Wahrung grundlegender Verfahrensgarantien, als vom Schutz der Ordre public-Klausel erfasst.712 bb) Grundprinzipien und verfassungsmäßig garantierte Rechte und Freiheiten des Einzelnen
Art. 33 EuInsVO ist etwas präziser als Art. 27 des o. g. Übereinkommens713. Er gibt bereits zwei (dem Wortlaut nach nicht abschließende)714 Fallgruppen vor, die der öffentlichen Ordnung als genus proximum subsumiert werden, nämlich 708
Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 19. Missbräuchlich ist m. E. bspw. das konsequente Berufen auf den ordre public, um bestimmte ausländische Entscheidungen systematisch nicht anerkennen zu müssen, sodass es in erster Linie nicht um die eigene öffentliche Ordnung, sondern um die generelle Abwehr von aufgrund unliebsamen ausländischen Rechts ergangenen Entscheidungen geht. Willkür kann dann angenommen werden, wenn der ordre public von einem Mitgliedstaat nur inkonsequent d. h. bei gleichgelagerten Fällen unstetig bemüht wird. In solchen Fällen könnte auch an ein Vertragsverletzungsverfahren gegenüber dem sich missbräuchlich auf den ordre public berufenden Staat gedacht werden. 710 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, ECLI:EU:C:2000:164, Rn. 37; auch EuGH, Rs. C-681/13, Diageio Brands BV/Simiramida-04 EOOD, ECLI: EU:C:2015:471, Rn. 44. 711 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, ECLI:EU:C:2000:164, Rn. 26, 40 f. 712 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 206. 713 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 09. 1968, ABl. L 299 v. 31. 12. 1972, S. 32 ff. 714 Mäsch, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band II, Art. 26 Rn. 6; a. A. Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 16, der mit guten 709
B. EuInsVO und Schutzvorkehrungen
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Grundprinzipien und verfassungsmäßig garantierte Rechte und Freiheiten des Individuums. Mit Grundprinzipien ist im Gegensatz zu den Individualrechten der zweiten Alternative objektives Verfassungsrecht gemeint.715 Dies sind die Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes (z.B. Rechts- und Sozialstaatlichkeit), die Verfahrensgarantien716 sowie die wesentlichen Grundprinzipien der EU.717 Den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen unterfallen die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes718 sowie die entsprechenden Rechte aus der EMRK und – sofern ihr Anwendungsbereich nach Art. 51 EU-GRCharta eröffnet ist – die EU-Grundrechte.719 Unvereinbarkeit liegt noch nicht mit der Tangierung bzw. Beeinträchtigung des Schutzbereichs vor. Vielmehr muss ein etwaiger Eingriff ungerechtfertigt sein, was die Verletzung entsprechender Individualrechte bedeutet. Eine weitere Prüfung am Maßstab des inländischen Rechts neben dem Ordre public muss schon aufgrund des klaren Wortlauts von Art. 33 EuInsVO (und angesichts Erwägungsgrundes 65 EuInsVO) ausgeschlossen sein.720 Weder Treu und Glauben noch § 826 BGB oder andere Vorschriften können herangezogen werden.721 Eine Anerkennung könnte nur insofern wegen einer Verletzung dieser Vorschriften versagt werden, falls die Verletzung zu einem Ergebnis solchen Gewichts führte und daher solche gravierenden Folgen zeitigte, dass darin gleichzeitig ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung läge. Dann aber ist der Ordre public selbst einschlägig und ein Rekurs nur auf diese einfachgesetzlichen Vorschriften verbittet sich. Eine Versagung der Anerkennung unterhalb der Ordre-public-Schwelle ist unmöglich. Gründen von einer jedenfalls für den deutschen ordre public abschließenden Aufzählung ausgeht. 715 Ähnlich Knof, ZInsO 2007, 629, 633 „verfassungsentsprechendes Gewicht“. 716 EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 66; Leible/ Staudinger, KTS 2000, 533, 568. 717 Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 12. Zu den Grundprinzipien der Union Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 5. 718 Ciacchi, Internationales Privatrecht, ordre public européen und Europäische Grundrechte, S. 22 ff. 719 Einschränkend zu den EU-Grundrechten Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn. 6. 720 Wie hier Fuchs, NZI 2016, 929, 932; Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn. 11. 721 So aber anscheinend BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929, 930 Rn. 21 und zu § 826 BGB Paulus, RIW 2017, 81, 85.
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b) Offensichtlichkeit
Die Verletzung zwingenden deutschen Rechts reicht allein noch nicht aus, um einen Verstoß gegen den Ordre public zu begründen.722 Vielmehr muss ein solcher offensichtlich sein. Die Offensichtlichkeit der Unvereinbarkeit ist ein weiterer Ansatzpunkt, um die Einschlägigkeit des Ordre public auf eine geringstmögliche Fallzahl zu beschränken.723 Rechtsverletzungen oder Verstöße gegen die nationale öffentliche Ordnung sind in einem so vielgestaltigen System verschiedener Rechtsregime zu Gunsten der Funktionsfähigkeit einer supranationalen Rechtsordnung hinzunehmen, sofern die Unvereinbarkeit nicht einen solchen Grad erreicht, dass sie sich dem unbefangenen Betrachter unmittelbar erschließt,724 gleichsam aufdrängt, ihm ins Auge springt, also evident ist.725 Was hierbei tatsächlich evident zu Tage tritt, ist die Unbrauchbarkeit des Begriffs „offensichtlich“ als operationables Kriterium, um eine restriktive Handhabung und eindeutige Ergebnisse bzgl. des Eingreifens des Ordre public zu fördern.726 Schrifttum und Rechtsprechung müssen hier eine Konkretisierung durch Fallgruppen leisten oder gänzlich auf das Merkmal verzichten.727 Die gebotene Zurückhaltung hinsichtlich des Ordre public ergibt sich auch ohne die „Offensichtlichkeit“ der Unvereinbarkeit. c) Eröffnungsentscheidungen
Kernfrage ist, inwiefern der Ordre public zur Missbrauchsbekämpfung taugt resp. inwiefern ein Staat sich gegen eine Eröffnungsentscheidung eines anderen Staates unter Berufung auf den Ordre public zur Wehr setzen kann. In Bezug auf die Eröffnungsentscheidungen muss in dreierlei Hinsicht unterschieden werden. Das Eingreifen des Ordre public ist zunächst allgemein im Falle der fälschlichen Inanspruchnahme der internationalen Zuständigkeit zu betrachten. Die überwiegende Auffassung geht dabei von einem Verbot der Nachprüfung und keinem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung aus.728 Bis zur Grenze will722
Mansel, in: Kronke/Thorn (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 689. Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 567; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 204. 724 Reutershahn, in: Vallender (Hrsg.), EuInsVO, Art. 33 Rn. 5. 725 Vgl. auch Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 255; Kemper, ZIP 2001, 1609 1614; Völker, Zur Dogmatik des ordre public, S. 105 f. 726 Ähnlich Völker, Zur Dogmatik des ordre public, S. 126. 727 Zu weiteren Möglichkeiten Völker, Zur Dogmatik des ordre public, S. 106 ff. 728 OGH, Beschl. v. 17. 03. 2005 – 8 Ob 135/04t = NZI 2005, 465, 466; OLG Köln, Urt. v. 28. 02. 2013 − 18 U 298/11 = NZI 2013, 506, 5131; OLG Celle, Beschl. v. 27. 11. 2012 – 2 U 147/12 = ZInsO 2013, 1002 ff.; OLG Nürnberg, Beschl. v. 15. 12. 2011 – 1 U 2/11, ECLI:723
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kürlichen Judizierens kann eine unsorgfältige, nicht ordnungsgemäße Prüfung des Falls durch das ausländische Gericht mit dem Ergebnis einer fehlerhaften Verfahrenseröffnung nicht die rechtmäßige Aktivierung des Ordre public bewirken.729 Rechtssicherheit geht insoweit materiell richtigen Eröffnungsentscheidungen vor.730 Aus deutscher Sicht kann zusätzlich § 343 InsO ins Feld geführt werden. Dieser unterscheidet in Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 die Unzuständigkeit ausländischer Gerichte von einem Verstoß gegen die wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts. Somit begründet jedenfalls aus Perspektive des deutschen Gesetzgebers die fehlerhafte Inanspruchnahme der internationalen Zuständigkeit nicht per se einen Ordre-public-Verstoß.731 Ferner ist zwischen den Fallgruppen des rechtsmissbräuchlichen und des betrügerischen Forum Shopping zu differenzieren, bei denen eine Berufung auf den Ordre public teils als möglich erachtet wird. In Rechtsprechung und Literatur erfahren sie eine getrennte Beurteilung. aa) Betrügerisches Forum Shopping
Hierbei täuscht der Schuldner also den ausländischen COMI lediglich vor, um in einem anderen Staat als dem, in dessen Hoheitsgebiet der COMI liegt, die Insolvenzverfahrenseröffnung zu erreichen. (1) Einschlägigkeit des Ordre public
Nach einem Teil der Rechtsprechung kann sich daraus ein Verstoß gegen den Ordre public ergeben.732 Als Begründung wird angeführt, Artt. 3, 16 EuInsVO DE:OLGNUER:2011:1215.1U2. 11. 0A = NJW 2012, 862 ff; Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 49 f.; Duursma/Duursma-Kepplinger, DZWiR 2003, 447, 450; Cranshaw, jurisPR-InsR 15/2017, Anm. 5; Herchen, ZIP 2005, 1401, 1404 m. w. N.; Laukemann, IPRax 2014, 258, 261; Laukemann, IPRax 2012, 207, 2011; Leipold, in: Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, 1997, S. 185, 192; Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 287; Mansel, in: Kronke, Herbert/Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 686; Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1249; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren v. 08. 07. 1996, Doc. 6500/1/96 REV 1, Rn. 202 Nr. 2. Auch Mankowski, KTS 2011, 185, 211 f., der aber eine Zuständigkeitskontrolle über Art. 19 EuInsVO ins Werk setzen will; VG Wiesbaden, Urt. v. 19. 04. 2016 – 1 K 269/14.WI –, juris Rn. 53. A. A. von der Fecht, in: van Betteray/Delhaes (Hrsg.), FS Metzeler, S. 121, 126. 729 BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 94 Rn. 13; Bork, Beilage zu ZIP 22/2016, 11. 730 Eidenmüller, NJW 2004, 3455, 3457. 731 Thole, in: Kirchhof/Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 343 InsO Rn. 43, 60. 732 BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929, 930 Rn. 23; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 08. 2013 – I-22 U 37/13, 22 U 37/13 = ZVI 2014, 425 ff.; LG Köln, Urt.
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a. F. setzten eine faire und objektive Würdigung vorgelegter Tatsachen durch das entscheidende Gericht voraus, was z. B. bei einem „out of court-appointment“ nicht gesichert sei.733 Ferner werde die Kompetenz des eröffnenden Gerichts nicht angetastet. Vielmehr entspreche es sowohl den Interessen des Eröffnungsals auch Anerkennungsverweigerungsstaates, dass die täuschende Person bis zur Aufhebung der Eröffnungsentscheidung durch den Eröffnungsstaat keine ungerechtfertigten Vorteile zu Lasten anderer Betroffener ziehe.734 Unabhängig vom Ergebnis ist diese Begründung nicht tragfähig. Sehr wohl wird in die Kompetenz des eröffnenden Gerichts eingegriffen. Der Versuch, dies zu relativieren, ist Ausdruck rabulistischer Sprachakrobatik. Dass die angesprochenen Interessen berührt und gewahrt werden müssen, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Jedoch setzt sich eine solche rechtspolitische Argumentation stets dem Vorwurf der Ergebnisgerechtigkeit aus und findet keinen Rückhalt in der Dogmatik der EuInsVO. Entscheidend ist allein der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung eines Mitgliedstaates. Innerhalb dieser spielen Interessenwertungen zwar eine Rolle, aber immer konkret in Bezug auf die Verletzung bestimmter Individualrechte oder Grundprinzipien, nicht auf einem abstrakten Niveau. (2) Ausschluss der Ordre-public-Kontrolle resp. Subsidiarität
Nach abweichender Ansicht ist im Falle der Simulation eine Überprüfung der Eröffnungsentscheidung mit dem Ordre public am Maßstab der nationalstaatlichen öffentlichen Ordnung ausgeschlossen.735 Zum einen folge bereits aus der Gesetzessystematik des § 343 Abs. 1 Satz 2 InsO, dass mit der bloßen Verletv. 14. 10. 2011 − 82 O 15/08 = NZI 2011, 957 Rn. 82 mit kritischer Anmerkung Mankowski, NZI 2011, 957, 959, der das Ergebnis zwar begrüßt, den ordre public hier aber als dogmatisch fehl am Platze ansieht. Außerdem AG Göttingen, Beschl. v. 10.12. 2012 − 74 IN 28/12 = NZI 2013, 206, 207, jedoch mit der Einschränkung, dass es an einer Plausibilitätsprüfung durch das ausländische Gericht fehlen muss; ferner eine Subsidiarität des ordre public deutlich ausschließend: „Bei dieser Sachlage müssen sich ausländische Gläubiger nicht auf die Möglichkeit der Annullierung englischen [sic] Eröffnungsentscheidungen (dazu Goslar, NZI 2012, 912) verweisen lassen“. Ferner auch AG Nürnberg, Beschl.v. 15. 08. 2006 – 8004 IN 1326 bis 1331/06 = NZI 2007, 185, 186; zustimmend Ballmann, BB 2007, 1121, 1123. Auch d’Avoine, NZI 2011, 310, 313. Zum EuGVÜ seinerzeit Schlosser-Bericht, ABl. C 59 v. 05. 05. 1979, S. 71, 128 Rn. 192. 733 Kebekus, ZIP 2007, 83, 87. 734 AG Nürnberg, Beschl.v. 15. 08. 2006 – 8004 IN 1326 bis 1331/06 = NZI 2007, 185, 186; ebenso LG Köln, NZI 2011, 957 Rn. 82. Dem zustimmend Kebekus, ZIP 2007, 83, 86. 735 FG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 28. 08. 2015 – 3 V 65/15, ECLI: DE:FGMV:2015:0828.3V65. 15. 0A, Rn. 3,13, 44 = ZIP 2015, 2239 ff.; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2012, 1, 32. Kritisch zum ordre public in den Simulationsfällen auch Paulus, NZI 2008, 1, 3.
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zung der internationalen Zuständigkeit nicht automatisch eine Verletzung des Ordre public einhergeht.736 Zum anderen hat der EuGH mit dem Rekurs auf die Rs. Eurofood die Unüberprüfbarkeit ausländischer Eröffnungsentscheidungen selbst bei bewussten Falschangaben des Schuldners zum Dogma erhoben.737 Die Gefahr paralleler Hauptinsolvenzen sei zu gewichtig.738 Zudem seien selbst im deutschen Recht fehlerhafte Verweisungsbeschlüsse gem. § 281 Abs. 2 S. 2 und 4 ZPO bis zur Grenze der Willkür hinzunehmen;739 der deutsche Ordre public könne demnach im ähnlichen Fall, nämlich der fehlerhaften Zuständigkeitsannahme in grenzüberschreitenden Sachverhalten, nicht verletzt sein.740 Indes relativieren Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur diese Ansicht: Überwiegend wird der Ordre public zwar theoretisch für grundsätzlich einschlägig gehalten, jedoch wird auf die vorrangige Inanspruchnahme von Rechtsschutz im Eröffnungsstaat und auf die Eröffnung von Partikularinsolvenzverfahren verwiesen.741 Es wird angeführt, auch in Deutschland erwüchsen 736
Bork, Beilage zu ZIP 22/2016, 11, 13. FG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 28. 08. 2015 – 3 V 65/15, ECLI: DE:FGMV:2015:0828.3V65. 15. 0A, Rn. 13 = ZIP 2015, 2239 ff. 738 Zu diesem Argument im Kontext der Subsidiarität des ordre public Laukemann, IPRax 2012, 207, 213. 739 Dazu BGH, Beschl. v. 27. 05. 2008 – X ARZ 45/08 = NJW-RR 2008, 1309 f.; BGH, Beschl. v. 10. 06. 2003 – X ARZ 92/03 = NJW 2003, 3201 f.; BGH, Beschl. v. 10. 09. 2002 – X ARZ 217/02 = NJW 2002, 3634, 3635. Siehe auch Foerste, in: Musielak/Voit (Hrsg.), Zivilprozessordnung, § 281 Rn. 17; Prütting, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, § 281 Rn. 55 ff. 740 OLG Celle, Beschl. v. 27. 11. 2012 – 2 U 147/12 = ZInsO 2013, 1003; OLG Nürnberg, Beschl. v. 15. 12. 2011 – 1 U 2/11, ECLI:DE:OLGNUER:2011:1215. 1U2. 11. 0A = NJW 2012, 862, 863. 741 Tendenziell EuGH, Rs. C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 43. Andeutungsweise FG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 28. 08. 2015 – 3 V 65/15, ECLI:DE:FGMV:2015:0828.3V65. 15. 0A, Rn. 45. Ausdrücklich so BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 95, Rn. 21, 27 und dem zustimmend Vallender, EWiR 2016, 19, 20; außerdem Cour de Cassation (Chambre commerciale), Urt. v. 15. 02. 2011, – n°09 – 71.436, 175 – Sté HSBC France./. Sté Dalle hygiène production, Rev. Crit. DIP 2011, 903; ähnlich OLG Nürnberg, Beschl. v. 15. 12. 2011 – 1 U 2/11, ECLI:DE:OLGNUER:2011: 1215.1U2. 11. 0A = NJW 2012, 862 ff. Zur Literatur siehe Brinkmann/ Frevel, in: Basedow et al. (Hrsg.), FS Klamaris, S. 109, 120 f.; Jacoby, GPR 2007, 200, 205; Knof, ZInsO 2007, 629, 634, 636; Laukemann, IPRax 2012, 207, 209; vor Inkrafttreten des Art. 5 EuInsVO teils Durchbrechungen der Subsidiarität befürwortend Laukemann, IPRax 2014, 258, 263; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 568; Mansel, in: Kronke, Herbert/ Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 683, 687, 696; Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1250; Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 160; Vallender, EWiR 2011, 775, 776; Weller, ZGR 2008, 835, 853; Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 170 f.; ebenso in diese Richtung für den Fall mangelnden Rechtsschutzes und einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör Andres/Grund, NZI 2007, 138, 141. Allgemein zur vorrangigen Rechtsschutzmöglichkeit beim ordre public Jacoby, GPR 2007, 737
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durch Prozessbetrug erlangte Entscheidungen in Rechtskraft, sofern sie nicht mit Rechtsmitteln angegriffen würden.742 Mit dem Verweis proklamieren diese Stimmen durch die Hintertür eine Subsidiarität des Ordre public. Der Ausnahmecharakter des Ordre public, wie er auch in Erwägungsgrund 65 EuInsVO zum Ausdruck kommt, gebiete hiernach, dass die Anwendung des Ordre public unterbleibe, wenn zureichender Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung gesucht werden könne.743 Dafür streite auch der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, die Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit von Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitender Wirkung und die Einführung des Art. 5 Abs. 1 EuInsVO.744 Des Weiteren seien Täuschungshandlungen des Schuldners nur schwer von den schlichten, eine Versagung der Anerkennung keinesfalls rechtfertigenden Rechtsanwendungsfehlern des Gerichts abzugrenzen.745 Außerdem bestehe im europäischen Justizraum eine grundsätzlich erhöhte Einlassungslast vor den Zivilgerichten anderer Mitgliedstaaten.746 (3) Stellungnahme: Betrügerisches Forum Shopping
Der Ordre public ist sehr wohl geeignet, bei betrügerischem Forum Shopping nicht hinnehmbare Verstöße gegen die öffentliche Ordnung eines Mitgliedstaates abzumildern, indem er die Verweigerung der Anerkennung ermöglicht. Natürlich kann er nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen zu Rate gezogen werden, um nicht die Ziele der EuInsVO zu unterminieren. Obschon es in der Theorie schwierig ist, eine solche Ausnahmekonstellation zu konstruieren, ergibt sich aus allgemeinen Überlegungen die potentielle Einschlägigkeit des Ordre public. Solange die verfassungsrechtlichen Implikationen nicht ausreichend beleuchtet und mangels Befassung mit dieser Materie keine durchgreifenden Argumente gegen die Anwendbarkeit des Ordre public vorgebracht werden, kann dieselbe nicht mit Sicherheit negiert werden. Allein aus der Tatsache, dass es stets einer Einzelfallbewertung bedarf, alle Einzelfälle aufgrund ihrer präsumtiv unbeschränkten Vielzahl aber nie in abstracto abschließend erfasst werden können, ergibt sich hinsichtlich der Anwendbarkeit jedenfalls eine Wahrscheinlichkeit größer als null. 200, 204 f. Zur vorrangigen Rechtsschutzmöglichkeit im Rahmen der Brüssel Ia-VO a. F. EuGH, Rs. C-559/14, Meroni/Recoletos u. a., ECLI:EU:C:2016:349, Rn. 48, 54; EuGH, Rs. C-681/13, Diageo Brands BV/Simiramida-04 EOOD, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 67; BGH, Beschl. v. 26. 08. 2009 – XII ZB 169/07 = NJW 2009, 3306, 3310 Rn. 40. 742 Andres/Grund, NZI 2007, 138, 141. 743 BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 95, Rn. 21. 744 BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 95, Rn. 21. 745 Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1250. 746 Hess/Laukemann, in: Flitsch/Hagebusch/Oberle/Seagon/Schreiber (Hrsg.), FS Wellensiek, S. 813, 818.
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Das Postulat der Subsidiarität des Ordre public erschließt sich weder aus dem Gesetz noch ist es aus teleologischen Erwägungen valide deduzierbar. Teleologische Gesichtspunkte vermögen der These der vorrangigen Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes gewisses Gewicht verleihen, indes können aus dem Wortlaut und der national verfassungsrechtlichen Systematik andere Schlüsse gewonnen werden. Ausgangspunkt der Überlegung muss die inhaltlich autonom vom jeweiligen Mitgliedstaat definierte öffentliche Ordnung sein. Innerhalb dieser Ordnung sind bei der Betroffenheit von Grundprinzipien und verfassungsmäßig garantierten Rechten Abwägungen im konkreten Einzelfall747 vorzunehmen, in welche umfassend Interessen, Zwecksetzungen und alle weiteren relevanten Faktoren einfließen – natürlich immer eingedenk des Ausnahmecharakters des Ordre public. Ist im Eröffnungsstaat effektiver gerichtlicher Rechtsschutz möglich und zumutbar, muss dies in die Abwägung mit einfließen und kann so, falls eine Verletzung verfassungsmäßig garantierter Rechte und Grundprinzipien konstatiert würde, den entscheidenden Ausschlag für eine Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung geben.748 Der neuralgische Punkt dieses Verständnisses ist die Deutungshoheit der Mitgliedstaaten über die Effektivität und Zumutbarkeit der Erlangung ausländischen Rechtsschutzes. Weil die vorrangige Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes nach der hier vertretenen Auffassung gleichsam als abwägungsrelevanter Faktor im Rahmen der öffentlichen Ordnung anzusprechen ist, bleibt der EuGH auf sein Wächteramt beschränkt und die Mitgliedstaaten urteilen bis zur Willkürgrenze autonom über die Adäquanz und das Gewicht des Rechtsschutzes für die Abwägung. Vorbehalte sind an dieser Stelle begründet, aber sie verblassen im Ergebnis, da es eher unwahrscheinlich ist, dass sich ein Mitgliedstaat bei adäquater (und u. U. aufgrund von weitgehenden Harmonisierungen äquivalenter Verfahrens-)Ausgestaltung zu Unrecht auf mangelnden effektiven und zumutbaren ausländischen Rechtsschutz beruft und so seinen Ordre-pub747 OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 08. 2013 – I-22 U 37/13, 22 U 37/13 = ZVI 2014, 425 ff.: „Solche Fälle des Anscheins eines möglichen Rechtsmissbrauchs entziehen sich einer standardisierten Betrachtung, sondern bedürfen vielmehr einer Einzelfallbetrachtung, bei der sämtliche Umstände von etwaig tatsächlichen bzw. etwaig lediglich simulierten Veränderungen in den persönlichen Verhältnissen des Schuldners kurz vor Stellung des Insolvenzantrages für die (international) zuständigkeitsbegründenden Merkmale zu berücksichtigen sind.“. 748 A. A. wohl Fuchs, NZI 2016, 929, 933 mit dem Verweis, dem EuGH könne zur Klärung der Frage, ob ein ordre public-Verstoß ausgeschlossen ist, wenn gegen die Insolvenz eröffnung noch Rechtsbehelfe eingelegt werden können, ein Vorabentscheidungersuchen vorgelegt werden; ähnlich Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 171 ff. Siehe ferner Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 32, der zwischen einem Subsidiaritätserfordernis im Kernbereich des nationalen ordre public und im unionsrechtlich determinierten ordre public differenziert.
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lic-Vorbehalt aktiviert. Denn auch diesbzgl. gilt der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens. Sollte der Mitgliedstaat gar keine Erwägungen hinsichtlich vorrangigen Rechtsschutzes anstellen, ist hierin durchaus ein Fehler zu sehen, der dem EuGH eine richterliche Intervention gestattet kann. bb) Rechtsmissbräuchliches Forum Shopping
Bei der zweiten Fallgruppe, dem rechtsmissbräuchlichen Forum Shopping, wird die Tatsachengrundlage für die Beurteilung des COMI richtig erfasst, diese aber absichtlich mit dem Ziel einer Zuständigkeitsbegründung herbeigeführt. Nach h. A. liegt hierin kein Verstoß gegen den Ordre public, selbst wenn die Zuständigkeitsbegründung allein zum Zwecke der Erlangung einer raschen Restschuldbefreiung erfolgt.749 Es wird angeführt, die Zuständigkeit des Eröffnungsgerichts sei zutreffend angenommen worden. Auch wenn eine Umgehung der Zuständigkeit vorläge, welche die internationale Zuständigkeit eines anderen mitgliedstaatlichen Gerichts begründete, sei dies ein bloßer Rechtsanwendungsfehler, welcher keinen Ordre-public-Verstoß darstellt.750 Dies gelte ebenso im Falle gezielter Gläubigerschädigungsabsicht des den COMI verlagernden Schuldners, in welchem eine Verletzung wesentlicher Verfahrensgarantien durch das entscheidende Gericht mehr als fraglich sei.751 Zum anderen konterkarierte man mit einer Versagung der Anerkennung durch Berufung auf den Ordre public das effektive Zuständigkeitssystem der EuInsVO und die sich aus dem Urteil Staubitz-Schreiber752 des EuGH ergebenden, die Perpetuierung des Interessenmittelpunkts betreffenden Wertungen.753 Der Grundsatz gemeinschaftlichen Vertrauens und die Bindungswirkung des Art. 19 Abs. 1 EuInsVO würden systemwidrig ausgehöhlt.754 Fehlentscheidungen seien bis zur Willkür-
749 BGH, Urt. v. 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13 = NZI 2016, 93, 94 Rn. 12; Brinkmann/ Frevel, in: Basedow et al. (Hrsg.), FS Klamaris, S. 109, 119 f.; Büchler, Restschuldbefreiungstourismus, S. 188; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320; Koch, in: Mansel/Pfeiffer/ Kronke/Kohler/Hausmann (Hrsg.), FS Jayme, S. 437, 443; Weller, ZGR 2008, 835, 849 ff.; Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 134 – 139. A. A. wohl VG Leipzig, Urt. v. 13. 09. 2011 – 6 K 86/08 – juris, Rn. 50; Verstoß bei evidentem Missbrauch d’Avoine, NZI 2011, 310, 313 und ebenso Schwemmer, NZI 2009, 355, 358. Ohne auf den ordre public zu rekurrieren, wollen Ackmann/Wenner, IPRax 1990, 209, 213 Fn. 61 die Restschuldbefreiung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls versagen, wenn Rechtsmissbrauch vorliegt. 750 Jacoby, GPR 2007, 200, 205. 751 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901. 752 EuGH, Rs. C-1/04, Staubitz-Schreiber, ECLI:EU:C:2006:39. 753 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901. 754 LG Mosbach, Urt. v. 17. 01. 2014 – 5 T 62/13 = ZInsO 2015, 316, 317.
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grenze hinzunehmen.755 Daran ändere sich wegen der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Gesamtverfahren auch nichts im Falle eines fehlenden effektiven Rechtsbehelfssystems.756 Dieser Beurteilung ist im Ergebnis zuzustimmen, zumal mit der Einführung der Période suspecte als Konkretisierung des abstrakten Rechtsmissbrauchskonzepts der Ordre public noch weniger Raum greift als bisher. d) Kurze oder fehlende Treuhandperiode
Ob eine kurze oder gar fehlende Treuhandperiode einen Verstoß gegen den Ordre public begründet, wird angesichts erheblicher mitgliedstaatlicher Regelungsdivergenzen kontrovers diskutiert.757 Nach Angaben der EU-Kommission beträgt die Dauer bis zur Erteilung einer Schuldbefreiung in der EU je nach Mitgliedstaat zwischen einem und zehn Jahren.758 Jedenfalls kann, nur weil eine Restschuldbefreiung nach ausländischem Recht leichter als nach deutschem Recht zu erlangen ist, hierin noch keine Verletzung des deutschen Ordre public erblickt werden.759 Dem Verordnungsgeber seien schließlich alle bestehenden Insolvenzrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt gewesen.760 Für die Ordre-public-Konformität einer kurzen Periode wird auf der einen Seite die Floskel eines nicht vorhandenen starken Widerspruchs mit dem Grundgedanken des 755
Niggemann/Blenske, NZI 2003, 471, 479. LG Mosbach, Urt. v. 17. 01. 2014 – 5 T 62/13 = ZInsO 2015, 316, 317. 757 Eine schnellere Restschuldbefreiung als ordre-public-konform bewertend BFH, Beschl. v. 27. 01. 2016 − VII B 119/15 = NZI 2016, 929, 930 Rn. 23; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 08. 2013 – I-22 U 37/13, 22 U 37/13 – juris, Rn. 69; VG Wiesbaden, Urt. v. 19. 04. 2016 – 1 K 269/14.WI –, juris Rn. 52; VG Leipzig, Urt. v. 13. 09. 2011 – 6 K 86/08 – juris, Rn. 50; VG Leipzig, Urt. v. 13. 09. 2011 – 6 K 86/08 – juris, Rn. 50; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320; Mansel, in: Kronke, Herbert/Thorn Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 695; ähnlich Koch, in: Mansel/Pfeiffer/Kronke/Kohler/Hausmann (Hrsg.), FS Jayme, S. 437, 443; Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 174; Wyen, Rechtswahlfreiheit im europäischen Insolvenzrecht, S. 168. 758 Siehe http://ec.europa.eu/information_society/newsroom/image/document/2016– 48/eu_factsheet_40047.pdf (abgerufen am 16. 03. 2018). 759 Vallender, NZI 2014, 283, 286. 760 Niggemann/Blenske, NZI 2003, 471, 479. Diese These wird von Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 547 mit dem Verweis darauf widerlegt, dass sonst „Vorschriften des materiellen Insolvenzrechts und des Insolvenzverfahrensrechts eines Mitgliedstaates, auch wenn sie von den inländischen Bestimmungen erheblich abweichen, niemals einen ordre public-Verstoß begründen“ könnten. Außerdem seien „seit dem Inkrafttreten der EuInsVO neue Mitgliedstaaten hinzu“ gekommen. Diesen Ausführungen von Fuchs kann zugestimmt werden, zumal einige Mitgliedstaaten seit dem Inkrafttreten der EuInsVO ihre Insolvenzrechtsordnungen reformiert haben. 756
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deutschen Rechts bemüht.761 Auf der anderen Seite sei die lange Treuhandperiode des deutschen Rechts zwar ein wesentliches Erschwernis auf dem Weg zur Restschuldbefreiung, inwiefern sich daraus höhere Befriedigungsquoten ergäben, sei für das Gericht aber nicht erkennbar.762 Teilweise werden eine unangemessen kurze Treuhandperiode oder der vollständige Verzicht darauf für ordre-public-widrig gehalten.763 Wiederum andere wollen auch in diesem Fall des völligen Verzichts keinen Verstoß erkennen.764 Sie führen an, allein die Verankerung der Restschuldbefreiung als Institut in der ausländischen Rechtsordnung führe zur Konformität.765 Anzumerken bleibt, dass der Einwand der Unangemessenheit wenig zur Diskussion beiträgt, da im Dunkeln liegt, ab wann die Treuhandperiode als unangemessen kurz zu qualifizieren ist. Da die Bewertung der angesprochenen Fallkonstellation eine ausführliche Begutachtung verfassungsrechtlicher Fragestellungen impliziert, soll erst an späterer Stelle nach Skizzierung verfassungsrechtlicher Grundlagen eine Stellungnahme hierzu gegeben werden.766 e) Mindestbefriedigungsquote
Das Fehlen einer Mindestbefriedigungsquote stellt nach vorherrschender Auffassung keinen Verstoß gegen den deutschen Ordre public dar.767 Schließlich seien im Verbraucherinsolvenzverfahren auch Nullpläne zulässig. Das Argument der Zulässigkeit von Nullplänen verfängt aber nicht generell. Diese werden privatautonom ausgehandelt, unterstehen eben der Disposition der Parteien. Demgegenüber hat der Schuldner im Restschuldbefreiungsverfahren 761 VG Leipzig, Urt. v. 13. 09. 2011 – 6 K 86/08 – juris, Rn. 50: „Die deutsche öffentliche Ordnung ist nur verletzt, wenn das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint.“; im Ergebnis gleich OLG Celle, Beschl. v. 27. 11. 2012 – 2 U 147/12 = ZInsO 2013, 1002, 1003. Diese Formulierung verwendete der BGH bereits zuvor in ähnlichem Kontext BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961. 762 BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961; VG Leipzig, Urt. v. 13. 09. 2011 – 6 K 86/08 – juris, Rn. 50. 763 Völliger Verzicht: Müller, in: Mankowski/Müller/Schmidt (Hrsg.), EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 25. Unangemessen kurze Treuhandperiode: Mankowski, KTS 2011, 185, 201 f. 764 Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320. 765 Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320. 766 § 4. E. II. 5. 767 So wohl BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961. Ambach, Reichweite und Bedeutung von Art. 25 EuInsVO, S. 253 f.; Mankowski, KTS 2011, 185; Vallender, ZInsO 2009, 616, 620.
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einen subjektiven Anspruch auf Erteilung der Restschuldbefreiung. Dies greift umso mehr in die Gläubigerrechte ein, als sie nicht konsensual daran beteiligt werden. Jedoch erlangt der Schuldner am Ende des gesetzlichen Restschuldbefreiungsverfahrens nach den §§ 286 f. InsO ohne Erfüllung einer Mindestquote die Schuldbefreiung.768 Allein dies spräche dafür, das Mindestquotenerfordernis nicht zum deutschen Ordre public zu zählen. Dem steht jedoch ein gewichtiger Einwand entgegen. Zur Kompensation für das Fehlen eines solchen Erfordernisses dient im deutschen Recht eine zeitlich lange Treuhandperiode. Gerade die Erteilung einer vorzeitigen Restschuldbefreiung nach Berichtigung der Verfahrenskosten und Erreichen der in § 300 Abs. 1 Nr. 2 InsO genannten Mindestquote zeigt, dass nur die Quote nach nationalem Verständnis eine kurze Treuhandperiode rechtfertigt. Somit könnten sich durchaus Friktionen ergeben, wenn keine Mindestquote in einem nicht konsensdeterminierten Schuldbefreiungsverfahren vorgesehen, die Treuhandperiode aber im Vergleich zum deutschen Recht sehr kurz bemessen ist. Dies setzte freilich voraus, dass es sich dabei nicht nur um eine in Recht gegossene, einfache politische Wertung handelt, sondern es müsste gleichsam der Kernbestand der Rechtsordnung damit betroffen sein. Analog zu vorigem Abschnitt soll auf die Ordre-public-Relevanz einer fehlenden Mindestbefriedigungsquote erst an späterer Stelle abschließend eingegangen werden.769 f) Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung
Werden Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung von der ausländischen Restschuldbefreiung erfasst,770 ist ein Ordre-public-Verstoß streitig.771
768
BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961. § 4. E. II. 5. 770 Ob eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung vorliegt, bestimmt sich aus der Perspektive des deutschen Rechts, siehe Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 660. 771 Für einen ordre public-Verstoß aber auf den Einzelfall abstellend Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320; in diese Richtung auch Mansel, in: Kronke, Herbert/Thorn, Karsten (Hrsg.), FS von Hoffmann, S. 694; ebenso Vallender, ZInsO 2009, 616, 620. A. A. gegen einen Verstoß Mankowski, KTS 2011, 185, 202; Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1251; Schönen, ZVI 2009, 229, 231. Hingegen nimmt Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn. 18 einen ordre public-Verstoß an, wenn Ansprüche von der ausländischen Restschuldbefreiung erfasst werden, die auf der Verletzung deutscher Strafvorschriften beruhen. 769
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aa) Ordre public-Konformität
Für die Vereinbarung mit dem Ordre public wird vorgetragen, die Annahme eines Verstoßes würde dem engen Ausnahmecharakter des Ordre public nicht gerecht.772 Außerdem sei es zweifelhaft, ob die dauerhafte Durchsetzbarkeit von Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung elementar für die deutsche Rechtsordnung ist,773 zumal wenn das ausländische Recht entsprechende Schutzmechanismen für Deliktsgläubiger vorsieht.774 Selbst der deutsche Gesetzgeber könne vielmehr – ohne offensichtlichen Verstoß gegen Grundprinzipien und Grundrechte – aufgrund seines gesetzgeberischen Ermessens dem Gedanken der Resozialisierung Vorrang vor dem Wiedergutmachungsprinzip einräumen, wenn dem Schuldner kriminelle Handlungen zur Last fallen.775 Er sei demzufolge berechtigt, nach einer objektiv vertretbaren Abwägung mit den berechtigten Interessen der Gläubiger die Restschuldbefreiung auch auf Forderungen aus vorsätzlicher begangener unerlaubter Handlung zu erstrecken.776 Aus diesem Grund verstoße es nicht gegen den Ordre public, wenn eine ausländische Rechtsordnung eine Restschuldbefreiung auch von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung kenne. bb) Ordre public-Verstoß
Dagegen wird die Nähe solcher Forderungen zum Strafrecht angeführt (man betrachte z. B. §§ 403 ff. StPO oder § 823 Abs. 2 BGB).777 Es läge ein nicht gerechtfertigter Grundrechtseingriff vor.778 Verletzt sein können bspw. Art. 2 Abs. 2 GG oder Art. 14 GG. Jedoch soll der Ordre public nur bzgl. der entsprechenden Forderung angewandt werden.779 Schlussendlich wird für einen Ordre-public-Verstoß noch vorgetragen, Art. 16 Abs. 1 Satz 2 des Vorentwurfs von Vorschriften zur Neuordnung des Internationalen Insolvenzrechts (im Folgenden: VE-EGInsO)780 sollte nach dem Willen des historischen Gesetzgebers sicherstellen, dass Forderungen aus einer 772
Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1251. Mankowski, KTS 2011, 185, 202. 774 BGH, Urt. v. 27. 05. 1993 – IX ZR 254/92 = NJW 1993, 2312, 2314; Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1251. 775 BGH, Urt. v. 27. 05. 1993 – IX ZR 254/92 = NJW 1993, 2312, 2314. 776 Vgl. auch Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 101 ff. 777 Vallender, ZInsO 2009, 616, 620. 778 Vallender, ZInsO 2009, 616, 620. 779 Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320; Vallender, ZInsO 2009, 616, 620. 780 Vorentwurf des Bundesministeriums der Justiz von Vorschriften zur Neuordnung des Internationalen Insolvenzrechts vom 01. 03. 1989, abgedruckt in Stoll, Stellungnahmen und Gutachten, S. 7. 773
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vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung des Schuldners, auch im Falle der Erfassung von einer ausländischen Restschuldbefreiung, im Inland durchgesetzt werden können.781 Bei Art. 16 Abs. 1 VE-EGInsO handele es sich um eine Konkretisierung der allgemeinen Ordre-public-Klausel, sodass ein Ordre-public-Verstoß vorliege, wenn die ausländische Restschuldbefreiung Forderungen aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung erfasse.782 Die Vorschrift sei nur deswegen nicht Gesetz geworden, weil man sich zur Einführung einer generalklauselartigen Ordre-public-Vorschrift entschloss.783 Anhaltspunkte für eine Änderung der rechtspolitischen Aussage des Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO seien nicht gegeben, zumal der Gesetzgeber bei Schaffung der Insolvenzordnung der Meinung war, der Schuldner verdiene – auch angesichts der Ausgleichsfunktion des Deliktsrechts – 784 die Restschuldbefreiung von Forderungen aus vorsätzlich unerlaubter Handlung nicht.785 cc) Stellungnahme: Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung
Selbst wenn man unterstellte, bei Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO handele es sich um eine Konkretisierung des allgemeinen Ordre public, hieße das allein noch nicht, dass die Interessenabwägung des Gesetzgebers dazu führt, die Ausnahme von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung von der Restschuldbefreiung zum Wesen der nationalen Rechtsordnung, also zu ihrem unabdingbaren Kernbestand, zu zählen. Bereits wegen des Alters des Vorentwurfs und der Tatsache, dass er nie Gesetzesform erlangte, sollte dem Argument kein zu großes Gewicht beigemessen werden. Dies ist letztlich aber auch gar nicht entscheidend. Vielmehr muss 781 Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 658 f., der sich auf die Begründung des Bundesministeriums der Justiz zum Vorentwurf von Vorschriften zur Neuordnung des Internationalen Insolenzrechts vom 01. 03. 1989, abgedruckt in Stoll, Stellungnahmen und Gutachten, S. 14, 39 beruft. 782 Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 659, der aber auf S. 571 selbst einräumt, dass die Erläuterungen des Bundesministeriums der Justiz auf Gegenteiliges hindeuten. 783 Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 659. 784 BT-Drucks. 17/11268, S. 43. 785 Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 659 mit Verweis auf BT-Drucks. 12/2443, S. 190 sowie BGH, Urt. v. 16. 11. 2010 – VI ZR 17/10 = NZI 2011, 64, 65 („Die vom Gesetz angeordnete Nachhaftung aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen ist wegen deren besonderen Unrechtsgehalts gerechtfertigt.“) und BGH, Urt. v. 21. 06. 2007 – IX ZR 29/062855 = NJW 2007, 2854, 2855 Rn. 10 („Das Gesetz hält es für unbillig, dass ein Schuldner von Verbindlichkeiten gegenüber einem Gläubiger befreit wird, den er vorsätzlich geschädigt hat.“).
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Art. 33 EuInsVO im Blick behalten werden. Dieser regelt den Ordre public und konkretisiert ihn gleichsam, indem er auf Grundprinzipien und verfassungsmäßig garantierte Rechte und Freiheiten des Einzelnen abstellt. Nur ein Verstoß hiergegen oder jedenfalls eine Verletzung der inländischen öffentlichen Ordnung, die ersterem in ihrer Qualität hinreichend ähnelt, ist tatbestandsmäßig. Insofern überlagert Art. 33 EuInsVO die Wertung des Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO. Die Mitgliedstaaten bestimmen zwar autonom den Inhalt des nationalen Ordre public, müssen sich aber an die europäischen Rahmenvorgaben halten. Die einfache gesetzgeberische Wertung, Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung von der Restschuldbefreiung auszuschließen, zählt nicht per se zum nationalen Ordre public. Indes bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, Verfassungsrecht durch einfaches Recht zu konkretisieren. Sollte es sich bei Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO um eine solche Konkretisierung handeln, bedeutete dies aber immer noch keinen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Die Frage ist, ob Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO eine solch wesentliche Ausprägung grundrechtlich geschützter Individualrechte und nicht nur eine bloße Billigkeitsregelung786 ist, dass er zum Kernbestand des inländischen Ordre public zählt. Nähme man eine Prüfung allenfallsig einschlägiger Grundrechte vor, müssten in die Abwägung der widerstreitenden Interessen auch etwaige Schutzvorkehrungen im Staat der Restschuldbefreiung miteinfließen. Besorgnis erregt die Überlegung, der Schuldner könnte eine vorsätzlich unerlaubte Handlung gegenüber einem Gläubiger zielgerichtet mit Schädigungsabsicht in dem Wissen der baldigen Restschuldbefreiung begehen. Jedoch wird ausreichender Schutz bspw. über das Strafrecht, die Versagungs- und Widerrufsvorschriften und die Obliegenheiten des deutschen Insolvenzrechts vermittelt.787 Die vorhandenen Regeln vermögen solche Taten effektiv präventiv zu verhindern. Der Gesetzgeber kommt seiner Schutzpflicht nach. Was aber die Konsequenz dieser Taten anbelangt, so steht dem Gesetzgeber einiger Spielraum zu. Er ist folglich frei gehalten, den wirtschaftlichen Neustart zu priorisieren und den zivilrechtlichen Ausgleich hintanzustellen. Ferner genießt allein der Rechtsgrund der vorsätzlich unerlaubten Handlung gegenüber anderen Rechtsgründen kein besonderes verfassungsrechtlich höheres Schutzniveau. Misst man somit die mit dem Art. 16 Abs. 1 S. 2 VE-EGInsO getätigte rechtspolitische Aussage am Wertgehalt der Grundprinzipien und Grundrechte, zeigt sich in der hypothetischen Situation einer Restschuldbefreiung von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung kein zwingender Verstoß gegen grundgesetzliche Rechte und Freiheiten. Jedenfalls privilegiert 786 So BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 14; BGH, Urt. v. 21. 06. 2007 – IX ZR 29/06 = NJW 2007, 2854, 2855 Rn. 9. 787 Zu den Versagungsgründen BT-Drucks. 12/2443, S. 194.
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allein dieser Rechtsgrund unabhängig von anderen verfassungsrechtlichen Erwägungen nicht derart, dass er zu einem Ordre-public-Verstoß führen könnte. g) Fazit: Ordre public
Der Ordre public ist das einzig echte Korrektiv, um einer gänzlich untragbaren Eröffnungsentscheidung zu entkommen. Jedoch ist er ein enges Tor, welches kaum durchschritten werden kann. Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens und das Verbot der révision au fond dürfen auch nicht durch Berufung auf den Ordre public umgangen werden. Er ist notwendiges Zugeständnis an die Mitgliedstaaten, ein letztes Reservoir nationalstaatlicher Souveränität, welches es eigentlich bei ausreichender (Werte-)Homogenität nicht geben dürfte. Gerade die EuInsVO baut auf den Gemeinsamkeiten der Mitgliedstaaten auf. Der Ordre public ist Ausdruck dessen, dass grosso modo mitgliedstaatliche Kongruenz besteht, im Detail aber erhebliche Differenzen existieren, welche in extremen Situationen nationalstaatlich nicht hingenommen werden können. Obschon rechtspolitisch die Zurückdrängung des Ordre public gefordert wird,788 sollte dies also angesichts der immer noch bestehenden, signifikanten Regelungsdivergenzen nicht geschehen.789 Wird der Ordre public zurückhaltend angewandt, überwiegen beim momentanen Stand des Unionsrechts die Argumente für seine Beibehaltung.790 Im hier vertretenen Rahmen wurde der Meinungsstand hinsichtlich der Frage eines Ordre-public-Verstoßes bei der fehlerhaften Annahme der internationalen Zuständigkeit, betrügerischem und missbräuchlichem Forum Shopping, kurzen oder fehlenden Treuhandperioden, fehlenden Mindestquoten und der Schuldbefreiung von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung dargelegt. Dabei wurden die vertretenen Standpunkte kritisch hinterfragt und eigene Stellungnahmen abgegeben. Augenfällig ist, dass bislang keine ausreichende verfassungsrechtliche Würdigung der Sachverhaltskonstellationen stattgefunden hat und auch sonst wenig zu den angeblich verletzten Individualrechten gesagt wurde.791 Allein auf diese muss es vorliegend aber ankommen. 788 Dazu m. w. N. von Hein, in: Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 34 EuGVO Rn. 3. 789 Kohler, ZeuS 2016, 135; Laukemann, IPRax 2012, 207 214; auch Leible, in: Rauscher (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Band I, Art. 45 Rn. 5. Zu Divergenzen im Bereich des ordre public wegen europäischer Grundrechte vgl. Ciacchi, Internationales Privatrecht, ordre public européen und Europäische Grundrechte, S. 37 f. 790 Nach Kindler, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Recht, Band 12, Art. 33 Rn. 22 ist Art. 258 AEUV aus Sicht der EU bei missbräuchlichem Berufen auf die öffentliche Ordnung in Betracht zu ziehen. 791 Siehe nur die dürftige Auseinandersetzung hiermit bei AG Göttingen, Beschl. v. 10.12. 2012 − 74 IN 28/12 = NZI 2013, 206, 207: „Der Schutz des Eigentumsrechtes der
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
C. Fazit: Restschuldbefreiungstourismussowie EuInsVO und Schutzvorkehrungen Der Restschuldbefreiungstourismus und die EuInsVO gehen Hand in Hand. Ursprünglich als Werkzeug gegen diesen gedacht,792 erleichterte sie ihn im Ende. Die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und das Rennen um ein möglichst günstiges, wirtschaftsgefälliges und teils schuldnerfreundliches Insolvenzrecht verselbstständigen die Entwicklung. Sie bieten die Anreize zum Forum Shopping. Das Forum Shopping ist einerseits eine Selbstverständlichkeit und als Ausdruck individueller Freizügigkeit integraler Bestandteil der EU. Andererseits zeitigt es unerwünschte, einseitig berechtigte Interessen ignorierende Nachteile, die von seinen Vorteilen en gros nicht kompensiert werden. Die grundsätzliche Differenzierung zwischen betrügerischem und missbräuchlichem Forum Shopping hat der Verordnungsgeber vorgenommen. Während der Schuldner bei ersterem rechtswidrig agiert, ist letzteres ein Feld voller dogmatischer Subtilitäten und nicht gänzlich ineinandergreifender Erklärungsmodelle. Das hier vertretene rechtsethische Missbrauchskonzept kann als Ausgangspunkt der weiteren Diskussion dienen. Der de lege lata zunächst rechtsfolgenlose rechtsethische Befund missbräuchlichen Forum Shopping soll den Gesetzgeber zu einer Konkretisierung und Schaffung von Rechtssicherheit anregen. Um dem Forum Shopping einen Riegel vorzuschieben, bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Auch die Neufassung der EuInsVO enthält verschiedene Schutzvorkehrungen gegen betrügerisches und missbräuchliches Forum Shopping. Sie bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen größtmöglicher Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Insolvenzverfahren und dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, der vor dem Hintergrund des Restschuldbefreiungstourismus auf eine harte Probe gestellt wird. Die Versagung der Hauptverfahrenseröffnung ist aus grammatischen, systematischen und Gläubiger (Art. 14 GG) verbietet eine Anerkennung derartiger Entscheidungen unabhängig von der Frage einer konkreten Beeinträchtigung im Einzelfall.“; AG Nürnberg, Beschl.v. 15. 08. 2006 – 8004 IN 1326 bis 1331/06 = NZI 2007, 185, 186: „Das englische Insolvenzgericht hat seine Zuständigkeit nicht eigenständig geprüft, sondern allein auf Grund der unsubstanziierten Behauptungen der Ast. die Eröffnung eines englischen Hauptinsolvenzverfahrens beschlossen. Hierdurch wurde ein wesentliches Verfahrenserfordernis zum Schutz der Interessen der von dem Insolvenzverfahren Betroffenen, insbesondere der Freiheitsgrundrechte der deutschen Gläubiger, verletzt. […] Die Anerkennung einer offensichtlich unrichtigen, auf einer Täuschung beruhenden Eröffnungsentscheidung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaates würde der rechtlichen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland widersprechen.“. 792 Vgl. auch COM(2012) 742 final, S. 2.
C. Fazit: Restschuldbefreiungstourismus
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teleologischen Erwägungen heraus abzulehnen. Einen breiteren Ansatzpunkt bietet die Versagung der Anerkennung bei positiven Kompetenzkonflikten. Wenngleich die herrschende Auffassung hier klare Wege beschreitet, entbehrt dies nicht einer ausführlichen, argumentativen Auseinandersetzung mit den gewichtigen, gegenteiligen Argumenten. Dies wurde hier zu Gunsten der herrschenden Auffassung geleistet. Eine Anerkennungsversagung ist kein gangbarer Weg, um im Rahmen der EuInsVO den Restschuldbefreiungstourismus zu bekämpfen. Anders ist dies beim zweistufigen gerichtlichen Kontrollsystem der Artt. 4, 5 EuInsVO. Obwohl im Detail Korrekturen vorgenommen und Missverständnisse beseitigt werden müssen, ist mit Einführung dieser Vorschriften ein großer Schritt gelungen. Das Partikular-, speziell: das Sekundärinsolvenzverfahren, sollte nicht als der Goldstandard der Schutzvorkehrungen angesehen werden. In der überwiegenden Anzahl der Fälle, z. B. bei den nicht selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen Schuldnern, bei geringer Insolvenzmasse oder dem Erfordernis einer schnellen Verfahrensabwicklung, ist es keine Option. Zudem versucht der Verordnungsgeber, Sekundärinsolvenzverfahren mit dem Instrument der Zusicherung zu vermeiden, weswegen sie allein aus diesem Grund zukünftig seltener durchgeführt werden. Dennoch können sie in wenigen Fällen vorhandene, missbräuchlich genutzte Spielräume des Schuldners besser als die anderen Schutzvorkehrungen einschränken und so noch verbliebene, enge Schlupflöcher füllen. Die Einführung der Période suspecte dient vor allem der Bekämpfung missbräuchlichen Forum Shopping. Sie ist sehr zu begrüßen, wenngleich empirische Nachforschungen zeigen müssen, inwiefern sie länger oder kürzer ausgestaltet werden muss, um auf der einen Seite Forum Shopping zu unterbinden und auf der anderen Seite nicht über Gebühr in die Grundfreiheiten einzugreifen. Als einziges echtes Korrektiv im engeren Sinne ist der Ordre public anzuführen. Dieser hat jedoch einen sehr beschränkten Einsatzbereich. Der Verordnungsgeber hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er mit den Artt. 4, 5 EuInsVO, der Ermöglichung von Partikularinsolvenz verfahren und der Initiierung einer Période suspecte grundsätzlich die erneute Nachprüfung der Eröffnungsentscheidung nicht gutheißt. Der Ordre public ist aufgrund seiner Konzeption nicht geeignet, den Restschuldbefreiungstourismus systematisch und strukturell einzudämmen. Dies müssen und können die Artt. 4, 5 EuInsVO, die Partikularinsolvenzverfahren und die Période suspecte besser leisten. Die Anwendung auf die diskutierten Sachverhaltskonstellationen resultiert nicht aus abstrakten Erwägungen, sondern kann sich – wenn überhaupt – erst nach einer verfassungsrechtlichen Prüfung ergeben. Indessen sieht auch der EU-Gesetzgeber die EuInsVO nicht als Abschluss eines europäisch-legislatorischen Insolvenzrechtprozesses. Er hat, ähnlich wie der deutsche Gesetzgeber mit Art. 107 EGInsO, Überprüfungs- und Revisionsklauseln in die EuInsVO eingefügt, um die regelmäßige Aktualisierung und An-
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§ 3 Unionsrechtliche Dimension
passung von Rechtsvorschriften zu gewährleisten.793 Obschon das kein Novum in der Historie der Unionsrechtsakte ist, indiziert Art. 90 EuInsVO besonders vor dem skizzierten Hintergrund, dass – gestützt auf rechtstatsächliche Erfahrungen – weitere Korrekturen nötig sein werden, um einem Missbrauch des europäischen Gedankens der interstaatlichen Mobilität vorzubeugen. Daher enthält Art. 90 EuInsVO neben einer allgemeinen Überprüfungsklausel in Abs. 1 in Abs. 4 eine spezielle Klausel betreffend missbräuchliches Forum Shopping. Die geforderte Studie dazu kann mit Spannung spätestens bis zum 27. Juni 2020 erwartet werden. Es bleibt zu konstatieren, dass Restschuldbefreiungstourismus wohl nie gänzlich verhindert werden kann. Inwiefern sich der Brexit auf das Insolvenzrechtsgefüge zwischen den Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich auswirkt, bleibt abzuwarten.794 Jedenfalls werden in einer grundfreiheitlich geprägten Union auch pro futuro immer Versuche unternommen, günstigere Rechtspositionen durch eine Änderung des anwendbaren Rechts zu erreichen. Wenngleich eine echte Verlagerung des COMI (ggf. außerhalb der Période suspecte) einen für den Schuldner erheblichen Aufwand bedeutet – muss er doch vielerlei in seinem Heimatstaat aufgeben –,795 so wird es immer eine relativ mehr oder minder kleine Gruppe von Schuldnern geben, die sich auch davon nicht abhalten lässt.796 Dies können Schuldner sein, die über relativ hohe, regelmäßige Einkünfte verfügen oder denen zwecks Entschuldung nicht unerhebliche Drittmittel zugewendet werden. Damit korreliert die Prognose, dass nur finanzstarke Gläubiger die Beitreibung ihrer Forderungen grenzüberschreitend verfolgen werden.797 793 Aktionsplan der Kommission „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“, KOM(2002) 278 endgültig, S. 8. Siehe auch „Bessere Ergebnisse durch bessere Rechtsetzung – Eine Agenda der EU“, COM(2015) 215 final. 794 Eine erste Einschätzung lieferten bereits Vallender, VIA 2016, 57 ff. und Weller/ Thomale/Benz, NJW 2016, 2378 ff. Internetseiten weisen bereits auf eine Verschiebung des Restschuldbefreiungstourismus nach Irland hin, vgl. https://anwalt-kg.de/insolvenzrecht/irische-insolvenz/oder http://www.asset-protection-management.com/insolvenz-inirland-die-irland-insolvenz-im-uber blick-eu-insolvenz/; vgl. ferner https://www.ra-franzke.de/eu-insolvenz/private-insolvenz-in-irland/oder http://www.kanzlei-drwagner.com/ eu-insolvenzen/pro-contra-irland.html (alle zuletzt abgerufen am 02. 01. 2019). Ob das dortige Insolvenzrecht aus deutscher Perspektive komparativ wesentlich günstiger ist, darf m. E. bezweifelt werden. Es wird sogar mit der Privatinsolvenz in Lettland geworben, vgl. https://www.england-insolvenz.com/eu-insolvenzen/pro-contra-lettland/geheimtipp-lettland.html (zuletzt abgerufen am 02. 01. 2019). 795 Dazu Mankowski, NZI 2005, 368, 372. 796 Nach McCormack/Keay/Brown, European Insolvency Law, S. 329, 403 solle man die Gefahr des Restschuldbefreiungstourismus nicht überschätzen. 797 Ähnlich Dimmling, ZInsO 2007, 1198, 1201; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 311: Kleingläubiger seien die „wahren Verlierer des Restschuldbefreiungstourismus“.
C. Fazit: Restschuldbefreiungstourismus
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Letztlich kann es nur darum gehen, Restschuldbefreiungstourismus soweit wie möglich einzudämmen, ohne eine übermäßige Einschränkung der unionalen Grundfreiheiten zu bewirken. Dies ist, vorbehaltlich zukünftiger empirischer Nachweise und Korrekturnotwendigkeiten, mit den erörterten Mechanismen durchaus gelungen. Als Allheilmittel könnte sich die Wegnahme der Anreize zum Forum Shopping durch Angleichung der mitgliedstaatlichen Vorschriften erweisen,798 was jedoch in Deutschland mit der Einführung der dreijährigen Treuhandperiode nach § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 InsO nicht geglückt ist. Zum einen haben nur die allerwenigsten Schuldner überhaupt die geforderte 35 %-Quote erfüllen können, zum anderen bieten andere mitgliedstaatliche Rechtsordnungen nach wie vor erheblich kürzere Treuhandperioden ohne eine so hohe Mindestquote.
798 Zur Schaffung von eigenständigem grenzüberschreitenden Insolvenzrecht, welches über die Koordinierung grenzüberschreitender Insolvenzverfahren hinausgeht Mock, GPR 2013, 156, 157, 166. Auch Prager/Keller, NZI 2013, 57, 64: „Die EuInsVO wird somit zur Keimzelle eines einheitlichen europäischen Insolvenzrechts.“.
§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)und verfassungsrechtlicher Rahmen § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
Natürlich zählt der Richtlinienvorschlag der Kommission auch zur europäischen Dimension der Restschuldbefreiung. Aufgrund seiner Aktualität und Folgewirkungen799 für die Entschuldung natürlicher Personen soll ihm ein eigenes Kapitel gewidmet sein. Bereits seit längerer Zeit wird die Angleichung der mitgliedstaatlichen Insolvenzrechte als potentes und weitreichendes Mittel in den Raum geworfen, welches dem Restschuldbefreiungstourismus seine Grundlage in erheblichem Maße entziehen kann.800 Die EU hat mit dem Richtlinienvorschlag eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Regelungen auf den Weg gebracht,801 welche Anpassungen im Recht der Restschuldbefreiung de lege ferenda nötig werden lässt. Augenscheinlich sind die mit einer Harmonisierung verbundenen Gefahren: Kommt es zu einem race to the top oder realisiert sich die Gefahr eines race to the bottom?802 Und auch weiter stellt sich die Frage, inwiefern durch den avisierten europäischen Rechtsakt in das wohlaustarierte nationale Insolvenzregime eingegriffen werden kann. Etwaige Folgewirkungen müssen ob ihrer Erheblichkeit abgeschätzt und nationale Wertungen ausreichend berücksichtigt werden. 799 Bergner/Berg, zfm 2017, 96, 99 meinen, die neue Höchstfrist führe zu tiefen Änderungen und stellte in ihren Wirkungen alle sonstigen schuldnerfreundlichen Änderungen der Verbraucherinsolvenz seit 1999 in den Schatten; vgl. auch auf S. 100: „neue Dimension der Restschuldbefreiung“. Zur Revision der Rechtsprechung zu sittenwidrigen Nahbereichsbürgschaften vgl. Berg, ZInsO 2018, 2787 ff. 800 Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901: „Der zweifellos beste Weg, forum shopping der hier behandelten Art zu unterbinden, besteht jedoch in der Angleichung der nationalen Insolvenz- und Sachrechte.“; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 322: „Will man den Restschuldbefreiungstourismus wirksam bekämpfen, gibt es freilich nur einen sicheren Weg: die bindende Vereinheitlichung der Dauer eines Verbraucherinsolvenzverfahrens bzw. der Wohlverhaltensperiode durch den europäischen Gesetzgeber.“. 801 Prager/Keller, NZI 2013, 57, 64: „Klar ist aber auch, dass dort, wo eine Vereinheitlichung des Sachrechts angestrebt wird, die Richtlinie und nicht die Verordnung das Mittel der Wahl ist, weil sie mangels unmittelbarer Geltung Doppelregelungen vermeidet.“. 802 Nach Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 896, 901 muss sich eine ernsthaft betriebene Angleichung nicht zwingend als „race to the bottom“ darstellen. Letzteres befürchtet aber der Bundesrat hinsichtlich des Richtlinienvorschlags, BR-Drucks. 1/17, S. 5 Punkt 7. Ferner Hopt, ZIP 1998, 96, 98 f.; Klöhn, KTS 2006, 259, 266 ff.; Straubhaar, in: Schenk/ Schmidtchen/Streit/Vanberg (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, S. 243, 247.
§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
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Selbst die Europäische Kommission bewertet die deutschen Insolvenzregelungen vorbehaltlich kleiner „Verbesserungen“ als gut funktionierend.803 Umso mehr drängt sich die Frage nach den Modalitäten der Implementierung unionsrechtlicher Vorgaben auf. Insbesondere die unionsrechtlich dogmatischen und national verfassungsrechtlichen Grundlagen sind von Interesse. Diese aspektiv zu untersuchen ist Anspruch des vorliegenden Kapitels. Am 21. 08. 2018 legte der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments einen Bericht über den Richtlinienvorschlag der Kommission vor.804 Dem folgte am 01. 10. 2018 ein Vermerk zur allgemeinen Ausrichtung des Rates.805 Darüber hinaus kamen Parlament und Rat am 17. 12. 2018 zu einer Einigung in Bezug auf die finale Fassung des Richtlinientextes.806 Diese Dokumente weichen allesamt nicht unerheblich von der ursprünglichen Kommissionsfassung ab.807 Für den Gang der nachfolgenden Untersuchung sind diese Abweichungen jedoch irrelevant, weil die betrachteten Fragen grundlegender Natur sind und sich daher unabhängig von den Einzelheiten etwaiger Abweichungen stellen. Den folgenden Ausführungen ist daher die Kommissionsfassung zu Grunde gelegt. Auf eine Synopse der verschiedenen Entwürfe wird verzichtet. Lediglich in den Fußnoten wird an gegebener Stelle auf wesentliche Abweichungen hingewiesen.808
803 Siehe nur C(2017) 3783 final, S. 2: „Deutschland hat eine gut funktionierende Insolvenzregelung, doch könnte diese noch verbessert werden, indem für mehr Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten Anreize für eine frühzeitige Restrukturierung geschaffen werden, anstatt diese Unternehmen abzuwickeln.“. 804 Bericht (A8 – 0269/2018) vom 21. August 2018 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/ EU (COM(2016)0723 – C8 – 0475/2016 – 2016/0359(COD)), abrufbar unter http://www. europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A8–2018–0269+0+ DOC+XML+V0 //DE (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 805 Interinstitutionelles Dossier: 2016/0359(COD), Brüssel, den 1. Oktober 2018 (OR. en), 12536/18, JUSTCIV 26/EJUSTICE 126/ECOFIN 852/COMPET 630/EMPL 441/SOC 567/CODEC 154. 806 Interinstitutional File: 2016/0359(COD), Brüssel, 17 December 2018, (OR. en), 15556/18, LIMITE, JUSTCIV 313/EJUSTICE 180/ECOFIN 1211/COMPET 876/EMPL 591/ SOC 786/CODEC 234. 807 Vgl. kursorisch Bornemann, jurisPR-InsR 19/2018 Anm. 1; Seagon, NZI 2018, 787 f. 808 Die finale Fassung des Richtlinientextes orientiert sich bezüglich der Entschuldungsvorschriften überwiegend an der Ausrichtung des Rates. Insofern sei auf diese verwiesen. So heißt es auch auf S. 4 der finalen Fassung: „As regards Titles III, IV and V, the European Parliament has largely taken over the text of the General Approach and only little amendments had to be made.“.
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§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
A. Entwicklungsgeschichte des Richtlinienvorschlags Die EU verfolgt schon seit längerem eine Politik der zweiten Chance, mit der sie die Stigmatisierung unternehmerischen Scheiterns überwinden und die Wirtschaftskraft einmal gescheiterter Unternehmer nutzen möchte.809
I. Rat der Europäischen Union und Europäisches Parlament Der Rat der Europäischen Union forderte in seinen Schlussfolgerungen vom 31. 05. 2011810 die Mitgliedstaaten auf, ehrlichen811 Unternehmern bis 2013 eine zweite Chance812 durch Begrenzung der Tilgungs- und Entschuldungsfristen auf drei Jahre einzuräumen.813 Der Rat der Europäischen Union bezog sich explizit nur auf Unternehmer, ohne die Verbraucher miteinzubeziehen. Dem folgte am 15. 11. 2011 eine Entschließung des Europäischen Parlaments814, in der die Harmonisierung einiger Bereiche der mitgliedstaatlichen Insolvenzrechtsordnungen befürwortet wurde.
809 Vgl. KOM(2007) 584 endg. Kursorisch zur Entwicklungsgeschichte SWD(2016) 357 final, S. 189 ff.; COM(2016) 723 final. 810 Schlussfolgerungen des Rates zur Überprüfung der Initiative für kleine und mittlere Unternehmen in Europa („Small Buisness Act“) in der vom Rat (Wettbewerbsfähigkeit) auf seiner Tagung vom 30. Mai 2011 angenommenen Fassung, Dok. Nr. 10975/11, COMPET 222, IND 77, MI 288, ECO 79. 811 Dazu auch COM(2012), 742 final, S. 5 f. „Es muss zwischen ,redlichem‘ und betrügerischem Scheitern unterschieden werden, wobei Letzterem auf keinen Fall Vorschub geleistet werden darf.“ und „Von einem redlichen Scheitern eines Unternehmens ist auszugehen, wenn es ohne offensichtliches Verschulden des Inhabers oder Geschäftsführers des Unternehmens entstanden ist und nicht in betrügerischer Absicht oder fahrlässig herbeigeführt wurde.“. Auch KOM(2008) 394 endg, S. 4. Die Kommission geht davon aus, dass nur 4 – 6 % der Insolvenzen betrügerisch sind, KOM(2007) 584 endg., S. 4. 812 Dazu bereits KOM(2008) 394 endg., S. 4, 8; auch COM(2012) 744 final, S. 16. 813 Schlussfolgerungen des Rates zur Überprüfung der Initiative für kleine und mittlere Unternehmen in Europa („Small Buisness Act“) in der vom Rat (Wettbewerbsfähigkeit) auf seiner Tagung vom 30. Mai 2011 angenommenen Fassung, Dok. Nr. 10975/11, COMPET 222, IND 77, MI 288, ECO 79, S. 7. 814 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. November 2011 mit Empfehlungen an die Kommission zu Insolvenzverfahren im Rahmen des EU-Gesellschaftsrechts (2011/2006(INI)), abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pub Ref=-//EP//NONSGML+TA+P7-TA-2011–0484+0+DOC+PDF+V0//DE (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018); siehe auch „Harmonisation of Insolvency Law at EU Level“, abrufbar unter https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/resources/docs/ipol-juri_nt2010419633_ en.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018).
A. Entwicklungsgeschichte des Richtlinienvorschlags
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II. Kommissionsmitteilung vom 03. 10. 2012 Die Kommission erkannte die Virulenz von Unternehmensinsolvenzen in der EU und sprach sich in einer Mitteilung815 vom 03. 10. 2012 für eine zweite Chance wirtschaftlich gescheiterter Unternehmer aus.816 Der der Insolvenz anhaftende Makel des Scheiterns sollte überwunden werden817.
III. Kommissionsmitteilung vom 12. 12. 2012 Dem folgte eine Mitteilung818 vom 12. 12. 2012. Die Kommission betonte die Bedeutung beschleunigter, effizienter nationaler Insolvenzverfahren.819 Diese sollten den Unternehmern helfen, zu überleben, ein zweites Mal ihr unternehmerisches Glück zu versuchen und Vertrauen in andere mitgliedstaatliche Systeme zu finden.820 Die mitgliedstaatliche Rettungs- und Sanierungskultur sollte weiterentwickelt werden.821 Insbesondere die Bedeutung einer effizienten Justiz, die Risiken mindert, zu Rechtssicherheit beiträgt und daher grenz überschreitende wirtschaftliche Aktivität fördert, wurde hervorgehoben.822 Um also wirtschaftliche Prosperität zu erlangen, sei die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen im Insolvenzrecht der Mitgliedstaaten notwendig.823 Gleichzeitig solle ein angemessener Interessenausgleich zwischen Schuldner- und Gläubigerinteressen gewahrt werden.824 Als einen der wichtigsten Aspekte für einen wirtschaftlichen Neustart nannte die Kommission die Entschuldungsfrist und konstatierte diesbzgl. noch große Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten.825 Ferner müsse die Stigmatisierung des Gescheiterten bekämpft, die Kapitalbeschaffung bei Wiederaufnahme einer wirtschaftlichen 815
COM(2012) 573 final. COM(2012) 573 final, S. 13. 817 COM(2012) 573 final, S. 13. 818 COM(2012) 742 final. 819 Zur Bedeutung der Insolvenzregeln für die Kapitalmarktunion auch COM(2016) 725 final, S. 6. 820 COM(2012) 742 final, S. 3. 821 COM(2012) 742 final, S. 4. 822 COM(2012) 742 final, S. 3. 823 COM(2012) 742 final, S. 3. 824 COM(2012) 742 final, S. 3.: „Die Herausforderung besteht darin, auf die finanziellen Schwierigkeiten des Schuldners rasch und angemessen zu reagieren und gleichzeitig die legitimen Interessen der Gläubiger zu wahren und zu gewährleisten, dass alle Beteiligten ihre Rechte geltend machen können.“. 825 COM(2012) 742 final, S. 5. 816
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§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
Tätigkeit erleichtert und der Abbau rechtlicher und administrativer Hürden ins Werk gesetzt werden.826
IV. Aktionsplan Unternehmertum 2020 Der gleiche Ansatz war dann auch in dem „Aktionsplan Unternehmertum 2020“827 vom 09. 01. 2013 zu erkennen. Insolvenzverfahren und eine zweite Chance828 für redliche Unternehmer sind danach einer von sechs Schlüsselbereichen, in denen Handlungsbedarf besteht, um existierende Hindernisse für Gründung und Wachstum von Unternehmen zu beseitigen.829 Die Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, bis 2013 die Tilgungs- und Entschuldungsfristen zu begrenzen und Unterstützungsdienste und Beratung für KMU sowie Mentoring-, Schulungs- und Netzwerkbildungs-Programme für insolvente Unternehmer zu stellen.830
V. Kommissionsempfehlung 12. 03. 2014 Dem Aktionsplan schloss sich am 12. 03. 2014 eine auf Art. 292 AEUV gestützte Empfehlung der Kommission für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen an, die die bisherigen Ausführungen aufgriff und weiterführte.831 Der Fokus dieser Empfehlung lag auf der frühzeitigen, vorinsolvenzlichen Restrukturierung von Unternehmen und einem Schuldenerlass für von einem Konkurs betroffene Unternehmer.832 Die Entschuldungsfrist sollte drei Jahre betragen und ohne die Rückzahlung einer Mindestquote auskommen. Hervorzuheben ist, dass diese rasche Entschuldung auch insbesondere vor dem Hintergrund einer Steigerung der Rückzahlungsquoten für Gläubiger angestrebt wurde.833 826
COM(2012) 742 final, S. 6. COM(2012) 795 final. 828 COM(2012) 795 final, S. 20: Eine Chance, „um dazuzulernen und es besser zu machen“. 829 COM(2012) 795 final, S. 9. 830 COM(2012) 795 final, S. 21. 831 Empfehlung der Kommission vom 12. März 2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, ABl. L 74 v. 14. 03. 2014, S. 65 ff. 832 Zur zweiten Chance ABl. L 74 v. 14. 03. 2014, S. 65 ff. Erwägungsgründe 1, 3, 4, 10 – 12, 20 sowie Gliederungspunkt I. 1., I. 3. lit. b, IV. 833 ABl. L 74 v. 14. 03. 2014, S. 67 I. 2. lit. b. 827
A. Entwicklungsgeschichte des Richtlinienvorschlags
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VI. Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion Am 30. 09. 2015 legte die Kommission schließlich einen „Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion“834 vor, dem eine mit dem Grünbuch „Schaffung einer Kapitalmarktunion“835 beginnende öffentliche Konsultation vorausging. Dieser Aktionsplan listete Hürden im einzelstaatlichen Insolvenzrecht als ein Hindernis auf, welches auf dem Weg zur Verwirklichung einer Kapitalmarktunion beseitigt werden muss.836 Ausdrücklich wurden die Ineffizienz und Divergenz der Insolvenzgesetze als Hindernisse genannt.837 Diese stark binnenmarktfokussierte Perspektive wurde dann auch in weiteren Mitteilungen der Kommission deutlich.838
VII. Fazit: Kommissionsdokumente Letztlich hatte die Kommission – wie auch der Rat der Europäischen Union – die Entschuldung natürlicher, nicht unternehmerisch tätiger Personen nicht im Blick, sondern konzentrierte sich ganz auf die unternehmerische Entschuldung aus gesamtwirtschaftlichen Gründen. Lediglich in letztgenannter Empfehlung wurde in Erwägungsgrund 15 eingeräumt, dass einige der Empfehlung zugrunde liegende Prinzipien auch für Verbraucher gelten könnten. Daher seien die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der Empfehlung auch auf Verbraucher und Verbraucherinsolvenzen zu erstrecken, auszuloten.839 Nachdem die Umsetzung der Empfehlung bewertet wurde, stellte sich heraus, dass die angemahnten Maßnahmen offenbar nicht adäquat umgesetzt wurden.840 So sah sich nun die Kommission genötigt, einen Vorschlag für eine Richtlinie zu 834
COM(2015) 468 final. COM(2015) 63 final. 836 COM(2015) 468 final, S. 6, 26 f., 837 COM(2015) 468 final. S. 28. 838 „Vollendung der Kapitalmarktunion bis 2019: Beschleunigung der Umsetzung“ COM(2018) 114 final; „Kapitalmarktunion: die Reform rasch voranbringen“ COM(2016) 601 final; „Den Binnenmarkt weiter ausbauen: mehr Chancen für die Menschen und die Unternehmen“ COM(2015) 550 final. 839 ABl. L 74 v. 14. 03. 2014, S. 66 Erwägungsgrund 15. 840 Study on a new approach to business failure and insolvency, Comparative legal analysis of the Member States’ relevant provisions and practices, Tender No. JUST/2014/ JCOO/PR/CIVI/0075, S. 223, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/ insolvency_study_2016_final_en.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018); vgl. auch SWD(2015) 184 final; ferner SWD(2015) 183 final. Darauf nochmal explizit hinweisend COM(2016) 723 final, S. 20. 835
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§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
präsentieren, welchen sie im „Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarkt union“ vom 30. 09. 2015 ankündigte.841
B. Ziel des Richtlinienvorschlags Die Kommission hat dem Vorschlag eine ausführliche Begründung beigelegt. Daraus ergibt sich folgende Zielsetzung, die sich in den Erwägungsgründen (insbesondere Erwägungsgründe 1 – 15) wiederfindet.842
I. Makroökonomischer Fokus Ziel des Richtlinienvorschlags ist die Beseitigung von Hindernissen für die Ausübung der Grundfreiheiten, die aus den Unterschieden der nationalen Vorschriften resultieren.843 Dazu bedarf es der Schaffung eines gut funktionierenden Insolvenzrahmens, der Rechtssicherheit für grenzüberschreitende Anleger bringt, die Beitreibungsraten für Gläubiger erhöht und zu grenzüberschreitender Expansion und Investition beiträgt.844 Aus diesem Grund soll die Dauer von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren verkürzt und eine unionsweite Sanierungskultur gefördert werden.845 Ein effektives, vorhersehbares Insolvenzrecht wird als wesentliche Bedingung für eine Kapitalmarktunion und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes ausgemacht.846 Die finanzielle Integration soll durch harmonisierte Insolvenzvorschriften vertieft, Kosten gesenkt und der Zugang zu Krediten und anderen Finanzierungsmöglichkeiten verbessert werden.847 Im Letzten geht es um die Stärkung ganzer Volkswirtschaften und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der EU, um wirtschaftliche Schocks zukünftig abzufedern, Arbeitsplätze zu schützen und notleidende Kredite848 zu verringern.849 841 COM(2015) 468 final, S. 28; darauf verwies sie danach auch noch in COM(2015) 550 final, S. 7 f. 842 Zusammenfassend SWD(2016) 358 final. 843 COM(2016) 723 final, S. 28 Erwägungsgrund 1. 844 COM(2016) 723 final, S. 2, 15. 845 COM(2016) 723 final, S. 5, 7, 9. 846 COM(2018) 114 final, S. 5; COM(2016) 723 final, S. 6: „Hauptziel des Vorschlags ist es, die wichtigsten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr einzudämmen.“, dazu auch S. 2, 6; siehe auch C(2017) 3783 final, S. 1: „zwei politische Prioriäten“, nämlich „Kapitalmarktunion“ und „Binnenmarktstrategie“. 847 COM(2016) 723 final, S. 2, 9. 848 Zu notleidenden Krediten in der Eurozone siehe auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage verschiedener Abgeordneter BT-Drucks. 19/3600. Ferner zum
B. Ziel des Richtlinienvorschlags
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II. Zweite Chance In diesem Kontext ist schließlich auch die zweite Chance zu sehen. Primär soll sie einen wirtschaftlichen Neustart gescheiterter, redlicher Unternehmer850 ermöglichen und eine Stigmatisierung verhindern.851 Experimentierfreudigkeit, Innovation und Risikobereitschaft sollen gefördert werden.852 Die Arbeitskraft einmal Gescheiterter soll nicht der Schattenwirtschaft anheimfallen und Forum Shopping soll vermieden werden.853 Damit korrelierend sollen etwaige Berufsverbote zeitnah aufgehoben und den Unternehmern ein Weiterarbeiten erlaubt werden.854 Schließlich hätten Unternehmer nach einem Konkurs beim zweiten Versuch bessere Aussichten auf Erfolg.855 Diese allgemeine Behauptung, beim zweiten Versuch erfolgreicher zu sein, verdient durchaus Zweifel.856 Einen belastbaren wissenschaftlichen Nachweis für diese doch wichtige These bleibt die Kommission jedenfalls schuldig.857 849
Abbau notleidender Kredite der Vorschlag für eine Richtlinie über Kreditdienstleister, Kreditkäufer und die Verwertung von Sicherheiten COM(2018) 135 final und den zweiten Fortschrittsbericht über den Abbau notleidender Kredite in Europa COM(2018) 133 final. 849 COM(2018) 133 final, S. 3; COM(2018) 114 final, S. 5; COM(2016) 723 final, S. 2 f., 15; SWD(2016) 357 final, S. 100. 850 In einigen Mitgliedstaaten ist die Zahl der Unternehmer, die natürliche Personen sind, sehr hoch, siehe SWD(2016) 357 final, S. 11. 851 COM(2016) 723 final, S. 4. 852 COM(2018) 306 final, S. 11. 853 COM(2016) 723 final, S. 4, siehe auch S. 40 Erwägungsgründe 4 und 37. 854 COM(2016) 723 final, S. 4 f. 855 COM(2016) 723 final, S. 40 Erwägungsgrund 37, siehe auch S. 4; ebenso SWD(2016) 357 final, S. 126 und COM(2012), 742 final, S. 6; SWD(2014) 61 final, S. 22. 856 Nicht auf Unternehmer, aber allgemein auf die Schuldner bezogen BT-Drucks. 17/11268 S. 43: „Eine Vielzahl von Schuldnern verschuldet sich aber erfahrungsgemäß während des laufenden Verfahrens neu.“; auch S. 48 „Drehtüreffekt der Neuverschuldung“. Ebenso stellt die Studie von Lechner „Eine zweite Chance für alle gescheiterten Schuldner“ S. 41 eine nicht unerhebliche Neuverschuldung fest, http://www.schuldnerberatung-sh.de/fileadmin/download/studien/lechner_eine_zweite_chance_fuer_alle_gescheiterten_schuldner_2010. pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018); vgl. ferner Grasmann, in: Leser/Isomura (Hrsg.), FS Kitagawa, S. 117, 124 f., wonach der Schuldner erfahrungsgemäß abermals neue Gläubiger gefährden werde. 857 Siehe SWD(2016) 357 final, S. 11 mit dem Verweis auf Bankruptcy and second chance for honest entrepreneurs, Ecorys, Report for DG Enterprise and Industry, 31 October 2014, S. 14, http://www.eea.gr/system/uploads/asset/data/9042/Bankruptcy_and_second_chance_for_honest_bankrupt_entrepreneurs _FINAL_REPORT.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018), welcher seinerseits wiederum auf den Small Buisness Act für Europa KOM(2008) 394 endgültig, S. 8 Bezug nimmt. SWD(2014) 61 final, S. 22 verweist auf den Beitrag von Stam/Audretsch/Meijaard, JEE 2008, 439 ff. Auf diesen Beitrag lässt sich die Kommissionsbehauptung aber nicht stützen, da es den Autoren nicht gelingt, den
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§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
Die Kommission konstatiert erhebliche Differenzen zentraler Aspekte der mitgliedstaatlichen Insolvenzrechte, die keine umfassende Harmonisierung erlauben.858 Obgleich aus ihrer Sicht die Unterschiede in der Dauer der Entschuldungsfrist rechtspolitisch signifikant zu sein scheinen, sei dieses Problem supranational gut lösbar, zumal andere zentrale Punkte der Insolvenz noch stärker mit weiteren nationalen Rechtsbereichen verzahnt und daher weniger angleichbar seien.859
III. Fazit: Ziel des Richtlinienvorschlags Dem Kommissionsvorschlag liegt deutlich eine ökonomische Perspektive und Ausrichtung zu Grunde. Die Gläubiger und Anleger stehen im Mittelpunkt des Interesses. Eine rasche Entschuldung soll nicht aus personal-sozialen Gründen, sondern allein vor dem Hintergrund ihrer makroökonomisch förderlichen Aspekte gewährt werden.860 Selbst wenn die Erstreckung der Regelungen auf Verbraucher angemahnt wird, geschieht dies vor allem aus Sorge vor den hohen Kosten für Systeme der sozialen Sicherheit, den Auswirkungen auf Finanzmärkte und -dienstleistungen und anderer wirtschaftlicher Folgen.861 Nur en passant bemerkt die Kommission neben wirtschaftlichen Vorteilen des Vorschlags auch positive soziale Auswirkungen sowie die soziale Problematik der Verbraucherüberschuldung,862 obgleich ihr diese soziale Dimension durchaus bewusst ist.863 Sie scheint bemüht, jede Auswirkung ihres Vorhabens, und sei sie sozialpolitisch noch so relevant, durch eine wirtschaftspolitische Argumentation zu untermauern. So ist auch die Bemühung unternehmerischer Entstigmatisierung nicht aus der Sorge um das persönliche Wohl geboren, sondern vielmehr darauf Nachweis zu erbringen, inwiefern die Unternehmer beim zweiten Versuch nach einer Insolvenz erfolgreicher am Wirtschaftsleben teilnehmen als zuvor. Aufgrund der geringen Zahl geeigneter Probanden ist die Untersuchung nicht repräsentativ. Es wurden lediglich 137 „renascent entrepreneurs“ befragt, von denen nur sieben angaben, ihr Unternehmen wegen einer Insolvenz aufgegeben zu haben. 858 COM(2016) 723 final, S. 6 f. 859 COM(2016) 723 final, S. 7. 860 COM(2016) 723 final, S. 4, 22. 861 COM(2016) 723 final, S. 5, 16, siehe auch S. 32 Erwägungsgrund 15. 862 COM(2016) 723 final, S. 7, siehe auch S. 32 Erwägungsgrund 15. Allgemein zur Consumer over-indebtness in der Europäischen Union McCormack/Keay/Brown, Euro pean Insolvency Law, S. 331 ff. 863 SWD(2016) 357 final, S. 11: „For consumers, the rationale of providing them with a second chance is not only economic but also social. […] But most importantly, consumers and their families could avoid being caught in a debt-trap for life, with all the precarious social consequences that this situation may cause to individuals and families.“.
C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“
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zurückzuführen, dass so natürliche Personen eher bereit sind, einer unternehmerischen Tätigkeit nachzugehen und der Gesamtwirtschaft dienlich zu sein.864 Letzten Endes verwundert diese makroökonomische Sichtweise angesichts der bemühten Rechtsgrundlagen (Artt. 53, 114 AEUV) wenig, ließe sich hierauf doch prima facie schwerlich die rasche Restschuldbefreiung aus personal-sozialen Gründen rechtfertigen. Ferner ist zu bedenken, dass trotz der einseitigen Begründung auch eine gestärkte Wirtschaft personal-sozialen Zwecken Rechnung tragen kann, indem sie gesamtgesellschaftlichen Wohlstand mehrt und dadurch gesellschaftliche Spannungen löst. Aber nicht nur die personal-soziale Sichtweise gerät ins Hintertreffen. Auch die Gläubiger haben unter Umständen Einbußen zu befürchten, wenn die Entschuldungsfrist in solchen Ländern, die Mindestquotenerfordernisse kennen und längere Entschuldungsfristen haben, auf drei Jahre gesenkt wird.865 Dient die Richtlinie in Bezug auf effektive Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren noch dem Gedanken verbesserter Befriedigungsaussichten der Gläubiger, so müssen diese Gläubigerinteressen wiederum einer raschen Entschuldung aus makroökonomischen Erwägungen weichen.
C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“ Die Vorschriften zur zweiten Chance finden sich vor allem in Titel III des Richtlinienvorschlags, welcher die Artt. 19 – 23 umfasst.866 Bereits in Art. 1 Abs. 1 lit. b des Richtlinienvorschlags werden als Gegenstand der Richtlinie solche Verfahren genannt, die zur Entschuldung überschuldeter Unternehmer führen und die es ihnen ermöglichen, eine neue Tätigkeit aufzunehmen. Jedoch werden nicht unternehmerisch tätige natürliche Personen gem. Art. 1 Abs. 2 lit. g RL-V nicht vom Anwendungsbereich erfasst. Die Einbeziehung dieser natürlichen Personen in die Verfahren nach Art. 1 Abs. 1 lit. b RL-V steht nach Art. 1 Abs. 3 RL-V im Belieben eines jeden Mitgliedstaates.
864
COM(2016) 723 final, S. 7, siehe auch S. 40 Erwägungsgrund 37. Sehr kritisch der Bundesrat in BR-Drucks. 1/17, S. 1 Punkt 1: „Im Gegensatz dazu hat der Richtlinienvorschlag überwiegend die Interessen des Schuldners im Blick; dies erfolgt zu Lasten der Gläubigergesamtheit.“. 866 Die second chance im Richtlinienvorschlag besprechend McCormack/Keay/Brown, European Insolvency Law, S. 303 ff. 865
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I. Überschuldeter Unternehmer Demgemäß stellen die Artt. 19 – 23 RL-V nur auf den überschuldeten Unternehmer ab, der nach Art. 19 Abs. 1 RL-V in vollem Umfang entschuldet werden soll. Der überschuldete Unternehmer ist gem. Art. 2 Nr. 13 RL-V eine natürliche Person, die eine gewerbliche, geschäftliche, handwerkliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt und die nicht nur vorübergehend nicht in der Lage ist, ihre Schulden bei Fälligkeit zu begleichen.867 Im Vergleich zu Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 EuInsVO enthält die Vorschrift zusätzlich die Merkmale „geschäftlich“ und „handwerklich“ und erinnert so an den Primärrechtskatalog des Art. 57 AEUV. Die Regelung verzichtet aber, anders als Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 EuInsVO, auf die ausdrückliche Normierung des Merkmals der Selbstständigkeit. Dennoch kann nach dem Zweck der Richtlinie als Unternehmer nur gelten, wer die genannten Tätigkeiten selbstständig ausübt. Insofern wäre es wünschenswert, Art. 2 Nummer 13 RL-V de lege ferenda klarer zu fassen oder eine eigenständige Definition für Unternehmer aufzunehmen.868 Indes hat der Rat dieses Manko erkannt und eine entsprechende Änderung vorgeschlagen.869
II. Volle Entschuldung Volle Entschuldung870 bzw. Entschuldung in vollem Umfang871 meint gem. Art. 2 Nr. 14 RL-V den Erlass ausstehender Schulden im Anschluss an ein Verfahren, das eine Verwertung von Vermögenswerten und/oder einen Tilgungs-/ Sanierungsplan umfasst. Hierunter fällt das Restschuldbefreiungsverfahren der §§ 286 ff. InsO. Die Formulierung in vollem Umfang legt nahe, sowohl eine 867 Nach Änderungsantrag 50 zu Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 auf S. 44 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803) ist ein überschuldeter Unternehmer auch ein Unternehmer, der Schulden nicht begleichen kann, die er als natürliche Person im Zusammenhang mit der Finanzierung des Beginns der Geschäftstätigkeit gemacht hat. 868 So auch BR-Drucks. 1/17, S. 6 Punkt 9 im Hinblick auf die Frage, ob Gesellschafter und Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften Unternehmer im Sinne des Richtlinienvorschlags sind. 869 Siehe Erwägungsgrund 37 auf S. 36 des Interinstitutionellen Dossiers (Fn. 804). Dort wird ausdrücklich auf das Merkmal der Selbstständigkeit Bezug genommen. Ferner betrifft der Begriff „Unternehmer“ nach dem Rat nicht die Stellung von Führungskräften und Leitern von Unternehmen. 870 Der Terminus „volle Entschuldung“ wird auch in Erwägungsgrund 1, 37 RL-V genannt. 871 Art. 19 Abs. 1 RL-V und Art. 20 Abs. 1 RL-V sprechen nicht von voller Entschuldung, sondern beziehen sich auf eine Entschuldung in vollem Umfang. Bei den Bezeichnungen handelt es sich um Synonyme.
C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“
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Befreiung von beruflichen als auch von privaten Schulden872 zuzulassen. Zudem unterscheidet Art. 2 Nr. 14 RL-V nicht zwischen dem Erlass beruflicher und privater Schulden. Hinzu kommt, dass zum einen schon Erwägungsgrund 15 RL-V auf die erheblichen praktischen Unsicherheiten im Falle einer solchen zwar möglichen,873 aber schwierig durchführbaren Differenzierung hindeutet und dass zum anderen nach Art. 23 Abs. 1 RL-V im Regelfall alle Schulden in einem einzigen Verfahren behandelt werden sollen.874 Darüber hinaus verfehlte eine Befreiung nur von betrieblichen Schulden auch den Zweck der Richtlinie, weil unternehmerisch tätigen Personen mit nicht unerheblicher privater Überschuldung der Anreiz fehlt, in ihrer prekären Lage finanzielle Risiken mit einem unternehmerischen Neustart einzugehen.875 Nach Art. 19 Abs. 2 RL-V sollen die Mitgliedstaaten, in denen die Entschuldung von einer ratierlichen, nicht unbedingt vollständigen Tilgung der Schulden abhängig ist, sicherstellen, dass die Tilgungspflicht der Lage des einzelnen Schuldners entspricht. Dem kommt das deutsche Recht mit § 287 Abs. 2 InsO nach, indem es auf die Pfändbarkeit der entsprechenden Forderungen abstellt (während der Treuhandperiode gelten die entsprechenden Pfändungsschutzvorschriften der ZPO über § 292 Abs. 1 S. 3 i. V. m. § 36 Abs. 1 S. 2 InsO).876 Das ausdifferenzierte Pfändungssystem des deutschen Rechts sollte diesen Anforderungen umso mehr gerecht werden, als im ersten Zugriff jeder Mitgliedstaat selbst die Angemessenheit des Verhältnisses zwischen Tilgungspflicht und verfügbarem Einkommen nach Art. 19 Abs. 2 RL-V beurteilt. Art. 19 Abs. 2 RL-V darf indes nicht missverstanden werden. Er erlaubt den Mitgliedstaaten nicht, die volle Entschuldung vom Erreichen einer Mindestquote abhängig zu machen.877 Dies geht aus der Begründung der Kommission deutlich hervor, in der es heißt, der Zugang zu einer vollen Entschuldung müsse unabhängig vom Er-
872 Betriebliche Schulden sind gem. Art. 23 Abs. 1 RL-V solche Schulden, die im Rahmen der gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder freiberuflichen Tätigkeit entstanden sind; private Schulden sind danach alle Schulden, die außerhalb dieser Tätigkeiten entstanden sind. Erwägungsgrund 15 RL-V spricht demgegenüber von Konsumenten- und Geschäftsschulden. 873 Siehe z. B. die Differenzierung zwischen Betriebs- und Privatvermögen im Einkommensteuerrecht. 874 Zurückhaltender der Bericht des Europäischen Parlaments (Fn. 803) mit Änderungsantrag 88 zu Art. 23 Abs. 1 auf S. 70 f. und der Standpunkt des Rates (Fn. 804) zu Art. 23 auf S. 78. 875 Diesen Bedenken wäre mit der Änderung des Kommissionsvorschlags nach Änderungsantrag 50 zu Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 auf S. 44 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803) abgeholfen. 876 Für selbständig tätige Schuldner gilt § 295 Abs. 2 InsO. 877 So auch Heyer, ZVI 2017, 45, 49.
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§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
reichen eines Mindestbetrages oder eines bestimmten Prozentsatzes der Schulden gewährleistet sein.878 Der Mindestquote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO wäre somit der Boden entzogen. Dem zum Trotze ist eine Mindestquote nicht generell untersagt. Es bleibt die Möglichkeit, einen – zusätzlich zur dreijährigen, mindestquotenunabhängigen Entschuldungsfrist – noch kürzeren Zeitraum zu normieren, nach dessen Ablauf die Entschuldung nur gewährt wird, wenn ein Mindestbetrag der Forderungen beglichen wurde. Die Grundlage für ein Anreizsystem besteht somit weiter. Ob dessen Funktionalität aufgrund des immer enger werdenden Zeitabstandes bis zur vollen Entschuldung nach drei Jahren noch gewährleistet ist, scheint unwahrscheinlich. Außerdem stellt sich die Frage, ob eine Mindestquote dann zulässig wäre, wenn sie sich als milderes Mittel im Vergleich zu bspw. der kompletten Ausnahme bestimmter Schuldenkategorien im Sinne des Art. 22 Abs. 3 RL-V darstellte. Letztlich käme eine solche Regelung dem Schuldner nur zu Gute, weswegen sie ganz im Sinne der Kommission wäre. Dennoch muss diese Möglichkeit ausscheiden. Der Umgehungsgefahr könnte nicht in ausreichender Weise begegnet werden. Wollte ein Mitgliedstaat die Regelung ausnutzen, bräuchte er nur den Kreis der ausgenommenen Schuldenkategorien erweitern, um dann uno actu generell ein Mindestquotenerfordernis bei den entsprechend hinzugefügten Schuldenkategorien zu etablieren. Diese damit neu entstehenden Unsicherheiten wären kaum zu bändigen. Folglich sollte eine Mindestquote insgesamt nicht als Mittel verstanden werden, um im Sinne des Art. 22 Abs. 1 RL-V den Zugang zur Entschuldung zu beschränken. Der Richtlinienvorschlag stellt ferner nicht explizit klar, ob die Inanspruchnahme des Entschuldungsverfahrens zwingend mehrfach möglich sein muss.879 Eine lediglich einmal im Leben gewährte Entschuldung würde aber nicht dem Zweck des Richtlinienvorschlags gerecht. Ausgehend von der Zielsetzung des Vorschlags darf es keinen Unterschied machen, ob ein redlicher Unternehmer einmal oder mehrfach insolvent wird. Außerdem würde durch eine mehrfache Gewährung der Entschuldung auch das Schuldner-Gläubiger-Verhältnis nicht einseitig zu Lasten der Gläubiger belastet. Hierfür tragen die Vorschriften des Vorschlags mit ihren zahlreichen Spielräumen hinreichend Rechnung. Darüber hinaus spricht der Wortlaut des Art. 22 Abs. 1 lit. d für eine Mehrfachgewährung.880 Indem dieser die Möglichkeit der Zugangsbeschränkung für den Fall einer wiederholten Inanspruchnahme des Entschuldungsverfahrens vorsieht, 878
COM(2016) 723 final, S. 26. Dazu auch Blankenburg, ZInsO 2017, 241, 251. 880 Vgl. auch Änderungsantrag 34 zu Erwägungsgrund 37 auf S. 35 f. und Änderungsantrag 79 zu Art. 20 auf S. 67 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803). 879
C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“
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impliziert er die Möglichkeit mehrfacher Entschuldung und fordert die theoretische Möglichkeit mehrfacher Inanspruchnahme des Entschuldungsverfahrens.881
III. Entschuldungsfrist und Berufsverbot Weitreichende Folgen entfalten die Regelungen in Artt. 20 und 21 RL-V. Hiernach müssen überschuldete Unternehmer spätestens nach Ablauf dreier Jahre (nach dem Europäischen Parlament sollen es fünf Jahre sein) 882 ohne erneuten behördlichen Antrag in vollem Umfang entschuldet werden. Nach deutschem Recht wird diese Frist regelmäßig mit dem Tag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnen (vgl. Art. 19 Abs. 1 lit. a RL-V und § 287 Abs. 2 InsO). Wie die Zeit während dieser Entschuldungsfrist auszugestalten ist, welche Obliegenheiten den Schuldner treffen und welche weiteren Modalitäten anzudenken sind, ist dem nationalen Gesetzgeber überlassen. In Deutschland wird die Umsetzung dieser Regelung wohl am sachnächsten einfach durch die Verkürzung der Abtretungsfrist auf drei Jahre bewirkt. Neben dieser Entschuldungsregelung soll ferner ein mit der Überschuldung zusammenhängendes Berufsaufnahme oder -ausübungsverbot gem. Art. 21 RL-V automatisch ohne erneuten behördlichen Antrag spätestens mit Ablauf der Entschuldungsfrist außer Kraft treten.883
IV. Einschränkungen bzgl. Zugang, Entschuldungs- und Verbotsfrist Art. 22 RL-V soll vor allem denjenigen Mitgliedstaaten Entgegenkommen signalisieren, die die dreijährige Entschuldungsfrist für zu kurz halten.884 Art. 22 RL-V konzediert den Mitgliedstaaten Ausnahmen von den Regelungen 881 Zum Verhältnis von § 287a Abs. 2 InsO und Art. 22 Abs. 1 lit. d RL-V vgl. § 4. C. IV. 1. am Ende. 882 Änderungsantrag 34 zu Erwägungsgrund 37 auf S. 35 f. und Änderungsantrag 79 zu Art. 20 auf S. 67 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803); anders der Rat (Entschuldungsfrist von höchstens 3 Jahren) auf S. 37 zu Erwägungsgrund 37 b, S. 38 zu Erwägungsgrund 38 und S. 74 zu Art. 20 in seinem Interinstitutionellen Dossier (Fn. 804). Somit könnte der Bericht des Europäischen Parlaments ein retardierendes Moment auf dem Weg zu einer schnelleren Entschuldung sein und der Richtlinie ihrer Effektivität berauben. 883 Einschränkend aber die Ratsfassung auf S. 39 des Interinstitutionellen Dossiers (Fn. 804). 884 Dazu S. 5 des Interinstitutionellen Dossiers (Fn. 97).
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der Artt. 19 – 21 RL-V vorzusehen, sofern dies ein allgemeines Interesse gebietet.885 Was ein „allgemeines Interesse“ ist, wird nicht legaldefiniert. Es wird nur enumerativ ein nicht abschließender Katalog an Beispielen genannt (Art. 22 Abs. 1 lit. a–d RL-V). Wie bei allen unbestimmten Rechtsbegriffen, so ist auch hier die Konkretisierung seitens der Mitgliedstaaten mit vielerlei Unwägbarkeiten behaftet.886 Einerseits kann der Begriff des „allgemeinen Interesses“ nicht so eng gefasst werden wie der Ordre public des Art. 33 EuInsVO. Andererseits darf durch eine uferlose Apostrophierung jedweder Befindlichkeit als „allgemeines Interesse“ keine Unterminierung der in Art. 19 – 21 RL-V getroffenen Regelungen stattfinden. Versuche, ein allgemeines Interesse weit zu verstehen und alle verfahrensbezogenen oder verfahrensübergeordneten Interessen miteinzubeziehen, sind zwar sehr weitreichend,887 aber mangels genauerer Vorgaben nicht a priori zu beanstanden. 1. Art. 22 Abs. 1 lit. a–d RL-V
Die deutschen Regelungen, die die Restschuldbefreiung versagen oder die Erteilung der Restschuldbefreiung an bestimmte Obliegenheiten knüpfen, werden von den in Art. 22 Abs. 1 lit. a–d RL-V genannten Beispielen teilweise umfasst. Dies setzt zunächst aber voraus, dass mit der Beschränkung des Zugangs zur Entschuldung die Entscheidung über die Restschuldbefreiung gemeint ist.888 Die Formulierung ist insofern nicht eindeutig, vor allem da die mitgliedstaatlichen Insolvenzrechte verschiedene Verfahrensstufen kennen und auch in weiterer Weise vielfach differieren. Da es im Endeffekt aber wenig Sinn ergäbe, nur das Zulassungsverfahren darunter zu verstehen und die letztendliche Entscheidung über die Restschuldbefreiung auszuklammern, sind auch diejenigen Gründe betroffen, die eine endgültige Restschuldbefreiung verhindern. Sofern die Versagung der Restschuldbefreiung nach den §§ 290, 296, 297, 297a, 298 InsO, die (Erwerbs-)Obliegenheiten des Schuldners gem. § 295 InsO oder der Widerruf der Restschuldbefreiung nach § 303 InsO nicht den Regelbeispielen subsumiert werden können, sind sie dennoch durch ein allgemeines Interesse gerechtfertigt. 885 Zudem schränkt der Bericht des Europäischen Parlaments (Fn. 803) mit Änderungsantrag 77 zu Art. 19 Abs. 1a auf S. 66 und Änderungsantrag 83 zu Art. 22 Abs. 1 lit. da) auf S. 69 den Zugang zur Entschuldung nicht unerheblich ein. Diese Ausnahme ist von ihrer Konzeption so unbestimmt und weitreichend, dass sie mitunter auch potentiell ausufernde Restriktionen zulässt. 886 Ebenso McCormack/Keay/Brown, European Insolvency Law, S. 319. Siehe zu sog. vagen Begriffen und Wertbegriffen und deren Bedeutung bei der grammatikalischen Auslegung Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 194 ff. 887 So Heyer, ZVI 2017, 45, 46. 888 Dazu Blankenburg, ZInsO 2017, 241, 251.
C. Inhalt des Richtlinienvorschlags – „Zweite Chance“
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Statt sich für die gänzliche Versagung der Restschuldbefreiung zu entscheiden, könnte der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative nur eine Verlängerung der Entschuldungsfrist für bestimmte Arten von Verbindlichkeiten befürworten.889 Gleichwohl hält sich der beschrittene Weg der gänzlichen Versagung als Beschränkung des Zugangs zur Entschuldung im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben. Das vom Bundesrat vorgetragene Begehren nach einer Ausweitung des Beispielkataloges ruft gemischte Gefühle hervor.890 Im Allgemeinen besteht die Gefahr, durch die Gewährung weitreichender Spielräume statt engmaschigerer Harmonisierung den Richtlinienvorschlag jeglicher Effektivität zu berauben. Eine zu kurze Aufzählung birgt die Gefahr, dass sich die Mitgliedstaaten oftmals auf ein allgemeines Interesse berufen werden, während eine lange Aufzählung den Argumentationsspielraum der Mitgliedstaaten durch eine abschließende Indizwirkung erheblich verringert. An die Stelle einer Ausweitung könnten aber auch supranationale, von der Kommission verabschiedete Leitlinien und Kriterienkataloge treten.891 Ob sich damit der Spagat lösen lässt, oder ob dies nicht eher zur Verlagerung des Problems auf die supranationale Ebene führt, sei dahingestellt. Für eine Ausweitung oder supranationale Leitlinien sprechen jedenfalls zweifelsohne der Zugewinn an Rechtssicherheit, sofern sie denn hinreichend konkret sind. Jedoch wird die Umschreibung der weiteren Beispiele oder Kriterien angesichts der Vielzahl möglicher, durch ein allgemeines Interesse gerechtfertigter Einschränkungen lediglich einen Kompromiss darstellen. Der Rat ist in seiner allgemeinen Ausrichtung dem Begehren des Bundesrates nachgekommen, indem er eine um einige Beispiele erweiterte Fassung des Art. 22 präsentiert.892 Insbesondere der neu eingefügte Buchstabe „da)“, der eine Ausnahme zur Entschuldung zulässt, wenn die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens nicht gedeckt sind, muss sich Kritik gefallen lassen. Gerade der deutsche Insolvenzrechtler sollte sich hier noch einmal das geflügelte Wort vom „Konkurs des Konkurses“893 in Erinnerung rufen und die Konsequenzen, die in Ländern ohne ein der Verfahrenskostenstundung ver889 Zu
47 f.
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etwaig längeren Fristen für bestimmte Verbindlichkeiten Heyer, ZVI 2017, 45,
Für eine Ausweitung der Bundesrat BR-Drucks. 1/17, S. 21 f. Punkt 37. Das Problem zu großer Gestaltungsspielräume durch die Mitgliedstaaten versucht das Europäische Parlament in seinem Bericht (Fn. 803), z. B. mit dem Änderungsantrag 81 zu Art. 22 Abs. 1 lit a) auf S. 68 und dem Änderungsantrag 87 zu Art. 22 Abs. 4a auf S. 70, zu verhindern, indem der Kommission die Kompetenz zugesprochen wird, Kriterienkataloge und Leitlinien für unbestimmte Rechtsbegriffe (in diesem Fall für die Begriffe „unredlich“ und „bösgläubig“) festzulegen. 892 S. 76 zu Art. 22 im Interinstitutionellen Dossier (Fn. 97). 893 Vgl. § 2. B. I. 891
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gleichbares Instrumentarium drohen, bedenken. Um der zukünftigen Richtlinie nicht jede Wirksamkeit hinsichtlich der Entschuldung natürlicher Personen ab initio zu nehmen, sollte diese Ausnahme keinen Eingang in den Richtlinientext finden. Genauso verhält es sich mit der Hinzufügung eines Buchstabens „db)“, der eine Ausnahme zulässt, wenn eine solche erforderlich ist, um einen Ausgleich zwischen den schuldnerischen und gläubigerseitigen Interessen zu garantieren. Mit dieser Ausnahme erweist der Rat der Rechtssicherheit einen Bärendienst. Vorteile gegenüber der Formulierung „allgemeines Interesse“ sind nicht ersichtlich.894 Art. 22 Abs. 1 lit. c sieht Einschränkungsmöglichkeiten wegen der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Entschuldungsverfahrens vor. Der Unionsgesetzgeber gibt mit der Richtlinie zwar nur einen Rahmen vor, gleichzeitig stellt er aber Anforderungen an deren Umsetzung. Die Mitgliedstaaten dürfen eine Einschränkung der genannten Artikel nur unter „bestimmten, genau festgelegten Umständen“ (Art. 22 Abs. 1 RL-V) vornehmen. Sie müssen gerade im Hinblick auf das Merkmal „missbräuchlich“ eine erhebliche Konkretisierung leisten. Im Hinblick auf die Rechtssicherheit wäre es wünschenswert, de lege ferenda auf die Normierung des Beispiels in lit. c zu verzichten. Auch soweit damit die Bekämpfung des Forum Shopping bezweckt werden soll, ist zu konstatieren, dass die EuInsVO ausreichende Schutzvorkehrungen zur Verfügung stellt, die sich besser in die Gesamtstrategie im Kampf gegen Forum Shopping einfügen, als dies eine nationale Regelung ausgehend von Art. 22 Abs. 1 lit. c RL-V könnte. Dieses so inhaltschwangere wie auch inhaltsleere Beispiel liefe nur Gefahr, in nationaler Umsetzung zu einer übermäßigen Beschränkung der unionalen Freizügigkeit und Grundfreiheiten zu mutieren; zumal der Nutzen eines zweiten unbestimmten Rechtsbegriffs („missbräuchlich“) zur Ausfüllung eines anderen unbestimmten Rechtsbegriffs („allgemeines Interesse“) äußerst fraglich ist. Die Einschränkung wegen einer wiederholten Inanspruchnahme des Entschuldungsverfahrens nach lit. d hat bereits über § 287a Abs. 2 InsO Eingang in das deutsche Recht gefunden, welcher also der Rahmenvorgabe des Richtlinienvorschlags entspricht. 2. Art. 22 Abs. 3 und 4 RL-V
Bestimmte Schuldenkategorien können gem. Art. 22 Abs. 3 RL-V von der Schuldbefreiung ausgenommen werden. Der Richtlinienvorschlag nennt gesicherte Schulden oder Schulden, die aus strafrechtlichen Sanktionen oder de894 Siehe dazu auch die vom Rat vorgeschlagene Änderung des Erwägungsgrundes 38 auf S. 38 des Interinstitutionellen Dossiers (Fn. 97).
D. Kompetenzgrundlage
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liktischer Haftung entstanden sind. Demgegenüber erweitert der Rat in seinem Standpunkt diese Liste um weitere Beispiele, z. B. die bereits nach deutschem Recht ausgeschlossenen Verbindlichkeiten aus gesetzlichem Unterhalt.895 Das Wort „etwa“896 zeigt an, dass es sich hierbei um keine abschließende Aufzählung handelt. Auch an dieser Ausnahme muss ein allgemeines Interesse bestehen. Aufgrund des weiten Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten können die in § 302 InsO ausgenommenen Forderungen als von Art. 22 Abs. 3 RL-V erfasst angesehen werden. Ferner gestattet Art. 22 Abs. 4 RL-V längere oder gar unbestimmte Verbotsfristen vorzusehen, sofern der Unternehmer einem Berufsstand angehört, für den besondere ethische Regeln gelten, oder wenn das Verbot von einem Gericht in einem Strafverfahren erlassen wurde.897
D. Kompetenzgrundlage Die Regelungen im Richtlinienvorschlag zur zweiten Chance, insbesondere die Vorschriften betreffend den Zugang zur Entschuldung und die Angleichung von Entschuldungs- und Verbotsfristen, zählen zum materiellen Insolvenzrecht. Daher überrascht der Richtlinienvorschlag ein wenig: Weder im Katalog des Art. 3 AEUV noch des Art. 4 AEUV findet sich eine explizite Erwähnung dieser Materie.898 Und es findet sich auch keine Stelle in den Verträgen, an der die Mitgliedstaaten der Union ausdrücklich die Kompetenz zur Regelung des materiellen Insolvenzrechts übertragen hätten.899 Für die EuInsVO wurde noch Art. 81 AEUV als rechtliche Grundlage bemüht. Mit dem Abstellen auf die Notwendigkeit der Verordnung für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes in Erwägungsgrund 3 der EuInsVO rekurriert der Verordnungsgeber auf den Wortlaut des Art. 81 Abs. 2 AEUV. Art. 81 AEUV erlaubt nur die Harmonisierung von Regelungen des internatio895
S. 77 des Interinstitutionellen Dossiers (Fn. 97). In der englischen Fassung: „such as“. 897 Zur Kritik des Bundesrates an dieser Regelung, BR-Drucks. 1/17, S. 22 Punkt 38. 898 Art. 4 AEUV ist keine Kompetenznorm, sondern zählt nur die wesentlichen Bereiche geteilter Zuständgikeit auf, Obwexer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 1, 4. Dazu auch Terhechte, EuR 2008, 143, 156. Vgl. auch Niemi, JCP 2012, 443, die zunächst Zweifel bzgl. der Kompetenzgrundlage aufzeigt, diese dann aber – entgegen hier vertretener Ansicht – im Folgenden widerlegt. 899 Siehe zur Kompetenzgrundlage auch Würdinger, jM 2018, 90, 91. Zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung siehe Art. 4 Abs. 1 EUV, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV; dazu auch Calliess, in: König/Uwer (Hrsg.), Grenzen europäischer Normgebung, S. 16 ff. 896
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nalen Privat- und Zivilverfahrensrechts, nicht jedoch die Angleichung materiellen Rechts.900 Insofern schied Art. 81 AEUV als Kompetenzgrundlage bei der Erstellung des Richtlinienvorschlags a priori aus.901
I. Rechtsgrundlagen Artt. 53 und 114 AEUV Dem Richtlinienvorschlag wurden schließlich die Artt. 53 und 114 AEUV als Kompetenznormen zu Grunde gelegt. Diese geben zwar keine allgemeine Befugnis zur Harmonisierung jeglichen nationalen Wirtschaftsrechts,902 gewähren der EU aber großen Spielraum in ihren Harmonisierungsbestrebungen. Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV regelt den Erlass von Richtlinien zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten. Dieser Artikel erlaubt eine Angleichung und somit Vereinheitlichung mitgliedstaatlicher Vorschriften.903 Der subsidiäre904 Art. 114 AEUV gestattet in seinem Abs. 1 die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. 1. Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV
Die ratio legis des Art. 53 AEUV liegt darin, Schritt für Schritt die Wahrnehmung grenzüberschreitender Tätigkeit zu verbessern und so die Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit des Niederlassungswilligen bzw. des Dienstleistungserbringers in optimalem Maße zu verwirklichen.905 900 Hess, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 81 AEUV, Rn. 10; Leible, in: Streinz (Hrsg) EUV/AEUV, Art. 81 AEUV Rn. 44; Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 81 AEUV Rn. 15. Vgl. des Weiteren Erwägungsgrund 22 EuInsVO, wonach für die Union ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung wegen der großen Unterschiede im materiellen Recht wohl nicht realisierbar ist. 901 Dies erkannte auch die Kommission, siehe COM(2016) 723 final, S. 17. 902 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 13. 903 Ludwigs, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E I Rn. 230. 904 Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 5, 12, 21, Art. 114 AEUV Rn. 11 f.; Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, S. 286 ff. Zur kumulativen Verwendung der Rechtsgrundlagen Tiedje, in: von der Groe ben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 53 AEUV Rn. 45, 50. 905 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 4.
D. Kompetenzgrundlage
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a) Auslegungsparallelen zu Art. 114 AEUV
Die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU entwickelten Leitlinien bei der Auslegung des Art. 114 AEUV sind auch im Rahmen der Auslegung des Art. 53 AEUV zu berücksichtigen.906 Demnach reicht es einerseits für eine Koordinierung bei divergierenden Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, wenn diese geeignet sind, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen resp. wenn das Entstehen von Hindernissen wahrscheinlich ist und der fragliche Rechtsakt deren Vermeidung bezweckt.907 Andererseits genügt ebenso die Beseitigung spürbarer908 Wettbewerbsverzerrungen.909 aa) Beeinträchtigung910 von Grundfreiheiten
Wenngleich es der Wortlaut sowohl des Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV als auch der des Art. 114 Abs. 1 AEUV nahelegt, Harmonisierungsmaßnahmen nicht erst von einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten abhängig zu machen, sondern bereits eine erleichterte Wahrnehmung derselben genügen zu lassen, ist aus Gründen der Rechtssicherheit eine Beeinträchtigung erforder-
906 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Tabakwerbung I), ECLI:EU:C:2000:544, Rn. 87. So auch Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV, Rn. 12; Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 5. 907 EuGH, Rs. C-58/08, Vodafone u. a., ECLI:EU:C:2010:321, Rn. 33; EuGH, Rs. C-301/06, Irland/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2009:68, Rn. 64; EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/ Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2006:772, Rn. 37 f.; EuGH, Rs. C-491/01, The Queen/British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco, ECLI:EU:C:2002:741, Rn. 61. 908 Nach Schweitzer/Schroeder/Bock, EG-Binnenmarkt und Gesundheitsschutz, S. 45 sind Wettbewerbsverzerrungen spürbar, „wenn die fraglichen Vorschriften geeignet sind, die von den Grundfreiheiten berechtigten Personen in ihrer Entscheidung zu beeinflussen, ob sie eine Grundfreiheit wahrnehmen oder nicht.“. Ferner Roth, EWS 2008, 401, 408: Spürbar, wenn „Konsequenzen folgen, die unmittelbar auf die Wettbewerbsposition des einzelnen Unternehmens durchschlagen, ohne dass die Wirtschaftsteilnehmer ihnen ausweichen können und ohne dass diese Wirkungen durch die Unterschiedlichkeit anderer, ebenfalls den Wettbewerb beeinflussender Regelungen kompensierend aufgefangen bzw. nivelliert würden“; auch Rühl, in: Ackermann/Köndgen (Hrsg.), FS Roth, S. 459, 469. 909 Zum Vorliegen von Wettbewerbsverzerrungen Bock, Rechtsangleichung und Regulierung im Binnenmarkt, S. 114: „Grundvoraussetzung für eine Wettbewerbsverzerrung ist eine unterschiedliche, letztlich kostenbelastende Postition von Wirtschaftsteilnehmer [sic], die im Binnenmarkt in (grenzüberschreitendem) Wettbewerb stehen.“; Bron, Rechtsangleichung des Privatrechts auf Ebene der Europäischen Union, S. 73 ff.; Tietje, in: Gra bitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 114 AEUV Rn. 102. 910 Der folgende Problemkreis wird in der Literatur auch unter dem Namen „Gleichlauf-These“ (Bron, Rechtsangleichung des Privatrechts auf Ebene der Europäischen Union, S. 77) oder „Gleichklang-These“ (Ludwigs, EuZW 2012, 608, 610) diskutiert.
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lich.911 Die Feststellung der Grundfreiheitsbeeinträchtigung allein mag schon für den versierten Rechtskundigen oft schwer feststellbar. So unklare resp. teils konturlose Kriterien wie eine hinreichende Nähebeziehung oder die Feststellung, ob die Ausübung einer Grundfreiheit weniger attraktiv gemacht wurde, tun ihr Übriges. Wie aber sollte dann erst mit hinreichender Verlässlichkeit eine grundfreiheitlich relevante Maßnahme unterhalb der Schwelle einer Beeinträchtigung festgestellt werden?912 Probate Lösungsvorschläge auf diese Frage sind in der Literatur zwar angedeutet worden, stellen aber bislang noch kein in sich geschlossenes System dar, sondern begnügen sich mit einzelnen Fallgruppen.913 Jedenfalls im insolvenzrechtlichen Bereich mangelt es an hinreichenden qualifizierenden Kriterien, die mehr als bloße Divergenzen nationaler Rechtsordnungen und weniger als eine Beeinträchtigung nach grundfreiheitsrechtlicher Dogmatik sind. Um die angesprochene immense Unsicherheit zu vermeiden, scheint nur der Weg, eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu fordern, beschreitbar. Daraus folgt schließlich, dass bloße Unsicherheiten der Marktteilnehmer über die Rechtslage aufgrund unterschiedlicher nationaler Vorschriften noch keine relevanten Binnenmarkthindernisse sind und allein keine Harmonisierungsbefugnis der EU begründen.914 Des Weiteren wäre es angesichts bestehender Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten schwer zu vermitteln, weshalb durch eine Harmonisierungsmaßnahme in deren nationales Rechtssystem eingegriffen werden sollte, wenn gar keine Beeinträchtigung vorliegt.915 Gerade im Anblick des Prinzips der be911 Im Ergebnis übereinstimmend Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 40; Ludwigs, EuZW 2012, 608, 610; ders., Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, S. 196; Schweitzer/Schroeder/Bock, EG-Binnenmarkt und Gesundheitsschutz, S. 42 f.; Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 114 AEUV Rn. 97; in dieselbe Richtung GA Léger, Schlussanträge zu Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2006:392, Rn. 115 – 122. Zum Ganzen ausführlich Classen, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 114 AEUV Rn. 48 ff. A. A. Bron, Rechtsangleichung des Privatrechts auf Ebene der Europäischen Union, S. 78 f.; Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 367 f.; Remien, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 14 Rn. 7, der aber eine grenzenlose Anwendung des Art. 114 AEUV kritisiert; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 5 Rn. 148 f.; Roth, EWS 2008, 401, 408 ff.; Rühl, in: Ackermann/Köndgen (Hrsg.), FS Roth, S. 459, 466 f. 912 Ähnlich Ludwigs, EuZW 2012, 608, 610. 913 Siehe z. B. die Suche nach geeigneten Kriterien zur Beurteilung eines qualifizierten Binnenmarktbezuges bei Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 368 f., 375 f.; Roth, EWS 2008, 401, 411 f. Ferner auch Bron, Rechtsangleichung des Privatrechts auf Ebene der Europäischen Union, S. 79 ff. 914 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Tabakwerbung I), ECLI:EU:C:2000:544, Rn. 84; Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 365; Ludwigs, EuZW 2012, 608, 610; kritisch auch Roth, EWS 2008, S. 401, 411 f. 915 Ludwigs, EuZW 2012, 608, 610.
D. Kompetenzgrundlage
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grenzten Einzelermächtigung sowie den Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit des Art. 5 EUV ist in diesem Falle Zurückhaltung zu fordern. Denn ließe man letztlich in Ermangelung eines brauchbaren Maßstabs jede nur etwaige, im weitesten Sinne mittelbare und indirekte Auswirkung auf den Binnenmarkt genügen, hätte fast jeder nicht vereinheitlichte Rechtsbereich das Potenzial, dem Errichten und Funktionieren des Binnenmarktes ein grundfreiheitlich relevantes Hindernis zu bereiten.916 Art. 53 AEUV und v. a. Art. 114 AEUV mutierten so zu einem nahezu omnipotenten Werkzeug unionaler Harmonisierungsbestrebungen. bb) Positiver Binnenmarkteffekt
Letztlich verlangt Art. 53 AEUV in jedem Fall, dass die Richtlinie einen positiven Binnenmarkteffekt917 im Sinne einer tatsächlichen918 Erleichterung der Aufnahme bzw. Ausübung der selbstständigen Tätigkeit zeitigt.919 Auf die Grundfreiheiten bezogen bedeutet dies eine Verbesserung der Marktzugangsvoraussetzungen durch das zu schaffende Recht. Dies impliziert spiegelbildlich, dass das koordinierte Recht marktzugangsbeschränkende Wirkung hat. Abstrakte Gefahren für die Verwirklichung des Binnenmarktes reichen nicht aus.920 Die Prognose eines positiven Binnenmarkteffekts bedarf i. d. R. komplexer, anspruchsvoller Folgenabschätzungen wirtschaftspolitischer Art. Letztlich ist hier dem Unionsgesetzgeber – wie so oft – eine Einschätzungsprärogative zu konzedieren.921 Daher ist eine Beseitigung von etwaigen Hindernissen nicht unbedingt nötig; bereits eine Verringerung derselben reicht aus.922 916 Aber selbst wenn man an der Gleichklang-These festhält, drängt sich die Notwendigkeit einer Eingrenzung des Merkmals „Beschränkung“ auf, vgl. Forsthoff, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 45 AEUV Rn. 193. 917 So Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 46; in: Rühl, in: Ackermann/Köndgen (Hrsg.), FS Roth, S. 459, 462 auch „objektive Binnenmarktfinalität“ genannt. 918 Siehe auch Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 366; Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 32. 919 EuGH, Rs. C-58/08, Vodafone u. a., ECLI:EU:C:2010:321, Rn. 32; EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Tabakwerbung I), ECLI: EU:C:2000:544, Rn. 84, 95, 97, 107; EuGH, Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:1997:231, Rn. 19. EuGH; Rs. C-300/89, Kommission/Rat (Titandioxid), ECLI:EU:C:1991:244, Rn. 23; vgl. auch Wagenbaur, EuZW 2000, 694, 701. 920 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Tabakwerbung I), ECLI:EU:C:2000:544, Rn. 84, 95; dazu auch von Danwitz, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B II Rn. 120. 921 Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 4 Rn. 19; Forsthoff, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 12; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 5 Rn. 149. 922 Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 4 Rn. 19.
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b) Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 53 AEUV
Grundsätzlich ist bei der kompetenzrechtlichen Beurteilung eines Unionsrechtsaktes zunächst die Intention des Gesetzgebers zu eruieren und zu prüfen, ob (subjektiv aus Sicht der Unionsorgane) eine Effektuierung der Grundfreiheiten Ziel des Rechtsaktes ist.923 Daran schließt sich die Frage nach der tatsächlichen, objektiven Wirkung des Rechtsaktes an.924 Innerhalb letzterem ist wiederum zu differenzieren: Zum Ersten ist festzustellen, ob dem zu koordinierenden Recht überhaupt marktzugangsbeschränkende Wirkung zukommt, was eine Beschränkung von Grundfreiheiten impliziert. Zum Zweiten muss dieser EU-rechtlich unerwünschte Umstand durch den avisierten Rechtsakt objektiv verbessert, mithin die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten tatsächlich gefördert werden.925 aa) Intention des EU-Gesetzgebers
Die Kommission hat deutlich ihre Ambitionen zum Ausdruck gebracht, mit dem Richtlinienvorschlag Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten, insbesondere des freien Kapitalverkehrs oder der Niederlassungsfreiheit, die auf die Unterschiede zwischen den nationalen Vorschriften zurückzuführen sind, zu beseitigen. Diese Zielsetzung findet sich in Erwägungsgrund 1 des RL-V sowie auf S. 17 im Rahmen der Begründung des Vorschlags.926 bb) Beeinträchtigung von Niederlassungs-/Dienstleistungsfreiheit
Kritischer zu würdigen sind die von der Kommission behaupteten etwaigen Beschränkungen der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit.927 Eine Beschränkung liegt vor, wenn Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit durch die divergierenden nationalen Vorschriften, welche den Zugang zur Entschuldung, die Entschuldungs- und die Verbotsfrist betreffen, behindert oder weniger attraktiv gemacht,928 und der Marktzugang infolgedessen be923
Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 31. Rühl, in: Ackermann/Köndgen (Hrsg.), FS Roth, S. 459, 462 bezeichnet dies als subjektive und objektive Binnenmarktfinalität. Siehe auch von Danwitz, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B II Rn. 117. 925 Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 114 AEUV Rn. 96. Zum positiven Binnenmarkteffekt § 4. D. I. 1. a) bb). 926 Ausdrücklich nimmt das Europäische Parlament mit Änderungsantrag Nr. 7 zu Erwägungsgrund 6 auf S. 10 seines Berichts (Fn. 803) auf Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit durch Unsicherheiten bei grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität Bezug. 927 COM(2016) 723 final, S. 17. 928 Zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard/Consiglio dell’ordine degli avvocati e procuratori di Milano, ECLI:EU:C:1995:411, Rn. 37; zur Dienstleistungs924
D. Kompetenzgrundlage
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schränkt wird.929 Auch geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen sind verboten.930 Um jedoch der ausufernden Weite dieser Formel zu begegnen, wird eine gewisse Nähebeziehung, ein eindeutiger Ursachenzusammenhang,931 der Maßnahme zu der jeweiligen Grundfreiheit gefordert.932 Ungewisse oder zu mittelbare Wirkungen sind nicht als Beeinträchtigung anzusehen.933 (1) Generelle Erwägungen
Bevor eine Prüfung anhand der aufgezeigten Maßstäbe unternommen wird, sind vorab noch folgende Erwägungen zu beachten. (a) Einzelfallprüfung: Standortbedingung oder Freiheit der Standortwahl
Zum einen sei generell noch darauf hingewiesen, dass im Bereich der Niederlassungsfreiheit allgemein dafür plädiert wird, Vorschriften betreffend die Ausübung einer Tätigkeit grundsätzlich nicht am Beschränkungsverbot zu messen, weil die Vorschriften integrierender Bestandteil der Standortbedingungen seien und die Niederlassungsfreiheit nur die freie Standortwahl ermöglichen soll.934 freiheit EuGH, Rs. C-76/90, Manfred Säger/Dennemeyer & Co. Ltd, ECLI:EU:C:1991:331, Rn. 12; zum Beschränkungsverbot auch Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 49 AEUV Rn. 18 ff.; Schlag, in: Schwarze/Becker/ Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 49 AEUV Rn. 45 ff. 929 Dazu auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 490 Rn. 1006, S. 521 Rn. 1051 ff. 930 EuGH, Rs. C-9/02, Hughes de Lasteyrie du Saillant/Ministère de l’Économie, des Finances et de l’Industrie, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 43. 931 Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 50; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 49 AEUV Rn. 112 ff. 932 Zur Weite der Formel Dietz/Streinz, EuR 2015, 50, 55. 933 Zu Art. 30 EWG-Vertrag (Warenverkehrsfreiheit) EuGH, Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter GmbH/Pelin Baskiciogullari, ECLI:EU:C:1993:838, Rn. 12; zu Art. 52 EWG-Vertrag (Niederlassungsfreiheit) EuGH, verb. Rs. C-418/93, C-419/93, C-420/93, C-421/93, C-460/93, C-461/93, C-462/93, C-464/93, C-9/94, C-10/94, C-11/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 und C-332/94, Semeraro Casa Uno u. a./Sindaco del Comune di Erbusco u. a., ECLI:EU:C:1996:242, Rn. 32; zu Art. 59 EWG-Vertrag (Dienstleistungsfreiheit) EuGH, Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/ Stephen Grogan u. a., ECLI:EU:C:1991:378, Rn. 24; zu Art. 48 EG-Vertrag (Arbeitnehmerfreizügigkeit) EuGH, Rs. C-190/98, Volker Graf/Filzmoser Maschinenbau GmbH, ECLI: EU:C:2000:49, Rn. 25. Auch von Danwitz, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B II Rn. 120 f. 934 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 AEUV Rn. 112, Art. 45 AEUV Rn. 209 f.; interessant zum Widerstreit von Binnenmarktziel und Rechtsvielfalt Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, S. 364.
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Maßgeblicher Punkt ist dabei die Freiheit der Standortwahl, die nicht automatisch durch divergierende Standortbedingungen eingeschränkt wird. An dieser Stelle fällt auf, dass die Dogmatik hier auf einem schmalen Grat wandelt. Einerseits fordern oben erwähnte Literaturstimmen eine Beschränkung der Grundfreiheiten, damit die Tatbestandsvoraussetzungen der Artt. 53, 114 AEUV erfüllt sind. Andererseits sollen im Bereich der grundfreiheitlichen Dogmatik Standortbedingungen generell nicht geeignet sein, ein Hindernis für die Personenfreizügigkeiten darzustellen. Friktionen bei der bedingungslosen Befolgung dieser Standpunkte sind unverkennbar. Um diese Ansichten in Einklang miteinander zu bringen, ist für den vorliegenden Fall von einer Einzelfallprüfung auszugehen, in deren Rahmen eruiert werden muss, inwiefern diese Standortbedingungen die Freiheit der Standortwahl negativ beeinflussen. Maßgebliches und ausschlaggebendes Momentum ist hier, wie bereits angesprochen, das Vorliegen eines relevanten Marktzugangshindernisses.935 Da es nicht nur um ein beliebiges Marktzugangshindernis geht, sondern auch um das Vorliegen der oben beschriebenen hinreichenden Nähebeziehung, bietet sich im Folgenden der Begriff des „qualifizierten Marktzugangskriteriums“ an. (b) Sensibilität in Kompetenzfragen
Zum anderen ist gerade im sensiblen Bereich kompetenzieller Fragen mit Vorsicht zu verfahren.936 Ein Beschränkungsverbot soll nicht dazu führen, dass letztlich Bereiche auf eine Art unionsrechtlich konfiguriert werden, die die effektive Wahrnehmung nationaler Kompetenzen ausschließt.937 Umgekehrt darf den Mitgliedstaaten aber unter Hinweis auf ihre Kompetenzen kein Universalschlüssel zur Umgehung der Grundfreiheiten an die Hand gegeben werden.938 Ein solches lässt das Unionsrecht nicht zu. So gilt das (nur durch das Unionsrecht selbst begrenzte) Diskriminierungsverbot als unionsrechtlicher Mindeststandard bei der Ausübung jedweder mitgliedstaatlicher Befugnisse. Anders stellt sich die Situation beim weiten Beschränkungsverbot dar. Je weiter man sich von der Kategorie Diskriminierung entfernt und je näher man der Kategorie Beschränkung kommt, desto stärker sind die kompetenziellen Einwände der 935 Ähnlich Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 45 AEUV Rn. 220 ff. 936 Zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten als Harmonisierungsgrenze Dreher, JZ 1999, 105, 108. 937 Dieser Gedanke findet sich bei Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 45 AEUV Rn. 212; kritisch Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, S. 437 ff. 938 GA Tesauro, Schlussanträge zu Rs. C-125/95, Nicolaus Decker/Caisse de maladie des employés privés, ECLI:EU:C:1997:399, Rn. 17 – 25.
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Mitgliedstaaten zu beachten. Alles in allem ist auch hier eine Einzelfallprüfung unabdingbar. (2) Qualifiziertes Marktzugangshindernis
Im Folgenden sind nun also die dargestellten Grundsätze auf die nationalen Entschuldungs- und Berufsverbotsvorschriften anzuwenden. (a) Begründung des RL-V
Dem RL-V zufolge bereiten die Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften und Verfahren beachtenswerte Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit.939 Aus dem Kon glomerat der Begründungserwägungen sind diejenigen zur Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit herauszufiltern und im Rahmen des Art. 53 AEUV nur diejenigen zu betrachten, die die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit betreffen. Eine genaue Grenzziehung ist dabei nicht immer möglich, weil der EuGH bspw. auch die Tätigkeit der Kreditvergabe durch ein Kreditinstitut als Dienstleistung im Sinne des Art. 56 AEUV bezeichnet.940 Die Kommission stellt in ihrer Begündung u. a. auf die grenzüberschreitende Kreditvergabe der Gläubiger an die Schuldner ab, die dann eingeschränkt sei, wenn Gläubiger sich im Falle der Nichtzahlung nicht ausreichend schützen könnten.941 Neben dienstleistungsfreiheitlichen Aspekten folgen daraus im Allgemeinen mittelbar insofern Auswirkungen auf die Niederlassungsfreiheit, als ein Niederlassungsort für den Schuldner unattraktiv werden könnte, wenn die Gläubiger Schuldnern, die sich dort niederlassen wollen, vergleichsweise unter erschwerten Bedingungen Kredite zur Verfügung stellen. Sei es aus Angst um die Durchsetzung ihrer Kreditforderungen oder wegen der Mehrkosten und zusätzlichen Risikobewertungen, die im Falle einer COMI-Verlegung des Schuldners zwecks zügigerer Entschuldung zu erwarten sind.942 Ferner rekurriert die Kommission direkt auf die Niederlassungsfreiheit, indem sie auf die zusätzlichen Kosten einer COMI-Verlegung im Fall des Restschuldbefreiungstourismus hinweist.943 Außerdem konstatiert sie die Verursachung von Hindernissen für die Aufnahme 939
COM(2016) 723 final, S. 17 und S. 28 Erwägungsgrund 1. Siehe EuGH, Rs. C-602/10, SC Volksbank România SA/Autoritatea Naţională pentru Protecţia Consumatorilor – Comisariatul Judeţean pentru Protecţia Consumatorilor Călăraşi (CJPC), ECLI:EU:C:2012:443, Rn. 70 – 72; EuGH, Rs. C-452/04, Fidum Finanz AG/Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, ECLI:EU:C:2006:631, Rn. 49. 941 COM(2016) 723 final, S. 16; SWD(2016) 357 final, S. 155 ff. 942 COM(2016) 723 final, S. 16, 17, in weiterem Sinne auch Erwägungsgrund 11. 943 COM(2016) 723 final, S. 17 und S. 29 Erwägungsgründe 4, 8, 37. 940
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und Ausübung einer selbstständigen unternehmerischen Tätigkeit durch lange Berufsverbote.944 Diese korrelieren oftmals mit einer langen Dauer der Entschuldungsverfahren, welche zusätzlich hohen Kosten verursachen kann.945 (b) Stellungnahme des Bundesrates
Der Bundesrat zieht die Rechtsgrundlage des Richtlinienvorschlags in seiner Stellungnahme946 in Zweifel. Zunächst weist er auf die Voraussetzung des Art. 114 AEUV, die objektive Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes, hin und spricht der EU eine umfassende Rechtsetzungs- und Harmonisierungskompetenz im Bereich des Insolvenzrechts ab.947 Zudem bezweifelt er den tatsächlichen Einfluss divergierender Insolvenzrechte auf unternehmerische und Anlegerentscheidungen und stellt damit die Binnenmarktrelevanz in Frage.948 Die Auswirkungen einer COMI-Verlegung auf die Risikobewertung hält er für spekulativ.949 Darüber hinaus könnten sich mit dem Richtlinienvorschlag Folgewirkungen in Rechtsgebieten ergeben, in denen der EU keine Kompetenz zusteht.950 Im Rahmen der Verhandlungen über die Richtlinie hat die deutsche Delegation außerdem in einem Vermerk mit Nachdruck darauf hingewiesen, die Richtlinie bringe keinen signifikanten Beitrag zur Reduzierung und Verhinderung notleidender Kredite.951 (c) Unterrichtung durch die Kommission
Der Stellungnahme des Bundesrates folgte eine Unterrichtung durch die Kommission.952 In diesem Rahmen setzt sich die Kommission mit den kompetenzrechtlichen Bedenken des Bundesrates auseinander. Sie verweist auf das Dokument SWD(2016) 357 final und führt die erheblichen grenzüberschreitenden Auswirkungen, die aus den Unterschieden in den mitgliedstaatlichen Insolvenzrechten resultieren, als Rechtfertigung der Rechtsgrundlagen an.953 Jedoch 944
COM(2016) 723 final, S. 29 Erwägungsgründe 4, 8. COM(2016) 723 final, S. 6, 21. 946 BR-Drucks. 1/17 vom 10. 03. 2017. 947 BR-Drucks. 1/17, S. 2 Punkt 2. 948 BR-Drucks. 1/17, S. 2 Punkt 3. 949 BR-Drucks. 1/17, S. 3 Punkt 3: „Ebenso wenig ist voraussehbar, […]“. 950 BR-Drucks. 1/17, S. 3 Punkt 4. 951 Interinstitutional File: 2016/0359 (COD), Brussels, 16 October 2018 (OR. En), 13184/18, JUSTCIV 241/EJUSTICE 132/ECOFIN 926/COMPET 671/EMPL 470/SOC 610/CODEC 1682. 952 C(2017) 3783 final vom 06. 06. 2017. 953 C(2017) 3783 final, S. 4. 945
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belässt sie es bei allgemeinen Unterschieden, ohne daraus zwingende rechtliche Schlüsse abzuleiten. So wird bspw. lediglich angeführt, die Beitreibungsraten würden europaweit stark variieren und die Dauer der Insolvenzverfahren sei in zehn Mitgliedstaaten länger als zwei Jahre. Was das konkret für die Kompetenz zum Erlass entsprechender Vorschriften bedeutet, beantwortet sie nicht. Aus ihrem Hinweis, von jährlich 200 000 Insolvenzen in der EU seien ca. 25 % grenzüberschreitend, kann nur die grenzüberschreitende Dimension des Sachverhalts gefolgert werden. Augenfällig setzt sich die Kommission nicht dezidiert mit den Bedenken des Bundesrats auseinander, sondern wiegelt mit unspezifischen Äußerungen ab. Inwiefern die Grundfreiheiten beeinträchtigt sind und der Binnenmarkt gerade in Bezug auf harmonisierte Vorschriften zur zweiten Chance tatsächlich verbessert wird, ergibt sich nicht aus der Unterrichtung. (d) Empirischer Befund
Unabhängig von theoretischen Erwägungen, bleiben die praktischen Auswirkungen maßgeblich. Um zu beantworten, ob tatsächlich ein qualifiziertes Marktzugangshindernis mit den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Vorschriften heraufbeschworen wird, sind empirische Untersuchungen unerlässlich.954 Es wurden bereits Schwierigkeiten konstatiert, die Implikationen von Standortentscheidungen in einem Wettbewerb der Rechtsordnungen empirisch zu ermitteln.955 Die Behauptung der Kommission „However, the single market dimension of the problems is even larger than these figures suggest since many companies avoid expanding or investing cross-border in the first place, due to the non-convergence of insolvency frameworks and uncertainty about the effectiveness of the applicable rules […]“956 bleibt wenig fundiert.957 Verwiesen wird lediglich 954 Zu empirischen Indikatoren für den Systemwettbewerb Straubhaar, in: Schenk/ Schmidtchen/Streit/Vanberg (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, S. 243, 247 ff. Kursorisch zum Standortwettbewerb aus ökonomischer Sicht Döring/Aigner, in: Korn/Beek/Fischer (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen in der Wirtschaftsförderung, S. 13 ff.; Haaker, Standortwahl von internationalen Industrieunternehmungen, passim. 955 Behrens, in: Everling/Roth (Hrsg.), Mindestharmonisierung im Europäischen Binnenmarkt, S. 33, 36: „Kaum je wird einmal für konkrete Normen eine Marktanalyse vorgenommen, indem zunächst einmal die ,Nachfrager‘ identifiziert werden und im Einzelnen untersucht wird, von welchen Wettbewerbsparametern sie ihre Entscheidungen abhängig machen.“ Peng/Yamakawa/Lee, ETP 2010, 517, 527 bemerken: „However, what we do not know is how many would-be entrepreneurs are deterred by harsh bankruptcy laws and how many potentially significant entrepreneurial ideas and opportunities are lost.“. 956 SWD(2016) 357 final, S. 9. 957 Auch der Bericht der fünf Präsidenten („Five Presidents’ Report“) vom 22. 06. 2015 mit dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ füllt die Lücke
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auf die öffentlichen Konsultationen, in denen dies zum Vorschein gekommen sein soll.958 Doch auch dort war das Meinungsbild bei weitem nicht einheitlich.959 Außerdem können Konsultationen schlichtweg keine wissenschaftlichen Untersuchungen, seien entsprechende Ergebnisse auch schwierig zu erreichen,960 ersetzen, sondern im besten Fall Indizwirkung entfalten. In der Literatur mehren sich mittlerweile die Stimmen, die die Vorteile einer umfassenden, schnellen Entschuldung für unternehmerische Aktivität gegenüber den damit einhergehenden Nachteilen, wie höheren Kreditkosten und geringeren Befriedigungsquoten,961 überwiegen sehen.962 Demnach soll eine Entschuldung zu erhöhter unternehmerischer Aktivität und neuen Unternehmensgründungen führen und sich so gesamtwirtschaftlich positiv auswirken. Daraus kann aber nicht direkt auf eine Binnenmarktrelevanz im hier diskutierten Sinne geschlossen werden. Zunächst wird der beschriebene Effekt selbst in der Literatur kontrovers diskutiert.963 Außerdem sind einerseits die ermittelten Daten teils nicht repräsentativ und andererseits nur auf nicht grenzüberschreitende Implikationen beschränkt.964 Eine Vielzahl der Studien stellt lediglich einen Zusammenhang zwischen der Änderung nationalen Insolvenzrechts mit der an empirischen Daten nicht auf, siehe https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/ files/5-presidents-report_de _0.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). Nachweise fehlen auch in COM(2017) 147 final, S. 10 f. und COM(2015) 630 final, S. 30 f. Ebenso führen SWD(2014) 61 final, S. 24 ff. und der Report of the Expert Group, a second chance for entrepreneurs: prevention of bankruptcy, simplification of bankruptcy procedures and support for a fresh start, abrufbar unter http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/10451/ attachments/1/translations (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018), in dieser Frage nicht weiter. 958 Verweis in SWD(2016) 357 final, S. 27, 118. Näher SWD(2015) 184 final, S. 59. 959 SWD(2016) 357 final, S. 145; SWD(2014) 61 final, S. 47, wonach nur 3/4 der im Rahmen der öffentlichen Konsultation Befragten die Harmonisierung der Entschuldungsfristen befürworten. 960 Straubhaar, in: Schenk/Schmidtchen/Streit/Vanberg (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, S. 243, 250 konstatiert Schwierigkeit, den Einfluss des Systemwettbewerbs von anderen Bestimmungsfaktoren zu isolieren. 961 Es tritt also der makroökonomisch ambivalente Effekt auf, dass zwar die unternehmerische Aktivität ansteigt; jedoch steigt auch wegen strengerer Kreditbedingungen das wirtschaftliche Risiko für einen Teil der Unternehmer. Dazu Cerqueiro/Penas, RFS 2017, 2523, 2554: „An increase in exemptions presumably makes entrepreneurship more attractive for risk-averse individuals, since they obtain additional wealth insurance in case they fail. At the same time, it can also increase failure rates of new entrants if these new firms cannot access credit.“. 962 Statt aller Fossen/König, CESifo DICE Report 2015 13dd), S. 28 – 30: encouraging insurance effect vs. discouraging borrowing cost effect. Vgl. ferner Estrin/Mickiewicz/ Rebmann, SBE 2017, 977, 993 ff. 963 Fossen/König, CESifo DICE Report 2015 13dd), S. 28 f. 964 Zu Problemen und Ungenauigkeiten bei der statistischen Erhebung auch Cumming, JEF 2012, S. 80 ff.
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Änderung nationaler unternehmerischer Aktivität her. Darüber hinaus ist mit dieser Theorie noch nicht gesagt – und eben darauf kommt es an –, inwiefern gerade die Differenzen in den mitgliedstaatlichen Insolvenzordnungen Individuen von Unternehmensgründungen und wirtschaftlicher grenzüberschreitender Aktivität abhalten. Diesbzgl. fehlen einschlägige Statistiken und empirische-repräsentative Untersuchungen.965 Die Kommission legt ihrem Standpunkt zwar einige Zahlen zu Grunde. Sie verweist u. a. auf die insolvenzrechtsinduzierten Transaktionskosten,966 speziell beim Forum Shopping.967 Dass dort Kosten anfallen, liegt in der Natur der Sache, ist aber gleichwohl nicht unmittelbar als Binnenmarktbeeinträchtigung zu werten. Ebenso geht der Verweis auf weitere anfallende Kosten fehl.968 Offen bleibt, inwieweit diese Kosten, die naturgemäß aus den Divergenzen der Rechtsordnungen resultieren, als Argument herangezogen werden dürfen und ob sich daraus überhaupt konkrete Binnenmarktbeeinträchtigungen ohne Weiteres ableiten lassen.969 Die Relevanz der Entschuldungsvorschriften für diese Frage erläutert die Kommission nicht ausreichend.970 Die vom BGH vor einiger Zeit aufgeworfene Frage, in welchem Umfang die Länge der Wohlverhaltensperiode die Befriedigungsaussichten der Insolvenzgläubiger tatsächlich verbessert 965 Es gibt zwar eine Fülle von Untersuchungen, jedoch finden sich kaum konkrete zu dieser Frage passende Zahlen. Niemi, JCP 2012, 443, 450 ff. behauptet zwar eine bestehende Kompetenz insbesondere wegen Beschränkungen des Art. 45 AEUV, legt aber weder Zahlen vor noch greifen die dargelegten Argumente durch. Die oben genannten Einwände gelten auch hinsichtlich des Art. 45 AEUV. Auch die Beiträge von Lee/Yamakawa/Peng/ Barney, JBV 26 (2011), 505 ff. und Armour/Cumming, ALER 2008, 303 ff. ändern (wegen bspw. der geringen Anzahl untersuchter Unternehmen, der Beschränkung auf die nationale Perspektive etc.) an dieser Sichtweise nichts. Ferner findet sich auch sonst – soweit ersichtlich – kaum einschlägiges Material. 966 SWD(2016) 357 final, S. 32: „Relocation costs represent costs for companies that could not use a good restructuring framework in a Member State where they were locat ed and were obliged to relocate to other Member States for the purpose of restructuring and avoiding insolvency. Relocation costs also include the costs for creditors to inform themselves about the laws of the ,new‘ Member State (the one to which the distressed company moved)“. Ausführlich zu den „relocation costs“ die Studie „Impact assessment study on policy options for a new initiative on minimum standards in insolvency and restructuring law“, https://publications.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/2bb5fd98 – 6065 – 11e7 – 954d-01aa75ed71a1/language-en (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 967 SWD(2016) 357 final, S. 33. 968 Z. B „coordination costs“, SWD(2016) 357 final, S. 34; siehe auch „additional costs and lost benefits from unsuccessful rescues of viable companies“, SWD(2016) 357 final, S. 36 ff. 969 Auch Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, S. 25 ff. geht nicht auf das Insolvenzrecht als Standortfaktor ein. 970 Vgl. SWD(2016) 357 final, S. 46. Ebenso findet Jacobi, ZInsO 2018, 597, 599 keine belastbaren Daten in den Kommissionsdokumenten.
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– oder spiegelbildlich verschlechtert –, ist selbst bis zum heutigen Tage nicht umfassend aufgearbeitet.971 Einleuchtender scheint es – wenn überhaupt –, den Ausführungen Glauben zu schenken, die eine Binnenmarktbeeinträchtigung durch die anderen differierenden, eigenständig neben den Entschuldungsfristen stehenden Aspekte mitgliedstaatlicher Insolvenzordnungen annehmen.972 Viel eher als die Entschuldungsvorschriften kommt diesen Aspekten eine tragende Rolle zu.973 Insgesamt ist der Faktor Rechtssicherheit als Determinante der unternehmerischen Standortwahl wichtig.974 Dies lässt aber nicht eo ipso den Schluss zu, unterschiedliche Entschuldungsvorschriften trügen zu einem so hohen Maße an Rechtsunsicherheit bei, dass dies Unternehmer in ihrer Standortwahl beeinflusste und die Grundfreiheiten beeinträchtigte. Mehr als die Vermutung, dass es einen wie auch immer gearteten kausalen Nexus zwischen dem Schutz des privaten Eigentums und Investitionsentscheidungen gibt, ist empirisch nicht fundiert nachgewiesen worden.975 Weiterhin ist auch die Sicht der Gläubiger im Blick zu behalten. Nimmt man die Gläubigerperspektive ein, könnte das Argument Platz greifen, es wäre für Gläubiger unattraktiv in Staaten Niederlassungen zu gründen oder zu investieren, die eine besonders kurze Entschuldungsfrist kennen. Dieses Argument 971 Zu dieser Frage BGH, Beschl. v. 18. 09. 2001 – IX ZB 51/00 0 = NJW 2002, 960, 961. Die Kommission geht wohl bei einer einjährigen Entschuldungsfrist von einer Verschlechterung aus, vgl. SWD(2014) 61 final, S. 39: „A short discharge period may have negative impact on availability and costs of credit, as the creditors may fear that they are likely to have more claims unpaid due to the discharge.“. 972 Siehe dazu die in SWD(2016) 357 final, S. 47 aufgeführten Punkte: z. B. Verbesserung der Berufsaussichten im Binnenmarkt, Reduzierung nicht notwendiger Liquidationen und Ermöglichung umfassender Restrukturierung, Reduzierung von Verfahrenskosten, Beschränkung der Rechte dissentierender Gläubigerminderheiten und Stärkung von Verhandlungsmöglichkeiten; auch S. 124, 155 mit Verweis auf die Studie Potential economic gains from reforming insolvency law in Europe, AFME, Frontier economics, Weil, February 2016, https://www.afme.eu/globalassets/downloads/publications/unlockingfunding-for-european-investment-and-growth-report-14. 06. 13.pdf?dm_t=0,0,0,0,0 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 973 Demgegenüber bezeichnet Haaker, Standortwahl von internationalen Industrieunternehmungen, S. 36 das Gesellschafts- und Insolvenzrecht als unmittelbar die Standort entscheidung standortsuchender Unternehmungen beeinflussend. Wie stark der Anteil des Insolvenzrechts gegenüber dem Gesellschaftsrecht sein soll, wird nicht beantwortet, weshalb dieser Untersuchung keine allzu große Bedeutung beizumessen ist. 974 Berlemann/Tilgner, ifo Dresden berichtet 2006, 14, 16 – 18, https://www.econstor. eu/bitstream/10419/169800/1/ifo-db-v13-y2006-i06-p14 – 24.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 975 Siehe auch Berlemann/Göthel, ifo Dresden berichtet 2008, 33, 36, http://www.cesifo-group.de/DocDL/ifodb_2008_4_33_43.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018).
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krankt aber an zwei Fronten. Zum einen muss der tatsächliche Zusammenhang zwischen der Dauer der Entschuldungsfrist und der Höhe der Befriedigungsquote empirisch ermittelt werden. Zum zweiten können sich aufgrund der Mindestharmonisierung immer noch ausreichend große Differenzen in der Dauer der mitgliedstaatlichen Entschuldungsfristen ergeben, die Auswirkungen auf die Höhe der Befriedigungsquote haben könnten. (3) Stellungnahme: Beeinträchtigung von Niederlassungs-/Dienstleistungsfreiheit
Es ist äußerst zweifelhaft, ob aus den unterschiedlichen Insolvenzvorschriften ein qualifiziertes Marktzugangshindernis für die Ausübung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit resultiert.976 Dabei geht es nicht um die Negation divergierender Rechtsordnungen als Wettbewerbsverzerrung oder Beeinträchtigung schlechthin.977 Dies ist eine Frage, deren Beantwortung die Politik oftmals als ihr Vorrecht versteht.978 Vielmehr geht es um die Qualifizierung des Marktzugangshindernisses. Rein theoretisch mag also ein Marktzugangshindernis vorliegen. Fraglich ist aber, ob eine hinreichende Nähebeziehung besteht und spiegelbildlich, ob die unionsrechtlichen Vorgaben im Richtlinienvorschlag überhaupt in der Lage sind, die Marktzugangsvoraussetzungen mehr als nur unerheblich tatsächlich zu verbessern.979 Nachfolgend sollen einige grundlegende Überlegungen angestellt werden. (a) Bestimmung des maßgeblichen Standortfaktors
Die Wahrnehmung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ist aus Sicht der sich darauf berufenden Person von vielerlei Faktoren abhängig. Auch der rechtsvergleichende Blick auf das ungünstigste Szenario – das unternehmerische Scheitern – und die damit verbundenen Folgen müssen in die Erwägungen rund um die grenzüberschreitende Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit miteinfließen. Von den mannigfaltigen Umständen und Gegebenheiten, die für die Aufnahme einer erfolgversprechenden grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivität ausschlaggebend sind, kommt den Überlegungen zu den 976
Anders wohl Schall, KTS 2009, 69, 70. Vgl. zum Wettbewerb der Rechtsordnungen bzw. Systemwettbewerb § 3 A. I. 978 Allgemein Bock, Rechtsangleichung und Regulierung im Binnenmarkt, S. 114, 131 ff. Bereits Hopt, ZIP 1998, 96, 98 f. sprach hinsichtlich des Gesellschaftsrechts von einer rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Legitimiationskrise der Rechtsangleichung, verursacht durch die rechtstheoretischen Überlegungen zum Systemwettbewerb. 979 Pointiert Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 374: „Vielmehr bleibt es dabei, dass Angleichungsmaßnahmen auf die Beseitigung von besonders gewichtigen Markthindernissen gerichtet sein und dass diese Hindernisse objektiv plausibilisiert werden müssen.“. 977
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rechtsvergleichenden Folgen des unternehmerischen Scheiterns aber wohl keine vorrangige Bedeutung zu.980 Der etwaige Anreiz rascher umfänglicher Entschuldung zu größerer unternehmerischer Aktivität verliert in dem Maße umso mehr Strahlkraft, als es natürlichen Personen leichter fällt, ihre Haftung durch Zwischenschaltung haftungsbeschränkter Gesellschaften zu limitieren.981 Außerdem liegt es zwar nicht fern, sich mit den insolvenzrechtlichen Folgen eines Scheiterns bei Aufnahme oder Expansion unternehmerischer Tätigkeit zu beschäftigen. Ob dies tatsächlich passiert, steht auf einem anderen Blatt.982 Wenn es aber geschieht, ist fraglich, ob daraus in einer nicht nur unerheblichen Anzahl der Fälle Beeinträchtigungen der genannten Grundfreiheiten im Sinne von qualifizierten Marktzugangshindernissen resultieren können. Dies ist mitunter deswegen zweifelhaft, da diese Beeinträchtigungen sich nicht aus dem Insolvenzrecht nur eines Mitgliedstaates, sondern aus den Differenzen verschiedener Insolvenzrechte der Mitgliedstaaten ergeben müssen. Vor dem Hintergrund der oben bereits angesprochenen „zweiten Spur der Europäisierung“983 ist dem Faktum der sich nach und nach immer stärker angleichenden nationalen Insolvenzrechte Beachtung zu schenken.984 Die Unterschiede nehmen deswegen, im Großen und Ganzen betrachtet, in jüngerer Zeit kontinuierlich ab. Schon aus diesem Grund ist die entscheidende Marge an möglichen Konstellationen, in denen überhaupt Differenzen auftreten, die so gravierend sind, dass sie dann zusätzlich noch eine wesentliche Rolle für die Entscheidungsfindung spielen, eher gering.985 Dies gilt umso mehr, als natürliche Personen betroffen sind.
980 Ähnlich in anderem Zusammenhang Jäger, ZVI 2012, 142, 143; Lee/Yamakawa/ Peng/Barney, JBV 26 (2011), 505, 517 m. w. N. 981 Zwar werden auf Drängen eines Gläubigers erteilte persönliche Sicherheiten dem entgegenstehen. Dennoch wird der etwaige Anreiz durch die angesprochene Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung zunächst gemindert. Dieser Effekt ist umso stärker, je geringer das gesetzlich vorgesehene Mindestkapital ist. 982 Siehe auch Lee/Yamakawa/Peng/Barney, JBV 26 (2011), 505, 517 m. w. N. Vgl. auch Van Auken: „When you start a business, the last thing you think about is going bankrupt.“, abrufbar unter http://www.public.iastate.edu/~nscentral/news/2007/oct/bankruptcy.shtml (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 983 Würdinger, KTS 2017, 445, 447; vgl. oben Fn. 454. 984 Zu Konvergenztendenzen hinsichtlich der Entschuldungsvorschriften McCormack/ Keay/Brown, European Insolvency Law, S. 313 m. w. N. in Fn. 24. 985 Eine ähnliche Beobachtung haben Armour/Cumming, ALER 2008, 303 ff. gemacht. Je geringer die Unterschiede in der Länge der Entschuldungsfristen sind, desto geringer fällt auch der Zuwachs unternehmerischer Aktivität aus (vgl. dazu den online unter https://ssrn.com/abstract=1318088 verfügbaren Beitrag auf S. 14 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018)).
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(b) Notwendigkeit einer plausiblen Begründung
Die gerade angesprochene, auch als Bündelproblem bezeichnete Erscheinung, dass mehrere Faktoren bei der Entscheidung für oder wider die Wahrnehmung der Grundfreiheiten maßgeblich sind, erschwert folglich die abschließende Erfassung der Implikationen der Abwanderungsentscheidung.986 Wichtig ist aber festzuhalten, dass Erschwernisse bei der Feststellung der relevanten Determinaten trotz dem Beurteilungsspielraum der Kommission nicht zu einer Beweiserleichterung bei der Behauptung einer Kompetenz führen dürfen. Insofern ist jedenfalls eine plausible Begründung zu fordern, die die erhebliche Relevanz eines besonderen Standortfaktors indiziert und seine konkrete Bedeutung plausibel darlegt.987 Eine solch plausible resp. empirisch untermauerte Begründung vermochte die Kommission bisher nicht zu geben.988 (c) Funktionaler Konnex und Souveränitätsvorbehalt
Zudem muss man sich vor Augen halten, dass die Unterschiede in den allgemeinen nationalen Straf- und Steuerrechtsvorschriften (ebenso wie im Gesellschaftsrecht) regelmäßig einen viel größeren Anreiz bieten und damit korrelierend viel größere Beschränkungen für grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeiten bedeuten als die mitgliedstaatlichen Insolvenzrechtsdifferenzen.989 Darüber hinaus beziehen sich die o. g. Rechtsbereiche spezifischer als das Insolvenzrecht auf die Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit.
986 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, S. 61: „Da die Nachfrager mit einem bestimmten Standort oder Produkt stets große Teile einer Rechtsordnung, d. h. ein ganzes Bündel von Institutionen, bspw. aus den Bereichen des Umwelt-, Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts wählen, ist es für den Wählenden schwierig, die Implikationen der Abwanderungsentscheidung vollständig zu erfassen, zumal bei der Standortentscheidung auch eine Fülle wirtschaftlicher Faktoren, wie der Zugang zu Absatz- und Beschaffungsmärkten, der Stand der Infrastruktur, das Angebot an geeigneten Arbeitskräften und ähnliches mehr zu bedenken sind.“; siehe auch S. 86, 240. 987 Zur Plausibilität EuGH, Rs. C-600/10, Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland, ECLI:EU:C:2012:737, Rn. 26; EuGH, Rs. C-105/08, Europäische Kommission/Portugiesische Republik, ECLI:EU:C:2010: 345, Rn. 30. 988 A. A. recht pauschal ohne vertiefte Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Gesichtspunkten Roedig, Institutioneller Wettbewerb im europäischen Insolvenzrecht, S. 234, 236, die die Plausibilität einer qualifizierten Marktzugangsbehinderung annimmt. 989 Zum Steuerrecht als Hindernis der Kapitalmarktunion COM(2016) 601, S. 4; siehe auch Armour/Cumming, ALER 2008, 303 ff., die taxation, property rights (in particular intellectual property) und labour market regulation als Faktoren angeben (vgl. dazu den online unter https://ssrn.com/abstract=1318088 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018) verfügbaren Beitrag auf S. 4).
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Wenn nun selbst diese Rechtsbereiche mangels funktionalen Konnexes990 nicht auf die Koordinierungskompetenz des Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV gestützt werden können,991 so gilt als argumentum a fortiori folglich, dass auch koordinierende Maßnahmen im Bereich des Insolvenzrechts schwerlich auf Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV gründen dürften.992 Dass den Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedstaaten ein besonderes Gewicht beigemessen werden sollte, zeigt auch die oben beschriebene „Je-desto-Formel“.993 Die nationalen (jedenfalls die deutschen) Vorschriften betreffend den Zugang zur Entschuldung, die Länge der Treuhandperiode und die Berufsverbotsvorschriften diskriminieren selbstverständlich niemanden ohne sachlichen Grund. Es handelt sich maximal um die Kategorie der Beschränkung. Insofern wiegen kompetenzielle Einwände besonders schwer. (d) Keine Anwendung auf Verbraucher
Für Verbraucher gelten die angestellten Überlegungen bereits qua Natur der Sache nicht. Der Verbraucher wird zum Unternehmer, sollte er eine Tätigkeit ausüben, derentwegen er die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit in Anspruch nimmt. Somit dürften Vorschriften hinsichtlich einer Verbraucherverschuldung nicht auf Grundlage des Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV ergehen. (e) Semantische Betrachtung
Des Weiteren ist unabhängig von sonstigen Auslegungscanones die begriffliche Ebene des Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV zu beachten. Es muss angezweifelt werden, ob die Artt. 19 – 22 RL-V überhaupt, wie Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV verlangt, rein begrifflich Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten betreffen.994 Bei einem engen begrifflichen Verständnis von „Aufnahme und Ausübung“ wäre dies wohl nur hinsichtlich der berufsrechtlichen Vorschriften der Fall.995 Anderes gilt hingegen bzgl. des Zugangs zur Entschuldung und der 990 Vgl.
Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 13; Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 12; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 53 AEUV Rn. 65 f. 991 So Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 12. 992 Insbesondere zur Grundfreiheitsrelevanz des Steuerrechts Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.) EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 70 ff. 993 Vgl. § 4. D. I. 1. b) bb) (1) (b). 994 Zu den Schwierigkeiten und Grenzen grammatikalischer Auslegung siehe Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 188. 995 Vgl. auch Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 53 AEUV Rn. 51.
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Dauer der Entschuldungsfrist. Legte man demgegenüber ein weites begriffliches Verständnis zu Grunde, so könnte man die Entschuldungsvorschriften – eventualiter als Vorschriften betreffend die Wiederaufnahme oder Weiterführung einer selbstständigen Tätigkeit – als noch von der Kompetenznorm erfasst ansehen. Ein so weitreichendes Verständnis verstieße wohl aber gegen Verhältnismäßigkeitserwägungen und dehnte die unionalen Kompetenzen unzulässigerweise zu Lasten der Mitgliedstaaten aus. Es ist folglich abzulehnen.996 2. Art. 114 Abs. 1 AEUV
Art. 114 AEUV dient der Realisierung und Perpetuierung des Binnenmarktes (so wie er durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 EUV und Art. 26 AEUV konstituiert wird) mittels Angleichung der divergierenden mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Milderung von Markthindernissen aller Art.997 Er bietet ein „weites Feld der Zuständigkeitsbegründung“998 und erlaubt ganz in diesem Sinne den Erlass flankierender Maßnahmen zum effektiven Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen und -verzerrungen.999 Gleichwohl gewährt er keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes.1000 Im Unterschied zu Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV sollen über Art. 114 Abs. 1 AEUV insbesondere Hindernisse für den freien Kapitalverkehr ausgeräumt werden. Ein weiterer Unterschied besteht in der ausdrücklichen Bereichsausnahme für Steuern in Art. 114 Abs. 2 AEUV,1001 deren Übertragung auf Art. 53 Abs. 1 AEUV teils 996 Damit ist nicht gemeint, dass einem weiten Verständnis generell eine Absage erteilt werden soll. Fraglich ist allein, was man jenseits der Subsumtion der Entschuldungsvorschriften als Maßstab für die Enge oder Weite der Begriffe anlegt. Im Allgemeinen spricht sich bspw. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 10 für eine weite Deutung der Begriffe aus, womit aber dennoch unklar bleibt, ob die Entschuldungsvorschriften von dieser weiten Interpretation umfasst sein sollen. Letztlich ist die Bezeichnung „eng“ oder „weit“ ein rein begriffliches Problem, welches mit materiellem Gehalt gefüllt werden muss. 997 Zur Milderung von Hindernissen EuGH, Rs. 193/80, Kommission/Italien, ECLI:EU:C:1981:298, Rn. 17. 998 Würdinger, KTS 2017, 445, 462. 999 Freilich sind gewisse Begrenzungen einzuhalten; siehe außerdem von der Groeben, NJW 1970, 359, 360. 1000 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Tabakwerbung I), ECLI:EU:C:2000:544, Rn. 83; siehe aber Calliess, in: König/Uwer (Hrsg.), Grenzen europäischer Normgebung, S. 25; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 114 AEUV Rn. 5: „zentrale Vorschrift einer allgemeinen Handlungsermächtigung“, dann aber wieder einschränkend in Rn. 94: keine „uferlose und rechtlich nicht nachprüfbare Ermächtigung zur Rechtsangleichung“. Vgl. auch die Bedenken gegen ein optionales EU-Kaufrecht in Basedow, EuZW 2012, 1 f. 1001 Zu erwähnen ist weiterhin die Nennung des Steuerrechts in Art. 65 Abs. 1 AEUV.
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gefordert wird.1002 Überdies gehören alle natürlichen und juristischen Personen, also auch Verbraucher,1003 zum Kreis der Begünstigten der Kapitalverkehrsfreiheit.1004 Die Bedeutung der Kapitalverkehrsfreiheit für den Richtlinienvorschlag offenbart sich an vielen Stellen. So bezweckt der Vorschlag durch Eindämmung der wichtigsten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr einen Beitrag zur Errichtung einer echten Kapitalmarktunion zu leisten, die finanzielle Integration zu vertiefen und die Kosten des Zugangs zu Krediten zu senken.1005 a) Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 114 AEUV
Was die konzeptionelle Struktur der kompetenzrechtlichen Überprüfung anbelangt, sei mutatis mutandis grosso modo auf die Ausführungen zu Art. 53 AEUV verweisen. So bedarf es bei Art. 114 AEUV eines spezifischen Binnenmarktbezuges und einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch das anzugleichende nationale Recht.1006 Ein für die kompetenzrechtliche Zulässigkeit nach Art. 114 AEUV wesentlicher Aspekt ist ferner die tatsächliche Förderung des Binnenmarktes mittels Verbesserung der Zugangsvoraussetzungen durch die avisierte Richtlinie.1007 Insbesondere ist von Interesse und somit zu untersuchen, inwiefern mit Blick auf die Kapitalverkehrsfreiheit ein qualifiziertes Marktzugangshindernis vorliegt, welchem tatsächlich mit der Richtlinie abgeholfen werden könnte. aa) Beschränkung im Sinne der Kapitalverkehrsfreiheit
Der Beschränkungsbegriff wird im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit grundsätzlich weit ausgelegt.1008 Der EuGH sieht in solchen Maßnahmen Beschränkungen, „die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem 1002
Korte, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 21. Darauf lassen z. B. EuGH, Rs. C-376/98, Staatssecretaris van Financiën/van Putten u. a., ECLI:EU:C:2012:246, Rn. 36 und EuGH, Rs. C-450/09; Schröder/Finanzamt Hameln; ECLI:EU:C:2011:198, Rn. 26 schließen. 1004 Bröhmer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 63 AEUV Rn. 6 ff.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 AEUV Rn. 120; Wojcik, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 63 AEUV Rn. 10. 1005 COM(2016) 723 final, S. 2, 6 und S. 28 Erwägungsgrund 1; siehe auch SWD(2016) 357 final, S. 44; COM(2015) 468 final, S. 6, 26, 28. 1006 Vgl. § 4. D. I. 1. a) aa). 1007 Vgl. § 4. D. I. 1. a) bb). 1008 Siehe auch Ress/Ukrow, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 41 f.; Ruffert, ZG 2015, 51, 58. 1003
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Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten.“1009. Wie bei der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit kann nicht einfach jede noch so fernliegende und mittelbare Divergenz in den mitgliedstaatlichen Rahmenordnungen eine Beschränkung darstellen.1010 Die Marktneutralität der Maßnahme resp. eine etwaige qualifiziert1011 marktzugangsbehindernde Wirkung ist maßgebend.1012 bb) Stellungnahme: Kompetenzrechtliche Beurteilung am Maßstab des Art. 114 AEUV
Der Kommission zufolge seien die Unterschiede in Bezug auf die Länge der Entschuldungsfrist – neben weiteren Unterschieden – für Rechtsunsicherheiten verantwortlich und verursachten zusätzliche Kosten für Anleger bei der Risikobewertung1013, was im Letzten Anleger von grenzüberschreitenden Investitionen abhalten könnte.1014 Ebenso trügen sie zu weniger entwickelten Kapitalmärkten und fortbestehenden Hindernissen für die Restrukturierung rentabler
1009 EuGH, Rs. C-326/12, van Caster/Finanzamt Essen-Süd, ECLI:EU:C:2014: 2269, Rn. 25. Siehe auch EuGH, Rs. C-559/13, Finanzamt Dortmund-Unna/Grünewald, ECLI:EU:C:2015:109, Rn. 19; EuGH, verb. Rs. C-105/12 bis C-107/12, Staat der Nederlanden/Essent NV u. a., ECLI:EU:C:2013:677, Rn. 41. Ferner EuGH, Rs. C-531/06, Kommission der Europäischen Gemeinschaft/Italienische Republik, ECLI:EU:C:2009:315, Rn. 132: „Nach den Feststellungen des Gerichtshofs sind nationale Maßnahmen als ,Beschränkungen‘ im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG anzusehen, wenn sie geeignet sind, den Erwerb von Aktien der betreffenden Unternehmen zu verhindern oder zu beschränken oder aber Investoren anderer Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren.“. 1010 Bröhmer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 63 AEUV Rn. 48a, 75. 1011 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 AEUV Rn. 172. 1012 Glöcker, EuR 2000, 592, 616 ff. 1013 COM(2016) 723 final, S. 17: z. B. das Risiko, „dass Schuldner in einem oder mehreren Mitgliedstaaten in finanzielle Schwierigkeiten geraten“ oder „die zusätzliche Risikobewertung und die Mehrkosten für eine grenzüberschreitende Durchsetzung von Ansprüchen für Gläubiger überschuldeter Unternehmer […], die ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, um nach viel kürzerer Zeit eine zweite Chance zu erhalten“. Siehe auch SWD(2015) 183 final, S. 72, 74. 1014 COM(2016) 723 final, S. 17 f. und S. 29 Erwägungsgründe 5 – 8; SWD (2016) 357 final, S. 28 f.; vgl. auch Änderungsantrag 5 zu Erwägungsgrund 6 auf S. 10 f. des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803). Dagegen Niemi, JCP 2012, 443, 451: „An obvious argument is that consumer insolvency is an issue for the free movement of capital since the different national conditions for insolvency and discharge may cause lenders to discriminate against nationals of certain countries. There is, however, practically no evidence that the lenders behave that way.“.
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Unternehmen bei.1015 Da die Kommission den Grad der Mitverursachung unterschiedlicher Entschuldungsfristen neben weiteren Faktoren, denen sicherlich größere Bedeutung zukommt, nicht eruiert, bleibt die Frage nach einer Grundfreiheitsbeeinträchtigung durch die mitgliedstaatlichen Entschuldungsvorschriften offen.1016 Warum der Gläubiger durch die Mindestharmonisierung der Entschuldungsfristen darüber hinaus besser für den Fall der Nichtzahlung geschützt und effektiver Forderungen oder Sicherheiten beitreiben können soll, bleibt ebenso seitens der Kommission ungeklärt.1017 Zwar deutet die Kommission einen Zusammenhang zwischen der Stärke eines Insolvenzrahmens und der Kreditvergabe im privaten Sektor durch inländische Finanzinstitutionen an, doch sind auch hier die Ausführungen hinsichtlich des Insolvenzrahmens nur genereller Natur.1018 Dass Anleger durch zusätzliche Kosten für eine Risikobewertung aufgrund unterschiedlicher nationaler Vorschriften von grenzüberschreitenden Investitionen abgehalten werden sollen, ist eine Feststellung, die in ihrer Struktur so auf jeden nicht vereinheitlichten Rechtsbereich der Mitgliedstaaten zutrifft und dementsprechend kaum Gewicht hat. Einerseits bleibt es ungeklärt, wie direkt sich die Vorschriften auf die Risikobewertung und diese wiederum auf die Anlageentscheidung auswirken, andererseits können sicherlich nicht alle mitgliedstaatlichen Divergenzen eine unionale Kompetenz begründen.1019 Ansonsten wäre die Kompetenzverteilung nur Spielball politischer Kräfte. Es bleibt folglich bei der im Rahmen des Art. 53 Abs. 1 Var. 2 AEUV getroffenen Wertung: Das Insolvenzrecht ist eher ein zu vernachlässigender Standortfaktor, weswegen Anlegerentscheidungen nur höchst mittelbar als Abstimmung über die Qualitäten der jeweiligen Insolvenzrechtsordnung angesehen werden können.1020 Das Insolvenzrecht bildet somit kein qualifiziertes Marktzugangshindernis. Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten, insbesondere der Kapitalverkehrsfreiheit, ist abzulehnen. 1015
COM(2016) 723 final, S. 9. – unterstellt es entstünden zusätzliche Kosten – diese in Finanzprodukte eingepreist werden könnten, Es erscheint daher abwegig, dass sich Investoren nur deswegen in größerem Maße grenzüberschreitenden Investitionen verwehren. 1017 COM(2016) 723 final, S. 16. 1018 SWD(2016) 357 final, S. 183 f. 1019 Ähnlich in anderem Zusammenhang bezogen auf Art. 95 EGV Remien, EuR 2005, 699, 706: gänzliche Entgrenzung der Kompetenz. 1020 Diese Formulierung in Anlehnung an Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, S. 268 f.: „Da schon oben festgestellt wurde, daß das Gesellschaftsrecht allenfalls einen vernachlässigenswerten Standortfaktor bildet, liegt auf der Hand, daß Anlegerentscheidungen nur höchst mittelbar als Abstimmung über die Qualitäten der jeweiligen Gesellschaftsrechtsordnung angesehen werden können.“; ferner siehe dies, S. 273. 1016 Zumal
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b) Art. 345 AEUV
Ginge man von einer Beeinträchtigung der Kapitalverkehrsfreiheit aus, könnten sich außerdem aus der objektiv-rechtlichen1021 Kompetenzausübungsschranke1022 des Art. 345 AEUV Grenzen für die Harmonisierung der Entschuldungsvorschriften ergeben. Art. 345 AEUV betont die Unberührbarkeit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen und statuiert somit den Grundsatz der Neutralität des Vertrages gegenüber den Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten.1023 aa) Eigentumsordnung im Sinne des Art. 345 AEUV
Eigentumsordnung meint nach nicht unbestrittener Auffassung die Gesamtheit der Vorschriften, „die in jedem Mitgliedstaat die mit dem Eigentum verbundenen Rechte und Pflichten, die Möglichkeiten zur Beschränkung oder Einziehung von Eigentumsrechten sowie insbesondere auch die Rechte und Pflichten bei der Überführung von privatem Eigentum in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft regeln“.1024 Die Offenheit der Formulierung indiziert ein weites Verständnis des Begriffs „Eigentumsordnung“.1025 Es kommt bei dessen Konturierung nur auf den jeweiligen Mitgliedstaat an; ein allgemeines Verständnis wäre hier fehl am Platze.1026 Auf europäischer Ebene wird damit – sofern man 1021 Bär-Bouyssière, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 345 AEUV Rn. 1. Die subjektiv-rechtliche Eigentumsgarantie ist in Art. 17 GR-Charta niedergelegt, vgl. Lorenzmeier, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 345 AEUV Rn. 1. 1022 Zu Art. 345 AEUV als Kompetenzausübungsschranke Calliess, in: Wittinger/ Wendt/Ress (Hrsg.), FS Fiedler, S. 463, 470. 1023 EuGH, Rs. C-163/99, Portugal/Kommission, ECLI:EU:C:2001:189, Rn. 58; Mitteilung der Kommission über bestimmte rechtliche Aspekte von Investitionen innerhalb der EU ABl. C 220 v. 19. 07. 1997, S. 15. 1024 Bär-Bouyssière, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 345 AEUV Rn. 6; vgl. auch GA Capotorti, Schlussanträge zu Rs. C-44/79, Hauer/Rheinland-Pfalz, ECLI:EU:C:1979:254, S. 3760. A. A. ausführlich zur Interpretation des Art. 345 AEUV Calliess, in: Wittinger/Wendt/Ress (Hrsg.), FS Fiedler, S. 463, 472, der die Formulierung für zu weit hält. 1025 So auch Hatje, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 345 AEUV Rn. 2; Jungbluth, EuR 2010, 471, 479 Fn. 47; Peters, DÖV 2012, 64, 66; SchmidtPreuß, EuR 2006, 463, 475; vgl. Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 345 AEUV Rn. 3: die weite Formulierung zeigt den „umfassenden Regelungswillen im Sinne eines nationalen Vorbehalts für die Eigentumsordnung“, siehe ferner Rn. 4, 6, 12 ff. Siehe auch Storr, EuZW 2007, 232, 234 f. Übersichtlich zum Meinungsstand Kühling, in: Streinz (Hrsg.) EUV/AEUV, Art. 345 AEUV Rn. 9 – 12. 1026 Storr, EuZW 2007, 232, 235; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 345 AEUV Rn. 12.
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dieser Auffassung folgt – die Möglichkeit zugelassen, nach mitgliedstaatlicher Vorstellung Forderungen dem Begriff der Eigentumsordnung zu subsumieren. bb) Art. 345 AEUV als Kompetenzausübungsschranke
Das Postulat der Unberührbarkeit wirkt angesichts der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des Vertrages und des hohen Maßes an wirtschaftlicher Integration paradox, ist die Eigentumsordnung doch durch Rechtssetzung vielfältiger Art, wenn auch nur am Rande, betroffen und wird in Teilen modifiziert. Sie ist zwar der unionalen Zuständigkeit größtenteils entzogen, dennoch gelten die Grundprinzipen des EU-Rechts kraft Anwendungsvorrangs auch für die Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten.1027 Nichtsdestoweniger gilt die Maxime der mitgliedstaatlichen Regelungskompetenz auf diesem Gebiet, verbunden mit dem Verbot unionaler Eingriffe.1028 Dennoch muss beachtet werden, dass Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten nicht mit einer Berufung auf Art. 345 AEUV gerechtfertigt werden können.1029 Im Sinne optimaler Wirksamkeit ist ein verhältnismäßiger Ausgleich zwischen den Schutzgütern Integrität der Eigentumsordnung und Funktionieren des Binnenmarktes zu treffen, um die Reichweite der Binnenmarktkompetenz zu ermitteln.1030 Zu konstatieren ist folglich, dass die Union bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ihr Handeln kompetenziell auf Art. 114 AEUV stützen darf, bei der Ausübung dieser Befugnis aber die Kompetenzausübungsschranke des Art. 345 AEUV zu beachten hat. Obschon sich eine Berührung der Eigentumsordnung erst mit einem Blick durch das Prisma des jeweiligen Mitgliedstaates erkennen lässt, können nachstehende allgemeine Gedanken – immer vorbehaltlich einer spezifisch mitgliedstaatlichen Betrachtung – zu Grunde gelegt werden. 1027 Beispielhaft EuGH, Rs. C-244/11, Kommission/Griechenland, ECLI:EU: C:2012:694, Rn. 15; EuGH, Rs. C-271/09, Kommission/Polen, ECLI:EU:C: 2011:855, Rn. 44; EuGH, Rs. C-182/83, Fearon/Irish Land Commission, ECLI: EU:C:1984:335, Rn. 7. Ferner stehen in das Eigentumsrecht von Einzelpersonen eingreifende Sanktions- oder Schutzmaßnahmen der EU mit Art. 345 AEUV in Einklang, siehe EuGH, Rs. T-362/04, Minin/Kommission, ECLI:EU:T:2007:25, Rn. 77. 1028 Von der Zuordnung und Organisation des Eigentums und den Rechten und Pflichten des Eigentümers ist aber die Ausübung der Eigentumsrechte zu unterscheiden, die am Maßstab der unionsrechtlichen Vorschriften zu messen ist, siehe EuGH, Rs. C-491/01, The Queen/British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco, ECLI:EU:C:2002:741, Rn. 147. Siehe auch Hatje, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 345 AEUV Rn. 8 und Lorenzmeier, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 345 AEUV Rn. 2 f. 1029 Bär-Bouyssière, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 345 AEUV Rn. 15; Jungbluth, EuR 2010, 471, 480. 1030 Ähnlich Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 345 AEUV Rn. 6 f.
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cc) Entschuldungsvorschriften als Bestandteil der Eigentumsordnung
Die insolvenzrechtlichen Entschuldungsvorschriften bestimmen durchaus die Reichweite des Eigentums, indem sie die Forderungen der Gläubiger und spiegelbildlich die Verbindlichkeiten des Schuldners nach einer bestimmten Zeit eliminieren. Sie vernichten diese in ihrem Bestand.1031 Gerade in Mitgliedstaaten, die keine Entschuldung natürlicher Personen kennen, liegt – bei einem weiten Verständnis – in der unional verbindlichen Einführung einer Entschuldungsoption eine nicht unerhebliche Modifikation der Eigentumsordnung nahe. Die formelle Zuweisung der Eigentumsposition wird aufgrund in der Sphäre des Schuldners liegender Umstände gänzlich – zwar nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne, aber dennoch vollständig – zu Lasten des bisherigen Inhabers aufgegeben. Sind jedoch die zu eliminierenden Forderungen nicht mehr werthaltig, verliert der Gläubiger trotz des Verlusts seiner Forderung wirtschaftlich kaum etwas. Die Eigentumsordnung bleibt aus rein ökonomischer Perspektive unberührt. Bedenken bestehen v. a. bei noch werthaltigen Forderungen, die wegen einer relativ kurzen Entschuldungsfrist den Gläubigern verlustig gehen. dd) Grundstrukturen einer Abwägung
Ginge man hypothetisch von einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten (die, wie oben gezeigt, abzulehnen ist) aus, bedürfte es einer Abwägung, bei der die Schwere des Eingriffs ins Verhältnis zum Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe zu setzen ist. Die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes ist ein unionsrechtlich überragendes Schutzgut und die Harmonisierung von nationalen Vorschriften hierfür unerlässlich. Nichtsdestoweniger wiegt der Eingriff in der geschilderten Situation, in der einige Mitgliedstaaten gar keine Entschuldungsoption natürlicher Personen kennen, besonders schwer, zumal er aufgrund seiner Wirkrichtung (geradewegs die Schuldbefreiung betreffend) mit divergierenden moralischen und rechtspolitischen Assoziationen und Wertungen verbunden ist. Er wird aber durch die Ausnahmetatbestände in Art. 22 RL-V hinreichend abgemildert. Dieses Zugeständnis an die Mitgliedstaaten und der recht weite Umsetzungsspielraum führen zur stärkeren Gewichtung des Schutzgutes Binnenmarkt. Folglich dürften die Entschuldungsvorschriften im Richtlinienvorschlag – vorausgesetzt man bejahte die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten – auf Art. 114 AEUV gründen und verstießen in ihrer jetzigen, konkreten Gestalt nicht gegen die Grenzen der Kompetenzausübungsschranke des Art. 345 AEUV. Die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen umfassten also die Aus1031 EuGH, verb. Rs. C-56/64 und C-58/64, Consten GmBH und Grundig-VerkaufsGmbH/Kommission der EWG, ECLI:EU:C:1966:41, S 394.
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gestaltung des Eigentums durch die Entschuldungsvorschriften, würden jedoch nicht „berührt“ im Sinne des Artikels.1032
II. Fazit: Rechtsgrundlagen Artt. 53 und 114 AEUV Mit der Implementierung insolvenzrechtlicher Fragen in den Komplex der Kapitalmarktunion hat die Kommission einen Katalysator für die Insolvenzrechtsharmonisierung geschaffen, welche zu einer dynamisch-progressiven Entwicklung geführt hat, die ohne die kapitalverkehrsfreiheitlichen Implikationen kaum abzusehen war. Diese Vorgehensweise offenbarte sich als Initialzündung einer neuen rechtspolitischen Diskussionswelle und neuen legislatorischen Anstrengungen. Mit der Wahl der Rechtsgrundlagen hat die Kommission deutlich die grundfreiheitliche, makroökonomische Ausrichtung ihrer Bestrebungen gezeigt. Die kompetenzrechtliche Untersuchung hat zwar die Unterschiede zwischen Art. 53 AEUV und Art. 114 AEUV konzis herausgearbeitet; die grundlegenden Bedenken gegen diese Normen als Rechtsgrundlagen einer Harmonisierung von Entschuldungsvorschriften natürlicher Personen gelten jedoch gleichermaßen. Quintessenz der Kritik ist die von der Kommission behauptete Beeinträchtigung von Grundfreiheiten, die sich als essentielle Voraussetzung zur Rechtsangleichung erweist. Erst ab dieser mehr oder minder konturierten Schwelle ist die Harmonisierung von Rechtsbereichen gerechtfertigt. Das punctum saliens, das entscheidende Moment, ist die mangelnde Qualifizierung der Marktzugangsbehinderung als hinreichend unmittelbar und gewiss. Die mitgliedstaatlichen Entschuldungsvorschriften können nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als gewichtige Determinanten der Standortwahl, sowohl im Sinne der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit als auch als Beschränkungen im Sinne der Kapitalverkehrsfreiheit, ausgemacht werden. Dazu fehlen schlichtweg empirische Nachweise, die über bloße Befragungen und Konsultationen hinausgehen. Aufgrund der Schwierigkeiten, mit denen entsprechende Untersuchungsbemühungen verbunden sind, dürfte auch ein plausibles Vorbringen genügen. Die dargestellten Argumente zeigen aber gerade wie wenig stichhaltig und daher letztlich unplausibel die Ausführungen der Kommission sind. Jacobi nimmt sich in nur wenigen Sätzen des Themas an und kommt zur erschreckenden (und sich hoffentlich nicht bewahrheitenden) Erkenntnis: „Dass die These der europäisch divergierenden Insolvenzregeln als Hindernis für den freien Kapitalverkehr und damit als Hürde für mehr Investitionen frei erfun1032 Zur Auslegung des Begriffs „berühren“ vgl. Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 345 AEUV Rn. 14 f.
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
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den, jedoch durch die fortwährende Wiederholung in suggestiver Wirkung zur Wahrheit erwachsen ist, die gerade durch ihre Simplizität die Stärke aufweist auch künftige EU-Regelwerke zu tragen.“1033. Diese Behauptung mag allemal einiges für sich haben. Dass aber eine wenig fundierte These auch künftige EU-Regelwerke tragen kann, sollte sich schon allein aufgrund der zunehmenden Debatte um dieses Thema und den schlagkräftigen Gegenargumenten als falsch erweisen. An dieser Stelle muss sich die Rechtsstaatlichkeit beweisen. Bestehen also die angesprochenen Ungewissheiten, gilt es umso mehr, Rücksicht auf die Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten zu nehmen. Die Restschuldbefreiung ist eine fundamentale rechtspolitische Entscheidung eines jeden Mitgliedstaates mit gesellschaftspolitischen, (gesamt)ökonomischen, (psycho)sozialen, personalen und verfassungsrechtlichen Implikationen.1034 Jedenfalls im deutschen Recht kann man sie zum Kern der Insolvenzrechtskompetenz zählen. Gerade in einem kompetenzrechtlich so sensiblen Bereich bedarf es besonderer Obacht und Sorgfalt bei der Inanspruchnahme legislativer Befugnisse. Darüber hinaus ist pro futuro insbesondere Art. 22 RL-V Beachtung zu schenken. Je nach Modifikation dieser Vorschrift ist immer auch der Blick auf Art. 345 AEUV angebracht, um vermeidbare Kollisionen zu umgehen. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe dafür, den Richtlinienvorschlag jedenfalls hinsichtlich der Artt. 19 – 22 RL-V als kompetenzrechtlich fehlerhaft anzusehen. Einzig aufgrund der Einschätzungsprärogative der Kommission und deren rechtlicher Reichweite könnte man zu einem gegenteiligen Schluss gelangen.1035 Da es schlussendlich dem EuGH obliegt, diese Frage abschließend zu beantworten, ist der avisierten Richtlinie mit den dargestellten Argumenten wohl ab initio wenig Glück beschieden.
E. Nationale Implikationen der Umsetzung: Verfassungsrechtliche Fragestellungen Dass die Restschuldbefreiung immensen rechtspolitischen Zündstoff birgt, muss hier nicht mehr erwähnt werden. Einige sehen in dem Richtlinienvorschlag gar die Chance, die „immerwährende Debatte um die angemessene Laufzeit des
1033
Jacobi, ZInsO 2018, 597, 599. Vgl. § 2. C. I. 1035 Kritisch zur Weite der Einschätzungsprärogative Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 53 AEUV Rn. 12. 1034
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Entschuldungsverfahrens“ zu beenden.1036 Es nimmt deshalb nicht wunder, dass der Richtlinienvorschlag insbesondere in Deutschland auf ein großes Echo gestoßen ist.1037 Als Treibmittel einer mit Vehemenz geführten gesellschaftlichen und politischen Debatte wirkt sich sicherlich auch die international hohe Reputation des deutschen Insolvenzrechts aus. Diese wird verschiedentlich hervorgehoben. Obschon die Kommission Verbesserungspotential konstatiert, betont sie die Funktionsfähigkeit der deutschen Insolvenzregelungen.1038 Unter den EU-Mitgliedstaaten bekleidet Deutschland, was die Effektivität des Insolvenzverfahrens anbelangt, den zweiten Rang.1039 Ferner zeigt der Bericht „Doing Business 2017“ der Weltbank, welch gutes Renommee das deutsche Insolvenzrecht genießt.1040 Diese Lorbeeren sind Wasser auf den Mühlen derjenigen politisch-gesellschaftlichen Lager, die eher skeptisch oder mit Abneigung auf eine EU-weite Harmonisierung der Entschuldungsvorschriften reagieren. Die Diskutabilität des Themas veranlasste schließlich auch die Kommission, den Mitgliedstaaten Flexibilität einzuräumen, um die Vorgaben an die nationalen wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Besonderheiten anzupassen.1041 Dies illustriert insbesondere Art. 22 RL-V. Nach den oben dargelegten allgemeinen Betrachtungen und kritischen Anregungen soll nun auf ein Spezifikum des deutschen Rechts eingegangen werden, nämlich die verfassungsrechtlichen Fragestellungen, die sich mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben ergeben.1042 Allgemein werden die sich um das Fundament und die Grundidee der Restschuldbefreiung rankenden Streitigkeiten mit einer Intensität geführt, die sich vor allem mit der Wucht sozial- und rechtspolitisch evozierter Emotionen erklären lassen, die ihren Grund u. a. in der verfassungsrechtlichen Brisanz der Materie haben.1043 1036 Vgl.
Heyer, ZVI 2017, 45, 46. COM(2016), 723 final, S. 20 stützt diese Einschätzung: Beiträge „insbesondere aus Deutschland, gefolgt von […]“. 1038 C(2017) 3783 final, S. 2. 1039 Siehe http://ec.europa.eu/information_society/newsroom/image/document/ 2016–48/de_insolvency_country_factsheet_40032.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 1040 Deutschland erreicht weltweit den dritten Platz im Bereich „Resolving Insolvency“ und bekommt für seinen insolvenzrechtlichen Rahmenbedingungen 15,0 von 16,0 möglichen Punkten, abrufbar unter http://www.doingbusiness.org/~/media/WBG/DoingBusiness/Documents/Annual-Reports/English/DB17-Report.pdf (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018), S. 208. 1041 C(2017) 3783 final, S. 2. 1042 Siehe im Allgemeinen Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, passim. 1043 Dass die Restschuldbefreiung ein sozial sehr sensibles Thema ist, welches mit emotionaler Vehemenz diskutiert wird, konspektiert auch Würdinger, KTS 2017, 445, 456 1037
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Immerhin bewegt sich der Gesetzgeber in einem grundrechtssensiblen Bereich. Jede Regelung, die die Entschuldung von natürlichen Personen betrifft, wirkt sich auch auf das Spannungsfeld zwischen Gläubigerbefriedigung und Schuldnerschutz aus. Es gilt sich zu gewärtigen, dass es stets eines angemessenen Interessenausgleichs bedarf, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes zu genügen. Gerade das Kernstück des Richtlinienvorschlags, die höchstens dreijährige, vom Mindestquotenerfordernis entkoppelte Entschuldungsfrist, steht im Fokus der Betrachtung.1044 Ob die o. g. legislatorische Flexibilität geeignet ist, als Kompensation für diese schuldnerfreundliche Vorgabe zu dienen bzw. ob es denn überhaupt eine Kompensation braucht, ist im Folgenden zu untersuchen. Dabei soll nicht die Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung an sich bezweifelt oder jede denkbare verfassungsrechtliche Perspektive beleuchtet werden.1045 Vielmehr haben die Vorgaben im Richtlinienvorschlag Anlass zu einer erneuten verfassungsrechtlichen Bewertung konkreter Aspekte gegeben. In diesem Rahmen drängen sich einige Fragen besonders auf: Zunächst ist einmal grundlegend zu klären, ob sich aus dem Grundgesetz überhaupt ein Recht auf einen wirtschaftlichen Neustart ableiten lässt oder ob die Gewährung eines solchen bloß abhängig vom jeweiligen politischen Belieben ist (§ 4. E. I.). Danach ist zu fragen, ob verfassungsrechtliche Schranken existieren, die der Absenkung der Treuhandperiode auf drei Jahre entgegenstehen (§ 4. E. II.). Darüber hinaus ist das Bedürfnis eines Mindestquotenerfordernisses auf seine grundrechtliche Relevanz zu überprüfen (§ 4. E. II. 3.). Ferner folgen in aller Kürze abschließende Ausführungen zum Ordre public, welche ausgehend von den verfassungsrechtlichen Grundlagen die Ordre-public-Konformität kurzer Entschuldungsfristen und fehlender Mindestbefriedigungsquoten resümierend beleuchten (§ 4. E. II. 5.). Schlussendlich ist die Grundrechtskonformität angesichts des allgemeinen Gleichheitssatzes zweifelhaft, wenn die Entschuldungsvorschriften nur für Unternehmer, aber nicht für Verbraucher gelten sollten (§ 4. E. III.). mit dem treffenden Ausspruch: „Es geht gleichsam ums Ganze. Die Restschuldbefreiung trifft das Herz des Zivilrechts […].“. Vgl. auch Ahrens, NZI 2011, 425, 428: Das „vielfach polarisierende Gebiet des Insolvenzrechts“. Siehe ferner Komo, Der Langfristige Kredit 1989, 256 ff.; Pape, in: Hess/Pape (Hrsg.), InsO und EGInsO, Rn. 1202, wonach die Verabschiedung der InsO ohne die Restschuldbefreiung in Frage gestellt worden wäre. 1044 Die Frage nach dem zulässigen Maß einer Verkürzung stellt sich unabhängig davon, ob die maximale Entschuldungsfrist nun drei oder – wie vom Europäischen Parlament gefordert (Bericht Fn. 803) – fünf Jahre betragen soll. 1045 Seit die ersten Vorschläge zur Einführung der Restschuldbefreiung in einem gesetzlichen, nicht konsensualen Verfahren diskutiert wurden, wurde auch die Verfassungsmäßigkeit derselben in vielfacher Hinsicht erörtert. Verwiesen sei auf die einschlägige Kommentarliteratur und instruktiv Ahrens, ZVI 2004, 69 ff.
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I. Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang In den USA fußt die Restschuldbefreiung auf dem Gedanken des „pursuit of happiness“1046 und wird als aus dem Gebot der Humanität folgender Akt der Vergebung und Gnade verstanden.1047 Diese Begründung ist wohl im weitesten Sinne Vorläufer des deutschen Gedankens eines Rechts auf einen wirtschaftlichen Neuanfang.1048 Im deutschen Recht treten aber noch weitere Aspekte hinzu.1049 Nichtsdestoweniger ist fraglich, was überhaupt der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt dieses Rechts sein soll. 1. Neuanfang als politische Entscheidung
Einige Autoren lehnen die Annahme eines solchen Rechts ab.1050 Selbst der BGH ist der Meinung, der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehalten, eine Restschuldbefreiung vorzusehen.1051 Denn der Gesetzgeber habe den Grundrechten mit den Normen des Pfändungsschutzes in verfassungsrechtlich hinreichender Weise Rechnung getragen.1052 Die Literatur führt an, die Menschenwürde des Schuldners gebiete zwar i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip die Gewährleistung eines Existenzminimums, welches durch den Vollstreckungsschutz sichergestellt sei. Darüber hinaus sei der Staat jedoch nicht – und speziell nicht wegen Art. 1 Abs. 1 GG – verpflichtet, dem Schuldner ein Recht auf Entschuldung zu gewähren. Dies gelte insbesondere auch dann, wenn der Schuldner wegen des Pfändungsschutzes an höheren Einkünften kaum interessiert ist 1046 Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 04. 07. 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“. 1047 Jurisch, Verbraucherinsolvenzrecht nach deutschem und U.S.-amerikanischen Insolvenzrecht, S. 123. 1048 BGH, Beschl. v. 03. 12. 2009 – IX ZB 247/08 = NJW 2010, 2283, 2284 Rn. 21 sieht in der Ermöglichung eines „wirtschaftlichen Neuanfangs“ den von § 287 Abs. 2 InsO verfolgten Zweck. 1049 Siehe § 2. D. V. 2. 1050 Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271; Ahrens, ZVI 2004, 69, 75 f.; Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528; Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 57 ff., 74, 112; Sesemann, NZI 2004, 456, 463; Turck, Priorität im Europäischen Insolvenzrecht, S. 174. Wohl auch Balz, in: Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen e. V. (Hrsg.), Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, S. 3, 12 f. Rn. 34 und Korch, ZHR 182 (2018), 440, 443 („sozialpolitisches Anliegen“). Die Restschuldbefreiung als lediglich politische Entscheidung indiziert auch die Bezeichnung als „Rechtswohltat“ (dazu Fn. 6). 1051 BGH, Urt. v. 28. 02. 1989 – IX ZR 130/88 = NJW 1989, 1276, 1278. 1052 BGH, Urt. v. 28. 02. 1989 – IX ZR 130/88 = NJW 1989, 1276, 1278.
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und sich mit bescheidenen Lebensverhältnissen begnügt.1053 Des Weiteren lasse sich aus dem Schutz der personalen Würde keine über die Gewährung des Existenzminimums hinausreichende, verfassungsrechtlich zwingend gebotene Garantie wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit ableiten.1054 Alles in allem gebühre dem Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung seines Rechts grundsätzlich Vorrang vor dem Interesse des Schuldners am Schutz vor dem Gläubigerzugriff.1055 Danach wäre also die Einführung der Restschuldbefreiung und damit die Gewährung eines Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang eine ausschließlich politische Entscheidung.1056 2. Neuanfang als Grundrecht
Wiederum andere führen diverse grundrechtliche Verbürgungen für die verfassungsrechtlich zwingende Vorgabe eines Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang ins Feld. So soll das Persönlichkeitsrecht des Schuldners als Anknüpfungspunkt eines solchen Rechts dienen.1057 Es wird gar von der „existentiellen Bedeutung“ eines wirtschaftlichen Neuanfangs gesprochen.1058 Auch der Rekurs auf das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wird bemüht.1059 Es sei eine verfassungsrechtliche Zielsetzung, in Not geratenen Personen zu helfen.1060 Allerdings wird in diesen Quellen nicht ganz deutlich, ob das Grundgesetz die Existenz eines nicht konsensualen Schuldbefreiungsmechanismus zwecks wirtschaftlichen Neuanfangs zwingend vorschreibt oder ob lediglich die genannten 1053 Diese Argumentation findet sich in Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528. Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1272 spricht von „wirtschaftlicher Lähmung“ des Schuldners. Zum Pfändungsschutzkonto in der Insolvenz siehe Bieker, ZInsO 2016, 2379. Einen Überblick über die Pfändung des Arbeitseinkommens, der Sozialleistungen sowie die Kontopfändung einschließlich der Pfändungsschutzbestimmungen geben Helwich/Frankenberg, Pfändung des Arbeitseinkommens und Verbraucherinsolvenz, passim. Zu einem Rückgang von Verbraucherinsolvenzen wegen des P-Kontos vgl. May, ZVI 2013, 2, 4 ff. 1054 Ahrens, ZVI 2004, 69, 75. 1055 Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271. 1056 Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271; Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528; Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 57 ff., 74, 112; Wenzel, DGVZ 1993, 81, 84. 1057 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 9; Bruns, Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung, S. 161. 1058 BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 9; BGH, Urt. v. 10. 10. 2013 − IX ZR 30/13 = NZI 2013, 1025, 1027 Rn. 11. 1059 BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NJW 2006, 2613, 2614 Rn. 35; BGH, Urt. v. 25. 06. 2015 – IX ZR 199/14 = NJW 2015, 3029, 3030 Rn. 9; BGH, Beschl. v. 03. 03. 2005 – IX ZB 171/03 = NZI 2005, 404. 1060 BT-Drucks. 12/7302, S. 153.
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Ansatzpunkte zur Rechtfertigung eines solchen in Abwägung mit den Gläubiger(grund)rechten herangezogen werden. Wenn aber von „existentieller Bedeutung“ und „verfassungsrechtlicher Zielsetzung“ die Rede ist, liegt wohl der Schluss auf einen zwingenden verfassungsrechtlichen Auftrag nahe. Andere Stimmen vertreten deutlicher die Meinung, der Staat sei verpflichtet, dem Schuldner einen Neubeginn zu verschaffen und führen die grundrechtliche Entfaltungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG und die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG neben dem Sozialstaatsgebot ins Feld.1061 Die Forderungen der Gläubiger seien mit Eintritt der Insolvenz ohnehin wirtschaftlich nahezu wertlos.1062 Den Schuldner auf eine 30-jährige Haftung wegen einer solchen Forderung zu verweisen, verletzte dessen Anspruch auf menschenwürdige Behandlung und Erhalt der allgemeinen Handlungsfreiheit.1063 Ferner wird die Rechtsprechung des BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe als Argument für die Annahme eines solchen Rechts angeführt. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist nach dem BVerfG nur mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn dem Verurteilten die Hoffnung verbleibt, die Freiheit wiedererlangen zu können.1064 Davon ausgehend könne eine Analogie zwischen der lebenslangen Freiheitsstrafe und der Restschuldbefreiung gezogen werden.1065 Denn eine Verjährungsfrist von 30 Jahren komme faktisch einer lebenslangen Nachhaftung gleich. Ähnlich könnte auch mit der Rechtsprechung zur Überforderung von Bürgen verfahren werden. Nach dieser Rechtsprechung müssen die grundrechtlichen Gewährleistungen beachtet werden, wenn eine Schuldenlast so hoch ist, dass eine Befreiung aus eigener Kraft bis zum Lebensende voraussichtlich scheitern wird.1066 Gegen diese Schlussfolgerung wird eingewandt, Überschuldung habe eine ganz andere Eingriffsintensität.1067 Außerdem gelte die Überfor1061 Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 26; Bruns, KTS 2008, 41, 49; Forsblad, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, S. 289; ebenso wohl Rothammer, Die insolvenzrechtliche Restschuldbefreiung, S. 26 f. 1062 BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 319. 1063 So Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 605; neben den genannten verfassungsrechtlichen Positionen stellen dieselben auch auf das Sozialstaatsgebot ab. 1064 BVerfG, Urt. v. 21. 06. 1997 – 1 BvL 14/76 = NJW 1977, 1525, 1526, 1529. In abgewandelter Form für hochverschuldete Personen BVerfG, Beschl. v. 13. 05. 1986 – 1 BvR 1542/84 = NJW 1986, 1859 ff. 1065 Engelhard, ZIP 1986, 1287, 1291; Forsblad, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, S. 289 insbesondere Fn. 72; Wenzel, DGVZ 1993, 81; a. A. gegen eine Parallele Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 100; Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528. 1066 BVerfG, Beschl. vom 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 = NJW 1994, 36, 38. 1067 Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528.
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derung von Bürgen nur unter besonderen Umständen und auch nur zum Schutz vor Verschuldung.1068 3. Verfassungsrechtliche Ausgangspunkte
Herrschte also knapp 50 Jahre lang – vom Inkrafttreten des Grundgesetzes bis zur Einführung der Restschuldbefreiung – ein verfassungswidriger Zustand im Insolvenzrecht der Bundesrepublik? Dies wäre zu bejahen, wäre die Annahme der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Restschuldbefreiung wahr. Indes verbieten sich pauschale, lapidare Schlussfolgerungen mit dem Hinweis auf eine besondere Grundrechtssensibilität, wie dies die o. g. Autoren teils tun. Vielmehr ist – so auch im Folgenden – eine genaue Betrachtung der verfassungsrechtlich potentiell tangierten Garantien vorzunehmen.1069 a) Begriffliche Bestimmung und dogmatische Einordnung des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang
Vorweg ist anzumerken, dass überhaupt nicht deutlich dargestellt wurde, was unter einem „Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang“ zu verstehen ist. Damit könnte sowohl – ganz profan – einfach nur eine Ausprägung des Schutzbereichs eines Grundrechts gemeint sein als auch – dogmatisch komplexer – eine verselbstständigte1070 grundrechtliche Garantie, die neben die sonstigen Gewährleistungen tritt. Ferner wird von den angeführten Autoren auch nicht konturiert herausgearbeitet, dass es sich bei dieser Fragestellung nicht um die Grundrechte in ihrer subjektiv-rechtlichen Dimension als Abwehrrechte handelt, sondern dass eruiert werden muss, ob aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte die Pflicht zur Schaffung eines Entschuldungsinstrumentariums deduziert werden kann.1071 Bestünde eine solche Schutzpflicht, müsste ihre allenfallsige 1068 Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528. Auch kritisch Prütting/Stickelbrock, ZVI 2002, 305, 308. 1069 Zum Interesse des Gemeinschuldners an einem Schutz vor lebenslanger Haftung Menzinger, Das freie Nachforderungsrecht der Konkursgläubiger, S. 47 ff. 1070 Zur Verselbstständigung einer grundrechtlichen Garantie exemplarisch für das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 20. 1071 Zu den verschiedenen Dimensionen der Grundrechte Rupp, Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Pressesektor, S. 15 ff. Dieser stellt aber fest, dass eine exklusive dogmatische Einordnung in objektiv und subjektiv aufgrund der Nähe der Leistungsgrundrechte zum Anspruch auf staatlichen Schutz, welcher die Kehrseite einer entsprechenden objektiv-rechtlichen Schutzpflicht ist, nicht immer möglich ist. Siehe auch Dreier, Jura 1994, 505 ff.
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Verletzung geprüft werden, welche auf diesem Wege mittelbar zu einem subjektiven Anspruch auf staatliches Handeln führen kann.1072 Gleich welcher Auffassung man folgt, ist damit aber noch nicht der Inhalt des in Rede stehenden Rechts umrissen. Mit dem Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang ist wohl die staatliche Garantie eines nicht konsensualen, ein subjektives Recht begründenden gesetzlichen Schuldbefreiungsverfahrens zu verstehen. Geschützt wird m. a. W. die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit und insbesondere die Potenz zur wirtschaftlichen Einflussnahme. Zu diesem Zweck muss die aktive, freie, selbstbestimmte und vor allem unbeschwerte Teilnahme am Wirtschaftsverkehr sowie die Freiheit von quasi lebenslänglicher staatlicher Zwangsvollstreckung und einem Leben am Rand der Pfändungsfreigrenzen gewährleistet sein. Hiervon ausgehend, verbürgt dieses Recht die Hoffnung des Schuldners auf wirtschaftliche Rehabilitation und ökonomischen Aufstieg und auf der Kehrseite die Garantie, dass nicht jegliche wirtschaftliche Aktivität auf Dauer allein den Gläubigern zu Gute kommt. b) Art. 1 Abs. 1 GG
Bereits die Ausfüllungsbedürftigkeit1073 des Begriffs der Menschenwürde und die hervorragende Stellung der Garantie lassen vermuten, dass Art. 1 Abs. 1 GG in vielerlei Hinsicht umstritten und Gegenstand ständiger Kontroverse ist. Im Folgenden soll einigen (nicht unumstrittenen) Grundlagen Beachtung geschenkt werden, die der weiteren Untersuchung zu Grunde gelegt werden. aa) Grundlagen
Die Menschenwürde ist höchstes Konstitutionsprinzip und oberste Wertentscheidung des Grundgesetzes.1074 Jede Auslegung ist an ihr zu messen.1075 Ne1072 Umfassend zu der als Resubjektivierung bezeichneten Frage, ob den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten subjektive, einklagbare Rechtsansprüche korrespondieren Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, Vorb. Rn. 95. Außerdem siehe Dreier, Jura 1994, 505, 512 f. Ein unmittelbarer Anspruch besteht nach Rupp, Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Pressesektor, S. 39 f. nicht. Vielmehr ist nur ein mittelbarer Anspruch denkbar, wenn die verfassungsprozessualen Voraussetzungen in einer Schutzpflichtenkonstruktion erfüllt sind und das Verfassungsgericht ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Zur Prüfung einer Schutzpflicht in der Verfassungsbeschwerde auch Scherzberg, JA 2004, 51 ff. 1073 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 96 spricht von „Offenheit der Menschenwürde-Norm“. 1074 BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100; vgl. auch Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Vorbemerkung: „Schlüsselnorm“ für das Verständnis des ganzen Grundgesetzes. 1075 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Rn. 1.
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ben der Abwehrfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG treffen den Staat insbesondere Schutzpflichten (vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), die ihn verpflichten, solche Bedingungen zu schaffen, unter denen der Schutz der Menschenwürde vor Angriffen Anderer gewährleistet ist.1076 Der Begriff der Menschenwürde muss immer vor dem Hintergrund des konkreten Falls bestimmt werden und ist insofern – was m. E. nicht ganz unkritisch zu beäugen ist – auch begrenzt wandlungsfähig1077, wenngleich er nicht jeder beliebigen Auslegung zugänglich ist.1078 Ohne die Unantastbarkeit1079 der Menschenwürde in Frage stellen zu wollen, kann eine wertende Gesamtwürdigung bei der Begriffsbestimmung angezeigt sein.1080 Gewisse Grenzen des Schutzes, welche helfen, die Umrisse des Menschenwürdebegriffes zu skizzieren, ergeben sich aus dem der Eigenständigkeit der Person verpflichteten,1081 gemeinschaftsbezogenen und -gebundenen Menschen1076
BVerfG, Beschl. v. 19. 12. 1951 – 1 BvR 220/51 = NJW 1952, 297, 298. Berlin, Beschl. v. 13. 03. 1980 – 6 S 7/80 = NJW 1980, 2484, 2485: „Ob ein polizeiliches Mittel – hier: Einweisung in ein Obdachlosenheim – menschenwürdig ist oder nicht, unterliegt im Laufe der Zeiten Schwankungen, die vom Wandel der Verhältnisse und der Anschauungen bestimmt werden. In Zeiten großer allgemeiner Not bei geringer Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft müssen andere Maßstäbe gelten als in Zeiten allgemeinen Wohlstandes und großer Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. […] Insoweit ist der in Art. 1 I GG gebrauchte Begriff der Menschenwürde wandlungsfähig, allerdings nicht nur in dem Sinne einer steten Aufwärtsentwicklung materieller Bedürfnisse, vielmehr kann bei einer Verschlechterung der Verhältnisse, z. B. bei einem plötzlichen Zustrom einer großen Zahl von asylsuchenden Obdachlosen, der bisher erreichte Standard, der als Minimum einer menschenwürdigen Existenz angesehen wurde, wieder unterschritten werden.“. Überdies ist die Menschenwürde insofern zeitbedingt, als die Antwort auf die rechtliche Frage nach einer Überschreitung der verfassungsmäßigen Grenzen von aktuellen, durch moderne Wissenschaft gewonnenen Erkenntnissen abhängt, vgl. BVerfG, Urt, v. 21. 06. 1977 – 1 BvL 14/76 = NJW 1977, 1525, 1526 ist: „Auch haben sich die medizinischen, psychologischen und soziologischen Erkenntnisse über die Auswirkungen des Vollzugs langer Freiheitsstrafen erweitert. Gerade für die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe wesentliche Faktoren sind in nicht unerheblichem Umfange zeitbedingt. Neue Einsichten können die Bewertung dieser Strafe insbesondere am Maßstab der Menschenwürde und des Rechtsstaatsprinzips beeinflussen und sogar wandeln.“. 1078 Benda, NJW 2001, 2147, 2148. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 94 ff. differenziert zwischen einem Menschenwürde-Prinzip und einer Menschenwürde-Regel. 1079 Zur Absolutheit der Menschenwürde BVerfG, Beschl. v. 03. 06. 1987 – 1 BvR 313/85 = NJW 1987, 2661, 2662. 1080 Dazu umfassend Herdegen, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 47. Vgl. auch BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99 = NJW 2004, 999, 1001; BVerfG, Beschl. v. 21. 04. 1993 – 2 BvR 930/92 = NJW 1993, 3315. 1081 BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100: „Nach dem Menschenbild des Grundgesetzes ist das Individuum indessen auch gemeinschaftsbezo1077 OVG
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bild des Grundgesetzes.1082 Darin zeigt sich, dass nur wenige Einschränkungen der Freiheit des Bürgers eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG ist.1083 Eine übertriebene Empfindlichkeit verdient naturgemäß nicht den Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG.1084 Auch einschneidende vom Staat an den Einzelnen adressierte Zumutungen durch existentielle Pflichten sind möglich.1085 Grundsätzlich sei Vorsicht und Zurückhaltung beim Berufen auf die Menschenwürde angeraten.1086 Weil sie keinerlei Abwägungsspielräume auf Rechtfertigungsebene zulässt, ist immer genau zu eruieren,1087 ob tatsächlich der engste Kern, die Quintessenz, das innerste Wesen, kurzum das Notwendigste dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht, betroffen ist. Anstatt Ideale zu umfassen, deren Erreichbarkeit von Mensch zu Mensch differiert, verdient die Interpretation der Menschenwürde den Vorzug, die eine jedem Menschen zukommende unveräußerliche Eigenschaft, ein Attribut des Menschseins, in den Fokus rückt.1088 Zudem ist der Deduktion von bislang unbenannten Grundrechten aus der Menschenwürde sehr kritisch zu begegnen, weil eine solche Ableitung weiterer Grundrechte
gen und gemeinschaftsgebunden (BVerfGE 4, 7 (15); 33, 303 (334) mwN), wobei allerdings die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben muß (BVerfGE 4, 7 (16)).“. 1082 BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100; Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 GG Rn. 6. 1083 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 308/69 = NJW 1971, 275, 279. 1084 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 GG Rn. 4. 1085 Zum Wehrdienst BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1960 – 1 BvL 21/60 –, juris, Rn. 19. Vgl. auch Herdegen, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 5. 1086 Vgl. Hofmann, AöR 118 (1993), 353 ff., der auf die mannigfaltige Verwendung des Begriffs hinweist. 1087 Ebenso Zurückhaltung anmahnend Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Rn. 11. 1088 So die vorzugswürdige Auffassung von Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Rn. 12.2. Andere Deutungen der Menschenwürde, wie z. B. von Hofmann, AöR 118 (1993), 353, 364, 373 als gemeinschaftliches Versprechen zum Schutze mitmenschlicher Solidarität, haben zwar viel für sich, bergen hingegen die Gefahr falscher Vereinnahmung und Förderung relativistischer Tendenzen, wenn geschlussfolgert wird, Art. 1 Abs. 1 GG habe als Staatsgründungsversprechen für Deutsche und Nicht-Deutsche nicht genau denselben Gehalt. Indes wird die Problematik der Relativierung absoluter Standards auf S. 376 wieder entschärft, indem Hofmann auf „das verfassungsrechtliche Gründungsversprechen gegenseitiger Respektierung“ hinweist. Vgl. auch gegen die h. M. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 61, 63, 68, 70 (beachte insbesondere Fn. 44 und 49), der den Begriff „Würde“ funktionell als Vorbedingung der individuellen Sozialisierung versteht und sich somit gerade gegen die Statik und Abstraktheit des Begriffs wendet; dazu ders., S. 69: „Sie ist alles andere als ,unantastbar‘“.
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den materiellen Gehalt der Menschenwürde überspannt und den Eigenwert der grundgesetzlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte verkennt.1089 bb) Begriffliche Annäherung
Dem Grundgesetz liegt in toto eine anthropozentrische Konzeption zu Grunde.1090 Der Mensch muss als selbstverantwortliche Persönlichkeit mit Eigenwert anerkannt werden.1091 Trotz seiner Individualität ist er jedoch ein vor allem in der Gemeinschaft stehendes, nicht selbstherrliches Individuum.1092 Mittelpunkt der Betrachtung ist stets der aus der Menschenwürde resultierende soziale Wertund Achtungsanspruch, welcher dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt.1093 Nur dieser Anspruch kann – im Gegensatz zur Menschenwürde selbst – verletzt werden.1094 Er impliziert die Selbstbestimmung des Individuums in Freiheit und Selbstbewusstsein sowie die Einwirkung auf die Umwelt.1095 Der Mensch darf niemals zum bloßen Objekt degradiert,1096 mithin seine Subjektqualität1097 in Frage gestellt werden.1098 Er ist geschützt, unabhängig davon, wie er sich in seiner Individualität begreift und wie er sich seiner selbst bewusst wird.1099 Überdies ist die freie, selbstbestimmte, tätige Entfaltung der Persönlichkeit allein von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Ein Rekurs auf die Menschenwürde verbietet sich daher.1100 Ansonsten würde die individuelle Selbstbestimmung zu einem absoluten Wert verklärt, der keinerlei Schranken unterläge.1101 1089 Dezidiert gegen die Trivialisierung des Würdebegriffs Herdegen, in: Herzog/ Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 22 f., 29, 83. 1090 Herdegen, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 2; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Vorbemerkung. 1091 BVerfG, Urt. v. 21. 06. 1977 – 1 BvL 14/76 = NJW 1977, 1525, 1526. 1092 BVerfG, Beschl. v. 14. 03. 1972 – 2 BvR 41/71 = NJW 1972, 811; BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1960 – 1 BvL 21/60 –, juris, Rn. 19. 1093 BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100. 1094 BVerfG, Beschl. v. 20. 06. 2012 − 2 BvR 1048/11 = NJW 2012, 3357, 3358 Rn. 70. 1095 BGH, Beschl. v. 22. 03. 1961 – IV ZB 308/60 = NJW 1961, 1397, 1398; dazu auch Hofmann, AöR 118 (1993), 353, 358 f. 1096 Dürig, AöR 81 (1956), 117, 127; BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100. 1097 BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1979 – 1 BvR 241/77 = NJW 1979, 1100; Hofmann, AöR 118 (1993), 353, 363. 1098 BVerfG, Beschl. v. 20. 06. 2012 − 2 BvR 1048/11 = NJW 2012, 3357, 3358 Rn. 70. 1099 So zur Änderung des Geschlechtseintrags im Geburtenbuch bei Transsexuellen BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 16/72 = NJW 1979, 595. 1100 Zur Vorrangigkeit speziellerer Grundrechte Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Rn. 9. 1101 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 GG Rn. 12.1.
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c) Stellungnahme: Art. 1 Abs. 1 GG
Mangels klarer Kriterien und subsumtionsfähiger Obersätze ist die Ableitung eines Rechts auf einen wirtschaftlichen Neuanfang aus der Menschenwürde schwierig. Ein Stück weit scheinen Auslegung und Deduktion des Rechts dem dezisionistischen Dünkel des Urteilenden1102 anheimgestellt. Im Endeffekt geben folgende Überlegungen den Ausschlag gegen ein aus der Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitetes Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang: Trotz dem Bewusstsein um die begrenzte, zeitbedingte Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Menschenwürdebegriffs sind wegen der grundsätzlich gebotenen Zurückhaltung im Bereich der Menschenwürde hohe Hürden an eine zusätzliche inhaltliche Aufladung des Begriffs oder eine Ableitung weiterer Rechte zu stellen. Zum einen tangiert die Verweigerung eines Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang nicht den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG. Zweifelsohne kann es für den einzelnen Schuldner eine existentielle Bedeutung haben und ihn in seiner Lebensplanung und psychischen Konstitution einer Religion oder eines Glaubens gleich beeinflussen. Als wirtschaftlich zum Erfolg Getriebenen, als Menschen, der Erfolg als Leistungsäquivalent ansieht oder schlicht als genügsame Person, die sich aber aus den Fesseln des staatlichen Existenzminimums und der Pfändungsfreigrenzen befreien möchte, behindert ein freies Nachforderungsrecht die selbstbestimmte Individualität und Eigenständigkeit in hohem Maße. Nichtsdestoweniger ist der Menschenwürdegehalt auf einen Kern zu reduzieren, auf ein Attribut, welches allen Menschen gleich ihrer ökonomischen Perspektiven zukommt. Die Hoffnung auf ein finanziell und wirtschaftlich ertragreicheres Leben kann selbst, wenn dies metaphysische Züge annähme oder wie auch immer geartete eschatologische Aspekte vereinnahmte, nicht als Ideal geschützt sein. Man kann hier von mehr als bloßer Empfindlichkeit sprechen, aber sicherlich nicht von einem so fundamental gewichtigen Aspekt, der begrifflich der Menschenwürdegarantie zuzuordnen ist. Es bedeutete eine Aushöhlung der Garantie, jedes beliebige Lebensziel wie „das Streben nach Glück“ ihrem Schutz zu unterstellen. Das „Damoklesschwert lebenslänglicher Vollstreckung“1103 ist hart für den Schuldner und bedeutet wegen der immensen Dauer der Zugriffsmöglichkeit eine schwerwiegende Beeinträchtigung, verletzt aber nicht seinen sozialen Achtungsanspruch. Sein Eigenwert wird anerkannt, seine Subjektqualität wird nicht in Frage gestellt. Der Kern seiner Individualität und 1102 Im Allgemeinen streiten sich die Geister in mannigfaltiger Weise über den Bedeutungsgehalt von Art. 1 Abs. 1 GG, weswegen vieles vertretbar erscheint. Von der Gefahr einer einseitig subjektiven Entscheidung möchte sich der Autor nicht ausnehmen, wenngleich dem mit den dargestellten Argumenten wirksam begegnet sein sollte. 1103 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 18.
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des Menschseins wird nicht berührt. Die freie Entscheidung über seine eigene Person verbleibt ihm im Rahmen der insofern nicht verfassungsrechtlich zu beanstandenden Gesetze. Zum anderen ist der Ableitung eines verselbstständigten Rechts auf einen wirtschaftlichen Neuanfang und daran anknüpfend einer objektiv-rechtlichen Pflicht zur Etablierung einer rechtlichen Infrastruktur zwecks Schuldbefreiung allein aus Art. 1 Abs. 1 GG eine klare Absage zu erteilen. Ganz in Linie mit den vorangestellten Überlegungen ist zu konstatieren, dass eine derartige Deduktion nicht nur den Gehalt der Norm überspannte, sondern darüber hinaus ihrer Funktion und Bedeutung aushöhlte. Somit zeigt sich, dass Art. 1 Abs. 1 GG isoliert betrachtet kein Recht auf einen wirtschaftlichen Neuanfang umfasst oder gewährt. Ob ein solches besteht, kann sich nur im Zusammenspiel oder alleine aus anderen verfassungsrechtlich verbürgten Grundsätzen ergeben. Insbesondere i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip, auf welches sogleich nach den Erörterungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und Art. 2 Abs. 1 GG eingegangen wird, könnte Art. 1 Abs. 1 GG eine besondere Schutzdimension erhalten. d) Art. 2 Abs. 1 GG
Art. 2 Abs. 1 GG enthält zwei verschiedene verfassungsrechtliche Verbürgungen. Einerseits das allgemeine Persönlichkeitsrecht und andererseits die dahinter subsidiär zurücktretende allgemeine Handlungsfreiheit.1104 Letztere ist weit zu verstehen und gleichzeitig Ausdruck eines liberalen Verfassungsverständnisses. Grundsätzlich ist alles erlaubt, solange keine Verbotsnorm entgegensteht.1105 Geschützt wird also das Recht, zu tun und zu lassen, was man will.1106 Jedes menschliche Verhalten wird unabhängig von seiner sozialethischen Werthaftigkeit, persönlichen Rationalität und gesellschaftlichen Sinnhaftigkeit erfasst.1107 Art. 2 Abs. 1 GG ist betroffen, wenn kein anderes Freiheitsgrundrecht einschlägig ist und besitzt daher den Charakter eines Auffanggrundrechts, welches einen lückenlosen Grundrechtsschutz sicherstellen soll.1108 Ferner ist die subjektiv-rechtliche Ausprägung des Art. 1 Abs. 1 GG die Kehrseite des die allgemeine Handlungsfreiheit objektiv-rechtlich schützenden Vorbehalts des Gesetzes.1109 Im weitesten Sinne verbietet Art. 2 Abs. 1 GG 1104
Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 1. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 311. 1106 BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957 – 1 BvR 253 56 = NJW 1957, 297. 1107 BVerfG, Beschl. v. 09. 03. 1994 – 2 BvL 43/92 u. a. = NJW 1992, 1577, 1578. 1108 BVerfG, Beschl. v. 29. 11. 1983 – 1 BvR 1318/81 = NJW 1984, 720. 1109 Sachs, Verfassungsrecht II, S. 236 Rn. 7. 1105
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rechtswidrige Eingriffe der Staatsgewalt und schützt so teilweise vor der Nichteinhaltung der Verfassung.1110 e) Stellungnahme: Art. 2 Abs. 1 GG
Von einem umfassend verstandenen Schutzbereich ausgehend, ist es prinzipiell möglich, das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang von der Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG in Gestalt der allgemeinen Handlungsfreiheit (in Abgrenzung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht) als erfasst anzusehen. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um ein verselbstständigtes Innominatfreiheitsrecht1111, sondern schlichtweg um beliebiges menschliches Verhalten, welches dem Schutzbereich unterfällt. Wenn jeder tun und lassen kann, was er will, liegt die Annahme grundrechtlichen Schutzes für oben beschriebene aktive wirtschaftliche Entfaltung und die Potenz zur wirtschaftlichen Einflussnahme nahe. Denn dies ist ein gewichtiger Aspekt der freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem so Rechnung getragen wird. Die Nähe zur Privatautonomie1112 ist augenscheinlich. Die Privatautonomie ist das zivilrechtliche Pendant der Handlungsfreiheit.1113 Sie ist eine besondere Ausprägung des Art. 2 Abs. 1 GG und schützt als Innominatgrundrecht umfassend die „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“1114. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG könnte auch in dieser Hinsicht eröffnet sein. Indes ist die freie Nachforderung nur die Kehrseite der privatautonom eingegangenen Verpflichtungen, deren Fesseln sich der Schuldner aufgrund seiner Vertragsfreiheit selbst anlegen konnte und wollte. Ob dann rein begrifflich ein Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang abgeleitet werden kann, auch als Recht zur einseitigen Loslösung von Verträgen verstanden, wenn zugleich die freie Nachforderung denknotwendige Konsequenz der Vertragsfreiheit des Schuldners ist, erscheint sehr zweifelhaft. Stellte man demgegenüber nur auf den zwangsvollstreckungsrechtlichen Aspekt ab, könnte man den Schutzbereich als eröffnet ansehen, wenngleich dies deswegen eher abwegig erscheint, weil 1110
Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 10. Begriff BVerfG, Beschl. v. 3. 6. 1980 – 1 BvR 185/77 = NJW 1980, 2070 („unbenanntes“ Freiheitsrecht); Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 5 ff. Zur Vertragsfreiheit als unbenanntem Freiheitsrecht Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 187 ff. 1112 Der Unterschied zwischen Privatautonomie und Vertragsfreiheit liegt darin, dass erstere sehr weit ist und die Vertragsfreiheit als Recht, Verträge frei zu schließen und zu gestalten, inkludiert; vgl. auch BVerfG, Urt. v. 08. 04. 1997 – 1 BvR 48/94 = ZIP 1997, 694, 700. 1113 Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 101. 1114 BVerfG, Beschl. v. 05. 08. 1994 – 1 BvR 1402/89 = NJW 1994, 2749, 2750. 1111 Zum
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das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang im Kern primär die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit und infolgedessen nur spiegelbildlich sekundär die Freiheit von fortwährender Zwangsvollstreckung betrifft. Letztlich ist es eine Frage der begrifflichen Grenzziehung. Ordnet man dem Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang begrifflich-konstituierend den Schutz vor andauernder Zwangsvollstreckung zu, ist von der Eröffnung des Schutzbereichs auszugehen.1115 Jedenfalls kann aber ein subjektiver Rechtsanspruch wegen der Verletzung einer Schutzpflicht allein aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht abgeleitet werden.1116 Dies ginge viel zu weit. Zuvörderst ist die Verletzung einer etwaig bestehenden Schutzpflicht bereits mehr als zweifelhaft. Diese setzte völliges Untätigbleiben bei gleichzeitigem Bestehen von Schutzpflichten, mithin eine evidente staatliche Aufgabenverletzung voraus,1117 die selbst unter Geltung eines unbeschränkten Nachforderungsrechts nicht ersichtlich ist. Im Rahmen der geltenden Gesetze steht es jedem frei, sich autonom zu entwickeln und eine individuelle Persönlichkeit auszubilden. Evident ist hier eine Verletzung keineswegs. Außerdem könnten – wenn das Tor dazu erst einmal geöffnet ist – wegen der Weite des Schutzbereichs in einer Vielzahl von noch ungewissen und in den möglichen Konstellationen unüberschaubaren Fällen Handlungspflichten und Ansprüche anerkannt werden, was zu nicht hinnehmbaren weitreichenden und praktisch kaum erfüllbaren Verpflichtungen des Staates führen könnte. Nicht nur die allgemeine Leistungsfähigkeit des Staates würde auf den Prüfstand gestellt. Auch ginge damit ein großer Bedeutungsverlust grundrechtlicher Garantien und wegen der nicht erfüllten Verpflichtungen ein signifikanter Vertrauensverlust in den Rechtsstaat einher. f) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
Das aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete und durch Art. 1 Abs. 1 GG beeinflusste1118 „allgemeine Persönlichkeitsrecht“1119 sichert vornehmlich die enge1115 Siehe zu den verfassungsmäßigen Grenzen des Vollstreckungszugriffs beim Schuldner Baur/Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, § 7 Rn. 7.2 ff. 1116 Ferner zur subjektiv-rechtlichen Dimension und zur Zurückhaltung hinsichtlich der Annahme von subjektiv-rechtlichen Leistungsgrundrechten Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Vorbemerkungen Rn 5; Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 61. 1117 BVerfG, Urt. v. 01. 12. 2009 – 1 BvR 2857/07 –, juris Rn. 135. Vgl. auch Gröpl, in: van Oostrom/Weth (Hrsg.), FS Herberger, S. 391; Klein, JuS 2006, 960, 961. 1118 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 36. Siehe auch Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 128; Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 33: Art. 1 Abs. 1 GG sei „eher als Interpretationsrichtlinie, denn als Rechtsquelle“ zu verstehen. 1119 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. = NJW 1984, 419.
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re persönliche Lebenssphäre und den Erhalt ihrer Grundbedingungen.1120 Im Unterschied zum aktiven Element der Entfaltung bei der allgemeinen Handlungsfreiheit akzentuiert dieses als „Grundrecht im Grundrecht“1121 bezeichnete Recht die Respektierung der engeren Persönlichkeitssphäre.1122 Es gilt als spezielle Ausprägung des Art. 2 Abs. 1 GG, in welcher der hoheitliche Eingriff aufgrund der Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GG besonders charakterisierbar und typisierbar ist.1123 Es dient eher passiv der Wahrung der Integrität und schützt die für die Persönlichkeit konstituierenden Elemente,1124 die ebenso bedeutsam wie die besonderen Freiheitsgarantien sind.1125 Dabei erstreckt es sich nur auf die die engere Persönlichkeitssphäre beeinträchtigenden Eingriffe.1126 Archimedischer Punkt ist die Selbstbestimmung des Individuums mittels autonomer Bestimmung der Lebensgestaltung.1127 Sein Inhalt ist nicht klar konturiert. Vielmehr werden aus abstrakten Erwägungen einzelne Fallgruppen herausgebildet, die einzelne Persönlichkeitsausprägungen erfassen.1128 Die dynamisch-progressive Entwicklung dieses Grundrechts verdeutlicht besonders der Schutz vor „neuartigen Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung“1129. Zur Inhaltsbestimmung wird oft auf die Sphärentheorie zurückgegriffen, welche je nach betroffener Sphäre unterschiedliche Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs formuliert.1130 Es wird zwischen der inneren (individuelle Identität, die die Intim- und die Privatsphäre erfasst) und äußeren 1120
BVerfG, Beschl. v. 13. 05. 1986 – 1 BvR 1542/84 = NJW 1986, 1859, 1860. Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 127, aber Rn. 128: kein gesondertes, gegenüber der Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1 völlig verselbstständigtes Grundrecht, vgl. des Weiteren Rn. 131: „Es handelt sich der Sache nach nicht um verselbstständigte Freiheitsrechte, sondern um tatbestandliche Konkretisierungen des Schutzbereichs der allgemeinen Handlungsfreiheit, die wegen ihres Bezugs zur Menschenwürde ein verfassungsrechtlich besonders ausgeprägtes Schutzniveau erreichen.“ 1122 BVerfG, Beschl. v. 3. 6. 1980 – 1 BvR 185/77 = NJW 1980, 2070. 1123 Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 130. 1124 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 31. 1125 BVerfG, Urt. v. 27. 02. 2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 = NJW 2008, 822, 824 Rn. 169. 1126 BVerfG, Beschl. v. 31. 01. 1973 – 2 BvR 454/71 = NJW 1973, 891, 892. 1127 Vgl. auch BVerfG, Urt. v. 05. 06. 1973 – 1 BvR 536/72 = NJW 1973, 1226, 1227. 1128 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 GG Rn. 11. 1129 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1999 – 1 BvR 653/96 0 = NJW 2000, 1021. 1130 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 36. 1121
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Sphäre (soziale Identität) differenziert.1131 Während der Intimsphäre, die den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung beschreibt,1132 Sachverhalte mit höchstpersönlichem Charakter zuzuordnen sind,1133 umfasst die Privatsphäre den engeren persönlichen Lebensbereich und schützt damit einen individuellen Rückzugsraum, „in dem der Einzelne unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann“1134. Im Gegensatz zur Intimsphäre weist die Privatsphäre einen bedeutenden Sozialbezug auf,1135 weswegen Eingriffe im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig sind.1136 Insbesondere umfasst die Privatsphäre einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem die eigene Individualität entwickelt und bewahrt werden kann. Die weiteste und deswegen am wenigsten eingriffssensitive Sphäre ist die Sozialsphäre,1137 die die gesamte Partizipation am öffentlichen Leben, m. a. W das Ansehen des Einzelnen in der Gesellschaft, beschreibt.1138 Ihr ist das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Recht auf Resozialisierung zuzuordnen.1139 g) Stellungnahme: Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergeben sich kaum Änderungen in der rechtlichen Beurteilung. Subsumiert man den Schutz vor fortwährender Zwangsvollstreckung dem Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang, ist auch der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eröffnet. Fraglich ist indes nur, welcher Sphäre das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang zuzuordnen ist. Die Beantwortung dieser Vorfage wirkt sich sowohl auf die Bestimmung einer Schutzpflichtverletzung als auch auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung eines etwaigen Eingriffs aus. Was die Intimsphäre anbelangt, sei aufgrund der Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GG auf die obigen Ausführungen verwiesen. Wie gezeigt, ginge es zu weit, den 1131 1132
1002.
1133
Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 38. BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99 = NJW 2004, 999,
BVerfG, Beschl. v. 31. 01. 1973 – 2 BvR 454/71 = NJW 1973, 891, 893. BVerfG, Beschl. v. 26. 04. 1994 – 1 BvR 1689/88 = NJW 1995, 1015. 1135 BVerfG, Beschl. v. 13. 06. 2007 – 1 BvR 1783/05 = NJW 2008, 39, 41 Rn. 71, 83. 1136 BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 1970 – 1 BvR 13/68 = NJW 1970, 555. 1137 BVerfG, Beschl. v. 21. 08. 2006 – 1 BvR 2606/04 u. a. = NJW 2006, 3408, 3408. 1138 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 43. 1139 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99 = NJW 2001, 879, 882. 1134
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Schutz vor lebenslanger Zwangsvollstreckung diesem Kernbereich zuzuordnen. Der Schutz der Integrität der engeren persönlichen Lebenssphäre und die Selbstbestimmung des Individuums durch Schutz der Grundlagen zur autonomen Lebensgestaltung im Rahmen eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung umfassen nicht das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang. Es steht jedem frei, sich im Rahmen des staatlich gewährten Existenzminimums frei zu entfalten und die Grundbedingungen eigener Individualität zu erleben und zu legen. Neuralgischer Punkt ist die Höhe dieses Existenzminimums. Sie muss so angepasst sein, dass Selbstbestimmung und gesellschaftliche Partizipation und Integration möglich sind. Darüber hinaus gehende Befindlichkeiten werden nicht geschützt. Allein das Streben nach Glück und wirtschaftlicher Potenz ist kein Kernanliegen. Genauso wenig kann der Staat den Verbleib im eigenen sozialen Umfeld garantieren. Daneben sind auch ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Wohlstand oder ein Recht auf Selbstverwirklichung in materieller Hinsicht nicht im Rahmen der Intimsphäre anzuerkennen. Der Staat ist nicht verpflichtet, jedem Menschen materiellen Wohlstand zu verschaffen. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist wie ein menschenwürdiges Dasein zwar an ein Mindestmaß materieller Sicherheit geknüpft, aber allein aus mangelnden finanziellen Möglichkeiten ein die engere Persönlichkeit hemmendes und den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung beschränkendes Instrument zu sehen, geht fehl. Auch wenn das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang nicht der Intimsphäre unterfällt, ist es doch den anderen Sphären zuzuordnen. Jedenfalls der weiten Sozialsphäre ist ein solcher Schutzgehalt zu attestieren. Denn dass durch die Insolvenz und unbegrenzte Nachforderung zumindest die öffentliche Partizipation betroffen ist, steht wohl außer Frage.1140 Wenngleich die Eröffnung des Schutzbereichs zu konstatieren ist, sei aber hinsichtlich der Ableitung eines subjektiven Rechts mutatis mutandis auf die Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 GG verwiesen. Ebenso wenig wie sich aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Anspruch ergibt, ist dies bei Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG der Fall. Der wesentlichste Unterschied besteht in der besonderen Nähe zur Menschenwürde, weshalb sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zwar umso eher eine einklagbare Handlungspflicht ableiten ließe. O. g. Erwägungen lassen aber weder aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus Art. 2 Abs. 1 GG und letztlich auch nicht aus der Kombination beider grundrechtlicher Garantien diesen Schluss zu. Ein durchsetzbares Recht wegen der evidenten Verletzung 1140 Vgl. Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 216, der im Zusammenhang mit dem Recht auf Resozialisierung von einem „zukunftsgerichteten Entfaltungsschutz als Grundbedingung menschlicher Persönlichkeit“ spricht.
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staatlicher Schutzpflichten kann sich, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip ergeben. h) Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)
Aus den Worten „sozialer Bundesstaat“ in Art. 20 Abs. 1 GG wird auf das Sozialstaatsprinzip geschlossen, dessen Reichweite größtenteils im Dunkeln liegt. Abstrakt betrachtet verpflichtet es den Staat, den wirtschaftlich Schwachen Freiheit von Not, ein menschenwürdiges Dasein und eine angemessene Beteiligung am allgemeinen Wohlstand zu gewähren.1141 Dabei ist es zugleich Mittel und Zweck des grundgesetzlich verbürgten Freiheitsrechts.1142 Es geht im Ganzen um eine gerechte und ausgleichende Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.1143 Eine nähere Begriffsbestimmung ist schwerlich zu erreichen. Jedenfalls sollen soziale Notlagen bewältigt und Beeinträchtigungen abgemildert werden. Hilfsbedürftige dürfen auf den Genuss staatlicher Fürsorge hoffen.1144 Gerade die einen Menschen unvorhersehbar treffenden Wechselfälle des Lebens (wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall, Pflegebedürftigkeit) müssen von der staatlichen Gemeinschaft abgemildert werden, was durch die Sozialversicherungssysteme geschieht.1145 Dass dem Sozialstaatsprinzip kein soziales Rückschrittsverbot entnommen werden kann,1146 weist auf die zur Ausfüllung des Begriffs notwendige und in der Rechtspraxis unentbehrliche Flexibilität hin. Die Modalitäten der sozialstaatlichen Aufgabenerfüllung bieten großen Spielraum.1147
1141 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20 GG Rn. 4. 1142 Zur Freiheitsausübung Grzeszick, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20 GG VIII. C. I. Rn. 17, VII. C. II. 2. Rn. 27 ff. 1143 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20 GG Rn. 4; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 134 ff.; kritisch zu einer solchen Zielzuordnung Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 212.1. 1144 BVerfG, Beschl. v. 18. 06. 1975 – 1 BvL 4/74 = NJW 1975, 1691, 1692. 1145 BVerfG, Urteil v. 22. 11. 2000 – 1 BvR 2307/94 = NJW 2001, 16, 18; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 211. 1146 Zum „Sozialabbau“ Heinig, NVwZ 2006, 771, ferner Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 210.1. 1147 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 211.1.
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i) Stellungnahme: Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)
Mehrfach wurde bereits auf das Sozialstaatsprinzip verwiesen.1148 Es wurde gezeigt, dass sich alleine aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG keine Pflicht zur institutionellen Etablierung einer Schuldbefreiung im Sinne eines Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang herleiten lässt. Anders könnte dies nunmehr nur i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip sein. aa) Objektiv-rechtliche Dimension des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang
Ob der Einzelne aus diesem nicht nur als politische Maxime und interventionistischem Handlungsauftrag zu verstehenden Prinzip einen durchsetzbaren subjektiven Anspruch auf Bereitstellung des Restschuldbefreiungsverfahrens ableiten kann, ist angesichts der Vagheit der Begriffe jedoch m. E. zu verneinen. Die Ableitung eines solchen Anspruchs ist ähnlich wie die Annahme unmittelbarer Rechtsansprüche als Ausfluss von Leistungsgrundrechten in nur wenigen Fällen möglich, nötig und überhaupt sinnvoll.1149 In diesem Sinne wird auch ein über die Sicherung des Existenzminimums hinausgehender Anspruch zur Ergreifung konkreter Maßnahmen zur Herstellung eines bestimmten Status sozialer Sicherheit oder eines bestimmten Maßes sozialer Gleichheit abgelehnt.1150 Zudem ist grundsätzliche Zurückhaltung angezeigt, da das Grundgesetz vom Einzelnen als aufgeklärtes, selbstbestimmtes Individuum ausgeht und somit Skeptizismus gegenüber einem paternalistischen Versorgungsstaat walten lässt.1151 Ferner ist im Falle eines unbeschränkten Nachforderungsrechts zwar eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Lebensgestaltung gegeben. Diese soziale Notlage ist aber nicht so erheblich, dass es gerechtfertigt erschiene, den Gesetzgeber auf ein bestimmtes Ziel hin zu verpflichten und ihm so jeden Gestaltungsspielraum, dessen es notwendigerweise bei der Erfüllung sozialer Aufgaben stetig bedarf, zu nehmen. Denn das Sozialstaatsprinzip bedarf in hohem Maße konkreter Ausgestaltung,1152 durch welche es überhaupt erst eine 1148
Vgl. § 4. E. I. 1., 2., 3. f). Urt. v. 18. 07. 1972 – 1 BvL 32/70 und 25/71 = NJW 1972, 1561, 1564; BVerfG, Beschl. v. 19. 12. 1951 – 1 BvR 220/51 – juris Rn. 34. Vgl. Grzeszick, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20 GG VIII. C. I. Rn. 20. Zu den Gründen für eine solche Zurückhaltung (inhaltliche Vagheit, kompetenzrechtliche Probleme) siehe Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 209.1, 216.1. 1150 Vgl. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 42 ff. 1151 Ähnlich Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 215. 1152 BVerfG, Urt. v. 17. 08. 1956 – 1 BvB 2/51 – juris, Rn. 94. 1149 BVerfG,
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Funktion wahrnehmen und Rechtsrealität werden kann. Der Gesetzgeber ist daher unabdingbar auf einen weiten Gestaltungsspielraum angewiesen, um der Erfüllung der grundrechtlichen Staatsziele effektiv nachzueifern.1153 Es kann also nur darum gehen, sozial untragbare Situationen durch ein Minimum an staatlicher Fürsorge soweit auszugleichen, dass ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben möglich ist. Ein hinreichendes Maß an individueller, gesellschaftlicher, kultureller, religiöser, familiärer, politischer und sozialer Entfaltungsmöglichkeit (als für den Menschen konstituierende Elemente) ist jedoch auch ohne das Recht auf einen wirtschaftlichen Neuanfang gegeben. bb) Abwehrrechtliche Dimension des Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang
Es sei noch darauf hingewiesen, dass die genannten grundrechtlichen Garantien in ihrer Abwehrfunktion durchaus eine gewisse Bedeutung entfalten könnten. Geht man von der Eröffnung des Schutzbereichs sowie – ohne nun darauf näher einzugehen – einem hypothetischen staatlichen Eingriff aus,1154 stellte sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines unbegrenzten Nachforderungsrechts. Der staatliche Eingriff müsste dann eine taugliche Schranke in der verfassungsmäßigen Ordnung1155, also allen formell und mate1153
BVerfG, Urt. v. 09. 02. 2010 – 1 BvL 1/09 u. a. = NJW 2010, 505, 507 Rn. 133. für einen allenfallsigen Eingriff könnte die andauernde Zwangsvollstreckung sein; dazu und zu den jeweils einschlägigen Grundrechten Baur/ Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, § 7 Rn. 7.2 ff. und explizit zu einem Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkursund Vergleichsrecht, Band II, § 6 Rn. 6.14 und das allgemeine Persönlichkeitsrecht dies., Rn. 6.24; außerdem Walker, in: Damman/Grunsky/Pfeiffer (Hrsg.), FS Wolf, S. 561 ff. Nicht zu vergessen sei auch die Figur des additiven Grundrechtseingriffs (Verbot der unverhältnismäßigen Gesamtbelastung), dazu BVerfG, Urt. v. 12. 04. 2005 – 2 BvR 581/01 = NJW 2005, 1338 1341 und Winkler, JA 2014, 881 ff. Ferner zur Grundrechtsausgestaltung Chr. Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, § 200 Rn. 65: „Es besteht keine Exklusivität von Ausgestaltung und Eingriff. […] Auch gesetzgeberische Ausgestaltung löst daher den Prima facie-Schutz gegen Eingriffe aus […].“, siehe auch zum Schutz vor Grundrechtsgefährdungen Rn. 89 ff. und Rn. 93 ff. Einen Eingriff in ähnlichem Fall wohl bejahend Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 110 f., der von einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit spricht. Im Anschluss an die Feststellung von Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313, 314, die die Frage nach dem Vorliegen eines Eingriffs teils als Wertungsfrage begreifen, ist vorliegend von einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auszugehen. Interessant sind außerdem die Ausführungen von Gröpl, jM 2017, 359, 361 f.; ders., in: van Oostrom/Weth (Hrsg.), FS Herberger, S. 387 ff. zur spiegelbildlichen Situation. 1155 Zum Terminus der verfassungsmäßigen Ordnung BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957 – 1 BvR 253 56= NJW 1957, 297 f. Vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 31. 10. 2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13 = NVwZ 2017, 617 Rn. 17. 1154 Anknüpfungspunkt
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riell in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzen, finden.1156 Ansonsten wäre der Eingriff verfassungswidrig. Die Schranke wäre im Fall des Bestehens eines unbeschränkten Nachforderungsrechts in der konkreten Ausgestaltung der Privatrechtsordnung1157, in der damit die klare gesetzgeberische Intention zu einer Priorisierung der Gläubigerinteressen erkennbar wäre, zu sehen. Gibt es aber nun einen Fall, in dem ein unbeschränktes Nachforderungsrecht eine solch untragbare Härte, insbesondere eingedenk des über allem wachenden Sozialstaatsprinzips, darstellte, dass die Verhältnismäßigkeit auch vor dem Hintergrund berechtigter Gläubigerinteressen nicht gewährt wäre? Zu denken ist bspw. an folgende – zugegebenermaßen abstrakte und unbestimmte – Konstellation:1158 Ein Schuldner ist in sehr jungen Jahren aufgrund von Umständen insolvent, die er in keiner Weise verschuldet hat, wobei der Begriff des Verschuldens hier sehr weit ausgelegt wird.1159 Ihn darf überhaupt kein persönlicher Vorwurf an der Herbeiführung dieser Situation treffen. Selbst bei Betrachtung der Hauptüberschuldungsgründe ist genau zu eruieren, ob die Arbeitslosigkeit, Scheidung, Sucht etc. nicht auf Gründe zurückzuführen ist, die er selbst, wenn auch nur leicht fahrlässig,1160 zu vertreten hat. Es wurde bereits oben dargelegt, dass eine abstrakt-generelle Zuschreibung dieser Verantwortlichkeit kaum möglich ist.1161 Da es aber nicht um die legislatorische Festlegung eines Verschuldensmaßstabs geht, sondern um das Judizieren im Einzelfall, stehen dieser Betrachtung kaum durchgreifende Erwägungen entgegen. Zu dieser unverschuldet herbeigeführten Insolvenz muss nun eine Prognoseentscheidung1162 treten. Aufgrund dieser Prognoseentscheidung muss abzusehen sein, dass der Schuldner selbst bei gehö1156 Man beachte auch etwaige Gläubigerrechte als „Rechte anderer“. Zu den „Rechte anderer“ und deren Bedeutung Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 44. 1157 Zur grundrechtlichen Bindung des Gesetzgebers bei der Privatrechtssetzung Di Fabio, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 106. 1158 Auch Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 111 nennt einige Konstellationen (z. B. erhebliche Personenschäden, die von einem nicht haftpflichtversicherten Fahrradfahrer verursacht werden), die aber m. E. zu weit sind und in denen daher eine Verletzung von Grundrechten nicht vorläge. 1159 Hier bietet sich die Bezeichnung „ehrenhaft-glückloser Schuldner“ von Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 127 an. Vgl. auch Lösch, JA 1994, 44, 47. 1160 Zu einem verfassungsrechtlichen Grenzfall bei leichter Fahrlässigkeit Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Band II, § 6 Rn. 6.24: Der gerade volljährige und nicht haftpflichtversicherte A verursacht einen Verkehrsunfall, infolgedessen die unterhaltspflichtigen Eltern des D querschnittsgelähmt werden. 1161 Siehe § 2. C. III. 1162 Von einem ähnlichen Instrument spricht Madaus, JZ 2016, 548, 554: „Es genügt ein Mechanismus, der zum einen wertlose Ansprüche identifiziert und abschreibt, wäh-
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rigster Anstrengung vermutlich bis an sein Lebensende nicht mehr aus eigener Kraft die Schulden wird abtragen können. Ist der Gläubiger darüber hinaus, z. B. weil es sich um einen institutionellen Gläubiger handelt, in dessen Büchern die Forderung einen gänzlich unbedeutenden Stellenwert einnimmt, überhaupt nicht auf die Begleichung der Forderung angewiesen, könnte im Einzelfall die unbeschränkte Nachforderung unverhältnismäßig sein. Die Unverhältnismäßigkeit dieser Ausnahmesituation bedeutete dann die Verfassungswidrigkeit der unbeschränkten Nachforderung, aber – wohlgemerkt – nur im konkret dem Richter vorliegenden Einzelfall. Wie darauf zu begegnen wäre, soll hier nicht weiter verfolgt werden.1163 4. Fazit: Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang
Seitens der Literatur gibt es keine begrifflich klar umrissene inhaltliche Beschreibung des sog. Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang; genauso wenig wie eine dogmatische Einordnung desselben. Einige Autoren meinen, es sei zwingend verfassungsrechtlich vorgegeben, während andere dasselbe in der Ausprägung des Restschuldbefreiungsverfahrens als eine rein politische Entscheidung ansehen. Verfassungsrechtliche Ausgangspunkte der Betrachtung sind die Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG. Bei der Untersuchung dieser Artikel hat sich gezeigt, dass es darum gehen muss, das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang in seiner objektiven Dimension als eventualiter verletzte Schutzpflicht zu deuten. Nachdem eine begriffliche Umschreibung versucht wurde, hat sich gezeigt, dass es kein verselbstständigtes Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang gibt. Vielmehr stellt es sich nur als eine spezielle Ausprägung der grundrechtlichen Garantien dar. Weder aus dem Art. 1 Abs. 1 GG noch aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ggf. i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich die Verletzung staatlicher Schutzpflichten und damit ein subjektiver Rechtsanspruch auf staatliches Tätigwerden. Die Einführung des Restschuldbefreiungsverfahrens war also eine rein politische Entscheidung, die einer gesellschaftlich-ökonomisch-moralischen Notwendigkeit folgte. Hieraus ergibt sich aber auch – was weder wünschenswert noch sinnvoll ist –, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht (wohl aber mit Inkrafttreten der avisierten Richtlirend er zugleich schutzbedürftige Gläubiger identifiziert und deren Forderungen garantiert.“. Vgl. ferner BT-Drucks. 19/4880, S. 228 ff. 1163 Zu denken wäre v. a. an eine verfassungskonforme Auslegung. Fraglich wäre nur, welche Normen dafür in Betracht kämen. Hier könnte man ggf. § 201 InsO ins Spiel bringen. Nicht geeignet scheint § 765a ZPO. Zur verfassungskonformen Auslegung von Insolvenzrechtsvorschriften vgl. Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 32.
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nie unionsrechtlich) daran gehindert wäre, das uneingeschränkte unbegrenzte Nachforderungsrecht wieder einzuführen.
II. Dreijährige Entschuldungsfrist ohne Mindestquotenerfordernis Nähme man die Existenz eines Rechts auf wirtschaftlichen Neuanfang an, müsste nur die Ausgestaltung der Schuldbefreiung – also Konditionen und Modalitäten der Entschuldung – in den verfassungsrechtlichen Rahmen eingepasst werden. Steht demgegenüber – wie gezeigt – die Entscheidung über die Einführung eines Schuldbefreiungsmechanismus im politischen Belieben, stellt sich darüber hinaus noch die Frage der generellen Verfassungsmäßigkeit derselben. Diese ist bereits seit Langem ausführlich erörtert. Im Nachfolgenden sollen die bekannten Argumente systematisch geordnet, konzis dargestellt und punktuell ergänzt werden, um ein Fundament für die Beantwortung der Frage vorzubereiten, wie die Absenkung der Abtretungsfrist auf maximal drei Jahre ohne eine Mindestbefriedigungsquote verfassungsrechtlich zu beurteilen ist. 1. Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung
Ganz überwiegend wurde die Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung bislang bejaht,1164 obgleich sich kritische Stimmen erhoben, die die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften bezweifelten.1165 Ein großes Echo verursachten mehrere Richtervorlagen des AG München gem. Art. 100 Abs. 1 GG, das die Restschuldbefreiung in toto als verfassungs-
1164 BGH, Beschl. v. 08. 09. 2016 – IX ZB 72/15 = NJW 2016, 3726, 3728 Rn. 19: „Der Gesetzgeber hat in den Regelungen der §§ 286 ff. InsO einen angemessenen Ausgleich zwischen den durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Gläubigerinteressen, dem durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrecht des Schuldners und dem Sozialstaatsgebot gefunden“; Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 93 ff., 107; Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271 f.; Ahrens, ZVI 2004, 69, 76; Ahrens, ZInsO 2002, 1010 ff. m. w. N. in Fn. 5 zur Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit; Arnold, DGVZ 1996, 129, 130; Balz, ZRP 1986, 12, 17; Forsblad, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, S. 275 ff.; Döbereiner, Die Restschuldbefreiung nach der Insolvenzordnung, S. 28 ff.; Gerhardt, ZZP 95 (1982), 467, 492; Prütting/Stickelbrock, ZVI 2002, 305 ff.; Ruby, Schuldbefreiung durch absolute Anspruchsverjährung, S. 116 ff.; Wenzel, DGVZ 1993, 81 ff.; Wochner, BB 1989, 1065, 1067. Vgl. auch Gerhardt, FLF 1989, 99, 104 f.; Pape, ZRP 1993, 285, 288. 1165 AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676. Christmann, DGVZ 1992, 177, 178 f. Auch kritisch Wenzel, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 286 Rn. 3e; ebenso Smid, Restschuldbefreiung, in: Leipold (Hrsg.), Insolvenzrecht im Umbruch, S. 139, 149 ff.
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widrig erachtete.1166 Das BVerfG hielt die Vorlagen allesamt für unzulässig und ergriff daher nie die Gelegenheit, explizit zur Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung Stellung zu nehmen.1167 Die Finanzverwaltung des Landes Hessen ging ebenfalls gegen die Restschuldbefreiung vor. Das angestrengte Rechtsbeschwerdeverfahren wurde vom BGH aber als unzulässig verworfen.1168 a) Gewährleistungsumfang Art. 14 GG
Dem behaupteten Recht des Schuldners auf einen wirtschaftlichen Neuanfang stehen die grundrechtlich geschützten Interessen der Gläubiger gegenüber. V. a. der Gewährleistung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG kommt eine herausragende Stellung zu.1169 Dies setzt aber zunächst voraus, dass Art. 14 Abs. 1 GG die Forderungen der Gläubiger erfasst. Im Grundgesetz ist an keiner Stelle „Eigentum“ definiert. Ohne den Schutz vermögensrechtlicher Positionen lassen sich die Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) nicht realisieren.1170 Die Eigentumsgarantie soll einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich erhalten und die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des eigenen Lebens ermöglichen.1171 Insofern hat der Gesetzgeber den Grundsatz der Privatautonomie soweit wie möglich zu schützen.1172 Insbesondere muss der Bestand der geschützten Rechtspositionen gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt 1166 Zum Ersten AG München, Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676 ff.; 1506 IN 953/02 = ZVI 2002, 330 ff.; AG München, Beschl. v. 20. 11. 2002 – 1502 IN 1944/00 = ZVI 2003, 39 ff.; AG München, Beschl. v. 20. 05. 2003 – 1506 IN 748/02 = ZVI 2003, 292 ff. Zum Zweiten AG München, Beschl. v. 25. 09. 2003 – 1507 IN 39/02 = ZVI 2003, 546 ff. Zum Dritten AG München, Beschl. v. 09. 06. 2004 – 1507 IN 39/02 = NZI 2004, 456 ff. Zum Vierten AG München Beschl. v. 06. 07. 2005 – 1506 IN 2348/03. Kritisch zu den Vorlagebeschlüssen Ahrens, ZVI 2004, 69 ff.; Ahrens, ZInsO 2003, 509 ff; Ahrens, ZInsO 2003, 197 ff.; Ahrens, ZInsO 2002, 1010 ff.; Pape, ZInsO 2004, 314 ff.; Pape, ZInsO 2002, 951 ff. 1167 Zum Ersten BVerfG, Beschl. v. 03. 02. 2003 – 1 BvL 11/02, 12/02, 13/02, 16/02, 17/02= NZI 2003, 162 ff. Zum Zweiten BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 1 BvL 8/03 = NJW 2004, 1233 ff. Zum Dritten BVerfG Beschl. v. 07. 07. 2004 – 1 BvL 3/04 –, juris. Zum Vierten BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317. Dem BVerfG zustimmend Grote, ZInsO 2006, 317, 19 f.; Pape, ZVI 2003, 97 ff. Zu den Entscheidungen des BVerfG und den entsprechenden Vorlagen Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 16 f. 1168 BGH, Beschl. v. 29. 06. 2004 – IX ZB 30/03 = NZI 2004, 510. 1169 Zu anderen denkbaren Verfassungsverstößen Ahrens, in: Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 76 Rn. 10. 1170 Christmann, DGVZ 1992, 177. 1171 BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 1991 – 1 BvR 868/90 = NJW 1992, 36, 37. 1172 AG München, Beschl. v. 09. 06. 2004 – 1507 IN 39/02 = NZI 2004, 456, 462.
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bewahrt werden.1173 Unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG fallen nach dem BVerfG „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“1174 So sind also jedenfalls alle wirtschaftlich wertvollen Forderungen erfasst.1175 Zöge man daraus aber den Schluss, dass nur wirtschaftlich wertvolle Forderungen dem Gewährleistungsinhalt des Art. 14 Abs. 1 GG zu subsumieren sind, ginge dies insoweit fehl, als dann im Einzelfall oftmals Gläubiger bei der Insolvenz des Schuldners nicht mehr den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG genössen. Es fehlt jedoch grundsätzlich an einer einheitlichen, klaren Bestimmung des Begriffs „werthaltig“ und an einem zuverlässigen Prognoseinstrument1176, um die Werthaltigkeit von Forderungen zu bestimmen, zumal überhaupt nicht klar ist, ab welchem Grad des Wertverlusts der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG versagt sein sollte. Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht die Forderungen der Gläubiger eines insolventen Schuldners als private vermögenswerte Rechte bezeichnet, die vom Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst sind.1177 Gleiches gewahrte im Jahre 1994 der Gesetzgeber, der den Schutz erworbener Rechtspositionen – unabhängig von ihrer Werthaltigkeit – explizit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zuordnete.1178 Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG geht aber noch weiter. Das Insolvenzverfahren ist durch den Gesetzgeber unter besonderer Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzauftrags zur Gewährleistung des Eigentums auszugestalten.1179 Das Eigentum ist materiell zu schützen und das dazugehörige Verfahren zur Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes entsprechend zu
1173
BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 1991 – 1 BvR 868/90 = NJW 1992, 36, 37. BVerfG, Beschl. v. 25. 04. 2001 – 1 BvR 132/01 = NJW 2001, 2159. 1175 Dem Schutz des Eigentums nur wirtschaftlich wertvolle Forderungen unterstellend Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 94 f. 1176 Siehe dazu bereits oben § 4. E. I. 4. Madaus, JZ 2016, 548, 554: „Es genügt ein Mechanismus, der zum einen wertlose Ansprüche identifiziert und abschreibt, während er zugleich schutzbedürftige Gläubiger identifiziert und deren Forderungen garantiert.“. 1177 BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NJW 2006, 2613, 2614 Rn. 34; BVerfG, Beschl. vom 27. 06. 2005 – 1 BvR 224/05 = NZM 2005, 657, 659; BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 318; BVerfG, Beschl. v. 25. 04. 2001 – 1 BvR 132/01 = NJW 2001, 2159; BVerfG, Beschl. v. 09. 01. 1991 – 1 BvR 929/89 = NJW 1991, 1807. Vgl. auch Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 105; Gröpl, jM 2017, 359, 361; ders., in: van Oostrom/Weth (Hrsg.), FS Herberger, S. 386; Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 16. 1178 BT-Drucks. 12/7302, S. 153. Auch Ahrens, ZVI 2004, 69, 71 ff. 1179 BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 2016 – 1 BvR 3102/13 = NJW 2016, 930, 932 Rn. 44; BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04 = NJW 2006, 2613, 2614 Rn. 34. 1174
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
239
konzipieren.1180 Aus der Eigentumsgarantie ergibt sich somit ein Anspruch auf Realisierung der Verfassungsgebote in effektiver Weise oder prägnant: ein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz.1181 Ist also eine schuldrechtliche Forderung von Art. 14 Abs. 1 GG erfasst, kann auch eine Beschränkung oder erhebliche Erschwerung der Durchsetzbarkeit einer Forderung einen Eingriff in das Eigentum des Gläubigers darstellen.1182 b) Eigentumsrelevante Maßnahme
Fraglich ist, ob die Restschuldbefreiung eine entschädigungspflichtige Enteignung gem. Art. 14 Abs. 3 GG oder lediglich eine Inhalts- und Schrankenbestimmung darstellt. Eine Enteignung richtet sich auf die Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben.1183 Demgegenüber legen Inhalts- und Schrankenbestimmungen generell und abstrakt Rechte und Pflichten hinsichtlich solcher Rechtsgüter fest, die als Eigentum im Sinne der Verfassung zu verstehen sind.1184 Wenngleich die Einordnung der Restschuldbefreiung als entschädigungspflichtige Enteignung vertreten wird,1185 ordnet die ganz überwiegende Mehrheit die Restschuldbefreiung richtigerweise als Schrankenbestimmung1186 nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ein.1187 Als Argument wird vorgebracht, der Gläubiger könne die Forderung zunächst verfolgen und sei stets mit dem Risiko der Einbringlichkeit belastet.1188 1180
AG München, Beschl. v. 09. 06. 2004 – 1507 IN 39/02 = NZI 2004, 456, 462. Beschl. vom 07. 01. 2009 – 1 BvR 312/08; BVerfG = NJW 2009, 1259, Beschl. v. 03. 07. 1973 – 1 BvR 153/69 = NJW 1974, 229, 231 f. 1182 BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 318; auch BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 1 BvL 8/03 = NJW 2004, 1233. 1183 BVerfG, Urt. v. 26. 07. 2005 – 1 BvR 782/94 u. 1 BvR 957/96 = NJW 2005, 2363, 2373. 1184 BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 2 BvR 564/95 = NJW 2004, 2073, 2077. 1185 Christmann, DGVZ 1992, 177, 178 f., wonach die InsO nicht in abstrakt genereller Weise Beschränkungen der Forderungen begründe, sondern sie „normiert nur auf seiten des Schuldners die Voraussetzungen für die vom Gericht auszusprechende Entscheidung“. Hiernach liege eine Administrativenteignung durch Gerichtsbeschluss vor. 1186 Zum Begriff Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 14 GG Rn. 13. Im Weiteren wird begrifflich mangels Relevanz nicht zwischen Inhaltsbestimmungen und Schrankenbestimmungen unterschieden. 1187 Vgl. nur Arnold, DGVZ 1996, 129, 130; Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 26; Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 106 f.; Rothammer, Die insolvenzrechtliche Restschuldbefreiung, S. 22 f.; Ruby, Schuldbefreiung durch absolute Anspruchsverjährung, S. 128 f.; Wenzel, DGVZ 1993, 81 ff. 1188 Becker, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), § 1 Rn. 26. 1181 BVerfG,
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Außerdem würden die Forderungen schließlich nicht erlöschen, sondern nur in ihrer Durchsetzbarkeit gehemmt, weshalb das Merkmal der Finalität nicht vorliege.1189 Es wird vertreten, der Gesetzgeber sei sogar befugt, in Ausnahme situationen wie der Insolvenzausfallsituation in den Kernbereich der Eigentums position einzugreifen – was er mit der Beseitigung der Durchsetzbarkeit durch Erteilung der Restschuldbefreiung auch tut –1190 ohne damit den Kerngehalt in verfassungswidriger Weise zu verletzen.1191 Im Ergebnis ist der Qualifikation als Inhalts- und Schrankenbestimmung zuzustimmen. Dafür spricht neben dem Genannten zweierlei. Erstens steht es dem Gesetzgeber frei, eine einmal begründete Rechtsposition nachträglich zu verändern, indem er sie inhaltlich umformt oder Befugnisse und Pflichten diesbzgl. neu festlegt.1192 Zweitens spricht es gemeinhin für das Vorliegen von Inhaltsund Schrankenbestimmungen, wenn mit dem Entzug bestehender Rechtspositionen ein Ausgleich privater Interessen intendiert ist.1193 c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Fraglich bleibt, ob diese Inhalts- und Schrankbestimmung nicht die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen überschreitet. Der Gesetzgeber hat einerseits einen weiten Gestaltungsspielraum,1194 andererseits muss er in besonderem Maße den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.1195 Das BVerfG hat jedoch nur die Kompetenz, die Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grenzen zu kontrollieren.1196 Die Diskussion um die Restschuldbefreiung als entschädigungspflichtige Enteignung verdeutlicht, dass sie einen besonders scharfen, massiven1197 und schmerzlichen Eingriff in die Eigentumsrechte der Gläubiger darstellt.1198 Die 1189
Rothammer, Die insolvenzrechtliche Restschuldbefreiung, S. 22. Forsblad, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, S. 291. 1191 Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271. Falls man nicht davon ausgeht, dass Forderungen bereits mit Eintritt der Insolvenz wertlos sind, deuten die Ausführungen des BVerfG, Beschl. v. 05. 02. 2002 – 2 BvR 305/93 u. a. = NJW 2002, 3009 für den Fall werthaltiger Forderungen, die erst durch die Erteilung der Restschuldbefreiung wertlos werden, eher Gegenteiliges an. 1192 BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 318. 1193 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 07. 12. 2004 – 1 BvR 1804/03 = NJW 2005, 879, 880. 1194 Vgl. BVerfG, Urt. v. 01. 03. 1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78 = NJW 1979, 699, 702. 1195 BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 318. 1196 BVerfG, Beschl. v. 17. 07. 1996 – 2 BvF 2/93 = NJW 1997, 383, 385. 1197 AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676. 1198 Mankowski, KTS 2011, 185, 199. 1190
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Umwandlung der Forderung in eine Naturalobligation führt zu deren faktischer Wertlosigkeit.1199 Aus diesem Grund ist bei der Abwägung besonderes Augenmerk auf die Befriedigungsaussichten der Gläubiger, ihre Beteiligungsrechte und Elemente des sozialen Schuldnerschutzes zu legen.1200 Privatnützigkeit (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) und Sozialpflichtigkeit (Art. 14 Abs. 2 GG) des Eigentums ist Rechnung zu tragen.1201 Nicht zu vergessen ist, dass sich in einem sozialen Rechtsstaat der Schutz des Eigentums gerade für den sozial Schwachen durchsetzen muss, der ja in erster Linie um seiner Freiheit willen dieses Schutzes bedarf.1202 Jedoch darf dieser Schutz nicht weitergehen, als der Schutzzweck der Regelung gebietet, die die Eigentümerbefugnisse einschränkt.1203 Der Gesetzgeber ist gehalten, die schutzwürdigen Interessen aller Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.1204 Die Restschuldbefreiung ist verhältnismäßig1205, wenn sie einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist. aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit
Sowohl bei der Bestimmung des legitimen Zwecks als auch bei der Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit steht dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu.1206 Die staatliche Maßnahme ist 1199
Wagner, ZVI 2007, 9. Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 19. 1201 Seuffert, ZIP 1986, 1157, 1158. Ahrens, ZVI 2004, 69, 73 sieht die Stellung des Vermögensrechts zur Garantie persönlicher Freiheit und den sozialen Bezug des Eigentums als jeweils selbstständige Prüfungselemente; hingegen erschöpft sich bei Jarass, in Jarass/ Pieroth (Hrsg.), GG, § 14 GG Rn. 42 der soziale Bezug in der Funktion als Abwägungsposition im Rahmen der Angemessenheit. Papier/Shirvani, in: Herzog/Scholz/Herdegen/ Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 GG Rn. 416 gehen von der Annahme eines einheitlichen Gesetzesvorbehalts aus, der verfassungsunmittelbare Eigentümerpflichten aus Art. 14 Abs. 2 sowie – damit zusammenhängend – einen Richtervorbehalt ausschließt. 1202 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2976 – 2 BvR 804/75 = NJW 1976, 1391, 1392. Vgl. auch Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber; (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 213, 214: Im Grunde setzen Freiheitsgrundrechte dem Sozialstaatsprinzip vielfach Grenzen. Anderes zeigt sich bei Art. 14 Abs. 2, wenn die sozialstaatlich motivierte Beschränkung bereits im Grundrecht angelegt ist. 1203 BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1969 – 1 BvL 3/66 = BeckRS 9998, 181160. 1204 BVerfG, Beschl. v. 23. 04. 1974 – 1 BvR 6/74, 2270/73 = NJW 1974, 1499 f. Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 2 BvR 564/95 = NJW 2004, 2073, 2078. 1205 Zur Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit BVerfG, Beschl. v. 18. 02. 2009 – 1 BvR 3076/08 = NVwZ 2009, 1025, 1028. 1206 BVerfG, Beschl. v. 10. 07. 1958 –1 BvF 1/58 = NJW 1958, 1388, vgl. auch Wenzel, DGVZ 1993, 81, 83 f. 1200
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zur Erreichung des legitimen Zwecks geeignet, wenn der gewünschte Erfolg mit ihrer Hilfe gefördert werden kann.1207 Sie ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber kein anderes, das betreffende Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können.1208 Zum Zweck der Restschuldbefreiung wurde bereits einiges gesagt.1209 Von der Geeignetheit und Erforderlichkeit ist auszugehen.1210 Allein entscheidend ist die Angemessenheit der Regelungen. bb) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne: Angemessenheit
Eine gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung ist angemessen, sofern der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht.1211 (1) Gläubigerinteressen
Gläubiger- und Schuldnerinteressen sind gegeneinander abzuwägen. Dabei sind die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen. (a) Folgeinsolvenzen
Quantitativ nicht unbedingt die Regel,1212 aber dennoch unter persönlichen Gesichtspunkten nicht zu vernachlässigen sind die möglichen Folgeinsolvenzen von Gläubigern, die auf die rechtzeitige Begleichung der schuldnerischen Forderung angewiesen sind.1213 Ausgehend von diesem Argument wird – entgegen obigen Befunden –1214 geschlussfolgert, eine Verkürzung der Entschuldungsfrist demotiviere potenzielle Gründer aufgrund des Eingriffs in den Grundsatz pacta 1207
BVerfG, Beschl. v. 08. 10. 1985 – 1 BvL 17/83, 1 BvL 19/83 = NJW 1986, 1603. BVerfG, Beschl. v. 08. 10. 1985 – 1 BvL 17/83, 1 BvL 19/83 = NJW 1986, 1603. 1209 § 2 D. V. 2. 1210 Zum legitimen Zweck sowie Geeignetheit und Erforderlichkeit siehe ausführlich Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 109 ff.; Forsblad, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, S. 284 ff.; Rothammer, Die insolvenzrechtliche Restschuldbefreiung, S. 24 f. Zur Erforderlichkeit auch Ahrens, ZVI 2004, 69, 74. 1211 BVerfG, Beschl. v. 08. 10. 1985 – 1 BvL 17/83, 1 BvL 19/83 = NJW 1986, 1603. 1212 Obschon nach Jäger, ZVI 2012, 177, 181 die Nichtbegleichung von Rechnungen als eine der häufigsten Ursachen für die Insolvenz kleinerer und mittlerer Unternehmen genannt wird. 1213 AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676, 677. Grasmann, in: Leser/Isomura (Hrsg.), FS Kitagawa, S. 117, 124 f.; Medicus, DZWiR 2007, 221, 226. 1214 Vgl. § 4. D. I. 1. b) bb) (2) (d). 1208
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sunt servanda mehr, als sie sie zur Gründung eines neuen Unternehmens motiviere.1215 (b) Verschlechterte Zahlungsmoral
Daneben wird auch auf die Gefahr hingewiesen, die bloße Hoffnung auf eine rasche Schuldbefreiung verleite zu leichtfertigem Schuldenmachen und zu einer schlechteren Zahlungsmoral.1216 Das Verfahren werde ausschließlich zur raschen Entschuldung zweckentfremdet und missbraucht, wenn Schulden nicht mehr als Belastung empfunden werden.1217 (c) Erhöhte Befriedigungsquote bei längerer Zugriffsdauer
Zwar beträgt der wirtschaftliche Wert der Forderung oft nur wenige Prozente des Nominalwertes. Dennoch darf die Wahrscheinlichkeit eines nach Verfahrensbeendigung pfändbaren nicht unerheblichen Neuerwerbs und die spätere wirtschaftliche Realisierungschance, die ohne die Restschuldbefreiung regelmäßig bei einer Zugriffsdauer von dreißig Jahren ebenfalls noch beachtlich sein kann, nicht unterschätzt werden.1218 Selbst der Gesetzgeber ist der Meinung, jede Abkürzung der Restschuldbefreiungsphase verschlechtere die Befriedigungsaussichten der Gläubiger.1219 (d) Übermäßige Belastung bei fehlender Befriedigung
Ferner belaste das Verfahren die Gläubiger aufgrund seiner schuldnerfreundlichen Ausgestaltung finanziell über Gebühr, ohne dass ihnen ein entsprechender Ausgleich oder gar ein adäquater Teil ihrer Forderung zufließt.1220 Nur in einem kleinen Teil der Verfahren können überhaupt die von der Staatskasse 1215
Jäger, INDat-Report 2012, 26. nur den Titel des Aufsatzes von Jäger, INDat-Report 2012, 26 „Hemmschwelle und Zahlungsmoral sinken“; ferner Komo, Der Langfristige Kredit 1989, 256; Medicus, DZWiR 2007, 221, 226; Napoletano, Privatinsolvenz und Restschuldbefreiung, S. 237 ff.; Wacket, FLF 1989, 65, 66 f.; im weiteren Sinne auch Eidenmüller, KTS 2009, 137, 153. 1217 Döbereiner, Die Restschuldbefreiung nach der Insolvenzordnung, S. 221; Lösch, JA 1994, 44 ff., der auf S. 45 auch auf „verschuldete“ Insolvenzen hinweist; Scholz, BB 1992, 2233, 2238. 1218 Ackmann, ZIP 1982, 1266, 1271, relativierend aber, wenn der Schuldner keine Aussicht auf vollständige Gläubigerbefriedigung hat; außerdem Mohr, ZIK 2017, 97, 103: „Die Reduzierung der Dauer des Abschöpfugnsverfahrens schmälert sicher die den Gläubigern zukommenden Beträge.“. 1219 BT-Drucks. 17/11268, S. 13. 1220 AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676, 677 f. 1216 Siehe
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vorfinanzierten Verfahrenskosten zurückgeführt werden.1221 Zum einen erhalten die Gläubiger dann überhaupt nichts mehr. Zum anderen ist es kritisch zu beäugen, wenn das langjährige Restschuldbefreiungsverfahren nur der eigenen Kostenkompensation dient.1222 Gelinge der Tatsachenforschung nicht der Beleg für eine angemessene Gläubigerbefriedigung de lege lata, liege die Verfassungswidrigkeit zumindest der Erhebung von Verfahrenskosten und der fehlenden Deckung der Vergütung des Insolvenzverwalters sowie des Treuhänders durch die öffentliche Hand nahe.1223 Die eingriffsrelevante Maßnahme sei mit der abnehmenden Gläubigerbefriedigung umso gewichtiger, zumal aufgrund der Pfändungsfreibeträge häufig kaum reale Befriedigungsaussichten bestünden.1224 Weiterhin muss in die Erwägung miteinfließen, dass der Staat grundrechtlich verpflichtet ist, dem Einzelnen eine wirkungsvolle Einzel- oder Gesamtvollstreckung zu gewähren.1225 Es gilt der Grundsatz „pacta sunt servanda“.1226 Hinzu komme, dass die fehlende Beschränkung auf eine einmal im Leben gewährte Restschuldbefreiung die Missbrauchsgefahr des Rechtsinstituts erhöhe.1227 Anfänglich wurde darüber hinaus noch befürchtet – was sich a posteriori als unbegründet erwiesen hat –, wesentlichen Rechtsinstitutionen wie Bürgschaft, Schuldbeitritt und Garantieerklärung würden durch die Restschuldbefreiung der Boden entzogen.1228 (e) Keine Prüfung von Amts wegen sowie nachteilige Darlegungs- und Beweislast
Die angeführten Bedenken haben schließlich Eingang in das Insolvenzrecht gefunden. Die Wahrung der Gläubigerinteressen erfolgt zuvörderst durch das Liquidationsverfahren, den weitreichenden Bestand von Sicherungsrechten, die Erwerbsobliegenheiten des § 295 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO und die Bereichsausnahmen des § 302 InsO.1229 Dazu kommt die relativ lange Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens, die eine größtmögliche Gläubigerbefriedigung gewährleis1221
AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676. Kirchhof, ZInsO 2001, 1, 13. 1223 Wenzel, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 286 Rn. 3e. 1224 Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 529; Medicus, DZWiR 2007, 221, 223. 1225 AG München Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676. 1226 Vgl. auch Kokott, in: Hergenröder (Hrsg.), Schulden und ihre Bewältigung, S. 141; Rothammer, Die insolvenzrechtliche Restschuldbefreiung, S. 16. 1227 Prütting, ZIP 1992, 882, 883. 1228 AG München, Beschl. v. 30. 08. 2002 – 1506 IN 656/02 = NZI 2002, 676, 677. 1229 So auch Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 20. 1222
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ten soll. Weitere dem Gläubigerschutz dienende Aspekte sind die Wahrnehmung von Rechten in Gläubigerversammlung und -ausschuss, die Möglichkeit von Versagungs- oder Widerrufsanträgen, die Überwachung des Schuldners gem. § 292 Abs. 2 Satz 1 InsO, sowie das Gebot des rechtlichen Gehörs, welches in § 287 Abs. 4, § 296 Abs. 2 Satz 1 und § 300 Abs. 1 InsO seinen Niederschlag gefunden hat, und außerdem die Amtsermittlungspflicht des Gerichts.1230 Die Versagungs- und Widerrufsanträge geben den Gläubigern ein Mittel an die Hand, um unredliches Verhalten des Schuldners zu sanktionieren. Jedoch erweist sich das Antragserfordernis insofern als konzeptionelles Monitum, als Versagung oder Widerruf von Amts wegen nicht geprüft werden.1231 Dies wiegt nicht wenig, wenn man die für die Gläubiger nachteiligen Vorschriften gegenüberstellt. Man betrachte bspw. die Erstreckung des § 301 Abs. 1 Satz 2 InsO auf übersehene oder bewusst weggelassene Gläubiger.1232 Zwar kann der Schuldner sich nach § 826 BGB schadensersatzpflichtig machen. Der Gläubiger muss aber erst einmal eine vorsätzlich sittenwidrige Schädigung beweisen. Dies wird für ihn mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Auch ist der Nachweis der recht einfach zu bewerkstelligenden Verschleierung des Arbeitseinkommens (§ 850h ZPO), ggf. trotz bestehender Überwachung durch den Treuhänder, nicht leicht zu führen.1233 (2) Schuldnerinteressen
Den Schuldner schützen die teilweise kurzen Verjährungsfristen, die Instrumente der Präklusion im Prozess sowie die Vollstreckungsschutzvorschriften, die in ihrer Ausgestaltung auch grundgesetzlich zugelassene Elemente des sozialen Schutzes enthalten.1234 Immerhin obliegt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips ein weiter Gestaltungsspielraum im Rahmen dessen er u. a. Privatautonomie und Vertragsfreiheit bestimmen und begrenzen kann.1235 Der Schuldner kann sein Eigentumsinteresse dem Forderungsrecht der Gläubiger nicht entgegensetzen, weil das schuldnerische Eigentum nur in seiner Haftungsfunktion zu Gunsten des Gläubigers in Anspruch genommen wird.1236 Zu 1230 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 21. 1231 Ähnlich Mattern, Die Reformierung des Restschuldbefreiungsverfahrens, S. 77 ff. 1232 Vgl. AG München, Beschl. v. 20. 11. 2002 – 1502 IN 1944/00 = ZVI 2003, 40; auch Wagner, ZVI 2007, 9 ff. 1233 Demgegenüber meinen Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 604, mit einem entsprechenden Überwachungsauftrag sei das Problem gut in den Griff zu bekommen. 1234 BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 1 BvL 8/03 = NJW 2004, 1233, 1234. 1235 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 319. 1236 Wenzel, DGVZ 1993, 81, 84.
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Gunsten des Schuldners fällt aber, neben aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 Abs. 1 GG) folgenden Implikationen,1237 v. a. sein Persönlichkeitsrecht in die Waagschale.1238 Dieses wird – wie bereits oben erläutert – in mehrerer Hinsicht tangiert. Insbesondere sind das stigma der infamia und die anderen Folgen von Überschuldung zu beachten.1239 (a) Unangemessene Dauer der Zwangsvollstreckung bei geringen Befriedigungsaussichten
Mit dem Persönlichkeitsrecht zusammenhängend soll auch die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, die die Menschenwürde positiv schützt und daneben eigenständige Bedeutung hat,1240 bedacht sein.1241 Dieses sei nicht nur durch die Pfändungsfreigrenzen realisiert. Vielmehr könne auch ein unabänderliches Leben unter staatlichem Zwang – dem Damoklesschwert der lebenslänglichen Vollstreckung –1242 die Menschenwürde beeinträchtigen, weswegen überlegt werden müsse, wie lange dieser durch die Vollstreckung ausgeübte Zwang anhalten darf, wenn kaum Aussicht auf eine Gläubigerbefriedigung besteht.1243 Die Verhältnismäßigkeit sei nicht gewahrt, wenn langjährige Vollstreckung nur die Freiheit des Schuldners einschränkt, aber kaum zur Gläubigerbefriedigung führt.1244 Die aus der Menschenwürde abgeleitete Subjektqualität des Schuldners drohte sonst in Gefahr zu kommen.1245 (b) Wertlosigkeit der Forderungen
Insofern werde die Schwere der eingriffsrelevanten Maßnahme relativiert, da der Gläubiger faktisch nur die Chance der Zwangsvollstreckung einbü1237
Wenzel, DGVZ 1993, 81, 84. Ahrens, ZVI 2004, 69, 75 f. 1239 Vgl. § 4 E. I. 3. g). 1240 BVerfG, Urt. v. 09. 02. 2010 – 1 BvL 1/09 u. a. = NJW 2010, 505, 507 f. Rn. 132 f. 1241 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 22. 1242 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 18. 1243 Ähnlich BT-Drucks. 12/2443, S. 81. Siehe Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 22. Nach Ahrens, ZVI 2004, 69, 75 soll dies wohlgemerkt nur gelten, solange der Grundsatz der Verantwortung einer Person für ihre eigenverantwortlich getroffenen Entscheidungen nicht als solcher in Frage gestellt wird. 1244 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 22. 1245 Ahrens, ZVI 2004, 69, 75. 1238
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ße.1246. Außerdem seien die Forderungen oftmals nicht werthaltig, was bereits der Übergang von der Einzelzwangsvollstreckung in die Gesamtvollstreckung dokumentiere.1247 Demgemäß erfolge keine wesentliche wirtschaftliche Schlechterstellung der Gläubiger im Vergleich zum Fall des Bestehens eines unbeschränkten Nachforderungsrechts.1248 Zudem sei die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Vermögensanhäufung des Schuldners nach Abschluss des gesamtvollstreckungsrechtlichen Verfahrens gering.1249 Der Gläubiger habe bereits eine geschwächte Rechtsposition inne, sodass die Beschränkung seiner Rechte nicht außergewöhnlich wirke.1250 Schließlich gehöre die Entwertung von Rechtspositionen zu den typischen Folgen des Insolvenzverfahrens und es verblieben den Gläubigern nur begrenzte zusätzliche Lasten.1251 Im großen Zusammenhang betrachtet sei die Beseitigung wertloser Forderungen und Kreditvolumina ökonomisch sinnvoll.1252 (c) Keine Pauschalierung des Verfahrens als missbrauchsanfällig
Überdies könne, selbst wenn die Existenz einer hohen Missbrauchswahrscheinlichkeit unterstellt würde, das betrügerische Verhalten einzelner Schuldner nicht zur Verfassungswidrigkeit des ganzen Verfahrens führen.1253 Insofern sei es an den Insolvenzgerichten, dem Missbrauch durch sorgfältige Prüfung vorzubeugen und sicherzustellen, dass nur schutzwürdige Schuldner in den Genuss der Schuldbefreiung gelangen.1254 (d) Verantwortlichkeit der Gläubiger bei Schuldnerauswahl und Absicherung
Ferner liege es in der Verantwortung der Gläubiger, sich Sicherheiten für ihre Forderungen gewähren zu lassen.1255 Wer dies unterlässt, gehe bewusst
1246
Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 529. Ahrens, ZVI 2004, 69, 74. 1248 BT-Drucks. 12/7302, S. 153. 1249 BVerfG, Urt. v. 26. 04. 1995 – 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94 = ZIP 1995, 923, 924. 1250 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 18. 1251 Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 18. 1252 Madaus, JZ 2016, 548, 550 f. 1253 Prütting/Stickelbrock, ZVI 2002, 305, 306. 1254 Prütting/Stickelbrock, ZVI 2002, 305, 306. 1255 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 71 f.; auch BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 319; kritisch Bartels, KTS 2013, 349, 372. 1247
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das Risiko eines Ausfalls der ungesicherten Forderungen ein.1256 Unter diesem Blickwinkel schmälert somit die Möglichkeit der Einforderung von Sicherheiten die Verantwortung des Schuldners. Ebenso entlaste das Gebot der Wachsamkeit die Schuldnerschaft im Allgemeinen. Der Gläubiger müsse Vorsicht bei der Auswahl seiner Schuldner walten lassen.1257 Davon seien zwar Ausnahmen bei Deliktsgläubigern oder Arbeitnehmern gegenüber ihrem Arbeitgeber anzuerkennen, dem zum Trotze treffe auch die Gläubiger ein Vorwurf, wenn sie Bonität, Kreditwürdigkeit und Insolvenzrisiko der Schuldner nicht richtig einschätzen.1258 (e) Minderung der Verantwortung der Darlehensnehmer
Daher sehen einige die Selbstverantwortung des Darlehensnehmers wegen der früher oft großzügigen Kreditvergabepraxis gemindert,1259 was zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs beitragen soll. Im Einzelfall sei dem Gläubiger ein Forderungsausfall umso mehr zuzumuten, je eher er durch unmäßige Werbung oder unkontrollierte Kreditvergabe an der Insolvenz des Schuldners mitgewirkt habe.1260 Die Restschuldbefreiung sei nur „notwendiges Korrektiv“1261 gegenüber der aggressiven und rücksichtlosen Kredit(werbe)industrie. Hinzu komme, dass Kreditanbieter oftmals die Restschuldbefreiung in den Kredit einpreisen und sich so in der Masse gegen einen eventuellen Forderungsausfall wappnen.1262 (f) Durchsetzungserwägungen sind Gläubigerangelegenheit
Zudem sei es Sache des Gläubigers abzuwägen, welchen Wert er seinen Ansprüchen zumisst.1263 Es müsse sich grundsätzlich immer die Frage stellen, ob das prozessuale Kostenrisiko und die Vollstreckung nicht gegen die Durchsetzung der Forderungen sprechen.1264 Nach Ansicht des BVerfG seien verfassungsrechtliche Grundsätze nicht berührt, „wenn allein wirtschaftliche Überle1256 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 71 f.; Madaus, JZ 2016, 548, 552. 1257 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 72. 1258 Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 72. 1259 So wohl Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 602 ff.; a. A. Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 529. 1260 Medicus, DZWiR 2007, 221, 226. 1261 Pape/Grote, ZInsO 2009, 601, 605. 1262 Pape, ZInsO 2017, 2717, 2719. 1263 BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 1 BvL 8/03 = NJW 2004, 1233, 1234. 1264 BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2004 – 1 BvL 8/03 = NJW 2004, 1233, 1234.
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gungen der Gläubiger dazu führen, dass sie sich nicht weiter um die Erfüllung ihrer Forderungen bemühen, obwohl sie aber nach der Gesetzeslage dazu durchaus die Möglichkeit hätten.“1265. (g) Rechtssicherheit
Des Weiteren profitiere auch die Rechtssicherheit von der Schuldbefreiung. Es werde früher Klarheit über die Werthaltigkeit der Forderungen geschaffen.1266 Zwar werden die Gläubiger finanziell belastet, dies sei aber kein Novum und erfolge auch nicht über das angemessene Maß hinaus.1267 Die Entwertung von Forderungen ist außerdem dem BGB nicht fremd. So können Ausschlussfristen und das Rechtsinstitut der Verwirkung die Ausübung subjektiver Rechte beschränken.1268 Interessant ist das Verjährungsrecht. Nach Ablauf der Verjährungsfrist sind Ansprüche nicht mehr durchsetzbar. Dem Gläubiger ist es zwar anheimgestellt, die Verfolgung seiner Ansprüche anzustrengen, sodass er die maßgebliche Verjährungswirkung verhindern kann. Nichtsdestoweniger zeigt sich in diesen Regelungen die Grundwertung eines Vorrangs von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit vor einer infiniten Forderungsdurchsetzung.1269 So hinkend der Vergleich auch sein mag: Die Restschuldbefreiung sorgt gewissermaßen ähnlich der Verjährungsvorschriften für Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, ist nach deren Erteilung doch die Uneinbringlichkeit der Forderung sicher und Gewissheit über etwaige notleidende Kredite erlangt. Weil das Verjährungsrecht zweifelsohne verfassungskonform ist, liegt der Gedanke nicht allzu fern, hierin auf den ersten Blick ein – wenn auch nur schwaches – Indiz für die Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung zu sehen. (3) Neugläubigerinteressen vs. Altgläubigerinteressen
Die Restschuldbefreiung greift nicht nur in das Verhältnis zwischen Altgläubiger und Schuldner ein, sie beeinflusst auch die Rechtsbeziehung zwischen dem Schuldner und den Neugläubigern. Aufgrund der Zuordnung des Neuerwerbs zur Insolvenzmasse (vgl. § 35 Abs. 1 InsO) und der Abtretung der pfändbaren Bezüge während der Abtretungsfrist (vgl. § 287 Abs. 2 InsO) werden wesentliche Vermögenswerte zu Gunsten der Altgläubiger gesichert. 1265
BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 318. Sesemann, NZI 2002, 655, 656. 1267 Sesemann, NZI 2002, 655, 656. 1268 Dörner, in: Schulze (Schriftleitung.), Bürgerliches Gesetzbuch, Vorbemerkung zu §§ 194 – 218 Rn. 2 – 4. 1269 BT-Drucks. 14/6040, S. 100. BGH, Urt. v. 08. 12. 1992 – X ZR 123/90 = NJW-RR 2993, 1059, 1060. 1266
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Spiegelbildlich werden sie dem Zugriff der Neugläubiger entzogen.1270 Daraus resultiert die Beachtlichkeit der Individualinteressen der Neugläubiger, die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind.1271 Es ist ein Ausgleich zwischen den Interessen der Insolvenzgläubiger und denen der Neugläubiger zu suchen. Auf der einen Seite können die Neugläubiger während der Abtretungsfrist nur in seltenen Fällen in das Vermögen des Schuldners vollstrecken.1272 Außerdem müssen sie die Verjährung durch Mahnverfahren oder einen Prozess hemmen, dessen Kosten sie vorschießen müssen und voraussichtlich auf lange Zeit nicht erstattet bekommen.1273 Im Endeffekt können sie keine (zeitnahe) Befriedigung ihrer Forderungen erwarten. Auf der anderen Seite steht ihnen nach Erteilung der Restschuldbefreiung das gesamte Vermögen des Schuldners (mit Ausnahme von § 302 InsO) zur Verfügung. Ohne die Restschuldbefreiung stellte sich die Situation weniger klar dar, da Neugläubiger wegen des Prioritätsprinzips des § 804 Abs. 3 ZPO temporär (oder schlimmstenfalls dauerhaft) daran gehindert wären, ihre Forderungen durchzusetzen. Aus alledem wird letztlich die Schlussfolgerung gezogen, der Gesetzgeber habe mit den vorhandenen Regeln ein ausgeglichenes System zur Wahrung der Alt- und Neugläubigerinteressen geschaffen.1274 2. Stellungnahme: Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung
In Erwägung dieser Abwägungsfaktoren geht die herrschende Meinung davon aus, die Ausgestaltung der Restschuldbefreiung schaffe einen sachgerechten Ausgleich zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen und führe so zur Verfassungsmäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung.1275 Im Großen und Ganzen ist dem zuzustimmen, wenngleich noch weitere Überlegungen anzustellen sind.
1270
Ahrens, ZVI 2004, 69, 75. Ahrens, ZVI 2004, 69, 75. 1272 Dazu Ahrens, ZVI 2004, 69, 75. 1273 Henckel, in: Henckel/Walter (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 35 Rn. 123. 1274 Ahrens, ZVI 2004, 69, 75; a. A. Henckel, in: Henckel/Walter (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 35 Rn. 123, der, ohne die Restschuldbefreiung zu erwähnen, allein aufgrund der Benachteiligung der Neugläubiger wegen der Einbeziehung des Neuerwerbs in die Insolvenzmasse von einem Verstoß gegen Art. 14 GG ausgeht. 1275 Vgl. statt aller BGH, Beschl. v. 03. 03. 2005 – IX ZB 171/03 = NZI 2005, 404; Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 21 f. 1271
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a) Insolvenzstrafrecht zur Aufrechterhaltung der Zahlungsmoral
Der Einwand einer Verschlechterung der Zahlungsmoral der Schuldner und eines hemmungslosen Schuldenmachens ist berechtigt.1276 Indes gewinnt er umso mehr an Gewicht, als die Abtretungsfrist voraussetzungslos verkürzt wird. Es gilt, den Blick auf das Insolvenzstrafrecht und im Speziellen den Blick auf § 283 StGB nicht zu verlieren. Nicht nur, dass bei Vorliegen einer Insolvenzstraftat die Restschuldbefreiung bei Hinzutreten weiterer Voraussetzungen versagt werden kann (vgl. u. a. § 290 Abs. 1 Nr. 1 und insbesondere Nr. 4 InsO, § 297 InsO), auch offenbaren die strafrechtlichen Konsequenzen großes Abschreckungspotenzial. Besonders die Fälle des § 283 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 8, Abs. 2, Abs. 4 Nr. 2 StGB scheinen tatbestandlich auf Sachverhalte verschlechterter Zahlungsmoral und leichtfertiger Inkaufnahme der Insolvenz aufgrund hochspekulativen Gebarens, unbeherrschter Konsumsucht und Ähnlichem zu passen. Insbesondere sind auch Verbraucherinsolvenzen erfasst.1277 Wäre dies nicht der Fall, müsste erst ein entsprechender Straftatbestand de lege ferenda geschaffen werden.1278 Geht man richtigerweise von der Erfassung von Verbraucherinsolvenzen aus, ist jedoch fragwürdig, ob es überhaupt zur Strafverfolgung kommt und ob der Nachweis dieser Straftat gelingt. In der Vergangenheit gab es kaum insolvenzstrafrechtliche Verfahren gegen Verbraucher.1279 Mitunter scheinen die Gerichte hier – parallel zu den nicht geringen Anforderungen an die Vermögensverschwendung nach § 290 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 InsO – sehr zurückhaltend zu sein.1280 Muss ein Schuldner tatsächliche Aufklärung und Durchsetzung des Rechts nicht fürchten, bleibt der Schritt zu strafbarem Handeln bequem. Die dargestellte Prävention steht und fällt also mit dem ernsthaften Bemühen strafrechtlicher Verfolgung, Aufklärung und Verurteilung. Dies unterstellt, sollte das Insolvenzstrafrecht durchaus hinreichende Motivation für Schuldner bieten, die Insolvenz jedenfalls nicht auf die leichte Schulter 1276 A. A. mit dem Hinweis auf den langen dreizehn- bis sechzehnjährigen Verfahrensund Nachwirkungszeitraum (Abtretungsfrist plus Wartefrist gem. § 287a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO) Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 121. 1277 BGH, Urt. v. 22. 02. 2001 – 4 StR 421/00 = NJW 2001, 1874 f.; umfassend Radtke, in: Hellmann/Schröder (Hrsg.), FS Achenbach, S. 341 ff. m. w. N. zu den gegensätzlichen Ansichte. Außerdem Krause, NStZ 2002, 42 ff.; zur Einschränkung bei Verbraucherinsolvenzen Beuckelmann; in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK StGB, § 283 StGB Rn. 92 f. A. A. Röhm, Zur Abhängigkeit des Insolvenzstrafrechts von der Insolvenzordnung, S. 253; Schramm, wistra 2002, 55, 56. 1278 Dazu Röhm, Zur Abhängigkeit des Insolvenzstrafrechts von der Insolvenzordnung, S. 287. 1279 Vgl. Radtke, in: Hellmann/Schröder (Hrsg.), FS Achenbach, S. 341, 344. 1280 Zu den Anforderungen und Folgen solcher Verschwendung siehe Rein, NJW-Spezial 2016, 661 ff.
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zu nehmen und die kurze Abtretungsfrist als Anreiz zum Schuldenmachen zu verstehen. b) Verantwortung des Schuldners
Eine Minderung der Selbstverantwortung der Darlehensnehmer ist abzulehnen. Das Zivilrecht ist geprägt vom Grundsatz der Privatautonomie und des Einstehenmüssen für selbstverantwortliches Handeln. Die gesamte Rechtsordnung betrachtet den Menschen als aufgeklärtes, vernunftbegabtes Individuum. Hier eine Einschränkung zu Gunsten des vermeintlich intellektuell Schwächeren oder Überforderten anzunehmen, wäre überzogener Paternalismus, der viel gefährlicher ist als er Nutzen bringt. Eine Grenzziehung zwischen in diesem Sinne verantwortlichem und unverantwortlichem Handeln ist kaum möglich. Damit soll nicht die Notwendigkeit staatlicher Intervention bei gestörter Parität der Vertragspartner gänzlich geleugnet werden. Von einer Minderung der Verantwortung zu sprechen, führte aber zu einem Freiheitsverlust des Subjekts und diente als Legitimation des Staates zu freiheitsbeschränkenden fürsorgerischen Maßnahmen. Ferner öffnete dieser Ansatz wieder das Tor zu einer Einzelfallbetrachtung. Dem ist zu Gute zu halten, dass die Restschuldbefreiung, will sie denn „gerecht“ sein, immer den Einzelfall im Blick behalten muss. Indes ist zu beachten, dass es nur zu hinterfragen gilt, inwieweit diese beachtlichen Einzelfälle in Quantität und Qualität die „Pauschalierung von Gerechtigkeit“ im Insolvenzsystem de lege lata und im Insolvenzsystem de lege ferenda noch rechtfertigen. Darüber hinaus ist eine totale Einzelfallbetrachtung auch wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung aller Gläubiger nicht durchführbar.1281 c) Absicherung der Gläubiger
Demgegenüber zutreffend ist die Aufbürdung erhöhter Obliegenheiten an die Gläubiger bei der Kreditvergabe oder allgemein beim Vertragsschluss. Sie allein haben Sorge um die Erfüllung ihrer Forderungen zu tragen und müssen sich dementsprechend durch die Bestellung von Sicherheiten u. Ä. vor Forderungsausfällen schützen. Ob dies politisch sinnvoll oder ethisch gerechtfertigt ist, mag auch hier dahinstehen. Jedenfalls stellt diese Risikozuweisung im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers dar, der sich damit nicht in evidenter Weise über seinen Beurteilungsspielraum hinwegsetzt.
1281 Zur Aufgabe dieses Grundsatzes zu Gunsten weitergehender Differenzierung Medicus, DZWiR 2007, 221, 227.
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d) Neu- und Altgläubigerinteressen
Der Ausgeglichenheit der Alt- und Neugläubigerinteressen steht nicht entgegen, dass zwar nach Erteilung der Restschuldbefreiung das gesamte Vermögen des Schuldners den Neugläubigern zur Verfügung steht, eine beachtliche, nachinsolvenzliche Vermögensanhäufung aber wohl nur in den seltensten Fällen stattfindet.1282 Vielmehr greifen weitere Aspekte Platz. Knüpft man nicht an den Eintritt der Insolvenz an, sondern betrachtet die Phase des Vertragsschlusses zwischen Neugläubiger und Schuldner, so steht einer Übervorteilung der Neugläubiger schon entgegen, dass umfangreiche Bekanntmachungspflichten existieren. So können die Neugläubiger die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ersehen (vgl. § 30 Abs. 1 InsO, § 9 Abs. 1 InsO) und sich hinreichend über ihren potentiellen Vertragspartner informieren, wodurch es ihnen anheimgestellt bleibt, ob sie trotz den insolvenzrechtlichen Konsequenzen mit dem Schuldner kontrahieren möchten. e) Respektierung der gesetzgeberischen Entscheidung
Eigentum und Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille.1283 Ohne die rechtliche Konstituierung von Eigentum ist keine funktionierende freiheitliche Grundordnung denkbar. Dennoch ist das Eigentum in höchstem Maße sozialgebunden. Je stärker die Freiheit eines Einzelnen eingeschränkt wird, desto mehr rückt der soziale Aspekt des Eigentums in den Mittelpunkt. Allein der Gesetzgeber ist zur Bestimmung des Umfangs der Sozialpflichtigkeit berufen. Mit Eintritt des Insolvenzfalles sind die Forderungen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle wertlos. Der Gläubiger verliert kaum etwas, wohingegen sich dem Schuldner eine für ihn nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Perspektive eröffnet, die Auswirkungen auf sein ganzes Leben hat. Die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers für die Restschuldbefreiung gilt es zu akzeptieren. Ein umfassendes Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterliefe die legislatorische Kompetenz. Anderes gölte nur bei einer evidenten Verfassungswidrigkeit. Diese ist aber kaum festzustellen. Dass die Gläubiger bei längerer Zugriffsdauer eine erhöhte Befriedigungschance haben, scheint angesichts der Insolvenzstatistiken zweifelhaft. Im Einzelfall mag das zutreffen. In der Summe wird das Gros der Gläubiger keine erkleckliche Befriedigung erhalten. Die oben dargestellten grundrechtlichen Implikationen sprechen auf Schuldnerseite vor dem Hintergrund der anderen angeführten Argumente für eine Angemessenheit des Restschuldbefreiungsverfahrens. 1282
BVerfG, Urt. v. 26. 04. 1995 – 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94 = ZIP 1995, 923, 924. Urt. v. 18. 12. 1968 – 1 BvR 638, 673/64, 200, 238, 249/56 = NJW 1969,
1283 BVerfG,
309.
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aa) Potenziell verfassungswidrige Konstellationen
Diese Feststellung darf aber nicht den Blick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit im Einzelfall versperren. Es ist zu fragen, ob ein solch evidenter Härtefall vorstellbar ist, der kein anderes als das Verdikt der Verfassungswidrigkeit zulässt. Im Rahmen dieser Beurteilung wäre zu erörtern, ob sich aufgrund der notwendigen Pauschalierung von Gerechtigkeit nicht Änderungen ergeben. Zu denken wäre bspw. an Konstellationen, in denen es vor allem um junge Schuldner geht. Diese haben durchschnittlich eine vergleichsweise geringe Schulden summe zu tragen und finden leichter einen Arbeitsplatz als ältere Schuldner.1284 Folgende und ähnliche verfassungsrechtlich brisante Szenarien sind zu betrachten: Ein noch recht junger Schuldner wird insolvent und hat aufgrund einer neben seinem Studium oder seiner Ausbildung selbstständig ausgeübten Tätigkeit Schulden bei nur einem Gläubiger aufgebaut. Aus Sicht des Gläubigers war das Vorhaben des Schuldners in jeder Hinsicht vielversprechend und verlässlich, sodass eine bevorstehende Insolvenz für ihn überhaupt nicht ersichtlich war. Aus diesem Grund oder schlichtweg, weil eine hinreichende Absicherung mangels Vermögenswerten nicht möglich war, verzichtete der Gläubiger auf dieselbe. Die Forderungen des Gläubigers gegenüber dem Schuldner sind recht gering, aber dennoch so hoch, dass er sie auf absehbare Zeit nicht zurückzahlen kann, weil er sich gerade noch in Ausbildung oder Studium befindet und seine selbstständige Tätigkeit mangels Rentabilität aufgeben musste. Somit bezieht er auch kein regelmäßiges Einkommen und die Erwerbsobliegenheit des § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist eingeschränkt.1285 Der Gläubiger aber ist auf die Begleichung dieser Schulden angewiesen, um sein eigenes Unternehmen aufrecht zu erhalten. Ergibt nun eine Prognose, dass der Schuldner nach Ablauf des Studiums, der Ausbildung bzw. dem Ablauf der Abtretungsfrist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ordentliches Einkommen erwerben wird (sei es gar als Beamter oder in der freien Wirtschaft) und nicht nur einen Teil, sondern die gesamten Schulden innerhalb eines eng umrissenen Zeitraums nach Ablauf der 1284 Https://www.crif buergel.de/de/aktuelles/pressemitteilungen/privatpleiten-nurwenigen-verbrauchern-gelingt-schuldenschnitt (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 1285 So scheidet ein Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit jedenfalls solange aus, wenn ein Schuldner nach Erlangung der allgemeinen Hochschulreife ein Studium aufnimmt und das Studium den zeitlich üblichen Rahmen nicht überschreitet, vgl. AG Göttingen, Beschl. v. 19. 02. 2002 – 74 IK 175/00 = ZVI 2002, 81. Zur Einschränkung der Erwerbsobliegenheit des Schuldners wegen einer Berufsausbildung oder eines Studiums Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 295 Rn. 73 ff.; ferner aber zu Einschränkungen des Schuldners hinsichtlich seines Wunsches zu studieren Ehricke, in: Kirchhof/ Eidenmüller/Stürner (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, § 295 Rn. 20 m. w. N.
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Abtretungsfrist zurückzahlen könnte, liegt der Verdacht einer unzumutbaren Härte für den Gläubiger im Falle der Erteilung der Restschuldbefreiung nahe. Dieser erhärtet sich, wenn der Schuldner zusätzlich während der Abtretungsfrist ein wertvolles Geschenk erhält, im Lotto gewinnt, eine Erbschaft annimmt oder auf ähnlichem Wege weiteres Vermögen erhält.1286 In diesen Fällen, in denen die wirtschaftliche Existenz auch des Gläubigers betroffen ist und die Forderungen des Gläubigers nicht gänzlich wertlos, sondern zur Gänze noch realisierbar sind, kann mit guten Argumenten die Verfassungswidrigkeit der Anwendung der Restschuldbefreiung in concreto angenommen werden. Voraussetzung ist natürlich immer ein hinreichend genaues, gesetzlich normiertes Prognoseverfahren.1287 Rechtspraktisch liegt das Problem ohnehin hauptsächlich im Nachweis dieser geschilderten Situation und der entscheidenden Kausalnexus. Der Gläubiger ist hier schutzwürdiger als der Schuldner. Auch seine finanzielle Existenz steht auf dem Spiel. Er ist noch weiter von der Verursachungssphäre der schuldnerischen Insolvenz entfernt, als der (eventuell sogar unverschuldet in die Insolvenz geratene) Schuldner selbst. bb) „Pauschalierung von Gerechtigkeit“
Der Einwand, ein solch „konstruiertes“ Ergebnis sei hinzunehmen, weil wegen der „Pauschalierung von Gerechtigkeit“1288 nun einmal nicht jeder Einzelfall erfasst werden kann und insofern die Rechtssicherheit überwiege, greift nicht in Gänze durch.1289 Natürlich ginge mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit ein Stück weit Rechtssicherheit verloren. Ungleiches darf aber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen wegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht voraussetzungslos gleich behandelt werden. Eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit
1286 Vgl.
Ohle, ZfgK 1993, 397, 400. Vgl auch Christmann, DGVZ 1992, 177, 178. In der InsO vermeidet der Gesetzgeber durch die starre Abtretungserklärung das Prognoserisiko, vgl. Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insovency Act 1986, S. 159. Nichtsdestoweniger müssen aber auch im Insolvenzverfahren Prognosen (wenngleich ohne hinreichend konkrete gesetzliche Vorgaben an die Modalitäten derselben) abgegeben werden; so in etwa im Wege der Vergleichsrechnung bei einer Schuldbefreiung durch Insolvenzplan im Verbraucherinsolvenzverfahren, dazu Madaus, NZI 2017, 697, 699. Siehe auch zu Darlegungsanforderungen, insbesondere der Vergleichsrechnung BT-Drucks. 19/4880, S. 228. Die Normierung einer Vermutung (wie in in § 309 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 InsO) reicht nicht aus. 1288 Zum Phänomen der Pauschalierung bzw. Typisierung Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 3 GG Rn. 7. 1289 Vgl. ergänzend Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 121 zu Fällen, die nicht nur einzelne Sonderfälle, sondern bestimmte, zahlenmäßig nicht begrenzte Gruppen betreffen. 1287
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ist immer notwendig.1290 Die Vorteile1291 einer Pauschalierung vermögen dabei nicht immer die Unangemessenheit im Einzelfall aufzuwiegen. Mithin bliebe es bei einer eingriffsrelevanten Maßnahme, die nicht wegen einer Pauschalierung gerechtfertigt werden könnte. cc) Härte- bzw. Öffnungsklauseln
Nähme man sodann also die Verfassungswidrigkeit an, stellte sich die Frage, wie dem zu begegnen wäre. Der Verfassungswidrigkeit in eng umgrenzten Fällen könnte durch Härte- bzw. Öffnungsklauseln abgeholfen werden.1292 Es kann zwar sicherlich nicht gewollt sein, die abstrakt-generelle Wirkung der Restschuldbefreiungsvorschriften zu konterkarieren und durch eine Einzelfallbetrachtung zu substituieren. Es böte sich aber bspw. an, über eine zeitlich kurze, eng umfasste Nachhaftung nach Ablauf der Abtretungsfrist bei positiver Vermögensprognose und eingeschränkter Erwerbsobliegenheit wie in obigem Fall oder einer klar umgrenzten zeitlichen Suspendierung der Abtretungsfrist nachzudenken. Dieses Beispiel zeigt, dass es gelingen müsste, entsprechende Fälle ausreichend genau zu beschreiben, was angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse schwierig erscheint, zudem ein abschließender Katalog sehr unwahrscheinlich zu erreichen ist.1293 Gibt es aber keinen abschließenden Katalog würde so über Umwege wieder eingeführt, was gerade nicht gewollt war: eine Restschuldbefreiung mit erheblichem Ermessens- und Beurteilungsspielraum des Richters nach Billigkeitsgesichtspunkten. Eine Lösung über Härte- bzw. Öffnungsklauseln ist mitunter schwierig zu realisieren. dd) Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung
Ferner ist eine Ausgleichspflicht1294 zu überlegen. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken gegen solche Klauseln müsste sie ebenso wie die Härteund Öffnungsklauseln normiert werden, was die gerade erörterten Probleme
1290 BVerfG,
Beschl. v. 14. 10. 2008 – 1 BvR 2310/06 = NJW 2009, 209, 11 Rn. 54; BVerfG, Urt. v. 20. 12. 1966 – 1 BvR 320/57 = NJW 1967, 147, 148. Vgl. auch P. Kirchhof, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 92, 124. 1291 Zum Begriff der Pauschalierung und ihren Vorteilen allgemein im Sozialleistungsrecht Kemper, NZS 2014, 170, 171. 1292 Hierzu Kemper, NZS 2014, 170, 171. 1293 Vgl. BT-Drucks. 19/4880, S. 228 zum Wunsch nach einer Konkretisierung der Anforderung an die Vergleichsrechnung im Rahmen eines Insolvenzplans. 1294 Zur ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung Axer, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 14 GG Rn. 15, 103, 104; Papier/Shirvani, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 GG Rn. 476 ff.
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mit sich brächte. Daher ist nach einer anderen als der Lösung über eine ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung zu suchen. ee) Verfassungskonforme Auslegung
In Betracht käme die verfassungskonforme Auslegung. Problematisch ist der Anknüpfungspunkt derselben. Gesucht ist eine Vorschrift, die hermeneutische Bewegungsfreiheit und mehrere Deutungsmöglichkeiten als Einfallstor für grundrechtliche Wertungen gewährt. Als potenzielle Normen könnten – was aufgrund der Enge des Wortlauts angezweifelt werden muss – § 286 InsO („wird“), § 300 Abs. 3 InsO (Annahme eines zusätzlichen Versagungsgrundes) oder § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO (Ausnahme von der Universalwirkung) ins Feld geführt werden. In obigem Beispiel, dass durch eine eingeschränkte Erwerbsobliegenheit gekennzeichnet ist, böte sich insbesondere § 295 Abs. 1 Nr. 1 („angemessene Erwerbstätigkeit“, „zumutbare Tätigkeit“) an. Auch § 1 S. 2 InsO („redlicher Schuldner“) gewährt ein gewisses Maß an Flexibilität. Jedoch gelten auch hier die im Rahmen der Härte- bzw. Öffnungsklauseln dargestellten Bedenken. Das Ergebnis steht und fällt mit einer hinreichend genauen, gesetzlich umschriebenen Einschätzung zukünftiger Geschehensabläufe. Sollte dies dann aber gelingen, sind dennoch die Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung begrenzt. Die ermittelte verfassungskonforme Auslegung darf dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers sowie dem Wortlaut des Gesetzes nicht zuwiderlaufen.1295 Zwar hat der Gesetzgeber Durchbrechungen der Restschuldbefreiung zugelassen. Mit den gesetzlich normierten Ausnahmen beließ er es aber bei einer abschließenden Aufzählung. Insofern müsste der Rechtsanwender dem absoluten Ausnahmecharakter der Situation gewahr sein und hinreichende Vorsicht bei einem Urteilsspruch walten lassen. 3. Entschuldungsfrist und Mindestquotenerfordernis
Nachdem nun die Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung dargestellt und die wesentlichen Grundsätze erörtert wurden, könnte sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben eine modifizierte Beurteilung ergeben. Die Abwägung im Rahmen der Angemessenheit verschiebt sich einseitig zu Lasten der Gläubiger, je kürzer die Entschuldungsfrist ist. Dieser Effekt verstärkt sich noch zusätzlich durch das Fehlen eines Mindestquotenerfordernisses. Ein solches ist dem deutschen Restschuldbefreiungsrecht nur in Gestalt eines belohnenden Anreizes zur 1295 Vgl dazu BVerfG, Beschl. v. 10. 06. 1953 – 1 BvF 1/53 – juris Rn. 81, 85; Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 32. Grundlegend zur verfassungskonformen Gesetzesauslegung und deren Grenzen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 266 ff.
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Verkürzung der Abtretungsfrist bekannt (vgl. § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO). Ein den Zugang zur Entschuldung restringierendes Mindestquotenerfordernis existiert nicht. Daher zeitigt der Unionsvorschlag hinsichtlich des Mindestquotenerfordernisses isoliert betrachtet keine verfassungsrechtlichen Auswirkungen. Im Kern liegt die Brisanz bei der Verringerung der Abtretungsfrist.1296 Es ist fraglich, ob dieser eine die verfassungsrechtliche Beurteilung ändernde Relevanz zukommt. a) 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO
Bevor hierauf eingegangen wird, sollen zuvor in aller gebotenen Kürze einige Gedanken zur 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO ausgeführt werden.1297 Denn diese bedeutet i. d. R. von vornherein einen Verlust der Gläubiger von 65 % ihrer Forderung. Im Lichte des Art. 14 GG bedarf ein solcher Schuldenschnitt – zumal jede Quote letzten Endes willkürlich ist – 1298 einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Erhebliche Probleme entstünden, wäre die Befriedigung von Anfang an auf 35 % beschränkt. Der Wortlaut („von mindestens 35 %“) lässt aber die Möglichkeit einer auch darüber hinausgehenden Befriedigung zu. § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO ist daher so auszulegen, dass der Schuldner, solange der Dreijahreszeitraum noch nicht abgelaufen ist, weiterhin seinen Pflichten und Obliegenheiten nachzukommen hat, auch wenn bereits 35 % der ursprünglichen Forderungen erreicht wurden. Das Erreichen der Quote gibt einen ausreichenden Grund zur vorzeitigen Restschuldbefreiung, indes darf keine pauschale Befriedigungsbeschränkung bestehen, die den Gläubigern einen fixen, letztlich willkürlichen Verlust zuweist. Eingedenk der in den vorigen Abschnitten dargestellten verfassungsrechtlichen Grundlagen und der vorzugswürdigen Auslegung des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO vermögen die gesetzgeberische Einschätzungsprärogative und der Gesetzeszweck im Endeffekt eine Rechtfertigung für die verkürzte Restschuldbefreiung zu liefern. Interessanter aber ist die Frage, ob die Restschuldbefreiung mit Erreichen der 35 %-Quote auch dann eintritt, wenn diese erst nach dem Ablauf von drei Jahren, jedoch vor dem Verstreichen des fünften Jahres der Abtretungsfrist erreicht wird. 1296 Anders würde dies wohl Jäger, ZVI 2012, 142, 145 sehen, der im Zusammenhang mit § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO äußert: „Die Reduzierung des Restschuldbefreiungsverfahrens zum Nulltarif, also ohne eine Mindestbefriedigungsquote, ist gänzlich inakzeptabel.“. 1297 Reduziert sich im Wege der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben die Abtretungsfrist auf drei Jahre, tritt wohl die Obsoleszenz der § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 2 InsO ein, so auch Blankenburg, ZInsO 2017, 241, 251. 1298 Hingerl, ZVI 2012, 258, 259.
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Unabhängig von sonstigen Argumenten und obwohl die Auffassung einer vorzeitigen Entschuldung mit Erreichen der Quote auch nach Ablauf dreier Jahre verfassungsgemäß wäre, entspricht es eher den grundgesetzlichen Schutzanliegen, die drei Jahre als Höchstfrist zu interpretieren. Es gibt kein verfassungsrechtliches Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang. Die Restschuldbefreiung ist ein Benefizium des sozialstaatlichen Gesetzgebers. Das Nachforderungsrecht der Gläubiger ist die Regel und insofern primärer Ausgangspunkt. Solange der Gesetzgeber keine eindeutige Aussage hinsichtlich der erörterten Frage trifft, verbleibt es bei einer weitestgehenden verfahrensrechtlichen Sicherung der Befriedigungsoptionen. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund ist die Vorschrift auszulegen. aa) Vorzeitige Entschuldung mit Erreichen von 35 %
In der Literatur sprechen sich einige Stimmen für eine solche Abkürzungsmöglichkeit auch bei späterer Zahlung aus.1299 Dahinter solle der Anreizgedanke stehen, der nur so bestmöglich verwirklicht werde.1300 Außerdem sei der Gesetzeszweck, den Gläubigern eine Kompensation für den Verlust von weiteren drei Jahren der Abtretungsfrist mit ihren bestehenden Befriedigungschancen darzubieten,1301 auch bei einer späteren Zahlung erreicht.1302 Die Billigkeit erfordere eine vorzeitige Restschuldbefreiung, ebenso wie die Intention des Gesetzgebers.1303 Der Schuldner sähe keinen Anreiz mehr zur Gläubigerbefriedigung, wenn er die Quote erst, womöglich trotz überobligatorischer Anstrengungen, absehbar in einem kurzen Zeitraum nach Ablauf der drei Jahre erfüllen könnte.1304 bb) Leistung innerhalb dreier Jahre
Andere lassen eine spätere Erreichung der Quote nicht zu einer vorzeitigen Restschuldbefreiung führen.1305 Letztlich sei jede gesetzliche Frist willkürlich, 1299 Ahrens, in: Wimmer (Hrsg.), FK-InsO, § 300 Rn. 26; Ahrens, NJW 2014, 1841, 1844; Harder, NZI 2012, 113, 116; Kluth, NZI 2014, 801; Schädlich, Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen, Rn. 946; Schmerbach/Semmelbeck, NZI 2014, 547, 551. Ähnlich Schmidt, Privatinsolvenz, § 5 Rn. 70, der eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewähren möchte. 1300 Ahrens, NJW 2014, 1841, 1844. 1301 BT-Drucks. 17/11268, S. 13 f. 1302 Schmerbach/Semmelbeck, NZI 2014, 547, 551. 1303 Harder, NJW-Spezial 2014, 277; Harder, NZI 2012, 113, 116. 1304 Harder, NZI 2012, 113, 116. 1305 Frind, ZInsO 2017, 814, 815; ders., Praxishandbuch Privatinsolvenz, Rn. 845; Grote, InsbürO 2014, 47, 49; Grote/Pape, ZInsO 2013, 1433, 1434; Henning, ZVI 2014, 219, 221; ders., ZVI 2014, 7, 13; Jäger, ZVI 2012, 177, 184; Jäger, ZVI 2012, 142, 145; Laroche/
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was aber im Interesse der Restschuldbefreiung akzeptabel sei und der Befriedung des Rechtsverkehrs diene.1306 Auch hätte es keinen Sinn, allein das Erreichen der Quote als ausreichend zu erachten, weil ansonsten selbst nach zwei Jahren schon vorzeitig Restschuldbefreiung erteilt werden könnte.1307 Überdies widerspräche ein solches Verständnis dem Anreizsystem.1308 § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO sei das Ergebnis einer Abwägung zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen, die nicht durch anderweitige Überlegungen verkehrt werden dürfe.1309 cc) Stellungnahme: 35 %-Quote des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO
Der Wortlaut des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO ist klar.1310 Die Quote muss „innerhalb dieses Zeitraums“ erreicht worden sein. Allein ausgehend vom Wortlaut statt von einer Höchstfrist auf eine Mindestfrist schließen zu wollen, ist nicht zulässig.1311 Da der Wortlaut folglich für eine Höchstfrist spricht, trägt jede hiervon abweichende Auffassung die Argumentationslast. Ferner differenziert das Gesetz deutlich zwischen einer Restschuldbefreiung nach drei, fünf und sechs Jahren. Das Verständnis als Mindestfrist widerspräche diesen starr gesetzten zeitlichen Vorgaben. Zentrales Legitimationskriterium einer verkürzten Abtretungsfrist sind die Befriedigungsaussichten der Gläubiger. Wären diese voraussichtlich besser, wenn die Restschuldbefreiung auch bei späterer Erreichung der 35 % gewährt würde, wäre das Tor zu dieser Auffassung offen. Dies ist aber nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar. Auch bedeutete es einen dogmatischen Bruch, innerhalb der drei Jahre eine über die 35 % hinausgehende Restschuldbefreiung anzuvisieren, während nach Ablauf dieser drei Jahre die Befriedigungsmöglichkeiten von vornherein auf 35 % beschränkt wären. Eine sofortige Erteilung der Restschuldbefreiung im Zeitraum zwischen dem dritten und fünften Jahr der Abtretungsfrist bei Erreichung eines fixen Betrages i. H. v. 35 % der Forderungen evoziert verfassungsrechtliche Bedenken. Folglich ist der Zeitraum des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO als Höchstfrist zu interpretieren. Pruskowski/Schöttler/Siebert/Vallender, ZIP 2012, 558, 561; Weinland, in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier (Hrsg.), Insolvenzrecht, § 300 n. F. Rn. 7; Wenzel, in: Kübler/Prütting/ Bork (Hrsg.), InsO, § 300 Rn. 22. 1306 Wenzel, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 300 Rn. 22. 1307 Wenzel, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 300 Rn. 22. 1308 Jäger, ZVI 2012, 142, 145. 1309 Wenzel, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 300 Rn. 22; in diesem Sinne auch Jäger, ZVI 2012, 142, 145. 1310 Ebenso Frind, Praxishandbuch Privatinsolvenz, Rn. 845; anders Schmerbach/Semmelbeck, NZI 2014, 547, 551: „Der Gesetzestext liefert keine eindeutige Antwort.“. 1311 So aber Sinz/Hiebert/Wegener, Verbraucherinsolvenz, Rn. 1267, die eine andere Auslegung dergestalt, dass „mindestens“ drei Jahre verstrichen sein müssen, vom Wortlaut als gedeckt ansehen; Ahrens, in: Wimmer (Hrsg.), FK-InsO, § 300 Rn. 26.
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b) Verfassungsrechtliche Würdigung der dreijährigen Abtretungsfrist
Rechtspolitisch ist es nötig, auf Bedenken gegen eine allzu rasche Entschuldung hinzuweisen. Eine Restschuldbefreiung ohne ausreichendes Korrektiv bedeutet einen Anreiz zum Schuldenmachen und die große Gefahr einer nachhaltigen Erschütterung der Zahlungsmoral vieler Schuldner.1312 Sie verliert wegen ihrer Kürze jeglichen erzieherischen Aspekt.1313 Dies gilt vor allem dann, wenn der Schuldner mit einer ausreichenden Sanktionierung – sei sie strafrechtlicher oder insolvenzrechtlicher Art –1314 nicht rechnen muss. Würden die Schuldner ohne größere Anstrengungen, nur indem sie die wenigen Jahre bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung durchstünden, eine umfassende Schuldbefreiung erlangen können,1315 wäre der Gläubigerbefriedigung damit sicherlich kein guter Dienst erwiesen. Verfassungsrechtlich ist die Frage zu stellen, ob aus einer Verkürzung der Abtretungsfrist die Gläubigerinteressen so gravierend benachteiligt werden, dass die Restschuldbefreiung unzumutbar ist. Wäre eine Sofortentschuldung nach Abschluss des Insolvenzverfahrens verfassungskonform, stellte sich diese Problematik nicht. Ist dem aber so, schließt sich die Frage an, ab welchem Grad der Verkürzung sich die angemessene Regelung zu einer unangemessenen wandelt. aa) Sofortentschuldung am Ende des Insolvenzverfahrens
Dogmatisches Fundament einer Sofortentschuldung könnte das Verständnis der Gläubigergemeinschaft als Verlustzuweisungs- und Solidargemeinschaft sein.1316 Dabei geht es um die Legitimation des gläubigerseitigen Forderungsverlusts. (1) Verlustzuweisungsgemeinschaft und Solidaritätsmodell
Die Gläubigergemeinschaft ist eine Art Schicksals-1317 und Interessengemeinschaft1318, die durch Eintritt der schuldnerischen Insolvenz initiiert und schließ1312
Uhlenbruck, NZI 1998, 1, 8 f. Vgl. § 4. E. II. 1. c) bb) (1) (b). 1/17, S 20 Punkt 35; Döbereiner, Die Restschuldbefreiung nach der Insolvenzordnung, S. 221. Vgl. zur Verfolgung edukatorischer Ziele § 2. D. V. 4. f). 1314 Siehe § 4. E. II. 2. a). 1315 Uhlenbruck, NZI 1998, 1, 8 f.: Restschuldbefreiung quasi zum „Nulltarif“; a. A: Pape, ZInsO 2002, 951, 952: „Restschuldbefreiung gerade nicht zum Nulltarif“. 1316 Hierzu und anderen Legitimationsgrundlagen und Begründungsmodellen übersichtlich Würdinger, in: Falk/Gehrlein/Kreft/Obert (Hrsg.), FS Fischer, S. 643, 646 ff. 1317 Ruby, Schuldbefreiung durch absolute Anspruchsverjährung, S. 117. 1318 BVerwG, Urt. v. 13. 10. 1961 – BVerwG IV C 405/58 = NJW 1962, 979. Dagegen Madaus, Der Insolvenzplan, S. 205: „mehr als eine schlichte Interessengemeinschaft“; 1313 BR-Drucks.
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lich konstitutiert wird. Es geht im Kern um eine angemessene und solidarische Risikoverteilung, die den vollstreckungsrechtlichen bellum omnium contra omnes verhindern soll.1319 Im Gesamtvollstreckungsverfahren kommt es zum concursus creditorum, zum Zusammenlaufen der Gläubiger, die u. a. wegen ihrer vorangegangenen Einflussnahme auf die Geschäftspolitik des Schuldners miteinander verbunden sind.1320 Sie werden (vorbehaltlich besonderer Sicherungsrechte etc.) gemeinschaftlich (teil-)befriedigt. Da sie im besten Fall lediglich das erhalten, was ihnen zusteht, ist die Gläubigergemeinschaft somit in praxi fast ausschließlich eine Verlustzuweisungsgemeinschaft.1321 Das Prinzip der weitestgehenden1322 Haftungsverwirklichung ist in weiterer Lesart nichts anderes als die solidarische Zuweisung von Verlusten an die nolens volens miteinander verbundenen Gläubiger. Die schicksalhafte, unverschuldete Verkettung der Gläubigerinteressen legitimiert einen quotalen Forderungsverlust Einzelner zu Gunsten der gemeinschaftlichen Teilbefriedigung der Gesamtheit. Weil diese Gemeinschaft per definitionem solidarisch Verluste hinzunehmen hat, ist letztlich nur die Frage, wie hoch diese sein dürfen, also ab wann und unter welchen Umständen die Restschuldbefreiung den Forderungsverlust bewirken darf. Die Gläubigergemeinschaft als Solidargemeinschaft meint aber nicht nur das solidarische Einstehen der Gläubiger untereinander. Vielmehr meint dies auch die Solidarität mit dem Schuldner. Spricht man der Prämisse, den Schuldner treffe in der weit überwiegenden Mehrzahl an Fällen nicht der Vorwurf der Unfähigkeit und er sei nur Opfer modernen Wirtschaftens geworden, Geltung zu, wird daraus gefolgert, die Gesellschaft und allen voran die Gläubiger müssten sich mit dem Schuldner solidarisch zeigen und für die Verluste einstehen.1323 ders., S. 206: „die ,organisationsrechtliche Einheit‘ der Gläubiger ist eine Rechtsgemeinschaft“. 1319 BT-Drucks. 12/2443, S. 72 f.; Hess, Insolvenzrecht, 2. Auflage 2013, Vor § 1 InsO Rn. 8; a. A. Bartels, Insolvenzanfechtung und Leistungen Dritter, S. 66; kritisch auch Hoffmann, Prioritätsgrundsatz und Gläubigergleichbehandlung, S. 194 f. 1320 Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 2.24 ff.; Smid, DZWiR 1997, 309, 310. Zu weiteren Begründungsmodellen der Gläubigergleichbehandlung Würdinger, in: Falk/Gehrlein/ Kreft/Obert (Hrsg.), FS Fischer, S. 643, 646 ff.; ders., Insolvenzanfechtung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, S. 362 ff. 1321 Hess, Insolvenzrecht, 2. Auflage 2013, Vor § 1 InsO Rn. 8, auch Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 108 ff.; Pagenstecher/Grimm, Der Konkurs, S. 2 „Grundsatz der Verlustgemeinschaft“; Paulus, NZI 2015, 1001. 1322 Es geht um die „bestmögliche“ Verwendung des Schuldnervermögens zur Befriedigung der Gläubiger, BT-Drucks. 12/2443, S. 72. 1323 Heilmann, KTS 1975, 18 ff. meint, eine unbeschränkte Nachhaftung sei ein soziales Unrecht; Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 108 f., die darlegt, dass es sich zwar um eine Solidargemeinschaft, nicht aber um Verlustsozialisierung handelt.
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Das „Rechtspathos der Zusammenarbeit“ dränge das „Pathos des Wettbewerbs“ zurück.1324 Die gegenseitige Angewiesenheit der wirtschaftenden Menschen impliziere sowohl das gemeinsame Streben nach Erfolg als auch das Einstehen für Misserfolge des glücklosen, redlichen Schuldners.1325 Der Gesichtspunkt der „Humanisierung des Insolvenzrechts“ überwiege den Einwand „unzulässiger Verlustsozialisierung“.1326 (2) Zentrales Kriterium Befriedigungsaussichten und Schutz des Eigentums
Die Höhe des zulässigen Forderungsverlusts kann pauschal nicht ermittelt werden. Zentrales Kriterium einer Diskussion um die Länge der Abtretungsfrist sind die Befriedigungsaussichten der Gläubiger.1327 Eine Sofortentschuldung machte diese ab initio zunichte. Die Gläubiger verlören mit Eintritt der Insolvenz endgültig ihre Forderungen, denn aus der Verwertung des schuldnerischen Vermögens ist – was ja gerade das Charakteristikum einer Insolvenz ist – keine Befriedigung zu erwarten. Außer der Verwertung des schuldnerischen Vermögens wird kein Versuch unternommen, den Gläubigern abzuhelfen. Eine Restschuldbefreiung wird bereits mit Abschluss der Verwertung des Insolvenzverfahrens erteilt. Das Verfahren ist somit bereits auf den Verlust der Forderungen angelegt. Das Verständnis der Gläubigergemeinschaft als Verlustzuweisungs- und Solidargemeinschaft verliert einen weiteren Schwerpunkt des Insolvenzverfahrens aus dem Blick. Fände man sich mit der Insolvenz und der Wertlosigkeit der Forderungen ab, käme dem Gesamtvollstreckungsverfahren nur eine organisatorische und abwickelnde Funktion zu. Es beschränkte sich darauf, einen Wettlauf der Gläubiger zu verhindern und eine gemeinsame quotale Befriedigung bzw. vielmehr einen gemeinschaftlichen Forderungsverlust herbeizuführen. Die Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG reicht aber weiter.1328 Die bestmögliche Verwertung des Schuldnervermögens bedeutet auch die optimale Abwicklung und Umgestaltung der Finanzstruktur des Schuldners im Inter1324
Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH, S. 119. Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH, S. 119. 1326 Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 118 f. 1327 Ähnlich bereits Ahrens, NZI 2011, 425, 430. 1328 Anlass für eine Weiterentwicklung der Schwerpunkte des Insolvenzverfahrens bietet mutatis mutandis die Formulierung in BT-Drucks. 12/2443, S. 75: „Insolvenzrecht soll, wie alles Recht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, einen gerechten Ausgleich schaffen, den Schwächeren schützen und Frieden stiften. Die Rechtspolitik darf sich aber nicht darauf beschränken, die Insolvenz als bereits eingetretenen Sozialkonflikt in den Blick zu nehmen und nur die gerechte, justizförmige Verteilung der Schäden und Lasten anzustreben. Die Reform würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie Insolvenz lediglich als einen Verteilungskonflikt auffaßte.“. 1325
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esse seiner Geldgeber.1329 In Anlehnung daran soll und muss das Gesamtvollstreckungsverfahren das Eigentum der Gläubiger auch so schützen, dass eine wahrscheinliche, zeitlich nicht ganz fernliegende Befriedigung erfolgen kann und darf ihnen nicht aktiv jegliche Befriedigungsaussicht unmöglich machen. Art. 14 Abs. 1 GG schützt die effektive Ausgestaltung des Insolvenzverfahrens zur materiellen Sicherung des Eigentums.1330 Die materielle Sicherung ist aber keineswegs mit einer gemeinschaftlichen quotalen Befriedigung erreicht.1331 Auch das privatrechtliche Institut „Eigentum“ wäre nicht mehr ausreichend geschützt, könnte ein Schuldner durch Flucht in die Insolvenz fremde Rechtsposition mit Einfachheit fast zur Gänze vernichten. Die Sozialpflichtigkeit und Schuldnerrechte stehen einem solchen Ergebnis auch nicht entgegen. Die Verwertung des Vermögens ist eine logische Folge aus den eingegangenen Verpflichtungen des Schuldners und resultiert aus seiner Eigenschaft als natürliche Person und dem Grundsatz der unbeschränkten Vermögenshaftung. Insofern ist dies keine unbillige Härte. Dass darüber hinaus Vorkehrungen getroffen werden, die dem Schuldner jedenfalls irgendwelche Anstrengungen – und seien sie auch noch so gering – zumuten, um die Gläubiger zu befriedigen, ist ein Gebot des Art. 14 Abs. 1 GG und belastet ihn, sofern ihm nicht Übermäßiges abverlangt wird, nicht über Gebühr. Pauschal der Wohlverhaltensperiode jede Sinnhaftigkeit mit dem Verweis auf die Unwesentlichkeit der erwirtschafteten Beträge abzusprechen,1332 stellt nicht 1329
Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 77. Beschl. v. 12. 01. 2016 – 1 BvR 3102/13 = NJW 2016, 930, 932 Rn. 44 spricht von substantiellem gegenüber nur formellem Rechtsschutz. A. A. Madaus, JZ 2016, 548, 555: „Die bloß abstrakte Hoffnung auf einen künftigen Vermögenserwerb durch den Schuldner sollte bei natürlichen Personen ebenso wenig zu einer Erwerbsobliegenheit zugunsten der Insolvenzgläubiger führen wie bei Schuldnergesellschaften.“. 1331 Nicht so weitgehend Bruns, Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung, S. 161 f.: „Schuldnerschutznormen verstoßen aber dann gegen das Grundgesetz, wenn sie die zwangsweise Durchsetzung von Ansprüchen praktisch durchweg verunmöglichen.“. Wegen der allenfallsig gemeinschaftlich-quotalen Befriedigung läge m. E. aber (frei nach Bruns, S. 162) ein bloß materiellrechtlicher Anspruch, der seiner zwangsweisen Realisierung im Grundsatz faktisch nahezu gänzlich entkleidet ist und der daher vor der Verfassung keinen Bestand hat, vor. Die Aussage des BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 2016 – 1 BvR 3102/13 = NJW 2016, 930, 932 Rn. 44 „Der Staat käme seiner Verpflichtung zur effektiven Justizgewähr nicht nach, wenn er die Erfüllung gerichtlich festgestellter Ansprüche allein dem Belieben des Schuldners überließe. Entgegen rechtsstaatlichen Erfordernissen würden die Rechtsuchenden dann nur formell, nicht aber substantiell Rechtsschutz vom Gericht erhalten.“ deutet zwar in die richtige Richtung, geht aber noch nicht weit genug. 1332 So aber Madaus, JZ 2016, 548, 555: „Wohlverhaltensperioden gefährden das (gesamtwirtschaftlich gewünschte) Entschuldungsziel, erzeugen Verwaltungskosten und belasten den Schuldner, ohne dass den Gläubigern zugleich ein relevanter Vorteil erwächst, zeigt doch die Praxis, dass in der Wohlverhaltensperiode des Restschuldbefreiungsverfahrens typischerweise keine wesentlichen Erträge mehr erwirtschaftet werden.“. 1330 BVerfG,
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nur einseitig auf eine rein ökonomische Analyse ab, sondern verkennt neben der Bedeutung auch geringer Befriedigung vielmehr auch die verfassungsrechtliche Dimension des Problems. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass jedenfalls (u. U. mit den richtigen Anreizen) nicht nur unwesentliche Quoten erzielt werden können.1333 Die realen Befriedigungsaussichten sind keine Quantité négligeable. Somit wäre eine Sofortentschuldung nach Ablauf des Insolvenzverfahrens unangemessen und höhlte das Eigentum der Gläubiger aus.1334 Folglich ist das gänzliche Entfallen einer Abtretungsfrist bzw. jeder Möglichkeit über die Verwertung hinausgehender Befriedigung verfassungsrechtlich nicht haltbar.1335 bb) Stellungnahme: Verfassungsrechtliche Würdigung der dreijährigen Abtretungsfrist
Damit steht nur noch die Frage nach dem verfassungsrechtlich haltbaren Verkürzungsgrad der Abtretungsfrist im Raum. Im Schrifttum wurde bspw. ein Ordre-public-Verstoß angenommen, falls die Wohlverhaltensperiode gänzlich fehlte oder unangemessen verkürzt würde.1336 Dies bedeutete dann gleichsam eine Verletzung von Verfassungsrecht.1337 Per se beeinträchtigt eine geringfügige Verkürzung die Gläubigerinteressen nicht unzumutbar. Durch die Kombination der Restschuldbefreiung mit der Verfahrenskostenstundung kann das ganze Verfahren de lege lata bis zur endgültigen Schuldenfreiheit bis zu 10 Jahren dauern, was vor dem Hintergrund schutzwürdiger Schuldnerbelange, eine 1333 In BT-Drucks. 19/4000, S. 6 ist die Rede von 5,93 % im Rahmen des Restschuldbefreiungsverfahrens nach altem Recht und 46,40 % bei Erteilung vorzeitiger Restschuldbefreiung unter Geltung des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. InsO. Letzteres betrifft zwar nur wenige Schuldner; rein ökonomische oder quantitative Aspekte dürfen aber bei der verfassungsrechtlichen Würdigung nicht allein ausschlaggebend sein. 1334 A. A. Graf, Die Anerkennung ausländischer Insolvenzentscheidungen, S. 308, die zwar meint, der Versuch einer Gläubigerbefriedigung sei notwendig; demgegenüber sei aber der Verzicht auf jegliche „Wohlverhaltensperiode“ nicht zu beanstanden, da die Auswirkungen der „Wohlverhaltensperiode“ auf die Befriedigungsaussichten der Gläubiger gar nicht geklärt seien. Die hier vertretene Ansicht geht folglich weiter: Allein in der geordneten Insolvenz ohne Abtretungsfrist liegt – was Graf wahrscheinlich anders sieht – noch kein Versuch der Gläubigerbefriedigung. Anders als hier auch Madaus, JZ 2016, 548, 555. 1335 Unabhängig davon ist gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 1 InsO nichts einzuwenden. Die Gläubiger haben es vielmehr in der Hand, ihre Forderungen anzumelden; insofern sei auch auf die Verfassungsmäßigkeit des § 301 Abs. 1 S. 2 InsO verwiesen. 1336 Mankowski, KTS 2011, 185, 202 f. 1337 Siehe in diesem Zusammenhang Prütting/Stickelbrock, ZVI 2002, 305, 307, welche die Verkürzung der Wohlverhaltensperiode von sieben auf sechs Jahren als verfassungsrechtlich unbedenklich einstufen.
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Rechtfertigung zur Verkürzung bietet.1338 Eine genaue Angabe des für die Abtretungsfrist angemessenen Zeitraums ist von den Befriedigungsaussichten der Gläubiger abhängig. Diese festzustellen ist schwierig. Es bedürfte eines Prognoseverfahrens, welches die zukünftigen Erwerbsaussichten des Schuldners erfasst und Ausschluss darüber gibt, ob und in welcher Höhe eine Gläubigerbefriedigung wahrscheinlich ist.1339 Dabei wären vielerlei Faktoren, wie bspw. Bildungs- und Familienstand, Alter, Krankheitsgeschichte, Gehaltsentwicklung etc. zu berücksichtigen und betriebs- und volkswirtschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen.1340 Diese Prognose müsste einerseits flexibel sein, aber andererseits dennoch in einem normierten, ein Mindestmaß an Rechtssicherheit garantierenden Verfahren erfolgen. Dem Richter dürfte eine solche Prognose als Billigkeitserwägung im Rahmen einer Generalklausel nicht zugestanden werden. Vielmehr müsste der Gesetzgeber eine typisierte, aber hinreichend konkrete Normierung schaffen, die dem Richter als Verfahrensanleitung an die Hand gegeben wird und eine ausreichend präzise Deduktion von validen Erfahrungssätzen erlaubt.1341 In Ermangelung eines solchen Verfahrens ist eine genaue Bestimmung des Zeitraums, in dem ein adäquates Maß an Beträgen zur Gläubigerbefriedigung generiert werden kann, kaum möglich. Eine rechtliche Bewertung, ab wann die Abtretungsfrist unzulässig verkürzt ist, lässt sich mithin nicht abgeben. Folgt man der dargelegten Auffassung von der Schutzfunktion des Insolvenz verfahrens für die materielle Sicherung des Eigentums, kann man jedenfalls konstatieren, dass den Gläubigern neben der Verwertung des Schuldnervermögens die Möglichkeit weiterer Befriedigung verbleiben muss. In welcher Höhe diese Aussicht bestehen muss, kann nicht konkret bestimmt werden. Ausschlaggebend für die Verkürzung der Frist ist letztlich der Vergleich der jetzigen Befriedigungsquoten mit den zu erwartenden, unter einer verkürzten, dreijährigen Abtretungsfrist sich einstellenden Befriedigungsquoten. Angesichts der sich 1338 Henning, ZVI 2014, 7, 12 spricht gar von einer durchschnittlich 14 Jahre langen persönlichen Finanzkrise der Schuldner; Hergenröder/Alsmann, ZVI 2007, 337, 347; Kohte, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 4b InsO Rn. 4 und Vor §§ 286 ff. Rn. 33. 1339 Erste Anklänge zur Relevanz der schuldnerischen Vermögensentwicklung bei Christmann, DGVZ 1992, 177, 178. Vgl. auch AG Hamburg, Beschl. v. 24. 05. 2017 – 67 c IN 164/15 = NZI 2017, 567, 569. Außerdem zur Bestimmung des Liquidationswertes bei der Insolvenz natürlicher Personen BT-Drucks. 19/4880, S. 231 ff. 1340 Vgl. zur Vergleichsrechnung im Rahmen der § 220 InsO LG Hamburg, Beschl. v. 18. 11. 2015 – 326 T 109/15 = NZI 2016, 34 f.; AG Hamburg, Beschl. v. 24. 05. 2017 – 67 c IN 164/15 = NZI 2017, 567, 568 f.; Madaus, NZI 2017, 697 ff. Außerdem zur Bestimmung des Liquidationswertes in der Insolvenz natürlicher Personen BT-Drucks. 19/4880, S. 231 ff. Eine bloße Vermutung wie in § 309 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 InsO ist nicht ausreichend. 1341 Vgl. zu Prognosebegriffen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 206 ff.
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aus dem vorhandenen empirischen Material zeigenden äußerst geringen Gläubigerbefriedigung ist eine Verkürzung von sechs auf drei Jahre zulässig, sofern nicht eine Evaluation – was eher weniger zu erwarten ist – eine signifikante Schlechterstellung der Gläubigerbefriedigung feststellt. Gleiches gilt, wenn mit einer verlängerten Abtretungsfrist eine signifikante und nicht nur unerhebliche Besserstellung der Gläubiger einherginge. 4. Fazit: Dreijährige Entschuldungsfrist ohne Mindestquotenerfordernis
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der Diskussion ist Art. 14 GG. Dieser schützt sowohl „wertlose“ als auch „werthaltige“ Forderungen. Daneben gewährt er einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz des Eigentums. Die Restschuldbefreiung ist eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, die sich insbesondere am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen muss. Dabei ist dem Gesetzgeber ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu konzedieren. Dieser gibt letztlich nach Würdigung aller Schuldner- und Gläubigerinteressen den Ausschlag zu Gunsten der allgemeinen Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung. Dennoch sind im Einzelnen theoretisch Konstellationen denkbar, in denen es zu einer unverhältnismäßigen Belastung der Gläubiger kommen könnte. Falls ein solches Szenario jemals einträte, böten sich verschiedene Lösungen dazu an, welche sich aber allesamt als schwer gangbarer Weg erweisen. Der Wegfall des Mindestquotenerfordernisses durch die avisierte Richtlinie hat für das deutsche Verfassungsrecht isoliert keine Bedeutung. Vielmehr ist die Betrachtung der prospektiv reduzierten Abtretungsfrist von Interesse. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die verkürzte Abtretungsfrist des § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO lohnenswert, welcher verfassungskonform ist und nach methodengerechter Auslegung nur dann zum Tragen kommt, wenn vor Ablauf der drei Jahre – und nicht später – die 35 %-Quote erfüllt ist.1342 Ähnlich relevant für die Frage der verfassungsrechtlichen Beurteilung der unionsrechtlich vorgegebenen Dreijahresfrist ist die Möglichkeit einer potenziell einzuführenden Sofortentschuldung nach Abschluss des Insolvenzverfahrens. Der Gedanke, diese dogmatisch auf die Gläubigergemeinschaft als Verlustzuweisungs- und Solidaritätsgemeinschaft zu stützten, geht fehl. Ausschlaggebend sind die Befriedigungsaussichten der Gläubiger und der adäquate Eigentumsschutz. Ein Verfahren, welches den Gläubigern von Anfang an die Möglichkeit einer Befriedigung nimmt, ist verfassungswidrig. Somit ist eine dreijährige Entschuldungsfrist nicht schon wegen der legislatorisch optionalen Einführung einer sofortigen Entschuldung verfassungsgemäß. Letztlich ist eine konkrete Zeitvorgabe, anhand welcher die Verfassungskonformität einer Restschuldbefreiungsregelung 1342
Vgl. § 4. E. III. 3. a).
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festgestellt werden könnte, nicht möglich. Ergeben sich für die Gläubiger – was wohl der Fall ist – keine signifikant besseren Befriedigungsaussichten im Falle einer längeren Frist, ist die dreijährige Entschuldungsfrist als verfassungsgemäß anzusehen. Wie gezeigt, ist es alles andere als einfach, das Rechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner auszutarieren. Indes sei vor den Gefahren einseitiger Bevorzugung einer Seite gewarnt. Dies gilt sowohl für Gläubiger als auch für Schuldner. Spricht man aber von Deutschland als dem „Paradies für Schuldner“1343, wird diese Gefahr gerade im Hinblick auf die Gläubiger virulent. Ihnen darf kein Grund an die Hand gegeben werden, an der Stärke des Rechtsstaats zu zweifeln, die in dem Maße abnimmt, als er es ihnen nicht erlaubt, ihre Forderungen durchzusetzen. Der Vertrauensverlust könnte schlimmstenfalls das Gewaltmonopol des Staates unterminieren und Gläubiger vermehrt zur Selbsthilfe greifen lassen.1344 Zweifelsohne ist die Sentenz „Paradies für Schuldner“ angesichts der doch eher restriktiven gesetzlichen Restschuldbefreiungsvorschriften im Vergleich zum europäischen Ausland mehr als polemisch. Es sind auf europäischer Ebene auch und – neben einigen wenigen weiteren Akteuren – vor allem Bedenken aus Deutschland, die den Schritt zu einem noch schuldnerfreundlicheren Insolvenzrecht kritisch beäugen.1345 Bemüht man aber den Analogieschluss und überträgt den Gedanken nicht auf Deutschland, sondern auf die Europäische Union als Ganzes, so kann nicht mehr unbedingt von Polemik gesprochen werden. Unabhängig von den für eine rasche Entschuldung sprechenden Gründen und deren rechtlichem Rahmenwerk scheint die Rechtsentwicklung in einem fortwährenden Strudel progressiv-schuldnerfreundlicher Änderungen begriffen, die sich nicht als hinreichend ausgewogen darstellen, sofern nicht die Interessen der Gläubiger durch die neuesten legislatorischen Bemühungen in demselben Maße gewahrt werden, wie die Entschuldung der Schuldner an Fahrt gewinnt. Und selbst dann, wenn die Gläubiger mit Abschluss und Umsetzung der jüngsten Reformbemühungen wider Erwarten doch einen größeren Teil ihrer Forderung zurückerhalten sollten, muss ihnen erst einmal vermittelt werden, warum derjenige, der mit ihnen kontrahierte und seine vertraglich zugesicherten Pflichten missachtete, bereits nach einer vergleichsweise kurzen Zeit u. U. wieder wirtschaftlich vollkommen unbelastet tätig werden kann. Weitere gesellschaftliche Aufklärungsarbeit tut not. 1343
Paulus, ZRP 2000, 296. Siehe auch Paulus, ZRP 2000, 296. 1345 Zum Verfahren insgesamt sowie den Erörterungen im Rat inklusive diverser Stellungnahmen siehe https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/HIS/?uri=CELEX:52016PC0723 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 1344
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
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5. Ordre public-Relevanz von Entschuldungsfrist und Mindestquotenerfordernis
Nachdem die dreijährige Entschuldungsfrist ohne Mindestquotenerfordernis untersucht wurde, können nun endlich die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Beurteilung der Ordre-public-Relevanz einer kurzen Treuhandperiode fruchtbar gemacht werden.1346 Da festgestellt wurde, dass das Mindestquotenerfordernis isoliert betrachtet keine wesentlichen verfassungsrechtlichen Auswirkungen zeitigt und etwaige diesbzgl. Gesichtspunkte allgemein im Rahmen der Untersuchung zur Absenkung der Entschuldungsfrist berücksichtigt wurden,1347 reicht es aus, allein an die verfassungsrechtlichen Implikationen einer verkürzten Entschuldungsfrist anzuknüpfen. So haben die vorangehenden Untersuchungen gezeigt, dass im Falle einer Sofortentschuldung ein Verstoß gegen Art. 14 GG vorliegt, wohingegen es ohne statistische Erhebungen über die Befriedigungsaussichten der Gläubiger keinen tauglichen Maßstab gibt, um die Länge einer Entschuldungsfrist als unangemessen kurz und damit verfassungswidrig zu qualifizieren.1348 Ist demzufolge Art. 14 GG aufgrund des Fehlens jedweder Treuhandperiode verletzt, folgt daraus, dass das Ergebnis der Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahrens mit den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen im Sinne des Art. 33 EuInsVO unvereinbar ist. Sofern man weiterhin eine offensichtliche Verletzung fordert, ist eine solche im vorliegenden Fall zu konstatieren. Denn eine Sofortentschuldung ist wohl eine der krassesten, den Schuldner einseitig begünstigenden Konstellationen. Die Möglichkeit verfassungsrechtlicher Friktionen drängt sich nachgerade auf. Alles in allem liegt im Falle der fehlenden Treuhandperiode ein Verstoß gegen den Ordre public vor.1349 Die Äußerung im Schrifttum, wonach eine unangemessen kurze Wohlverhaltensperiode gegen den Ordre public verstößt,1350 ist eine leere Worthülse. Die Bestimmung des Begriffs „unangemessen“ ist zum jetzigen Zeitpunkt schlichtweg nicht möglich. Insofern lässt sich in dieser Konstellation keine konkrete Aussage zu einem etwaigen Ordre-public-Verstoß treffen. Im Gegenteil ist von der grundsätzlichen Ordre-public-Konformität auch bei verkürzter Treuhandperiode auszugehen, sofern jedenfalls für die Gläubiger die Möglichkeit besteht,
1346
Zu den Ausführungen zum ordre public siehe § 2. B. III. 6. e) und f). Siehe § 4. E. II. 3. 1348 Siehe § 4. E. II. 3 c). 1349 A. A. Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 653; wohl auch Graf, Die Anerkennung ausländischer Insolvenzentscheidungen, S. 308; Hergenröder, DZWiR 2009, 309, 320. 1350 Mankowski, KTS 2011, 185, 202 f. 1347
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theoretisch eine nicht gänzlich unerhebliche und nicht ganz fernliegende, über die bloße Verlustzuweisung hinausgehende Befriedigung erwarten zu dürfen.
III. Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern Gem. Art. 1 Abs. 2 lit. g RL-V sind natürliche Personen, die keine Unternehmer sind, nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst. Den Mitgliedstaaten wird vielmehr in Art. 1 Abs. 3 RL-V Ermessen hinsichtlich der Einbeziehung verschuldeter natürlicher Personen, die keine Unternehmer sind, in den Anwendungsbereich der in Art. 1 Abs. 1 lit. b RL-V genannten Verfahren eingeräumt. Im Gegensatz zur von der Kommission und vom Europäischen Parlament präferierten Lösung, nämlich einer möglichst weitreichenden Einbeziehung von Verbrauchern,1351 hält der Bundesrat die Begrenzung des Anwendungsbereichs auf Unternehmer für sinnvoll und fordert gar die Streichung des Art. 1 Abs. 3 RL-V.1352 Dies ist ein recht brisanter Vorschlag, denn der Spielraum des bundesdeutschen Gesetzgebers könnte aus verfassungsrechtlicher Sicht wegen Art. 3 Abs. 1 GG auf Null reduziert sein.1353 Dies hätte zur Folge, dass nach Umsetzung der Vorgaben in den Artt. 19 – 23 RL-V die entsprechenden Vorschriften auch für Verbraucher gelten müssten. Sollte sich der Gesetzgeber nicht zu einer Anwendung der Richtlinie auf Verbraucher durchringen können, würden nicht nur Unternehmer und Verbraucher ungleich behandelt. Notwendigerweise würden auch die Gläubiger von insolventen Unternehmern, die nur noch maximal für den Zeitraum von bis zu drei Jahren auf Befriedigung ihrer Forderung hoffen dürften, im Vergleich zu den Gläubigern von insolventen Verbrauchern, bei denen die Abtretungsfrist weiterhin sechs Jahre beträgt, ungleich behandelt. 1. Vergleich mit fehlender Nachhaftung juristischer Personen
Indes hat diese Konstellation wenig mit der ungleichen insolvenzrechtlichen Nachhaftung zwischen natürlichen Personen und juristischen Personen ge1351
COM(2016) 723 final, S. 16, 20. BR-Drucks. 1/17, S. 5 Punkt 8. 1353 Bereits auf S. 22 des Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens, zur Stärkung der Gläubigerrechte und zur Insolvenzfestigkeit von Lizenzen des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahr 2012 (InsO-RefE 2012) klingen im Zusammenhang mit einer Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens nur für Gründer im Rahmen des § 300 InsO verfassungsrechtliche Bedenken an, vgl. https:// rsw.beck.de/docs/libraries provider5/rsw-dokumente/RefE_InsoII (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018). 1352
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
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mein.1354 Zum Ersten wurde diese Figur vornehmlich als Argument zur Einführung einer Restschuldbefreiung herangezogen,1355 was aber an sich noch keinen Schluss auf eine vollständige Gleichbehandlung hinsichtlich der Modalitäten der Entschuldung zulässt. Zum Zweiten ist selbst die Einführung der Restschuldbefreiung bei vorgenannter Konstellation m. E. verfassungsrechtlich schon nicht zwingend geboten;1356 umso weniger dann – argumentum a fortiori – 1354 Ungleich deswegen, weil juristische Personen im Regelfall kraft Gesetzes aufgelöst werden, wenn das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen wurde. Ferner werden sie im Falle der Vermögenslosigkeit aus dem Handels- bzw. Genossenschaftsregister gelöscht. Folglich stellt sich bei juristischen Personen wegen des Wegfalls der Haftungsgrundlage die Frage nach einer Nachhaftung nicht. Dazu BT-Drucks. 12/2443, S. 188; ebenso mit den einschlägigen Gesetzesnormen Fuchs, Nationale und internationale Aspekte des Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 25; außerdem Ahrens, in: Kohte/Ahrens/Grote/Busch (Hrsg.), Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, § 286 Rn. 4. Ebenso weist das BVerfG, Beschl. v. 22. 12. 2005 – 1 BvL 9/05 = ZInsO 2006, 317, 319 auf diese Ungleichbehandlung hin. Zu den Gründen für die Haftungsbeschränkung von Gesellschaften siehe Gröpl, jM 2017, 315, 316; ders., in: van Oostrom/Weth (Hrsg.), FS Herberger, S. 372 f.; Menzinger, Das freie Nachforderungsrecht der Konkursgläubiger, S. 46 f. Ausführlich zur institutionellen Haftungsbeschränkung am Beispiel der GmbH Fischinger, Haftungsbeschränkungen im Bürgerlichen Recht, S. 243 ff. Zur Insolvenzverschleppungshaftung siehe Neuberger, ZIP 2018, 909 ff. 1355 Siehe Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), Vorbemerkung vor §§ 286 bis 303 InsO Rn. 4 m. w. N. 1356 Hierfür spricht insbesondere der Grundsatz der freien Rechtsformwahl; wenngleich Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 120 – 126 und ders., ZIP 1982, 1266, 1273 bei der Rechtsformwahl von einer sachlich nicht gebotenen und daher de lege ferenda zu beseitigenden Alternative spricht, argumentiert er eher zweckmäßig und nicht aus der Perspektive des Verfassungsrechts. Foerste, Insolvenzrecht, § 34 Rn. 528 gibt zu bedenken, die fehlende Nachhaftung sei zwangsläufige Folge des sachgerechten Untergangs der juristischen Person. Häsemeyer, in: Gerhardt/Diederichsen/Rimmelspacher/Costede (Hrsg.), FS Henckel, S. 353, 361 postuliert eine genauere begriffliche Trennung zwischen Haftungsbeschränkung und Schuldbefreiung und kommt so zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Ähnlich für die Untauglichkeit zur Begründung einer verfassungsrechtlich gebotenen Einführung der Restschuldbefreiung wohl auch Medicus, DZWiR 2007, 221, 224. Pape, ZInsO 2002, 951, 952 nennt die Ungleichbehandlung zwar „ein Problem der Rechtsanwendungsgleichheit“, ohne aber die verfassungsrechtliche Diskussion zu führen oder gar eine zwingende Folgerung zu postulieren. Römermann, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, 36. EL (Stand: Juni 2018), Vorbemerkung vor §§ 286 bis 303 InsO Rn. 4 weist darauf hin, dass GmbH-Geschäftsführer und/oder Gesellschafter bei der Kreditaufnahme für das Unternehmen häufig über persönliche Bürgschaften haften. Vgl. auch AG München, Beschl. v. 20. 11. 2002 – 1502 IN 1944/00 = ZVI 2003, 40, wonach keine Enthaftung im Insolvenzverfahren stattfinde und somit keine Ungleichbehandlung vorliege; vielmehr träte die Enthaftung juristischer Personen faktisch durch die Löschung im Register ein, was dem Tode natürlicher Personen entspreche. A. A. Schulte, Die europäische Restschuldbefreiung, S. 24, der die Einführung der Restschuldbefreiung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG für geboten hält.
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auch eine vollständige Gleichbehandlung. Zum Dritten ist die Argumentation mit der Parallele zu juristischen Personen a priori auf den Bereich gewerblicher Insolvenzen beschränkt.1357 Zum Vierten betrifft der Richtlinienvorschlag, wie auch die hier angesprochene Problematik, ausschließlich natürliche und keine juristischen Personen. Summa summarum wäre jeder Versuch einer Parallelziehung zwischen der Ungleichbehandlung natürlicher und juristischer Personen verglichen mit der Ungleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern im Sinne der Richtlinie in Ermangelung einer ausreichenden Vergleichsbasis unpassend und zum Scheitern verurteilt. 2. Art. 3 Abs. 1 GG
Art. 3 Abs. 1 GG statuiert nüchtern: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“.1358 Der allgemeine Gleichheitssatz verbürgt neben der Rechtsanwendungsgleichheit die hier allein interessierende Rechtssetzungsgleichheit.1359 Im Grundsatz fordert er eine Gleichbehandlung von wesentlich Gleichem und eine Ungleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.1360 Dem Gesetzgeber ist nicht jedwede Differenzierung verwehrt. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich unterschiedliche Grenzen, die vom Willkürverbot1361 bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung1362 reichen.1363 Besonders sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers sind aufgrund des großen Gestaltungsspielraums1364 hinzunehmen, solange die angestellten Erwä1357
Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, S. 120. Zum Gleichheitssatz im Zivilprozess Schwab/Gottwald, Verfassung und Zivilprozess, S. 64 f. 1359 P. Kirchhof, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 74, 95, 281 ff. 1360 Vgl. dazu auch Allgemeiner Redaktionsausschuss, Fassung vom 16. 11.1948, JöR N. F. 1 (1951), 68: „Der Gesetzgeber muß Gleiches gleich, Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“. 1361 BVerfG, Urt. v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51 – juris Rn. 139: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß.“. 1362 Dazu BVerfG, Beschl. v. 07. 10. 1980 – 1 BvL 50/79 = NJW 1981, 271 f. Exemplarisch auch BVerfG, Urt. v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12 = DStR 2015, 31, 41 Rn. 138 ff. 1363 BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 = NVwZ 2011, 1316 Rn. 77. Ausführlich Britz, NJW 2014, 346 ff.; zu den verschiedenen Formeln („Willkürformel“, „Neue Formel“, „Neueste Formel“, „Stufenlos-Formel“) Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 28. 1364 Zur Gestaltungsfreiheit BVerfG, Beschl. v. 30. 09. 1987 – 2 BvR 933/82 = NVwZ 1988, 329, 337: „Der Gesetzgeber ist insbesondere frei, darüber zu befinden, was in concreto als im wesentlichen gleich und was als so verschieden anzusehen ist, daß die 1358
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
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gungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind.1365 Die Bindung des Gesetzgebers ist jedoch umso strikter, je mehr die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, die für den Einzelnen weniger verfügbar sind, d. h., je eher er die Möglichkeit hat, durch sein Verhalten die Verwirklichung der Kriterien zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird.1366 Auch sofern die Ausübung der jeweiligen grundrechtlichen Freiheiten nachteilig betroffen ist, kann sich eine strengere Bindung ergeben.1367 Eine Differenzierung kann also aufgrund sachlich gerechtfertigter Unterscheidungskriterien zulässig sein, die sowohl hinsichtlich des Differenzierungsziels als auch des Ausmaßes der Ungleichbehandlung Bestand haben müssen.1368 Darüber hinaus „muss auch für das Maß der Differenzierung ein innerer Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung bestehen, der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht anführen lässt.“1369. Letzten Endes ist Art. 3 Abs. 1 GG folglich verletzt, wenn eine „Norm eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten verschieden behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.“1370. Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt. Er ist befugt, aus der Vielzahl der Lebenssachverhalte die Tatbestandsmerkmale auszuwählen, die für die Gleich- oder Ungleichbehandlung maßgebend sein sollen.“. Vgl. auch P. Kirchhof, in: Herzog/Scholz/ Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 106 f.: Der Gesetzgeber sei der „gestaltende Erstinterpret des Gleichheitssatzes“, außerdem Rn. 182: Prognose-, Einschätzungs- und Beurteilungspielraum. 1365 BVerfG, Beschl. v. 08. 02. 1994 – 1 BvR 1237/85 = NJW 1994, 2410, 2411; kritisch Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 59, der sich gegen eine von vornherein stattfindende Abschwächung des Rechtfertigungsmaßstabs ausspricht. 1366 BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 = NVwZ 2011, 1316, 1317 Rn. 78; BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2010 – 1 BvL 14/09 = NJW 2011, 1793, 1795 Rn. 45. Siehe aber BVerfG, Beschl. v. 15. 03. 2000 – 1 BvL 16/96 = NJW 2000, 2730, welches allgemein bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen in der Regel von einer strengen Bindung des Gesetzgebers ausgeht; ähnlich P. Kirchhof, in: Herzog/Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 395. 1367 BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 = NVwZ 2011, 1316, 1317 Rn. 78; BVerfG, Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38/92 u. a. = NJW 1993, 1517. 1368 BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 = NVwZ 2011, 1316 Rn. 77. 1369 BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 2009 – 1 BvR 1164/07 = NJW 2010, 1439 Rn. 86. 1370 Grundlegend BVerfG, Beschl. v. 07. 10. 1980 – 1 BvL 50/79 = NJW 1981, 271 f.; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 2009 – 1 BvR 1164/07 = NJW 2010, 1439 Rn. 86. Vgl. auch BVerfG, Urt. v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12 = DStR 2015, 31, 41 Rn. 121: Bei der
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Wären somit die Normadressaten bezogen1371 auf den Regelungskomplex der Restschuldbefreiung im Wesentlichen gleich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG, bedürfte es eines sachlichen Grundes, welcher die Ungleichbehandlung rechtfertigt (anderes gölte im Falle der Ungleichheit, in welchem die avisierte Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich indiziert wäre).1372 3. Verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung
Dem genus proximum „natürliche Person“ können sowohl Unternehmer als auch natürliche Personen, die keine Unternehmer sind (im Folgenden: Verbraucher)1373, subsumiert werden – tertium non datur. Wenn unterschiedliche Entschuldungsfristen für natürliche Personen gelten, liegt darin eine relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Es bedürfte nun eines sachlichen Grundes, welcher die Ungleichbehandlung rechtfertigt. Differentia specifica sind die dem Unternehmer- bzw. Verbraucherbegriff zugeschriebenen Prädikate. Ausgehend von dem Differenzierungskriterium Unternehmer – Verbraucher hat wegen der Grundrechtssensitivität1374 der Materie, der Inflexibilität und geringen Verfügbarkeit des Merkmals „Unternehmer“ und der personengruppenbezogenen Ungleichbehandlung eine strenge1375, an Verhältnismäßigkeitserfordernissen orientierte Prüfung zu erfolgen.1376 Die differierenden Eigenschaften müssten in einem angemessenen Verhältnis zum Grad der Ungleichbehandlung stehen. Im Einzelnen ist herauszuarbeiRechtfertigung gilt „ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen.“. 1371 Zur Bereichsbezogenheit des Gleichheitssatzes BVerfG, Beschl. v. 21. 07. 2010 – 1 BvR 611/07 = NJW 2010, 2783, 2784 Rn. 80; BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 909/82 = NJW 1987, 3115, 3118. 1372 Britz, NJW 2014, 346: Suche nach einem rechtfertigenden Unterscheidungsgrund ist das „Herzstück der Gleichheitsprüfung“. 1373 Vgl. zur Erfassung von Verbrauchern Bergner/Berg, zfm 2017, 96, 98. 1374 Siehe aber Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 48, wonach eine unspezifische Berührung des Freiheitsgrundrechts nicht ausreicht. 1375 Zum Begriff der „strengen“ Prüfung Britz, NJW 2014, 346, 350 f. 1376 Zur sog. neuen Formel und strengen Bindung bei personengruppenbezogenen Ungleichbehandlungen sowie weiterer Ausdifferenzierung anhand anderer Kriterien Britz, NJW 2014, 346, 347 f.
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
275
ten, ob – erstens – die Unterschiede als sinnvolle Begründung eines legitimen Differenzierungskriteriums und -ziels taugen, ob – zweitens – die Unterscheidung zwischen Unternehmern und Verbrauchern zur Umsetzung des Differenzierungsziels geeignet ist und ob sie – drittens – zur Umsetzung überhaupt notwendig resp. erforderlich ist.1377 a) Legitimes Differenzierungsziel/-kriterium und Geeignetheit
Das Ziel der Entschuldungsvorschriften im Richtlinienvorschlag (Verhinderung von Stigmatisierung, wirtschaftlichen Neustart gescheiterter Unternehmer, Erhaltung der Arbeitskraft und Vermeidung von Forum Shopping – dies aber immer vor dem Hintergrund der Effektuierung des Binnenmarktes insbesondere durch Abbau von Hindernissen für den freien Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit) und die Anwendung auf Unternehmer wurde oben erläutert.1378 Gegen dieses Ziel gibt es keine verfassungsrechtlichen Einwendungen. Vielmehr handelt der Gesetzgeber im Großen und Ganzen im Rahmen seiner unionsrechtlichen Pflichten. Bezüglich der Wahl des Differenzierungskriteriums ist es ihm im Grunde unbenommen, die unterscheidenden Merkmale frei zu bestimmen.1379 Daher sind sowohl Ziel des Vorschlags als auch Differenzierungskriterium als solches verfassungsrechtlich legitim und nicht vom Grundgesetz missbilligt. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass die prospektive nationale Umsetzung der Vorschriften zur zweiten Chance die Zweckerreichung fördert.1380 Eine kürzere, mindestquotenentbehrende Abtretungsfrist führt zu einem rascheren wirtschaftlichen Neustart und zur effektiveren Erhaltung unternehmerischer Arbeitskraft. Ebenso ist ein (wenn auch eventuell nur geringer) Rückgang von Forum Shopping zu erwarten. Somit wären die Maßnahmen zur Umsetzung des Differenzierungsziels geeignet.
1377
Zum Prüfprogramm Britz, NJW 2014, 346, 350. § 4. B. 1379 BVerfG, Beschl. v. 15. 03. 2000 – 1 BvL 16/96 = NJW 2000, 2730: Der Gesetzgeber kann „grundsätzlich frei entscheiden, welche Merkmale er als maßgebend für eine Gleichoder Ungleichbehandlung ansieht.“. 1380 Nach BVerfG, Urt. v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12 = DStR 2015, 31, 41 Rn. 139 verlangt das verfassungsrechtliche Geeignetheitsgebot keine vollständige Zielerreichung, sondern lediglich eine Eignung zur Förderung des Ziels; die bloße Möglichkeit der Zweck erreichung genügt. Allgemein zur Geeignetheit P. Kirchhof, in: Herzog/Scholz/Herdegen/ Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 258. 1378
276
§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
b) Erforderlichkeit
Die Differenzierung ist zur Umsetzung ferner erforderlich, wenn keine anderen gleich wirksamen Mittel zur Zielerreichung denkbar sind, die die Verbraucher im Vergleich zu den Unternehmern weniger benachteiligen.1381 Es müssten folglich sachliche Gründe vorliegen, die es rechtfertigen, nur Unternehmern das Privileg komparativ vorteilhafter Entschuldungsvorschriften zu konzedieren. Modernes Recht ist in weiten Teilen Verbraucherschutzrecht. Dies ist auf Informations- und Wissensasymmetrien, dem unternehmerischen Erfahrungsvorsprung und der daraus resultierenden wirtschaftlich und sozial schwächeren Verhandlungsposition des Verbrauchers zurückzuführen.1382 Daher nimmt es wunder, wenn gerade Unternehmer gegenüber Verbrauchern eine günstigere rechtliche Regelung erfahren. aa) Gründe für eine Ungleichbehandlung
Für eine Privilegierung könnte die große unternehmerische Verantwortung sprechen. Außerdem tragen Unternehmer im Gegensatz zu Verbrauchern wirtschaftliche Risiken und sind aktive wertschöpfende Partizipanten am Wirtschaftsgeschehen. Sie sind maßgeblich für eine prosperierende Volkswirtschaft verantwortlich und nehmen in höherem Maße als Verbraucher die unionsrechtlichen Grundfreiheiten in Anspruch. Darüber hinaus ist das Forum Shopping eher für Unternehmer denn für Verbraucher ein lohnenswertes Vorgehen. Zudem sichern die Regelungen nicht nur die unternehmerische Arbeitskraft, sondern Arbeitsplätze im Allgemeinen. Ferner sind der Weg in die Selbstständigkeit und das Konkurrieren am Markt nicht selten mit erheblichen rechtlichen Hürden und einer Menge nötigem Sachverstand verbunden. Insgesamt könnte es sinnvoll sein, durch angemessene Zugeständnisse das Unternehmertum attraktiver und profitabler zu machen, indem die Folgen unternehmerischen Scheiterns abgemildert werden. Überdies könnte für die Anwendbarkeit der Regelung nur auf Unternehmer der Einwand sprechen, es ginge nur um die Einräumung eines Vorteils, welche keine direkte Schlechterstellung der Verbraucher bewirkte.
1381 Zur Erforderlichkeit vgl. BVerfG, Urt. v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12 = DStR 2015, 31, 41 Rn. 140. In Rn. 142 heißt es: „[…] dann erforderlich, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht, mit dem der Gesetzgeber unter Bewirkung geringerer Ungleichheiten das angestrebte Regelungsziel gleich wirksam erreichen oder fördern kann.“. 1382 EuGH, Rs. C-618/10, Banco Español de Crédito SA/Joaquín Calderón Camino, ECLI:EU:C:2012:349, Rn. 39.
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
277
bb) Stellungnahme: Erforderlichkeit
Dabei wird aber verkannt, dass nicht nur die ungerechtfertigte Schlechterstellung, sondern ebenso die ungerechtfertigte Besserstellung anderer einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz begründen kann.1383 Auch die anderen Argumente greifen im Ergebnis nicht durch. Allein das theoretisch häufiger auftretende Forum Shopping, welches dem zum Trotze auch für Verbraucher möglich ist, vermag keine solch gravierende Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Ferner könnten zwar makroökonomisch betrachtet Rechtssicherheit für grenz überschreitende Anleger geschaffen, die finanzielle Integration vertieft, Kreditkosten gesenkt und die Wirtschaft stabilisiert werden.1384 Dies könnte aber ebenso gut erreicht werden, wenn auch Verbraucher von den Vorschriften zur zweiten Chance profitieren. Es wird seitens der Kommission sogar attestiert, dass die Beteiligung der Verbraucher am wirtschaftlichen Ausgabenzyklus ein wichtiger Bestandteil gut funktionierender Finanzmärkte und -dienstleistungen ist.1385 Sowohl für die Verbraucher selbst als auch für den Markt an sich sind positive Auswirkungen bei einer kürzeren Entschuldungsfrist zu erwarten, da sich diese schneller wieder am Verbrauchs- und Investitionskreislauf beteiligen können, was im Letzten wiederum das Unternehmertum fördert.1386 Weitere nachteilige Auswirkungen wären höhere Kosten für soziale Sicherheitssysteme sowie rückläufiger Verbrauch, verringerte Erwerbstätigkeit und entgangene Wachstumschancen.1387 Diese Argumente sprechen für sich genommen noch nicht gegen eine Bevorzugung von Unternehmern, nähren aber insgesamt Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Bevorzugung allein aufgrund der (makro)ökonomischen Bedeutung von Unternehmern. Ähnlich verhält es sich mit dem Argument, dass ein längeres Entschuldungsverfahren zu niedrigen Beitreibungsraten führt und Anleger von der Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit abschreckt.1388 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive lässt sich daraus kein Grund gegen eine Gleichbehandlung der Verbraucher ableiten. Gleiches gilt für das Argument des Abbaus von Hindernissen für die Grundfreiheiten, der Schaffung eines einheitlichen Insolvenzrahmens und der Entfernung notleidender Kredite aus den Bilanzen.1389 Darüber hinaus sind die persönlichen Folgen einer Stigmatisierung infolge der Insolvenz bei Verbrauchern ebenso erheblich und einschneidend wie bei Unternehmern. Rechtsethisch ist die In1383 Ausführlich
Desens, AöR 133 (2008), 404, 425 ff. Vgl. COM(2016) 723 final, S. 18. 1385 COM(2016) 723 final, S. 16. 1386 Vgl. COM(2016) 723 final, S. 4. 1387 Vgl. COM(2016) 723 final, S. 5. 1388 Vgl. COM(2016) 723 final, S. 5. 1389 Vgl. COM(2016) 723 final, S. 6, 15. 1384
278
§ 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)
solvenz eines Unternehmers mit der eines Verbrauchers, jedenfalls was die die Restschuldbefreiung betrifft, vergleichbar.1390 Daneben entsteht bei einer Beschränkung auf Unternehmer ein nicht unerhebliches Missbrauchspotenzial. Praktisch ist es äußerst schwierig, zwischen Geschäfts- und Konsumentenschulden von natürlichen Personen zu unterscheiden.1391 Grundsätzlich sollen nach dem Richtlinienvorschlag betriebliche und private Schulden einheitlich in einem einzigen Verfahren behandelt werden (vgl. Art. 23 Abs. 1 mit einer Abweichungsmöglichkeit in Abs. 2 RL-V). Verbraucher, die sich in finanziellen Nöten sehen, könnten dies als Anlass nehmen, eine geringfügige unternehmerische Tätigkeit aufzunehmen (oder diese gar vorsichtshalber längere Zeit nebenher allein zu dem Zweck späterer Entschuldung zu betreiben), um sich von ihren privaten Schulden innerhalb der verkürzten Frist zu entledigen. Diesem nicht unerheblichen Einwand versucht indes das Europäische Parlament mit der Erweiterung des Unternehmerbegriffs abzuhelfen. Danach soll als überschuldeter Unternehmer auch diejenige natürliche Person gelten, deren Geschäftstätigkeit ausschließlich eine Nebentätigkeit ist und deren berufliche Schulden nicht sinnvoll von den privaten Schulden zu treffen sind.1392 Alles in allem ist nicht ersichtlich, dass eine Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern die Erreichung der gesetzgeberischen Ziele merklich hemmt und gerade die komparative Besserstellung von Unternehmern diese Ziele besser verwirklicht. Auf erster Ebene ist damit aus rein praktischen Gründen die Gleichbehandlung sinnvoll; auf zweiter verfassungsrechtlicher Ebene ist sie aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen unumgänglich. 5. Fazit: Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern
Der Richtlinienvorschlag stellt es grundsätzlich jedem Mitgliedstaat anheim, Verbraucher in die Verfahren nach Art. 1 Abs. 1 lit. b RL-V einzubeziehen. Dies führt aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts zu Divergenzen mit Art. 3 Abs. 1 GG, ohne dass eine Parallele zur ungleichen Nachhaftung von juristischen und natürlichen Personen bemüht werden kann. Unternehmer und Verbraucher fallen unter das genus proximum „natürliche Person“, sodass eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung gegeben ist. Zur Rechtfertigung derselben bedürfte es eines probaten sachlichen Grundes, wobei eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen hat. Zwar unterscheiden sich 1390
Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, S. 111. 723 final, S. 16, 24 und 32 Erwägungsgrund 15. Zu widersprechen ist aber Blankenburg, ZInsO 2017, 241, 251, der eine Trennung für gar nicht möglich hält. 1392 Vgl. Änderungsantrag 50 zu Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 auf S. 44 des Berichts des Europäischen Parlaments (Fn. 803). 1391 COM(2016)
E. Nationale Implikationen der Umsetzung
279
Unternehmer und Verbraucher voneinander, jedoch nicht in dem Maße, als dies eine Ungleichbehandlung notwendig machte, geschweige denn rechtfertigte. Der Gesetzgeber könnte ein geeignetes und legitimes Differenzierungsziel und -kriterum anlegen, aber letztlich mangelte es an der Erforderlichkeit der Differenzierung zur Umsetzung des Differenzierungsziels. Somit vermögen die Unterschiede zwischen Unternehmern und Verbrauchern keine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Länge der Abtretungsfrist und eines etwaigen Mindestquotenerfordernisses zu begründen. Art. 3 Abs. 1 GG setzt klare verfassungsrechtliche Hürden, die mit dieser Differenzierung nicht genommen werden können. Anders als der juristische Befund ist sich die Politik ob der Frage einer einheitlichen Anwendung der Vorschriften noch uneins. Im Gegensatz zum Bundesrat hielten und halten einige Seiten – zwar ohne genauere Untersuchung, aber im Ergebnis richtig – den hier hergeleiteten Lösungsvorschlag für notwendig.1393 Pro futuro ist daher eine überschießende Umsetzung mit der Folge einer unterschiedslosen Geltung der betreffenden Vorschriften für Verbraucher und Unternehmer zu erwarten. Mit den oben dargestellten Argumenten erweist sich dieses Vorgehen als indisponibel.
1393 Siehe zum Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens, zur Stärkung der Gläubigerrechte und zur Insolvenzfestigkeit von Lizenzen InsO-RefE 2012, S. 22, Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz, https:// rsw.beck.de/docs/librariesprovider5/rsw-dokumente/RefE_InsoII (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2018): „Bereits aus diesen Gründen kommt eine Beschränkung der kurzen Restschuldbefreiungsdauer auf Gründer nicht in Betracht. Sie wäre aber auch in praktischer und verfassungsrechtlicher Hinsicht problematisch. So wäre fraglich, ob nur der Zweitgründer förderungswürdig ist, weil er Arbeitsplätze erhält, oder auch der gescheiterte ,Soloselbständige‘ oder der arbeitslose Arbeitnehmer, der erstmals eine selbständige Tätigkeit aufnehmen möchte. Vor allem ist zu berücksichtigen, dass eine Beschränkung der verkürzten Restschuldbefreiungsdauer auf Gründer mit erheblichen Risiken verbunden wäre. Insb. bestünde die Gefahr, dass Personen – um in den Genuss der kurzen Frist zu kommen – zu neuen unternehmerischen Fehlentscheidungen verleitet werden und dann wegen der Sperre der vorangegangenen Restschuldbefreiung vor dem endgültigen wirtschaftlichen Aus stehen. Dies hätte auch volkswirtschaftlich verheerende Folgen.“. Konkret zum Richtlinienvorschlag Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum präventiven EU-Restrukturierungsverfahren vom 9. Juli 2018 – Arbeitsgruppe Recht und Verbraucherschutz, ZInsO 2018, 1837: „Eine Restschuldbefreiung als notwendige Voraussetzung für einen zweiten Start einer natürlichen Person sollte unterschiedslos Unternehmern und Verbrauchern offenstehen.“. Auf EU-Ebene SWD(2016) 357 final, S. 82.
§ 5 Zusammenfassung in Thesen In diesem abschließenden Kapitel sollen im Folgenden die wichtigsten Thesen der vorangegangenen Teile (§ 2 – § 4) noch einmal übersichtlich und prägnant auf das Wesentliche reduziert zusammengefasst werden. Die Reihenfolge der Darstellung orientiert sich überwiegend am Gang der Untersuchung, ohne dass damit eine Bewertung der Gewichtigkeit einzelner Thesen einhergeht.
A. Kernthesen zu § 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit I.
Obgleich der Polyvalenz historischer Quellen und der fraglichen Historizität einiger Vorläufermodelle der Restschuldbefreiung offenbart sich die Überschuldung weiter Bevölkerungsteile von der Antike bis zur Gegenwart als zeitlich indifferentes, die soziale Kohäsion gefährdendes Phänomen, welches gesamtgesellschaftlich und wirtschaftlich seit jeher eine Herausforderung darstellt.
II.
Erst durch den rechtshistorischen Vergleich erschließt sich das Institut der Restschuldbefreiung in toto. Dieses hat aufgrund seines rechtsförmlichen, einen Anspruch unabhängig von konsensualen Elementen gewährenden Verfahrens und seiner rechtstatsächlich häufigen Inanspruchnahme eine historisch herausragende Stellung.
III.
Während in älterer Zeit eine rechtsethische Aufladung der Insolvenz im Sinne eines Stigmas der infamia zu konstatieren ist, bemüht sich eine Vielzahl moderner Gesellschaften, dieses Stigma und die gesellschaftlich negativen Folgen der Insolvenz abzumildern oder gänzlich zu bekämpfen.
IV.
Angesichts der Hauptüberschuldungsgründe bedarf jede Moralisierung des Insolvenzrechts der Rechtfertigung. Die Frage nach einem vorwerfbaren, die Insolvenz schuldhaft verursachenden Verhalten ist ohne in Gesetz gegossenen gesellschaftlichen Diskurs und Konsens nicht beantwortbar. Mangels gesetzlich handhabbarer Maßstäbe ist von der Moralisierung des Insolvenzrechts de lege lata Abstand zu nehmen.
A. Kernthesen zu § 2 Stellenwert der Restschuldbefreiung in heutiger Zeit
281
V.
Mit Eintritt der Insolvenz haben die Forderungen der Gläubiger bereits massiv an Wert verloren. Eine gänzliche Befriedigung selbst nach Abschluss des Restschuldbefreiungsverfahrens ist für die überwiegende Mehrzahl der Gläubiger bloße Utopie. Dennoch ist die durchschnittliche Befriedigungsquote keine Quantité négligeable. Vielmehr wird statistisch ein nicht zu vernachlässigender Betrag erzielt.
VI.
Jede Reform des Restschuldbefreiungsrechts muss sich an der empirischen Wirklichkeit messen lassen. Normative Wertungen geben entweder das Ziel vor, dessen Verwirklichung nach empirischen Maßstäben beurteilt wird oder können selbst – natürlich unter Vermeidung des naturalistischen Fehlschlusses – Schlussfolgerung aus statistischen Informationen sein.
VII. Es wird nie ein statisches Schuldbefreiungsregime geben, da sich jede Gesellschaft, die die grundsätzliche Interessenabwägung zwischen Schuldner und Gläubiger als Annäherungsversuch an abstrakte Gerechtigkeitskategorien begreift, die Frage nach den Modalitäten der Restschuldbefreiung beständig erneut stellen muss. Pro futuro sind folglich weitere Änderungen im Recht der Restschuldbefreiung zu erwarten. Neuerungen werden insbesondere von Seiten der Europäischen Union angestrengt. VIII. Die Restschuldbefreiung ist ein eigenständiges, gleichrangiges Verfahrensziel der Insolvenzordnung. Der Meinungsstreit ist nicht nur theoretische Makulatur. Bedeutung kommt dem insofern zu, als das Programm des § 1 InsO als Interpretament für die Auslegung der übrigen Insolvenzrechtsvorschriften dient und als rechtspolitisches Signal gilt. IX.
Es gibt vier Schuldbefreiungsoptionen de lege lata. Dies sind die drei konsensdeterminierten Schuldbefreiungsmöglichkeiten, nämlich die außergerichtliche Einigung im Sinne des § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO, der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan (§§ 306 – 309 InsO) und der Insolvenzplan (§§ 217 ff. InsO). Daneben tritt das einseitige Restschuldbefreiungsverfahren nach den §§ 286 ff. InsO. Die Insolvenzverfahrenseinstellung kann – wenn überhaupt – nur als konsensuale Schuldbefreiungsoption im weitesten Sinne verstanden werden.
X.
Regelmäßig ist das Restschuldbefreiungsverfahren für eine überwiegende Mehrzahl von Schuldner der Goldstandard auf dem Weg zur Entschuldung. Es ist die rechtstatsächlich am häufigsten genutzte Schuldbefreiungsoption und nimmt unter den Schuldbefreiungsoptionen de lege lata eine exponierte Stellung ein.
XI.
Die komparative Suprematie der Restschuldbefreiung liegt in ihrer dogmatischen Konstruktion begründet. Der konzeptionelle Vergleich der
282
§ 5 Zusammenfassung in Thesen
Schuldbefreiungsoptionen schlägt nach Abwägung der strukturellen Vor- und Nachteile en gros deutlich zu Gunsten der Restschuldbefreiung aus. Sie bietet eine für den Schuldner wesentlich günstigere Ausgangslage als die anderen Entschuldungsmechanismen. XII. Gesetzgeberischer Anspruch und Wirklichkeit divergieren. Eine rasche Entschuldung ist in der Mehrzahl der Fälle aufgrund vielfacher Ausnahmen von der Schuldbefreiung, der allgemein langen Dauer des Entschuldungsverfahrens und einer verfehlten Anreizpolitik (35 %-Quote) nicht erreichbar.
B. Kernthesen zu § 3 Unionsrechtliche Dimension I.
Der objektiven Wahrnehmung formaler Rechtspositionen haftet kein moralischer Makel an, weswegen die Definition des missbräuchlichen Forum Shopping eines subjektiven Moments bedarf.
II.
Missbräuchliches Forum Shopping natürlicher Personen liegt vor, wenn die Nutzung eines ausländischen Entschuldungsweges objektiv – und formal unter Einhaltung der anzuwendenden Rechtsregeln – zu einer einseitigen Verkürzung von Gläubigerinteressen und -rechten führt. Die komparativ günstigere Schuldbefreiung muss das intentional handlungsleitende Motiv des Forum Shopping sein, während die Rechtsverkürzung auf Gläubigerseite sich als reiner Rechtsreflex darstellen kann
III.
Ein rechtsethisches Missbrauchskonzept, welches sich durch die moralische und politische Missbilligung des missbräuchlichen Forum Shopping auszeichnet, ohne aber konkrete Rechtsfolgenanordnungen zu treffen, ist gegenüber anderen Konzepten vorzuziehen. Es leistet einen Beitrag zu größerer begrifflicher Klarheit im Hinblick auf zukünftige Diskurse.
IV.
Nach dem rechtsethischen Missbrauchskonzept ist es durchaus möglich, dass die Verlagerung des COMI rechtsmissbräuchlich ist. Diese rechtsfolgenlose moralisch-politische Wertung kann gesetzgeberische Konsequenzen in Gestalt klar umrissener vertypter Tatbestände nach sich ziehen.
V.
Als Schutzvorkehrungen im Kampf gegen Restschuldbefreiungstourismus bieten sich verschiedene Wege an. Dies sind die Versagung der Hauptverfahrenseröffnung, die Versagung der Anerkennung der erstgerichtlichen Entscheidung, das zweistufige gerichtliche Kontrollsystem der Artt. 4, 5 EuInsVO, die Eröffnung von Partikularinsolvenzverfahren, die Période suspecte und der Ordre public.
B. Kernthesen zu § 3 Unionsrechtliche Dimension
VI.
283
Die Versagung der Hauptverfahrenseröffnung entbehrt jeder rechtlichen Grundlage und bricht mit Wortlaut, Systematik und Telos der EuInsVO.
VII. Der Umgang mit positiven Kompetenzkonflikten ist aus Sicht der vorherrschenden Auffassung klar zu lösen. Nichtsdestoweniger hat die Gegenansicht gewichtige Argumente vorgebracht. Nach umfassender Würdigung aller Gesichtspunkte verdient die herrschende Auffassung, die von der Maßgeblichkeit der erstgerichtlichen Entscheidung ausgeht, den Vorzug. Letztlich ist es eine Frage der teleologischen Schwerpunktlegung. Im Ergebnis gibt eine Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen einer zweitgerichtlichen Überprüfung den Ausschlag zu Gunsten des gegenseitigen Vertrauens. VIII. Die Artt. 4, 5 EuInsVO sind unabhängig aller Detailfehler geeignet, den mitgliedstaatlichen Gerichten ein Ansporn zu sein, um materiell unrichtige Eröffnungsentscheidungen zu vermeiden. IX.
Das Partikularinsolvenzverfahren kann ein geeignetes Instrument zur Wahrung von Gläubigerinteressen sein, weist aber einige Nachteile auf. Zum einen knüpft es an eine Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates an. Somit steht es von vornherein bei Verbraucherinsolvenzen nicht zur Verfügung. Zum anderen ist rechtspolitisch eine Zurückdrängung von Partikularinsolvenzverfahren gewünscht.
X.
Das Sekundärinsolvenzverfahren hat obschon seines eingeschränkten Anwendungsbereichs nicht zu unterschätzendes Potenzial. Gerade die Insolvenzen derjenigen natürlichen Personen sind erfasst, die durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit weiterhin nicht unbedeutendes Vermögen erwirtschaften und dadurch eine wenn auch nur geringe Befriedigung der Gläubiger gewährleisten können.
XI.
Die Période suspecte ist eine Konkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots. Ob die Länge der Période suspecte effektiv ist, müssen zukünftige empirische Untersuchungen zeigen. Dennoch leistet sie insgesamt betrachtet einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen Restschuldbefreiungstourismus.
XII. Es wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur kaum in der Tiefe erörtert, ob ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, im Speziellen gegen die Verfassungs, vorliegt. Es fand bislang keine ausreichende verfassungsrechtliche Würdigung der Sachverhaltskonstellationen statt und auch sonst wurde wenig zu den angeblich verletzten Individualrechten gesagt. XIII. Eine Subsidiarität des Ordre public erschließt sich weder aus dem Gesetz noch ist sie aus teleologischen Erwägungen valide deduzierbar.
284
§ 5 Zusammenfassung in Thesen
Das Vorhandensein effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes muss in die verfassungsrechtliche Abwägung mit einfließen und kann so, falls eine Verletzung verfassungsmäßig garantierter Rechte und Grundprinzipien konstatiert würde, den entscheidenden Ausschlag für eine Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung geben. XIV. Der Ordre public ist im Fall der fälschlichen Inanspruchnahme der internationalen Zuständigkeit sowie bei rechtsmissbräuchlichem Forum Shopping nicht einschlägig. Im Fall des betrügerischen Forum Shopping kann seine Einschlägigkeit pauschal nicht abgelehnt werden. Eine Einzelfallkontrolle ist notwendig. In der Regel liegt aber auch hier kein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung vor. XV. Während eine kurze Treuhandperiode nicht zur Einschlägigkeit des Ordre public führen kann, verstößt demgegenüber das gänzliche Fehlen einer Abtretungsfrist gegen die deutsche öffentliche Ordnung und somit gegen den Ordre public. Eine fehlende Mindestbefriedigungsquote zeitigt isoliert betrachtet keine Ordre-public-Relevanz nach deutschen Maßstäben. XVI. Die Befreiung von Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung stellt i. d. R. keinen Ordre-public-Verstoß dar. XVII. Restschuldbefreiungstourismus wird mittels der vorhandenen Schutzvorkehrungen wirksam bekämpft. Jedoch wird er wohl nie gänzlich eingedämmt, es sei denn, man gliche die Insolvenzrechtssysteme der Mitgliedstaaten gegenseitig so an, dass sich für Schuldner keine Vorteile mehr durch die Nutzung des ausländischen Verfahrens ergeben. Dies ist bisher nicht gelungen und wird auch nur ansatzweise mit dem Richtlinienvorschlag COM(2016) 723 final erreicht.
C. Kernthesen zu § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda (COM(2016) 723 final)und verfassungsrechtlicher Rahmen I.
Der Bericht des Europäischen Parlaments über den Richtlinienvorschlag der Kommission könnte sich wegen der vorgesehenen fünfjährigen Entschuldungsfrist als retardierendes Moment im Prozess immer schnellerer Entschuldung herausstellen und so der Richtlinie einen großen Teil ihrer Effektivität rauben.
II.
Der Richtlinienvorschlag impliziert die Möglichkeit mehrfacher Entschuldung. Die Entschuldung ist nicht nur einmal im Leben zu gewähren.
C. Kernthesen zu § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda
285
III.
Einer Mindestquote ist insofern nicht der Boden entzogen, als sie weiter als Voraussetzung im Rahmen eines Anreizmodells zu einer noch kürzeren als der von der EU vorgeschlagenen Entschuldung führen könnte.
IV.
Kritik beschwört der wegen seiner Unbestimmtheit konturlose Begriff des „allgemeinen Interesses“ im Sinne von Art. 22 Abs. 1 RL-V.
V.
Die Versagungsgründe, Erwerbsobliegenheit, Widerrufsgründe und Ausnahmen von der Restschuldbefreiung nach deutschem Recht passen ohne größere Änderungen in das System des Art. 22 RL-V.
VI.
Im Einzelnen ist der Beispielskatalog des Art. 22 Abs. 1 RL-V kritikwürdig und bedarf sowohl nach Kommissions-, Parlaments- und Ratsfassung erneuter Revision.
VII. Sowohl Art. 53 AEUV als auch Art. 114 AEUV erfordern die Beeinträchtigung von Grundfreiheiten und nicht bereits deren erleichterte Wahrnehmung. VIII. Die Kommission setzt sich nicht dezidiert mit den Bedenken einer fehlenden Kompetenz auseinander, sondern verweist in der Art eines selbstreferenziellen Systems immer wieder auf eigene Dokumente. Dieser infinite Regress vermag keinen Beitrag zur Klärung der Kompetenzfrage zu leisten. Inwiefern die Grundfreiheiten beeinträchtigt sind und der Binnenmarkt gerade in Bezug auf harmonisierte Vorschriften zur zweiten Chance tatsächlich besser verwirklicht wird, ergibt sich nicht aus den Kommissionsdokumenten. IX.
Angesichts des sog. Bündelproblems und der zweiten Spur der Europäisierung ist eine Binnenmarktbeeinträchtigung durch die Divergenzen in den Entschuldungsvorschriften der Mitgliedstaaten rein spekulativ. Der von der Kommission insinuierte Zusammenhang zwischen der Förderung des Binnenmarktes und den ergriffenen Maßnahmen zur zweiten Chance ist hypothetischer Natur.
X.
Aufgrund ihres Einschätzungsspielraums reicht aus Sicht der Kommission eine plausible Erklärung. Die von der Kommission vorgelegten Ausführungen genügen dieser Anforderung aber nicht.
XI.
Es mangelt an empirischen Beweisen für die von der Kommission behauptete Binnenmarktauswirkung. Zwar existieren einige Studien, diese liefern aber keine Antwort auf die konkrete Frage nach der Qualifizierung der Entschuldungsvorschriften als gewichtige Determinante der Standortwahl und somit nach dem Vorliegen eines qualifizierten Binnenmarkthindernisses. Vorbehaltlich neuer empirischer Nachweise liegt keine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vor.
286
XII.
§ 5 Zusammenfassung in Thesen
Die Vorschriften zur zweiten Chancen fußen nicht auf einer ausreichenden Kompetenzgrundlage. Ohne weitere empirische Nachweise sollte die EU in diesem Bereich nicht weiter tätig werden.
XIII. Unterstellte man eine ausreichende Kompetenzgrundlage, verstießen die Entschuldungsvorschriften der avisierten Richtlinie auch nicht gegen die Kompetenzausübungsschranke des Art. 345 AEUV. XIV.
Das Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang schützt begrifflich die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit und insbesondere die Potenz zur wirtschaftlichen Einflussnahme. Zu diesem Zweck muss die aktive, freie, selbstbestimmte und vor allem unbeschwerte Teilnahme am Wirtschaftsverkehr sowie die Freiheit von quasi lebenslänglicher staatlicher Zwangsvollstreckung und einem Leben am Rand der Pfändungsfreigrenzen gewährleistet sein. Hiervon ausgehend, verbürgt dieses Recht die Hoffnung des Schuldners auf wirtschaftliche Rehabilitation und ökonomischen Aufstieg und auf der Kehrseite die Garantie, dass nicht jegliche wirtschaftliche Aktivität auf Dauer allein den Gläubigern zu Gute kommt.
XV.
Die Diskussion um ein Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang muss als Ausgangspunkt die Grundrechte in ihrer objektiven Dimension als Schutzpflichten haben.
XVI.
Aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG kann kein Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang abgeleitet werden.
XVII. In ihrer Abwehrfunktion könnten Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG im Einzelfall zur Unverhältnismäßigkeit und damit Verfassungswidrigkeit eines unbeschränkten Nachforderungsrechts führen. XVIII. Die Einführung des Restschuldbefreiungsverfahrens war nicht verfassungsrechtlich geboten, sondern mithin eine rein politische Entscheidung. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber theoretisch nicht daran gehindert wäre, die Restschuldbefreiung wieder abzuschaffen oder – argumentum a fortiori – die Abtretungsfrist deutlich zu verlängern. XIX. Die Restschuldbefreiung als Institut ist verfassungsgemäß. Dennoch sind ausnahmsweise potenziell verfassungswidrige Konstellationen im Einzelfall denkbar. Der noch am ehesten gangbare Weg wäre in solchen Konstellationen eine verfassungskonforme Auslegung. XX.
Eingedenk der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Schutzanliegen ist eine vorzeitige Entschuldung mit Erreichen der 35 %-Quote im Zeit-
C. Kernthesen zu § 4 Restschuldbefreiung de lege ferenda
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raum zwischen dem dritten und fünften Jahr der Abtretungsfrist abzulehnen. XXI. Eine verkürzte Abtretungsfrist kann nicht pauschal als verfassungswidrig oder verfassungskonform bewertet werden. Zentrales Kriterium sind die Befriedigungsaussichten der Gläubiger und der Schutz des Eigentums. Mangels ausreichender Daten und eines probaten, gesetzlich normierten Prognoseverfahrens, welches die Feststellung des Zusammenhangs zwischen der Länge der Abtretungsfrist und den Befriedigungsaussichten ermöglicht, ist die Verkürzung der Abtretungsfrist auf drei Jahre verfassungsgemäß. XXII. Eine Sofortentschuldung, d. h. das gänzliche Entfallen der Abtretungsfrist, verstößt gegen Art. 14 GG. XXIII. Art. 3 Abs. 1 GG zwingt zu einer Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern hinsichtlich der Entschuldungsvorschriften.
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Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis
Abwehrrechte
Berufszulassung
219
Allgemeine Handlungsfreiheit
225 ff.
Binnenmarkt
94
188 ff.
– Privatautonomie 226
Bremer Debitverordnung
– Vertragsfreiheit 226
Brexit
Allgemeiner Gleichheitssatz
272 ff.
Brüssel Ia-VO 124, 126 ff.
Allgemeines Persönlichkeitsrecht 227 ff.
Cessio bonorum
– Privatsphäre 228 f.
Concursus creditorum 262 CrfibÜRgel 91
– Sphärentheorie 228
Damoklesschwert lebenslänglicher Vollstreckung 224, 246
31
Altgläubigerinteressen 249 f., 253
Deckungsquote 50
Amtsermittlung 133
Devolutiveffekt 135
Amtsprüfung 133
Dienstleistungsfreiheit
119
Asymmetrisches Verfahren
188 ff.
Differentia specifica 274
70, 78 f.
Athenaion Politeia 29 f. Auffanggrundrecht 225 Augustus
29
COMI 115
– Sozialsphäre 229
Annulierungsverfahren
32 f.
Codex Hammurapi (Hammurabi)
– Intimsphäre 228 f.
Altes Testament
33
168
Differenzierungskriterium
275
Differenzierungsmerkmal
272
Differenzierungsziel 273, 275
32
Ausgabenzyklus 277
Discouraging borrowing cost effect 198
Außergerichtliche Einigung siehe außergerichtliches Schuldenbereinigungsverfahren
Diskriminierungsverbot Eigentum 237
Badische Prozessordnung
– Sozialpflichtigkeit des Eigentums 241
33
Bankrotteur-Tourismus siehe Restschuldbefreiungstourismus Beibringungsgrundsatz
134
Bellum omnium contra omnes Beneficium competentiae Berufsverbot 177, 183
– Privatnützigkeit des Eigentums
241
Eigentumsgarantie 237 ff. – Anspruch auf effektiven Rechtsschutz 239
262
32
Bericht des Europäischen Parlaments
194
– Eigentumsrelevante Maßnahme 239 41
– Entschädigungspflichtige Enteignung 239
Stichwortverzeichnis
321
– Inhalts- und Schrankenbestimmung 239, 256
Grundprinzipien 161
Eigentumsordnung
Güterabtretung siehe cessio bonorum
209 ff.
Encouraging insurance effect 198 Entschuldungsfrist
173, 183, 257 ff.
Erlassjahr 31 Erwerbsobliegenheit EuInsVO
– Infamiefolgen 32 – Stigma der Infamia
Forum Shopping 103, 105 ff.
Innominatfreiheitsrecht
– Missbräuchliches Forum Shopping 108 ff., 158 ff. 218
Fresh Start 21
Gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung 35, 63, 69 ff. 150, 274 34, 36
278
Gesetz über eine Bereinigung alter Schulden 33 Gesetz zur Entschuldung mittelloser Personen 71, 74 Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte 38 f., 68 245
Gläubigergleichbehandlungsgebot Gläubigerinteressen Gläubigerrechte
241 ff.
38, 68
Gläubigerversammlung Grundfreiheiten
125, 128 f.
Insolvenzordnung 36 Insolvenzplan 51, 54, 61 ff., 76, 95 f., 99 ff.
– Planinitiative
65
– Universalwirkung 63, 96, 100 Insolvenzrechtsänderungsgesetz
106
Insolvenzrechtsreform 34
Gesamtbefriedigungsquote 50
Gläubigerausschuss
Insolvenz-Imperialismus
– Obstruktionsverbot 65
32
Geschäftsschulden
276 226
– Minderheitenschutz 65 f.
Funktionaler Konnex 203
Gesamtvollstreckungsordnung
32, 47, 54, 246
Informationsasymmetrien
– Betrügerisches Forum Shopping 108, 113, 153 ff.
Genus proximum
256
Infamia 32
216 f., 230, 246
Gemeines Recht
202
Hamburger Fallitenordnung 33 Hektemoroi 30
Folgeinsolvenzen 242 f.
Freiheitsstrafe
219
Haftungsbeschränkte Gesellschaft Härteklauseln
84, 184, 244
22, 39, 104 ff.
Existenzminimum
Grundrechtsdimensionen
245
105, 189 ff., 276
86
Insolvenzstatistik
37, 41 ff., 47 ff.
Insolvenzstatistikgesetz
48
Insolvenzstrafrecht 251 Insolvenztourismus siehe Restschuldbefreiungstourismus Insolvenzverfahrenseinstellung 51, 54, 66 ff., 96 f., 100 Insolvenzwirtschaft 107 Interessengemeinschaft 261 Investitionskreislauf
277
Jubeljahr 31 Kapitalmarktunion 175 Kapitalverkehr 205 ff. Kapitalverkehrsfreiheit 206 ff. Kompetenzausübungsschranke
209
Stichwortverzeichnis
322
Kompetenzgrundlage Kompetenzkonflikt
187 ff. 118, 121 ff.
Konkurs des Konkurses Konkursordnung
35, 185
35 f.
Konsumentenschulden Kredite
Moralisierung des Insolvenzrechts 85
278
– Lebenslange Nachhaftung
53 f.
Nachhaftung juristischer Personen 270 ff.
– Nachforderungsrecht
248
44 f.
– Konsumentenkredit
Naturalobligationen
– Kreditkosten 277 – Kreditvergabepraxis
80, 248
95, 108
– Notleidender Kredit 46, 81, 176, 249, 277 – Verbraucherkredite
227
80
64, 81
Neuerwerb 32, 78, 82, 243, 249 f. Neugläubiger 82 Neugläubigerinteressen 249 f., 253 Niederlassungsfreiheit 188 ff. Normadressat
273
Krombacher 148
Nullplan 57, 98
Lastenabschüttelung siehe Seisachtheia
Obstruktionsverbot 101
Leistungsgrundrecht 219, 227, 232 Lex concursus 117 Lex fori concursus
117
Lex Iulia iudiciorum privatorum et publicorum 32 Lübecker Konkursordnung Makel des Konkurses
35
Makel des Scheiterns
173
Makroökonomischer Fokus
33
176 f.
– Konstitutionsprinzip 220 – Sozialer Wert- und Achtungsanspruch 223 – Subjektqualität 223 f. – Unantastbarkeit 221 220
Mindestbefriedigungsquote 48, 95, 146, 160 f. Mindestharmonisierung
Öffnungsklauseln
256
Omnipotentes Werkzeug
191
Ordre-public-Vorbehalt 108, 129, 146 ff., 265, 269 f. Out of court-appointment 154 Pacta sunt servanda 98, 242 f., 244 Par condicio creditorum siehe Gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung
Menschenwürde 220 ff.
– Wertentscheidung
218
Nachzügler 100
– Kreditfähigkeit 95
– Kreditwürdigkeit
52,
Nachhaftung
Konsultationen 198 Kostenrisiko
Mindestquote/Mindestquotenerfordernis 104, 182, 257 ff.
201, 208
Paradies für Schuldner Paradigmenwechsel
268
79
Partikularinsolvenzverfahren 124, 129, 137 ff. Paternalismus
252
Pathos des Wettbewerbs
263
Pauschalierung von Gerechtigkeit 254 ff. Période suspecte 111, 134, 142 ff. Personalexekution
32
Persönlichkeitsrecht
80
Pfändungsfreibetrag
244
252,
Stichwortverzeichnis
Pfändungsfreigrenzen Pfändungsschutz
– Rechtsethische Aufladung
220, 246
Pfändungssystem
28
– Rechtsschuldbefreiungsphase
216
Pfändungsschutzvorschriften Plutarch
323
– Rechtswirkungen
181
85
81 f.
– Sperrfrist 83, 90
181
– Stellenwert 28 ff.
29 f.
Positiver Binnenmarkteffekt Prioritätsprinzip
– Verfahren 68 ff.
191
– Verfahrensablauf 82
122, 125
– Verfahrenseinstellung
Prognoseentscheidung 234
86 f.
Prognoseinstrument 238
– Verfahrensziel 69 ff.
Prognoseverfahren
255, 266
– Verfassungsmäßigkeit 236 ff.
Prozesskostenhilfe
37
– Versagung 84 f.
Pursuit of happiness 216 Qualifiziertes Markzugangskriterium 194 ff. Race to the bottom 170 Race to the top 170 Recht auf wirtschaftlichen Neuanfang 216 ff. Rechtliches Gehör 245
263
Rechtsreflex 105 Rechtssetzungsgleichheit 272 Rechtswohltat
– Widerruf 87 – Zeitgeschichtliche Bedeutung siehe Stellenwert – Zweck 79 ff. Restschuldbefreiungstourismus Restschuldversicherung Richtlinienvorschlag
108 ff.
Rechtspathos der Zusammenarbeit
81,
104 ff.
44 f., 53 f.
Révision au fond 122, 147
Rechtsanwendungsgleichheit 272 Rechtsmissbrauchskonzept
– Vorzeitige Restschuldbefreiung 90 f., 258 ff.
21
Restschuldbefreiung – Abtretungserklärung 38 f., 83 f. – Abtretungsfrist 83 ff. siehe ferner Treuhandperiode und Wohlverhaltensperiode – Antrag 83 – Gerechtigkeit der Restschuldbefreiung – Gesellschaftspolitische, (gesamt-) ökonomische, (psycho)soziale und personale Notwendigkeit 41 – Kulturelle Errungenschaft 40 – Legislative Historie in der Insolvenzordnung 34
Risikobewertung
39, 79, 104
195 f., 207 f.
Römisches Privatrecht Schattenwirtschaft
80
Scheinverlagerung
121
Schicksalsgemeinschaft
32
261
Schufa-Eintrag 93 Schuldbefreiung de lege lata
55 ff.
Schuldbefreiungsmöglichkeit siehe Schuldbefreiungsoption Schuldbefreiungsoption
55 ff.. 89 ff.
Schuldbefreiungs-Tourismus siehe Restschuldbefreiungstourismus Schuldenbereinigungsplan 49 – Außergerichtlicher Schuldenbereinigungsplan 57 ff. – Gerichtlicher Schuldenbereinigungsplan 59 ff.
Stichwortverzeichnis
324
Schuldenbereinigungsverfahren
Treuhandperiode, zum Begriff
– Außergerichtliches Schuldenbereinigungsverfahren 44, 53, 56 ff., 91, 93 f., 97 ff.
siehe ferner Abtretungsfrist und Wohlverhaltensperiode
– Gerichtliches Schuldenbereinigungsplanverfahren 59 ff., 94 f., 99 Schuldenregulierungsverfahren
80
Schuldhaft 39 Schuldnerinteressen Schuldprinzip Schuldturm
Überschuldung
180
41 ff.
– Folgen 45 ff. – (Gesamt)ökonomische Aspekte 46 – Gesellschaftspolitische Aspekte
245 ff.
– Hauptüberschuldungsgründe
52
– Überschuldungsquote
Schutzpflicht 227
43
– Ursachen, S.44
Schutzvorkehrungen 119 ff.
Unbeschränkte Nachforderung 79
29 ff.
Sekundärinsolvenzverfahren 123, 130, 137 ff.
VE-EGInsO
162 ff.
Selbstreflexion 106
Verbraucherinsolvenzverfahren 36, 56 ff.
Sicherheiten
Verbraucherschutzrecht
64
Sicherungsgeber 81 f.
Verbrauchskreislauf
Sofortentschuldung
Verfahrenseinstellung
261 ff., 269
276
277 81
Solidargemeinschaft 261 ff.
Verfahrenskostenstundung 87 ff.
Solon 29 ff.
– Kostenstundungsregelungen
Souveränitätsvorbehalt
203 f.
Vergleichsordnung
Sozialversicherungssysteme
Verlustzuweisungsgemeinschaft
231
193 f.
Standortfaktor 201 f. Standortvorteil Standortwahl
103
35 f.
Verlustsozialisierung 263 261 ff.
Verordnung (EU) 2015/848 siehe auch EuInsVO Verschleierung des Arbeitseinkommens 245
193 f.
Stigmatisierung unternehmerischen Scheiterns 172
Verschuldung
Strategische Insolvenz
Virgós/Schmit-Bericht
106
Subsidiarität 154 ff. Transaktionskosten
37
– Nullraten 89
Sozialstaatsgebot/Sozialstaatsprinzip 217 f., 231 ff. Standortbedingung
45 f.
44, 52
– (Psycho)soziale und personale Aspekte 46 f.
46
Schuldverstrickung 21
Seisachtheia
Überschuldeter Unternehmer
70
42, 52
Versorgungsstaat
232
Volle Entschuldung 199
Vollstreckungsverbot
122, 128
180 f. 86
Treu und Glauben 151
Vorabentscheidungsverfahren
118
Treuhänder 85
Wettbewerb der Insolvenzrechte
106
Stichwortverzeichnis
Wettbewerb der Rechtsordnungen Wiederauflebensklausel
106
95
Zahlungsmoral
325
243, 251, 261
Zusicherung 140
Willkürverbot 272
Zustimmungsersetzung 60, 95
Wirtschaftlicher Neuanfang/Neustart 80, 102, 177
Zustimmungsfiktion
Wissensasymmetrien
Zweite Spur der Europäisierung 106, 202
Wohlverhaltensperiode
276 199
siehe ferner Abtretungsfrist und Treuhandperiode
66
Zweite Chance 172, 177