Repräsentation und Kompetenzverteilung: Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten [1 ed.] 9783428515158, 9783428115150

In der Diskussion um eine EU-Verfassung nimmt die legitimationstheoretisch überzeugende Neuordnung der Legislativkompete

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Repräsentation und Kompetenzverteilung: Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten [1 ed.]
 9783428515158, 9783428115150

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Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 38

Repräsentation und Kompetenzverteilung Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten

Von

Florian Sander

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

FLORIAN SANDER

Repräsentation und Kompetenzverteilung

Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter

Band 38

Repräsentation und Kompetenzverteilung Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten

Von

Florian Sander

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 3-428-11515-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation vorgelegen. Sie ist ihrer Grundkonzeption nach auf dem Stand von September 2003; jüngere Literatur konnte für die Drucklegung bis zum April 2004 teilweise noch berücksichtigt werden. Meinem verehrten akademischen Lehrer und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Michael Köhler, gilt mein herzlicher und tief empfundener Dank für seine langjährige Unterstützung und Förderung an vorderster Stelle. Sein Verständnis der Rechtswissenschaft als praktischer Prinzipienwissenschaft hat mich nachhaltig und weit über die vorliegende Untersuchung hinausweisend geprägt. Herrn Prof. Dr. Meinhard Hilf danke ich für die sehr zügige Erstellung des Zweitgutachtens ebenso für seine vielfältige Unterstützung als Student und Doktorand, die zu meinem Interesse am Staatsverfassungs- und Europarecht viel beigetragen hat. Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Herausgebern der Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht, den Herren Professoren Dres. Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen und Stefan Oeter für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ernst-Joachim Mestmäcker war mir bei der Themenfindung in gemeinschaftsrechtlicher wie rechtsphilosophischer Hinsicht ein hilfreicher Gesprächspartner. Verschiedene wissenschaftliche Wegbegleiter haben ebenfalls persönlichen und akademischen Anteil am Entstehen der Arbeit. Herrn Assessor Christian Fröde, München/Passau, schulde ich einen besonderen Dank für einen langjährigen kritisch-konstruktiven und freundschaftlichen Gesprächszusammenhang über den europäischen Institutionenzusammenhang und seine rechtsphilosophischen Voraussetzungen. Meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterkollegen der Universität Hamburg, namentlich aus dem Seminar für Europäisches Gemeinschaftsrecht am Lehrstuhl von Prof. Dr. Meinhard Hilf, bin ich für einen fortwährend anregenden Austausch zum Themenkreis des europäischen Gemeinschaftsrecht verbunden: Tobias Bender hat die Arbeit um vielfältige Aspekte aus positivrechtlicher Sicht bereichert und war eine wertvolle Hilfe auch bei der Recherche. Den Herren Kai-Dieter Classen und Dr. Wolf-Rüdiger Molkentin danke ich für einen stetigen Gesprächszusammenhang.

8

Vorwort

Die Dissertation hat auch von den europarechtlich relevanten Stationen meines Referendariats profitiert. Herrn Ministerialrat Alfred Dittrich, Bundesministerium der Justiz, verdanke ich Hintergrundinformationen zum Konventsverfahren und fruchtbare Gespräche über den Konstitutionalisierungsprozeß Europas aus der Praxis während meiner Verwaltungsstation als Referendar im Referat für Grundsatz- und Rechtsfragen der Europäischen Union, die zur Abrundung der rechtspraktischen Seite des Untersuchungsgegenstandes nicht unerheblich beigetragen haben. Einen vielfältigen praktischen Einblick in den Europäischen Legislativwillensbildungsprozeß hat mir der Europaabgeordnete Dr. Georg Jarzembowski während meiner Wahlstation in Brüssel und Straßburg vermitteln können. Hierfür bin ich ihm sowie seinem Parlamentarischen Assistenten, Herrn Rechtsanwalt Sebastian Dreyer, besonders dankbar. Für die unbürokratische Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses bin ich der Dr.-Carl-Böse-Stiftung, Lübeck, zu Dank verpflichtet. Für die materielle wie immaterielle Förderung während meines Studiums danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Friedrich-Naumann-Stiftung. Besonders herzlich bedanke ich mich bei meinem Bruder Tobias Sander, Boston, der mir ein besonderes Vorbild ist, für seine freundschaftliche Anteilnahme und vielfältige Unterstützung in jeder Phase dieser Arbeit, insbesondere aber für unermüdliche Layoutarbeiten, ohne die die Arbeit nicht hätte gedruckt werden können. Mein Vater Peter Sander hat diese Untersuchung von Anfang an in einem durchgängigen Gesprächszusammenhang und durch unzählige konstruktive Anregungen mitbegleitet. Seine Anteilnahme hat die Untersuchung nicht nur gefördert, sondern mitgeprägt; ohne ihn läge sie nicht in dieser Form vor. Ihm und meiner Mutter Christa Sander ist die Untersuchung in tiefer Dankbarkeit gewidmet.

Hamburg/Lübeck, im Frühling 2004

Florian Sander

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept als Entwurf einer legitimitätsbezogenen Ordnung

23

I.

Zum Anspruch eines handlungsformorientierten Kompetenzkonzepts................ 23 1. Zusammenhang von Integrationsprozeß und Kompetenzstruktur.................. 31 2. Systematisierung der Handlungsformen als Grundlage der Kompetenzrevision ................................................................................................ 34 3. Die unbehandelten Ebenen des Mehrebenensystems: Länder, Regionen und gemeinschaftsrechtliche Binnenverbandsdifferenzierungen ................... 38 4. Geltungsvorrang und Anwendungsunmittelbarkeit als Axiome der Gemeinschaftsrechtsordnung ......................................................................... 43 5. Gang der Untersuchung ................................................................................. 45

II.

Handlungsformanalyse als Beitrag zu einer europäischen Gesetzgebungslehre ..................................................................................................................... 50 1. Begriff des normativen Systems .................................................................... 51 2. Problempunkte einer Gesamtsystematisierung: Strukturdifferenzen des Gemeinschaftsrechts zum Staatsorganisationsrecht....................................... 52 a) Notwendige Staatsbezogenheit des Gemeinschaftsrechtssystems ........... 53 b) Die funktionalen Charakteristika: Vorrang und Direktanwendung ......... 55 c) Organisatorisch: untergesetzliche Stellung.............................................. 56 d) Zielsetzung: Auflösung der Inkongruenz von Funktion und Organisation................................................................................................. 57 3. Konkordanzbildung als methodologisches Grundprinzip .............................. 59 Kapitel 2 Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip der legislativen Willensbildungsprozesse im Staatsrecht

I.

63

Legitimitätsverständnis und Legitimitätsbesonderheiten der Europäischen Union ................................................................................................................... 63 1. Der allgemeine Legitimitätsgrund von Recht ................................................ 66 2. Neuzeitliches Legitimitätsverständnis: Der Zentralbegriff der Willensautonomie ...................................................................................................... 70

10

Inhaltsverzeichnis a) Kontraktualistischer Voluntarismus: Hobbes .......................................... 71 b) Vernunftrechtlicher Autonomiebegriff .................................................... 72 aa) Subjektivrechtliche Reformulierung: Locke und Rousseau ............ 72 bb) Kategorische Dimension subjektiver Freiheit: Kant ....................... 73 cc) Gemeinsamkeit: Argumentative Überwindung der Paradoxie von Autonomie und Heteronomie im Recht ................................... 75 3. Konkurrierende Legitimitätsparadigmen der gemeinschaftsrechtlichen Diskussion ..................................................................................................... 76 a) Staatsrechtstheoretische Betrachtung der Europäischen Union ............... 78 b) Genuin gemeinschaftsrechtliche Ansätze ................................................ 79 aa) Zweckverbandstheorie und Funktionalismus.................................. 79 bb) Grundrechtsfunktionalismus ........................................................... 81 cc) Legitimation durch Bewährung ...................................................... 82 c) Kritik ....................................................................................................... 83 4. Die Berücksichtigung der Strukturbesonderheit der EU: Dynamisierung der Organisation, nicht der Konzeption von Legitimität................................ 88 a) Die Europäische Union zwischen Eigenständigkeit und kategorialer Gebundenheit........................................................................................... 88 b) Ansätze zur konstruktiven Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Besonderheiten .............................................................................. 90 aa) Dynamisierung der Inklusionsbedingungen gegenüber dem Demokratieansatz............................................................................ 90 bb) Konkordanzbildung statt funktionalistischer Kategorieverrechnung .................................................................................... 91

II.

Zum Anspruch des Repräsentationsprinzips als Konkretisierungsprinzip des universellen Legitimitätsgrundes von Recht ........................................................ 94 1. Notwendigkeit der Konkretisierung............................................................... 94 2. Normsetzungsbezug des Legitimitätskriteriums ............................................ 95 3. Kritik nichtinstitutioneller Repräsentationskonzepte ..................................... 96 4. Vorgehensweise ............................................................................................. 97

III.

Repräsentation als Institutionalisierungs- und Funktionsprinzip der parlamentarischen Legislative.............................................................................. 98 1. Repräsentation als Funktionsbedingung der Demokratie............................... 98 a) Historische Gründe für die Parlamentsbezogenheit des Repräsentationsprinzips .................................................................................... 99 b) Utilitaristische Gehalte des Repräsentationsprinzips............................. 100 c) Kritik identitär-unmittelbarer Demokratieformen ................................. 102 2. Substantiell-allgemeine Bedeutung der Repräsentation............................... 105 a) Die Dialektik der Repräsentation zwischen Identität und Identifikation: Carl Schmitt ............................................................................ 105 b) Repräsentation als verwirklichte Allgemeinheit .................................... 108

Inhaltsverzeichnis

11

c) Repräsentation als Ansatz zur Kontingenzbereinigung von Willensbildungsbedingungen ...................................................................... 113 aa) Das Repräsentationsprinzip als Ansatz zur Deempirisierung des Selbstbestimmungspostulats ................................................... 113 bb) Der Zusammenhang zwischen Wechselseitigkeit und repräsentationsbedingter Selbstdistanz ................................................. 116 3. Der Begriff des Gesetzes als handlungsformspezifisches Resultat repräsentativer Verfaßtheit der Legislative: Repräsentation als Funktionsprinzip der Gesetzesgenese .......................................................... 118 a) Gesetzesallgemeinheit und Freiheitsverwirklichung ............................. 120 aa) Terminologische Differenzierung: Formelle und materielle Allgemeinheit vs. formeller und materieller Gesetzesbegriff ....... 121 (1) Ansatzpunkte für die materiale Gesetzesallgemeinheit .......... 122 (2) Kritik am formellen Allgemeinheitsbegriff ............................ 125 b) Gewaltenteilung und Republikanismus als Gesetzesherrschaft ............. 126 aa) Gesetzesherrschaft und Gewaltenteilung ...................................... 126 (1) Gewaltenteilung als Machtbalance ......................................... 127 (2) Gewaltenteilung als Gesetzesherrschaft ................................. 127 bb) Republikanismus und Gesetzesherrschaft..................................... 130 4. Repräsentationsprinzip und Gesetzesbegriff im Spiegel der Kritik ............. 131 a) Die Zentralstellung des Gesetzes als Ausdruck idealistischer Parlamentsüberschätzung? von Bogdandys Konzept gubernativer Rechtsetzung als Gegenentwurf ............................................................ 133 aa) Hauptelemente der Position von Bogandys................................... 133 bb) Kritik............................................................................................. 136 b) Formen der Kritik am Konzept der Parlamentsrepräsentativität.............................................................. 139 aa) Das Parlament als bloße Interessenvertretung: Carl Schmitt ........ 140 bb) Faktische Machtlosigkeit des Parlaments und ministerielle Prärogative als repräsentationsrelativierende Argumente ............. 142 cc) Replik: Zum Verhältnis von Mitwirkung und Letztverantwortlichkeit und von Ideal und Wirklichkeit ................................ 142 c) Steuerungsfähigkeit und Problemlösungsvermögen des Gesetzes......... 146 IV.

Repräsentationsprofil exekutivischer Handlungsmacht ..................................... 154 1. „Absorptive“ parlamentarische Repräsentation oder Eigenständigkeit exekutivischer Repräsentation? ................................................................... 155 2. Das Legitimitätsprofil exekutivischer Normsetzung im Kontext des Gesetzesbegriffs........................................................................................... 157

V.

Zwischenergebnis .............................................................................................. 160

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Der gemeinschaftsrechtliche Vertrag als Artikulationsform repräsentativer Willensbildungsstrukturen

163

I.

Der Anspruch vertragstypischer Repräsentativität............................................. 163

II.

Die gesetzessurrogierende Dimension des Gemeinschaftsvertrages .................. 168

III.

Die konstitutionelle Dimension der Handlungsform des Gemeinschaftsvertrages.................................................................................................. 170 1. Verfassungsbegriffliche Vorgaben: Zwischen etatistischem und funktionellem Verfassungsverständnis................................................................ 170 a) Staatsbezogene Verfassungsbegriffe ..................................................... 178 b) Internationalrechtliche Verfassungsbegriffe .......................................... 181 aa) Konventionell international-rechtliches Verfassungsverständnis ................................................................................................. 181 bb) Supranationale Verfassung in der „postnationalen Konstellation“...................................................................................... 182 c) Vom konstitutionellen Paradigmenstreit zu einem institutionenakzessorischen Verfassungsbegriff........................................................ 184 2. Verfassungsprinzip: Der Gemeinschaftsvertrag als Komplementärverfassung – Ansätze zu einer geltungslogischen und materialen Bestimmung des vertraglichen Verfassungsaspektes................................... 189 a) Der Begriff der Komplementärverfassung in Abgrenzung zu konkurrierenden Verfassungsparadigmen.............................................. 190 aa) Gemeinsamkeiten moderner Verfassungsparadigmen: Mehrebenenstruktur und „konzeptionelle Nichtstaatlichkeit“............... 190 bb) Spezifika eines materialen Verständnisses der Komplementärverfassung ..................................................................................... 193 cc) Supranationaler Föderalismus....................................................... 196 dd) „Multilevel constitutionalism“...................................................... 197 b) Verfassung als Grundnorm? Zur Begriffsnotwendigkeit des Kriteriums der Letztverbindlichkeit als Merkmal der Verfassung................. 199 3. Geltungsbegriff und Vertragsgeltung........................................................... 203 a) Der Begriff rechtlicher Geltung............................................................. 204 aa) Die hierarchische Begründung als Normalfall der Normgeltung .......................................................................................... 206 bb) Der Grund der Verfassungsgeltung als außerrechtliches Problem .............................................................................................. 210 b) Das Wesen der Vertragsgeltung als normdifferentes Geltungsproblem.................................................................................................. 211 aa) Völkerrechtliche Geltungstheorien ............................................... 213 bb) Geltung als Resultat des normativen Gehaltes der Willlensbildung .......................................................................................... 217

Inhaltsverzeichnis

13

(1) Vertragsnormativität als Resultat instrumenteller Vernunftpragmatik: Vertragstheorie im Ausgang von Hobbes..... 220 (2) Vertragsverbindlichkeit und transzendentalidealistische Subjektivität bei Kant ............................................................. 222 (3) Zwischenresultat..................................................................... 226 c) Der Zusammenhang zwischen Geltungsgrund und Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung: Auseinanderfallen von pouvoir constituant und Legitimationssubjekten als Supranationalitätskriterium.................................................................... 227 aa) Duplizität der Rechtsadressaten als Kennzeichen der supranationalen Rechtsordnung............................................................. 228 bb) Autonomie oder geltungslogische Abhängigkeit? Ansatzpunkte zu einer Synthese .............................................................. 230 (1) These: Notwendigkeit einer Entkopplung von Geltungsautonomie und Anwendungsvorrang ...................................... 234 (2) Geltungslogische Autonomie: Die Position des EuGH und der Europarechtsliteratur ........................................................ 237 (3) Kritik ...................................................................................... 239 (4) Konsequenzen für die Einordnung des europäischen pouvoir constituant ................................................................. 245 (5) Offenheit der Argumentation für eine vertragstheoretische Geltungsbegründung: Ansatzpunkte für eine Annäherung ..... 248 (6) Position und Kritik des Bundesverfassungsgerichts ............... 252 (7) Aspekte paradigmatischer Überlegenheit der Position des EuGH gegenüber dem Bundesverfassungsgericht .................. 254 d) Der Geltungsgrund als Resultat der staatlichen Willensbildungsstrukturen: der Zusammenhang von staatsrechtlichen Ratifikationsstrukturen und Vertragsgeltung ......................................... 256 4. Das Wesen der Komplementärverfassung: Zur Bedeutung des Verhältnisses von verfassungsrechtlicher Integrationszielbestimmung und Staatsbegriff................................................................................................. 265 a) Die materiell legitimationstheoretische Bedeutung des Begriffs der Komplementärverfassung ...................................................................... 265 aa) Staatsbezug des Begriffs der Komplementärverfassung ............... 266 bb) Kategoriale Notwendigkeit fortbestehender Staatlichkeit............. 267 cc) Verhältnis von internationalem Recht und Staat: Zwischen Verrechtlichung und Staatenverschmelzung................................. 270 dd) Die Komplementärverfassung als Konkordanzkategorie zwischen Mitgliedstaatlichkeit und gemeinschaftsrechtlicher Eigenständigkeit ........................................................................... 275 b) Die verfassunggebende Gewalt der Komplementärverfassung: Zusammenhang von Geltungsgrund und pouvoir constituant................ 276 aa) Permanente Verfassunggebung: Marcel Kaufmann...................... 277

14

Inhaltsverzeichnis bb) Die Bürger Europas als Träger des pouvoir constituant im europäischen contrat social: Ingolf Pernice .................................. 279 c) Materialer Gehalt des Begriffs der Komplementärverfassung: Fortbestand der Mitgliedstaatlichkeit und duale Repräsentationsstruktur.... 284 aa) Begriff der durch die Komplementärverfassung zu verfassenden Komplementärordnung ..................................................... 284 bb) Zwischen Repräsentation und Selbstentäußerung......................... 286 cc) Exkurs: Entäußerungsgrenzen nach dem Bundesverfassungsgericht (Maastricht-Urteil) ............................................................ 288 dd) Komplementärverfassung und offene Verfassungsstaatlichkeit.... 294 d) Zusammenfassung ................................................................................. 299

IV.

Zwischenergebnis .............................................................................................. 300

Kapitel 4 Lösungsansätze zum Defizit des innerstaatlichen Legitimationszusammenhanges für das europäische Sekundärrecht

303

I.

Das Repräsentationsdefizit als Ausdruck gemeinschaftsrechtlicher Mehrebenenarchitektur............................................................................................... 303 1. Die Befundlage: Defizitäre Repräsentationsstruktur sekundärrechtlicher Willensbildung............................................................................................. 303 a) Das Repräsentationsdefizit als Ausdruck zu starker Mediatisierung ..... 306 b) Defizitäre Einbeziehungsintensität ........................................................ 309 c) Diffuser Subjektsbezug als Grund defizitärer Repräsentativität ............ 310 2. Bisherige Argumentationsansätze im Umgang mit dem Befund eines Legitimitätsdefizits ...................................................................................... 311 a) Funktionalistische Rechtfertigung als Ausdruck subpolitischer Entscheidungsgegenstände .................................................................... 311 b) Existente repräsentationsorientierte Ansätze ......................................... 313

II.

Kompensatorischer Charakter als Wesensmerkmal der dualen Repräsentationskonzeption ............................................................................................... 316

III.

Die Repräsentationsfunktion des Rates im dualen Repräsentationsgefüge ........ 318 1. Der Legitimationsdualismus der supranationalen Ordnung nach der herrschenden Meinung................................................................................. 318 2. Charakteristika und Defizite des Demokratiebezugs im supranationalen Zusammenhang............................................................................................ 320 a) Doppelbezug des Demokratieprinzips ................................................... 321 aa) Demokratieprinzip als staatsrechtliches Prinzip ........................... 322 bb) Gemeinschaftsrechtliche Dimension des Demokratieprinzips ...... 324

Inhaltsverzeichnis

15

b) Supranationale Defizite des demokratieorientierten Legitimationsverständnisses ........................................................................................ 326 3. Vom Demokratieprinzip zum Repräsentationsprinzip: Bestandteile der Akzentverlagerung von allgemeiner demokratischer Legitimation des supranationalen Verbunds zu einer repräsentativen Organisationsstruktur des Legislativwilllensbildungsprozesses .......................... 329 4. Repräsentationstheoretische Kritik am Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation ................................................................................ 333 a) Fehlende qualitative Bestimmung des Prinzips mittelbarer demokratischer Legitimation.......................................................................... 333 b) Föderalismustheoretische Einwände gegen das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation ................................................................. 335 c) Republikanische (gewaltenteilungsbezogene) Einwände gegen das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation ................................ 339 aa) Die Exekutivzentrierung der EU und der Gewaltenteilungsbezug in der international-rechtlichen Kategorienbildung............ 340 bb) Postulat gewaltengeteilter Verfaßtheit der EU selbst? .................. 342 cc) Rückwirkungen der exekutivischen Verfaßtheit der EU auf den innerstaatlichen Verfaßtheitszusammenhang ......................... 346 d) Zwischenergebnis .................................................................................. 349 5. Wesen der Staatenrepräsentation ................................................................. 349 a) Funktion der Staatenrepräsentation durch den Rat als Form des Wiedergewinns verlorener staatlicher Steuerungsmacht ....................... 349 b) Struktureller Unterschied von Individualrepräsentation und Staatenrepräsentation.................................................................................. 351 aa) Parlamentarismus als gesamtrepräsentatives Konzept .................. 351 bb) Staatenrepräsentation als Selbstrepräsentation.............................. 352 (1) Wesen der koordinativen Selbstrepräsentation ....................... 352 (2) Kollegialitätsprinzip als Grenze der Ausgestaltung des Willensbildungsprozesses....................................................... 354 IV.

Kompensationsfunktion der originären supranational-demokratischen Repräsentation durch das Europäische Parlament.............................................. 355 1. Demokratietheoretische Einschränkungen einer originär-repräsentativen Position des EP ............................................................................................ 357 a) Demokratie als Ausnahmeerscheinung internationaler Rechtsverhältnisse ............................................................................................ 357 b) Paradoxe Effekte eines mehrebenenbezogenen Demokratiebegriffs ..... 360 aa) Staatsorientiertes Demokratieprinzip ............................................ 362 bb) Pluralistische Konzeptionen.......................................................... 364 cc) Syntheseansätze ............................................................................ 366 (1) Institutionenbezug statt Staatsbezug ....................................... 366 (2) Die supranationale Parlamentarisierung als reaktiver Integrationsfortschritt ............................................................. 369

16

Inhaltsverzeichnis (3) Zwischenergebnis ................................................................... 372 2. Die rechtskategoriale Bedeutung des Souveränitätsparadigmas für die Verwirklichungsfähigkeit von demokratischer Repräsentation auf supranationaler Ebene.................................................................................. 376 a) Souveränitätstheoretische Problematik des kompensatorischen Erstarkens des supranationalen Parlamentarismus................................. 376 b) Souveränitätsverlust durch supranationale Parlamentarisierung?.......... 378 c) Vom überkommenen Souveränitätsverständnis zu einem selbstbestimmungsbezogenen Souveränitätsbegriff........................................ 379 d) Grenzen des modernen Souveränitätsbegriffs für die Parlamentarisierung der Sekundärrechtsetzung....................................................... 385 3. Anforderungen an die Identität des supranationalen Verbundes als Voraussetzung originär parlamentarischer Repräsentation .......................... 387 a) Volksbegriff und Identität ..................................................................... 388 aa) Der Zusammenhang zwischen Staat und Volk als kategoriale Problematik für die Herauslösung repräsentativer Demokratie aus dem staatsrechtlichen Kontext ................................................ 388 bb) Unverfügbarkeiten des Konzepts vorstaatlicher Homogenität...... 390 b) Ansatzpunkte einer Relativierung des Junktims von Volksbegriff und Demokratieprinzip .......................................................................... 392 aa) Wesen des Volksbegriffs als Identitätsinbegriff ........................... 393 bb) Föderalismus als Einschränkungskategorie gegenüber geschlossenen Identitätskonzeptionen .............................................. 397 (1) Grundlagen eines staatstranszendierenden Föderalismusbegriffs.................................................................................... 397 (2) Explikation: Das bundesdeutsche Verfassungsrecht als Beispiel der Notwendigkeit einer Konkordanzbildung zwischen Volksbegriff und Föderalismusprinzip.................... 401 (aa) Art. 28 GG ..................................................................... 402 (bb) Art. 23 GG ..................................................................... 404 (3) Resultat ................................................................................... 406 cc) Kern der Anforderung des Repräsentationsprinzips: Gemeinschaftsidentität statt Volk.............................................................. 406 (1) Die Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs als Typusbegriff ..................................................................................... 406 (2) Notwendige Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs................ 407 (3) Aspekte des Identitätsbegriffs: These der Kongruenz von Regelungsregime und Repräsentationsintensität..................... 410 (4) Ansätze für ein Vorhandensein einer europäischen Identität................................................................................... 411 c) Organinterne Voraussetzungen: Gesamtrepräsentation und Abbildung der europäischen öffentlichen Meinung durch das Europäische Parlament............................................................................................... 414

Inhaltsverzeichnis

17

d) Zwischenergebnis .................................................................................. 419 V.

Alternativen: Kompensation durch Verstärkung nationalparlamentarischer Partizipation im europäischen Willensbildungsprozeß ...................................... 420 1. Inklusion nationaler Parlamente als direktester Weg der Legitimationsvermittlung?................................................................................................. 420 2. Möglichkeiten nationalparlamentarischer Partizipation auf Gemeinschaftsrechtsebene ....................................................................................... 423 3. Nachteile verstärkter Nationalparlamentarisierung...................................... 424 a) Unzulänglichkeit bloß faktischen Einflusses ohne substantielle Verantwortlichkeit ................................................................................. 425 b) Kompensationscharakter der Einbeziehung einzelstaatlicher Parlamente für unzulängliche Kompetenzstrukturen ..................................... 426 c) Repräsentationstheoretische Unverortbarkeit der einzelstaatlichen Parlamente im gemeinschaftsrechtlichen Willlensbildungsprozeß........ 427 d) Transparenz- und Praktikabilitätsdefizite .............................................. 429

VI.

Zwischenergebnis .............................................................................................. 430 Kapitel 5 Ansätze zur Umsetzung von Legitimitätsprämissen in eine Kompetenzstruktur

433

I.

Kompetenz als Resultat legitimatorischer Strukturprädestination verfügbarer Handlungsformen...................................................................................... 433 1. Der Anspruch der Handlungsformorientierung als Kompetenzgrundlage ... 433 2. Der Begriff der Kompetenz und seine Verwendung im Kontext der Mehrebenenstruktur ..................................................................................... 436 a) Kompetenzordnung als Freiheitsordnung .............................................. 437 b) Integrierte Struktur von Organ- und Verbandsebene im supranationalen Mehrebenensystem .................................................................... 440 c) Verfügungsspielräume des Kompetenzmodells für politische Prärogativen................................................................................................ 443 d) Wesentlichkeitstheorie und Subsidiaritätsprinzip als Fundamentalprinzipien einer europäischen Kompetenzverfassung............................ 444

II.

Bestandsaufnahme: Die Grundstrukturen der gemeinschaftsrechtlichen Legislativkompetenz im geltenden Recht .......................................................... 446 1. Divergenzen in der Grundstruktur von Gemeinschafts- und Staatskompetenz........................................................................................................... 446 a) Die Gemeinschaften als Finalprogramm ............................................... 446 b) Fehlendes bipolares Konzept................................................................. 449 c) Resultat: Friktionen im kompetenziellen Gesamtsystem....................... 452

18

Inhaltsverzeichnis aa) Unionskompetenzen als Querschnittskompetenzen ...................... 452 bb) Gemeinschaftsrechtsvorrang als funktionelle Auflösung der Interferenz? ................................................................................... 454 2. Kompetenzprinzipien des geltenden Gemeinschaftsrechts .......................... 456 a) Duale kompetenzprinzipielle Struktur: Kompetenzzuweisungsnormen und Kompetenzrestriktionsprinzipien....................................... 456 b) Einzelprinzipien..................................................................................... 458 aa) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG) .................................................................................... 458 bb) Antagonistische Prinzipien im Primärrecht................................... 459 (1) Art. 308 EG ............................................................................ 460 (2) Richterrecht: Theorie der implied powers und effet utileGedanke.................................................................................. 461 c) Ansätze einer Kompetenzdifferenzierung von ausschließlichen und nicht-ausschließlichen Kompetenzen .................................................... 465 3. Veranwortungsstrukturen im Organgefüge: Verfahren der Sekundärrechtsetzung nach geltendem Recht............................................................. 471 a) Verantwortlichkeiten von Rat und Kommission.................................... 471 b) Verantwortlichkeitsabstufungen hinsichtlich des EP im Prozeß der Sekundärrechtsetzung............................................................................ 473 aa) Fehlendes Initiativrecht................................................................. 473 bb) Mangelnde substantielle Mitverantwortlichkeit im Anhörungsverfahren .............................................................................. 476 cc) Ratsabhängige Mitverantwortlichkeit des EP im Verfahren der Zusammenarbeit (Art. 252 EG) .................................................... 476 dd) Symmetrische Organverantwortlichkeit im Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EG) .................................................... 478 ee) Bewertung der Zuordnung von Aufgabenfeldern zu den Willensbildungsformen................................................................. 482 4. Zwischenergebnis ........................................................................................ 483

III.

Restrukturierung des horizontalen Kompetenzgefüges: Die Wesentlichkeitstheorie als Strukturprinzip eines unionsinternen Legislativorganigramms............................................................................................................... 484 1. Vorbehaltssysteme im Staatsrecht und im supranationalen Verbundsrecht ............................................................................................................. 484 a) Das System staatsrechtlicher Normenhierarchisierung: Gesetzesvorrang, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt ............. 484 b) Ansätze einer gemeinschaftsrechtsinternen Vorbehaltsdogmatik de lege lata ................................................................................................. 488 aa) Vertragsvorbehalt und Abgrenzung zum Komitologieverfahren als Ansätze gemeinschaftsrechtlicher Vorbehalte.............. 489 bb) Von der Richtlinie zum Vorbehalt eines europäischen Rahmengesetzes? ................................................................................ 491

Inhaltsverzeichnis

19

cc) Gründe für die fragmentarische gemeinschaftsrechtliche Vorbehaltsdogmatik...................................................................... 492 2. Die Wesentlichkeitstheorie als Maßstab innerstaatlicher Verteilung von Legislativkompetenzen ................................................................................ 494 a) Die Wesentlichkeitstheorie als universales Bestimmungskriterium der Vorbehaltsreichweite ....................................................................... 495 b) Kritikpunkte der Wesentlichkeitstheorie ............................................... 499 aa) Mangelnde Bestimmtheit der Wesentlichkeitstheorie? ................. 502 (1) Grundlagen der Kritik an mangelnder Bestimmtheit .............. 502 (2) Mängel der Rechtsprechung zur Wesentlichkeitstheorie ........ 503 bb) Parlamentsmonistische Konsequenzen der Wesentlichkeitstheorie? .............................................................................................. 507 cc) Kategorial tragfähige Gehalte und Ansätze zu einer Konkretisierung der Wesentlichkeitstheorie ............................................. 508 3. Grundprobleme der Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf das Gemeinschaftsrecht...................................................................................... 510 a) Affirmativer Gehalt: Legitimatorische Zulässigkeit untergesetzlicher Exekutivregelung......................................................................... 511 b) Optionen der Behandlung material gesetzlicher Regelungsgegenstände im Gemeinschaftssekundärrecht de lege ferenda nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie..................................................... 513 aa) Die Wesentlichkeitstheorie als Grundlage eines gemeinschaftsrechtlichen Vertragsvorbehalts?......................................... 515 bb) Die Wesentlichkeitstheorie als Grundlage eines sekundärrechtsimmanenten Vorbehalts....................................................... 517 (1) Vorbehaltsverhältnis zwischen Richtlinie und Verordnung? ...................................................................................... 517 (2) Fortentwicklung der Differenzierung zwischen Sekundärrecht und subdelegierten Durchführungsrechtsakten .............. 519 cc) Mitentscheidungsvorbehalt als supranationales Surrogat der Wesentlichkeitstheorie.................................................................. 520 4. Zwischenergebnis ........................................................................................ 522 IV.

Restrukturierung der vertikalen Kompetenzbalance: Das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip der Europäischen Union ................................... 524 1. Verfassungsparadigmatische Implikationen des Subsidiaritätsprinzips....... 527 a) Ideengeschichtliche Einordnung und konzeptionelle Konsequenzen .... 527 b) Spezifische Interpretationen, insbesondere: Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip der Regionenautonomie ................................................. 530 c) Das Subsidiaritätsprinzip als legitimatorisches Fundamentalprinzip? ... 532 d) Das Subsidiaritätsprinzip als Prozeduralisierungsprinzip der Komplementärverfassung.............................................................................. 533 2. Ein bloßer Programmsatz? Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips............ 537 a) Die konstruktive Bedeutung des Justitiabilitätsproblems ...................... 537

20

Inhaltsverzeichnis b) Justitiabilität von Kompetenzprinzipien als Postulat der Verfassungsstaatlichkeit................................................................................... 541 c) Exkurs: Die Justitiabilität von Kompetenzausübungsregeln in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................................... 543 aa) Grundlinien der Rechtsprechung .................................................. 543 bb) Kritik............................................................................................. 545 (1) Richterliche Selbstbeschränkung und Verfassungsvorrang als Konfliktkategorien ............................................................ 546 (2) Justitiable Kompetenzverteilungsprinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .................... 547 (3) Verfassungsgerichtliche Kompetenzjudikatur als Problem verfassungsorganisatorischer Multipolarität ........................... 549 (4) Justitiabilität von Rechtsprinzipien im Spannungsverhältnis von Recht und Politik.................................................. 550 cc) Zwischenergebnis ......................................................................... 552 3. Methoden der Herstellung eines subsidiaritätskonformen Kompetenzbalancegefüges: Zwischen Kompetenzkatalog, dual federalism und Stärkung der kompetenzrestringierenden Ausübungsregeln ........................ 553 a) Vier Hauptalternativen der Resystematisierung von Unionskompetenzen .................................................................................................... 554 b) Kritik bloßer redaktioneller Reformen .................................................. 556 c) Nachteile einer Preisgabe der unionstypischen Finalstruktur ................ 556 d) Nachteile eines dualen Kompetenzsystems ........................................... 558 e) Folgerungen........................................................................................... 559 4. Resystematisierung des sekundärrechtlichen Handlungsformspektrums als Grundlage einer Optimierung des Wirkungsfeldes des Subsidiaritätsprinzips................................................................................... 560 a) Systematische Differenzierung von Verordnung und Richtlinie als subsidiaritätsfördernder Ansatz ............................................................. 561 b) Typisierung von Kompetenzen als subsidiaritätsverstärkender Ansatz?....................................................................................................... 567

V.

Die Vorschläge des Konventsprozesses im Lichte einer repräsentationstheoretischen Bewertung.................................................................................... 570 1. Die Reformvorschläge der Konventsverfassung in Teil I Titel III und Teil III.......................................................................................................... 570 a) Hauptaspekte der Reform ...................................................................... 570 b) Bewertung ............................................................................................. 573 2. Die Reformvorschläge der Konventsverfassung in Titel V ......................... 577 a) Ansätze zu einem gemeineuropäischen Vorbehaltssystem.................... 577 aa) Grundprinizpien des neuen Vorbehalts......................................... 577 bb) Weiterreichende Alternativen: Europäisches Organgesetz? ......... 581

Inhaltsverzeichnis

21

b) Ansätze zu einer konsistenten Differenzierung von Richtlinie und Verordnung? .......................................................................................... 582 3. Die Beiträge des Subsidiaritätsprotokolls zur Reformierung des Subsidiaritätsprinzips ............................................................................................. 584 a) Hauptaussagen....................................................................................... 584 b) Bewertung ............................................................................................. 585 VI.

Repräsentationstheoretische Vorgaben für den supranationalen Willlensbildungsprozeß: Grund und Grenze von Mehrheitsentscheidungen des Rates im Normsetzungsprozeß..................................................................................... 588 1. Unterscheidung von Einzel- und Gesamtrepräsentation als majoritätsprinzipielle Problematik............................................................................... 588 2. Legitimationsstrategien in bezug auf das Mehrheitsprinzip......................... 591 3. Spezifische Unterschiedlichkeit von individueller und staatlicher Selbstbestimmung........................................................................................ 598 4. Lösungsmöglichkeiten in der Einschränkung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens........................................................................................... 604

VII. Zusammenfassung.............................................................................................. 606 Gesamtzusammenfassung (in Thesen)

611

Abstract

621

Literaturverzeichnis

627

Sachregister

675

Kapitel 1

Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept als Entwurf einer legitimitätsbezogenen Ordnung

I. Zum Anspruch eines handlungsformorientierten Kompetenzkonzepts Die vorliegende Untersuchung macht sich zum Anspruch, das System der europäischen Rechtsetzung einer legitimationstheoretischen Analyse zu unterziehen und das für das europäische Verfassungsgefüge charakteristische Legitimationsprofil als Ausgangspunkt einer hieraus resultierenden Kompetenzstruktur aufzufassen. Zielsetzung der Arbeit ist demnach die Herstellung einer konstruktiven Konvergenz zwischen den allgemeinen Prinzipien der Legitimität von Recht einerseits und der praktischen Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits. Konstruktionserwägungen zum institutionellen Selbstverständnis der Europäischen Union werden gegenwärtig aufgrund der im Vollzug befindlichen konstitutionellen Restrukturierung in einem besonderen Maße aktuell: Die von der Europäischen Union gegenwärtig zu bewältigenden Herausforderungen – schlagwortartig charakterisiert durch die Erweiterung, institutionelle Reformen und den vom Verfassungskonvent ausgehenden Konstitutionalisierungsprozeß – lassen eine der größten institutionellen Weichenstellungen in der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses erkennen, die dazu bestimmt ist, die paradigmatische Grundlage für die künftige, einerseits kompetentiell fortschreitend erstarkte, andererseits in ihrer Willensbildung zunehmend komplexe Europäische Union zu bilden. Die Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten findet insofern gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Rechtsfortschritts des europäischen Integrationsprojekts auch eine drängende rechtspraktische Notwendigkeit vor. In diesem von Aktualität geprägen thematischen Umfeld materieller Verfassungsrevision hat die Auseinandersetzung mit der Kompetenzstruktur eine Schlüsselstellung inne1. Das 1

Deutlich artikuliert vom Rat in der bereits in Laeken den Konvent beauftragenden Fragestellung, „wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgren-

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

dokumentiert sich namentlich in dem Stellenwert, die die Problematik der Kompetenzverteilung der Rechtswissenschaft2 wie Politik3 neuerdings einnimmt. Weitgehende Einigkeit ungeachtet im einzelnen divergierender Auffassungen besteht im Befund, daß die gegenwärtige Kompetenzordnung die Aufgabe einer verläßlichen Abgrenzung nur teilweise erfüllt und daher verbesserungsbedürftig erscheint4. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der genuin europäischen Legitimitätsfragestellung kann demgegenüber bereits eine länger andauernde Diskussion vorweisen. In der zahlreichen Literatur zur Europäischen Union lassen sich nicht erst seit neuerem vielfältige Beiträge zu den legitimatorischen Grundlagen der Integration erkennen, die in auffälligem Kontrast zur nahezu völlig fehlenden Thematisierung der Gemeinschaftslegitimität in der Anfangszung der Kompetenzen erreicht und ihre Einhaltung überwacht werden könne“, Dok. CONFER 4820/00; vgl. hierauf bezugnehmend zur Bestandaufnahme der gegenwärtigen Kompetenzstrukturen „Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten – Gegenwärtiges System, Problemstellung und zu prüfende Optionen“, Dok. CONV 47/02, S. 1; dazu auch Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8 ff. 2 Kompetenzfragestellungen neuerer Art thematisieren namentlich von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union. Rechtsdogmatischer Bestand und verfassungspolitische Reformperspektiven, EuGRZ 2001, S. 441; T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999; Bieber, Abwegige und zielführende Vorschläge: Zur Kompetenzabgrenzung der Europäischen Union, Integration 2001, S. 307 ff.; monographisch insbesondere Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union. Zur Notwendigkeit und zu den Vorteilen bzw. Nachteilen der Aufstellung eines Kompetenzkataloges in den Gemeinschaftsverträgen, 2000; unter dem Blickwinkel einer mit Justitiablilitätsaspekten verknüpften Fragestellung Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000; ders., Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577 ff. 3

Dominant hier bislang vor allem die Anstöße aus den deutschen Bundesländern, vgl. Stoiber, Eckpunkte des europäischen Reformprozesses, europapolitische Grundsatzrede vom 8. 11. 2001, www.whi-berlin.de/stoiber.htm; Clement, „Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza“, FCE 03/01, www.whi-berlin.de/clement.htm. Vgl. aber auch allgemein die im Rahmen der Verfassungsdiskussion geäußerten Kompetenzvorschläge, hierzu etwa Verhofstadt, A Vision of Europe, http://ig.cs.tu-berlin.de/oldstatic/w2001/eu1/dokumente/, sowie die Nachweise von Pernice, Zur Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union. Öffentliche Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages, WHI-Paper 2/01, http://www.rewi.hu-berlin.de/WHI/deutsch/index.htm. 4 Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 31 ff. m.w.N.; Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11, 16 f.; M. Rainer Lepsius, Die Europäische Union als Herrschaftsverband eigener Prägung, JM Working Paper 7/00, S. 4. Schoch, Die Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109, 115 f. m.w.N.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

25

zeit stehen5. Gleichzeitig wird kaum ein Thema rechtswissenschaftlichen Gegenstands derzeit so breit und unter so vielen Facetten und Blickrichtungen diskutiert wie das der Fortentwicklung der Europäischen Union in näherer Zukunft6. Insofern sind Kompetenzdebatte, Legitimationsstruktur und institutioneller Ausblick drei wesentliche thematische „Eckpfeiler“ der rechtswissenschaftlichen Annäherung an das Phänomen Europa, die gemeinsam gewissermaßen die methodische Spannweite der Bestimmung von Prinzipienverhältnissen vorgeben, innerhalb derer sich die vorliegende Untersuchung zu bewähren hat. Die gegenwärtige Diskussion betrifft nicht nur das institutionelle Selbstverständnis der Integrationsgemeinschaft, welche seit den sechziger Jahren breiten Raum eingenommen hat. Sie wird flankiert und überlagert von demokratietheoretischen Erwägungen politologischer Provenienz7, soziologischen Betrachtungen8, wirtschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzungen insbesondere unter dem Aspekt der ökonomischen Analyse des Rechts9, aber vor allem durch die 5 So auch Ronge, Legitimität durch Subsidiarität. Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation einer überstaatlichen politischen Ordnung in Europa, 1998, S. 12: „die Legitimitätsfrage […] hat […] hinsichtlich der Europäischen Gemeinschaften jahrzehntelang keine Rolle gespielt“; vgl. auch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 128, der von der „alten“ EG spricht, die von Exekutivrechtsetzung und dem Ausweichen auf alternative Legitimitätsstrategien geprägt war; andererseits Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, NJW 2002, S. 993 ff.: „schon jahrzehntelang diskutierte Frage“. 6 Beispiele aus der umfangreichen tagespolitischen Diskussion: „Gebt Europa eine Verfassung“, Jacques Delors und Václav Havel – der frühere EU-Kommissionschef und Tschechiens Präsident im Gespräch, DIE ZEIT Nr. 6 vom 1. Februar 2001, S. 3. J. Fischer, Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa – Welche Verfassung für Europa?, 2001, S. 299-310. Oeter, Die Genialität der Verträge, F.A.Z. vom 6. September 2001, S. 8; Di Fabio, Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich? Die Spannung zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitgliedstaaten ist kein Hindernis für die Einheit Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Februar 2001, S. 8; vgl. zum ganzen auch Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, NJW 2002, S. 993 ff.; grundlegend Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001. 7 Hierzu etwa Jachtenfuchs, Die Europäische Union – ein Gebilde sui generis?, in: Wolf (Hrsg.), Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, 1997, S. 23; Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung? Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen, Zeit 27/2001; Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, 1999. 8 Habermas (Fn. 7). 9 Vgl. Wilming, Institutionelle Konsequenzen einer Erweiterung der Europäischen Union. Eine ökonomische Analyse der Entscheidungsverfahren im Ministerrat, 1995; grundlegend zu Begründung und Grenzen dieser Disziplin Eidenmüller; Effizienz als

26

Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

Reformerwägungen aus der Sphäre der Politik10. Die sich dabei im einzelnen stellenden, kategorial unterschiedenen Fragen nach Entscheidungsverfahren, Kompetenzverteilung und institutionellem Gefüge in ihrer Beziehung zu den verfügbaren rechtlichen Handlungsformen werden dabei nicht selten vermengt. Oftmals besteht der Eindruck, daß unter dem Druck pragmatischer Entscheidungsnotwendigkeiten, wie sie gerade mit der Erweiterung und institutionellen Reform gehäuft auftreten, eine prinzipiengegründete Fragestellung allzu schnell ausgeblendet wird. Überdies wird die Diskussion auch quantitativ zusehends unüberschaubar. In der Auseinandersetzung mit strukturellen Grundfragen läßt sich trotz des Entwicklungsfortschritts der Europäischen Union ein Erkenntnisfortschritt in der Durchdringung des Verhältnisses von Europäischer Union und Mitgliedstaaten nicht in jeder Hinsicht konstatieren11. Nach der hier vertretenen These handelt es sich bei allen institutionellen Entwicklungsfragen, vorrangig aber bei der im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehenden Problematik der Kompetenzentwicklung, nicht um einen Gegenstand, der Überlegungen bloßer Pragmatik überlassen werden könnte, sondern bedarf ein angemessener Umgang mit der Problemstellung einer sachhaltigen Konkretisierung kategorischer Rechtsprinzipien12, d. h. den vorpositi-

Rechtsprinzip. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 2. Aufl. 1998; skeptisch gegenüber dem Effizienzprinzip Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 6 ff. 10

J. Fischer (Fn. 6), S. 299 ff.; Chirac, Notre Europe – Discours prononcé par Monsieur Jacques Chirac, Président de la République Française devant le Bundestag, 27.6.2000, www.botschaft-frankreich.de; W. Schäuble, Europa vor der Krise? FAZ Nr. 132 v. 8. 6. 2000, S. 10. 11 Das zeigt sich etwa daran, daß die kategoriale Durchdringung der heutigen Integration in einigen paradigmatischen Grundbezügen nicht wesentlich über das hinausgegangen ist, was bereits in der Frühphase der europäischen Integration diskutiert worden ist. Vgl. als in wesentlichen Aussagen nach wie vor paradigmatisch gültig etwa Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVBl. 1964, S. 781 ff.; Ophüls, Juristische Grundgedanken des Schumanplans, NJW 1951, S. 298 ff.; weiterführend in der Herstellung von Strukturbezügen zum Staatsorganisationsrecht andererseits aber Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998; grundlegend in der Strukturanalyse auch von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999; ders., Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: ders. (Hrsg.), Die europäische Option, 1993, S. 97 ff.; Pernice/Franz C. Mayer/Wernicke, Renewing the European Social Contract. The Challenge of Institutional Reform and Enlargement in the Light of Multilevel Constitutionalism, King's College Law Journal Vol. 12, Issue 1, 2001, S. 61-74. 12 Höffe, Kategorische Rechtprinzipien, 1990, S. 12, qualifiziert diese als notwendigen „Kontrapunkt“ eines im übrigen pragmatisch-utilitaristisch dominierten und methodisch vorrangig empirisch ausgerichteten Rechtsdenkens. Zum „Vulgär-Funktionalismus“ europarechtlicher Betrachtung auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 195.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

27

ven Grundlagen rechtlicher Legitimität überhaupt, in der Anwendung auf das jeweilige Rechtsgebiet13. Der Umgang der Politik mit den sich stellenden institutionellen Problemen der europäischen Gemeinschaften läßt eine derartige Orientierung an Prinzipien häufig vermissen14, auch wenn das Bemühen um eine grundsätzlich sachangemessene Problembewältigung ein entsprechendes Bewußtsein für die Problematik durchaus zunehmend dokumentiert15. Viele der Reformvorschläge nicht nur politischer Herkunft zeigen, daß das Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten noch immer unzureichend durchdrungen ist. Dies gilt besonders dann, wenn nicht die abstrakte geltungslogische Relation beider als Teilrechtsordnungen in Frage steht16, sondern die Fragestellung zugespitzt wird auf eine konkrete Verhältnisbestimmung der rechtlichen Handlungsformen staatsrechtlicher und supranationaler Herkunft. Hier dominiert weithin ein Verständnis, das die sekundärrechtlichen Rechtsformen als von den primärrechtlichen Vertragsgrundlagen abgeleitet ansieht und sich im übrigen für die Verhältnisbestimmung zum Staatsrecht mit der Heraushebung von Typuskennzeichen supranationaler Ordnung, insbesondere unmittelbarer Anwendbarkeit17 und Anwendungsvorrang18 begnügt. In welchem gel13

Diesen Anspruch artikuliert für das Recht der europäischen Gemeinschaft deutlich etwa M. Köhler, Form und Inhalt europäischer Strafrechtsangleichung. Beitrag zum Frankfurter Forum zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundlagen europäischen Strafrechts, KritV 2001, S. 305 ff. 14 J. Fischer (Fn. 6); Chirac (Fn. 10); Lobkowicz, Legitimität oder Effizienz – das Dilemma der Regierungskonferenz, in: Andreatta u. a. (Hrsg.), Gleichheit für alle Staaten in einer größeren EU?, 1996, S. 48-57. 15 Beispielhaft hierfür etwa das „Berliner Modell“, Berliner Staatskanzlei, „Verbesserte Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten – Entwurf eines Kompetenzkataloges“, Skzl. EB 4 (Franßen-de la Cerda, 21.1.1999), I.3.b., sowie die Vorschläge zur Herausbildung von Kompetenzstrukturen in Anlehnung an das bundesdeutsche System, vgl. Clement, Europa gestalten – nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach Nizza, Rede an der Humboldt Universität Berlin vom 12. 02. 2001, www.whi-berlin.de/clement.htm; Stoiber, Eckpunkte des europäischen Reformprozesses, europapolitische Grundsatzrede vom 8. 11. 2001, www.whi-berlin.de/stoiber.htm. Vgl. auch den Giscard-Bericht, Dok. EP A3/163/90/B; Bundesratsentschließung vom 15.12.1995, BR-Dr. 667/95. 16 Dies ist der hauptsächliche Anknüpfungspunkt der paradigmatischen Divergenzen zwischen staatsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Betrachtungsweise, vgl. einerseits BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; andererseits EuGH, Slg. 1963, 1, 25 – Van Gend & Loos. Zur Bedeutung der paradigmatischen Standortbestimmung in concreto ausführlich unten, Kap. 4. 17 Vgl. statt aller nur Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Rdnr. 62 ff. m.w.N.; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 82 ff. m.w.N. 18 Dazu EuGH, Slg. 1963, 1, 25; Slg. 1964, 1251, 1269; Slg. 1970, 1125, 1171; mißverständlich Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643, Rdnr. 17 f. – Simmenthal; Rs. 237/82, Slg. 1984, 483 ff., Rdnr. 6 – Jongeneel Kaas; klarstellend EuGH, verb. Rs. C-10/97 – 22/97, Slg. 1998, I-6307, Rdnr. 18 ff.; BVerfGE 37, 271 – Solange I; BVerfGE 73, 339 –

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

tungslogischen und normativ-legitimatorischen Verhältnis hingegen Staatsverfassung, Gesetz und Verordnung als staatsrechtliche Formen einerseits sowie Vertrag, EG-Verordnung, Richtlinie und Implementationsakte als europarechtliche Rechtssätze andererseits im einzelnen zueinander stehen, bleibt in weiten Teilmomenten der Fragestellung im Dunkeln. Bloße metaphorisch gegründete Analogien zum Staatsrecht19 genügen für eine solche Verhältnisbestimmung ebensowenig wie pragmatische Lösungsvorschläge, die auf die vordergründige Behebung von partikularen Konstruktionsdefiziten gerichtet sind, ein einheitliches rechtsprinzipielles Konzept jedoch vermissen lassen. Aber auch dort, wo die rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit den institutionellen und legitimatorischen Voraussetzungen der Europäischen Union eine präzisere Formulierung von Legitimitätsbedingungen im Verhältnis der Teilrechtsordnungen zueinander instruiert20, bleiben doch die politischen Vorstellungen bezogen auf die Erweiterung des Mitgliederkreises sowie die modisch als „Nizza-leftovers“21 bezeichneten verbleibenden institutionellen Reformaufgaben hiervon eigentümlich unbeeindruckt22. Solange II; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 632-634; Koenig/Haratsch, Europarecht 1998, S. 45 ff.; T. Fischer/Köck, Europarecht 1995, S. 330 ff.; Mathijsen, European Union Law, 6. Aufl. 1995, S. 153 ff.; ausführlich, auch zum Verhältnis beider Dimensionen des Gemeinschaftsrechts, Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 92 (2001), S. 58 ff.; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Festschrift Stern 1997, S. 1239 ff., 1263; Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 48 ff. 19 Vgl. nur Oppermann, Europarecht, 1991, Rdnr. 444, 448: Die Bezeichnung der Verordnung als „Europa-Gesetz“ sei zutreffend wegen der vergleichbaren generellabstrakten Regelungsfunktion. Ders., Rdnr. 448, weist wiederum darauf hin, daß diese Begrifflichkeit zumindest „integrationspolitisch verständlich“ erscheine. Zur Verfassungsdimension des Vertrages in einer über bloße Metaphorik hinausgehenden Richtung vgl. Kap. 3. Zur Problematisierung des Gesetzesbegriffs als Grundlage einer metastaatlichen Handlungsformsystematik vgl. unten, Kap. 2. 20 Ansätze zu einer eigenständig verfassungstheoretischen Erfassung des supranationalen Verbunds namentlich bei Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.; ders., Multilevel Contitutionalism in the European Union, WHI-Paper 05/02, www.whiberlin.de/pernice-constitutionalism.htm; von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 61 ff.; grundlegend ebenfalls Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001. 21 Dazu etwa Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, FCE Spezial vom 6. Juli 2000, Rdnr. 7 (= JZ 2000, S. 866 ff.). 22 Dies dokumentiert sich insbesondere an der Inkongruenz von europapolitischen Grundsatzreden ohne unmittelbaren Institutionalisierungsbezug einerseits im Kontrast zu teilweise höchst pragmatischen Lösungsvorschlägen zur institutionellen Reform andererseits, vgl. Bury, Entwicklung und Kernpunkte der Europäischen Verfassung aus Sicht der Bundesregierung, Vortrag vor dem Jean-Monnet-Haus für Europäische Politik Berlin vom 12. Mai 2003: „Handlungsfähigkeit stärken“: undifferenziert in der Beto-

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

29

Die mit der zunehmenden institutionellen Verflechtung einhergehende rechtliche Öffnung moderner Staaten (in Abkehr vom klassischen Souveränitätsbegriff23) zugunsten zwischen- und überstaatlicher Integrationsbemühungen ist zunächst ein Faktum politischen Wollens, das seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag insbesondere in Art. 23, 24 GG gefunden hat24. Die Europäische Union als Hauptprofiteur dieser die Integrationsoffenheit des staatlichen Selbstverständnisses dokumentierenden verfassungsrechtlichen Schnittstelle ordnet sich staatsphilosophisch einerseits in die staatsrelativierenden Phänomene internationalisierungs- und globalisierungsbedingter Abnahme staatlicher Steuerungsmöglichkeiten ein25. Die europäische Integration ist aber als rechtliche Integration andererseits nicht gleichzusetzen mit der Durchsetzung marktförmiger Selbstregelungskräfte gegen den staatlichen Ordnungsanspruch, sondern verwirklicht den Anspruch institutioneller Selbstbestimmung auf suprastaatlicher Ebene mit den ihr eigentümlichen Steuerungsmöglichkeiten und ist daher – als rechtliches Phänomen – unter dem Aspekt institutioneller Selbsterweiterung und -bestimmung in der Erschließung neuer Regelungsebenen zu thematisieren: Die Europäische Union ist – auch und vor allem – eine Rechtsetzungsgemeinschaft26.

nung dieser Notwendigkeit auch die Arbeitsgruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ des Europäischen Konvents, vgl. Dok. CONV 426/02. 23

Zum EU-integrationsbedingten Obsoletwerden des klassischen Nationalstaats Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, FS Everling 1995, S. 945 ff.; zur Modifikation des Souveränitätsbegriffs unter der Einwirkung der supranationalen Öffnung der Staatsrechts Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; grundlegend zum staatsrechtlichen Verfassungsparadigma Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff.; ders., Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; zu Auswirkungen der Globalisierung auf nationalstaatliche Ordnungsmodelle Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2001; zur Bedeutung des Souveränitätsbegriffs für die Frage nach originärdemokratischen Konstruktionsmöglichkeiten im supranationalen Institutionengefüge s. unten, Kap. 4. 24

Zur verfassungstheoretischen Zentralbedeutung der staatsverfassungsrechtlichen Ermächtigungsnormen vgl. ausführlich auch unten, Kap. 3., III. 3. d). 25 Dazu Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2001, S. 14, m.w.N.; zum Phänomen der Globalisierung in seiner staatenrelativierenden Bedeutung Jost Delbrück, Globalization of Law, Politics and Markets – Implications for Domestic Law. A European Perspective, Indiana Journal of Global Legal Studies 1993, S. 9; Scharpf, Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, 1997; für eine globalisierungsbedingte Gegenüberstellung überkommener Nationalstaatlichkeit einerseits und moderner Transnationalstaatlichkeit andererseits aus soziologischer Perspektive Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, 1998, S. 48; vgl. auch Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521, 522. 26

Treffend Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 65.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

Der Fortschritt, der für rechtliche Freiheitsverwirklichung in einem zusehends komplexeren lebensweltlichen Bezugssubstrat aus Systemen intensiver rechtlicher Integration wie dem der EU resultiert, erscheint weithin evident. Dies gilt umso mehr, da der ursprüngliche Ansatz einer rein wirtschaftszentrierten Integrationsgemeinschaft27 mittlerweile weit ausgreifend überschritten ist und dem Anspruch einer ganzheitlichen Rechtsgemeinschaft28, einem „Europa der Bürger“29, gewichen ist30. Mag letzteres auch bislang unerreichtes Ideal bleiben, so dokumentieren allein die Kompetenztitel von EU- und EGVertrag, die so unterschiedliche Bereiche wie Sozialpolitik, Umweltschutz, oder polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit umfassen, daß kaum ein Regelungsbereich existiert, der nicht mit spezifischen31 Unionskompetenzen in ir-

27 So insbesondere H. P. Ipsen: „Zweckverband funktioneller Integration“. Zu den legitimationstheoretischen Implikationen dieses Ansatzes noch ausführlich unten, Kap. 3. 28 Grundlegend für die Terminologie W. Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, 1962, S. 341; zur Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 259; Gündisch, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft. Recht und Inneres im Amsterdamer Vertrag, AnwBl. 1998, S. 170 ff.; EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rdnr. 24 – Les Verts; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 74: „Ziel der Politischen Union“. Für bereits teilweise verwirklicht hält diese – in Abkehr von der Zweckverbandsformel – Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Ipsen 1977, S. 595; ders., Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Döhring 1989, S. 179, 195 ff.; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 905, allerdings primär als Entgegensetzung zur umfassenden Staatsgewalt; ebenso – die bloße Rechtsetzungsgemeinschaft von der Rechtsgemeinschaft abgrenzend – Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 83; zur Ambivalenz der Begriffsbildung m.w.N. treffend Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3 VI, S. 106 f. 29

Vgl. Präambel; sehr kritisch zur verfehlten Suggestivkraft solcher Programmsätze H. Dreier, FAZ vom 4. 6. 2002, S. 7: „wolkige Wohlfühlformel“. 30

Zu den gleichwohl gemessen an diesem Anspruch bestehenden Defiziten, namentlich in der Außen- und Sicherheitspolitik, vgl. insbesondere die entsprechenden Konventsvorschläge der Arbeitsgruppe VII, Dok. CONV 459/02. 31

Hiermit ist nicht nur gemeint, daß generalklauselartig weite Aufgabenbereiche auf europäischer Ebene (vgl. dazu Götz, Zur Regelungskompetenz der Gemeinschaft im Bereich der Rechtsangleichung, JZ 2001, S. 34, 35; vgl. auch die Vermerke des Konventspräsidiums zum status quo der Kompetenzverteilung, „Beschreibung der derzeitigen Regelung der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“, Dok. CONV 17/02; sowie „Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten Gegenwärtiges System, Problemstellung und zu prüfende Optionen“, Dok. CONV 47/02) wie insbesondere die Binnenmarktkompetenz sich querschnittsartig auf nahezu alle Gegenstände nationalstaatlicher Gesetzgebung auswirken können. Auch der Ermächtigungsumfang der Politiken europäischer Rechtsetzung selbst dokumentiert mittlerweile in deren Summe thematisch ein nahezu universelles Regelungsvermögen; dazu ausführlich unten Kap. 5.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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gendeiner Weise strukturell verbunden wäre. Die Fortentwicklung der Europäischen Union von einer sektoral begrenzten Zweckgemeinschaft zu einem politischen Akteur in einem ausdifferenzierten Gesamtsystem pluraler Entscheidungsverantwortlichkeiten spitzt die Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung zu ihren Mitgliedstaaten aufgrund des sich damit verdichtenden Konkurrenzverhältnisses auch in traditionell staatsexklusiven Verantwortlichkeitszusammenhängen sinnfällig zu.

1. Zusammenhang von Integrationsprozeß und Kompetenzstruktur Mit der Themenstellung der vorliegenden Untersuchung, die auf die Herstellung unmittelbarer Zusammenhänge zwischen den Legitimitätsbedingungen des Rechts und einer konsistenten europäischen Kompetenzordnung gerichtet ist, ist es notwendig verbunden, daß diese gegenüber dem politischen Gestaltungsprozeß Unverfügbarkeiten aufzeigt. Mit einer Abgrenzung von Kompetenzfeldern aus rechtsprinzipiellen Erwägungen geht eine Bestimmung von Grenzen für eine bloß fungible und von Zweckprärogativen dominierte Rechtsinstrumentalisierung einher, die im europäischen Integrationsprozeß jedenfalls bis zum Vertrag von Maastricht dominiert haben mag. In dem Maße, in dem die europäische Rechtsgemeinschaft den funktionalen, sektoral begrenzten Integrationskontext transzendiert und durch ihr legislatives Erstarken zum politischen Koakteur zu den Mitgliedstaaten in ein Konkurrenzverhältnis tritt, ist mit dem Versagen funktionalistischer Rechtfertigungen eigener Art die so ausdifferenzierte Union zunehmend darauf angewiesen, auf die fundamentalen, mit der Institutionalisierung von Recht strukturell und begrifflich verbundenen Legitimationsfragen32 eigene, dem supranationalen Organisationsgefüge gemäße konstruktive Antworten geben zu können. Vorgebeugt werden muß dem Mißverständnis, mit einer solchen Grenzbestimmung sei eine retardierende Stellungnahme zur Fortentwicklung der Europäischen Union notwendig verbunden33. Nach der Intention dieser Arbeit ist das Gegenteil der Fall: Die Herausbildung neuer und komplexer rechtlicher Phänomene stellt gerade unter dem Eindruck eines aus den Sachstrukturen erwachsenden Dynamisierungsdrucks34 die Aufgabe, durch eine Reflexion auf vorpositive Grundlagen des Rechts insgesamt einer Überantwortung rechtlicher 32

Dazu ausführlich unten, Kap. 2, I. Zur Gefahr, durch Thematisierung von Kollisionsfragen eines Europaskeptizismus verdächtig zu werden, auch Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 2001, S. 58. 34 s. dazu die Nachweise o., Fn. 25. 33

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

Strukturierung an die Sphäre bloßer politischer Dezision vorzubeugen. Ihre Bewußtmachung ist aber keine Restriktion von Integrationsbedürfnissen, sondern bürgt allein für ein tragfähiges institutionelles wie legitimatorisches Fundament künftiger Entwicklungen, bewahrt die Überantwortung von Grundsatzfragen an die wechselhaften Prioritäten der Tagespolitik. Die Unzulänglichkeit der Union in ihrer gegenwärtigen Verfassung liegt nicht in einem Politik-, sondern in einem Institutionendefizit35. Insofern impliziert die Untersuchung, welche Reichweite bestimmte Entscheidungsprozeduren in der EU beanspruchen können, mit der Aufzeigung von Gestaltungsgrenzen auch eine Klärung des Verhältnisses von Politik und Recht36 und eröffnet dem politischen Gestaltungsvermögen durch die Aufzeigung struktureller Grenzen ein optimiertes, weil kategorial verortetes Wirkungsfeld. Ohnehin ist die Kontinuität eines fortschreitenden Kompetenztransfers durch die Dynamik eines bislang stets auf Vertiefung hin angelegten Integrationsprozesses nicht erst mit der Diskussion um die Erweiterung der Gemeinschaft der Stagnation gewichen37. Ein Festhalten an den überkommenen Kompetenzzuweisungsprinzipien löst deshalb nicht nur bestehende legitimatorische Defizite nicht, sondern ist nicht einmal integrationsförderlich38. Wenn es nicht gelingt, im Zuge der nächsten institutionellen Reformen zu einem schärfer akzentuierten Kompetenzprofil zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten vorzudringen, wird deshalb nicht nur die Legitimitätsfragestellung als solche unzureichend umgesetzt bleiben, sondern auch das Integrationsprojekt selbst in seiner Zukunftsfähigkeit zunehmend in Frage stehen. Fortschritte bisheriger Vertragsrevisionskonferenzen waren bis in die neunziger Jahre ganz überwiegend orientiert an der Zielsetzung, der EU/EG zu mehr praktischer Wirkmächtigkeit zu verhelfen, die Integration zu intensivieren, neue Handlungsfelder zu erschließen, auf bestehenden Handlungsfeldern die zur Verfügung stehenden Handlungsformen der Europäischen Union zu diversifizieren oder zu vertiefen und damit die Rechtsgemeinschaft zu intensivieren. Das Einverständnis aller beteiligten Akteure an dieser Zielsetzung, insbesondere die Rolle von Kommission und EuGH als „Motor der Integrati-

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Vgl. statt vieler bereits Maihofer, Föderativverfassung und Kompetenzverteilung einer Europäischen Union, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 61 ff., 63. 36 Dazu im besonderen unten, Kap. 4; referenzbildend in dieser Hinsicht Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 407 ff., 416, 418. 37 So auch T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999, S. 18. 38 T. Fischer/Schley (Fn. 37).

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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on“39, hat andere Aspekte überlagert und in den Hintergrund gedrängt. Die Legitimitätsfrage schien in der Frühphase weniger bedeutsam, einmal weil die Zwecksetzung, Binnenmarktfreiheiten zu verwirklichen, dem Integrationsprojekt als solchem eigenständige Legitimität zu vermitteln schien, zum anderen weil erst die jüngere Emanzipation der europäischen Rechtsgemeinschaft von den völkerrechtlichen Grundlagen und ihre Ausdifferenzierung als partiell selbständiger Akteur eines supranationalen Mehrebenenverbunds mit einer institutionellen Komplexität einhergeht, die Anklänge an den staatsrechtlichen Verfaßtheitszusammenhang enthält und damit die Frage nach staatsrechtsäquivalenten Legitimitätsstrukturen in den Vordergrund rückt. Dem entspricht es, daß spätestens seit dem Gipfel von Nizza die Legitimitätsfragestellung geradezu in das Zentrum des Interesses von Politik und Rechtswissenschaft gerückt ist. Tragfähige Ansätze zu einer Verbesserung des Legitimitätsprofils müssen auf die Grundlage der Legitimität von Recht überhaupt zurückgehen, um die ihr gerecht werdenden staatsrechtlichen Institutionen in ihrem Kategoriengehalt angemessen erfassen und die Neuartigkeit der supranationalen Ordnung hierauf angemessen beziehen zu können. Nimmt man den Anspruch der Legitimitätsorientierung des Rechts ernst, so kann sich die Rückbindung der konkreten Gestalt rechtlicher Erscheinungsformen an ihre Legitimitätsvoraussetzungen nicht in einer bloß äußerlich allgemeinen Feststellung erschöpfen, Recht sei nach bestimmten vorpositiven oder rechtsimmanenten Argumentationsmustern legitimierbar. Vielmehr muß die Rechtsetzung von ihren Legitimitätsbedingungen unmittelbar und in ihrer konkreten Form instruiert sein. Durch diese Prämisse unterscheidet sich vorliegende Untersuchung auch von bestehenden Systematisierungsbestrebungen, die eine Erhöhung des Legitimitätsniveaus als Folge gemeinschaftsrechtlicher Systemüberlegungen zwar für möglich halten, das Legitimitätsprofil verfügbarer Legislativformen aber nicht umgekehrt zum alleinigen Maßstab der Systembildung erheben40. Die Arbeit zielt deshalb auf 39 Zur Funktion und Integrationsbedeutung des EuGH allgemein vgl. G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998; vgl. auch A. M. Donner, Le Role de la Cour de Justice dans l’élaboration du droit européen, 1964: „Kämpfer für die Integration“; Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft als Integrationsfaktor, FS Hallstein, 1966, S. 431 ff.: „Integrationsfaktor erster Ordnung“; Oppermann, Europarecht 1999, Rdnr. 384: „kühn vorwärtsweisende Grundsatzentscheidungen“. 40 Vgl. z. B. Herwig Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999, S. 46. Wenn die Möglichkeit untersucht wird, daß eine Reform des Normsystems die demokratische Legitimität verbessern könnte, impliziert dies, daß die Verbesserung des Legitimationsprofils gerade nicht das reformatorische Primärziel ist. Auch Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, NJW 2002, S. 993, 994, meint in seiner im übrigen instruktiven Analyse in dieser Hinsicht zu einseitig, daß

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

eine engere Verknüpfung von Legitimitätstheorie und Problemlösungsstrategie gerade für die Europäische Union in ihrer Fortentwicklung ab. Andererseits unterscheidet sich diese Fragestellung von der thematisch engeren Betrachtung von Teilaspekten, etwa zur Notwendigkeit eines konkreten sachgegenständlichen Kompetenzkatalogs41.

2. Systematisierung der Handlungsformen als Grundlage der Kompetenzrevision a) Der hier verfolgte Ansatz zu einer Kompetenzordnung wird als handlungsformorientiertes Kompetenzkonzept bezeichnet. Damit ist eine doppelte Systemimplikation verbunden. Einerseits wird der numerus clausus staatsrechtlicher und supranationaler Erscheinungsformen legislativischen Handelns als kategorialer Schlüssel eines Zugriffs auf die denkbaren Kompetenzstrukturierungsansätze aufgefaßt. Andererseits ist in diesem Ansatz das Postulat einer legitimitätsorientierten Betrachtungsperspektive aufgehoben. Der Terminus der Handlungsform ist zunächst ein dem gemeinschaftsrechtlichen Kontext geläufiger Oberbegriff für die primärrechtlichen Kategorien unterschiedlicher Organtätigkeit42, der weitgehend synonym mit den „Maßnahmen“ im Sinne des Art. 249 EG verwandt wird. Darüber hinaus prägt sich zunehmend eine auch auf das Staatsrecht hinbezogene Verwendung aus43. Gegenüber den alternativ in Betracht kommenden Bezeichnungen Gesetz, Rechtsquelle, Rechtsform oder Rechtssetzungsform44 ist der Begriff für den hier interessierenden Kontext mit semantischen Vorzügen verbunden. Der

ein erstrebter Zugewinn an Akzeptanz der Europäischen Union durch die Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit zu erreichen sei. 41 Dies ist etwa die von Ilka Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, 2000, verfolgte Fragestellung. Zur Forderung nach einem Kompetenzkatalog allgemein vgl. auch Bieber, Abwegige und zielführende Vorschläge: Zur Kompetenzabgrenzung der Europäischen Union, Integration 2001, S. 308 ff.; T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999. 42 Vgl. Oppermann, Europarecht, 1999, § 6, Rdnr. 534 ff. 43 Den Terminus verwendet im staatsrechtlichen Kontext beispielsweise auch von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 494; vgl. auch die entsprechende Terminologie von Kube, Vom Gesetzesvorbehalt des Parlaments zum formellen Gesetz der Verwaltung?, NVwZ 2003, S. 57 ff. 44 Diesen Begriff stellt Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 2 ff., für seine Untersuchung des Bedingungszusammenhangs innerstaatlicher Legislativhandlungsformen in den Mittelpunkt.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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Begriff der Rechtsquelle ist trotz seiner metaphorischen Eindrücklichkeit deshalb unzweckmäßig, weil er suggeriert, daß die Rechtsquelle das eigentliche Recht erst hervorbrächte; in Wahrheit sind die hier als Handlungsformen bezeichneten Kategorien aber nicht Quellen des Rechts, sondern Artikulationsformen des Rechts selbst45. Demgegenüber klingt im Begriff der Rechtsetzungsform eine wie immer im einzelnen verstandene Legislativtätigkeit an und suggeriert vorschnell das – staatstypische und deshalb nur begrenzt auf den hier thematischen Kontext erweiterbare46 – Bestehen einer ausdifferenzierten Gewaltenteilung. Gewaltenteilung im internationalen Recht und im europäischen Gemeinschaftsrecht wirft jedoch spezifische, im dritten Kapitel zu thematisierende Fragen auf47, die durch eine vorläufige Begriffsbildung nicht präjudiziert werden dürfen. Schließlich aber bringt der Begriff der Handlungsform die Verknüpfung von Rechtsetzung und Organhervorbringung – im Gegensatz zum Begriff der Rechtsform – besonders nachhaltig zum Ausdruck, indem sie Rechtsetzung als Rechtswillensäußerung des Staates als Zurechnungssubjekt charakterisiert48. Die Terminologie ist gängigen Begriffsverwendungen teilweise entgegengesetzt49. So wird der Ausdruck der Handlungsform zum Teil in Entgegensetzung zu den normativ-generellen Rechtsquellen zur Kennzeichnung der einzelfallbezogenen Verwaltungsakte50 verwendet. Daß dem hier nicht gefolgt wird, liegt in der Notwendigkeit begründet, einen Oberbegriff nicht nur für die Rechtsnormen, sondern auch den in seiner Normqualität ambivalenten51 Vertrag zu finden52. Auch wenn verbreitet Gesetzgebung und Rechtsetzung als Synonyme verwendet werden53, verbietet sich eine solche Terminologie in einer auf Systematisierung differenter Rechtsformen angelegten Untersuchung. Denn ob der in diesem Begriffspaar enthaltene, auf das Gewaltenteilungsprinzip verweisende Unterscheidungsgehalt einen unverzichtbaren Bestandteil darstellt, kann 45

So treffend Ossenbühl, HdBStR, Band III, § 61, Rdnr. 1 m.w.N. Dazu ausführlich unten, Kap. 4, III. 47 Unten, Kap. 4, III. 4. c). 48 Zu den Bedingungen des hierfür vorauszusetzenden Verhältnisses von staatlicher Rechtssubjektivität und organisationsinterner Willensbildung vgl. unten, Kap. 3, II. 2. 49 Wie hier z. B. Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: HdB StR, Bd. III, § 59, Rdnr. 21, S. 130: „Handlungskompetenzen der drei Gewalten“; von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 494. 50 Vgl. die Nachweise bei von Bogdandy (Fn. 49). 51 Dazu Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen. Elemente einer Theorie der autoritativen Normgeltungsbeendigung, 1997. 52 Zur geltungs- und legitimationstheoretischen Bestimmung des Vertrages unten, Kap. 3. 53 Vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 73. 46

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

erst beantwortet werden, wenn Funktion und Verwirklichungsgehalt des Gewaltenteilungsprinzips im staatsrechtlichen und im supranationalen Verband untersucht worden sind. b) Unter dem Terminus der Handlungsformorientierung versucht die vorliegende Untersuchung, die internationalrechtlichen, engeren Sinnes supranationalen54 Handlungsformen – also die Gesamtheit von Europäischem Primär- und Sekundärrecht – zu den klassisch staatsrechtlichen Legislativrechtsformen in ein legitimitätsbezogenes Verhältnis zu setzen und aus dieser Verhältnisbestimmung Gesichtspunkte zur Restrukturierung der Mehrebenenkompetenzordnung55 zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu gewinnen. Der Zugriff dieser Studie ist von der These geleitet, daß alle rechtsetzenden Handlungsformen hoheitlicher Gewalt56 als spezifische Ausdrucksform der hinter ihnen stehenden Legitimationsstruktur aufgefaßt werden können. Wie zu zeigen ist, dokumentiert sich in jeder legislativen Rechtsform57 das institutionelle Voraussetzungsgewicht seiner Entstehungsbedingungen und wird folglich in ihnen verkörpert. Die Legitimitätsstrukturen rechtlicher Verfaßtheit finden im Rechtsetzungsprodukt ihren spezifischen Niederschlag; ihre organspezifischen Hervorbringungsbedingungen teilen sich der Handlungsform mit. Hieraus resultieren spezifische Unterschiede, da nicht alle Handlungsformen mit gleicher Unmittelbarkeit auf eine vergleichbare Willensbildung eines identischen Gremiums zurückgeführt werden können. In der Rückführung auf ein nationalstaatliches Parlament, auf ein Regierungskabinett, auf Teile eines solchen oder auf supranationale Entscheidungsträger, die ihrerseits wiederum höchst diffe-

54 Dies impliziert, daß Supranationalität als Spezialform internationalen Rechts, nicht aber als aliud begriffen wird; Ansätze einer kritischen Annäherung an den sui-generisGehalt der Gemeinschaftsrechtsordnung etwa bei Jachtenfuchs (Fn.7). 55 Die Begriffsbildungen Scharpfs von der Mehrebenendemokratie bzw. Mehrebenenpolitik (vgl. etwa ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994) gehören mittlerweile zum Standardrepertoire des europarechtlichen Vokabulars, vgl. dazu auch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 51 ff. m.w.N. Was hieran als zutreffende Wirklichkeitsbeschreibung enthalten ist, kann letztlich auf alle Rechtsprinzipien bezogen werden, auf die sich die Überlagerung zweier rechtlicher Teilsysteme auswirkt. In diesem Sinne ist die hier zu skizzierende Kompetenzordnung eine Mehrebenenordnung. Ein ähnliches Begriffsverständnis setzt sich auch für die bundesstaatlichen, damit staatstheoretischen Untersuchungen durch (so etwa für das bundesdeutsche Staatsrecht Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998), die sich bislang eher mit traditionellen föderalistischen Termini begnügt haben. 56

Dies meint: in Unabhängigkeit davon, ob die Hoheitsgewalt originär (mitgliedstaatlich) oder derivativ (europarechtlich) ausgeübt wird. 57 Damit ist an dieser Stelle in einem funktionellen Sinn jede normative Handlungsform hoheitlicher Gewalt unabhängig von der organisatorischen Einordnung gemeint.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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rent auf innerstaatliche Willensbildungsprozesse rückbezogen sein können58, liegt eine beträchtliche Differenz der Legitimitätsqualität, wenn auch nicht notwendig eine Legitimitätshierarchie59. Sie muß in Abgleich gebracht werden mit den allgemeinen, vorpositiven Legitimationsanforderungen, die sich aus dem Begriff des Rechts ergeben und infolgedessen den positivrechtlichen Ausformungen als normativer Anspruch voranstehen. Diese Differenzierung soll nach der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Leiterwägung eine Kompetenzverteilung auf die entsprechenden Organzusammenhänge, mittelbar damit auch auf die Verbände präjudizieren. So wird Kompetenzverteilung in ihrer Handlungsformabhängigkeit in Beziehung gesetzt zu den übrigen legitimatorischen Teildimensionen eines als materiale Gesamtheit sich begreifenden Verfassungssystems60, Kompetenz also rückgeführt auf die allgemeine Gewährleistungsfunktion von Recht und konstruktiv instruiert von den rechtsbegrifflichen Grundlagen. Diese Erwägung ist für das Staatsrecht, wenn auch mit einem anderen, funktionellen Akzent, von vereinzelten Untersuchungen zugrunde gelegt worden61, fehlt aber als Grundlage für die Herstellung einer Beziehung zur supranationalen Teilrechtsordnung des Gemeinschaftsrechts bislang gänzlich. Als Hauptkategorien legislativer Handlungsformen der beiden Teilrechtsordnungen Staatsrecht und Gemeinschaftsrecht stehen sich einerseits das Gesetz, andererseits Vertrag und sekundärrechtliche Normen gegenüber. Die Priorität 58

Zur Besetzung des Rates vgl. Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 282; zur Funktion des Rates im Institutionengefüge der Europäischen Union Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 180 ff.; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 328; zu seiner spezifischen Funktion als Organ der Staatenrepräsentation ausführlich unten, Kap. 4, III. 59 So weit gehen allerdings Hans Meyer, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 51, und Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 128: „Unter Legitimationsgesichtspunkten wird davon ausgegangen werden können, daß parlamentarische Gesetzgebung exekutiver Rechtsetzung vorzuziehen ist“. Das entspricht auch weitgehend herrschender Auffassung im Staatsrecht in der Gegenübersetzung von unmittelbarer demokratischer Legitimation des Bundestages und den (bloß) mittelbar legitimierten Verfassungsorganen der übrigen Gewalten, vgl. auch Rath, Die „unionswärtige Gewalt“ des deutschen Bundestages. Zur verfassungsrechtlichen Legitimation des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsprozesses, in: Demokratie in Europa: Zur Rolle der Parlamente, ZParl, Sonderband 1/1995, S. 129 f. 60 Vgl. ähnlich Jestaedt, Zuständigkeitsüberschießende Gehalte bundesstaatlicher Kompetenzvorschriften, 1997, S. 315; zur grundsätzlichen materiellen Bedeutung der Kompetenznorm im Rechtsstaat grundlegend Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 11 (1972), S. 161 ff. 61

So etwa Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 2: „Daß man umgekehrt auch die Kompetenzordnung als Folge einer funktionell ‚richtigen‘ Umschreibung des Inhalts der Rechtssetzungsformen betrachten könnte und sollte, wird übersehen.“

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

der Gesetzesform im Staatsrecht, auf die die gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen in bestimmungsbedürftiger Weise zu beziehen ist, erweist sich einesteils als eine faktische, dann aber auch als eine rechtskategoriale62. Von ihrer Relationsbestimmung abgeleitet schließt sich eine Verhältnisbestimmung der untergesetzlichen und untervertraglichen Handlungsformen an. Insgesamt geht es darum herauszuarbeiten, ob und inwieweit das staatsrechtliche Beziehungsgefüge der legislativen Handlungsformen Gesetz und Verordnung gemeinschaftsrechtliche Entsprechungsverhältnisse vorfindet, aus denen Kriterien für die Kompetenzverteilung abgeleitet werden können. Diese zunächst abstrakte Grunderwägung konkretisiert sich im folgenden schrittweise, und zwar in der jeweiligen Anwendung der zu bestimmenden Legitimitätsprämissen auf die einzelnen legeshierarchischen Ebenen von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, aus deren Summe eine kohärente, auf ein einheitliches Legitimitätsverständnis rückbeziehbare gemeineuropäische Handlungsformsystematik resultiert.

3. Die unbehandelten Ebenen des Mehrebenensystems: Länder, Regionen und gemeinschaftsrechtliche Binnenverbandsdifferenzierungen Aus dem genannten paradigmatischen Zugriff folgt eine doppelte Einschränkung des zunächst von der Kompetenzfragestellung insgesamt miterfaßten Betrachtungsgegenstandes. a) Die hier untersuchte Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten läßt einerseits als Bezugspunkt der Auseinandersetzung Auswirkungen der Kompetenzbalance auf das ebenfalls föderal strukturierte Binnengefüge von Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik außer Betracht63. Daß diese Dimension der internen Balance von Bund und Ländern – ungeachtet der rechtspraktisch erheblichen Bedeutung für ein kohärent ausgestaltetes

62

Dies zu zeigen ist Hauptgegenstand des nachfolgenden zweiten Kap., s. dort insb. III. 3. 63 Zu den Auswirkungen der fortschreitenden Unionsermächtigung auf die Kompetenzen der Länder vgl. D. Weiß, Zum Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, S. 1 ff.; Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht – Zu den Forderungen der deutschen Bundesländer im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, DVBl. 1995, S. 1265 ff.; auch ders., Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1686 ff.; Vetter, Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten aus der Sicht der deutschen Länder, in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Union, 1997, S. 23, 32 ff.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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Kompetenzgefüge eines Mehrebenensystems insgesamt64 – im vorliegenden Rahmen nicht hinreichend mitbehandelt werden kann, folgt aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen aus der rein staatsverfassungsrechtlichen Verortung dieses Bezug, mag auch deren Überwindung im Integrationsprozeß eine spezifische Notwendigkeit der Mehrebenenstruktur darstellen65. Wichtiger als dieser formale Aspekt ist jedoch der Umstand, daß sich aus dem Vergleich unterschiedlicher jeweils staatlicher Ebenen keine kompetenzleitenden Anhaltspunkte ergeben: Da Bund und Länder als originär staatliche Territorialkörperschaften gleich strukturiert sind, treten zwischen ihnen, anders als im Verhältnis Union und Mitgliedstaaten, keinerlei legitimatorische Differenzen hervor, die als solche schon die Zuweisung zu einer der beiden Ebenen aus allgemeinen repräsentationstheoretischen Momenten heraus präjudizieren könnten. Das Bundesstaatsprinzip ist demokratietheoretisch neutral66; weiteren Sinnes läßt sich sogar mit Einschränkungen sagen, daß es legitimationstheoretisch neutral ist67, sofern damit ausgesagt ist, daß es keine spezifische Anforderung an rechtsgenerierende Willensbildungsmechanismen artikuliert68. Das gilt auch für das Föderalismusprinzip, unbeschadet der erheblichen organisatorischen Bedeutung beider Prinzipien als staatliche Hoheitsgewalt dezentralisierenden, relativierenden und diversifizierenden Ordnungsmodellen, die ein Moment der Mäßigung verwirklichen69. Der hier verfolgte handlungsformorientierte Ansatz bleibt deshalb für die Frage der innerstaatlichen Verhältnisbestimmung von 64

Allein die Bezogenheit der föderalen Binnenstrukturen der Mitgliedstaaten auf den Ausschuß der Regionen ist in der Diskussion erheblich umstritten, dazu unten, Kap. 5; zur Frage der Rolle der Bundesländer im europäischen Kompetenzgefüge allgemein vgl. auch Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, S. 482 ff., m.w.N. 65 Vgl. T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999; zur Bedeutung des Art. 23 GG im Hinblick auf die Auswirkungen gemeinschaftsrechtlicher Integration auf das Kompetenzverhältnis von Bund und Ländern vgl. Schede, Bundesrat und Europäische Union: die Beteiligung des Bundesrates nach dem neuen Artikel 23 des Grundgesetzes, 1994. 66 Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, 1997, S. 81 ff. 67 Zur Legitimationsfrage des Bundesstaatsprinzips und den staatsrechtlichen Lösungsansätzen vgl. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht. Untersuchungen zu Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, 1998, S. 394 ff., m.w.N. 68 Zur zentralen Bedeutung dieses Kriteriums für die Institutionalisierung von Legitimitätsbedingungen vgl. unten, Kap. 2. 69 Hierzu für das bundesdeutsche Staatsrecht Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., 1984, § 19 II 2, S. 657: „Pluralität der politischen Leitungsgewalt“; zur Bundesstaatlichkeit als freiheitlichem Prinzip vertikaler Gewaltenteilung vgl. auch BVerfGE 55, 274, 328 f.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

Bund und Ländern unergiebig und verlangt insoweit andere staatstheoretische Erwägungen70, die trotz ihrer Bedeutung für eine Erfassung des Gesamtsystems europäischer Legislative hier nicht mitentwickelt werden können. b) Der institutionelle Rahmen der Europäischen Union vereinigt in sich sehr inhomogene – supranationale und intergouvernementale – Komponenten, die in ihrer Ausgangssituation aus EG, EGKS, EAG, und EU bestand. Ihr internes Verhältnis ist nicht primärer Gegenstand einer legislativen Verhältnisbestimmung des europäischen Mehrebenensystems: Auch insoweit wird im Interesse einer klaren Fragestellung zugunsten der Balanceschaffung zwischen Union und Mitgliedstaaten auf vorhandene Binnendifferenzierungen verzichtet. Die damit terminologisch vorgezeichnete Überwindung der Säulenstruktur entspricht im übrigen auch der konstitutionellen Entwicklungsrichtung der Europäischen Union71. Bislang dominierte im europarechtlichen Schrifttum die Ansicht, daß Gegenstand einer Kompetenzverteilung nur Rechtsträger seien könnten72. Da die Rechtsträgereigenschaft aber nach herrschender Auffassung allein den supranationalen Gemeinschaften, nicht aber der Europäischen Union als dem institutionellen Gesamtgefüge insgesamt zugebilligt wurde73, konnte demnach nur eine Rechtsetzungsabgrenzung von Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten Betrachtungsgegenstand der Kompetenzfrage sein. Unabhängig davon, daß die Ausstattung der Europäischen Union mit einheitlicher Rechtspersönlichkeit als ein wesentlicher institutionenreformierender Bestandteil des Ver-

70 Zur Bedeutung etwa des Subsidiaritätsprinzips als Staatsstrukturprinzip vgl. Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, insb. S. 229 ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968; Oeter (Fn. 67). Dem ist hier nicht weiter nachzugehen. 71 So ist nach dem Verfassungsentwurf des Konvents, ABl. Nr. C 169 vom 18. Juli 2003, keine terminologische Differenzierung mehr vorgesehen, sondern einheitlich von der „Union“ die Rede; an der Mischung konventioneller und supranationaler Strukturelemente wird dies einstweilen nichts ändern. 72 Peter-Christian Müller-Graff, Die Kompetenzen in der Europäischen Union, in: Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, Bonn 1999, S. 780. 73 Vgl. zur bisher h.M. nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 151 ff.; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. A EUV, Rdnr. 25, 26 m.w.N.; BVerfGE 89, 155, 195; ders., Europäische Union und die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), S. 75 m.w.N. (ebd. Fn. 2); Peter M. Huber, Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 358; Lecheler, Der Rechtscharakter der „Europäischen Union“, FS Heymanns Verlag, 1995, S. 389; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 25; a. A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 38 ff.: bereits gegenwärtig Rechtssubjekt.

I. Anspruch des Kompetenzkonzepts

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fassungsentwurfs74 diese Problematik obsolet machen wird, liegt in dieser Bindung der Kompetenzfrage an die Voraussetzung der Rechtssubjektivität der Kompetenzträger eine rechtsprinzipiell nicht überzeugende Reduktion der Fragestellung. Es mag zutreffen, daß die Gesamtsystematisierung von staatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten in der Sekundärlegislation der Gemeinschaften ihren zumindest quantitativ dominanten Hauptgegenstand findet. Daß die Fähigkeit zur teilautonomen Wahrnehmung von Rechtsetzungsbefugnissen genuines Kennzeichen der Supranationalität ist, hat zur Folge, daß die Konkurrenz von Rechtsetzungsmaßnahmen staatlicher und gemeinschaftlicher Ebene faktisch allein dort zur Auswirkung kommt, wo die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaften angesiedelt sind. In allererster Linie ist das die Europäische Gemeinschaft, deren Regelsetzungsmacht der Hauptanteil von Sekundärrechtsakten zugeordnet ist. Jedoch ist kein Grund ersichtlich, weshalb Kompetenzfragestellungen zwingend an das Merkmal der Rechtsträgerschaft beteiligter Ebenen gekoppelt sein müßten. Mag die rechtskategoriale Differenzierung von intergouvernementalem und supranationalem Recht auch bis zum Maastricht-Vertrag von besonderer struktureller Bedeutung für das Gemeinschaftsrechtsgefüge gewesen sein, so stehen sich doch in der Außenschau die Zurechungssubstrate Staat und Union im weiteren Sinne75 gegenüber. Zu diesem Befund trägt es auch bei, daß ein wesentlicher Inhalt der Reformkonferenzen von Amsterdam und Nizza darin bestand, bislang intergouvernementale Bereiche in supranationale Umsetzungsformen zu verlagern76, so daß in der Gesamtbetrachtung des kohärenten Rahmens der EU beide Integrationsformen als koexistierende Erscheinungsformen unterschiedlicher Integrationsintensität innerhalb eines einheitlichen institutionellen Systems erscheinen. Dies gilt unabhängig davon, daß die Binnenstruktur der Union als spezifisches Konglomerat herkömmlicher völkerrechtlicher und genuin supranationaler Rechtsformen ausdifferenziert ist. Die mit der europäischen Konstitutionalisierung verbundenen institutionellen Reformansätze zielen insgesamt zunehmend auf eine Überwindung der bisherigen Säulenarchi-

74

Vgl. Art. I-6 des Verfassungsentwurfs, ABl. Nr. C 169 vom 18. Juli 2003, S. 9.

75

von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 38 ff., sieht die Union als Einheit aus Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften; auch von Bogdandy/Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 13; ähnlich Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, Integration 2000, S. 35. 76

Vgl. insbesondere das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union; von Bogdandy (Fn. 75), S. 40, sieht sogar ein Vordringen der „gemeinschaftlichen Standardmethode“, die zu einer Einheitsbildung zwischen Union und Gemeinschaften führe.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

tektur77. Dies rechtfertigt es, die Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Union insgesamt als Einheit zu thematisieren78. c) Hinzu kommt, daß Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union nicht auf eine Verhältnisbestimmung von innerstaatlichem Recht und Gemeinschaftssekundärrecht reduziert werden kann. Die Kompetenzen der Mitgliedstaaten können insbesondere und erheblich bereits dadurch beeinträchtigt sein, daß ihnen gemeinschaftsprimärrechtliche Bindungen auferlegt werden79; die Handlungsform des Vertrages als Rechtsquelle des Gemeinschaftsprimärrechts muß deshalb nicht nur in die Betrachtung einbezogen werden, sondern stellt den handlungsformsystematischen Ausgangspunkt dar, von dem aus sich die nachgeordneten gemeinschaftsrechtlichen Normebenen systematisch wie geltungslogisch erschließen. In dem nachfolgend zu entwikkelnden Handlungsformverständnis wird deshalb versucht zu zeigen, daß dem Vertrag gerade eine Schnittstellenfunktion zukommt, die über eine dichotomische Kompetenzzuweisungsstruktur mit innerstaatlichem Recht einerseits und supranationalem europäischem Sekundärrecht andererseits hinausweist. Die Handlungsform des Vertrages ist nicht rein supranationale, sondern zugleich auch herkömmlich intergouvernementale Rechtsquelle80. Letzteres ordnet ihn wiederum in starker Bindung zum innerstaatlichen Willensbildungsmodus ein. Damit aber ist der Betrachtungsgegenstand mit Notwendigkeit nicht das supranational gesetzte Recht engeren Sinnes, sondern auch die intergouvernementalen Komponenten des Unionsprimärrechts. Infolgedessen erscheint es – mit dem vorgenannten Problemverständnis im Hintergrund – zulässig, als Zurechnungsebene für gemeinschaftsrechtliches Recht die Europäische Union insgesamt anzusehen, so daß die Fragestellung sich der prinzipiellen Weichenstellung zwischen mitgliedstaatlicher und Gemeinschaftsebene widmen kann und die Differenzierung innerhalb derselben 77 Zur von der Arbeitsgruppe Freiheit, Sicherheit und Recht vorgeschlagenen Implementation weiter Bereiche der bisherige Dritten Säule in den institutionellen Rahmen der EG vgl. den Schlußbericht vom 2. Dezember 2002, Dok. CONV 416/02. 78 Dies entspricht im übrigen dem mittlerweile vordringenden Zugriff auf das Rechtsphänomen EU in dieser Hinsicht, vgl. von Bogandy (Fn. 75), S. 38 ff.; auch Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 566 ff., spricht ohne Differenzierung von „EU/EG“; ebenso Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 298 f. 79 Vgl. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, S. 484. Die jüngste rechtspraktische Manifestation dieses Konflikts für den bundesdeutschen Regelungskontext stellt die Beanstandung des sog. VW-Gesetzes im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission dar. 80 Handlungsformsystematische Bestimmung des Vertrages im Kap. 3, II., III.

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ausblenden kann. Die Thematisierung der Rechtsetzungsformen der im institutionellen Rahmen der Union vereinigten Gemeinschaften unter dem Aspekt „Gesetzgebung der Europäischen Union“81 mag deshalb trotz terminologischer Bedenken hinnehmbar erscheinen, solange die vorgenannten Binnendifferenzierungen bewußt und vorausgesetzt bleiben.

4. Geltungsvorrang und Anwendungsunmittelbarkeit als Axiome der Gemeinschaftsrechtsordnung Die vorliegende Untersuchung legt ihren legitimationstheoretischen Erwägungen zugrunde, daß das Phänomen supranationaler Integration quasi „axiomatisch“82 durch die gemeinschaftsrechtlichen Konstituenten von Geltungsvorrang und Anwendungsunmittelbarkeit83 getragen ist und seine Rechtsnatur, konstitutionelle Einordnung und Legitimationsbesonderheiten maßgebend von diesen Parametern getragen und bestimmt sind84. Daraus ergibt sich, daß Restrukturierungsüberlegungen, die auf eine Verbesserung des Legitimationsprofils unter Modifikation dieser Gemeinschaftsspezifika zielen, bereits paradigmatisch ausgeschlossen sind. Dieser Ausgangspunkt wird zwar nicht rechtsprinzipiell präjudiziert, folgt aber aus der Zielsetzung einer Restrukturierung der Kompetenzordnung im Ausgang vom gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Bestand und ist insofern notwendiger Tribut an den vorfindlichen Integrationsverlauf als rechtstatsächlichem Anknüpfungspunkt. Kritisch verhält sich diese Bestimmung des Ausgangspunktes zu einer – kategorial möglichen und begrifflich vertretbaren – staatsrechtsexklusiven Interpretation staatstheoretischer Verfassungsprinzipien, die ihre Anwendung auf die Europäische Union 81 Vgl. so auch Charlotte Schütz, Wer ist der Gesetzgeber der Europäischen Union?, 2000, S. 19. 82 Ebenso Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 617. 83 Grundlegend zur Bedeutung des Geltungsvorrangs EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. – Costa/ENEL: dem vom Vertrag geschaffenen Recht könnten „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen […], wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“; vgl. dazu auch Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, in: Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, FS Kutscher 1981, S. 319, 337; von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 107. 84 Allg. Ansicht, vgl. nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 151 ff.; Nicolaysen, Europarecht, § 3, S. 69 ff., m.w.N.; von Bogandy (Fn. 83), S. 107. Im Rahmen einer auf die Restrukturierungsoptionen in legitimationstheoretischer Absicht bezogenen Untersuchung sind diese Kategorien die Anwendungsherausforderungen legitimationstheoretischer Unverfügbarkeiten.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

schon kategorial schlechthin ausgeschlossen erscheinen läßt und die Überschreitung des staatsrechtlichen Handlungsformkanons zwangsläufig mit der Illegitimität des hierdurch konstituierten supranationalen Systems identifiziert85. Abseits solcher Extrembetrachtungen wird die Legitimität supranationaler Organisationsstrukturen nicht prinzipiell und als solche in Frage gestellt; dieser Grundkonsens setzt die Möglichkeit autonomer supranationaler Rechtsetzung einschließlich des hierzu erforderlichen Geltungsvorrangs86 voraus87. Die Legitimität des Bestandes supranationaler Zurechnungseinheiten impliziert aber auch die Möglichkeit eines hieran angepaßten Legitimationsanspruchs. Die Legitimitätsfrage wird also in Bezug darauf als Kriterium der Bestimmung des Umfangs, nicht des „ob“ gemeinschaftsrechtlichen Tätigwerdens in der Rechtsetzung überhaupt thematisch. Diese Ausgangsbestimmung befindet sich in Übereinstimmung mit den weitaus überwiegenden Diskussionsbeiträgen zur Kompetenzfrage, die sich als Beitrag zur Fortentwicklung verstanden wissen wollen88. Der im folgenden als Resultat der Handlungsformsystematisierung herausgearbeitete Kompetenzverteilungsvorschlag zwischen Mitgliedstaaten und Union beansprucht nicht, die Kompetenzordnung des europäischen Verfassungsgefüges zu determinieren. Er tritt deshalb selbstbeschränkt insbesondere zu solchen Diskussionsbeiträgen in Gegensatz, die eine konkrete, sachgebietsbezogene und auch in Detailfragen abgeschlossene Kompetenzordnung proklamieren; namentlich die in der europäischen Verfassungsdiskussion weithin im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung um Möglichkeit und Gestalt eines Kompetenzkataloges entfaltet für das Erkenntnisziel dieser Arbeit lediglich mittelbar Bedeutung. Ein umfassend neuer Determinationsanspruch wäre nicht nur im Hinblick auf die vorangegangenen Etappen erreichter Integration, die fraglos 85 Schachtschneider, Ein Oktroi, nicht die gemeinsame Erkenntnis freier Menschen von ihrem Recht, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 206 v. 5. September, S. 8: „verfassungswidriges Ziel“. 86 Verwandt hier in einer die Differenzierung von Anwendungs- und Geltungsvorrang ausblendenden unspezifischen Weise. s. zur h. M. der Interpretation gemeinschaftsrechtlichen Vorrangs als Anwendungsvorrang nur Isensee, FS Everling 1995, S. 567, 574; zum Konflikt mit deutschen Verfassungsprinzipien ders., Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Festschrift Stern 1997, S. 1239 ff., 1263; Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 137. 87

Das befreit nicht von der Notwendigkeit, den Geltungsgrund des supranationalen Vertrages im Lichte der vorzunehmenden Legitimitätserwägungen zu bestimmen und zuzuordnen, vgl. dazu unten Kap. 3, II. 3. c). 88 Vgl. etwa von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 ff.; auch T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999, S. 8: eine Reform müsse „bei den europäischen Vertragsstrukturen ansetzen“.

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kompetenzregelnden Charakter aufweisen89, verfehlt. Er ginge auch in ähnlicher Weise an der Rechtswirklichkeit des Gemeinschaftsrechts vorbei wie die Konstitutionalisierungsdiskussion unter der unterschwelligen Prämisse, die Union sei derzeit nicht verfaßt90. Vielmehr zielt die Funktionalisierung des handlungsformsystematischen Gehaltes für die Kompetenzfragestellung auf eine Überformung des Systems der gemeinschaftsvertraglichen Politiken und Zielvorgaben durch eine handlungsformbezogene kompetenzielle „zweite Reflexionsebene“ ab, um so einerseits Gemeinschaftsrecht und Staatsrecht zu einem normativen Gesamtsystem zu integrieren, andererseits aber die Doktrin vom Gemeinschaftsvorrang durch diese Restrukturierung mit dem substantiellen Gehalt der verfügbaren Handlungsformen zur Deckung zu bringen.

5. Gang der Untersuchung Der Gang der Betrachtung mit der doppelten Intention von institutioneller Klärung der Geltungs- und Legitimitätsstrukturen vorhandener Handlungsformen einerseits und resultierender Bestimmung kompetentieller Implikationen andererseits bedingt ein in drei Schritten angelegtes Argumentationsprogramm. In einem ersten Teil – dem sich anschließenden zweiten Kapitel – geht es zunächst um die Rekonstruktion der Bedeutung des Repräsentationsprinzips im staatsverfassungsrechtlichen Bezug. Darauf aufbauend wird im dritten Kapitel die Bestimmung des Vertragsbegriffs in seiner für die positivrechtlichen Anwendungsmöglichkeiten konkretionsoffenen allgemeinen Weise vorgenommen nach der spezifischen Begründung seiner Geltung, seiner konstruktiven Bedeu-

89 Zur Bestandsaufnahme gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzregelungen de lege lata vgl. unten, Kap. 5, II.; zur Bewertung des Verfassungsvorschlages auch Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8 ff. 90 Vgl. etwa Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung? Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen, Zeit 27/2001; verfehlt in dieser Hinsicht auch J. Chirac, Notre Europe – Discours prononcé par Monsieur Jacques Chirac, Président de la République Française devant le Bundestag, 27.6.2000, www.botschaft-frankreich.de, S. 12, mit der These, daß man eine zukünftige Konstitutionalisierung „als erste ‚Europäische Verfassung‘ proklamieren“ könnte; sowie Lamers (zit. nach Pernice, FCE-Spezial 4/2000, Rdnr. 2): „revolutionärer Akt“. Merkwürdig deshalb auch Art. I-1 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs, ABl. Nr. C 169 vom 18. Juli 2003, S. 8: „begründet diese Verfassung die Europäische Union“. Treffende Kritik an der Verfassungsdiskussion von Oeter, Die Genialität der Verträge (Fn. 6), S. 8; auch Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866 ff.; zum europäischen Verfassungssystem umfassend Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; zum Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge ausführlich im folgenden, Kap. 3, II. 2.

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tung im internationalen und speziell supranationalen Recht und der Rechtsbedingungen, die dem gültigen Vertrag Legitimität verleihen. Wie sich zeigen wird, soll dabei das Wesen der vertragsförmigen Verknüpfung von Geltung und Legitimität als Anwendungsfall eines weit verstandenen Repräsentationsprinzips expliziert werden. Die angestrebte Verhältnisbestimmung geht aus von einer Charakterisierung der Rechtsquellen Vertrag sowie Sekundärrecht nach den beiden Grundaspekten Geltungsgrund und Legitimitätsgrund. In bezug auf sie soll auch eine vergleichende normsystematische Perspektive zu den staatsrechtlichen Formen thematisch werden. Beide folgenden Kapitel sind deshalb zunächst um eine Einordnung des Vertrages mit dem Seitenblick auf die staatsrechtlichen Handlungsformkategorien bemüht. Diese Verhältnisbestimmung ist weder auf staatsrechtsbegriffliche Restriktion europarechtlicher Besonderheiten gegründet noch verkennt sie die Begrenztheit von Analogiemöglichkeiten. Für ein konsistentes Kompetenzverteilungssystem zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten ist aber die Herstellung von Bezügen von Handlungsformen untereinander, die unterschiedlichen Systembereichen entstammen, aus einer übergeordneten Perspektive unausweichlich. Insofern erfordert die Fragestellung einer handlungsformorientierten Kompetenzbetrachtung die Bestimmung, was in spezifischer Weise vertragliche Rechtsetzung im Unterschied zur staatsgesetzlichen und staatsverfassungsrechtlichen Normebene, aber auch zu den staatsrechtlich untergesetzlichen Exekutivhandlungsformen auszeichnet. Dabei ist darlegungsbedürftig, weshalb der Vertrag überhaupt in die Gruppe legislativer Handlungsformen einzuordnen ist, welches Legislativverständnis dieser Kategorisierung also zugrunde liegt, und ob der Vertrag seiner inneren Geltungslogik nach eher den exekutivischen Handlungsformen zuzurechnen ist (dies legt die Hervorbringung durch die auswärtige Gewalt nahe), legislativisch aufzufassen ist (hierfür spricht seine noch näher darzulegende normersetzende Funktion im Völkerrecht und seine Rückbezogenheit auf jeweilige innerstaatlich-parlamentarische Ratifikationsverfahren) oder eine oberhalb möglicher Gewaltenkategorisierungen anzusiedelnde konstitutionelle Dimension aufweist. Das vierte Kapitel widmet sich dem Bereich der untervertraglichen, sekundärrechtlichen Handlungsformen des europäischen Gemeinschaftsrechts. Erst hier wird eigentlichen Sinnes die spezifische Bedeutung der supranationalen Strukturbesonderheit für repräsentative Konstruktionsalternativen thematisch und zugleich die Legitimitätsgrundlage der Rechtsetzung in besonderer Weise problematisch. Die hier zentrale Frage thematisiert die Reichweite eines von den mitgliedstaatlichen Parlamenten ausgehenden Repräsentationszusammenhangs und die hinsichtlich seiner Grenzen denkbaren genuin europarechtlichen Kompensationsmöglichkeiten. Bereits das Bedürfnis nach zusätzlichen europäischen Legitimationsstrukturen ist strittig; und es wird zu zeigen sein, daß die These vom demokratischen oder sonstigen Legitimationsdefizit der EU, löst man sie von verengenden staatsrechtlichen Prämissen oder inflationär-

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politischem Begriffsgebrauch ab, sich keineswegs von selbst versteht. Die Umsetzung der hier untersuchten Fragestellung wirft aber nicht nur die abstrakte Problematik von Möglichkeiten genuin europäischer Demokratisierung auf, sondern stellt auch die Frage nach der konkreten Umsetzung und der organisatorischen Tauglichkeit der europäischen Rechtsetzungsakteure, als Träger eines solcherart verstandenen Demokratieprinzips zu fungieren, und zwar in unmittelbarer prozeduraler Ausrichtung auf konkrete legitimatorische Tragfähigkeit europarechtlicher Handlungsformen, die in Ausübung so verstandenen gemeinschaftsrechtsspezifischen Demokratieprinzips erzeugt werden. Schließlich stellt sich hier auch die Frage, welchen Umfang Mitwirkungsbefugnisse des EP aufweisen müssen, um den zuvor konstatierten Anforderungen genügen zu können. Anderenteils ist hier zu bestimmen – gegenläufig zu diskutierten Möglichkeiten einer europäischen „Vollparlamentarisierung“ nach staatsorganisatorischem Modell – worin ein nicht zur Disposition stehender Prinzipiengehalt der vom Ministerrat geleisteten Staatenrepräsentation besteht. Das fünfte Kapitel dient schließlich dazu, die vorangegangene Verhältnisbestimmung der einzelnen Handlungsformen in Grundprinzipien der Kompetenzverteilung umzusetzen. Die Kompetenzverteilungsfrage wird hier akzessorisch zu dem zuvor entwickelten handlungsformsystematischen Einsichten entfaltet. Der kompetenziellen Verteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten geht deshalb eine stringente Binnenverteilung der Kompetenzen auf die den jeweiligen Rechtssystemen immanenten Rechtsformen voraus. Die Gleichsetzung dieser Fragestellung mit der geläufigen Differenzierung nach Organkompetenz und Verbandskompetenz mag auf den ersten Blick als Analogie zu bundesrepublikanisch föderalen Strukturen naheliegen, birgt jedoch begriffliche Gefahren. Diese beruhen mittlerweile kaum noch darauf, daß der Europäischen Union der hierfür erforderliche Verbandscharakter abgesprochen würde91. Eine separate Thematisierung von Organ- und Verbandskompetenzen droht aber den spezifischen Wechselwirkungen beider Problemkreise im europäischen Gemeinschaftsrecht nicht gerecht zu werden. Die gemeinschaftsrechtliche Binnenorganisation hat Implikationen für das verbandskompetentielle Verhältnis zu den Mitgliedstaaten; im supranationalen Handlungsformsystem erfüllen die Organbeteiligungen am komplexen legislativen Willensbildungs-

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Vgl. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 46: Europäische Union als „selbständige, supranationale Rechtsordnung“; vgl. auch BVerfGE 89, 155, 175, 182 f.; dementsprechend ist von Verbandskompetenz in bezug auf die EU in der europarechtlichen Literatur auch schon weitgehend die Rede, vgl. von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b EGV, Rdnr. 3; von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 ff.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

prozeß92 zugleich verbandskompetentiell kompensatorische Funktionen93. Zudem erlauben die komplexen, von vielschichtigen Mitwirkungsbefugnissen gekennzeichneten Rechtssetzungsprozesse keine exklusive Zurechnung der Autorenschaft zu einem einzelnen Organ. Gemeinschaftsrechtliche Legislativhandlungsformen sind vielmehr spezifischer Ausdruck einer auch organschaftlich diversifizierten Kompetenzstruktur in einem interferenten Verantwortungszusammenhang. Ungeachtet einer Entwicklungstendenz der Europäischen Union in jüngerer Vergangenheit, das Normgebungsverfahren zunehmend staatsrechtlichen Normsetzungsparadigmen anzunähern94, bleiben die Institutionenstrukturen der Europäischen Union in einer solchen Differenz zum Staatsrecht, daß die Oktroyierung der staatsrechtlichen Kategorien hier einstweilen zu einem Verlust an analytischer Klarheit zu führen drohte. Deshalb ist zunächst dem aus den vorangegangenen Bestimmungen sich ergebenden problematischen Verhältnis von europarechtlichen Rechtsetzungsformen zum innerstaatlichen Gesetz durch unterschiedliche Fortentwicklungsvorschläge zu begegnen. Nach hier vertretener Auffassung kann maßstabsbildend dafür die Wesentlichkeitstheorie sein, freilich nur, wenn man die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Aspekte in ihrer Übertragbarkeit auf nichtstaatliche Systeme darlegen kann und es insofern gelingt, die gerade in jüngerer Zeit aus staatrechtswissenschaftlicher Seite formulierten Einwände kategorialer Unzulänglichkeit und dezisiver Unbestimmtheit der Wesentlichkeitstheorie95 zumindest für die hier maßgebenden Bezüge zu entkräften. Ihre Umsetzung auf die sich an diesem Maßstab als defizitär enthüllenden europarechtlichen Strukturen erfordert die Diskussion unterschiedlicher Lösungen. Zum anderen ist mit der Kompetenzfragestellung eine den unterschiedlichen Ebenen gerecht werdende Balance der „Verbandskompetenzen“ der Ebenen

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Einen Überblick über die Mitwirkungsverfahren liefert Streinz, Europarecht, Rdnr. 438 ff.; zur Verteilung der Rechtsetzungsgegenstände auf die einzelnen Verfahrenstypen nach dem Amsterdamer Vertrag insbesondere Simm/Heber, Ausbau der Rechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments durch den Vertrag von Amsterdam, ZG 1999, S. 331-345; zur ausführlichen Darstellung der Formen der Beteiligung des Parlaments unter dem Aspekt der Bewertung ihrer Legitimitätsstruktur vgl. unten Kap. 4. 93 Dazu unter dem Aspekt einer notwendigen Balance des Mitwirkungsumfangs von Parlament und Rat Kap. 5. 94 Vgl. dazu Schütz, Wer ist der Gesetzgeber in der Europäischen Union?, 2000, S. 31 ff.; Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 9, 11; zur Rolle der Rechtsprechung im Hinblick auf diese Tendenz Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 32 f. 95 Dazu unten, Kap. 5, III. 2. b).

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von Mitgliedstaaten und Europäischer Union thematisch. Der hier unterbreitete Vorschlag wird am Modell eines allgemeinen, den Bedeutungsgehalt von Art. 5 EG überschreitenden und von staatsorganisationsrechtlichen Bezügen mitinstruierten Subsidiaritätsverständnisses entwickelt; hierin entspricht die Untersuchung dem weitreichenden Konsens über die fundamentale ordnungsleitende Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips. In der Auseinandersetzung auch mit den vom Verfassungskonvent geprägten Vorstellungen, die für sich beanspruchen, einen Lösungsvorschlag für eine „genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Kompetenzabgrenzung“ zu leisten, ist deshalb die leitende Fragestellung hier wesentlich auf Möglichkeiten einer verbesserten, subsidiaritätskonformen prozeduralen Umsetzung der Anforderungen an supranationale Legislativwillensbildung fokussiert, mit der die praktische Einhaltung der Subsidiarität gesichert werden kann. Diese Frage nach Optionen zur Verbesserung der Handhabung des Subsidiaritätsprinzips rechtfertigt einen rechtsvergleichenden Seitenblick auf verallgemeinerungsfähige und auf das Strukturverhältnis von Union und Mitgliedstaaten applizierbare Prämissen der föderalen grundgesetzlichen Verfassungsordnung. Daß das Staatsrecht trotz supranationaler Besonderheiten in Teilen als instruktives Modell zur Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts taugen kann96, sollte insofern nicht tabuisiert werden97. Das übergeordnete, Mitgliedstaaten und Gemeinschaft zu einer kohärenten Mehrebenenkompetenzordnung amalgamierende Prinzip liegt im wesentlichen in der Gleichzeitigkeit einer föderal instruierten Modifikation staatsrechtlicher Legitimitätsprinzipien einerseits und der Beschränkung des Regelungszugriffs der Europäischen Union auf einen ihrem verfassungstheoretischen Selbstverständnis entsprechenden Umfang andererseits. In der praktischen Verpflichtung der Europäischen Union auf Subsidiarität liegt deshalb ein wichtiges Moment der Korrelation zu den zuvor entwickelten legitimationstheoretischen Verbesserungen der Institutionenstruktur. Zum anderen ist zu demonstrieren, daß eine solche Kompetenzordnung das bisherige Kompetenzverteilungssystem der Europäischen Union nicht konterkariert, keine wesensfremden Kompetenzordnungsstrukturen an das Gemeinschaftsrecht heranträgt, sondern dieses lediglich in eine striktere und präzisere 96 Vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Albrecht Weber, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 62. 97 So auch Oppermann, Europarecht 1999, Rdnr. 922, mit Verweis auf das „Staatsähnliche“ der Europäischen Union, ebenso Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 189, zur Notwendigkeit der Entwicklung einer europäischen Gesetzgebungslehre im Ausgang von den nationalstaatsspezifischen Strukturproblemen; Kinsky, Föderalismus als ein Modell für das künftige Europa, ZfRV 1996, 188: „Die Institutionen der EU sind denen eines Bundesstaates ähnlich, wenn auch die Macht anders verteilt ist“.

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Formulierung von in der Union bereits jetzt geltenden Rechtsprinzipien umsetzt, namentlich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Prinzip der Subsidiarität. Insofern geht es dort in Abgrenzung zu grundlegenden Reorganisationsoptionen wesentlich um die Präzisierung von bereits im Gemeinschaftsprimärrecht vorhandenen Strukturansätzen.

II. Handlungsformanalyse als Beitrag zu einer europäischen Gesetzgebungslehre Zusehends werden in der Rechtswissenschaft Ansätze sichtbar, die in der Analyse des Gemeinschaftsrecht auf eine Loslösung des methodologischen Betrachtungswinkels vom funktionalistischen Paradigma abzielen98 und versuchen, das Gemeinschaftsrecht als Ausdruck einer Gesetzgebungslehre aufzufassen, die die gemeinschaftsrechtlichen Spezifika auf einen einheitlichen Gesichtspunkt rückführbar macht99. Auch Vorschläge zu einer gemeineuropäischen Methodenlehre zeigen die Notwendigkeit, die dem Staatsrecht geläufigen Hilfswissenschaften auch in Bezug zu setzen zu den staatsrechtstranszendierenden Organisationsformen100. Diese Tendenz ist unabhängig davon, von welchem paradigmatischen Zugriff solche Ordnungsbemühungen getragen sind. Sowohl Vorschläge, die stark am staatsrechtlichen Handlungsformsystem

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Dies dürfte mittlerweile die h. M. darstellen, vgl. etwa kritisch in bezug auf die dem Funktionalismus zugrunde liegende Unterscheidung zwischen politischen und nichtpolitischen Gegenständen Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 166, unter Bezugnahme auf Carl Schmitt, sowie die dortigen Nachweise zur Kritik am Funktionalismus insgesamt (ebd., Fn. 45); kritisch gegenüber einem europarechtlichen „Vulgär-Funktionalismus“ auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 195, m.w.N. Ein die politische Qualität des supranationalen Verbandes betonendes, auf die Legitimationsfigur eines europäischen contrat social abstellendes Gegenkonzept vertritt namentlich Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.; ders./Franz C. Mayer/Wernicke, Renewing the European Social Contract. The Challenge of Institutional Reform and Enlargement in the Light of Multilevel Constitutionalism, King's College Law Journal Vol. 12, Issue 1, 2001, S. 61 ff.; Kritik im Hinblick auf die mit dem europäischen Contrat Social verbundenen verfassungskonstruktiven Implikationen u., Kap. 3, III. 2. a) dd). 99 Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 189, m.w.N., beklagt das fortbestehende Fehlen einer spezifischen, entwickelten europäischen Gesetzgebungslehre. 100 Thomas Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration. Zur Notwendigkeit einer europäischen Gesetzgebungs- und Methodenlehre, 1999.

II. Beitrag zur europäischen Gesetzgebungslehre

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orientiert sind und die Europäische Union hiervon ausgehend betrachten101, als auch genuin europarechtliche Betrachtungsweisen102, die sehr auf die Unterschiede der supranationalen Union zum Staat bedacht sind, haben gemeinsam, daß das Erkenntnisinteresse auf die Erfassung von Systemkennzeichen ausgerichtet ist: Nicht die Aspekte, die die Inkommensurabilität des Gemeinschaftsrechts begründen, stehen im Vordergrund, sondern das, was innerhalb der Gemeinschaft die Kohärenz des Institutionen- und Handlungsformprofils bewirkt und es zur Einheit verbindet. Entscheidend für die Herausarbeitung eines Kompetenzprofils zwischen Union und Mitgliedstaaten, das auf einem europäischen Handlungsformsystem und damit weiteren Sinnes einer Gesetzgebungslehre103 beruht, ist daher nicht eine isolierte Erfassung des Europäischen Organisationsgefüges für sich, sondern die Einbeziehung seines Verhältnisses zum Staat als notwendigem Element für ein beide Ebenen übergreifendes Gesamtsystem. Eine auf Systembildung angelegte europäische Gesetzgebungslehre, die für sich beansprucht, den gesamten Mehrebenenverbund zu einem einheitlich auffaßbaren Ganzen zu integrieren, muß deshalb verbandsübergreifend die bestehenden Systemkennzeichen zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten zueinander ins Verhältnis setzen und mit der tatsächlichen Verteilung ihrer Aufgaben innerhalb des Gesamtsystems abgleichen.

1. Begriff des normativen Systems Systembildung meint allgemein Ordnungsschaffung unter Vielfalt nach einem einheitlichen Gesichtspunkt, also die Integration von Teilelementen zu einer Einheit104. Normsystematik ist die Ordnung von Legislativformen durch Herstellung von Bezügen unterschiedlicher Normebenen untereinander, die einem einheitsbildenden Kriterium folgen. Die Normsystematisierung dient der Vorstrukturierung eines rechtsprinzipiell überzeugenden Kompetenzgefüges. Ergibt sich aus der Analyse des Legitimi101 So etwa Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998; Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11 ff. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997. 102 So insbesondere von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999; vgl. auch Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998. 103 Thomas Möllers (Fn. 100). 104 Zum Systembegriff im Überblick Zahn, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 5, S. 1458 ff.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

tätshintergrundes gemeinschaftsrechtlicher Handlungsformen, daß die geltungslogische Dominanz des Gemeinschaftsrechts gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen keinem normgenerierenden Institutionenhintergrund korrespondiert, der den Primat gemeinschaftsrechtlicher Normen auch legitimationstheoretisch akzeptabel macht, so erwächst aus diesem Befund die Anforderung einer Revision der Kompetenzordnung, die den europäischen Regelsetzungsanspruch restringiert. Umgekehrt vermitteln die aus der Untersuchung sich ergebenden Übereinstimmungen zwischen Funktion und Legitimationsprofil der gemeinschaftsrechtlichen Teilrechtsordnung auch affirmative Momente. Wenn in den folgenden Kapiteln die Kriterien von Legitimität und Geltung die für diese Untersuchung leitenden einheitsstiftenden Gesichtspunkte darstellen, muß ein hierauf bezogenes supranationales Normensystem seine gemeinschafts- und staatsrechtlichen Teilsysteme in gleichsinniger Weise auf diese Orgdnungsbegriffe beziehen. Außerdem müssen Legitimitätsbedingungen und Geltungsstatus für jede einzelne Normenform von Staats- und Gemeinschaftsrecht miteinander in ein widerspruchsfreies Verhältnis gesetzt werden können. Mit anderen Worten darf die notwendige Normhierarchisierung zu den eigentümlichen, spezifischen Legitimitätsbedingungen der jeweiligen legislativen Handlungsformen keine Friktionen oder gar Konstruktionswidersprüche herbeiführen. Normsystematisierung findet üblicherweise – unproblematisiert, d. h. ohne daß dies mit einer programmatischen Intention verbunden wäre – innerhalb eines geschlossenen Verbandssystems statt. Eine andere Notwendigkeit hat sich vor Entstehung der europäischen Gemeinschaften auch gar nicht gestellt; erst das europäische Mehrebenensystem erfordert verbandstranszendierende Überlegungen. Wird die Rechtswirklichkeit der Bürger Europas aber durch Normkomplexe bestimmt, die unterschiedlichen Ebenen und Entstehungszusammenhängen entstammen, so muß die Systematisierungsleistung darauf reagieren. Das Gesamtziel dieser Systematisierung besteht darin, die vorgefundene gemeinschaftsrechtliche Normhierarchie in Einklang zu bringen mit legitimitätsbezogenen Hierarchisierungsüberlegungen. 2. Problempunkte einer Gesamtsystematisierung: Strukturdifferenzen des Gemeinschaftsrechts zum Staatsorganisationsrecht Die staatsrechtlichen Rechtsnormen bilden ein hierarchisches System, eine Pyramide geltungslogischer Abstufung105, die namentlich im positivrechtlichen 105 Vgl. nur Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 145 ff.; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992; Ossenbühl, HdBStR, Band III, § 61, Rdnr. 70 f.

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System der Bundesrepublik von den vier wesentlichen Ebenen: Verfassung, Gesetz, Rechtsverordnung und unterstaatlichen Normen des öffentlichen Rechts geprägt werden106. Geltung innerhalb der jeweiligen Normebene ist von der Ermächtigung der übergeordneten Ebene her hierarchisch bedingt107. Insofern stellt sich das staatsrechtliche Rechtsetzungssystem als durch den perspektivischen Fluchtpunkt der Verfassung abgeschlossenes System dar. Gleichzeitig konvergiert die geltungslogische Hierarchie mit der funktionalen Differenzierung des der jeweiligen normativen Ebene zugeordneten Funktionenbildes. Einerseits unterscheiden die Normebenen von Verfassung und einfachem Gesetz die das Gemeinwesen als Wertebestand strukturierenden Grundprinzipien von der Bewältigung alltäglicher normativer Problemlösungsnotwendigkeit; andererseits korrespondiert die Differenzierung von Gesetz und untergesetzlichen Exekutivnormen dem materialen Gehalt des Gewaltenteilungsprinzips108. Dabei ist die jeweils nachgeordnete Systemebene dem konstruktiven Anspruch nach konkretisierend auf die vorrangige Ermächtigungsebene bezogen und füllt den von dieser vorgegebenen Regelungszweck in detaillierteren Einzelbereichen aus.

a) Notwendige Staatsbezogenheit des Gemeinschaftsrechtssystems Das Recht der europäischen Integration ist schon seiner völkerrechtlichen Verwurzelung im Vertragsrecht nach substantiell anders aufgebaut. Zwar ist mit der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Organe der Gemeinschaften zugleich die normhierarchische Eindimensionalität des konventionellen Völkerrechts109 verlassen, da die Gemeinschaftsrechtsordnung normative Stufenverhältnisse enthält110: Ein Kennzeichen europäischer Supranationa-

106

Heckmann (Fn. 105), S. 19; Ossenbühl (Fn. 105). Dazu ausführlich unten, Kap. 3. 108 Dazu im einzelnen unten, Kap. 3, III. 3. b). 109 Weitgehend allgemeine Ansicht, vgl. von Bogdandy/Bast Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 442; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 64; Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 20, Rdnr. 1; Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 26. 110 Dazu ausführlich Herwig Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999, insb. S. 23 ff.; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998; von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 442; zur Existenz einer Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht auch EuG, Rs. T-9/93, Slg. 1995, II-1611, 1670, Rdnr. 162; EuG, Rs. T-285/94, Slg. 1995, II-3029, 3047, Rdnr. 51. 107

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

lität ist das Bestehen noch im einzelnen spezifikationsbedürftiger systeminterner Normenhierarchien von Primär- und Sekundärrechtssätzen. Aber da die supranationale Rechtsordnung als Bezugspunkt die im Staat verfaßte kollektive Identität von Staatsbürgern als Adressaten bereits vorfindet und insofern – anders als das Staatsrecht – isoliert von anderen Teilrechtsordnungen nicht bestehen kann, ist das System der europäischen Rechtsnormenhierarchie als ein isoliert zu betrachtendes Phänomen eben der supranationalen Teilrechtsordnung nur unvollkommen beschrieben111. Während das Staatsrecht aufgrund seiner auch historisch bedingten Selbstbezüglichkeit – ausgehend vom Leitbild des selbstgenügsamen Nationalstaats – ein zunächst geschlossenes System verkörpert, das erst im Zuge der Eingehung supranationaler Bindungen und der bewußten verfassungsrechtlichen Öffnung auf die supranationalen Bindungszusammenhänge hin die ursprünliche nationalstaatliche Abgeschlossenheit transzendiert, ist das Gemeinschaftsrecht seinen Konstitutionsbedingungen und seiner Teleologie nach unselbständig, weil auf einen vorfindlichen, zu überformenden Staatsrechtszusammenhang bezogen. Dies dokumentiert etwa der staatsrechtsakzessorische EU-Bürgerstatus112. Isolierter gemeinschaftsrechtlicher Normsystematisierung ohne Herstellung von Systembezügen zum Recht der Mitgliedstaaten haftet deshalb immer ein Moment der dem Systembegriff zuwiderlaufenden Unvollständigkeit an: Der Subjektsbezug des Gemeinschaftsrechts sowie seine Legitimations- und Geltungsprämissen sind ohne die Einbeziehung des Staatsrechts als systembedingender Faktor nicht verständlich. Insofern erscheint es nicht übertrieben festzustellen, daß gemeinschaftsrechtliche Normsystematisierung aufgrund der konstitutionellen Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts selbst zur Gesamtsystematisierung von Staats- und Gemeinschaftsrecht hindrängt. Schon die Systematisierung von Primär- und Sekundärrecht muß deshalb begriffen werden in ihrer Bezogenheit auf ein Gesamtrechtssystem, das Staatsund Gemeinschaftsrecht umspannt; sie muß bereits daraufhin angelegt sein, eine strukturelle Entsprechung zu den staatsrechtlichen Hierarchisierungsstrukturen wenigstens insoweit zu bilden, als die Integration beider zu einem Gesamtsystem nicht schon wegen unüberwindlicher Friktionen in den jeweiligen Binnensystemen unmöglich wird. 111 Die Verhältnisbestimmung von Primär- und Sekundärrecht ist unter der intendierten Zugrunde legung materialer Kriterien bereits für sich genommen ein erster Schritt in bezug auf eine Systembildung. Sie verlangt aber – und hierin liegt ein überschießendes Postulat gegenüber den gegenwärtig in der Rechtswissenschaft vorfindlichen Beiträgen – nach einer Bezugsetzung auch zum nationalen Recht. 112 Vgl. dazu Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 17 EG, Rdnr. 3 ff.; vgl. zur zukünftigen konstitutionellen Festschreibung den Entwurf des Verfassungskonvents, Art. I-8.

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b) Die funktionalen Charakteristika: Vorrang und Direktanwendung In der Frage nach der Einordnung europarechtlicher Legislativhandlungsformen hat sich bereits relativ frühzeitig die Notwendigkeit seiner Vorrangstellung zum nationalen Recht herausgeprägt; maßgebend in der dogmatischen Artikulation dieser Doktrin war die Rechtsprechung des EuGH. Insbesondere die geltungs- und anwendungstheoretischen Grundentscheidungen Costa/ENEL113 und Van Gend & Loos114 haben die Auffassung geprägt, daß „alle Normen des Gemeinschaftsrechts, die der Sache nach abschließend, vollständig, rechtlich perfekt sind, d. h. zu ihrer Anwendbarkeit keiner weiteren Ausführungsakte bedürfen, für ihre denkbaren Adressaten einschließlich der Einzelpersonen unmittelbar wirksam sind“. Diese Auffassung ist im Schrifttum schnell und affirmativ rezipiert worden115, mit unterschiedlichen Herleitungen aus dem effet utile116 oder aus dem innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl117 und seiner normsystematischen Verortung. Freilich war ebenso kaum strittig, daß es sich bei dem so insinuierten Gemeinschaftsrechtsvorrang um keinen Geltungs-, sondern einen Anwendungsvorrang handle, der die konkurrierende nationale Rechtsnorm nicht außer Kraft setzt, sondern lediglich in seiner Anwendbarkeit verdrängt118. Entscheidend für die Bedeutung der Geltungsdimension zur Normsystematik des supranationalen Rechts ist an dieser Stelle einzig der Befund als solcher, daß das Gemeinschaftsrecht als Teilrechtsordnung der

113

EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. C-26/62, Slg. 1963, S. 1 ff. 115 Grundlegend wiederum H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 285 ff. 116 Zum Schluß von der Notwendigkeit einer Befugnis auf ihr Vorliegen: von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, EUV, Art. 3b, Rdnr. 10; Hans Georg Fischer, Die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZG 2000, S. 168; kritisch gegenüber einer unionsseitigen Verselbständigung auf Grundlage von implied powers und effet utile BVerfGE 89, 155, 178; Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 174 ff., 177; grundsätzlich kritisch in methodologischer Hinsicht M. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, FS Mangakis 1999, S. 751 ff. 117 Namentlich von der deutschen Staatsrechtslehre vertreten, vgl. BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, S. 855-887. 118 Vgl. dazu Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 89 f. m.w.N.; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Festschrift Stern 1997, S. 1239 ff., 1263; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 287; Schweitzer, Europarecht III, Rdnr. 48 ff., m.w.N. 114

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

nationalen insgesamt vorgeht119 und sich die den Gemeinschaftsverbund konstituierenden nationalen Einzelrechtsordnungen so ihrer praktischen Anwendbarkeit nach derogiert darstellen; Begründung, Herleitung und immanente Grenzen des so charakterisierten Gemeinschaftsrechtsregimes sind erst im Rahmen der Geltungsanalyse handlungsformsystematisch differenziert nach Primär- und Sekundärrechtsakten im Einzelnen zu bestimmen. Die normsystematische Ausdifferenzierung ist notwendig hier weniger ausgeprägt als die staatsrechtliche; immerhin indiziert indes das Entstehen von zwei hierarchisch voneinander abgeschiedenen Normebenen die Überschreitung des Kontexts klassischen internationalen Rechts, dem unterschiedliche Norm- oder Geltungsebenen grundsätzlich fremd sind120.

c) Organisatorisch: untergesetzliche Stellung Unabhängig vom Geltungsstatus des Gemeinschaftsrechts, der in den dargestellten Grundzügen allgemeiner Ansicht entspricht, kann konstatiert werden, daß die Europäische Union ihr Kompetenzprofil keiner unmittelbaren Übertragung organisatorisch-substantieller Legislativgewalt verdankt, sondern einer im Ursprung exekutivischen Ermächtigung zum Erlaß von normativen Akten eigener Art121, die erst durch die schrittweisen Integrationsfortschritte, graduelle Modifikationen der Willensbildungsprozesse, zunehmende Verlagerung von Sachgegenständen auf die Europäische Union und einen sich fortentwickelnden europäischen politischen Willen eine Qualität erreicht hat, die die unionseigenen Normen in ein Konkurrenzverhältnis zu den innerstaatlich als Kernbereich der Legislative aufzufassenden Aufgaben rückt. Die Rechtsform des Vertrages im Primärrecht bedarf in mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wie der der Bundesrepublik einer Ratifikation, die eine gewaltenteilungsbezogene Zwischenstellung des Vertrages konstituiert122; gleichwohl ist er selbst kein Gesetz. Ratifikationsgesetz und Vertrag – wiewohl

119

Suggestiv Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 634, unter Verweis darauf, daß selbst eine beliebige Bestimmung etwa aus der Niederlassungs-Richtlinie dem Art. 12 GG vorgehe und dies einen verfassungstheoretischen „Kraftakt“ bedeute. 120 Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 92. 121 Vgl. Ipsen/Nicolaysen, Fusion der europäischen Exekutiven und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1963, S. 2209-2215. 122 Vgl. hierzu Kap. 2.

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ihrem Regelungsgehalt nach wortlautidentisch – können normsystematisch nicht in eins gesetzt werden123. Die Rechtsakte des Sekundärrechts – hauptsächlich Verordnung und Richtlinie – sind ihrer Ermächtigungsgrundlage nach primär als Ausübung von Exekutivgewalt anzusehen. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß mit einer Stärkung des im dritten Kapitel zu erörternden Beteiligungsstatus des Europäischen Parlaments eine Akzentverlagerung im Sinne staatsrechtlichen Gewaltenverständnisses einhergeht, die es rechtfertigt, von einer exekutivischen Einordnung der unionsseitigen Legislativtätigkeit insgesamt oder zum Teil abzuweichen124. Für die Bemühung um ein integriertes Handlungsformverständnis folgt daraus für das Sekundärrecht jedenfalls als konzeptioneller Ausgangspunkt eine normsystematisch untergesetzliche Position. Diese aus dem Ermächtigungszusammenhang resultierende Zuordnung findet indes in der Wahrnehmung von Regelungsfunktionen durch die Europäische Union weder dem Umfang noch der Intensität des Gebrauchmachens nach eine durchgängige rechtstatsächliche Entsprechung. Vielmehr erstreckt sich die rechtsetzende Tätigkeit der Gemeinschaft durch Verordnung und Richtlinie in großen Teilen auf Bereiche, die innerstaatlich gesetzesbedürftig wären. Die fehlende Korrelation von Organisationsstruktur und Befugniswahrnehmung mit überkommenen staatsrechtlichen Strukturen erschwert Verbesserungen des Legitimationsprofils der Europäischen Union ab initio, weil die dem staatsrechtlichen Modell der Regelsetzungsorganisation geläufige Konvergenz zwischen Legitimationsanspruch und korrespondierender Organisationsform, zu dem sich das Gemeinschaftsrecht als spezifisch different ausweist, seinerseits wesentlich legitimationsprinzipiellen Gründen folgt.

d) Zielsetzung: Auflösung der Inkongruenz von Funktion und Organisation Die bloße gemeinschaftsrechtsinterne Normsystematisierung125 reicht für ein integriertes Gesamtsystem der Rechtsordnungen nicht aus; der einseitige Vor123

Zum Verhältnis von Zustimmungsgesetz und Vertragsgeltung eingehend unten, Kap. 3., II. 124 Pauschal für eine Parlamentarisierung der gemeinschaftlichen Legislativtätigkeit gleichwohl – verständlicherweise – die Forderungen des EP selbst, etwa Resolution des EP vom 13. 4. 2000, www.europarl.eu.int/igc2000/offdoc/en/offdoc0_0.htm. Diese Bemühungen um eine Akzentverlagerung werden im wesentlichen demokratieprinzipiell begründet; kritisch in bezug auf das zugrunde liegende Institutionen- und Verfassungsverständnis demgegenüber unten, Kap. 4, III. 125 Hierzu etwa Herwig Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999, insb. S. 23 ff.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

rang des Gemeinschaftsrechts genügt andererseits nicht zur Schaffung einer im umfassenden Sinn aufgabenadäquaten Kompetenzbalance zwischen den Systemen Staat und Union. Das gesamte europäische Gemeinschaftsrecht ist – dies begründet die spezifische Differenz zum klassischen Völkerrecht – auf die unmittelbare Einwirkung auf das innerstaatliche Rechtssystem hin angelegt126. Schon deshalb wird die – vom Bundesverfassungsgericht vertretene – Einordnung von mitgliedstaatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Normsystemen als isolierten „Teilrechtsordnungen“127 der Geltungswirklichkeit und der normativen Intention der Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Ordnungssystems nicht gerecht. Schließlich ist das Gemeinschaftsrecht mit seinem geltungslogischen Vorrang zur jedenfalls teilweisen, überformenden Gestaltung der innerstaatlichen Rechtswirklichkeit von einem supranational-gemeinschaftlichen Gravitationszentrum her konzipiert128. Das entspricht jedenfalls vom Resultat her einhelliger Auffassung, unabhängig davon, ob man die Begründung hierfür im Rechtsgedanken des effet utile (so der EuGH) oder in der Autorität der die Hoheitsgewalt transferierenden Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ (so das Bundesverfassungsgericht) begründet sieht, und ist der eigentliche funktionale Grund für die Konzeption des Geltungsvorrangs. Dies dokumentiert die notwendige Verbundenheit von Geltungsanalyse und Handlungsformsystematisierung. Der Geltungsvorrang konvergiert aber nicht – dies wird im einzelnen noch zu zeigen sein – mit einer dem normhierarchischen Funktionengehalt europarechtlicher Rechtsformen entsprechenden Begründbarkeit des Vorrangs. Das europäische Gemeinschaftsrecht fließt „über die Brücke“ des nationalstaatlichen Zustimmungsaktes129, ist aber – einmal in Geltung gesetzt – diesem selbst dort vorgeordnet130, wo es in sekundärrechtlicher Form gänzlich nachrangige Ausführungsfragen zum Gegenstand hat und ggf. von bloßen Exekutivorganen

126 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsakte vgl. EuGH (oben Fn. 18); Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 82. 127 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 617: „axiomatischer Grundansatz“. Vgl. zur Autonomie auch ausführlich Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 47; von Bogdandy, Integration 1993, S. 210, 213. 128 M. Köhler, Form und Inhalt europäischer Strafrechtsangleichung, KritV 2001, S. 305 ff., spricht diesbezüglich – insbesondere in bezug auf das Strafrecht – kritisch vom Anspruch eines „europäischen Zentralismus“. 129 So Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 14; BVerfGE 89, 155 ff.; vgl. bereits BVerfGE 73, 339, 375; zur Notwendigkeit der Einschränkung dieser Formel aus den Grundsätzen der Vertragsnormativität vgl. unten, Kap. 3, II. 130 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 634; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585 ff.

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erlassen ist131. Die Priorisierung des Systems der europarechtlichen Legislativhandlungsformen steht in einem eigentümlichen Kontrast zur derivativen Bestimmung ihres Geltungsgrundes in Abhängigkeit von nationaler Souveränität. Bloße Exekutivakte, die innerstaatlich untergesetzlichen Rang bekleiden, treten zu nationalen Gesetzes- und sogar Verfassungsnormen in ein Vorrangverhältnis. Das Programm zur rechtsbegrifflich angemessenen Auflösung der dargelegten Paradoxie, die zugleich die Sollbruchstelle zwischen den divergenten Auffassungen von BVerfG und EuGH zu ihrem im übrigen formelhaft beschworenen „Kooperationsverhältnis“132 verkörpert, für die handlungsformorientierte Gesamtsystematisierung kann nur in einer Verhältnisbestimmung europäischer Legislativakte in bezug auf das Staatsrecht bestehen, die einerseits die vernunftrechtlichen Gehalte der staatsrechtlichen Handlungsformen auch gegenüber dem Europarecht verteidigt, andererseits das bisherige Vorrangdogma, von dem das Europarecht unweigerlich abhängig ist133, unangetastet läßt.

3. Konkordanzbildung als methodologisches Grundprinzip Schon die Gegenüberstellung der einzelnen methodologischen Aspekte, mit denen die vorliegende Arbeit für die sich stellenden Probleme zumindest Ansätze einer Überwindung aufzeigen will, zeigt eine Regelmäßigkeit. Der Kontrast zwischen quasi „axiomatischen“ Elementen supranationaler Struktureigenheit und staatstheoretischer Prinzipienorientierung verweist auf eine Notwendigkeit, beides in Übereinstimmung zu bringen. Die methodische Kon131

Vgl. wiederum Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 634. BVerfGE 89, 155, 156, (7. Leitsatz) sowie 175; vgl. Limbach, FAZ vom 29. 08. 2001, S. 1, 2; Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965-974; ausführlich dazu auch Schwarze, Das „Kooperationsverhältnis“ des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof, 2001, S. 223 ff.; dazu auch Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 541 ff.; eingehend ebenfalls Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Kollisionskurs? AöR 119 (1994), S. 564; kritisch gegenüber die Konflikte verdekkenden Formeln vom „Zusammenwirken“ der „praktischen Konkordanz“, dem „Gleichklang“ auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, Der Staat 41 (2002), S. 394 m.w.N. 133 Plastisch – wenngleich in Verkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses – Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 19: „Wegen des spezifischen Charakters der Gemeinschaftsrechtsordnung kann der Staat, nur weil er Staat ist, keinen Vorrang für sein Recht beanspruchen“. Darlegungsbedürftig aufgrund des genetischen Abhängigkeitszusammenhangs der Europäischen Union vom Staat ist aber nicht der staatsrechtliche Vorrang, sondern der Gemeinschaftsrechtsvorrang. 132

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

struktionsfigur, die das Staatsrecht für den Abgleich widerstreitender kategorialer Eigenberechtigungen bereithält, ist die Prinzipienkonkordanz134. Während der Umgang mit dem Konstruktionsgefüge des Gemeinschaftsrechts entweder zu staatsrechtsbegrifflicher Restriktion oder einem vermeintlich innovationsfreudigen, funktionell motivierten Ausbrechen aus konstruktiven Notwendigkeiten neigt, versucht vorliegende, auf die Bildung von Prinzipienkonkordanzen angelegte Betrachtungsweise zur Beurteilung konkrete Fragestellungen zunächst auf die hinter ihr stehende kategoriale Allgemeinheit zurückzugehen und ausgehend von dieser Problemdistanzierung die Gewichtigkeit zu berücksichtigender Interessen im Mehrebenengefüge gleichsam neutraler zu beurteilen und in konkreten Lösungsvorschlägen so angemessen zu veranschlagen, daß das Resultat die abstrakte Gewichtigkeit reflektiert. Wie sich zeigen wird, wiederholen sich die Konstruktionsmuster. Die in Abgleich zu bringenden Kategorien auf den einzelnen Ebenen des legislativen Gesamtsystems kreisen letztlich um die allgemeine Verhältnisbestimmung von Europäischer Union und Nationalstaat. Den dem Staatsbegriff inhärenten Institutionen und Prinzipien, wie Demokratie, Souveränität, Republikanismus, Parlamentarismus, aber auch die dem Staat vorangehenden vorrechtlichen Bedingungen, wie Identität, Homogenität und Volksbegriff ist eine Tendenz eigen, die Konstruktionsalternativen der Europäischen Union zu restringieren. Dem stehen die Kategorisierungen der Neuartigkeit, einerseits in bezug auf ihrerseits staatsrechtskompatible Begriffe wie Föderalismus, aber auch kategoriale Neuschöpfungen wie Mehrebenenverbund, Supranationalität, institutionelles Gleichgewicht, entgegen. Die Aufnahme dieser Merkmale und ihre Gegenüberstellung in den jeweiligen Konstruktionsfragen macht deutlich, daß es hier methodisch um Prinzipienabgleiche geht, bei denen die konfligierenden Prinzipien in ihrer Gewichtigkeit beleuchtet werden und sodann das Konkordanzverhältnis hergestellt wird. Die Anwendung von Prinzipien auf das rechtsempirisch junge Phänomen des europäischen Gemeinschaftsrechts stellt vor die Problematik, daß die legitimitätstheoretischen Grunderwägungen neuzeitlicher Rechtstheorie weitaus über-

134

Eine ausführliche monographische Darstellung dieser Methodenfigur fehlt, soweit ersichtlich, bislang; Verhältnisbestimmungen namentlich zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liefern Clerico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Mit einer exemplarischen Darstellung seiner Geltung im Atomrecht, 1985. Die damit suggerierte Abhängigkeit des Konkordanzgedankens vom Verhältnismäßigkeitsprinzip vermag ist allerdings dem Einwand ausgesetzt, daß Konkordanzbildungen sich nicht in einem Optimierungsgebot erschöpft, sondern auch in einem durch Unverfügbarkeiten geprägten Prinzipienverhältnis zum Tragen kommen kann; a.A. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152, der das Abwägungsmodell und das Prinzip der praktischen Konkordanz gleichsetzt.

II. Beitrag zur europäischen Gesetzgebungslehre

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wiegend auf den Staat als Normalform rechtlicher Institutionalisierung bezogen sind135. Daraus folgt indes kein Ausschluß einer Heranziehbarkeit prima facie staatorientierter Prinzipien auf das Gemeinschaftsrecht. Vielmehr ist jeweils zu untersuchen, ob der Staatsbezug schlichtes Resultat einer rechtsempirischen Ausschließlichkeit des Staates in der jeweiligen Zeit oder wirklich der Exklusivität staatlicher Formbedingungen geschuldet ist. Diese Fragestellung wiederholt sich in bezug auf mehrere Prinzipien, die letztlich allesamt die gleiche Problematik einer angemessenen Balance zwischen rechtskategorialer Adaptionsfähigkeit und rechtsbegrifflicher Staatsexklusivität aufwerfen. Den in dieser Untersuchung offerierten Problemlösungsstrategien ist gemeinsam, daß sie einerseits auf Konkordanzbildung zwischen konfligierenden Prinzipien orientiert sind und andererseits versuchen, aus der Bestimmung der Gehalte verfassungsrelevanter Prinzipien selbst Anhaltspunkte für die Applizierbarkeit solcher Prinzipien auf staatsgelöste Institutionenzusammenhänge wie die Europäische Union zu gewinnen. Es mag das Verständnis daher erleichtern, wenn bereits an dieser Stelle auf den methodischen Zugriff im Abgleich dieser Gegenläufigkeiten hingewiesen wird, so daß der Leser nachvollziehen kann, ob die vorliegende Untersuchung ihr methodisches Selbstverständnis in ihren konkreten Konstruktionsableitungen einlöst. Die methodologische Ausrichtung gebietet zugleich einen behutsamen, an neuralgischen Punkten über den Hintergrund von Begriffsverwendungen explizit Rechenschaft ablegenden Gebrauch von Kategorien. Manche der verwendeten Kategorien sind infolge ihrer sozial- und politikwissenschaftlichen Herkunft keine spezifisch juristischen Termini und müssen deshalb, soweit sie sich zu auch juristisch gehaltvollen Kategorien verdichtet haben, in ihrer Bedeutung neu eingeführt werden. Bei den meisten dieser Begriffe genügt es, wenn dies im Kontext mit der konkreten Konstruktionsproblematik, zu deren Instruktion sie beitragen, miterläutert wird. So erscheint etwa der Begriff des Mehrebenensystems als eine sozialwissenschaftliche Fortentwicklung der schon im Föderalismusprinzip artikulierten Einsicht, daß mit dem unitarischen Modell des klassischen Staates Alternativen der Diversifikation von Herrschaftsausübung konkurrieren. Andere Begrifflichkeiten haben bereits eine Verselbständigung im Kontext ihrer Verwendung erfahren, die sie zu termini technici des Gemeinschaftsrechts machen. Ihre Verwendung muß darauf Bedacht nehmen, nicht in scheinbar deskriptiver Absicht bereits die Konstruktionsmöglichkeiten zu präjudizieren. Ein Hauptbeispiel für einen solchen Begriff stellt die Supranationa-

135 Vgl. für das Demokratieprinzip ebenso Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 652 f.

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Kap. 1: Das handlungsformorientierte Kompetenzkonzept

lität dar. Die Europarechtswissenschaft hat ihn als Typbegriff ausgeprägt, unter dem sich die spezifisch völkerrechtstranszendierenden Kennzeichen des Gemeinschaftsrechts konzentrieren136, also Anwendungsvorrang137, unmittelbare Anwendbarkeit138, partielle Verselbständigung von Rechtssetzungsbefugnissen vom innerstaatlichen Willensbildungszusammenhang, Ausprägung von organisationsinternen normhierarchischen Differenzierungen etc. Solche Termini dürfen ihrerseits nicht in der Absicht herangezogen werden, hiermit eine Festschreibung eines bestimmten status quo institutioneller Verselbständigung oder – umgekehrt – staatsrechtsdifferenter Unabgeschlossenheit festschreiben zu wollen. Ihre Verwendung muß den Vorrang prinzipienorientierter Problemlösung beachten und sich in den von diesem ausgehenden Konstruktionszusammenhang einfügen, sollen nicht die Begriffe eine Herrschaft über die von ihnen erfaßte (rechtliche) Wirklichkeit erhalten.

136

Vgl. nur Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3, S. 69 ff. m.w.N.; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, insb. S. 106 ff., 136 ff.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 262: „Verfassungsprinzip der Supranationalität“. 137 Vgl. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Festschrift Stern 1997, S. 1239 ff. 138 Teilweise zusammengefaßt etwa unter dem Begriff der „Durchgriffswirkung“, vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 11; Grabitz, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 189, Rdnr. 13; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 83.

Kapitel 2

Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip der legislativen Willensbildungsprozesse im Staatsrecht

I. Legitimitätsverständnis und Legitimitätsbesonderheiten der Europäischen Union Die Bestimmung der Systemstellung von staats- und gemeinschaftsrechtlichen Legislativhandlungsformen in Abhängigkeit von der ihnen zugrunde liegenden Legitimitätsstruktur ist nicht möglich ohne die Vergewisserung über den begrifflichen Hintergrund des Legitimitätsverständnisses. Das Legitimitätsproblem ist einerseits schlechthin konstitutiv für den Bereich der praktischen Philosophie überhaupt1. Die Notwendigkeit einer entwickelten Legitimitätstheorie des Rechts ist Bestandteil aller Reflexion über Grundlagen des Rechts seit der Antike2. Dennoch läßt sich nicht feststellen, daß konkrete positivrechtliche Problemstellungen durchgängig von einer auf die Legitimitätsgrundlage wenigstens implizit zurückbezogenen Betrachtungsweise her instruiert wären3. Gerade im Kontext der mit der Europäischen Union zusammenhängenden institutionellen Fragestellungen hat ein effektivitätsorientiertes oder

1 Begriffsgeschichtlich Hasso Hofmann, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, 1980, S. 162 („Legalität, Legitimität“). 2 Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 9-48; ders., Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, 1974; vgl. auch Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997. Guter Überblick bei Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: O. Brunner/W. Konze/R. Kosellek (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 6, 1990, S. 901-945. 3

Eine Tendenz zur Verrechnung von Kategorien dokumentieren etwa Lobkowicz, Legitimität oder Effizienz – das Dilemma der Regierungskonferenz, in: Philipp-MorrisInstitut (Hrsg.), S. 48 ff.; Wilming, Institutionelle Konsequenzen einer Erweiterung der Europäischen Union. Eine ökonomische Analyse der Entscheidungsverfahren im Ministerrat, 1995; grundlegend zur kategorialen Kritik hieran statt vieler Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 77 ff.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

primär an der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ausgerichtetes Institutionenverständnis nach wie vor großes Gewicht. Die rechtswissenschaftliche Diskussion unterteilt sich insofern eigentümlich in Beiträge, die einerseits die Fundamentalfrage von Legitimitätsbegriff und allgemeinen Strukturprinzipien legitimen Rechts betrachten, und solchen, die andererseits um die konkreten Konstruktions- und Institutionenprobleme positiven Rechts unter impliziter Voraussetzung vermeintlich vorfindlicher Legitimitätskonsense bemüht sind. Solche Unverbundenheit von Grundlagenfrage und positivrechtlichen Fragestellungen ist nicht problemgerecht. Eine legitimitätsorientierte Betrachtung von Handlungsformen kann sich nicht mit der Übernahme vorgefundener und deshalb teilweise unproblematisierter Anforderungen an die Legitimität der Europäischen Union begnügen; eine von der Problematisierung des Begriffsverständnisses losgelöste Legitimitätsdiskussion stünde in eigentümlichem Gegensatz zu den vielfältigen Konnotationen, die der Legitimitätsbegriff in der rechtsphilosophischen, -soziologischen und -theoretischen Diskussion transportiert, und mit denen zur paradigmatischen Verortung jedenfalls eine allgemeine, standortbestimmende Auseinandersetzung erforderlich ist. Viele Lösungsansätze zum behaupteten Legitimitätsdefizit der Europäischen Union kranken demgegenüber an einer nicht hinreichenden Vergewisserung über die Befundlage, bezogen auf die es Defizite zu beheben gilt. Die mangelnde Thematisierung des Legitimitätsbegriffs selbst führt zu einer unklaren begrifflichen Grundlage für die Beurteilung europäischer Rechtsetzung. Nach der hier vertretenen Position geht jedoch von einer Reflexion auf die legitimatorischen Grundlagen der einzelnen rechtlichen Handlungsformen die Instruktion zu einer tragfähigen Verteilung der Wahrnehmungsberechtigungen auf diese Formen aus. Der auch positivrechtlich greifbare Vorteil einer solchen expliziten Vergewisserung über das zugrunde gelegte Legitimitätsverständnis und die allgemeine Legitimitätsanforderung, unter dem Recht schlechthin steht, liegt darin, daß dies in bezug auf die Anforderungen an die europäische Integrationsgemeinschaft eine differenzierende, die Unterschiede mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen in ihren Nuancen zur Geltung bringende verfassungsrechtliche Betrachtung dort überflüssig macht, wo sie als den Mitgliedstaaten Gemeinsames vorausgesetzt werden kann, und hierdurch das Herausarbeiten von sachangemessenen Strukturen der Europäischen Union auch ohne aufwendige rechtsvergleichende Analysen4 ermöglicht. Dem entspricht eine methodische Grund4 Kompetenzverteilungsmodelle im Verfassungsvergleich analysiert z. B. Pernice, Kompetenzordnung und Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsrecht“, Seminar im Sommersemester 2001; ders., Kompetenzabgrenzung im Europäischen

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orientierung der vorliegenden Untersuchung auf allgemeine, als universal vorausgesetzte und ihren je spezifischen Kontext damit transzendierende legitimitätsverwirklichende Strukturprinzipien. Legitimität ist ein metapositives Prädikat, das den positivrechtlichen Verfassungsdifferenzierungen5 als gemeinsame Anforderung vorangeht. Im folgenden ist zunächst rekapitulativ zu zeigen, was die allgemeine Grundlage der Legitimität von Recht ausmacht (1.). Diese Bezugnahme soll sodann spezifiziert werden, indem aufgezeigt wird, daß das neuzeitlich zentrale Legitimitätskriterium des Freiheitsbezugs kategorisch eine konstruktive Verbindung des positiven Rechts zum Willen des Individuums erfordert (2.). Diesem Anspruch ist als Gegenstand einer kritischen Standortbestimmung der Diskussionsstand zu Legitimationsansätzen der Europäischen Union entgegenzusetzen, um aufzuzeigen, daß die Besonderheiten der Europäischen Union einen Dispens vom universellen legitimatorischen Begriffsprofil des Rechtsprinzips argumentativ nicht zu tragen vermögen (3.). Wie den Spezifika einer supranationalen Rechtsgemeinschaft gleichwohl in methodologisch befriedigender Weise Rechnung getragen werden kann, ohne auf die Rückbindung europäischer Rechtswillensbildung an die allgemeinen Legitimitätsbedingungen von Recht verzichten zu müssen, zeigt sodann – zunächst als eine abstrakte begriffliche Klärung quasi im Vorgriff zu den einzelnen konstruktionslogischen Einzelerwägungen der Kapitel 3 und 4 – der Abschnitt (4.). Die Betrachtung des Legitimitätsbegriffs als paradigmatische Fragestellung vor jeder Bezugnahme auf die sich im einzelnen stellenden konstruktiven Probleme des supranationalen Handlungsformgefüges ersetzt keine Stellungnahme zu den Argumenten, die im Rahmen konkreter gemeinschaftsrechtlicher Problemstellungen aktuell werden und hier unterschiedliche Konstruktionsoptionen aufzeigen. Wenn aber bereits auf legitimationsbegrifflicher Ebene Unverfügbarkeiten herausgearbeitet werden können, entlastet dies die Konkretisierungsaufgaben, weil es Argumentationsansätze ausschließt, die auf kompensatorischen Erwägungen beruhen: nämlich bestimmte, aus dem allgemeinen Legitimitätsgrund des Rechts folgende Konstruktionsnotwendigkeiten durch andere konstruktive Vorteile auszugleichen. Solche disqualifizieren sich durch ihre mangelnde kategoriale Gleichrangigkeit zum Legitimitätspostulat. Damit dient dieses Vorgehen der Komplexitätsreduktion der nachfolgenden Handlungsform- und Kompetenzfragen.

Verfassungsverbund, FCE-Spezial deutsch/fce/fcespez4/pernice.htm.

06/2000,

http://www.rewi.hu-berlin.de/WHI/-

5 Verfassungsvergleichend etwa J. Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000, S. 463.

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1. Der allgemeine Legitimitätsgrund von Recht Mit dem Kriterium rechtlicher Legitimität in einem allgemeinen Sinne sind zunächst unterschiedliche Dimensionen und ein weiter Kanon von Auffassungen übergreifend bezeichnet. In einem konkreteren Sinne hingegen ist mit der Legitimitätsfrage zunächst und vordringlich eine Entscheidung zwischen faktizitätsorientiertem und normativischem Verständnis thematisch. Dem ersteren Verständnis sind Positionen zuzuordnen, die wesentlich auf Phänomene der „Akzeptanz gesellschaftlicher Kräfte“ gegenüber dem Recht abstellen6; normativ orientiert steht hingegen die Frage nach der Akzeptabilität von Recht und der Quelle dieser Akzeptabilität als Legitimitätskriterium im Mittelpunkt7. Diese Gegenüberstellung gilt es hier nicht zu vertiefen8; festzuhalten ist jedoch, daß die Gleichsetzung von Rechtslegitimität mit faktischer Akzeptanz von Recht eine Empirisierung des Rechtsbegriffs beinhaltet, die das Wesen des Rechts in seiner transzendentalen, normativen Wesensbedeutung unterbestimmt9. Das Prädikat der Rechtlichkeit im Sinne eines materialiter ausgezeichneten, hierdurch den Rechtssubjekten gegenüber akzeptablen rechtlichen Prinzips hängt nicht von der faktischen Zustimmung der Rechtsadressaten ab, sondern wird durch selbige allenfalls beglaubigt10. Unspezifisch ist die so verstan6

Prägend für dieses Verständnis wesentlich Max Weber, Staatssoziologie, 1920, S. 99 ff.; vgl. dazu auch Hartmuth Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 124; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 94 ff. 7 So namentlich Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Graf Kielmannsegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 7/1976, S. 39: Legitimität als „Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung“. 8 Ausführlich dazu bereits Alexy, Der Begriff und die Geltung des Rechts, 1992; Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 41 ff. 9 Grundlegend für die Unterscheidung von Sein und Sollen Hume, Treatise of Human Nature, III, 1, 1; zum Streitstand in der Auslegung der Kritik Humes instruktiv Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, 1988, S. 30 ff.; begrifflich fortführend die Verhältnisbestimmung von Kausalität und Sollen Kant, KrV, Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit, B 575. 10 Diese das Rechtsprinzip betreffende Feststellung darf nicht mit der Frage vermengt werden, daß der prinzipielle Gehalt der Freiheitlichkeit des Rechtsbegriffs durch die prozedural-partizipative Einbezogenheit der Rechtsadressaten in den konkreten Prozeß der Legislativwillensbildung institutionell eingelöst wird (zum Institutionenverständnis des republikanisch-repräsentativen Staates und seiner freiheitsverwirklichenden Funktion vgl. unten, III.). Von einem kantischen Standpunkt ausgehend stellt sich aber das Wesen materialer Rechtslegitimität nicht – konsensempiristisch – als Folge der realen gesellschaftlichen Akzeptanz, sondern als ein den apriorischen Geboten der reinen praktischen Vernunft (vgl. zum Wesen der reinen praktischen Vernunft Kant, KpV, V, 89 ff.) entsprechendes interpersonelles Ordnungsmodell dar. Die partizipativen Gehalte einer freiheitlich konfiguierten, republikanischen Staatsinstitutionenstruktur setzen

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dene, materiale Legitimitätsdimension der Rechtlichkeit als gehaltvoller normativer Bestimmung durch seine inhaltliche Qualität zu umschreiben, Ausformung und Konkretisierung von materialer Gerechtigkeit zu sein11. a) Das zugrundezulegende Richtigkeits- bzw. Gerechtigkeitskriterium hat durch die neuzeitlichen Individualismuszentrierung einen spezifischen, subjektsorientierten Inhalt erhalten, bestehend in der Rechtfertigung gegenüber dem Einzelnen12, das die kategoriale Grundlage für den vom Recht zu verwirklichenden Gerechtigkeitsgehalt auf ein bestimmtes Konzept hin spezifiziert und für abweichende Gerechtigkeitskonzeptionen keinen Raum läßt: Dem neuzeitlichen Verständnis von Rechtslegitimität geht es um den Aufweis von (Rechts-) Herrschaft als zu Recht bestehender13 auch gegenüber dem autoritätsskeptischen Einzelnen. Im Unterschied zu den überkommenen teleologischtheologischen Lösungsansätzen (Gottesgnadentum, bonum commune, Entelechie und Eudaimonia als Schlagworte subjektsexterner oder doch zumindest immanent-objektiver Gutsvorstellungen14) vormoderner Zeit setzt sich im neuzeitlich gewandelten Rechtsverständnis der individualistische Akzent der Legitimitäts- wie Geltungsbegründungstheorien in seinem Freiheitsbezug durch. Kernelement dieser Legitimitätsargumentation ist die unverfügbare Rückführung rechtlicher Zwangsordnung auf das freie Wollen des Individuums – entweder faktisch durch Mechanismen realer Akzeptanzartikulation15 oder konstruktiv hypothetisch durch den Nachweis der Akzeptabilität16. Staats- und demnach ein kategorisches, deempiristisches Rechtsprinzip, aus dem sie begrifflich zu entwickeln sind, voraus. 11 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts 1992, III., S. 39 ff.; R. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Recht – Staat – Vernunft, 1. Aufl. 1991, S. 8 ff. 12 Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: O. Brunner/W. Konze/R. Kosellek (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 6, 1990, S. 901-945; ders., Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994. 13 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 141; zum Rechtsbegriff M. Köhler, Iustitia Distributiva, ARSP 1993, S. 457, 459, m.w.N.; für das bundesdeutsche Staatsrecht etwa Stern, Staatsrecht, Band 1, 2. Aufl., § 18 I 4, S. 593 ff.; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 12, Rdnr. 1 ff. 14 Dazu im einzelnen M. Köhler, Iustitia Distributiva, ARSP 1993, S. 457 ff.; in bezug auf Thomas von Aquin auch Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 33. 15 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 34. 16 Zur Differenzierung zwischen Konsensempirismus und Konsensapriorismus und Formen ihrer Verwirklichung im Kontraktualismus des deutschen Naturrechts vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 32 ff.; diskurstheoretisch grundlegend etwa Habermas, Diskursethik, 1983, S. 113.

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Rechtsbegründung – wiewohl nicht identisch – weisen darin eine enge Verknüpfung auf, daß die Konstituierung einer zusammenschlußbedingten Herrschaftsinstanz mit Gewaltmonopol die Frage des Verhältnisses von Rechtszwang und apriorischem Freiheitspostulat besonders sinnfällig zuspitzt17. b) Bekanntlich begnügen sich positivistische Rechtstheorien demgegenüber mit der Analyse von normenhierarchischen Problemstellungen und eliminieren die Frage nach inhaltlichen Anforderungen an den Begriff des Rechts entweder als unwissenschaftlich gänzlich aus der Problemstellung18, oder bemühen sich um den Aufweis einer konstruktiven Emanation von Legitimität aus Legalität19, beziehen sich also selbstrestriktiv auf eine positivitätsimmanente Begründung von Legitimität20. Auch systemtheoretische Ansätze stellen insgesamt das mit der Frage nach der Rechtslegitimität implizit verbundene Konzept legitimationsbedürftiger rechtlicher Steuerung insgesamt zur Disposition, indem schon die Prämisse rechtlich induzierten Steuerungsvermögens gegenüber gesellschaftlichen Interaktionsprozessen in Abrede gestellt wird21 und dadurch das Bezugssubstrat für eine legitimitätsorientierte Argumentation insgesamt entfällt. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich darauf, die rechtstheoretische Einordnung des zugrunde gelegten Legitimitätsverständnisses und seiner Begründung aufzuzeigen, ohne zugleich eine explizite Rekapitulation der allgemeinen Positivismuskritik zu formulieren. Die Notwendigkeit, den Rechtsbegriff auf die Frage der Legitimität hin zurückzubeziehen, kann in der Abkehr vom Positivismus im Zuge der Nachkriegszeit eine weit überwiegende Ansicht 17

In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, in FS Böckenförde 1995, S. 32, meint, daß im Sinne Kants gewissermaßen alles geltende Recht als über die staatliche Autorität vermittelt öffentliches Recht sei. 18 Etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 201: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein“. Vgl. dazu im Überblick Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl., 1994, § 65; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 15 ff., 31 ff. 19 Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 8: „In der allgemeinen Legalität aller staatlichen Machtausübung liegt die Rechtfertigung eines solchen Staatswesens.“ Vgl. auch dens., S. 14 m.w.N., bezugnehmend auf Max Webers Formulierung: „die heute geläufigste Legitimitätsform ist der Legalitätsglaube“. Kritisch dagegen Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, 1991. 20 Zur immanenten Begründungsschwierigkeit, Legalität als Legitimitätsgrund auszuweisen Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 22, m.w.N. (ebd., Fn. 48), bezugnehmend auf die Kategorisierung der Herrschaftsformen bei Max Weber; Lübbe (Fn. 19). 21 Vgl. dazu etwa Oliver Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999.

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für sich vereinnahmen22. Was Positivismus und Neopositivismus den an einem materialen Rechtsbegriff orientierten Rechtstheorien argumentativ vorhalten23, kann als paradigmatisch ausdiskutierte, argumentativ feststehende Positionsbestimmung angesehen werden, deren Einzelheiten an anderer Stelle zur Genüge dargestellt sind24. Streng positivistische Betrachtungen leugnen entweder die konstruktive Prozeduralisierbarkeit einer materialen Richtigkeitsanforderung an Recht generell und scheiden damit aus der Teilnahme an der Betrachtung der Europäischen Union als konstruktiv notwendig freiheitlicher Ordnung aus, weil dieser Betrachtungsgegenstand jenseits ihres Wissenschaftsverständnisses liegt, oder müssen sich mit Surrogaten begnügen, die ihrerseits den fundamentalen Rahmen der Legitimitätsfragestellung nicht ausschöpfen. Ob die Stellung des Rechts in der positivistischen Betrachtungsweise unterbestimmt wird, wovon hier ausgegangen wird25, oder nicht, ist demnach eine paradigmatische Frage, die aber als Grundlage des Kontextes, in dessen Rahmen sich die vorliegende Untersuchung um die Optimierung eines bestimmten Legitimitätsprofils im Konstruktionsgefüge der Europäischen Union bemüht, keiner spezifischen Entscheidung bedarf, weil sie als notwendiger Konsensgegenstand einer legitimitätorientierten Perspektive auf die Europäischen Union überhaupt vorausgelagert ist. Da die Auseinandersetzung nicht um das „ob“, sondern um das „wie“ der Legitimitätsfrage und ihrer europabezogenen Konkretisierungen geführt wird, reicht es dementsprechend aus, einerseits den zugrunde gelegten Sinngehalt des Legitimitätsverständnisses auszuweisen und damit die konstruktiven Fundamente der nachfolgenden Prinzipienableitungen offenzulegen, andererseits konkurrierende Paradigmen zu kritisieren. Kategoriale Einwände gegen den mit dieser Untersuchung unterbreiteten Konstruktionsvorschlag können sich dementsprechend entweder auf die paradigmatische Grundlage direkt beziehen und hierin die Grundproblematik des Schulenstreits zwischen

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Etwa Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990; ders., Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 41 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, 9. Aufl., 1983, S. 114; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 39 ff.; R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, Studien zur Rechtstheorie 2, 1991. 23 Berechtigte Teilkritik an methodisch unausgewiesenen Gerechtigkeitsassoziationen und resultierender Begriffsunklarheit konstatiert Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, Anhang zu dems., Reine Rechtslehre, 1960, S. 355 ff.; vgl. auch R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, Studien zur Rechtstheorie 2, 1991, S. 12 ff. 24

Vgl. die Darstellung der Schulenstreits bei Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, Kap. 3, S. 20 ff. 25

Wegweisend für die vernunftrechtliche Positivismuskritik in der Betonung des Doppelsinnes des Rechtsbegriffs nach wie vor Kant, MdS, RL, § A, IV, 229, 230; vgl. dazu auch Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 130 ff.; Ophüls, Ist der Rechtspositivismus logisch möglich?, NJW 1968, S. 1745 ff.

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Positivismus, materialem Rechtsbegriff oder „drittem Wege“26 aufnehmen, ohne sich mit konkreten Konstruktionsproblemen einer europäischen Gesetzgebungslehre und einer möglichen resultierenden Kompetenzordnung auseinandersetzen zu müssen, oder sich auf die immanente Schlüssigkeit der kategorialen Ableitungen beziehen, ohne den paradigmatischen Ausgangspunkt in Frage zu stellen. Der vorliegenden Untersuchung geht es demnach auch um eine Bereinigung möglicher konstruktiver Alternativen der Europäischen Union von Unschärfen, die aus der unausgewiesenen Unterschiedlichkeit von Paradigmen resultieren, auf sie beruhen. Die Paradigmenfrage gewissermaßen „vor die Klammer zu ziehen“, hilft daher auch zur Entlastung der positivrechtlichen und rechtspolitischen Diskussion.

2. Neuzeitliches Legitimitätsverständnis: Der Zentralbegriff der Willensautonomie Auch innerhalb der Gruppe der genannten, für neuzeitliches Rechtsverständnis kennzeichnenden individualismuszentrierten Legitimitätsbegründungen sind die Abstufungen der Konzepte erheblich. Die sie übergreifende Gemeinsamkeit liegt in ihrer Bezugnahme auf den freien Willen des Individuums27, nicht alle gehen jedoch von einem gleichermaßen normativ tragfähigen Willensbegriff aus. Die unterschiedliche Plausibilität der Konzeptionen, die mit dem Subjektsbezug verbunden sind, resultiert aus dem unterschiedlichen Konzept individueller Freiheit, das den Subjektsbegriff inhaltlich ausfüllt. Die von den Repräsentanten eines subjektszentrierten, insofern modernen Legitimitätsverständnisses vorgenommenen Kennzeichnungen des individualistischen Paradigmas weichen in Abhängigkeit davon erheblich voneinander ab, wie das Subjektskonzept freiheits- und willensbegrifflich aufgefaßt wird. Dies ist im folgenden zunächst zu skizzieren, um sodann28 nachvollziehen zu können, wie der staatsrechtliche Prinzipienzusammenhang diese Grundlage aufgreift und als Organisationsform umsetzt.

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Diesen sieht Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, Kap. 4, I./II., S. 40 ff., namentlich in der Rechtsphilosophie Radbruchs verwirklicht. 27 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 12: „konsentisch und reflexiv“ strukturiertes Rechtfertigungsmodell der Neuzeit. Zu den neuzeitlichen Ansprüchen der Universalität und Autonomie Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 41 ff. 28 Dazu unten, Abschnitt II.

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a) Kontraktualistischer Voluntarismus: Hobbes Legitimationssubjekt ist seit Thomas Hobbes der freie Mensch, Legitimationsobjekt die fremde nötigende Willkür29; mit Hobbes tritt damit erstmals an die Stelle des metaphysischen Autoritätsarguments der rationale Appell, verbunden mit dem Versuch, Recht in seiner Nützlichkeit als zweckmäßig für Selbsterhaltung und individuelle Zweckverfolgung argumentativ auszuweisen30. Die Analyse der Unzweckmäßigkeit, mit dem jeweils anderen in einem Zustand latent kriegerischer Auseinandersetzung zu verharren, mündet in die bedeutende und hinlänglich bekannte Verrechtlichungsstrategie, welche fortan unter dem Begriff der Gesellschaftsvertragstheorie rezipiert wird31. Die Wirkmächtigkeit der Hobbesschen Innovation, Rechtsgenese als Idee vertraglicher Konsensfindung auszuweisen, dokumentieren nicht zuletzt die zahlreichen neokontraktualistischen Gerechtigkeitskonzeptionen auch der Gegenwart32, die in ihrer argumentativen Grundstruktur im wesentlichen Variationen der Hobbesschen Matrix verkörpern33. Aus der Radikalität der Prämissen dieser Konzeption, der alleinigen Anerkennung der eigenen Rationalität als Instanz, erwächst freilich auch sein begrenztes konstruktives Potential. Nicht allein die Plausibilität einer von Hobbes entworfenen Rechtsschaffungsstrategie unter gleichen Individuen, sondern auch deren konstruktive Operationalisierbarkeit, ihr Einmünden in einen Verfassungsbegriff sind Voraussetzung einer überzeugenden Verbindung von Subjektskonzept und Rechtsbegriff. Im bei Hobbes entwickelten, an der Methodologie der Naturwissenschaften orientierten Verständnis des Vernunftvermögens als bloßer mechanistisch-utilitärer Mittelklugheit34 ist die dem Recht 29

Diese kategoriale Legitimitätsanforderung ist einerseits in Abgrenzung zu einer inflationär-politisierenden Begriffsverwendung zu verstehen, die Legitimitätsdefizite überall dort ortet, wo Unzufriedenheiten der Rechtsunterworfenen mit bestimmten Teilzuständen des Rechts festzustellen sind. Vgl. dazu etwa Kreile, Legitimität und Demokratie in der Europäischen Union, Universitas 2000, S. 686 ff. 30 Zur Bedeutung von Hobbes als Begründer neuzeitlicher Legitimationstheorie insgesamt vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 12 ff.; zum Utilitarismus in der Auseinandersetzung mit modernen Entgegnungen Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 153 ff. 31 Einen umfangreichen Überblick liefert Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994. 32 Eingehende Darstellung bei Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987; vgl. Buchanan, The Limits of Liberty: between Anarchy and Leviathan, 1975; Nozick, Anarchy, State and Utopia, Oxford 1988; Rawls, A Theory Of Justice, 1999. 33 So auch Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994. 34 Kennzeichnungen bei Hobbes, De Cive, Kap. 1, 2.

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eigentümliche Perspektive immanenter Wechselseitigkeit nicht enthalten35. Der Pragmatismus des utilitär-rationalistischen Subjektskonzepts in der Theorie von Hobbes holt sich selbst ein. Der erforderliche Perspektivenwechsel vom solipsistischen Selbststreben zur distributiv zweckmäßigen Rechtsvergemeinschaftung läßt sich nicht auf ein Klugheitsvermögen gründen, das – wo es auf das legitime Freiheitsstreben des jeweils anderen stößt – den Anspruch des anderen immerfort nur als faktischen und zu überwindenden Widerstand rezipiert.

b) Vernunftrechtlicher Autonomiebegriff

aa) Subjektivrechtliche Reformulierung: Locke und Rousseau In der Folgezeit war es zunächst John Locke, welcher die autoritärabsolutistische Ausprägung der Hobbesschen Theorie durch stärkeren subjektrechtlichen Gehalt insbesondere des Eigentums reformulierte und den Staat damit nicht nur in der genetischen Konstruktion, sondern auch in der Aufgabenwahrnehmung nach einmal erfolgter Konstitution an das Recht des Individuums rückband36: Der Staat in seiner Verpflichtung zur Sicherung und Gewährleistung der individuellen Rechtssphäre erweist sich darin als Mittel zum individualistischen Zweck und folglich immanent limitiert. Zugleich impliziert die starke subjektiv-rechtliche Akzentuierung auch eine Fortentwicklung des Subjektskonzepts, die sich insbesondere anhand der Eigentumsbegründung in der für das Recht konstitutiven Bedeutung dokumentiert, durch andere anerkannt zu werden. Die rechtsbegriffliche Zuspitzung der mit Rechtsinstitutionalisierung verbundenen Begründungsnotwendigkeit findet sich jedoch wesentlich erst im

35 Nahezu einhellige Hobbeskritik: vgl. Kant, EF, Anhang I. Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden, VIII, 371: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen in einer gesetzlichen Verfassung nach Freyheitsprinzipien zu leben (die distributive Einheit des Willens aller) zu diesem Zweck nicht hinreichend sondern daß alle zusammen diesem Zustand wollen (die collective Einheit des vereinigten Willens)“; ebenso Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 120; Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, 1994, S. 84. 36 Vgl. insb. Locke, Second Treatise Of Government, 9. Kap., § 131, S. 353: „But though Men when they enter into Society, give up the Equality, Liberty, and Executive Power they had in the State of Nature, into the handy of the Society, to be so far disposed of by the Legislative, as the good of the Society shall require; yet it being only with an intention in every one the better to preserve himself his Liberty and Property“ [Hervorhebung von mir].

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anspruchsvollen Freiheitsbegriff der sittlich-individualistischen Konzeption Rousseaus: In Frage steht, wie die Unterwerfung unter Gesetze als zusammenstimmend mit dem Postulat gedacht werden kann, nur sich selbst zu gehorchen und also so frei wie zuvor zu bleiben37. Die Überzeugungskraft des im contrat social unterbreiteten Lösungsvorschlags für die Problemstellung steht hier nicht zur Erörterung38; entscheidend ist die Innovation im Problemverständnis, die scheinbaren Antinomien von Freiheit und Rechtszwang als immanent konvergenzfähig ausweisen zu müssen. Recht und Freiheit sind damit nicht mehr entsprechend dem Verständnis von Hobbes Unvereinbarkeiten, die bestenfalls durch Hervorgehen des einen aus dem anderen konzipiert werden können; sondern die auf individuelle Freiheit genetisch rückführbare Rechtsordnung muß als immanente Notwendigkeit den Fortbestand der Freiheit in ihr konstruktionslogisch plausibilisieren können. Der Problemhorizont Rousseaus disqualifiziert einen bloß genetischen Bezug der Kategorie des Rechts auf die Freiheit nach dem Modell von Hobbes als ungenügend: Die gleichsam an der Schwelle zur Verrechtlichung abzugebende Freiheit39 macht den so zustandegekommenen Rechtszustand in der Sekunde seiner Entstehung wertlos für die Funktion der Freiheit. bb) Kategorische Dimension subjektiver Freiheit: Kant Die damit exponierten rechtsbegrifflichen Elemente – Recht als individualismuszentriert; das freie Individuum als Zweck des Rechts; die Notwendigkeit der Rückführung rechtlichen Zwangs auf die subjektive Freiheit – gelangen

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Rousseau, Contrat Social, 1. Buch, Kap. 6, 17; vgl. ders., Lettres de la Montagne, VIII, Oeuvres complètes III, 841 f.: „In der allgemeinen Freiheit hat keiner das Recht, das zu tun, was die Freiheit eines anderen ihm verbietet, und die wahre Freiheit zerstört niemals sich selbst“. Vgl. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 39; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 154 ff. 38 Allgemein kritisch gegenüber den konstruktiven Implikationen von Rousseaus Modell des Sozialvertrags Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 165 ff. 39 Gleichwohl ist zu betonen, daß immanente Restbindungen auch innerhalb des Hobbesschen Leviathans dem staatlichen Herrschaft freiheitsbedingte Unverfügbarkeitsgrenzen ziehen, vgl. dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 86 ff., in Auseinandersetzung mit weitergehenden Interpretationen. Diese eher schwachen Bindungen – gleichsam als „Geschäftsgrundlage“ für das staatsgenerierende omnilaterale Sicherheitsbündnis – stellen aber nicht den Befund in Frage, daß, solange der Staat diese Grenzen nicht überschreitet, ein subjektivrechtliches, konstitutionelles Verhältnis des Bürgers zum Staat in Hobbes’ Konzept keinen Platz findet.

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begrifflich-kategorial zur vollen Entfaltung in der kantischen Rechtslehre40. Keine andere Rechtstheorie hat mit größerer Unmittelbarkeit die staatlichen Institutionen des Rechts an die begrifflich-apriorisch entfalteten Legitimitätsstrukturen rückgebunden. Das vernunftrechtlich-kategorische Apriori kantischer Prägung besteht in der Aufzeigung von kategorialen Unverfügbarkeiten und der Ableitung derselben aus dem individuellen Eigenwert jedes einzelnen Vernunftsubjekts41. Grundlegend dafür ist eine Konzeption, die alle denkbare Verbindlichkeit aus dem Selbstkonzept des freien Individuums und seiner Überprüfung auf Verallgemeinerungsfähigkeit nach dem Maßstab der reinen praktischen Vernunft gewinnt42, und insofern nur die individuelle Autonomie als Verbindlichkeitsgrund anerkennt. Folglich liegt dem Recht in der Auffassung Kants letztlich das auf die moralische Selbstgesetzgebung im Innenverhältnis bezogene Konstruktionsmodell des kategorischen Imperativs zurunde, bezogen auf das sich das Recht als das äußere Intersubjektivitätsverhältnis betreffende Korrelat erweist: Ebenso wie sich die Moralität einer Maxime allein nach ihrer universellen Verallgemeinerungsfähigkeit mit jedermanns Freiheit erweist, ist der Maßstab des Rechts seine Ausrichtung auf die Aufgabe einer omnilateralen Kompatibilisierung von äußeren Freiheitssphären43. In kritischer Abgrenzung zum Appell an pragmatische Mittelklugheit kann – sofern man die Prämissen ursprünglicher, unveräußerlicher Freiheit einerseits und des begriffsnotwendigen Zwangscharakters des Rechts andererseits anerkennt – der Legitimationsansatz der vermeintlichen Freiheitseinschränkung rechtlicher Normierung nur noch darin liegen, in der dem Recht eigentümli-

40 Kant, MdS, RL, § A-D, VI, 229-231. Instruktiv hierzu auch die Polemik gegen die herkömmliche Lehre vom Erlaubnisgesetz, vgl. Nachlaß, XXIII, 157: „Sonst überall braucht man kein Gesetz um sagen zu können daß etwas erlaubt sey und wenn in unserer bürgerlichen Verfassung gleichwohl dergleichen als Ausnahmen vom Verboth vorkommen so ist das ein Beweis der großen juristischen Mangelhaftigkeit ihrer Gesetzgebung daß sie in die Formel des Verbots nicht zugleich die Bedingung unter der es allein gültig ist (wie in der mathematischen) hineinzutragen verstanden und so zu den positiven Gesetzen noch besondere Erlaubnisgesetze zu Einschränkung jener ihres Umfanges hinzuzufügen sich genöthigt sehen wo dann nicht abzusehen ist wo sie ein Ende haben sollen“. 41 Äußerst kritisch gegenüber unausgewiesenen methodischen Grundannahmen auch des Idealismus kantischer und hegelianischer Prägung demgegenüber Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 1971, S. 62 f: Apriorische Werte seien Leerformeln, die „beliebigen moralischen oder rechtlichen Ordnungen oder Forderungen den Anschein besonderer Legitimation geben“. 42 Treffend hierzu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 26: „Als Grundgesetz der inneren Freiheit nimmt die universalistische prozedurale Rationalität die Gestalt des kategorischen Imperativs an“. 43 Vgl. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 148; ders., Königliche Völker, 2001, S. 105 ff.

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chen Dialektik die entscheidende Rechtfertigungsgrundlage zu verorten. Die vermeintlich freiheitsbegrenzende Dimension rechtlicher Normierung enthüllt sich als Freiheitskoordination, als Eintausch der wilden ungesetzlichen Freiheit gegen diejenige unter dem Vernunftgebot; die vermeintliche negative Dimension des freiheitslädierenden Gesetzes erweist ihren affirmativen Gehalt darin, Negation der Negation und damit ebender Freiheit als Kategorie zu sein, deren Einschränkung sie scheinbar bewirkt. Daraus entwickelt sich der in § B der kantischen Rechtslehre artikulierte allgemeine Rechtsbegriff: Das Wesen des Rechts liegt darin, Inbegriff freiheitskoordinierender Bedingungen zu sein. Auch der hierauf aufbauende Ansatz Hegels (das Individuum als Partizipierendes in einer universal-sittlichen, in bezug auf die je auf sich selbst zurückgeführte Besonderheit institutionalisierten Geisteswelt, deren einzig angemessene Umsetzung der Staat ist)44 schließt den Individualismusbezug in einer institutionell am Gemeinwohl orientierten Modifikation in sich45. Mit der ideengeschichtlichen Entwicklung von Hobbes zu Kant geht in der Willensableitung eine Akzentverschiebung im Subjektskonzept einher, die den naturalistischen Voluntarismus naturzuständlicher Bindungslosigkeit gegen das Selbstgesetzgebungsvermögen der freien Person eintauscht46. Nicht mehr faktische Akzeptanz, manifestiert in Akten realer Zustimmungsäußerung, bestimmt die Konstruktion, sondern Akzeptabilität, der Aufweis der Konvergenz von Recht und praktischer Vernunft, exemplifiziert in den Akten des Nachvollzugs der sich darin als mitgesetzgebend begreifenden individuellen praktischen Vernunft, dominiert die Rechtsbegründungsargumentation. cc) Gemeinsamkeit: Argumentative Überwindung der Paradoxie von Autonomie und Heteronomie im Recht Allen Erwägungen neuzeitlicher Individualismuszentrierung ist die Rückführung von Heteronomie auf Autonomie und damit Auflösung einer vermeintlichen Ambivalenz der dem Rechtsbegriff immanenten Paradoxie gemein47. Bei 44 Vgl. insbesondere Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige“. 45 Beipielhaft zu Hegels Staatsprinzip etwa Maihofer, Hegels Prinzip des modernen Staates, in: Manfred Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Band 2, 1975, S. 361 ff. 46 Dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 194 f.; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 118 ff. 47 Vgl. treffend Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 31.

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der Suche nach einer freiheitsgesetzlich befriedigenden Antwort auf den Letztgrund der Rechtsgeltung spielt daher die Argumentationsfigur des Herrschaftsvertrages eine zentrale Rolle. Dies schlägt sich auch darin nieder, daß im neuzeitlichen Verständnis die Verfassung in der Idee eines vertragsförmig institutionalisierten Basiskonsenses48 begriffen und hierin eine Antwort auf den „materialen Grund der Rechtsgeltung“49 gesehen wird. Dieser Bedeutungsgehalt in der Tradition vernunftrechtlich-individualistischer Rechtsbegründung markiert die Höhe der Zeit im Problemverständnis der Rechtsinstitutionalisierung. Er prägt zugleich das herrschende Verständnis der Staatsrechtslehre von den Grundlagen des Rechts50. Gleichwohl divergiert die argumentative Vermittlung dieses Zusammenhangs von Freiheit und Recht im einzelnen erheblich51.

3. Konkurrierende Legitimitätsparadigmen der gemeinschaftsrechtlichen Diskussion Die das Gemeinschaftsrecht betreffende Legitimitätsdiskussion reflektiert diese Grundlagenbedeutung sehr uneinheitlich. Maßgeblich hierfür ist vor allem eine Überlagerung der Legitimitätsfrage durch die Integrationsparadigmatik. Überwiegend werden die Legitimitätsparadigmen der Europäischen Union in enger Anlehnung mit dem verbundenen integrativen Ordnungsmodell in zwei Hauptrichtungen systematisiert: eine stärker staatsorganisationsrechtlich argumentierende Betrachtungsweise, die Wesen und Legitimität der Gemeinschaft auf der Grundlage staatsrechtskategorialer Bestimmungen und einer staatsverfassungsrechtlichen Perspektive zu bestimmen sucht52, und eine eher gemeinschaftsrechtliche Position, die in den staats- und völkerrechtstranszendierenden Formelementen der Supranationalität einen paradigmatischen Ansatzpunkt für eine staatsrechtsbegrifflich nicht bzw. nicht vollständig faßbare

48 Zum Begriff des Basiskonsenses Podlech, Diskussionssammlung Vertrag und Konsens, S. 35. 49 Zum entsprechenden Normprofil des Gesetzes vgl. Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 9 ff. 50 Vgl. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 1 ff. 51 Zum Überblick statt vieler Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 505 ff. 52 So Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 ff.; Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248 ff.; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff.; Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, insb. S. 63 ff., 80 ff.

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legitimatorische Eigenqualität der Europäischen Union erblickt53. Typischerweise konvergiert die legitimationsbegriffliche Ausrichtung der erstgenannten Ansicht an staatsrechtlichen Kategorien zugleich mit einem etatistischen Institutionenverständnis, das die Europäische Union in ihrer Nichtstaatlichkeit als legitimationstheoretisch defizitär charakterisiert54. Demgegenüber sind gemeinschaftsrechtliche Betrachtungen für sehr unterschiedliche originär gemeinschaftliche Legitimationsstrategien offen55. Abweichend von dieser Unterscheidung kann unter Einbeziehung der Integrationsfinalität eine noch weitergehende Differenzierung vorgenommen werden. So kategorisiert Marcel Kaufmann die gemeinschaftsrechtsbezogenen Betrachtungsweisen nach drei Paradigmen: funktionalistisch, föderalistisch und pluralistisch56. Während die Funktionalismusreferenz der hier zugrunde gelegten Begrifflichkeit entspricht, versteht Kaufmann das föderalistische Paradigma in spezifischer, der Wiener Schule entlehnter begrifflicher Konnotation57 und kennzeichnet damit Positionen, die die Europäische Union bundesstaatlich oder in einer auf den Bundesstaat als Integrationsziel angelegten Finalität betrachtet. Die Vertreter der staatsverfassungsrechtlichen Betrachtungsweise lehnen eine in diesem Sinne föderale europäische Bundesstaatlichkeit und auch die Möglichkeit einer Entstehung derselben energisch ab. Abgesehen davon, daß im folgenden das Föderalismusprinzip als Strukturprinzip einer nicht notwendig staatbezogenen, mehrere Ebenen umfassenden Ordnungsstruktur gekennzeichnet werden soll und hierfür die von Kaufmann zugrunde gelegte Begrifflichkeit

53 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 891 ff.; Pernice, Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JÖR 48 (2000), S. 205 ff.; ders., Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitutionmaking Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff.; Schuppert, Zur Staatswerdung Europas. Überlegungen zu Bedingungsfaktoren und Perspektiven der europäischen Verfassungsentwicklung, StWStP 1994, S. 35, 56 f.; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3, S. 69 ff. 54 Zum Etatismus als Integrationsparadigma auch – vorrangig in geltungstheoretischer Hinsicht – ausführlich Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 258 ff. m.w.N. Kritikpunkte eines staatszentrierten Institutionenverständnisses differenzieren sich dabei in – schwer unter einem einheitlichen Ausgangspunkt zu thematisierende – Einzelaspekte, insbesondere den Verfaßtheitsstatus der Europäischen Union, ihre Geltungsautonomie (zu beidem Kap. 3), Demokratisierbarkeit, Parlamentarisierbarkeit und Integrationsfinalität (dazu Kap. 4). 55 Hierzu im einzelnen sogleich unten, b). 56 Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 108 ff.; ders., Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 525 ff. 57 Bezugnehmend auf Grusmann, Grundnorm und Supranationalität – Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: Th. von Danwitz u. a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 9 ff.

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zu eng erscheint58, unterscheidet sich die vorliegend zugrunde gelegte Kategorisierung auch dadurch von Kaufmann, daß sie nicht in erster Linie darauf Bezug nimmt, welche integrationspolitischen Ordnungsvorstellungen mit dem Fortentwicklungsprozeß de lege ferenda verbunden werden, sondern welchem Prinzipienkontext die verwendeten Kategorisierungen entnommen sind.

a) Staatsrechtstheoretische Betrachtung der Europäischen Union Das überkommene staatsverfassungsrechtliche Integrationsverständnis geht mit einer Fixierung der Legitimitätsfragestellung auf das Demokratieprinzip eng einher. Das Demokratieprinzip erscheint darin als der legitimationsbegriffliche Fixpunkt, bei dem alle gemeinschaftsrechtliche Thematisierung nach dieser Position unhintergehbar Halt macht59. Legitimationsdefizit und Demokratiedefizit sehen sich auf dieser Grundlage in eins gesetzt60. Die Auseinandersetzung um das Bestehen eines europäischen Demokratiedefizits erweist sich als unzureichende Annäherung an die Legitimationsproblematik: Einerseits, weil die Bedingungen der Anwendbarkeit dieses staatsrechtlichen Prinzips auf den supranationalen Verband zum Teil nicht genügend thematisiert werden – hierauf ist im Zusammenhang des vierten Kapitels einzugehen. Andererseits, weil die Forderung nach Demokratisierung supranationaler Organisationsstrukturen ihrerseits schon mit fragwürdigen Implikationen einhergeht. Eine solche Forderung erscheint einerseits zu unspezifisch, um dem schon strukturell komplexen Anliegen einer Einordnung supranationaler Legislativhandlungsformen in den Kontext überkommener staatsorganisationsrechtlicher Handlungsformen differenziert Rechnung zu tragen, weil sie alle Formen demokratischer (Staats-)Organisation thematisiert und dadurch den spezifischen Bedingungen eines gerade dem Legislativhandeln angemessenen Wil-

58 Wie hier Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 562; Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU. Jean Monnet Working Paper No. 05/2002, http://www.jeanmonnetprogram.org/papers/02/020501.pdf; Moravcsik, Defending the Democratic Legitimacy of the European Union: European Policy-Making in Light of the American Model, S. 10: „The EU is federal, but analysts doubt it is a state“; zum supranationalen Föderalismus auch Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 268 f. 59 Vgl. nur die einschlägigen Monographien von Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997; Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995. 60 Ansätze zu einer rechtsprinzipiell, nicht funktionalistisch motivierten Relativierung dieses Junktims unten, Kap. 4, III. 3.

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lensbildungsprozesses keine hinreichende Beachtung schenkt61. Sie ist aber andererseits auch zu eng, da sie Demokratisierung als legitimationstheoretische Selbstreferenz begreift und dabei unterbestimmt, daß die im Demokratieprinzip gebündelte Institutionalisierung ihrerseits instrumentellen Charakter gegenüber dem allgemeinen Selbstbestimmungspostulat des Rechtsprinzips aufweist: In dem Maße, wie sich deshalb aufzeigen läßt, daß rechtliche Selbstbestimmung nicht demokratieexklusiv, sondern stärker anhand anderer Rechtsprinzipien konzipierbar ist, verliert deshalb die Legitimitätsfragestellung mit dem Demokratieprinzip ihren Referenzpunkt und erlaubt deshalb eine Emanzipation hiervon, bezogen auf die eine demokratiefixierte Betrachtungsweise keine kategorialen Maßstäbe anzubieten hätte. Das Demokratieprinzip als Maßstab aller Rechtslegitimität erheben zu wollen, ist das Resultat einer etatistischen Verkürzung des Legitimitätsbegriffs.

b) Genuin gemeinschaftsrechtliche Ansätze Die Typisierung möglicher Legitimitätsparadigmen für das Gemeinschaftsrecht muß – schon wegen der vielfachen Unausgewiesenheit des jeweils zugrunde gelegten Legitimitätsparadigmas – notwendig unvollständig bleiben und kann sich nur darauf beschränken, Hauptformen des begrifflichen Zugriffs auf die Gemeinschaft und die an sie zu stellenden Anforderungen zu typisieren. aa) Zweckverbandstheorie und Funktionalismus Eine Hauptauffassung, die die Orientierung auf den sui-generis-Charakter der Europäischen Union und die integrativen Sachzwänge in den Vordergrund stellt, folgt methodologisch einem funktionalistischen Paradigma. Funktionalistische Betrachtungen orientieren die Legitimität von Recht an seinem Problemlösungsvermögen, d. h. in der Fähigkeit, auf die vom Recht vorgefundenen Steuerungsanforderungen mit effektiver Normierung zu reagieren. In der Formulierung von Marcel Kaufmann: „Der klassische Funktionalismus und sein neofunktionalistischer Ableger reflektieren den Einfluß der Verselbständigung ökonomischer, administrativer und technischer Systemimperative auf Form und Weise öffentlicher Aufgabenwahrnehmung. Staatliche Souveränität, Volkssouveränität und demokratische Herrschaftsordnung geraten in den Sog der Sachzwänge.“62

61 62

Dazu unten, Kap. 4, III. 3. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 287.

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Rechtstheoretischer Referenzpunkt dieser Betrachtung ist die Systemtheorie Luhmanns, der Recht wesentlich durch die Zweckmäßigkeit seines Vermögens kennzeichnet, Verhaltenserwartungen zu stabilisieren63. Seine Aktualisierung auf das Gemeinschaftsrecht erfährt die funktionalistische Betrachtungsweise, wenn auch ohne zumindest eine explizite ideengeschichtliche Referenz, namentlich durch die gemeinschaftsrechtliche Lehre vom Zweckverband. Nach H. P. Ipsen handelt es sich bei der europäischen Gemeinschaft im Verhältnis zu den überkommenen Kategorien von Staatenbund und Bundesstaat um einen von der ökonomisch-integrativen Finalität seines Regelungsgegenstandes her zu charakterisierenden „Zweckverband funktioneller Integration“64. Der Zweckverband rechtfertigt sich durch sein telos der Verwirklichung einer europäischen Vergemeinschaftungsleistung. Die Lehre vom Zweckverband stützt ihre legitimitätssurrogierende Wirkung aber auch darauf, daß sie die europäische Rechtsgemeinschaft als einen in ihrem institutionell-organisatorischen Verdichtungsgrad unvollkommenen – und damit staatsfernen – Verband charakterisiert, so daß es der auf ein staatsrechtliches Regelsetzungssystem bezogenen legitimatorischen Konstruktionsprinzipien gar nicht bedürfe. Insbesondere für das Europäische Gemeinschaftsrecht haben solche funktionalistischen Betrachtungsweisen viele Anhänger: Effizienz als Legitimitätskriterium hat Konjunktur, sowohl rechtswissenschaftlich65 wie politisch66. Diese

63

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969; vgl. dazu auch den Überblick von Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 272. 64 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht 1972, S. 196 ff.; ders., GS Constantinesco 1982, S. 283 ff.; ders., Das Bundesverfassungsgericht löst die Grundrechtsproblematik – Zum „Mittlerweile“-Beschluß des 2. Senats vom 22.10.1986 2 BvR 197/83, EuR 1987, S. 195 ff.; zum funktionalistischen Paradigmenhintergrund statt vieler Oppermann, Europarecht 1999, Rdnr. 910, m.w.N.; zum Funktionalismus auch Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 521, 526; ausführlich in der paradigmatischen Einordnung ders., Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 161 ff.; bezugnehmend auf Ipsens Zweckverbandslehre S. 175 ff. 65 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 36, setzt Funktionalismus und Effizienzprinzip in eins. Für einen effizienzbegründeten Übergang zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung im Rat plädiert etwa Bieber, Demokratie und Entscheidungsfähigkeit, S. 25; vgl. auch den Überblick zu den Standpunkten bei Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, FCE-Spezial 4/2000, http://www.rewi.hu-berlin.de/WHI/deutsch/fce/fcespez4/pernice.htm, S. 3, Rdnr. 8; grundsätzlich kritisch demgegenüber bereits Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, 1971, S. 6 ff., m.w.N. 66 Vgl. nur Bury, Entwicklung und Kernpunkte der Europäischen Verfassung aus Sicher der Bundesregierung, Vortrag vor dem Jean-Monnet-Haus für Europäische Politik Berlin vom 12. Mai 2003. Stoiber, Eckpunkte des europäischen Reformprozesses, europapolitische Grundsatzrede vom 8. 11. 2001, www.whi-berlin.de/stoiber.htm; Clement,

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Wirkmacht erstaunt wenig, weil sie die expertokratischen Strukturen eines hauptsächlich exekutivischen Organisationszusammenhangs als effektiv und dadurch legitim ausweisen kann. Eine solche Position geht mit einer weitgehenden Emanzipation der Gemeinschaftsrechtsordnung von einer legitimatorischen Begründungsanforderung im hier zugrunde gelegten Begriffsverständnis einher und hat so den weitesten Spielraum, die Eigenständigkeitsdimension des Europarechts argumentativ in Anrechnung zu bringen und zur Rechtfertigung einer Abweichung von staatsrechtlich unverzichtbaren institutionellen Strukturen zu nutzen. bb) Grundrechtsfunktionalismus Das funktionalistische Paradigma kann indes in seiner Wirkmächtigkeit nicht auf die von Ipsen geprägte Zweckverbandslehre reduziert werden; vielmehr läßt sich eine große Varianz von argumentativ verwandten Ansätzen dem gleichen effektivitätsorientierten Argumentationsprinzip zuordnen. Da das Effefktivitätsprinzip einer Bezugnahme auf eine vorgegebene Relation bedarf, um überhaupt als Prinzip in Erscheinung zu treten, ist der Inhalt des funktionalistischen Paradigmas unterschiedlich in Abhängigkeit davon, was der Effektivitätsbetrachtung unterworfen wird. Bezugsgegenstände eines Effektivitätsgebotes können deshalb die Interessenangemessenheit des Recht für die Individuen67 oder die Optimierung der Grundrechtssphäre68 sein. So ist es zu verstehen, wenn von Bogdandy den Individualismusbezug als funktionales Prinzip kennzeichnet69. Im Kontext solchen Funktionalismusverständnisses wird die Kategorie der Effektivität des Rechts in den Status einer Begründungsprämisse der Freiheitskonformität von Recht hochgestuft. In den funktionalistischen Kontext gehören aber auch im weitesten Sinne solche Konzeptionen, die dem klassischen, prozedural orientierten Legitimationskriterium eines partizipativrepräsentativen Willensbildungsprozesses eine perspektivische Umkehrung gegenüberstellen, die auf interessengerechte und damit individualismusangemessene Ergebnisse von Willensbildungsprozessen abstellt70. So stellt sich bei „Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza“, FCE 03/01, www.whi-berlin.de/clement.htm. 67 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 35. 68 Zur funktionalen Grundrechtstheorie s. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 28 ff., 30; zur Bedeutung europäischer Grundrechtsverbürgung als Legitimationsquelle Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 169 ff. m.w.N. 69 von Bogdandy (Fn. 67). 70 Hierfür steht insbesondere Fritz Scharpf, Regieren in Europa, 1993; ders., Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970; ders., Demokratie in der transnationalen Politik, in: U. Beck (Hrsg.), Politik in der Globalisierung, S. 228-253.

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Mestmäcker das Rechtssystem der EU wesentlich als legitimiert durch seine freiheitsgewährleistenden Momente dar. Namentlich die Binnenmarktfreiheiten, aber auch die der Integration zukommende deregulierende Wirkung eröffnet demnach neue, gemeineuropäische Freiheitsdimensionen, aus denen sich ihre genuine Legitimität als eigener Ordnung speist71. Statt den Individualismus in Gestalt eines in den Bedingungen der Rechtswillensbildung prozedural manifestierten Autonomiebezugs von Recht zu betonen, setzten diese Betrachtungen ein modifiziertes Verständnis des Individualbezugs von Recht entgegen; Scharpf charakterisiert diese Perspektivendifferenz als Unterschied zwischen „input-orientierter“ und „output-orientierter“ Legitimität72. Die Optimierung des bürgerlichen status negativus wäre in diesem Sinne ein Anliegen output-orientierter Legitimität, die Orientierung der Rechtslegitimität am Partizipationsgehalt des status positivus im Sinne Jellineks charakterisiert hingegen ein sog. input-orientiertes Verständnis. cc) Legitimation durch Bewährung Neuerdings schlägt Anne Peters eine Theorie der Legitimation durch Bewährung vor. Maßgebend ist demnach ein primär ergebnisorientiertes, pragmatisches Partizipationsverständnis73; hierin folgt Peters der Output-Orientierung Scharpfs. Legitimation werde nicht durch Inklusion der Bürger, sondern durch die Bewährung einer Verfassungsordnung vermittelt. Bewährungskriterium sei eine individualismuszentrierte Leistungsbilanz der politischen Organe, zu deren Beurteilung die Rechtsadressaten berufen seien74. Die Politikbetonung eines institutionell-partizipativen Legitimitätsverständnisses und dessen korrespondierende Ablehnung des Effizienzgedankens sieht sie demgegenüber als verzichtbare „Mythisierung des Politischen“75. Peters schränkt ihre Legitimationsstrategie allerdings darauf ein, daß grundlegende Werte einer Verfassungsgemeinschaft einer partizipativen „Ex-Ante-Rechtfertigung“ bedürften76; in dieser

71

E.-J. Mestmäcker, On The Legitimacy of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 615 ff.; ders., Politische und normativ-funktionale Legitimation der Europäischen Gemeinschaften, 1984, S. 86; vgl. auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 169 ff. m.w.N. 72 Scharpf, Regieren in Europa, 1998. 73 Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 588. 74 Anne Peters (Fn. 73), S. 592. 75 Anne Peters (Fn. 73), S. 590. 76 Anne Peters (Fn. 73), S. 619.

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Legitimationsnotwendigkeit sieht sie indes eine für den europäischen Verfassungszusammenhang praktisch untergeordnete Problematik77.

c) Kritik Die Herausprägung behaupteter neuartiger Legitimationsquellen entbehrt – wenn sie nicht beliebig ist – jedenfalls der Zwangsläufigkeit. Zum Teil werden Postulate alternativer, nicht-partiziptiver Legitimität nicht einmal argumentativ untermauert. Die isolierte Akzentuierung vermeintlich legitimitätsvermittelnder Teilbegriffe – wie etwa Transparenz, Effektivität, Subsidiarität, Flexibilität – kann jedoch ohne diesen expliziten Rückbezug auf den Kerngehalt von Rechtslegitimität den Anforderungen an die Europäische Union weder methodisch noch begrifflich genügen. Weder die Lösungsansätze gemeinschaftsrechtlichen Schrifttums noch das Verständnis von Legitimität folgen allgemein den vorstehend skizzierten kategorischen Legitimitätsbedingungen. Sie trifft deshalb der bereits angedeutete Vorwurf einer nicht hinreichenden paradigmatischen Verortung. Dies gilt zunächst für den gemeinschaftsrechtlichen Funktionalismus im Ausgang von H. P. Ipsen. Bereits frühzeitig sind demgemäß in der europarechtlichen Literatur Gegenpositionen des Inhalts bezogen worden, daß dem Gemeinschaftsrecht allein aufgrund seiner institutionell-strukturellen Besonderheiten keine Ausnahme von den allgemeinen konstruktiven Bedingungen der Legitimität von Recht zugute kommen könne78. Auch wenn H. P. Ipsen selbst die Verrechenbarkeit von Funktionalität und demokratischer Legitimität relativiert hat79, sind Argumentationsansätze, die die Europäische Union von den staatsrechtlich induzierten Legitimitätsanforderungen zumindest teilweise dispensieren wollen oder eine Legitimität abseits einer von demokratischer Repräsentation getragenen Willensbildungsstruktur suchen, innerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Legitimitätsdiskussion nach wie vor präsent. Mittelbar gehören auch die Teilelemente, aus denen sich die dynamisierende gemein77

Anne Peters (Fn. 73), S. 620. Vgl. insb. Sasse, Die institutionelle Fortentwicklung der Gemeinschaften, KSE 22 (1973), S. 61, 74 ff.; ders., Zur Verfassung der Europäischen Union, in: Auf dem Weg zur Europäischen Union? Diskussionsbeiträge zum Tindemans-Bericht (1977), S. 191, 199; Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS H. P. Ipsen 1977, S. 596 ff., 610 ff. 79 Teilweise klarstellend gegen eine solche Auslegung seiner Formel H. P. Ipsen, in FS Constantinesco (1983), S. 283 ff.; auch hebt ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 200, hervor, daß mit der Zweckverbandsformel keine Festlegung auf eine bestimmte Willensbildungsform verbunden sei. 78

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schaftsrechtliche Methodologie rekrutiert, in diesen Kontext. Die ökonomische Analyse des Rechts80 oder die Annahme von europarechtsfreundlichen Zweifelsregeln in der Auslegung von Kompetenzen81 stehen in der Tendenz, Balanceerfordernisse einseitig zugunsten des Europarechts aufzulösen. Soweit die in einem weiten Sinne funktionalistischen Theorien sich nicht in der methodisch selbstbeschränkten Analyse von empirischen Implikationen bestimmter rechtlicher Fortentwicklung oder Auslegung erschöpfen – hierin legitim –, sondern mit der Analyse die These verbinden, daß Funktionalität und Effektivität in bezug auf die Legitimation von Recht einen eigenständigen kategorialen Stellenwert beanspruchten und schon die Funktionstüchtigkeit und das Problemlösungsvermögen der Gemeinschaft als solche ein hinreichendes und selbstgenügsames Legitimitätspotential82 für das von der Gemeinschaft gesetzte Sekundärrecht entfalteten, sind sie der Kritik mangelnder methodischer Stichhaltigkeit ausgesetzt83. Weder der Nachweis ökonomischer Zweckmäßigkeit noch die aus der Rationalität einer gemeinschaftsrechtlichen Sachlogik abgeleitete Zweckmäßigkeit der Normhervorbringung implizieren rechtliche Priorität einer solchen Institutionalisierung. Die Utilität einer bestimmten Rechtsetzungsform besagt nichts über ihre Kategorienangemessenheit84. Die eigentliche Überzeugungskraft von Utilitätserwägungen basiert vielmehr auf der verfehlten Annahme, bestimmte integrative Entwicklungen seien wegen ihrer präsumtiven Zweckmäßigkeit auch evident rechtskategorial vorzugswürdig. Das indes versteht sich keineswegs von selbst; im Gegenteil ist der integrationsbedingte Teilverlust von staatsrechtlichen Legitimationsprinzipien prima facie begründungsbedürftig. Die Berücksichtigung des Eigengewichts der neuartigen Rechtsformen verlangt nach einem expliziten Abgleich mit anderweitigen 80 Vgl. etwa Wilming, Institutionelle Konsequenzen einer Erweiterung der Europäischen Union. Eine ökonomische Analyse der Entscheidungsverfahren im Ministerrat, 1995; zu kategorialem Grund und Grenze einer effektivitätsorientierten Methodologie im Recht allgemein Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 2. Aufl., 1998. 81 Ausführlich Triantafyllou, Vom Gesetzes- zum Vertragsvorbehalt. Beitrag zum positiven Rechtmäßigkeitsmaßstab der Europäischen Union,1997. 82 So H. P. Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht löst die Grundrechtsproblematik – Zum „Mittlerweile“-Beschluß des 2. Senats vom 22.10.1986 2 BvR 197/83, EuR 1987, S. 195, 206. 83 Kritisch zu den implied powers M. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, FS Mangakis 1999, S. 751 ff.; kritisch zur Rspr. des EuGH („Sündenfall“ der Entscheidung EuGH, Slg. 1987, 3202, 3253, Rdnr. 28) Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, 1997, S. 47, unter gleichzeitiger Aufzeigung der Grenzen berechtigter Kritik. 84 Allgemein kritisch zutreffend Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 484: Sachverstand und Effizienz seien gegenüber dem Demokratiegebot „keine rechtserheblichen Dispositionstitel“.

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rechtskategorialen Forderungen. Sie findet die mit einem Vernunftgehalt versehene Institutionalisierungsform des Staates vor85 und muß plausibel machen, mit welcher Rechtfertigung die integrativen Neuerungen den Verzicht auf bestimmte legitimatorisch begründete Kennzeichen der Organisationsform Staat rechtfertigen, nicht aber umgekehrt. Hinzu kommt, daß der Funktionalismus in seiner philosophiehistorischen Referenz überholt ist. Die vom Funktionalismus artikulierte zweckbezogene legitimationstheoretische Eigenständigkeit der supranationalen Rechtsordnung legitimiert sich aus der Prämisse, daß das Kriterium der Wirklichkeitsbewältigung durch Recht selbständige legitimatorische Bedeutung habe. Eine hieraus abgeleitete funktionalistische Rechtstheorie, die um einer möglichst bürgerzugewandten, effektiven Ausführung der Hoheitsfunktionen willen den Ableitungszusammenhang demokratischer Willensvermittlung durch die legitimitätsstiftende Wirkung aufgabenorientierter Interessenwahrnehmung relativieren oder ersetzen will86, ist im Kern utilitaristisch87. Sie akzentuiert die Zweckangemessenheit staatlicher Aufgabenwahrnehmung als eigenständiges Legitimationskriterium und stellt diese gleichgewichtig neben die unter dem Schlagwort Demokratie zusammengefaßte Notwendigkeit, Recht als auf den Willen der Rechtsbeherrschten konstruktiv zurückzuführen. Der Funktionalismus effektiver Staatsaufgabenwahrnehmung rekurriert indes nicht nur auf einen im Kern utilitaristischen und damit den Autonomiegehalt menschlicher Vernunft unterbestimmenden Rationalismusbegriff88. Der funktionalistisch geprägte Individualismus bricht auch mit der für das Selbstbestimmungsanliegen des Rechts zentralen Prämisse, daß eine objektive, den autonomen Willensbildungszusammenhang übergreifende Gutsorientierung des Staates keinen Platz im Recht habe. So hat die Zweckorientierung des individualistisch radizierten Funktionalismus mit der utilitären Teleologie des auf ein vorausgesetztes bonum commune ausgerichteten vormodernen, paternalistischen Staates jedenfalls der Argumentationsstruktur nach größere Gemeinsamkeiten, als es mit dem eigenen Anspruch und dem scheinbar modernen Erscheinungsbild der funktionalistischen Ansätze vereinbar erscheint. Beide setzen die Kenntnis dessen, was dem Individuum zuträglich ist, als bekannt voraus und setzen damit verallgemeinerungsfähige Zweckverankerung des Hoheitsträgers – eine benevolente Fürsorg-

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s.o., Kap. 3, III. 4. c).

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von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 34.

87 Vgl. dazu auch Greven, Output-Legitimation: „Der Zweck heiligt die Mittel“ in der Demokratie nicht, 1998, S. 477, 481. 88 Nahezu allgemeine Ansicht, vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 78; kritisch gegenüber den modernen Utilitarismuskonzepten Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 153 ff.

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lichkeit – an die Stelle seines Autonomiebezugs. Beide trifft deshalb die Pragmatismuskritik Kants89. Anders gesagt: Das an die Rechtsherrschaft zu richtende Zweckmäßigkeitsgebot, auf das die funktionalistische Betrachtung ihr Hauptaugenmerk richtet, versteht sich als Anforderung von selbst und kann als relationales Kriterium stets kritisch gegen die in der Rechtspraxis allenthalben vorfindlichen Vollzugsdefizite90 gewendet werden. Es vermag aber nicht den Autonomiehintergrund des Rechts zu ersetzen, der anders als partizipativ nicht einlösbar ist. Im Kern gilt diese Funktionalismuskritik auch für die neueren Spielarten gleicher methodischer Referenz. Der Freiheitsbezug etwa von Scharpf und von Bogdandy wurzelt zwar im neuzeitlichen Legitimitätsparadigma und erweist sich darin dem individualistischen Ansatz verpflichtet; die hiermit vermeintlich verwirklichte Nähe zum prozeduralistisch interpretierten Individualismusbezug darf indes den Blick auf das kategorial Trennende beider Auffassungen nicht verstellen: Im einen Fall bedeutet Individualismusbezug Selbstbestimmung, im anderen Fall ist der Freiheitsbezug von Recht eine Rechengröße innerhalb eines zwar individuenbezogenen, jedoch letztlich vom Diktat der Sachzwänge dominierten, externen, und damit heteronomen91 Optimierungsgebotes. Ähnliches gilt für Legitimation durch Bewährung im Sinne von Anne Peters. Ein solches eklektizistisches Verständnis, das im wesentlichen als pragmatische Kombination der output-Orientierung Scharpfs mit Funktionalismus- und Individualismusreferenzen zu verstehen ist, bleibt trotz seines scheinbar modernen, auf den Einzelnen bezogenen kategorialen Anspruchs in seinen institutionellen Anforderungen konturlos. Letztlich bleibt nämlich der konkrete Anforderungsgehalt einer Legitimation durch Bewährung unklar. Denn Peters erhebt zwar den Beurteilungshorizont der von Normsetzungsentscheidungen betroffenen Bürger zum Bewährungskriterium, läßt aber die Frage nach der institutionellen Prozeduralisierbarkeit solcher Beurteilung unbeantwortet: Sofern sich Bewäh89 Kant, KpV, IV, S. 148: „Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an; das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es ist aber doch ein großer Unterschied zwischen dem, wozu man uns anrätig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind“. Vgl. auch die Imperativenkritik in der GMS, IV, 414 ff. Zusammenfassend zur Validität von Empirismus und Pragmatismus nach Kant Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 77. 90 Dieser dem Verwaltungsrecht entstammende Begriff (vgl. G. F. Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 105, 121, unter Verweis auf Mayntz) bezeichnet im engeren, technischen Sinne zunächst die Insuffizienz eines gesetzesvollziehenden Verwaltungshandelns gegenüber der ratio legis, namentlich im Umwelt- und im Abgabenrecht. Hier wird er unter Verallgemeinerung der Ideal-Wirklichkeit-Differenz zur Beschreibung der Unangemessenheit der Rechtswirklichkeit gemessen an einer (vernunftrechtlichen) Modellvorstellung verwandt. 91

Maßstabsprägend hierfür Kant, GMS, IV, 441 ff.

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rung nicht in Form allgemein konstituierter Willensbildungsbedingungen im Sinne des partizipativen Legitimationsverständnisses vollzieht, drängt sie den Vollzug der Legitimation aus dem staatlichen in den gesellschaftlichen Kontext ab. Andernfalls uminterpretiert sie lediglich die demokratischen Wahlentscheidungen von der Autorisation zukünftiger Normentscheidungen in die ex-postVerifikation vergangener Normsetzung. Im Extremfall wäre damit indes der Autor rechtlicher Sollensgebote gleichgültig, solange nur die Rechtsadressaten die Normsetzungsresultate im Nachhinein akzeptieren. Das wäre mit dem kategorischen Autonomiebezug von Recht unvereinbar. Mit der Kritik funktionalistischer Paradigmen soll die Berechtigung des Gesichtspunktes, daß Recht aufgrund etwaiger Ineffektivität in der Bewältigung rechtstatsächlicher Probleme seine Legitimität einzubüßen vermag, nicht in Abrede gestellt werden. Auch ist zuzugeben, daß Legitimation in rechtsstaatlichen Verfaßtheitszusammenhängen auch durch verfahrensförmige Schutzmechanismen gegenüber bestimmten Interessen stattfinden kann92 und damit derjenige Betrachtungsgegenstand, welcher demokratietheoretisch mittlerweile gängig als Outputorientierung bezeichnet wird, gewisse Eigenständigkeit erlangt. Eine solche Legitimation ist gegenüber der Ableitung der Zulässigkeit des Rechtszwangs aber nicht gleichursprünglich, sondern setzt die allgemeine Begründung des Rechts einschließlich seiner prozedural-partizipativ aktualisierten Legitimität im Grunde schon voraus. Gleichermaßen ist das Funktionieren kein Selbstzweck, sondern setzt als Bezugsgegenstand einen legitimen Rechtszweck voraus. Hinter die kantische Einsicht, die den Begriff der Zweckmäßigkeit in bezug auf sein verbindlichkeitsgenerierendes Vermögen als gegenüber kategorischen „Zwecken an sich“ rangniedere Kategorie ausweist93, führt auch angesichts der supranationalen Konstruktionsaufgabe einer Transzendierung staatlicher Rechtsherrschaftszusammenhänge kein methodischer Weg zurück. Die funktionalistischen Dimensionen versagen daher, wenn suggeriert wird, daß Effektivität anstelle der Selbstbestimmungskomponente des Rechts treten könnte. Ihre unterstützende Legitimitätsbedeutung soll nicht negiert werden; Sachzwänge haben aber keine rechtsprinzipielle Eigenständigkeit in dem Sinne, daß sie ein gut funktionierendes, aber nicht vom Willen der Rechtsadressaten abgeleitetes Rechtssystem als rechtsprinzipiell äquivalente Option vorzuschlagen vermöchten. Alle anderen denkbaren Legitimitätsbestimmungen von Recht können auf der Grundlage dieser Einsicht nur Akzidenzen sein. Der konstruktive Aufweis typisierter Identität von Autor und Adressat rechtlicher Normen ist Bestandteil der Freiheitsorientierung des Rechts und

92

Vgl. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 34.

93

Vgl. auch Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 77.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

darum durch keine inhaltliche Bestimmung zu ersetzen. Damit verhält sich das autonomiebezogene Legitimitätsverständnis bereits in abstracto94 kritisch zu legitimitätsbezogenen Erwägungen mit relativierender Implikation gegenüber dem entwickelten kategorischen Autonomiebezug.

4. Die Berücksichtigung der Strukturbesonderheit der EU: Dynamisierung der Organisation, nicht der Konzeption von Legitimität

a) Die Europäische Union zwischen Eigenständigkeit und kategorialer Gebundenheit Eine institutionelle Standortbestimmung der Europäischen Union birgt eine doppelte Gefahr. Findet sie unter Heranziehung spezifisch staatsrechtlicher Begriffe statt, so neigt sie zur Überfrachtung eines völkerrechtlichen Phänomens mit staatsrechtlichen Ansprüchen und steht dadurch in der Tendenz, die völkerrechtliche und supranationale Besonderheit nicht zur Geltung zu bringen. Die Applikation staatsrechtlicher Kategorien, insbesondere wenn sie nach Maßgabe nationaler verfassungsrechtlicher Spezifika erfolgt, darf nicht in Form einer Verhaftung im staatsrechtlichen Denken erfolgen, das vom Modell des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts seinen Ausgang nimmt. Denn dies würde bedeuten, ein neuartiges Rechtsphänomen, in welchem sich eine legitime Selbsterweiterungsleistung integrationswilliger Völker dokumentiert95, mit den rechtsbegrifflichen Fesseln einer rückwärtsgewandten Begriffsjurisprudenz an der Ausprägung von neuartigen und möglicherweise im Zeitalter der Globalisierung besonders wirklichkeitsadäquaten Rechtsformen hindern zu wollen. In der Frage der Applikationsfähigkeit legitimatorischer Prinzipien auf die Union kommt der möglicherweise bedeutsamste Anwendungsfall dieser Problematik zum Tragen. Positivrechtlich manifestiert sich die konstruktive Neuartigkeit des supranationalen Verbunds vorrangig in Form der unter dem Stichwort der Supranationalität zusammengefaßten, den Bereich des klassischen Völkerrechts transzendierenden Strukturmerkmale. Ansätze einer substantiellen

94 Zu einer Bestimmung der konkreten Tragweite der Kontroverse kommt es anhand der Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips und seiner Bedeutung für zwischenstaatliche Teilsysteme, vgl. unten, Kap. 3. 95

Vgl. dazu von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 126, unter Verweis auf Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 247: bürgerliche Gesellschaft weist als konzeptionell transnationale über die Grenzen des Nationalstaats hinaus.

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Bestimmung des Begriffs der Supranationalität sind in zahlreicher Form vorhanden96. Andererseits neigt die Überbetonung der Eigenständigkeit der Europäischen Union als Integrationsgebilde dazu, sich einer metapositiven Kategorienbildung zum begrifflich angemessenen Umgang mit Supranationalität gänzlich zu enthalten und gegenüber dem organischen rechtlichen Prozeß der Fortentwicklung des Integrationsprojektes deshalb keinerlei kritisches Potential zu bieten: Wird unter Verweis auf die Eigenständigkeit des Phänomens der EU diese gänzlich aus der rechtsdogmatischen Anforderung einer Verhältnisbestimmung zum Staats- und Völkerrecht herausgenommen, so bleibt die Institutionenanalyse in der fortwährenden selbstreferentiellen Aufzeigung der sui-generisQualität der europäischen Integration unfähig zur Ausprägung kritischen Potentials für die rechtsbegrifflichen Schwächen der politisch-voluntativ beschrittenen Integrationswege und erst recht zur Aufzeigung von rechtlichkategorischen Grenzen derselben. Beide Extreme werden der Bedeutung der Rechtswissenschaft nicht gerecht. Weder ist die „Nabelschnur zum Internationalen“97 für die Europäische Union je durchtrennbar98, noch folgt aus diesem Faktum völkerrechtlicher Genese per se eine Limitierung des Integrationsprozesses auf die überkommenen Formkategorien des Völkerrechts. Ein Integrationsphänomen, das wie die Europäische Union durch seine Supranationalität „im Grenzbereich von völkerrechtlichem Organisationsrecht und nationalem Verfassungsrecht angesiedelt ist“99, wird nur dann angemessen rechtlich behandelt, wenn beiden Aspekten die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Folglich kann auch ein Vorschlag, der dem Aufweis des konstruktiven Autonomiebezugs von Recht das Hauptgewicht der Begründungslast institutioneller Erwägungen zum Phänomen der EU mit ihren Kompetenzen zuerkennt, nicht auf dem Anforderungsniveau einer genetisch orientierten Lesart des (transzendentalidealistisch autonomiebezogenen) Legitimitätsbegriffs stehenbleiben, das sich den strukturellen Besonderheiten des supranationalen Verbandes verschließt. Auch ein Untersuchungsansatz, der den kontextunabhängigen Universalismus des Begriffs der Rechtslegitimität in den Vordergrund rückt, muß insofern den Eigenständigkeitsgehalt der supranationalen Ordnung rechtskate96

Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 775 ff., 390 ff.; H. P. Ipsen, Über Supranationalität, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97; ders., Europäische Verfassung – nationale Verfassung, EuR 1987, S. 195, 203; von Bogdandy, Supranationale Union als neuer Hoheitsträger, Integration 16 (1993), S. 210. 97

Ophüls, Juristische Grundgedanken des Schumanplans, NJW 1951, S. 289, 290.

98

Krit. gegenüber einem gegenlautenden, völkerrechtsentkoppelten Gemeinschaftsrechtsverständnis auch Schweitzer, Staatsrecht III, S. 323 ff. 99 Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVBl. 1964, S. 781.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

gorial veranschlagen. Das skizzierte Legitimitätsverständnis übersetzt sich deshalb auf die Europäische Union und ihre Kompetenz- und Zuordnungsstrukturen in spezifischer Balance zwischen Anerkennung ihrer Eigenständigkeit und Beharren auf kategorialen Bindungen.

b) Ansätze zur konstruktiven Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Besonderheiten Dieser Aufgabe der Balancefindung versucht die vorliegende Untersuchung durch unterschiedliche Aspekte gerecht zu werden. Einerseits durch die Verallgemeinerung der Legitimitätsanforderung gegenüber dem Demokratieprinzip (aa)), andererseits durch die bereits im Einleitungskapitel angesprochene Methode der Konkordanzbildung (bb)). aa) Dynamisierung der Inklusionsbedingungen gegenüber dem Demokratieansatz Zum einen ist der skizzierte Legitimitätsbegriff bereits allgemeiner als ein vom staatsrechtlichen Demokratieprinzip ausgehendes Problemverständnis100, da er anders als das Demokratieprinzip keinem spezifisch staatsrechtlichen Kontext entstammt und deshalb nicht vor die Aufgabe stellt, einen staatsunabhängigen Prinzipienkern freizulegen. Zweitens geht es nicht primär um die genetisch orientierte konstruktive Etablierung eines statisch verstandenen Rechtssystems, sondern – in Anerkennung der rechtsformbezogenen Offenheit und Dynamisierung, die das supranationale Mehrebenensystem einfordert101 – um die Aufzeigung von Möglichkeiten suprastaatlicher Inklusionsmechanismen jenseits staatsrechtlicher Institutionenzusammenhänge. Hiermit befindet sich die Untersuchung im Einklang mit der von Di Fabio geprägten Notwendigkeit einer „verstetigten Inklusion“102. Das handlungsformorientierte Konzept eignet sich hierzu gerade deshalb besonders gut, weil es den Bezug auf den Willen der repräsentierten Konstituenten eines jeweiligen Institutionenzu100

Zur spezifischen Differenz von Demokratie- und Repräsentationsprinzip als sedes materiae der Legitimationsbemühung vgl. Kap. 2, II. 101 Zu weitgehend Böckenförde, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 8, wenn dieser zu dem Ergebnis kommt, das herkömmliche Prinzipien- und Kategoriensystem versage gänzlich in der Applikation auf die Gemeinschaftsebene; dagegen überzeugend Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100, 120. 102 Eine Dynamisierung des Inklusionskonzepts auf der Grundlage einer vorwiegend systemtheoretischen Betrachtungsweise zum „Recht offener Staaten“ beschreibt Di Fabio, 1998, insb. S. 102.

I. Legitimitätsverständnis der Europäischen Union

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sammenhanges, nicht aber einen bestimmten institutionellen Kontext zum Maßstab der legitimationstheoretischen Anforderungen erhebt. Entscheidend ist es deshalb, Strukturen der Einbeziehung des Rechtsadressaten in den – primärrechtlichen wie sekundärrechtlichen – Normsetzungsprozeß in einer Weise herauszuarbeiten, die einen konkreten Verantwortlichkeitszusammenhang plausibel machen und die Autorenschaft der rechtsunterworfenen europäischen Bürger nicht als bloße konstruktive Fiktion, sondern als das praktische Resultat hinreichender, repräsentativ vermittelter Einbezogenheit in die Rechtsetzung auszuweisen. Ob dies bereits gegenwärtig hinreichend verwirklicht ist, ergibt sich einesteils aus einer Analyse des status quo sekundärrechtlicher Normsetzung und ist anderenteils – soweit Defizite offenbar werden – Aufgabe von Reformvorschlägen de lege ferenda. Jedenfalls aber steht damit nicht primär die vom Demokratieprinzip her diktierte Frage nach Volksbedürftigkeit und staatstheoretisch instruierten Unverfügbarkeiten im Mittelpunkt der Fragestellung, sondern rückt die formoffene Analyse der Möglichkeiten der Ausprägung genuin europarechtlicher Repräsentationsstrukturen in Anerkennung des Umstandes in das Zentrum, daß gemeineuropäische Regelungsbedürfnisse nicht ausschließlich von nationalen Parlamenten zu bewältigen sind. Der von Demokratie- und Repräsentationsprinzip ausgehende Impetus einer Legitimation aller Ausübung von Hoheitsgewalt durch parlamentarische Willensbildung versteht sich – im Kontrast zur Aufweichung solcher prozeduralen Gehalte mit funktionalistischen Argumentationsprämissen – als staatsrechtliches Institutionalisierungsprinzip freiheitlicher Willentlichkeit. Bei ihm handelt es sich bereits um eine Umsetzung, die nicht mit gleicher Unmittelbarkeit das Legitimitätsanliegen formuliert wie sein rechtsprinzipieller Referenzpunkt individueller Autonomie. Hieraus folgt im Argumentationsgang dieser Untersuchung eine Akzentverschiebung vom Demokratieprinzip zum Repräsentationsprinzip, die zu einer flexibleren Anpassung an europäische Besonderheiten in der Lage ist. bb) Konkordanzbildung statt funktionalistischer Kategorieverrechnung In der Herstellung der geforderten Balance hat die im Einleitungskapitel geschilderte Orientierung auf die Methodenfigur der Prinzipienkonkordanz ihren eigentlichen konstruktiven Gegenstand. In der deutschen Staatsrechtslehre fehlt, soweit ersichtlich, bislang eine geschlossene monographische Annäherung an die methodische Fundamentalbedeutung des Prinzips der Konkordanz; vorhandene Stellungnahmen103 neigen zu einer Einordnung im engen rechtprinzipiellen Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ohne indes die spezifische Bedeutung dieses Prinzips als solchem auch in expliziter 103

So etwa Laura Clerico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Differenz zu benachbarten Rechtsgrundsätzen einer vertieften Betrachtung zu unterziehen. Die wesentliche verfassungsexegetische Bedeutung, die dem Prinzip der praktischen Konkordanz namentlich im Bereich der Grundrechtsdogmatik zufällt104, verweist jedoch auf seine Eignung zur Herstellung eines am kategorialen Gehalt beteiligter Prinzipien orientierten Balanceverhältnisses und qualifiziert das Konkordanzprinzip für einen grundsätzlicheren Zugriff auf zu lösende Prinzipienkonflikte, als es ein an Verhältnismäßigkeits- oder Optimierungsgesichtspunkten orientiertes Verständnis zu leisten vermöchte. Auf diesen Umstand gründet es sich, daß die vorliegende Untersuchung das Prinzip praktischer Konkordanzbildung als methodologische Alternative namentlich zu den gängigen gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsparadigmen funktionalistischer, teleologischer Art, aber auch Balancekriterien wie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder dem Prinzip der Abwägung den hier entwickelten Lösungsvorschlägen zugrunde legt. Im Unterschied zu den funktionalistischen Betrachtungsweisen zeichnet sich dieser Zugriff dadurch aus, daß nicht die Europäische Union allgemein als in ihrer Besonderheit gegenüber legitimatorischen Anforderungen abgehoben charakterisiert wird, sondern daß erstens eine wie immer geartete Eigenständigkeit auf kategoriale Bestimmungsgründe zurückgeführt wird und zweitens dieser Bestimmungsgrund gegenüber den allgemeinen Legitimitätsbedingungen in ein zunächst abstraktes, die Anwendungsfragen noch ausblendendes Relationsverhältnis gesetzt wird. Hierdurch wird das Bedürfnis, Besonderheiten der Europäischen Union zu berücksichtigen, im Bemühen nach einer rechtsprinzipiellen Verortung des suigeneris-Gehaltes umgesetzt. Die zuvor ausgeführten relativierenden Betrachtungen gegenüber funktionalistischen Ansätzen, das Eigengewicht der Europäischen Union als Organisationsform angemessen zu würdigen, implizieren nämlich kein Festhalten an staatsrechtsbegrifflicher Fixierung, sondern lediglich eine Akzentverschiebung der Begründungslast von einer Effektivitätsbetrachtung zu einer Prinzipienbetrachtung. Das Eigenständigkeitsprofil muß nach dem hier zugrunde gelegten Ansatz jeweils auf ein Prinzip hin zurückgeführt werden. Namentlich dem Föderalismus kommt hier entscheidende Bedeutung

104 Ungeachtet der praktischen Bedeutung wird dieses Prinzip in der einschlägigen Literatur kaum gewürdigt. So stellt etwa Alexy in seiner Theorie der Grundrechte mit einem lapidaren Satz die Verwandtschaft zum Prinzip der Abwägung heraus (S. 152); in den Lehrbüchern von Isensee/Kirchhof und von Stern sucht man eine Auseinandersetzung gänzlich vergebens.

I. Legitimitätsverständnis der Europäischen Union

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auf unterschiedlichen Ebenen zu105. Sofern dem Föderalismus eine substantielle eigenständige Bedeutung zugesprochen werden kann, ist er als allgemeiner Grundsatz zur Relativierung einer zu stark staatsfixierten Prinzipienlesart zu instrumentalisieren und erlaubt damit, der Integrationsdynamik auch ein prinzipienorientiert angemessenes Gewicht zuzubilligen, ohne den Integrationsprozeß legitimatorischer Beliebigkeit preiszugeben. Die funktionalistischen Ansätze versuchen, indem sie die Gemeinschaftsrechtsordnung als aus sachlogischen Gründen strukturverschieden zum Staat ausweisen, die Anforderungen an den Begriff der Rechtslegitimität selbst zu modifizieren. Sie geben damit fälschlich den universellen Legitimitätsgrund des Rechts als Tribut an eine spezifisch staatsrechtliche Konstruktion aus, der bezogen auf nichtstaatliche Organisationszusammenhänge seine Gültigkeit einbüße, oder gelangen über unterschiedliche Legitimitätskriterien zu einem Relativismus. Demgegenüber ermöglicht es die Orientierung am methodischen Prinzip der Konkordanzbildung, die Konstruktionsformen, durch die dem universalen Legitimitätskriterium in konkreten Willensbildungszusammenhängen Wirksamkeit verliehen wird, den Konstruktionsnotwendigkeiten des jeweiligen Verbundes anzupassen, ohne den Begriff der Legitimität selbst zu modifizieren. Im Unterschied zum funktionalistischen Ansatz ist dadurch ein Festhalten an legitimatorischen Unverfügbarkeiten möglich, ohne die Europäische Union in staatsrechtsbegrifflichen Fesseln zu restringieren. Dieser Zugriff setzt den Eigenständigkeitsgehalt europäischer Verfassung argumentationslogisch eine Stufe tiefer an als das funktionalistische Paradigma: Er führt nicht zu einer direkten Verrechnung der Kriterien von Legitimität und Supranationalität, sondern bringt die aus dem Legitimitätsbegriff fließenden Konstruktionsimperative für rechtliche Willensbildung mit den gegenläufigen Eigenständigkeitsbedürfnissen erst in der praktischen Umsetzung in ein Abgleichverhältnis.

105 So zu Demokratieprinzip (Kap. 4, III. 2. a) bb), IV. 1.), zum Verfassungsbegriff (Kap. 3, III. 1. c)), zum Souveränitätsverständnis (Kap. 4, IV. 2.) und als Grundprinzip mehrebenenbezogener Kompetenzstrukturen (Kap. 5, IV. 2.).

Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

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II. Zum Anspruch des Repräsentationsprinzips als Konkretisierungsprinzip des universellen Legitimitätsgrundes von Recht

1. Notwendigkeit der Konkretisierung Die Allgemeinheit der Fragestellung nach dem Grund der Rechtslegitimität kann nicht in der Darlegung der abstrakten Anforderung verharren, die Heteronomie des Rechtszwangs müsse auf die Autonomie des vernünftigen Willenssubjekts konstruktiv zurückgeführt werden. Vielmehr ist diese Prinzipiengründung des Rechts ein Anspruch, der sich in den Konkretionen positivrechtlicher Institutionen wiederfinden und einlösen muß und der seiner Prozeduralisierung in den konkreten positivrechtlichen Rechtsgebieten bedarf. Die privatrechtlichen Rechtsformen, mehr noch aber die staatsrechtlichen Willensbildungsprozesse bedürfen, um den spezifisch freiheitsgesetzlichen Anspruch an die Rechtslegitimität einlösen zu können, ihrerseits Prinzipien, die ihre Autonomiekonformität gewährleisten. Der eigentliche Probierstein der abstrakten Kategoriebezüge von Recht und Freiheit ist der Staat, in dem rechtliche Zwangsbefugnis monopolisiert, die mit dem Rechtsbegriff verbundene Herrschaftskomponente in ein Subordinationsverhältnis umgesetzt und Streitschlichtung neutral institutionalisiert ist. Die Akzentsetzung der folgenden Darlegung hat das Ziel aufzuzeigen, daß die intendierte handlungsformorientierte Systematik auf einer sachhaltigen Umsetzung des allgemeinen Legitimitätsverständnisses in verfaßten Gemeinwesen weniger durch demokratietheoretische Annäherungen an Staat und EU oder eine allgemeine Neuerschließung potentieller supranationaler Anwendungsbereiche des Demokratieprinzips aufgebaut werden kann106, sondern vor allem durch den Aufweis erfolgen kann, daß und in welchem Umfang die zu untersuchenden Handlungsformen Ausdruck der hinter ihnen stehenden institutionalisierten Repräsentationsleistung sind107. Natürlich ist es – schon wegen der Fixierung des gesamten Schrifttums auf die Thematisierung von Legitimitätsfragestellungen unter der Überschrift von Demokratiedefizit und Demokratisierung – nicht möglich, das Demokratieprinzip insgesamt zu vernachlässigen 106

Hierin ist zugleich die spezifische Differenz dieses Ansatzes zum Meinungsstreit um die Demokratisierbarkeit der EU zu sehen. 107

„Legitimierung von Herrschaft bedeutet Rechtfertigung von Institutionen“: Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, 1977, S. 259 ff.; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 98.

II. Repräsentationsprinzip und universeller Legitimitätsgrund von Recht

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oder gar auszublenden. Jedoch soll ungeachtet solcher notwendiger Rückbezüge gezeigt werden, daß die vom Repräsentationsprinzip erschließbaren Kategorieanforderungen an die Organisationsbedingungen verfaßter Gemeinwesen gerade in bezug auf suprastaatliche Verfaßtheitszusammenhänge in einigen Anwendungsfragen konziser erscheinen als das Stereotyp des Demokratiedefizits. Der in der Staatslehre zum Gemeingut gehörigen Einsicht, daß der Legitimitätsbegriff nicht in der Engführung auf Demokratie begriffen werden kann108, muß auch für eine gemeinschaftsrechtliche Institutionenlehre zur Wirksamkeit verholfen werden. Hierfür kann das Repräsentationsprinzip einen wichtigen Beitrag leisten.

2. Normsetzungsbezug des Legitimitätskriteriums Eine normsetzungsorientierte Legitimitätsfragestellung thematisiert die Herrschaftsinstitution Staat ihrer legitimitätsbedürftigen und legitimitätsvermittelnden Qualität nach wesentlich als „Gesetzgebungsstaat“109. Nicht die allgemeinen, staatliche Herrschaft insgesamt kennzeichnenden Dimensionen praktischer Hoheitsmacht, sondern die Prozeduralisierung eines Vermittlungszusammenhangs zwischen Normsetzung und Normsetzungsresultat steht damit im legitimatorischen Mittelpunkt der Fragestellung. Hierfür ist das Repräsentationsprinzip gehaltvoller, weil präziser operationalisierbar. In einer Gegenüberstellung veranschaulicht, läßt sich sagen, daß das Demokratieprinzip als Legitimitätskriterium gesetzten Rechts eine ideelle Identität von Gesetz und Volkswillen postuliert110; das Repräsentationsprinzip hingegen erweist sich als modus constitutionis eines den Normsetzungsmechanismus autorisierenden Willensbildungszusammenhangs, der das vom Demokratieprinzip lediglich abstrakt ausgehende Postulat konkret verfahrensförmig verbürgt. Dieser Blickwinkel, der das gesamte zu entwickelnde Handlungsformsystem unter dem Aspekt der Repräsentativität der hinter ihnen stehenden Institutionenstrukturen zu thematisieren versucht, setzt die Bestimmung eines Repräsentationsbegriffs voraus, der in seinem kategorialen Gehalt die ihm zugewiesene konstruktive Fundamental-

108

Vgl. vor allem Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 7, unter ausführlicher Bezugnahme auf den Republikbegriff. 109 Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 7; bezogen auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 195. 110 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1926/1961, S. 35.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

funktion zu bewältigen vermag. Gezeigt werden soll, daß ein gehaltvoll interpretierter Repräsentationsbegriff nicht gleichsam als Fußnote praktischer Demokratie, als eine Spielart ihrer Verwirklichung aufzufassen ist – als könne man Demokratie so oder anders, in eben direkt-plebiszitärer Weise, umsetzen111 –, sondern daß dem Repräsentationsbegriff eine Zentralfunktion für die Institutionalisierung von Legitimität und zur Erfassung der konstruktiven Besonderheiten supranational-zwischenstaatlicher Rechtsetzungsformen auch dort zugewiesen werden kann, wo das Demokratieprinzip hinsichtlich seiner vorrechtlichen Verwirklichungsbedingungen, seines staatsorganisationsrechtlichen Kontextbezugs und aufgrund seiner Unbestimmtheit an Grenzen stößt. Die leitende These ist die einer wechselseitigen Bezogenheit von Demokratie und Repräsentation aufeinander, die eine isolierte Verwirklichung eines der beiden Prinzipien ohne das andere als rechtskategoriale Unzulänglichkeit ausweist.

3. Kritik nichtinstitutioneller Repräsentationskonzepte Von vornherein ausgeschlossen sind mit dem handlungsformorientierten Ansatz repräsentationsbegriffliche Alternativkonzepte, die auf eine Akzentverlagerung legitimierender Repräsentation auf nichtstaatlich-gesellschaftliche Zusammenhänge abzielen. Auch für das Repräsentationsverständnis selbst gibt insofern der Bezug auf die Legislativhandlungsformen einen notwendig institutionenförmigen Verwirklichungskontext vor. Repräsentation als prozedurales Legitimationsprinzip der Normgenese ist primär auf staatsorganisatorische Ausprägungen bezogen; ihr Gegenstand ist die vom Staat bewirkte Verrechtlichung, genauer hier die Betrachtung normhervorbringender Verfassungsformen. Die Einlösung dieses Anspruchs setzt als Repräsentationsgremium ein staatliches Organ voraus, das den Allgemeinwillen authentisch artikuliert. Ein Repräsentationsverständnis, das – wie etwa bei Habermas112 – demgegenüber wesentlich auf der Dekomposition der Rolle des Parlaments und seiner Surrogation durch eine diskursive Öffentlichkeit beruht, hat deshalb für den Gehalt des Repräsentationsprinzips als Organisationsprinzip der Rechtsnormgenese keine unmittelbare Bedeutung113 und kann weitgehend ausgeklammert bleiben. 111

Dies suggeriert etwa Roellecke, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Art. 20, Rdnr. 164. 112 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2000, S. 17, 23; vgl. dazu Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 140. 113 Habermas (Fn. 112), sieht den parlamentarischen Abgeordneten weder als Repräsentanten noch – im Sinne Carl Schmitts – als bloßen Interessenvertreter, sondern als unabhängigen Teilnehmer am öffentlichen Diskurs des Publikums, vgl. dazu auch Be-

II. Repräsentationsprinzip und universeller Legitimitätsgrund von Recht

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In Kategorien der Rechtlichkeit kommt es wesentlich darauf an, ob der Rechtswillensbildungsprozeß repräsentativ strukturiert ist; unabhängig davon, ob das Parlament als normsetzende Repräsentationsinstitution wie von Habermas behauptet seine Repräsentativität eingebüßt hat, bleiben alle gesellschaftlichen, öffentlichkeitsorientierten, kurz: nichtrechtlichen Formen von Repräsentationskonzepten für die vorliegende Problemstellung schon deshalb unergiebig, weil sie nicht auf die Herstellung eines spezifischen Korrespondenzverhältnisses zwischen Rechtsetzung und institutionalisierter Repräsentation zielen, sondern Legitimität insgesamt aus der perspektivischen Bezogenheit auf Recht herauslösen. Damit wird zwar nicht die Legitimitätskonnotation des Repräsentationsprinzips, wohl aber seine Qualität als Rechtsprinzip reduziert.

4. Vorgehensweise Der Repräsentationsbegriff hat in der Rechtswirklichkeit seit der Antike vielfältig Bedeutung erlangt114; die vormodernen Differenzierungen können in diesem Rahmen unbetrachtet bleiben. Erst mit der neuzeitlichen Neuorientierung staatlicher Legitimitätsbegründung wird Repräsentation bezogen auf eine dem staatlichen Gemeinwesen zugrunde liegende Volksidentität und die Notwendigkeit, deren Herrschaftssouveränität in praktischen Institutionenverhältnissen zu vergegenwärtigen. Damit entsteht der für das heutige Staatsrecht prägende enge Wechselseitigkeitsbezug von Repräsentation, Demokratie und Volkssouveränität, welche konvergent auf das legitimatorische Fundament rechtlicher Institutionalisierung verweisen115. Der Begriff der Repräsentation ist deshalb bei aller Weite und Vielschichtigkeit seiner Verwendung116 aufcker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 140. Damit büßt das Staatsorgan des Parlaments insgesamt seine repräsentative Bedeutung ein und sinkt auf die Qualität eines bloßen gesellschaftlichen Akteurs unter anderen herab. 114 Zur ständischen Repräsentation und klerikalen Bedeutungskonnotationen im Mittelalter B. Haller, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 812-819; instruktiv insgesamt zu den Defiziten einer einseitig fremdrepräsentativ ausgerichteten Begriffsauffassung M. Köhler, Rechtsphilosophie, Kap. 5 (demn.). 115 Deutlich findet sich dieser Bezug in seiner Geschlossenheit dargestellt v. a. bei Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, S. 44 ff.; ebenso Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1972; Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 3; vgl. auch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 626 ff. 116 Weiterführende Nachweise in Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 25, Fn. 1-5.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

grund seiner Legitimationsbedeutung ähnlich staatsbezogen117 wie das Demokratieprinzip. Das stellt die Ausweitung der Begriffsbedeutung auf einen allgemeineren, auch internationalrechtlichen Kontext vor eine Rechtfertigungsanforderung. Der hier verfolgte Ansatz ist versucht dem dadurch Rechnung zu tragen, daß er dem positivrechtlichen Verständnis vorangehende Allgemeingehalte des Repräsentationsprinzips kennzeichnet und aus seiner kategorialen Bestimmung selbst die kontextüberschreitenden Bestandteile gewinnet, die ihn auch für das zwischenstaatliche Recht qualifizieren. Die Darstellung verallgemeinert den Repräsentationsbegriff in seinem praktischen Bezug in mehreren Schritten, ausgehend zunächst von der staatsrechtsbegrifflich nächstliegenden Verknüpfung mit der Legislativtätigkeit bis hin zur Bedeutung im internationalen Rechtsverhältnis. Auf dieser Grundlage können dann Geltung und Legitimität zunächst des supranationalen Vertrages, dann aber auch der sekundärrechtlichen Handlungsformen, auf Konstruktionselemente des Repräsentationsprinzips zurückgeführt werden. Insofern wird die Darstellung der Bedeutung des Repräsentationsprinzips in seinen unterschiedlichen Ebenen schrittweise verknüpft mit der Bezugnahme der aus der Repräsentation jeweils resultierenden Handlungsformen, und die Erweiterung seines Anwendungsbereiches rechtfertigt sich aus der schrittweisen Abstraktion von seinem überkommenen Bedeutungskontext.

III. Repräsentation als Institutionalisierungs- und Funktionsprinzip der parlamentarischen Legislative

1. Repräsentation als Funktionsbedingung der Demokratie Die Grundlage rechtlicher Legitimität ist nach der vorangegangenen Charakterisierung118 universeller als das Demokratieprinzip119; gleichwohl erhält das Zentralkriterium der Vermittlung von Rechtsnormen über den Willen der 117 Zum staatsrechtlichen Bedeutungsgehalt des Repräsentationsprinzips allgemein Stern, Staatsrecht, Band 1, 2. Aufl., § 22 II 5; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 44-98. 118 Oben, I. 119 Hierin dokumentiert sich zugleich die kategoriale Unangemessenheit einer Demokratisierung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche, etwa die verfehlte Thematisierung betrieblicher Mitbestimmung unter dem Aspekt der Demokratie statt unter dem Aspekt gerechter Teilhabe. Grundlegend zu den rechtsprinzipiellen Verortungspunkten des Prinzips gerechter Teilhabe insgesamt M. Köhler, Iustitia Distributiva, ARSP 1993, S. 457 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

99

Adressaten staatsorganisatorisch praktische Wirksamkeit nach Maßgabe demokratischer Inklusionsmechanismen120. Legitimität von Recht wird positivrechtlich in erster Linie durch den staatsrechtlichen Willensbildungsprozeß realisiert, manifestiert in der Repräsentation des willensbildenden Volkes durch staatliche parlamentarische Systeme121. Die demokratische Willensbildung parlamentarischer Wahlen ist zentraler staatsrechtlicher Umsetzungsmechanismus der Forderung, alle Rechtsverbindlichkeit aus dem Willen der Rechtsverbundenen heraus zu konstruieren und damit dem Verfassungskonsens auch in seinen einfachgesetzlichen normativen Konkretisierungen Wirksamkeit zu verleihen122. Im Vordergrund staatsrechtlicher Bedeutung des Repräsentationsprinzips steht daher zunächst seine Qualität als Umsetzungsmodus staatlich organisierter Demokratie. In ihm manifestiert sich die Verfaßtheitsangewiesenheit des Demokratieprinzips. Repräsentation ist in diesem Bezug die äußere Form einer praktisch-demokratischen Zurechnungsstruktur; sie verknüpft die Elemente demokratischer Willensbildung und republikanischer Verfaßtheit123 in einem unten näher zu entfaltenden Bedeutungszusammenhang. Diese funktionale Bedeutung des Repräsentationsprinzips kommt mit größter Unmittelbarkeit in der staatlichen Legislative zum Tragen. Das hat mehrere unterschiedliche Gründe.

a) Historische Gründe für die Parlamentsbezogenheit des Repräsentationsprinzips Verfassungshistorisch stehen die Konstitutionalisierungsbestrebungen der Aufklärung in engem Zusammenhang mit der Etablierung des Parlaments, das – auch in der Entgegensetzung zu dem Monarchen in einer Art Machtgleichgewicht – zunächst einen legitimatorischen Konterpart durch Wahrnehmung

120

Treffend Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 18, 2. Abs.; ders., Die Legitimation des Staates aus der Idee der Funktion des Rechts, ARSP Beiheft Nr. 15 (1981), S. 32 ff. 121 Vgl. Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, 1977, S. 259 ff.; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 94. 122 Vgl. Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 20. 123 Zum Begriff der Republik als Staatsstrukturbegriff vgl. nur Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 20 III, Rdnr. 9 ff.; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 48 ff.; auch Hasso Hofmann, Repräsentation, 1973, S. 413 ff.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

von Kontroll- und Budgetrechten gegenüber dem Monarchen ausfüllt124. Hierin liegt eine deutliche institutionelle Differenz zur direktdemokratischen Prinzipienrealisation in der Antike. Volkssouveränität, die sich in der Folgezeit dann zunehmend rechtspraktisch manifestiert in Gesetzgebungstätigkeit, fungiert als Gegenpol einer Herrschaft von Gottesgnaden. Demokratie als Prinzip der Volkssouveränität einerseits und Monarchieprinzip andererseits treten insbesondere im Kaiserreich in ein antithetisches Verhältnis125. Hier wird das Volk als Entität begriffen, deren Vergegenwärtigung bei der Bestimmung der Grundorientierung des Gemeinwesens zentrales Anliegen ist. Die Mediatisierung des Einzelnen durch das Parlament und die parlamentarische Bezogenheit auf die Kollektividentität des Volkes sind zentrale Gründe für die historische Aufwertung des Repräsentationsprinzips. Die Notwendigkeit, kollektive Willensbildung zu institutionalisieren, ist dort unmittelbarer, wo es um die Etablierung allgemeinverbindlicher Normen geht, als dort, wo deren Vollzug zu gewährleisten ist. Hieraus erklärt sich zugleich die starke Bezogenheit des Repräsentationsgedankens auf die Legislative. Dies gilt auch für die Funktion der gesetzeserlassenden Gremien in nichtparlamentarischen präsidialen Systemen der angelsächsischen Rechtstradition und wird verstärkt durch das korrespondierende Verständnis der Exekutive, die im Zuge der Aufklärung immer stärker in die Rolle einer gesetzesvollziehend dem Volkswillen und dem Gesetz „dienenden“ Gewalt annimmt. Volksherrschaft ist von daher schon historisch Herrschaft mittels Regeln – Gesetzesherrschaft – und priorisiert damit die Notwendigkeit, dem Demokratieprinzip in der ersten Gewalt Wirksamkeit zu verleihen.

b) Utilitaristische Gehalte des Repräsentationsprinzips Im Vordergrund gegenüber dem Nachvollzug der verfassungshistorischen Entwicklung stehen indes die rechtskategorialen Gründe für den engen Demokratie- und Parlamentarismusbezug des Repräsentationsprinzips. Das Vorverständnis neigt dazu, jedenfalls die Reinform der Demokratie mit direkter oder plebiszitärer126 zu identifizieren127 und dieser ein legitimatorisches Plus gegen-

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Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 308; Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 32. 125 Vgl. etwa T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II, 3. Aufl. 1995, S. 92 ff ; Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, 1997, S. 84 ff., m.w.N. 126 So auch Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, Festschrift Huber, S. 222. 127 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 7.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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über mediatisierten – repräsentativen – Partizipationsformen zuzuerkennen128. Die legitimatorische Anforderung demokratischer Beteiligungsallgemeinheit sieht sich hierin schnell gleichgesetzt mit unmittelbarer Willensartikulation jedes Einzelnen. Für diese Forderung, Demokratie in basisdemokratischunmittelbarer Form zu verwirklichen, steht in den neuzeitlichen Konzeptionen insbesondere Rousseau129. Mit dem Repräsentationsprinzip verbindet sich die unten näher auszuführende Kritik an solchen Positionen. Verantwortlich für eine derartige Gegenüberstellung unvollkommen anmutender Repräsentation einerseits und vollkommener Legitimität durch die unmittelbare Identität von Herrschenden und Beherrschten130 andererseits ist aber auch eine allzu pragmatische Bestimmung der kategorialen Bedeutung des Repräsentationsprinzips: Wo die Repräsentation auf dem Hintergrund vorgenannter Selbstbestimmungsideale als „notwendiges Übel“ erscheint, als Zugeständnis an die in der Sphäre der Politik notwendige Dezision, gespeist aus der Einsicht in die Notwendigkeit, unter dem einschränkenden Druck begrenzter Zeit zu für das Gemeinwesen tragfähigen Entscheidungen zu gelangen131, ist schon in der Wahl der Betrachtungsperspektive die Begrenztheit repräsentativen Legitimationsvermögens angelegt, während das Demokratieverständnis seiner vermeintlich reineren Verwirklichungsform zustrebt. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß durch eine repräsentative Ausgestaltung demokratischer Beteiligung auch – in Abgrenzung zu identitär-basisdemokratischen Staatsformen – der pragmatischen Notwendigkeit einer Entscheidungsfindung Rechnung getragen wird: Verlangt die aus dem Rechtsprinzip heraus gebotene Selbstorganisation nach der Aufstellung von Regeln in einem empirisch-historischen Zusammenhang, um Freiheit wechselseitig zu koordinieren, und ist andererseits die Findung eines Konsenses praktisch unmöglich (wie in allen modernen Republiken im Unterschied zu antiken Polis-Demokratien132), so resultiert daraus die unausweichliche Anfor-

128

Böckenförde, HdBStR Bd. II, § 30, Rdnr. 4-11.

129

Vgl. zum identitären Demokratiekonzept Rousseaus auch Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 162 ff., 170 ff.; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 43. 130 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 28; zur Gegenüberstellung von Identität und Repräsentation auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, 2003, § 74. 131 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2000, S. 42; ders., Faktizität und Geltung, 1992, S. 220 f., 254 f., 369, 613 f.; Jörg P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, S. 149, beide allerdings weniger auf Repräsentation als solche, als auf die majoritären Implikationen praktischer Repräsentationsverwirklichung bezogen; zum Mehrheitsprinzip im supranationalen Zusammenhang vgl. auch unten, Kap. 5, V. 132 Vgl. den Überblick bei Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 17 ff.; zur verkappten Repräsentativstruktur auch der direkt-demokratischen Entscheidungsverfahren in der Rechtswirklichkeit Jörg P. Müller (Fn. 131), S. 159 f.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

derung, dem Staat mit einer konsensnahen Entscheidungsfindungsregel zu praktischer Handlungsfähigkeit zu verhelfen. Repräsentation geht einher mit einer Simplifizierung von Entscheidungsfindungsprozessen; durch sie wird das Prinzip der Mehrheitsentscheidung möglich gemacht133. Eher pragmatischen Gehalt hat auch die Auslesefunktion des Repräsentationsprinzips134, durch die die Willensartikulation in die Hände der hierzu besonders Befähigten gelegt und die Komplexität einer Koordination allseitig-ungerichteter Willensäußerung durch eine solche Mediatisierung der Entscheidungsträgerschaft reduziert wird. Die Idee der Repräsentation liefert hier das argumentativ-legitimatorische Bindeglied zur Rechtfertigung von Entscheidungsprozeduren, die aus Gründen der Zweckmäßigkeit notwendig sind, aber mit einer mangelnden Aktualität der Beteiligung aller Entscheidungsbetroffenen einhergehen. Die Reduktion auf dieses Element ist aber eine Unterbestimmung. Die darzulegende entscheidende Bedeutung liegt vielmehr auf der prozeduralen Gewähr für das Vermögen des Gemeinwesens, einen allgemeinen Willen auszuprägen und diesen in seinen normativen Handlungsformen auszudrücken.

c) Kritik identitär-unmittelbarer Demokratieformen Mit einem solchen Repräsentationsverständnis auch materialen Gehalts ist die Kritik am Modell unmittelbarer Demokratie verbunden. Diese setzt zunächst in der fehlenden Operationalisierbarkeit eines direktdemokratischen Verständnisses im staatsrechtlichen Institutionengefüge an. Ein Demokratieverständnis plebiszitärer Ausprägung übersieht die Abhängigkeit jeglicher Willensbildungsprozesse von Organisationsvorgängen135 und verhüllt lediglich durch die mangelnde Thematisierung der Artikulationsbedingungen des Volkswillens deren notwendige – verdeckte – Repräsentationsstruktur. Aber auch wenn sich eine aktuell-spontane Entfaltung basisdemokratischer Entscheidungsprozesse praktisch denken ließe: Ein direktdemokratisches „plebiscite de tous les jours“136 ist keine Staatsform137, sondern aktuell-spontane und insofern kontingente Willenskonvergenz.

133

Vgl. Jörg P. Müller (Fn. 131), S. 157 ff. Vgl. Leibholz (Fn. 130), S. 166 ff., mit empirischen Nachweisen. 135 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 12 f. 136 Die Formulierung geht zurück auf Renan, Qu’est-ce que c’est qu’une nation? 1882. 137 Vgl. C. Schmitt Verfassungslehre, 5. Aufl., 1970, S. 149; Böckenförde, HdBStR, Bd. 2, § 30. 134

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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Auch Rousseau – dem Hauptvertreter eines direktdemokratischen Rechtssystems – geht es im contrat social zwar darum, einen Modus der Willensbildung zu konstruieren, der zur Hervorbringung von Allgemeinheit in der Lage ist und die in Normen gegossene Willensäußerung als selbstbestimmte Rechtsherrschaft der Volksgemeinschaft artikuliert138; die nachfolgend erörterten Konzepte namentlich von Kant verweisen mit ihrem Autonomiebegriff auf Rousseau. Überhaupt geht die ganze Pointierung eines Freiheitsbegriffs, der wie bei Kant wesentlich als Selbstgesetzgebungsvermögen definiert wird139, auf Rousseau zurück140. Nicht überzeugend ist aber die Vorstellung Rousseaus im Übergang von individueller Autonomie zu kollektiver Selbstbestimmung141, die eben durch ihre Defizite die Notwendigkeit repräsentativer Verfaßtheit verdeutlicht: Bezeichnenderweise muß Rousseau bei der konstruktiven Umsetzung seines contrat social die im Übergang von volonte de tous zur volonte générale liegende Vermittlungsleistung auf die pädagogisch-sittliche und damit nach kantischer Kategorienbildung des Gegensatzpaares von Moralität und Legalität außerhalb der Sphäre des Rechts befindliche Ebene der „Willensveredelung“ der Staatskonstituenten verlagern142. Diese tugendbezogene Konstruktion sieht sich nicht nur dem Einwand ausgesetzt, den noch gar nicht konstituierten Staat zur Appellationsinstanz einer zu seiner Gründung notwendigen Erziehungsleistung zu machen und damit am Abgrund zur Zirkularität zu wandeln. Die Auslagerung der zur kollektiven Willensbildung erforderten Vermittlungsleistung zwischen Partikular- und Allgemeinwillen aus der Sphäre des Rechts ins forum internum marginalisiert auch die rechtliche Notwendigkeit der Staatsbegründung143, die so als sittliche Reparaturinstanz für soziale Depravation unterbe138

Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 21. Grundlegend hierfür GMS, II. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, IV, 431: „Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß“. 140 Rousseau, Contrat social, Contrat Social, 1. Buch, Kap. 6, 17: vgl. daran anschließend Kant, GMS, IV, 446, Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft: „Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“; ders., GMS, IV, 447: „also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“. 141 Vgl. Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 21. 142 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 168 ff.; kritisch auch Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 1978, Kap. IV; Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, 1973, Kap. VI. 143 Exemplarisch Kant, MdS, RL, § 44, VI, 312: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und 139

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

stimmt erscheint. Andererseits prägt sie dem Staat durch die Zuerkennung von sittlichkeitsbezogenen Einwirkungsbefugnissen, die mit der intendierten Erziehungsrolle unabdingbar einhergehen, eine autoritative, ja totalitäre Dimension auf144. „Demokratie als Staatsform“ hingegen verlangt nach organisatorischer Vermittlung; sie ist angewiesen auf Institutionalisierbarkeit und erfordert als solche „Repräsentation [des Volkes] durch seine frei gewählte und selbständig entscheidende Volksvertretung“145. Es ist deshalb kein zufälliger empirischer Befund, daß die plebiszitären Elemente, die sich beispielsweise in der Verfassung von Staaten wie der Schweiz finden146, eine Überschaubarkeit der zu gestaltenden Lebensverhältnisse als Grundlage für diese Entscheidungsunmittelbarkeit vorfinden147. Zudem werden sie regelmäßig nicht als allgemeines Konstitutionsprinzip umgesetzt148, sondern haben entweder – wie in der Bundesrepublik – ergänzenden Charakter für begrenzte Teilbereiche149, oder aber sie offenbaren ihrerseits eine nur stärker verdeckte Repräsentationsstruktur150. Jede Form der Demokratie ist jedenfalls in diesem Sinne eine repräsentative, daß nicht der private Einzelwille, sondern seine Einbringung in eine Verallgemeinerung den Ausschlag geben muß151. Repräsentation – verstanden als Artikulationsbedingung der Demokratie in parlamentarischer Form – ist ein „die ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nichtrechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. 144 Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 73; Ausführlich kritisch auch Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 168 ff. 145 Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR, Band I, § 23, Rdnr. 35 f., S. 73. 146 Vgl. Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck, 1989, S. 641. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 240 f., weist darauf hin, daß der Verzicht auf repräsentative Elemente ein nur scheinbarer sei; zurückhaltender Jörg P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, S. 159. 147 Dazu auch Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 43, Fn. 149. 148 Böckenförde, HdB StR, § 30. 149 Dazu Böckenförde (Fn. 148). 150 Böckenförde (Fn. 148). 151 Vgl. dazu ausf. M. Köhler, Rechtsphilosophie (demn).

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

105

Verwirklichung der Volkssouveränität näher bestimmendes Verfassungsprinzip“152. Demokratie als systematisch auf eine staatliche Verfaßtheit bezogene Partizipationsform ist daher mit Notwendigkeit, nicht etwa als Ausdruck eines pragmatischen Kompromisses, der hinter ihrer Idealität zurückbliebt, eine repräsentative.

2. Substantiell-allgemeine Bedeutung der Repräsentation Diese Erwägungen reichen allerdings für sich genommen nicht hin, um das Moment der mit Repräsentation einhergehenden Verkürzung der Partizipationsaktualität der im Gemeinwesen zusammengeschlossenen Individuen zu rechtfertigen. Ein für europäische Legislativwillensbildung weiterführender Bedeutungsgehalt des Repräsentationsprinzips muß aus dem Bezug auf die legitimatorischen Anforderungen für Rechtsetzung seine kategorial tragenden Wesensmerkmale gewinnen. Entscheidend hierfür ist die Charakterisierung, aus welchem Grund repräsentative Entscheidungen und das als legitimatorisch zentral charakterisierte Kriterium willentlich-selbstbestimmter Hervorbringung von Rechtsnormen konvergieren.

a) Die Dialektik der Repräsentation zwischen Identität und Identifikation: Carl Schmitt Dem Repräsentationsprinzip liegt das Postulat der Aufgehobenheit des Selbstbestimmungswillens der nicht aktuell Entscheidungsbeteiligten in der Repräsentantenentscheidung zugrunde153. Nur mit dem Nachweis der Berechtigung dieses Postulats, durch das die Legitimitätsprämissen des Einleitungskapitels mit dem Repräsentationsprinzip verknüpft werden, erscheint die durch Repräsentanten gefällte Normsetzungsentscheidung als allgemein und vermag sie damit umfassende Geltung zu beanspruchen. Sekundärargumente wie der skizzierte Nützlichkeitsgehalt des Repräsentationsprinzips als Instrument der Simplifikation von Willensbildungszusammenhängen und als „notwendiges Übel“ praktischer Entscheidungsfindung setzen das Gelingen dieser Begründung ebenfalls voraus.

152 153

Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR, Bd. I, 1987, § 23, S. 972 ff. M. Köhler, Rechtsphilosophie (demn).

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Ihren unmittelbarsten Ausdruck findet die dem Repräsentationsprinzip inhärente Dialektik zunächst bei Carl Schmitt154. Einerseits ist hier Repräsentation als Gegenbegriff zur Identität aufgefaßt155 und dieses Begriffspaar als Dichotomie begriffen, die sich kongruent zum Antagonismus von Demokratie und Monarchie verhält156. Diese von Carl Schmitt wesentlich auch zur Parlamentarismuskritik instrumentalisierte Dimension157 steht allerdings für die Kategoriebestimmung des Repräsentationsprinzips an dieser Stelle nicht im Vordergrund158. Maßstabsbildend ist vielmehr – zunächst in Loslösung von der Frage nach dem zur Repräsentationsfunktion praktisch berufenen Staatsorgan – die dem Repräsentationsprinzip wesensinhärente Paradoxie, mit dem Postulat typisierter Identifikation von Repräsentant und Repräsentiertem trotz realempirischer Nichtidentität verbunden zu sein159. Hierin tritt die bereits im Wortverständnis160 angelegte Dialektik einer Vergegenwärtigung auch des aktuell nicht Gegenwärtigen zutage. Repräsentative Entscheidung erfolgt stellvertretend, aber (über Stellvertretung hinausgehend) mit dem Anspruch, faktisch Abwesendes als Einheit ideal anwesend zu machen. Impliziert ist damit, daß kraft des vom Repräsentationsgedanken vorausgesetzten Delegationsaktes Souverän und Entscheidungsträger in ihrer faktischen Existenz zunächst einmal auseinanderfallen; dieses Moment ist in der Schmittschen Antithese von Identität und Repräsentation affirmiert. Das Repräsentationsprinzip ist jedoch gleichzeitig Instrument der Überwindung dieser Spaltung, indem es mit der Möglichkeit, daß Souveränität im Sinne von Höchstinstanzlichkeit einerseits (diese liegt beim Repräsentierten) und Entscheidungsbefugnis andererseits (diese liegt 154 Zu dieser Dialektik in Carl Schmitts Repräsentationskonzept und der Bedeutung seiner Staatstheorie insgesamt hierfür vgl. etwa Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 58. 155 Joseph H. Kaiser, Die Dialektik der Repräsentation, in: H. Barion/E.Forsthoff/ W. Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 71-80 (72 f.): Identitätsprinzip als These, Repräsentationsprinzip als Antithese bei Carl Schmitt. 156 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 208. 157 Carl Schmitt (Fn. 156), S. 218, qualifiziert die Entwicklung des Parlaments zum Repräsentativorgan als anitdemokratisch und spielt so das Repräsentationsprinzip gegen das Demokratieprinzip aus, vgl. dazu auch Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 30 f. 158 Zu den kategorialen Gehalten der Parlamentarismuskritik Carl Schmitts gegen das hier vertretene Repräsentationskonzept vgl. unten, Kap. 2, III. 4. b) aa). 159 Carl Schmitt (Fn. 156), S. 209; vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Repräsentation, Band II, 1980 § 22 II 5, S. 961. 160 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 34, beispielsweise spricht in der Allgemeinheit des möglichen Wortsinns von der Vergegenwärtigung einer Person, Gruppe oder Idee durch eine Person oder ein Symbol, vgl. dazu auch Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, FS Huber, S. 227.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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beim Repräsentanten) divergieren können, das Postulat der konstruktiven Überwindbarkeit dieser faktischen Kluft verknüpft. Gleichzeitig kommt die für Carl Schmitt prägende Antinomie von Identität und Repräsentation in einer für den kategorialen Gehalt des Repräsentationsprinzips fruchtbaren Weise zum Tragen. In seiner Schrift zur Parlamentarismuskritik offenbart sich, daß die an anderer Stelle stilisierte Antinomie von Repräsentation und Identität161 wesentlich nicht mit einer gänzlichen Rousseauischen Gleichsetzung von Demokratie und Identität162 verbunden ist, sondern der von Carl Schmitt als Kern aller demokratischen Argumente bezeichnete Identitätszusammenhang163 sich wesentlich als – normatives – Anerkennungsverhältnis versteht164. Für diesen normativen Vermittlungsschritt zwischen faktisch-realer Identität und normativer Identifikation165 kommt dem Repräsentationsprinzip eine zentrale konstruktive Funktion zu. Repräsentation versteht sich insofern doppelsinnig: Einerseits als Gegenbegriff zur Identität in kategorieprägendem Bezug auf ein System der Staatsformen; andererseits aber – für vorliegenden Kontext entscheidend – als Instrument konstruktiver Vermittlung von Identifikation angesichts unerreichbarer Realidentität. In diesem letztgenannten Kontext begreift sich das Repräsentationsverständnis als Macht, die immanente Idee nationaler Identität166 vergegenwärtigen zu dürfen167. Darauf aufbauend wird logisch die Vorrangigkeit der Souveränität der repräsentierten Einheit – für den Staat ist dies das Volk168 – als in einer durch die Entscheidungsträger mediatisierten Form ausgeübt postuliert. Diese Mediatisie161 Vgl. dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Repräsentation, Band II, 1980 § 22 II 5, S. 960, mit Verweis auf Carl Schmitt. 162 Dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 140 ff. 163 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1926/1961, S. 35: „Logisch [beruhen] alle demokratischen Argumente auf einer Reihe von Identitäten“. 164 Carl Schmitt (Fn.163), S. 35: „Alle solchen [demokratischen, F.S.] Identitäten sind aber nicht handgreifliche Wirklichkeit, sondern beruhen auf einer Anerkennung der Identität“. 165 Carl Schmitt (Fn. 163), S. 35 f.: „Immer bleibt eine Distanz zwischen der realen Gleichheit und dem Resultat der Identifikation“. 166 Die Bezogenheit auf die nationale Identität wirft unten, Kap. 4, die Frage nach Relativierungsansätzen für einen nicht national orientierten, damit supranational funktionalisierbaren Identitätsbegriff auf. 167 Vgl. dazu auch Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 213; Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 59. 168 Zum Bezug von Volk und Repräsentationsprinzip vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958; zu möglichen Einschränkungen aus föderalsupranationalen Erwägungen heraus s. unten, Kap. 4, I.-III.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

rungsleistung der Repräsentation dokumentiert seine einheitsstiftende Wirkung: Insofern die gesamte repräsentierte Einheit durch die Repräsentanten gegenwärtig gemacht wird, kommt in der Entscheidung die Partizipation Aller als Einheit zur Wirkung. Sie hat damit den Charakter einer vom Willen aller Repräsentierten konstruktiv getragenen und hierdurch allgemeinen Entscheidung. Dies ist nicht im Sinne einer Fiktion zu verstehen, sondern als konstruktives Postulat der Mitvergegenwärtigung trotz faktischer Absenz. Die Einbeziehung aller liegt im Autorisierungsakt der Wahl, durch den der Repräsentant die Ermächtigung erhält, im Namen aller (nicht nur distributiv-individuell, jedes einzelnen, sondern kollektiv-unitarisch, aller gemeinsam169) zu handeln. Das einheitsstiftende Moment der Repräsentation begründet sich daraus, daß anders als bei der Stellvertretung nicht der eine anstelle des anderen handelt und deshalb nicht ein Teil entscheidet, sondern die Ganzheit als einheitliche Allgemeinheit. Repräsentation erscheint darin als Formprinzip identifikatorischer (im Unterschied zu identitärer) Rechtswillensbildung.

b) Repräsentation als verwirklichte Allgemeinheit Die konstruktive Vergegenwärtigung der zukünftigen Rechtsadressaten im die Normsetzungsentscheidung generierenden Willensbildungsprozeß durch die Repräsentativinstanz ist kein Selbstzweck. Entscheidendes Legitimitätskennzeichen, entscheidender legitimatorischer Fluchtpunkt eines repräsentativ verfaßten Legislativwillensbildungszusammenhangs ist letztlich das Kriterium der Normautorisation. Die starke Bedeutung von Vergegenwärtigungsleistung und Einheitsbildung erklärt sich aus dem legitimatorischen Anliegen, die in der Verfassung angelegte Vereinigung aller Bürger auch in den nachgeordneten Normebenen zur Geltung zu bringen, und der Bezogenheit des Repräsentationsprinzips auf diese Funktion. In Kategorien der der kontraktualistischen Betrachtungsweise170 eigentümlichen komparativen Perspektive zwischen Rechtlosigkeit im – fiktiven – status 169

Kant, EF, Anhang I. Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden, VIII, 371: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen, in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprincipien zu leben (die distributive Einheit des Willens Aller), zu diesem Zweck nicht hinreichend, sondern daß Alle zusammen diesen Zustand wollen (die collective Einheit des vereinigten Willens) […]“[Hervorhebungen von mir]. 170 Diese für die Aufklärung typische Legitimitätshypothese (vgl. dazu Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, 2. Aufl., 1962, S. 6 ff.), Staatlichkeit auf den freien Willen der Staatsbürger zu gründen und damit als Selbstbestimmung zu konzipieren, artikuliert sich erstmals in den Gesellschaftsvertragstheorien seit Hobbes und findet über die vernunftrechtliche Vermittlung durch Kant, aber auch durch den

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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naturalis und institutionalisierter171 Rechtlichkeit unter der staatlichen Rechtsvernunft ist Staatlichkeit Resultat eines idealen, als contractus originarius paraphrasierten Verfassungskonsenses, der den konstruktionslogischen Übergang zwischen status naturalis und status civilis resp. iuridicus markiert. Die repräsentative Ausgestaltung des Willensbildungsmechanismus ist auf diesen Aspekt spezifisch bezogen, indem sie die im contractus originarius manifestierten, vernunftrechtlichen Grundideen von Wesen und Grundlage staatlicher Verfaßtheit auf die logisch hierauf beruhenden organisatorischen Teilleistungen des staatlichen Institutionengefüges erstreckt. Das Erfordernis repräsentativer Legislativwillensbildung liegt im Licht solchen Institutionenverständnisses wesentlich in deren Vermögen begründet, die Freiheitsprämissen des verfassungstheoretischen Basiskonsenses auf die normhierarchisch nachgeordneten Formen der Rechtskonkretisierung zu erstrecken. Indem das normative Fundament des staatlichen Gemeinwesens als konstruktiv-idealer Konsens aller Bürger zu einem konstituierenden Bestand an Grundnormen aufgefaßt wird172 und die Verfassung als normative Verkörperung dieses omnilateralen Basiskonsenses verstanden werden kann, ist es Aufgabe aller staatlichen Ausübung hoheitlicher Gewalt, diesem Grundkonsens, von dem sie sich ableitet, Wirksamkeit in den von ihr vermittelten Konkretisierungen zu verschaffen. Diese Elemente der Repräsentation als praktischem, von dem Verfassungskonsens abgeleiteten Zurechnungszusammenhang finden ihre Grundlegung in wesentlichen Elementen bereits in der Gesellschaftsvertragstheorie von Thomas Hobbes angelegt, wenn auch in einer stark absolutistischautoritären Prägung: Der Repräsentant ist hier der in seiner Herrschaftsmacht

angelsächsischen Neokontraktualismus (vgl. etwa Buchanan, The Limits of Liberty: between Anarchy and Leviathan, 1975; Nozick, Anarchy, State and Utopia, 1988; ausführlich dazu Peter Koller, Neue Lehren zum Sozialkontrakt, 1987, m.w.N.) Eingang in die Staatsrechtslehre der Gegenwart (ausführliche Nachweise etwa bei von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, § 5) . 171 In der Diktion Kants ist diese staatsvermittelte Institutionalisierungsleistung – im Kontext der Besitzrechtslehre, aber dennoch mit hierüber hinausreichendem Charakterisierungsgehalt für das Wesen des staatsvermittelten Rechtszustandes insgesamt, als „peremtorischer Zustand“ apostrophiert, vgl. insb. MdS, RL, § 15, VI, 264: „Nur in einer bürgerlichen Verfassung kann etwas peremtorisch, dagegen im Naturzustande zwar auch, aber nur provisorisch erworben werden“. 172 Diese durch die Gesellschaftsvertragstheorien erstmals artikulierte Legitimitätsvorstellung für staatliche Gemeinschaftsbildung liegt auch der geltenden Staatsrechtslehre zugrunde, vgl. zum Prinzip des Verfassungskonsenses als universellem Grundeinverständnis mit den gemeinschaftskonstituierenden Werten Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 143; kritisch gegenüber vertragstheoretischen Legitimitätsbegründungsargumenten demgegenüber Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 529 ff.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

konstruktiv unlimitierte Leviathan. Obgleich im Leviathan173 und in De Cive174 die Ermächtigung in erster Linie konstruiert ist als allseitiger Rechtsverzicht der staatsgründenden Individuen in Form eines omnilateralen Vertrags, so daß auf diese Weise einem vertragsunbeteiligten Herrscher das herrschaftsnotwendige Gewaltmonopol zufällt175, erschöpft sich doch diese Vertragskonstruktion nicht in dieser faktischen Machtakkumulation als bloßem Reflex vertragsförmigen Verzichts, sondern impliziert ein Moment repräsentationstypischer Autorisation176. Dies rechtfertigt es, die anschließenden Handlungen des Herrschers den Rechtsunterworfenen zuzurechnen. In der treuhänderisch für die Summe der Staatskonstituenten erfolgenden Ausübung hoheitlichen Handelns durch den Leviathan verdichtet sich die ansonsten bei Hobbes individualistisch zersplitterte Summe der Staatsbürger zur kollektiven Einheit177. Auch ohne daß gegenüber dem Herrscher subjektive Rechte bestehen, ist durch die Autorisierung die ausgeübte Rechtsherrschaft treuhänderisch gebunden. Diese zunächst unspezifisch auf die Repräsentativität hoheitlichen Staatshandelns insgesamt bezogene Legitimationsargumentation, die sich wesentlich in Grundansätzen einer ausschließlich im Verfassungskonsens manifestierten Repräsentationsidee konzentriert, enthält einen spezifischen, auch in bezug auf die Hoheitsfunktion der Rechtsetzung stärker ausdifferenzierten Gehalt erst in der vernunftrechtlichen Variation des kontraktualistischen Repräsentationsarguments. Einerseits ist hier das Verständnis des hoheitskonstituierenden Verfassungskonsenses für das Postulat ursprünglicher Freiheit präzisiert; gleichzeitig ist die Notwendigkeit staatsorganisatorischer Bezogenheit auf diesen Ausgangspunkt stärker akzentuiert. Alle vertragstheoretischen Konstruktionen affirmieren die Grundeinsicht, daß in der mit Staatlichkeit einhergehenden Rechtsunterworfenheit eine Gebundenheit der Individualsubjekte als Bürger liegt, die gemessen an einer rechtlosen Form naturzuständlicher Selbstverwirklichung ein Moment der Einschränkung subjektiver Freiheit enthält. Transzendentalidealistische Rechtsbegründung 173

Hobbes, Leviathan, Kap. II, Abs.17; Kap. XVII, Abs. 13. Hobbes, DC II, 4, zur Bedeutung des Rechtsverzichts. 175 Kersting Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 85, spricht treffend und sehr suggestiv vom Leviathan als „ius in omnia-Monopolisten“. 176 Kersting (Fn. 175), S. 87 ff.; Siep, Vertragstheorie – Ermächtigung und Kritik von Herrschaft? In: Bermbach/Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit: Leviathan – Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, 1982, S. 129, 147; Brandt, Rechtsverzicht und Herrschaft in Hobbes’ Staatsverträgen, Philosophisches Jahrbuch 1980, Jg. 87, S. 41, 56. 177 Diese Grundlegungsleistung Hobbes’ wird nicht durch die ansonsten zu Recht kritisierten konstruktiven Defizite seiner Theorie in Frage gestellt. Berechtigt gegen den im naturzuständlichen Subjektsbegriff nicht angelegten Perspektivenwechsel Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 118 ff.; Kersting (Fn. 175), S. 73 ff. 174

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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beruht wesentlich auf der Pointe, rechtliche Gebundenheit als Freiheitsverwirklichung anstatt als Freiheitsnegation auszuweisen178; Dieses Konstruktionsverständnis ist abhängig von einer Aufspaltung des Freiheitsbegriffs in empirische Willkürfreiheit und die autonomiebezogene Freiheit „unter dem Sittengesetz“179. Impliziert ist hierin jedoch, daß die Vorstellung einer willentlichen Eingehung rechtlicher Gebundenheit in einer konsentierten Staatlichkeit zunächst einen Freiheitsverlust bedeutet, der sich im Verlust der individuellen Innehabung von Selbstverfügungsmacht manifestiert, der aber durch die gleichzeitige Wiedergewinnung eines kollektiv-institutionell vermittelten Inklusionsgehalts an den staatlichen Entscheidungsfindungsprozessen kompensiert werden soll. Trotz des kantischen Diktums, die Staatskonstituenten seien im Staat so frei wie zuvor, erweist sich diese Freiheitskontinuität als eine begriffliche Kontinuität in Ansehung einer zugleich stattfindenden modalen Diskontinuität von Freiheit: Das Kontinuitätselement besiert auf einem Tauschelement, das von dem Argumentationsmuster der Äquivalenz zwischen naturzuständlicher Selbstunmittelbarkeit und institutionalisiert-kollektiver Inklusion gekennzeichnet ist. Diese im Verfassungskonsens postulierte Äquivalenz zwischen selbstunmittelbarer Freiheit außerhalb des bürgerlichen Zustands und der Partizipation der Staatsbürger als Artikulationsform institutionell entwickelter Freiheit besteht nicht von selbst fort; sie muß fortwährend institutionell im staatlichen Gefüge lebendig gehalten und aktualisiert werden. Die repräsentationsprinzipielle Antwort auf diesen Aktualisierungsbedarf180 besteht im Verweis auf die Wahlakte und die mit ihnen konstruktiv verbundenen, oben dargestellten Vergegenwärtigungs- und Verantwortungsimplikationen zwischen Repräsentationsinstanz und Repräsentierten. Wahlen aktualisieren damit den vorausgesetzten Grundkonsens über die grundsätzliche Notwendigkeit des Bestehens von Repräsentativgremien und beziehen ihn vor allem auf die normsetzende Funktion. Das argumentative Verhältnis zwischen dem Postulat ursprünglicher Freiheit und dem Argumentationsziel autorisierter, ergo freiheitskonformer Normenbildung ist zweistufig: Partizipation (durch Wahlakt zum Repräsentativgremium) 178 Kant, MdS; RL, § D. Das Recht ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden, VI, 231: „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht“. 179 Definition bei Kant, KpV, § 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, V, 31: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“ 180 Zu diesem Aktualisierungsbedarf – in Abgrenzung zu einem Hobbesschen Verständnis „genetischer Inklusion“ – Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 102.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

vermittelt einerseits die Autorisation dieses Gremiums zur verbindlichen Artikulation des Allgemeinwohls; diese Artikulation autorisiert andererseits die Norm als beglaubigten, authentischen Ausdruck des Allgemeinwillens. Normsetzung, um deren rechtsgebietsübergreifende Systematisierung es hier primär geht, versteht sich dadurch als sachgebietsbezogene Konkretisierung des im Verfassungskonsens idealtypisch manifestierten vereinigten Willen aller auf die jeweiligen konkreten Regelsetzungszusammenhänge; sie aktualisiert Freiheitskoordination im jeweiligen Regelungsbereich und weist dadurch alle Rechtsherrschaft als mehr oder weniger vollkommene Verwirklichungsform des allgemeinen Rechtsprinzips aus181. Das Repräsentationsprinzip bezieht sich auf diese Aufgabe der Rechtsinstitutionalisierung, indem ihm die Hypothese zugrunde liegt, daß die konstruktive Anwesenheit der Normadressaten bei der Normsetzungsentscheidung die Hervorbringung von allgemeinen Regeln gewährleisten soll: Die Allgemeinheit ihrer Vergegenwärtigung verbürgt gleichzeitig die Allgemeinheit des Norminhaltes182, nicht als bloße Interessenrepräsentativität, sondern als Einbringung abstrakter individueller Eigenberechtigung. Zwischen rechtlichem Formungsakt und materialem Regelungsgehalt muß ein Verhältnis von Ursache und Wirkung bestehen; „Formungsakt und äußere Handlungsregel“183 konstituieren einen Entsprechungszusammenhang, in dem die Norm das zur Geltung bringt, was die sie generierende Einheit verkörpert. Aus dieser Legitimitätsprämisse resultiert für die Legislative das enge Verbundenheitsverhältnis von Parlament und Gesetz. Im bundesdeutschen Staatsrecht ist der Parlamentarismus die organisatorische Verwirklichungsform repräsentativer Normsetzung184; er lebt von der Prämisse, daß die prozedurale Aufgehobenheit des Willens aller Betroffenen im Normsetzungsprozeß, der durch ein repräsentatives Gremium autorisiert ist, sich der zu setzenden Norm in der Weise mitteilt, daß der hier in ihr objektivierte Interessenausgleich ein allgemeingültiger ist. Mit diesem Verständnis rückt der Begriff der Allgemeinheit als zentrale Kennzeichnungskategorie der legitimatorischen Funktion von Repräsentation in eine Schnittstellenfunktion

181

Allgemein zu der im Rahmen idealistischer Rechtsbegründung gleichwohl notwendig verbleibenden empirischen „Idealverwirklichungsdefizienz“ vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993. 182

Mit Inhalt ist hier gemeint substantieller Bestimmungsgrund, nicht etwa kontingente Besonderheit. 183 184

M. Köhler, Rechtsphilosophie, 6 III 1; 3.1.2 (demn.).

Dazu im Überblick Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 20 II, Rdnr. 61 ff.; Hans Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33 (1975), S. 69 ff.; Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR Band I, § 23, S. 953 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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zwischen repräsentierter Einheit und repräsentativ vermitteltem Normprodukt185.

c) Repräsentation als Ansatz zur Kontingenzbereinigung von Willensbildungsbedingungen

aa) Das Repräsentationsprinzip als Ansatz zur Deempirisierung des Selbstbestimmungspostulats Die Ausrichtung der Normsetzung an der repräsentativen Allgemeinheit setzt einen Willensbildungsmechanismus voraus, der die Anforderung der Absehung von besonderen Willkürgehalten und partikularen Sonderinteressen nicht bloß zufällig, sondern rechtsförmig garantiert sichert. Mit der Wahl eines Repräsentanten soll gewährleistet werden, daß dieser in seinen Handlungen den allgemeinen Willen als das vorauszusetzende, allen Konstituenten gemeinsame Selbstbestimmungsanliegen, nicht bloß ein Mehrheitsinteresse oder sonstige Teilinteressen einzelner Gruppen in der Normsetzung zur Geltung bringt. Bloß äußerliche Partizipation einer Summe besonderer Interessengruppen an der Gesamtaufgabe staatlicher Zweckkanalisierung ist dem freiheitlichen Selbstverständnis abträglich, wo eine solche von Einzelinteressen geleitete Teilnahme an gesellschaftlicher Willensbildung den parlamentarischen Regelungs- und Rechtssetzungsanspruch zu ersetzen trachtet186; die Vernunftwidrigkeit so verstandener Willensbildung als einem bloßen machtmäßigen Kräftemessen überwiegend verbandsmäßig organisierter Privatinteressen wird in den Formen korporatistisch durch Lobbyarbeit beeinflußter parlamentarischer Systeme heute sinnfällig. Die Kategorie des Gemeinwohls folgt aus keiner bloßen Addition von Partikularinteressen187. Die Notwendigkeit, den legislativen Willensbildungsprozeß in Absehung von Einzel- und Gruppeninteressen zu strukturieren, ist nicht zu verstehen im Sinne einer Ausblendbarkeit von Partikularinteressen als psychologischen Irrelevanzen, deren auszuschließende Einwirkung auf den Prozeß der Normsetzung 185 So auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 16 ff. 186 Vgl. dazu Kirchhof, Demokratie ohne parlamentarische Gesetzgebung?, NJW 2001, S. 1332-1334. 187 So zutreffend Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, 1991, S. 65 ff.; Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, 1996, Rdnr. 18; Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL 1990, S. 70 f.; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 200.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

einfach dekretiert werden könnte. Die dem repräsentativen Willensbildungsmodell zugrunde liegende Vorstellung, den Allgemeinheits- und damit Freiheitsbezug als Norminhalt institutionell sichern zu können, lebt von der Annahme, daß die Interessenlage der Repräsentierten als einer durch das gemeinsame Organisationsbedürfnis verbundenen Einheit – dies kann in kritischer Unterscheidung zu einer sich verselbständigenden Verfolgung von Eigen- oder Gruppeninteressen durch die Repräsentanten nur das Allgemeininteresse188 sein – durch die Verfaßtheit des legislativen Entscheidungsfindungsprozesses bedingt sein kann. Der Rückbezug des Repräsentationsprinzips auf die Kategorie der Selbstbestimmung – die freiheitsbegriffliche Pointe des Rechtsbegriffs – folgt deshalb aus seinem Vermögen, die Auswirkungen kontingenter partikularer Interessenkonstellationen auf die Willensbildungsbedingungen zu neutralisieren. Das Repräsentationsprinzip kann als eine prozeduralistische Antwort angesehen werden, wie der Gefahr zu begegnen ist, daß der Willensbildungsprozeß des normsetzenden Gemeinwesens am Partikularwillen Einzelner ausgerichtet wird und damit Zweck und Legitimitätsgrundlage verfehlt. Das Legitimitätsprädikat des Rechts ist nicht auf eine unmittelbare, empiristisch-aktuelle Willensartikulation der rechtsunterworfenen Subjekte in jedem Legislativakt hin ausgerichtet, sondern der Willensbezug, verstanden als Gewährleistung selbstbestimmter Rechtsetzung, ist Gegenstand treuhänderischer Ausübung durch den Repräsentanten. Entscheidend hierfür ist die konstruktive Rückführbarkeit rechtlicher Handlungsformen periodische Inklusionsoptionen der Betroffenen als Gemeinschaft, nicht aber die tatsächliche Verweigerung oder Zustimmung des empirischen Subjekts zum jeweiligen Organhandeln. Mit anderen Worten: Der Autonomiebezug des Rechts impliziert keine Identifikation mit einem radikal-direktdemokratischen Inklusionsmechanismus, sondern disqualifiziert im Gegenteil einen solchen als eine empiristische Fehlbestimmung des Begriffs der volonté genéralé. In Abgrenzung hiervon eröffnet die kantische Fortentwicklung von faktisch-empirischem zu selbstbestimmtnormativem Freiheitsbegriff begrifflich den Weg für eine Legitimitätsbetrachtung, die dem Repräsentationsprinzip konstitutive Bedeutung für die Konstruktion zuerkennt. Mit den Worten Kerstings: Die „transzendental-idealistische Ich-Verdoppelung“ im kantischen Subjektsbegriff macht den empirischen Konsens als Grundlage einer radikal-demokratischen Direktherrschaft des Volkes überflüssig. Insofern läßt sich sagen, daß gerade die Innovation Rousseaus in der Auffassung menschlicher Freiheit, die die Grundlage für die kantische Rechtslehre bildet, argumentativ funktionalisierbar ist zu einer rechtlichen

188 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, zur Bedeutung des „allgemeinen Willens“ für den Staat; kritisch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 569 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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Abwendung von den von Rousseau selbst favorisierten identitären Demokratievorstellungen. Wenn tatsächlicher Konsens aller Rechtsunterworfenen und rechtliche Normgebote stets empirisch zusammenfielen, wäre die Zwangsdimension des Rechts konstruktiv überflüssig. Die Einsichtigkeit als solche manifestierte sich im realen Normsetzungskonsens aller im Gemeinwesen Verbundener und bedingte mit gewisser konstruktiver Notwendigkeit zugleich bereits ihre Befolgung. Eine solche Konzeption fiele indes hinter den vernunftrechtlichen Gehalt einer Kategoriendifferenzierung von Legalität und Moralität zurück und drängte den Staat in eine latent totalitäre Universalrolle, in der ihm auch eine pädagogische, willensveredelnde Kompetenz zufiele, um den Prozeß der voluntativen Verwandlung von selbstbezogenem Eigeninteresse zum gemeinschaftsbezogenen Gemeinwillen konstruktiv zu ermöglichen. Darüber hinaus gäbe es keinen systematischen Ort für Grundrechte als staatsbezogene Abwehrrechte. Schließlich bliebe die Frage nach der praktischen Institutionalisierbarkeit offen. Die Radikalität vermeintlich größter Willensnähe schlüge durch die der bestimmenden Mehrheit zugesprochene Unfehlbarkeit in eine totalitäre Ausprägung demokratischer Gewalt um189. Autonomiekonformität von Recht bezeichnet demgegenüber, daß das Recht als praktischer Vernunft gemäß und damit einwilligungsfähig auch gegenüber dem das Recht Negierenden ausgewiesen werden kann190. Die hierfür vom Staat als Institutionalisierungsform, die dies zu gewährleisten hat, bereitgehaltenen Plausibilisierungsmechanismen sind im wesentlichen auf zwei hauptsächliche Formen zurückzuführen, die beide eine Dimension tatsächlichen Willensbezugs und ein Element der Abstraktion vom realen Konsens implizieren: Die Konstituierung des Staates als Monopolinstanz rechtlicher Zwangsgewalt muß erstens aus einer autonomiekonformen Hervorbringungsform heraus konstruktiv verständlich sein191 und hierdurch inhaltlich als freiheitskonform ausgewie189 Kritisch gegenüber totalitären Tendenzen der Theorie Rousseaus auch Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 43; allgemein zum Problem einer „Perversion der Demokratie in den Despotismus Aller“ auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 28 ff.; zurückhaltender die Charakterisierung von Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 174 ff. 190 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 26, 32. 191 Sowohl bei Hobbes, Leviathan, Kap. 18, S. 139, als auch Kant, Gemeinspruch, II. Vom Verhältniß der Theorie zur Praxis im Staatsrecht. VIII, 296 f. als „contractus originarius“ bezeichnet (vgl. auch dens., MdS, RL, § 47, VI, 315: „ursprüngliche[r] Contract“). Die prozedurale Bedeutung des konsensförmigen Konstitutionsprinzips ändert nichts an der objektiv-apriorischen Notwendigkeit der den bürgerlichen Zustand hervorbringenden Verfassung nach praktischer Vernunft, vgl. Kant, MdS, RL, § 15, VI, 264: „Die bürgerliche Verfassung, obzwar ihre Wirklichkeit subjectiv zufällig ist, ist gleich-

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

sen werden. Zweitens – rechtspraktisch entscheidender – muß es mit Inklusionsmechanismen hervorgebracht werden, die die Freiheitsbedingungen auch artikulierbar machen. Beide Elemente folgen einer prozeduralen192 Argumentationslogik, die nicht aus einer inhaltlichen Bestimmung von Rechtsgehalten deren Freiheitskonformität folgert, sondern umgekehrt die Willensbeteiligung zum Gewährträger der inhaltlichen Ausrichtung des gesetzten Rechts an den allgemein gültigen Freiheitsbedingungen macht193. Dies ist zunächst die konstruktive Hypothese, die in der Repräsentativität der Legislative konnotiert ist. Gemessen hieran erscheint die von den verschiedenen Ex-post- bzw. OutputLegitimationstheorien postulierte kategoriale Eigenständigkeit der Resultatbetrachtung artifiziell, weil sie für die Institutionalisierbarkeit und Meßbarkeit einer solchen staatlichen Leistungsorientierung kein treffenderes Modell anzubieten hat als die Generierung freiheitlicher Willensbildungsbedingungen. Zu den Schwierigkeiten, die dieses Prinzip in der Rechtswirklichkeit aufwirft, ist unten in der Auseinandersetzung mit neuerer Kritik des Schrifttums am Parlamentarismus und an der durch ihn bedingten Entgegensetzung von Gesetz und Verordnung Stellung zu nehmen194. bb) Der Zusammenhang zwischen Wechselseitigkeit und repräsentationsbedingter Selbstdistanz Die Verwirklichung des Gemeinwohls durch Repräsentation ist durch ein äußerliches Verständnis nicht zu verwirklichen, das die Repräsentationsfunktiwohl objectiv, d.i. als Pflicht, nothwendig“. Die entscheidende systematische Bedeutung einer konsensförmig vorstellbaren Staatskonstituierung besteht angesichts der objektiven Notwendigkeit des contractus originarius aber in seiner Gelenkfunktion zur Prämisse ursprünglicher Willensautonomie, angesichts derer ein bloß objektivistisches Aufzeigen von Notwendigkeiten ohne subjektiven Nachvollzug ein oktroyierendes Moment bekäme. Dies verkennt Anne Peters (Fn. 188), S. 534, die die bloße Akzeptabilität von Verfassungszwecken für legitimatorisch ausreichend und angesichts dessen den Vertragsgedanken für überflüssig hält. 192 Die Einordnung der kantischen Rechtstheorie als prozedural findet sich insbesondere bei Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 264; vgl. auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 32: kantischer „Prozeduralismus, der praktische Wahrheitsfragen als Verfahrensfragen betrachtet und löst“; kritisch gegenüber dem prozeduralen Vertragsverständnis Kerstings Anne Peters (Fn. 188), S. 533 f. 193 Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 GG sind positivrechtlicher Ausdruck der verfassungsgestaltenden Bemühung, über die prozedurale Ausgestaltung nicht allein eine gleichgewichtige Interessenpartizipation, sondern ihre Verbindung zu einer gemeinsam-allgemeinen Dimension zu gewährleisten. Zur Bedeutung des Begriffs der Einheitsrepräsentation als Kennzeichen parlamentarischer im Unterschied zu kollegialer Repräsentation vgl. unten, Kap. 4. 194 s. u., Kap. 2, III. 4.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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on in die Nähe der Stellvertretung rückt195 und den bloß konstruktiven Ersatz authentischer eigener Willensäußerung des einzelnen durch eine ihn vertretene Instanz für eine genügende Manifestation des Repräsentationsprinzips erachtet. Repräsentation ist nicht „nackte Willensdelegation“196. Der vom Repräsentationsprinzip geforderte Balanceakt muß die Mitte treffen zwischen identitärdemokratischem Abgleiten in die bloße Addition von Partikularwillen einerseits und einer totalen Entäußerung von Selbstbestimmungsmacht an einen omnipotenten, absolutistischen Repräsentanten andererseits. Das Anliegen einer material gehaltvollen Normautorisation erfordert einen Repräsentationsmechanismus, der, wie Böckenförde197 treffend formuliert, durch einen fortwährenden „Verantwortlichkeitszusammenhang“ zwischen Repräsentanten und Repräsentierten geprägt ist. M. Köhler198 grenzt zur Herausarbeitung dieser Notwendigkeit die substantiell-materiale Repräsentation von der insoweit ungenügenden Fremdrepräsentation ab, die sich mit der Konstruktion eines genetischen Autorisationsaktes begnügt, jedoch die Bezogenheit des Inhaltes der zu erlassenden Norm auf die gleichmäßig allgemeine Interessenlage der Normadressaten aber weitgehend als gleichgültig erachtet. Dieses von Hobbes repräsentierte Verständnis – Di Fabio kennzeichnet es als „genetische“ Inklusion im Gegensatz zur verstetigtpermanenten Inklusion199 – bleibt dem Rechtsprinzip und seinem materiallegitimatorischen Anliegen äußerlich. Repräsentation in einem gehaltvollen Sinne ist davon abhängig, daß die jeweilige Individualberechtigung in der Repräsentantenentscheidung durch eine zumindest potentielle Wechselseitigkeit (ich bin im Fall eines anderen Wahlausganges in der Lage, den jetzigen Repräsentanten ebenso zu repräsentieren wie er mich) aufgehoben und mit der jeweiligen Repräsentation des anderen verknüpft ist. Erst durch das Moment der Wechselseitigkeit integrieren sich die einzelnen Bausteine jeweiliger Fremdrepräsentation zu einer repräsentativ-reziproken Verwirklichungsform vermittelter Selbstbestimmung. Erst durch dieses Symmetrieverhältnis gewinnt repräsentative Rechtsherrschaft den Charakter von Selbstherrschaft. Die Wech195 Zur Abgrenzung treffend Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 28 ff.; Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 960. 196 Böckenförde, HdBStR, Bd. 2, § 30, Rdnr. 18; kritisch gegenüber einer so gearteten Unterbestimmung der Substanz von Demokratie auch BVerfGE 89, 155, 175 – Maastricht; kritisch gegenüber dem – fälschlich mit Repräsentation identifizierten – Legitimationsverständnis der „Ableitungskette“ auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 645 ff. 197 Böckenförde, HdBStR Band 2, § 30, Rdnr. 24. 198 M. Köhler, Rechtsphilosophie (demn.). 199 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 33.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

selseitigkeitsimplikation repräsentativer Legislativorganisation ist der entscheidende Angelpunkt, um die für die volonté générale erforderliche Selbstdistanzierung konstruktiv zu gewährleisten; schon die durch das gemeinsame Organisationsanliegen vorgeprägte Perspektive einer wechselseitigen Anerkennung freiheitlicher Berechtigung bedingt die Einnahme einer verallgemeinerungsfähigen Perspektive und die Absehung von solchen Gegenständen, denen keine Verallgemeinerungsdimension inhärent ist. Selbstdistanzierung in diesem Sinne bedeutet, sich selbst stellvertretend für die Gesamtheit der eigenen empirischhypothetischen und deshalb ausgeblendeten Interessen in der Qualität als allgemeines Subjekt in den Willensbildungszusammenhang einzubringen200. Die gemeinsame Perspektive auf das Normsetzungsbedürfnis als je abstrakte Rechtssubjekte kennzeichnet den Allgemeinheitsanspruch. Jede Form der Gesetzgebung ist in diesem Sinne repräsentativ, daß sie auf die Institutionalisierung einer allgemeinheitsbezogenen Verfahrensform hin angelegt und angewiesen ist; hierin liegt ein Hauptkennzeichen vernunftrechtlichen Normsetzungsverständnisses überhaupt, und in diesem Sinne sind auch direktdemokratische Organisationsformen auf Repräsentationsimplikationen angewiesen201.

3. Der Begriff des Gesetzes als handlungsformspezifisches Resultat repräsentativer Verfaßtheit der Legislative: Repräsentation als Funktionsprinzip der Gesetzesgenese Repräsentation als Modell der Willensbildung hat danach einen finalen Charakter: Sie ist angelegt auf das Ziel der Rechtsinstitutionalisierung hin und dient dazu, Vergegenwärtigung von und Autorisation durch das Volk im Normsetzungsprozeß zu gewährleisten. Die intendierte Verknüpfung von Repräsentationsbegriff (als Institutionskennzeichen) und Handlungsformresultat, die Verbindung von normhervorbringender Institution und institutionsresultierender Norm, findet ihren primären Anwendungsgegenstand in der Handlungsform des Gesetzes als der typischen Artikulationsform für verfaßtrepräsentativen Legislativwillen im Staat202. Damit ist die Verklammerung von Gesetzesherrschaft und Parlamentarismus näher zu betrachten. 200 M. Köhler (Fn. 198); Kant, MdS, RL, Vorarbeiten (Nachlaß), XXIII, 351: „Der allgemeine Wille des Volks ist nicht der Wille aller über einen gegebenen Fall sondern derjenige der diese verschiedenen Willen blos verknüpft d.i. der gemeinschaftliche Wille der für alle beschließt also die bloße Idee der bürgerlichen Einheit“. 201 Daß diese Notwendigkeit auch in Rousseaus Konzept konstruktiv veranschlagt ist, dokumentiert die Kategoriendifferenzierung von volonté de tous und volonté générale. 202 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 199: „Dogmatik des Gesetzes […] ist der Angelpunkt des gesamten Systems der Handlungsformen“.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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Die Darlegung des normsystematischen Gehaltes, der sich für das Gesetz aus seiner Hervorbringung durch das repräsentative Gremium Parlament ergibt, ist aus zwei Gründen notwendig. Einerseits soll das Gesetz als solches durch die Darlegung seines Bezugs auf das Repräsentationsprinzip als erster Bestandteil eines legitimitätsorientierten Handlungsformgesamtsystems charakterisiert werden. Andererseits geht es um Ansätze einer Synthese der staatlichen und suprastaatlichen Teilrechtsordnungen zu einem Gesamtsystem, also um die schlüssige Einordbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Artikulationsformen zu staatsrechtlichen Formen. Dafür ist das Gesetz als Modell repräsentationsorientierter legislativer Handlungsformen zu kennzeichnen, an dem die Handlungsformen der Union gemessen, ihre spezifischen Differenzen und ihr Assimilationspotential dargestellt werden können203. Deshalb ebnet die Affirmation der Zentralstellung des Gesetzes im demokratisch-repräsentativen Staat zugleich den Weg für die vergleichende Bezugnahme der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie hierauf und damit für das eigentliche Anliegen nach Ausprägung einer einheitlichen, supranationales und staatliches Recht integrierenden Handlungsformsystematik. Zwar ist an dieser Stelle noch offen, welche der gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen in welcher Weise geeignet ist, als supranationale Entsprechungs- und Ersetzungsoptionen zum parlamentarischen Gesetz aufgefaßt zu werden. Primäres Gemeinschaftsrecht und EG-Verordnung stehen hier in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, da beide in einem gewissen Umfang204 aufgrund der Strukturbesonderheiten internationaler Organisationen gesetzessurrogierende Bedeutungsgehalte normativ transportieren. Aber auch wenn eine Typologie gemeinschaftsrechtlicher Handlungsformen zu den staatsorganisationsrechtlichen Ansätzen keine Parallelen, sondern strukturelle Verschiebungen dokumentiert (das parlamentarische Gesetz teils in Form der Verträge, teils in Form der Verordnungen jeweils lediglich partikulare Entsprechungen findet), hängt doch die Möglichkeit der Herstellung systemtranzendierender Bezüge zwischen gemeinschaftsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Legislativakten überhaupt von der Tragfähigkeit der staatsrechtsinternen Zentralstellung des Gesetzes in der Auseinandersetzung mit seiner Kritik ab. Die Dogmatik des

203 Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 189 ff., weist zu Recht darauf hin, daß die Fortentwicklung der Handlungsformen der Gemeinschaft stark an den überkommenen staatsrechtlichen Formen orientiert sein wird. Hier geht es darum, die legitimationstheoretische Rechtfertigung für diese Orientierung sichtbar zu machen. 204 Zur Zwischenstellung des Vertrages zwischen supranationaler Verfassung und Gesetzessurrogat vgl. i.E. unten, Kap. 4, II., III.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Gesetzes ist der Angelpunkt des gesamten Systems der Handlungsformen205. Die Entsprechung von Verfahren und Resultat ist in erster Linie anhand des Begriffs der Gesetzesallgemeinheit zu dokumentieren, da dieses Prädikat die korrelative Aufnahme des im Repräsentationsprozeß charakteristischen Gemeinwohlbezugs in sich schließt.

a) Gesetzesallgemeinheit und Freiheitsverwirklichung Einen staatsorganisationsrechtlichen Ausgangspunkt für ein positivrechtliches Begriffsverständnis des Gesetzes, von dem eine metapositiv erweiternde Begriffskritik sodann ihren Ausgangspunkt nehmen könnte, liefert das Grundgesetz nicht206. Gleichwohl rezipiert das im Grundgesetz manifestierte Verfassungs- und Rechtsquellenverständnis207 zumindest einen impliziten Begriff der Gesetzgebungslehre, der hierin seinen spezifischen Ausdruck findet208. Die Tradition der deutschen Staatsrechtslehre, die auf die Verfassunggebung 1949 nicht ohne Einfluß geblieben ist, läßt eine deutliche Orientierung des Gesetzesbegriffs auf das Prädikat der Allgemeinheit hin erkennen, mit dem – wie sich zeigen wird – einem spezifischen Entsprechungszusammenhang von repräsentativ strukturiertem staatlichem Institutionengefüge und resultierender normativer Form eine Referenz erwiesen wird, der freiheitsgesetzliche Orientierung auf den letztlich paradigmatischen Vernunftrechtsbegriff Kants erkennen läßt: So formuliert etwa Bergk: Das Gesetz muß „als solches allgemein … seyn“; es muß „Alle verbinden und Allen zum Bestimmungsgrunde ihres Handelns dienen können“.209 Es ist daher nicht übertrieben festzustellen, daß das Allgemeinheitsprädikat den gesamten handlungsform- und legitimitätssystematischen Konnotationsgehalt des Gesetzesbegriffs transportiert. Diese Feststellung gemahnt aber zugleich an eine grundsätzliche Unterschiedlichkeit der Begriffsverwendung in der deutschen Staatsrechtslehre, die die Validität des Prädikats der Gesetzesallgemeinheit als Ausdruck seiner legitimitätstheoretischen Digni-

205 So von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 199; Grams (Fn. 203), S. 189 ff., 194 ff. 206 So auch Grams (Fn. 203), S. 56. 207 Eine zwar mittelbare, aber insoweit doch deutliche Bezogenheit auf eine normsystematische Rechtsquellendifferenzierung läßt sich zum einen an den detaillierten prozeduralen Vorgaben für die parlamentarische Normproduktion, vgl. Art. 60 ff. GG, zum anderen an der Ermächtigungsanforderung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG für den Gegenbegriff der Exekutivverordnung erkennen. 208 Vgl. auch die umfassende Analyse von Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1972, insb. S. 109 ff. zu den ideengeschichtlichen Referenzen. 209 Bergk, Die Theorie der Gesetzgebung, 1802/1969, S. 185.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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tät zu marginalisieren droht: Der Allgemeinheitsbezug wird einesteils in Abhängigkeit vom Inhalt der getroffenen Regel bestimmt, anderenteils orientiert an der Hervorbringungsform durch das Parlament als Gesetzgebungsorgan. Hieraus resultiert der maßgeblich auf Laband210 zurückgehende dualistische Gesetzesbegriff. Seine begrifflichen Implikationen bedürfen an dieser Stelle der Klarstellung, um zu verhindern, ein bestimmtes Allgemeinheitskonzept der Beliebigkeit einer Betrachtung zu überantworten, die sich mit der Feststellung begnügt, der „Gesetzesbegriff“ werde „bald in formellem, bald in materiellem Sinne verwandt“211. Die Unterscheidung von formellem und materiellem Gesetz durchzieht die gesamte positivrechtliche Dogmatik212, wenn auch nicht ohne Ansätze zu einer Synthese213. Kategorial bringt sie folgende Differenzierung zum Ausdruck: – formelles Gesetz sei das vom Parlament erlassene Gesetz – materielles Gesetz hingegen sei die inhaltlich allgemeine Rechtsregel. Bezogen auf diese Differenzierung dient das formelle Gesetz als engerer Begriff, der lediglich das Parlamentsgesetz (Gesetz im engeren Sinne) umfaßt, während das Gesetz im materiellen Sinne als der Oberbegriff für jede allgemeine Norm dient. aa) Terminologische Differenzierung: Formelle und materielle Allgemeinheit vs. formeller und materieller Gesetzesbegriff Allerdings erfährt der diesen Begriffen immanente Bezug zu den legitimationstheoretischen Grundprinzipien des Rechts nicht durchgehend genügend Beachtung: Die Frage nach einer gehaltvollen terminologischen Annäherung, die die legitimitätstheoretische Distinktion des Parlamentsgesetzes gegenüber sonstigen Normen zur Geltung bringt, wird von der vorgenannten Unterscheidung nur begrenzt abgebildet. Das vermeintlich formelle Element parlamentarischer Normgenese impliziert in Wahrheit ein sehr viel gehaltvolleres materiales Moment. Das legitimitätstheoretische Prius des Parlamentsgesetzes erschöpft sich nicht darin, daß es durch das einzig unmittelbar demokratisch legitimierte 210

Paul Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, 1876. So BVerfGE 1, 184, 189; 24, 184, 195 f., s. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 561. 212 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 37 I 3, S. 561, m.w.N. 213 Namentlich durch den von Laband geprägten dualen Gesetzesbegriff, vgl. dazu Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 227 ff., unter Einordnung der rechtshistorischen Bezüge zu Laband. 211

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Verfassungsorgan zustande gebracht wird, sondern beruht auf der Implikation, daß es durch diese Unmittelbarkeit genuiner Ausdruck von Selbstbestimmung des regelsetzenden Souveräns ist, mit anderen Worten: Daß die Form der Willensbildung für den Inhalt bürgt, eine inhaltlich substantiell allgemeine Regel zu formen. Dies verlangt eine Relativierung dieser Antinomie zugunsten einer Analyse der mit dem Begriff der Gesetzesallgemeinheit verbundenen substantiellen Unterschiedenheit von anderen Normen; entscheidend am Parlamentsgesetz, so die hiernach maßgebliche These, ist nicht die formelle Gesetzesqualität, sondern das in der Parlamentsbezogenheit enthaltene Potential zur authentischen Artikulation von Allgemeinheit214.

(1) Ansatzpunkte für die materiale Gesetzesallgemeinheit Für diesen konstruktiven Zusammenhang lassen sich verschiedene Anhaltspunkte ausmachen. Die Vertreter eines materiellen Gesetzesbegriffs verbinden mit dem Prädikat der Allgemeinheit einen normativ überschießenden Gehalt, der durch die Kennzeichnung als generell-abstrakte Norm nicht erschöpft wird. So kennzeichnet Böckenförde das materiale Allgemeinheitsverständnis als „Bedeutsames, grundlegend Allgemeines, Substantielles“215. Ähnlich ist nach der Formulierung Imbodens die materielle Bedeutung des Begriffs der Allgemeinheit, den er als nicht rational-begrifflich abfaßbar, sondern als wertungsbedürftigen Begriff sieht216, die „wertmäßig allgemeingültige und deshalb dauerhafte Regel“217. Scheuner kennzeichnet diesen Umstand durch die „Ausrichtung auf das Bedeutsame und Grundlegende“218. Der normative „Mehrwert“ solcher Allgemeinheitskennzeichnung ist nur erklärbar und faßbar durch die Überwindung, zumindest aber Modifikation des dualistischen Gesetzesbegriffs. In der Kennzeichnung des Gesetzes als allgemein dokumentiert sich, daß es Resultat eines Normsetzungsprozesses ist, der die Summe der künftigen Normadressaten als Autoren der Norm vereinigt hat,

214 Unzulänglich erscheint es deshalb, wenn Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, § 37 I 3, S. 562, die Begriffe der Allgemeinheit und Abstraktheit weitgehend unterschiedslos abhandelt; differenziert demgegenüber trotz gleicher Grundbezugnahme auf Rousseau Böckenförde (Fn. 213), S. 40; vgl. auch Zeidler, Maßnahmegesetz und „klassisches“ Gesetz, 1961, S. 77 ff. 215 Böckenförde (Fn. 213), S. 25. 216 Imboden (Fn. 170), S. 33. 217 Imboden (Fn. 170), S. 39. 218 Scheuner, Ausländische Erfahrungen zum Problem der Übertragung der rechtsetzenden Gewalt, 1952, S. 138.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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und diese Institutionalisierungsleistung sich normativ manifestiert. Das Gesetz ist allgemein als formeller Ausdrcuk des repräsentierten Allgemeinwillens. Auf der Grundlage dieser wechselseitigen Verwiesenheit und Bedingtheit von „Formungsakt und äußerer Handlungsregel“219 gewinnt die Vagheit der bloßen Wertungsfrage eine faßbarere Gestalt. Verstanden als Artikulationsform grundlegender Allgemeinheit bezieht sich die Gesetzesform auf die Notwendigkeit, die Bedingungen wechselseitiger Freiheitskoordination, also das Grundanliegen allen Rechts220, in nach Regelungsmaterien unterschiedenen Konkretisierungen differenziert zur Geltung zu bringen. Dem entspricht es, daß der Begriff der Allgemeinheit auch in der ideengeschichtlichen Entfaltung des Wechselseitigkeitsbezugs von rechtsstaatlichen Prinzipien und Gesetzesherrschaft zum Beginn des liberalen Rechtsstaates nicht als leere Abstraktion, als Absehung von allem Besonderen, sondern als die allem Individuellen gemeinsame Substanz verstanden worden ist, die bei Ausblendung der kontingenten Begleitumstände individueller Freiheit übrig bleibt221. Auf den Punkt bringt dies Christian Starck, wenn er formuliert: „Die Freiheit gehört als Aspekt der Allgemeinheit zum Gesetzesbegriff.“222 Die Kategorie der Gesetzesallgemeinheit transportiert die Universalität und Reziprozität des Rechtsprinzips und weist sie aus als fortbestehend in den gesetzesförmigen Konkretisierungen in deren konstruktiver Rückführbarkeit auf den freien Willen. Prämisse herfür ist, daß der Hervorbringungsmodus (Artikulation des Allgemeinwillens durch ein Repräsentativgremium) mit Notwendigkeit in eine inhaltliche Allgemeinheit mündet – das Prädikat inhaltlicher Gesetzesallgemeinheit folgt aus seinen institutionellen Hervorbringungsbedingungen. In dieser gesetzescharakterisierenden Konvergenz verkörpert Gesetzes-

219

M. Köhler, Rechtsphilosophie, 6 III 1; 3.1.2 (demn.). Vgl. wiederum den Rechtsbegriff Kants, MdS, RL, § B, VI, 230: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 29: „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“. 221 Konstitutiv für den Begriff der Allgemeinheit Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 24: [Der Wille] ist allgemein, weil in ihm alle Beschränkung und besondere Einzelnheit aufgehoben ist, als welche allein in der Verschiedenheit des Begriffes und seines Gegenstandes oder Inhalts, oder nach anderer Form, in der Verschiedenheit seines subjektiven Fürsichseins – und seines Ansichseins, seiner ausschließenden und beschießenden Einzelnheit – und seiner Allgemeinheit selbst, liegt“. Die institutionalisierten Willensbildungsbedingungen des freiheitlich-republikanisch strukturierten Gemeinwesens zielen letztlich darauf ab, gesetzesförmig eine Entsprechung zum Autonomiegehalt des individuellen Willens zu verwirklichen. 222 Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 214. 220

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

herrschaft Repräsentativität. Der Autorisierungszusammenhang implementiert dem Gesetz eine verallgemeinernde, interessenneutrale Perspektive. Das so erlassene Gesetz ist an den universellen Bedingungen freiheitlichen Rechts orientiert, weil die Einzelinteressen im Repräsentationsprozeß verblassen223: Konstruktives Ziel gesetzesförmiger Normherrschaft ist nicht die Durchsetzung einer Gruppe gegen eine andere, ein Wettstreit gleichberechtigter Interessen um den Geltungsvorzug, sondern ihre Gesamtkoordination aus der Perspektive aller im Gemeinwesen vereinigter Rechtssubjekte. Repräsentation als Hervorbringungsbedingung allgemeiner Gesetze hat hierin insofern eine funktionale Ähnlichkeit mit dem Rawlsschen „veil of ignorance“224. Positiv gewendet formuliert materielle Gesetzesallgemeinheit damit das Vermögen zur rechtsatzförmigen Formulierung der Bedingungen von Freiheit und Gleichheit225, also der gemeinsamen Substanz menschlicher Gesellschaftsbildung. Diese Freiheitsaffirmation ist der Bezugspunkt für Repräsentativität, der die mit Recht begrifflich verbundenen Freiheitseinschränkungen, insbesondere seine zwangsweise Durchsetzbarkeit226, nicht auf die vom Vorverständnis diktierten freiheitsnegierenden Konnotation des Rechtszwangs reduziert, sondern in der Dialektik auflöst, die schon die Einlösung gesetzlos-ungerichteter Freiheit gegen die rechtlich-selbstbestimmte Freiheit in der individualismuszentrierten Staatsbegründung der gesamten Neuzeit kennzeichnen. Das allgemeine Gesetz ist die Handlungsform, die den freiheitlichen Gehalt neuzeitlicher Rechtsbegründung in Einzelrechtssätzen verbürgt. Die dem dualistischen Gesetzesbegriff zugrunde liegende Vorstellung, inhaltliche Allgemeinheit und prozedurale Allgemeinheit einer Norm als unabhängig voneinander denken zu können227, isoliert Teilelemente dieses Gesetzesbegriffs.

223 Zur Angelegtheit dieser Notwendigkeit bereits im Rechtsbegriff selbst grundlegend wiederum Kant, MdS, RL, § B, VI, 230: „[…] in diesem wechselseitigen Verhältniß der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung“. 224 Rawls, Theory Of Justice, 1999, S. 134. 225 Starck (Fn. 222), S. 214; Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 44. 226 Vgl. Kant, MdS, RL, § D, VI, 231: „Das Recht ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden“. 227 Insoweit verkürzend Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 58, der nur feststellt: „Die Aufspaltung des Gesetzesbegriffs ist überzeugend, weil es einen bedeutenden Unterschied macht, ob ein Gesetz formeller und materieller oder nur letzterer Natur ist“.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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(2) Kritik am formellen Allgemeinheitsbegriff Wird demgegenüber, wie von einem Teil der deutschen Staatsrechtslehre vertreten, inhaltliche Allgemeinheit mit ihrer Geltung gegenüber einem unbestimmten Adressatenkreis gleichgesetzt, reduziert sich der vermeintlich materiale Anspruch der inhaltlichen Bestimmung in der Feststellung generellabstrakter Geltung von Rechtsnormen. Damit besteht die Gefahr, die Begriffe in ihr Gegenteil zu verkehren. Das formell-reduzierte Begriffsverständnis führt zu der paradoxen Begriffsprägung, daß als Gesetz im materiellen Sinne jede generell-abstrakte (also formell-allgemeine) Norm angesehen wird, als Gesetz im formellen Sinne hingegen nur die durch das Parlament erlassene Norm (also die materiell-allgemeine, auf einen repräsentierten Allgemeinwillen rückführbare)228. Der materielle Gesetzesbegriff erscheint so von einem formellen Allgemeinheitsverständnis abhängig, der formelle Gesetzesbegriff rekurriert auf eine inhaltlich-materiale Allgemeinheitsanforderung. Für das hier verfolgte Ziel eines legitimitätsorientierten Europäischen Rechtsetzungssystems ist ein Gesetzesbegriff, der formelle Allgemeinheit als sein begriffliches Hauptmerkmal auffaßt, unergiebig. Die Fokussierung des Begriffs der Gesetzesallgemeinheit auf formelle Kriterien229, auf die generell-abstrakte Fassung von Gesetzesnormen, also die Bezogenheit auf einen unbestimmten Adressatenkreis oder eine unbeschränkte Anzahl von Anwendungsfällen230 entbehrt nicht nur der legitimatorischen Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gesetz und exekutivischer Rechtsetzung, sondern reduziert den Gehalt des Allgemeinheitsbegriffs insgesamt. Alle Normen generell-abstrakter Fassung sind hiernach von Allgemeinheit gekennzeichnet, ein legitimatorischer Vorzug des parlamentarisch erlassenen Gesetzes vor exekutivischen Handlungsformen verblaßt gegenüber der rechtstechnischen Gemeinsamkeit aller Normen, ohne einen bestimmten Adressaten- oder Einzelfallbezug abgefaßt zu sein231. Wenn auch zu konzedieren ist, daß die dem dualistischen Gesetzesbegriff zugrunde liegende terminologische Differenzierung begrifflich notwendig ist, so vernachlässigt die Annahme einer getrennten Existenz beider Kategorien unabhängig voneinander die vernunftrechtliche Einsicht, daß das eine von dem 228

Starck (Fn. 222), S. 157 ff., 229. Zur historischen Entwicklung dieser Gesetzesauffassung vgl. Imboden (Fn. 170), S. 39. 230 Zum Adressatenkreis als Bestimmungskriterium des Gesetzesbegriffs vgl. nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, S. 965 ff. 231 Zur Problematik von Einzelfall- und Maßnahmegesetz als Anwendungsbereichen latenter Rechtsformüberschreitung vgl. Zeidler, Maßnahmegesetz und „klassisches“ Gesetz, 1961; Hans Schneider, Über Einzelfallgesetze, Festschrift Carl Schmitt 1959, S. 159 ff.; ebenso M. Köhler, Rechtsphilosophie (demn.). 229

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

anderen abhängt. Ziel der formellen Allgemeinheit, dem Modus parlamentarischer Willensbildung, ist die Gewährleistung inhaltlich-materialer Allgemeinheit (im Sinne von Freiheitsangemessenheit) der so hervorgebrachten Norm. Hinge materiale Allgemeinheit einer Norm nur vom good will der normhervorbringenden Institution ab, so wäre der repräsentative Parlamentarismus nur eine leere prozedurale Gestalt ohne konkrete inhaltliche Bedeutung, insbesondere ohne instruktiven Gehalt für genuin europäische Repräsentationsstrukturen. Die Legitimitätsarchitektur des Staates, dessen Institutionen als Verwirklichungsbedingungen von individueller Freiheit ausgewiesen sind, bleibt für das so verstandene Gesetz bedeutungslos. Ein Normenbegriff, der sich in der bloßen Abgrenzung von Rechtssätzen zu Einzelakten erschöpft, nimmt das hinter ihnen stehende Institutionengefüge nicht auf. Generell-abstrakte Normen können Legislative und Exekutive in gleicher Weise erlassen; generell-abstrakte Normen können auch ungeachtet ihrer regelungstechnischen Allgemeinheit Ausdruck ungerecht-partikulärer Friktionen sein und insofern den hinter dem repräsentativen Verfaßtheitsanliegen stehenden Gerechtigkeitsbezug konterkarieren.

b) Gewaltenteilung und Republikanismus als Gesetzesherrschaft Gesetzesherrschaft als Freiheitsherrschaft im dargestellten Sinne realisiert sich durch die Bindung der Ausübung von Hoheitsmacht an Gesetze. Im Begriff der Gesetzesherrschaft als normativ-legitimatorischer Autonomieherrschaft verknüpfen sich daher das Gesetz und sein Repräsentationsgehalt mit dem Element der Gewaltenteilung und mit dem Begriff der Republik. In dieser Bezogenheit des Repräsentationsprinzips auf die Republik dokumentiert sich die den Systembereich der Legislative am stärksten transzendierende Dimension des Repräsentationsprinzips. aa) Gesetzesherrschaft und Gewaltenteilung Die hierin der Gewaltenteilung zugedachte Prinzipienfunktion setzt freilich ein spezifisches Begriffsverständnis voraus. Der in der Aufklärung wurzelnde232 Gewaltenteilungsbegriff hat unterschiedliche Dimensionen.

232

Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 20 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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(1) Gewaltenteilung als Machtbalance In der angelsächsischen Rechtswirklichkeit dominiert ein empiristisches Begriffsverständnis im Anschluß an Locke233 und Montesquieu234. Kennzeichnend für dieses Gewaltenteilungsverständnis sind die Elemente der Machtbeschränkung durch Befugnisverteilung, der wechselseitigen Hinderung und Ausübungskontrolle235. Die Gewaltenteilung wird realisiert durch ein charakteristisches Gleichgewicht von Unabhängigkeit in der eigenen Aufgabenwahrnehmung einerseits und befugnisbegrenzender Aufgabenkontrolle durch die anderen Gewalten andererseits. Das Element der Mäßigung staatlicher Macht durch das Ineinandergreifen der Gewalten hat zugleich eine starke freiheitsgewährleistende Seite in bezug auf das Individuum, indem der Gefahr einer Verabsolutierung von Befugnissen, einer Verselbständigung des Staates vorgebeugt wird. Auch in der kontinentaleuropäischen Rezeption des Gewaltenteilungsgedankens hat diese Komponente starke Bedeutung236; das Bundesverfassungsgericht hat diese Dimension der Gewaltenteilung wiederholt hervorgehoben237.

(2) Gewaltenteilung als Gesetzesherrschaft Für die Gesetzesbedeutung in einem schlüssig konzipierten Gesamtsystem von Normen steht aber ein anderer Gehalt stärker im Vordergrund. Dieser läßt sich vor allem dem Verständnis Kants und Hegels entnehmen. Hier ist Gewaltenteilung das staatsorganisatorische Prinzip der Aufgliederung von Herrschaftsteilbefugnissen auf Organe in einer Weise, die die Herrschaft des Gesetzes praktisch sichert und selbige zugleich in enger Rückgebundenheit an die Idee vom allgemeinen Willen versteht. „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemeinen vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zufolge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen nach dem Gesetz) in der Person des Richters.“238

233

Locke, Second Treatise Of Government. Montesquieu, De l’esprit des lois, Paris 1956. 235 So zusammenfassend auch Böckenförde (Fn. 232), S. 21; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 423. 236 Böttcher/Krawczynski, Europas Zukunft, S. 108; Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965-974. 237 BVerfGE 9, 261, 279; 34, 52, 59; 49, 89, 124 f. 238 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313. 234

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Kants Gewaltenteilungsbegriff rezipiert und enthält zwar auch die pragmatische Dimension der Kontrolle von Machtausübung: Auch ihr liegt die Erwägung zugrunde, daß staatliches Handeln, soll es die individualismusradizierten Erwartungen an Schutz, distributiver Gerechtigkeit und Verfaßtheit erfüllen können, gegenüber potentiellen Ausweitungsbestrebungen in der Ausübung staatlicher Gewalt mit verfahrensmäßigen und institutionellen Sicherungen versehen sein muß. Der Akzent des kantischen Gewaltenteilungsbegriffs erschließt sich aber – wie alle konkreten Institutionen des Rechts – durch den Rückbezug auf die individualismuszentrierten Prämissen des allgemeinen Rechtsprinzips in der Einleitung seiner Rechtslehre. Im System Kants sind die gesamten privat- und öffentlich-rechtlichen Rechtsinstitutionen eine deduktive Explikation des in § B genannten Rechtsprinzips239. Letzteres beinhaltet die kantische Kernantwort auf das Problem, personale Autonomie von Rechtssubjekten und gleichzeitige Unterwerfung unter Rechtszwang widerspruchsfrei zu denken. Auf diesen Rechtsbegriff ist die Rechtslehre in ihren institutionellen Entfaltungsschritten in allen Teilmomenten bezogen; das gilt insbesondere für das in §§ 45 ff. der Rechtslehre entfaltete und wegen der Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols in besonderem Maße begründungs- und legitimierungsbedürftige Staatsrecht. Gewaltenteilung im Kontext vernunftrechtlicher Staatsinstitutionenlehre erfordert deshalb praktisch vernünftige Kompetenzverteilung auf die unterschiedlichen Organe. Praktisch vernünftig erscheint der Prozeß staatlicher Rechtsverwirklichung nicht durch kontingente Herrschaftsverteilung, als Machtmäßigung240 nach der Form eines ausgleichsorientierten Mitwirkens aller Staatsgewalten an einem Kräfteparallelogramm, sondern durch die Bindung von Rechtshandeln an Obersätze241. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Kant Repräsentation mit Gewaltenteilung identifiziert242. Kant vergleicht die Funktion der drei Gewalten mit der Funktion von Obersatz, Untersatz und Konklusion in einem logischen Syllogismus praktischer Ver-

239

Vgl. Böckenförde (Fn. 232), S. 90.

240

Kritisch gegen pragmatische Unterbestimmung Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 272: „Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschiedlichen Gewalten enthält und um derentwillen allein die Staatsorganisation als das in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist.“ 241 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich […] gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d.i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist“ [Hervorhebung von mir]. 242 Vgl. die Nachweise bei Ingeborg Maus, Volkssouveränität und das Prinzip der Nichtintervention in der Friedensphilosophie Immanuel Kants, 1998, S. 88 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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nunft243. In dieser Syllogismusanalogie kommt der Legislative die Funktion der Obersatzformulierung zu, kommt dadurch die Gesetzesherrschaft über die nachgeordneten Vollzugsebenen zum Ausdruck. Diese Funktionenlehre ist zum Teil kritisiert worden als praxisferne, der Aufklärung verhaftete Hypostase des Rationalismus im Denken Kants244. Nimmt man die Syllogismusanalogie indes nicht wörtlich, sondern konzentriert man sich auf den hierin liegenden Aussagegehalt einer funktionellen Reihenfolge der Aufteilung staatlicher Gewaltfunktionen, so affirmiert Kant mit seinem Gewaltenteilungsbegriff den materiellen Allgemeinheitsbezug des Gesetzesbegriffs in der Forderung der Gesetzesherrschaft. Sein Gewaltenteilungsbegriff ist dann nicht in erster Linie eine epochengebundene methodische Referenz an die Rationalismusgläubigkeit der Aufklärung245, sondern veranschaulicht, daß die normative Prinzipiendefinition der Prinzipienanwendung mit Notwendigkeit vorausgehen muß, und daß die Etablierung konkreter Prinzipien vom Vollzug derselben getrennt werden muß, um nicht der Verzerrung durch private Sonderinteressen der Herrschenden anheimzufallen. Sie hierarchisiert damit die Reihenfolge der Funktionenausübung in gewaltengeteilter Staatsverfaßtheit: Gewaltenteilung ist Gesetzesherrschaft; im Primat der legislativen Bildung von Obersätzen durch Gesetz stellt sich die gesamte Ausübung von Rechtsherrschaft als eine Konkretisierungsleistung ähnlich einem logischen Vernunftschluß dar. Der Reduktion der Gewaltenteilung auf bloße Machtbalance ist der Primat der Legislative entgegengesetzt. Oder wie Böckenförde formuliert: „Vollziehende und rechtsprechende Gewalt [können] nur unter der Bedingung des Willens der gesetzgebenden handeln […], andererseits [entbehrt] aber auch diese der Möglichkeit unmittelbaren rechtlichen Zugriffs […]“246. Daß die Artikulation allgemeiner Prinzipien in Gesetzesform mit der Verbindlichkeit des Gesetzes einhergeht und so eine rechtsstaatlich induzierte Hierarchisierung der Handlungsformen bedingt, findet sich verfassungsrechtlich wieder im Gesetzesvorrang, aber auch in der nach

243

Vgl. dazu auch Imboden (Fn. 170), S. 7.

244

In diese Richtung Böckenförde (Fn. 232), S. 99.

245

Übertrieben scheint mir deshalb die Folgerung Böckenfördes, Kant begreife das Staatsleben „als logischen Prozeß […] als Grundlage einer vom kategorischen Imperativ geforderten Staatsorganisation“ (Fn. 375, S. 99). Zwar differenziert Böckenförde zwischen Gewaltenteilung und Funktionenlehre bei Kant und anerkennt bei ersterer den systematischen Stellenwert. Sein Verständnis der Funktionenlehre ist jedoch im System der kantischen Rechtslehre gegenüber einer vorzugswürdigen Auslegung, die die veranschaulichende Funktion der kantischen Analogie in den Vordergrund stellt, nicht geboten. 246

Böckenförde (Fn. 232), S. 99.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

den Gewalten differenziert-abgestuften Formulierung der Rechtsgebundenheit im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG247. bb) Republikanismus und Gesetzesherrschaft Noch enger wird der Verweisungszusammenhang von legitimitätsorientiertem Gesetzesbegriff und institutionellen Folgerungen im staatsrechtlichen Organisationsgefüge, wenn man die Verbundenheit von Repräsentativität und Republikbegriff im Rechtssystem Kants zum vorstehend skizzierten Gewaltenteilungsverständnis in Beziehung setzt. Die katgorische Notwendigkeit der Repräsentativität eines demokratischen Gemeinwesens erschließt sich bei Kant in der Verbindung von Repräsentativsystem und Republikbegriff: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein, als ein repräsentatives System des Volkes, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen.“248 Ist nach den vorstehenden Erwägungen das Gesetz das typische Handlungsformresultat repräsentativer Legislativverfaßtheit, so eröffnet die Verbindung von Republik und Repräsentation zugleich dem Gesetz einen republikanischen Gehalt, ist nämlich Gesetzesherrschaft Verwirklichung von Republikanismus, weil es normative Verkörperung eines repräsentativen – und folglich republikanischen – Systems ist. Die Bedeutung der Repräsentationskategorie für den Republikbegriff erschließt sich aus der Antinomie von Republik und Despotie. Kant definiert in seinem Republikbegriff näher die Bedeutung der Willensallgemeinheit, die bereits für die Repräsentativität als kennzeichnend herausgestellt wurde. „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staates von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.“249

247

Art. 20 Abs. 3 GG: Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden; vgl. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 12 ff. 248 Kant, MdS, RL, § 52, VI, 341. 249 Kant, EF, Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 352.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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Republikanisch im kantischen Sinne ist die Verfaßtheit, wenn in ihm nicht der besondere Wille (Synonyme: Partikularwille, Sonderwille, Einzelinteresse) herrscht, sondern der Wille der Allgemeinheit, das Gemeinwohl selbst. Demgegenüber ist das Aufschwingen eines privaten Einzelwillens zur Herrschaft mit den Mitteln des Staates das Kennzeichen des Despotiebegriffs. Daß Kant das repräsentative System für die Hauptvoraussetzung aller wahren Republik hält, folgt mit Notwendigkeit aus dem bereits dargelegten Verhältnis von Repräsentation und Allgemeinheit. Die repräsentative Verfaßtheit qualifiziert staatliches Handeln, insbesondere normsetzendes Handeln, als am allgemeinen Willen orientiert und grenzt diesen gegen die despotische Durchsetzung von Privatwillen ab. Der das Verbindlichkeitsvermögen des staatlichen Gewaltmonopols zu seiner Durchsetzung ausnutzende private Wille ist eine Usurpation einer für das Gemeinwohl aus dem Allgemeinwillen konstituierten Gefüges, ein Mißbrauch der den Naturzustand überwindenden Einrichtung Staat zum Zwecke der Durchsetzung von naturzustandsimmanenten Handlungsstrategien. Indem das Gesetz in seinen Entstehungsbedingungen am Interesse der Allgemeinheit ausgerichtet wird, ist Gesetzesherrschaft Verhinderung solcher verselbständigter und privater Willkürherrschaft. Die Verbundenheit von Republikanismus und Gewaltenteilung ist nicht auf den kantischen Bedeutungsakzent des Gewaltenteilungsprinzips beschränkt; vielmehr läßt sich den unterschiedlichen Gewaltenteilungsbegriffen ein Gemeinsames entnehmen, das ihre Bezogenheit auf die gesetzesstiftende Allgemeinheit verdeutlicht. Allen Theoretikern der Gewaltenteilung geht es um den Ausschluß von Willkürherrschaft. Aus diesem Grunde erscheint Montesquieu die Vereinigung von Gesetzgebung und vollziehender Gewalt tyrannisch250 bzw. despotisch (Kant).

4. Repräsentationsprinzip und Gesetzesbegriff im Spiegel der Kritik Das so skizzierte klassische staatsrechtliche Gesetzesverständnis in seiner materialen Explikation des gesetzesgenerierenden Repräsentationszusammenhangs läuft auf eine weitgehende konstruktive Konvergenz der legitimatorischen Elemente – einer institutionell-prozeduralen Hervorbringungsbasis (Repräsentation, Demokratie, Parlamentarismus) 250 Vgl. zu Montesquieu auch Böckenförde (Fn. 232), S. 37; allgemein zum resultierenden Verhältnis der Gewalten im Staat Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie HdBVerfR, § 12, Rdnr. 39, 40.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

– materialer Allgemeinheit als resultierendem inhaltlichem Prädikat des Gesetzesbegriffs – funktioneller Bedeutung der Gesetzesherrschaft als vernunftschlüssigfreiheitlicher Exekutivbindung (Gesetz als Hauptfunktionselement verwirklichter Gewaltenteilung und republikanischer Verfaßtheit) hinaus. Die Aufrechterhaltung dieses geschlossenen, in wesentlichen Elementen im Denken der Aufklärung ausgeprägten und im liberalen Rechtsstaat des 19. Jhdt. rezipierten Systembildes von Genese, Inhalt und Funktion der Handlungsform Gesetz ist nicht unumstritten, wiewohl herrschend in der deutschen Staatsrechtslehre251. Die behauptete materiale Einheit der Prinzipien Gesetzesallgemeinheit, Repräsentativität und Parlamentarismus, welche für die Legitimitätsarchitektur der klassischen Staatsrechtslehre prägend und in ihren legitimitätstheoretischen Referenzen gekennzeichnet worden ist, wird gerade neuerdings verstärkt als überkommene oder gar überholte Reverenz an das Denken der Aufklärung kritisiert, die sich in der Rechtwirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederfinde und auch im übrigen weder zweckmäßig noch legitimatorisch überzeugend sei. Es ist nicht zu übersehen, daß das zunehmend mit staatlicher Verfaßtheit konkurrierende Modell supranationaler Normsetzung in seiner praktischen Wirkmächtigkeit an dem verstärkten Nachdenken über exekutivisch orientierte Alternativkonzepte gewichtigen Anteil hat252. Die Kritik konzentriert sich auf unterschiedliche Aspekte, die sich unter drei Hauptpunkten systematisierend zusammenfassen lassen. Wegen der Geschlossenheit der Darstellung, der eine Integration einer ganzen Reihe von Aspekten zugrunde liegt, verdient dabei die Konzeption Armin von Bogdandys, die sich durchaus als Gegenentwurf zur herrschenden Staatsrechtslehre selbst versteht253, eine gesonderte Betrachtung.

251 Dazu etwa von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 1, m.w.N.; Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 173 f.: „Gravitationszentrum des Rechtsstaates“; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1968, S. 99 f., 171 ff.; Rausch, Bundestag und Bundesregierung, 1976, S. 75: Parlament als „das zentrale Organ demokratisch-legitimierter Gesamtleitung und Willensbildung“; H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 160: „Dominanz des Gesetzgebers“. 252 Auch von Bogdandy (Fn. 251), S. 4, hebt hervor, daß die von ihm behauptete Hegemonie gubernativer Organe nicht allein der staatsorganisatorischen Stellung der Exekutive, sondern auch der zwischenstaatlichen Rechtsetzung im Organisationsgefüge der EU geschuldet sei. 253 Vgl. insbesondere von Bogdandy (Fn. 251), S. 39: „Provokation“; ders., S. 213: „ketzerisch“.

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a) Die Zentralstellung des Gesetzes als Ausdruck idealistischer Parlamentsüberschätzung? von Bogdandys Konzept gubernativer Rechtsetzung als Gegenentwurf Die pointierteste Kritik am Zusammenhang von Gesetzesbegriff und Parlamentarismus in der neueren staatsrechtlichen Literatur formuliert von Bogdandy in seiner Habilitationsschrift „Gubernative Rechtsetzung“, in der der Gesetzeszentriertheit eine Interpretation des grundgesetzlichen Handlungsformsystems entgegenstellt, die von der These einer exekutivischen Prärogative im Rechtsetzungsprozeß geleitet ist. aa) Hauptelemente der Position von Bogandys A. von Bogdandy systematisiert zunächst die staatstheoretischen Argumente zugunsten des Primats der Gesetzesform nach drei unterschiedlichen kategorialen Referenzen: Eine rechtsstaatlich-grundrechtsbezogene Position, die er in der Tradition Kants und Rousseaus einordnet und die im Gesetz die Manifestation der Sicherung ursprünglicher Freiheit gegenüber staatlicher Herrschaft erblicke; eine partei- bzw. verfahrensorientierte, die die parteipolitische Dialektik parlamentarischer Auseinandersetzung in den Vordergrund stelle und das Gesetz als Resultat dieser Kontroverse begreife; sowie eine demokratischparlamentarische Auffassung, die nicht den innerparlamentarischen Antagonismus von Regierung und Opposition, sondern das Parlament als einheitliches Repräsentationsorgan emphatisiere und die Handlungsform des Gesetzes als Artikulation des Volkswillens und damit der Allgemeinheit verstehe254. Während von Bogdandy die erste und die letzte Position letztlich zur Beschreibung der Verfassungswirklichkeit und damit als Ausgangspunkt für eine Theorie des geltenden Rechts für unbrauchbar hält255, stellt er selbst bei seiner Untersuchung die prozeduralistische Position in den Vordergrund und versucht auf ihrer Grundlage nachzuweisen, daß exekutivische Rechtsetzungsoptionen in der Lage sind, den parlamentarischen Meinungskampf durch die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarien zu ersetzen. Auf dieser Grundlage weitet er den parlamentarischen Gesetzesbegriff auf exekutivische Rechtsetzungstätigkeit aus. Den materialen Allgemeinheitsbezug von Gesetzen in der Tradition Kants bezeichnet er demgegenüber als bloße Fiktion, die Artikulation des All-

254 255

von Bogdandy (Fn. 251), S. 205. von Bogdandy (Fn. 251), S. 205 f., 207.

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gemeinwillens durch das Parlament sei eine konstruktive Prämisse von bloß rechtsphilosophischem, nicht aber positivrechtlichem Wert256. A. von Bogdandy versucht damit, den dichotomischen Zusammenhang von Regierung und Parlament, von Gesetz und gesetzesakzessorischer Rechtsetzung zugunsten einer integrierten Betrachtungsweise zu überwinden, die nicht von Hierarchie, sondern von funktioneller Arbeitsteilung gekennzeichnet sei257, und daraus resultierend eine funktionsorientierte Zuordnung der Regelungsaufgaben zu legislativem und exekutivischem Normgeber vorzunehmen. Das klassische, kantisch angeleitete und insbesondere durch Jellinek in der Staatsrechtslehre wirkmächtig gewordene Gewaltenteilungsverständnis258 sei überholt. Die „materielle“ Fassung der von dieser Theorie angeleiteten herrschenden Lehre im Staatsrecht beruhe auf einer verfassungsrechtlich nicht gebotenen Funktionentrennung259. A. von Bogdandy versucht nachzuweisen, daß die grundgesetzliche Verfassungsordnung nicht von einem Dualismus Parlament – Regierung geprägt ist, sondern von einem Kooperationsverhältnis. Er geht sogar so weit, eine allgemeine Hegemonie der Regierung für den Bereich der Normsetzung insgesamt anzunehmen260. Prägend für die Kompetenzverteilung müsse die funktionelle Eignung des in Frage stehenden Organs und nicht seine Zuordnung innerhalb des überkommenen Gewaltenteilungsschemas sein. Zur Federführung in Normsetzungsprozessen, gleichgültig ob qua Gesetz oder Verordnung umgesetzt, sieht von Bogdandy die Regierung berufen. Die Argumentation zur Fundierung dieser These schließt mehrere Aspekte in sich. Ausgehend von der Erwägung, daß nicht der organschaftliche Hervorbringungsmodus, sondern die Thematisierung des Grundes der normativen Kraft von Gesetzen der Schlüssel zum Verständnis seiner handlungsformspezifischen Bedeutung sei261, schlägt er eine Gesetzesbestimmung vor, die sich an der Einwirkungsform auf die Rechtsordnung orientiert: „Gesetzeskraft haben alle Akte, die die gesetzliche Ordnung ändern und diese Regelungsebene beibehalten“262. A. von Bogdandy sieht selbst die in diesem Zugriff angelegte Zirkulari256

von Bogdandy (Fn. 251), S. 205. von Bogdandy (Fn. 251), S. 212, vgl. auch Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steuerungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, S. 265 ff. 258 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 609 f. 259 von Bogdandy (Fn. 251), S. 40. 260 von Bogdandy (Fn. 251), S. 143: „gubernative Hegemonie“. 261 von Bogdandy (Fn. 251), S. 163 f. 262 von Bogdandy (Fn. 251), S. 163 (Hervorhebung im Original). 257

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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tät, meint aber, in dieser gleichwohl eine Argumentationsanreicherung erblikken zu können263. Zweitens versucht er darzulegen, daß der Zuordnung zum Parlament die Unterscheidung nach den Systemen von Recht und Politik zugrunde liege. Ausgangspunkt für die dem Parlament zugebilligte Zentralposition sei die Vorstellung, daß das Parlament als politisches Organ die vom rechtlichen System nur zu vollziehenden Maßstäbe setze; die Systematik der Gesetzesvorbehalte als Gelenk zwischen beiden Systemebenen vermittle den „Trennungsstrich“264 und verbürge eine klare kategoriale Differenzierung. Aufbauend hierauf dokumentiert er, daß auch die Exekutive Träger politischer Verantwortung sei und sich nicht auf den Vollzug des Willens eines organisatorisch verselbständigten Normgebers beschränke. Der Aufgabenbereich der Exekutive sei auf den bloßen Vollzug des gesetzgeberischen Willens deshalb nicht beschränkbar, die Sphäre der Politik nicht dem Parlament vorbehalten. Ein dritter Hauptaspekt stützt von Bogdandys Position: Er analysiert die Entwicklung der Rolle des Parlaments in der Rechtswirklichkeit und kommt zu dem Ergebnis, daß die parlamentarische Auseinandersetzung nicht auf die konstruktive Hervorbringung einer allgemeinwohlorientierten Regelungsperspektive, sondern auf die Auseinandersetzung von Regierung und Opposition hin konzipiert sei. Die Regierung nehme ohnehin eine „hegemoniale“ Rolle im Gesetzgebungsverfahren265 ein, die die vermeintlich zentrale Verantwortungsposition des Parlaments stark relativiere. Diese veränderte Rolle stelle den konventionellen Zusammenhang von Parlamentarismus und parlamentarischem Gesetz in Frage: Wenn sich die Funktion des Parlaments ändere, müsse die Handlungsformenlehre darauf reagieren266. Andernfalls stünden Handlungsform und Organisationszusammenhang nicht mehr in dem intendierten Entsprechungsverhältnis. Es lasse sich nicht vereinbaren, das Parlament gleichzeitig als Ort parteipolitischen Gezänks und als Artikulationsorgan der volonté générale zu bezeichnen. „Das überkommene, an der Funktionenordnung ausgerichtete Gewaltenteilungsschema der öffentlich-rechtlichen Dogmatik im Verhältnis von Legislative und Exekutive, von Parlament und Regierung ist […]staats- und rechtstheoretisch überholt und verfassungsrechtlich nicht geboten.“267

263 von Bogdandy (Fn. 251), S. 164, Fn. 42, unter Verweis auf Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 220, 395. 264 von Bogdandy (Fn. 251), S. 165. 265 von Bogdandy (Fn. 251), S. 161 sowie 1. Teil, § 11. 266 von Bogdandy (Fn. 251), S. 168. 267 von Bogdandy (Fn. 251), S. 40.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

bb) Kritik Zunächst erscheint die in der Bezeichnung des Parlaments als politisches Organ angelegte Funktionskennzeichnung des Gesetzesvorbehaltes gleichsam als institutionellem „Trennungsstrich“ zwischen politischem und rechtlichem System nur als unvollkommene und vereinseitigende Abbildung der Parlamentsstellung im rechtsstaatlichen Organgefüge. Das Parlament ist auch als als Gesetzgeber nicht nur politischer Gestalter, sondern zugleich in seinem konstitutionellen Gestaltungsauftrag verfassungsrechtlich gebundenes Ausführungsorgan. Die Vorstellung von rechtlich exempten Bereichen innerhalb des verfassungsorganisatorischen Gefüges ist dem Grundgesetz ebenso wie dem ihm zugrunde liegenden Konzept einer verfassungsstaatlichen Ordnung fremd268. Die im Grundgesetz manifestierte Verfassungsstaatlichkeit269 setzt voraus, daß alle Organe des Verfassungsgefüges nicht nur politische Akteure, sondern auch in einer rechtlich gefaßten Teildimension aufzufassen sind; etwas anderes gilt nur für die außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung stehende, diese erst konstituierende verfassunggebende Gewalt, die deshalb auch nicht verfassungsrechtsimmanent verortet ist270. Alle gesetzgeberischen, judikativen und exekutivischen Entscheidungsspielräume sind nicht das Resultat dezisiver Setzungen in Ausfüllung rechtsfrei belassener Spielräume, sondern folgen einem Prinzipienabgleich zwischen dem Grundsatz verfassungsstaatlicher Bindung von Hoheitsgewalt und der Notwendigkeit vorbehaltener Prärogativen zur Gewährleistung der Handlungsfähigkeit der Organe. Für die Zentralfunktion des Parlaments bei der legislativen Willensbildung kommt der Gegenüberstellung der Sphären von Recht und Politik deshalb nicht das von v. Bogdandy angenommene zentrale Rechtfertigungsgewicht zu. Die parlamentarische Willensbildung ist nicht vom Verfassungskonsens und den in ihm diesem vorgegebenen rechtlichen Prinzipien absolut. Demnach stellt sich auch der dem Parlament aus rechts- und verfassungsstaatlichen Gründen zugewiesene Prozeß der Normsetzung nicht lediglich als politisch-dezisiver Vorgang dar, sondern ist ihm die Aufgabe der Wertkonkretisierung vorgegebener Prinzipien unter der Verfassung inhärent. Damit aber steht die Eingebundenheit der Normsetzung – durch Gesetz und untergesetzliche Normen – in das von der Verfassung und

268 Zum Wesen der Verfassungsstaatlichkeit als Prinzipiengefüge rechtlicher Bindung auch der ersten Gewalt vgl. Christian Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 2001, S. 1 ff. 269 270

Zu dieser Christian Starck (Fn. 268), S. 1 ff.

Vgl. Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 525; Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl.1992, S. 115-145.

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ihren Werten vorgegebene Wertkonkretisierungsprogramm und nicht ihre dem Recht vorgeordnete politische Dimension im Vordergrund. Wenn von Bogdandy hervorhebt, es lasse sich nicht vereinbaren, das Parlament gleichzeitig als Ort parteipolitischen Gezänks und als Ort der Konstituierung der volonté générale aufzufassen271, und damit eine Entscheidung in der Einordnung der Parlamentsbedeutung anmahnt, so entbindet ihn dies nicht von einer Stellungnahme, welche der beiden Möglichkeiten nach seiner Auffassung die letztlich zutreffende in der Annäherung an das Verfassungsorgan Parlament ist, und zwar nicht in dessen Eigenschaft als bloßem Gegenstand der Wirklichkeit, sondern mit der normativen Implikation, welche Funktion ihm zugewiesen sein solle. Der Argumentationsansatz von Bogdandys enthält zwei Teilelemente: Einerseits die Behauptung einer hinter dem Ideal zurückbleibenden parlamentarischen Rechtswirklichkeit; andererseits die Behauptung einer Entbehrlichkeit des zugrunde gelegten Ideals selbst. Der erste Aspekt dokumentiert nur eine Insuffizienz des Parlaments als Organ der Verfassungswirklichkeit in der Bewältigung von Idealverwirklichungsfunktionen, enthält aber keine Gründe für eine Entscheidung zwischen den Alternativen einer pragmatisch motivierten Kapitulation vor einer idealinadäquaten Wirklichkeit einerseits und dem contrafaktischen Durchhalten einer normativen Position andererseits. Als paradigmatische Grundlage für eine allgemeine Normenlehre erscheint dies nicht hinreichend. A. von Bogdandy neigt in der Funktionencharakterisierung des Parlaments der parteienstaatlich-prozeduralistischen Betrachtungsweise zu, die das Parlament als diskursiven Austragungsort gesellschaftlicher Kontroversen im Meinungskampf von Regierung und Opposition kennzeichnet272. Diese Betrachtung enthält keine Erklärung, was das Gesetz als Handlungsform im Rückbezug auf die Auseinandersetzung von Regierung und Opposition legitimatorisch spezifisch auszeichnet; die parteien- bzw. verfahrenstheoretische Rechtfertigung des Parlaments ist von den drei Alternativen, die von Bogdandy vorstellt, die legitimitätstheoretisch schwächste. Sie legt eine Unterbestimmung der legitimitätstheoretischen Gründe für die Bedeutung von Gesetz und Parlament zugrunde. Im Nachweis, daß gerade dieser Aspekt nicht die Unverzichtbarkeit der Vorrangstellung des Parlamentsgesetzes bedingt, ist keine Relativierung des Parlamentarismus insgesamt impliziert. Ein weiteres kommt hinzu. A. von Bogdandys Kategorisierung der Gründe, auf denen die starke Zentralstellung des Parlaments beruhe, nach drei Haupt-

271

von Bogdandy (Fn. 251), S. 201.

272

von Bogdandy (Fn. 251), S. 205.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

gruppen suggeriert, die Rechtfertigung des parlamentarischen Systems sei auf variablen und untereinander disponiblen Paradigmen gegründet, die gegeneinander nicht nur ausgetauscht, sondern auch verrechnet werden könnten, gleichsam als sei es nur eine Frage wissenschaftlicher Vorliebe, in der Betrachtung des Parlamentarismus die demokratische oder die grundrechtliche Akzentuierung in den Vordergrund zustellen. In dieser Typisierung, insbesondere der Ausdifferenzierung von grundrechtlicher und demokratietheoretischer Rechtfertigung des Parlamentarismus findet aber die wechselseitige Abhängigkeit beider Annahmen kein Gewicht, sondern löst sich der kategorische Anspruch der Legitimitätsorientierung auf zugunsten einer Relativierung des kategorialen Gehaltes von Aspekten parlamentarischer Herrschaft. Damit wird nicht nur der Legitimitätsbezug des Parlamentarismus selbst marginalisiert, sondern die Annäherung an den legitimatorischen Gehalt der Institutionenarchitektur bleibt äußerlich. Nach den vorangegangenen Gesetzeskennzeichnungen ist der Bezug des Parlaments auf die Repräsentationsfunktion gegenüber dem konstituierenden Souverän und die dadurch gewährleistete Verpflichtung auf die Allgemeinheit kein Selbstzweck, sondern eine Teildimension, durch die die inhaltliche Konvergenz parlamentarisch hervorgebrachter Normen mit dem Postulat der Vereinbarkeit von rechtlicher Herrschaft und ursprünglicher Freiheit hergestellt werden soll. Formungsakt und Legislativhandlungsform sind dadurch verbunden, daß sie gemeinsam auf die Kategorie personaler Selbstbestimmung hin bezogen sind und aus ihr ihre Rechtfertigung beziehen. Die Funktion des Parlaments, den Willen der Allgemeinheit zu artikulieren, hat insofern seinerseits das vermittelte Ziel, die Kompatibilität parlamentarischer Gesetze mit dem Postulat ursprünglicher Freiheit zu erweisen. In der Darstellung von Bogdandys hingegen wird die dem Parlamentarismus (auch) zugrunde liegende KantReferenz in ihren Systembezügen verkürzt. Die Bedeutung des Parlamentarismus in der Rechtslehre Kants mag mit der Freiheitsbezogenheit schlagwortartig gekennzeichnet werden, dabei darf die prozedurale Komponente, durch die der Freiheitsbezug gewährleistet wird, nicht außer Betracht bleiben: Bei Kant wird vielmehr die „Gerechtigkeit eines Gesetzes durch das Verfahren seiner Erzeugung garantiert“273. Die genannten Erwägungen betreffen deshalb allenfalls einen Gewaltenteilungsbegriff, der in seiner Bedeutung reduziert ist auf bloße wechselseitige Ausübungskontrolle (diese ist aber wiederum nicht mit der von v. Bogdandy behaupteten Reduktion der Organe auf ihre Funktionen erfaßt) zum Zwecke einer empirisch-pragmatisch motivierten Verhinderung einer übergroßen

273 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 401, m.w.N.; zur Einordnung von Kerstings Kant-Interpretation als prozeduralistisch auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 533 f.

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Machtfülle. Gewaltenteilung ist somit nicht, wie von Bogdandy suggerieren will, eine der historischen Überlieferung des 19. Jhdts. geschuldete und im übrigen beliebige Ausübungsaufteilung staatlicher Gewalt. Sein kategorialer Gehalt – die im Gewaltenteilungsbegriff als Gesetzesherrschaft zum Ausdruck kommende Exekutivbindung – artikuliert einen legitimatorisch unverzichtbaren Bestandteil rechtsstaatlicher Verfaßtheit. A. von Bogdandy selbst will seine Position nicht als eine Kritik der legitimatorischen Zentralstellung des Parlaments im staatlichen Verfassungsgefüge verstanden wissen, sondern als Beitrag zur Erarbeitung eines Koordinationsverhältnisses zwischen Regierung und Parlament. Wenn indes eine dem Parlament zufallende Zentralfunktion im Gesetzgebungsprozeß wirklich nicht bestritten werden soll, dann bleibt offen, welches Argumentationsziel die von ihm postulierte gubernative Hegemonie in bezug auf verfassungsstrukturelle Implikationen letztlich verfolgt. Auch stimmt dieses Bekenntnis – ebenso wie die Charakterisierung von Gesetzgebung als „kooperative Funktion zwischen Regierung und Parlament“274 – nicht mit den marginalisierenden Charakterisierungen zusammen, in denen von Bogdandy die dem Parlament zugebilligte Kategorie legislativer „Verantwortung“ gegen die der „Gestaltung und Steuerung“275 durch die Regierung ausspielt. Dieser stilisierte Antagonismus zwischen den Verfassungsfunktionen von Regierung und Parlament wird letztlich doch nur vor dem Hintergrund verständlich, daß im Spannungsverhältnis der von Bogdandy verwendeten, ihrerseits antagonistischen Kennzeichnungsbegriffe von Kooperation und Hegemonie die letztere im Vordergrund steht; damit aber wird die mit der Gesetzgebungsverantwortung verbundene Beglaubigungsfunktion des Parlaments für die Manifestation des allgemeinen Willens im Gesetzgebungsakt ihrerseits unterbestimmt.

b) Formen der Kritik am Konzept der Parlamentsrepräsentativität Einige weitere Einwände stellen darüber hinaus die Qualifikation der parlamentarischen Organisationsform zur authentischen Artikulation des Allgemeinwillens insgesamt in Abrede; argumentativer Ansatzpunkt ist in diesem Fall die organschaftliche Einlösbarkeit der Repräsentationsprämissen durch das parlamentarische Normsetzungsvermögen, konkret seine Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des parlamentshervorbringenden Gemeinwesens als allgemeiner

274

von Bogdandy (Fn. 251), S. 147.

275

von Bogdandy (Fn. 251), S. 144.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Einheit. Diese Parlamentskritik läßt sich ihrerseits untersystematisieren nach drei Gesichtspunkten. aa) Das Parlament als bloße Interessenvertretung: Carl Schmitt Eine Hauptkritik an parlamentszentrierter Repräsentativverfaßtheit weist auf eine Divergenz von Allgemeinheitsanspruch in der Repräsentation einerseits und der faktischen Polarisierung bloßer Partikularinteressen im Parlament andererseits hin276. Das Parlament stellt sich hiernach dar als Zusammenfassung antagonistischer Partikularinteressen, die auch durch organinterne Bündelung nicht zum tauglichen Ausgangspunkt einer authentischen, material allgemeinwohlbezogenen Regelungsperspektive qualifiziert sind. Die Parlamentswirklichkeit entspreche hiernach dem Ideal der Hervorbringung von Allgemeinheit nicht, sondern löse sich in der Realität in der Entgegensetzung von Regierung und Opposition und den sie tragenden Parteien auf. Solche Parlamentarismuskritik begründet sich – im Ausgang insbesondere von Carl Schmitt – aus dem parteienstaatlich geprägten Funktionsprinzip von Parlamenten und hebt hier den Ausgleich widerstreitender Interessen, das Diskursmoment, die Kompromißfindung als entscheidendes Kriterium einer liberalistischen Parlamentarismustheorie hervor277. Läßt man einmal die spezifisch historisch motivierten Kritikbestandteile der Schmittschen Parlamentsanalyse beiseite, die aus der bereits thematisierten Dichtomie von identitärer Demokratie einerseits und repräsentativer Monarchie andererseits eine genuine Exekutivprärogative für die Aufgabe der Repräsentation folgert und derzufolge die Regierung ihren Organressourcen nach als Reinform der Repräsentationsidee erscheint278, so liegt in der auf die Konstitutionsbedingungen parlamentarischer Willensbildung gestützten Kritik ein zutreffender Gehalt. Es ist als empirischer 276

Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 69: Carl Schmitts Repräsentationsverständnis sei kritisch gegen die Interessenvertretung von Partikularinteressen gerichtet. 277 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1926/1961, S. 30; vgl. auch ders., Verfassungslehre, 1928, S. 319, unter dem Aspekt des Wegfalls der Voraussetzungen des Parlamentarismus in der heutigen Demokratie; ausführlich zu Carl Schmitts Konzeption in dieser Hinsicht auch Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 3. Aufl., 1994, S. 96 ff. 278 Dazu Kimme, Das Repräsentativsystem: unter besonderer Betrachtung der historischen Entwicklung der Repräsentation und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1988; Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 1999, S. 31. Die aus dieser Gegenübersetzung resultierende Parlamentarismuskritik ist verschiedentlich und ausführlich kritisiert worden und fügt der hier verfolgten Fragestellung wenig hinzu.

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Befund weithin anerkannt, daß in der parlamentarischen Demokratie der heutigen Verfassungswirklichkeit die der Volksvertretung zugedachte zentrale Entscheidungsrolle durch unterschiedliche Einflüsse nicht unerheblich marginalisiert ist279. Maßgebender Faktor zumindest für die Bundesrepublik mag hierfür die Parteienstaatlichkeit280 und deren Monopolisierung gesellschaftlicher Willensbildung281 – mit allen Konsequenzen für die praktische Möglichkeit verwirklichter Gewaltenteilung – sein. Daß der Einfluß der Parteien bei der Legislativwillensbildung den grundgesetzlich intendierten Umfang bei weitem überschritten hat und zunehmend die politische Auseinandersetzung monopolisiert, entspricht breiter Überzeugung282. Die Überformung der Differenz von Gesellschaft und Staat, von Exekutive und Legislative durch innerparteiliche Willensbildung konterkariert das Vermögen interessengelösten innerparlamentarischen Willensbildung unabhängig von Fraktionszwang und dem Antagonismus Regierung – Opposition. Das Spannungsverhältnis von Art. 38 Abs. 1 und Art. 21 GG ist in der Rechtswirklichkeit in keiner symmetrischen Konkordanz aufgelöst; die Parteiendominanz in allen gesellschaftlichen Bereichen kann nicht ohne Auswirkung auf die Funktionsbeschreibung parlamentarischer Willensbildung bleiben.

279

von Bogdandy (Fn. 251), S. 87, verteidigt trotzdem eine Zentralstellung des Parlaments im grundgesetzlichen Verfassungsgefüge de lege lata, freilich mit den aus seiner Theorie gubernativer Hegemonie sich ergebenden Relativierungseffekten in bezug auf die überkommene Parlamentsfunktion im republikanischen Verfassungsgefüge. 280

Dazu insbesondere bereits Leibholz, Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, in: Recht, Staat, Wirtschaft, Band 3, 1951, S. 99; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967. 281 Kritisch zu den Effekten der Parteienherrschaft Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 107; Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, HdBStR Band 7, 1992, S. 143; Dimitros Tsatsos, Krisendiskussion, politische Alternativlosigkeit, Parteienstaatsübermaß – Drei Gegenwartsaspekte zur Funktion der politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG, in: Gegenrede. Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, Festschrift für Mahrenholz 1994, S. 400 ff. m.w.N.; M. Stolleis, Parteienstaatlichkeit – Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats?, VVDStRL 44 (1986), S. 8, 19 ff.; Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 1174; Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 1989, S. 342 ff. 282 von Bogdandy (Fn. 251), S. 60, 71, 80; Kunig, Parteien, HdBStR Band II, 1987, S. 103 ff.; Immerfall, Strukturwandel und Strukturschwächen der deutschen Mitgliederparteien, Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/1998, S. 3; zu den Grenzen einer Monopolisierung des Willensbildungsprozesses durch die politischen Parteien BVerfGE 20, 56, 114; 41, 399, 416 f.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

bb) Faktische Machtlosigkeit des Parlaments und ministerielle Prärogative als repräsentationsrelativierende Argumente Implizit in Frage gestellt wird das Konzept parlamentarischer Repräsentation auch durch Betrachtungen, die weniger von einer konzeptionell geschlossenen Fundamentalkritik ausgehen, jedoch in Frage stellen, ob das Parlament das eigentlich gesetzesverantwortliche und gesetzesentscheidende Gremium sei. Prägend für diesen Gesichtspunkt sind namentlich zwei organisationstheoretische Aspekte: Zum einen die im Ausschußwesen angelegte Verlagerung auf Unterorgane283, zum anderen die Auslagerung von Initiativbefugnissen insbesondere auf die Regierung284 und schließlich die parteienstaatlich bedingte Prästrukturierung von parlamentarischer Vorhaben durch partei- und fraktionsinterne Antizipation von Willensbildungsprozessen. Diese kritische Infragestellung einer fortbestehend repräsentativen Funktion des Parlaments gründet sich nicht nur auf detailbezogene Schwächen des parlamentarischen Repräsentativsystems, sondern nimmt – wie etwa bei Habermas – die Analyse eines postulierten historischen Niedergangs des Parlamentarismus zum Ausgangspunkt einer institutionellen Dekomposition, indem die fortbestehende Bedeutung parlamentarischer Willensbildung marginalisiert wird auf die bloße Qualität eines Akteurs in einem außerparlamentarischen, außerstaatlichen und letztlich außerrechtlichen gesellschaftlich-diskursiven Repräsentationszusammenhang285. cc) Replik: Zum Verhältnis von Mitwirkung und Letztverantwortlichkeit und von Ideal und Wirklichkeit Entgegnungen an solchen Formen der Parlamentarismuskritik folgen aus vier Erwägungen. Erstens ist die Zurechnung eines Normsetzungsresultates zu einem Organ nicht von der organinternen Diversifikation der Aufgabenwahr283 Zum Ausschußwesen und seiner organisatorischen Bedeutung vgl. Zeh, HdBStR Bd. 2, § 43, Rdnr. 57 ff.; zum Ineinandergreifen von Plenum, Fraktionen und Ausschüssen ausf. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 128 ff. 284 Dazu H. Döring, Parlament und Regierung, in: Gabriel (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, Opladen 1992, S. 334 ff. 285 Zur Fraktionsfunktion als „organische Gliederung des Parlaments“ Stern, Staatsrecht, 2. Aufl. 1983, § 23 I 1, S. 1024 ff. ders., S. 1023, stellt Fraktionen als politische Parlamentsgliederung den Ausschüssen als rechtlicher Parlamentsgliederung gegenüber. Grundlegend in der Erfassung der Bedeutung der Fraktionen für den parlamentarischen Willensbildungsprozeß auch W.-D. Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, 1968. Vgl. Magiera (Fn. 283), S. 128 ff. Allgemein zur Mediatisierung parlamentarischer Willensbildung auch Badura, HdB StR Bd. I, § 23, Rdnr. 55 ff., S. 982 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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nehmung abhängig. Maßgebend ist vielmehr, daß die finale normative Entscheidung beim Parlament insgesamt liegt und dem Parlament damit die seine Verantwortlichkeit begründende normbezogene Letztentscheidung zukommt. Daß Organe zur Entlastung der Willensbildung Unterorgane ausprägen, hindert nicht ihre Außenwahrnehmung als gesamtverantwortlich. Delegationsmechanismen in der internen Arbeitsweise berühren nicht das Auftreten im Außenverhältnis. Vielmehr entspricht ein solches Verhältnis von Organen und Unterorganen der von der allgemeinen Zurechnungslehre her induzierten Einsicht, daß die Letztverantwortlichkeit im Außenverhältnis, die die Zuschreibung einer Entscheidung bestimmt, von Partizipations-, Einwirkungs- und Arbeitsteilungsverhältnissen ebenso wie von sonstigen extern-akklamatorischen Bezugnahmen auf die Normsetzungsentscheidung weitgehend unabhängig zu beurteilen ist. Zum anderen läßt sich das Initiativrecht der Regierung, mag dies auch praktisch zu einer weitgehenden Antizipation der Normsetzungsentscheidung durch ministerielle Entwürfe führen286, kaum anführen, um die Ausrichtung parlamentarischer Willensbildung am Kriterium der Allgemeinheit in Frage zu stellen. In keinem staatsverfassungsrechtlichen Willensbildungsmodell ist das Parlament als selbstreferentielles, autarkes Organ ausgestaltet, das in Unabhängigkeit von Organeinwirkungen namentlich der Regierung agiert. Ein Verhältnis wechselseitiger Einwirkung von Parlament und Regierung ist parlamentarismustypisch287. Die Bindung der Exekutive durch legislative Obersätze wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Exekutive ihre Vorstellungen in den Gesetzgebungsprozeß einzubringen befugt ist; ihre Gesetzesbindung in ihrem gesetzesvollziehenden Aufgabenspektrum nicht durch ihre Verfassungsfunktion als Beteiligter am Legislativwillensbildungsprozeß relativiert. Dispositionsmöglichkeiten hinsichtlich des sie bindenden Normenbestandes kommen ihr nur in ihrer Eigenschaft als Verfassungsakteur im Legislativwillensbildungsprozeß zu; es führt jedoch kein Weg von den institutionellen Gewaltenverschränkungen zwischen Regierung und Parlament zur Annahme einer Rechtsstellung der Exekutive oberhalb des Gesetzes. Im Gegenteil dokumentiert der numerus clausus exekutivischer Einwirkungsmöglichkeiten im Gesetzgebungsverfahren nach Maßgabe des Grundgesetzes unter gleichzeitiger konstitutioneller Fixierung des Grundsatzes der Gesetzesgebundenheit in Art. 20 GG

286 287

Insoweit zutreffend von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 54 ff.

Vgl. für das parlamentarische System der Bundesrepublik nur Klein, HdBStR Bd. II, § 40, Rdnr. 7: „auf engste verknüpft“. Zur allgemeinen Auffassung einer Staatsleitung „zur gesamten Hand“ von Regierung und Parlament auch Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1957), S. 9, 37 f.; Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: FS Rudolf Smend 1952, S. 253 ff.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

ein essentielles Element von Verfassungsstaatlichkeit288. Als gesetzesvollziehende Gewalt ist die Exekutive dem rechtsatzförmig artikulierten Legislativwillen des Parlaments unterworfen, auch wenn sie diesen Willen selbst initiativ oder partizipativ gestalten, lenken und nach Maßgabe der Verfassung beeinflussen kann. Es kann deshalb insgesamt nicht in Frage stehen, daß die Gesetzesverantwortlichkeit unabhängig davon beim Parlament liegt, wer am Normsetzungsprozeß beteiligt ist und wessen Norminhaltsvorstellungen hierin Niederschlag gefunden haben. Entscheidend ist nicht die Bestimmung der intellektuellen Herkunft von Gesetzen, sondern die Autorisation, die der Gesetzesentwurf dadurch erfährt, daß er den parlamentarischen Normsetzungsprozeß durchläuft und von diesem Repräsentationsorgan als Explikation des Allgemeinwillens beglaubigt wird. Fragwürdig erscheint es zweitens methodisch, den Allgemeinheitsanspruch parlamentarischer Rechtsetzung als legitimatorisches Institutionalisierungsmodell anhand der Rechtswirklichkeit in Frage zu stellen. Eine hinter den kategorialen Gehalten eines idealtypischen Parlamentarismus zurückbleibende, idealdeviante Wirklichkeit spricht nicht per se gegen die legitimatorische Tragfähigkeit des Parlamentarismusmodells insgesamt. Zum einen können einer unzulänglichen Rechtswirklichkeit die prinzipiellen Grundlagen und schlüssig verfaßten Institutionenverhältnisse in einem Modell funktionierenden Parlamentarismus entgegengehalten werden; andernfalls wäre Verfassungstheorie lediglich auf den Nachvollzug realer Entwicklungen angelegt, gäbe hingegen seinen Anspruch preis, den normativen Gehalt des So-Sein-Sollens zu charakterisieren. Zum anderen ist Parlamentarismus nicht mit prinzipieller Notwendigkeit auf eine Parteienstaatlichkeit in der Form bundesdeutscher Verfassungswirklichkeit hin angelegt. Kritik an Parteienstaatlichkeit impliziert daher nicht notwendig Parlamentarismuskritik. Drittens ist auch der Schluß vom Zustand des Parlamentarismus auf die vermeintlich defizitäre funktionale Tragfähigkeit der parlamentarischen Rechtsform Gesetz zumindest problematisierungsbedürftig. Defizite der gesetzeshervorbringenden Institution sind als solche kein hinreichender Einwand gegen die These vom Primat der Legislative im Gewaltengefüge. Auch qualifizieren rechtstatsächliche Kompensationen vermeintlicher Defizite, wie das faktische Erstarken der Exekutive zum Ersatzgesetzgeber, diese noch nicht zum Modell prinzipienadäquater Handlungsformverwirklichung. Viertens ist die Kritik an der fehlenden Eignung des Parlaments zur rechtsförmigen Hervorbringung von Allgemeinheit in ihren Konsequenzen weitaus 288 Dazu Christian Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 2001, S. 1 ff.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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implikationsreicher, als sie zu sein vorgibt, bedenkt diese Folgerungen jedoch nicht hinreichend mit. Nach dem bereits explizierten Legitimitätsbegriff hängt die normative Akzeptabilität jeden Rechts davon ab, in einem repräsentationsvermittelten, deontologischen Sinne auf den Willen der Adressaten institutionell rückbezogen zu sein289. Diese Legitimitätshypothese löst sich über Inklusionsmechanismen ein, die das Prinzipienfundament im einfachen Regelungsbedarf der jeweiligen Rechtsgebiete aktualisieren. Die deutlichste Ausprägung hat dieser Bezug parlamentarischer Willensbildung zum allgemeinen Rechtsprinzip in der Rechtslehre Kants gefunden. Rechtliche Institutionalisierung über das Privatrecht hinaus nimmt danach ihren Ausgang im ideal-fiktiven contractus originarius als Modell einer idealisiert-konsensualen Verfassunggebung. Die staatsrechtliche Institutionenumsetzung beruht darauf, daß diese zur Forterstreckung der konstitutionellen Verheißung des contractus originarius auf die unterverfassungsrechtliche Normgebung in der Lage ist, folglich nicht nur die Verfassung als Ausdruck institutionalisierter Freiheitsbedingungen auffaßbar ist, sondern auch die Gesetze diesen vernunftrechtlichen Anspruch des verfassungsrechtlichen Grundkonsenses jeweils forschreiben und konkretisieren. Parlamentarismus und Gesetzesform sind dergestalt aufeinander bezogen, daß die prozedurale Fähigkeit der Institution Parlament, Gesetze im materialallgemeinen Sinne hervorzubringen (dazu unten), ihr funktionelles Primat im Gewaltenteilungssystem begründet. Eine starke Betonung der diskursiven Funktionsweise, der kompromißorientierten Ausgleichsfindung zwischen politischen Gegeninteressen und des dezisiv-kontingenten Charakters der Entscheidungsresultate mag deshalb zutreffende Elemente der politischen Dimension des Parlamentarismus kennzeichnen, verliert aber die rechtliche Prinzipiendimension seiner staatsorganisationsrechtlichen Stellung aus den Augen und steht deshalb in der Gefahr einer kate289 Im Grunde handelt es sich hier um einen doppelten Vermittlungsschritt des kantischen Lösungsansatzes gegenüber dem Anliegen, durch die Ausrichtung des Rechts am Kriterium des Allgemeinwohls als material richtig zu kennzeichnen: Einerseits bildet – in Ermangelung eines vorgegebenen teleologischen Richtigkeitsanspruchs – die Verlagerung der Richtigkeitsfrage auf den Willen der kollektiven Zurechnungseinheit der Staatskonstituenten den Einstieg in eine prozedurale Antwort auf den Wahrhaftigkeitsanspruch von Recht, vgl. dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 32 f. Andererseits fungiert der im contractus originarius manifestierte Grundkonsens über die Bedingungen freiheitlichen und reziproken Rechts als Verifikationskriterium für den nachfolgenden Normsetzungsprozeß des empirischen Gesetzgebers. Die treuhänderische Funktion der Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten im Hinblick auf die Konstitutionsbedingungen, denen die erstgenannten ihre Hoheitsmacht verdanken, fungiert so gewissermaßen als Surrogat für mangelnde tatsächliche Mitentscheidungsaktualität der Repräsentierten. Zu den notwendigen Zugeständnissen idealer Forderungen an die Rechtswirklichkeit auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie HdBVerfR, § 12, Rdnr. 10 ff.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

gorial unangemessenen Gewichtung von Politik und Recht. Funktionsprämisse des Parlamentarismus ist, daß die im Parlament stattfindende Repräsentation der konstituierenden Volksgemeinschaft erstens eine prozedural taugliche Form darstellt, das Allgemeinwohl aus der Summe der divergenten Partikularinteressen gewissermaßen herauszudestillieren, und zweitens, daß diese Repräsentation handlungsformsystematisch in der Rechtsform des Gesetzes kategorial-allgemeinen Niederschlag findet. Eine gänzliche Gleichsetzung von Parlamentarismus mit Politik bedeutete die schlechthinnige Unmöglichkeit verfahrensförmiger Gewährleistung von Allgemeinheit und damit die Preisgabe des Gesetzesbegriffs insgesamt. Dann aber kollabieren gleichzeitig die hierzu in einem engen Wechselseitigkeitsverhältnis stehenden Prinzipien von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, und ein Legitimitätskriterium des Rechts kann nur noch in den wie gezeigt defizienten Parametern staatlicher Verwaltungseffektivität oder Funktionalismen gefunden werden290. Die Institution des Parlaments ist durch die einseitige Bezugnahme auf seine politische Dimension und das Funktionsprinzip der Willensbildung als rechtliche unterbestimmt.

c) Steuerungsfähigkeit und Problemlösungsvermögen des Gesetzes Ein ernstzunehmender zusätzlicher Einwand gegenüber dem Modell gesetzesorientierter Rechtsherrschaft hinterfragt das Problemlösungsvermögens des parlamentarischen Gesetzes291. Normen koordinieren und lenken die von ihnen vorgefundenen rechtstatsächlichen Notwendigkeiten; die Fähigkeit des parlamentarischen Gesetzes zur Erfüllung der ihm zukommenden Ordnungs- und Lenkungsfunktion wird teilweise in Abrede gestellt292. Der Anspruch allgemeiner Gesetzgebung scheitere an den Anforderungen der Rechtswirklichkeit; die Fragmentierung gesellschaftlicher Interessen und das Zunehmen komplexer Vernetzungsprozesse in gesellschaftlichen und technischen Organisationsstrukturen mache eine Problemlösung mittels generell-abstrakter Rechtsnormen unmöglich, so daß der mit der Zentralstellung des Gesetzes im Rechtsstaat verbundene Anspruch an legitimes Recht zur bloßen wirklichkeitsleeren Fikti290

Treffend Kersting (Fn. 289): „kleine Münze der pragmatischen Imperative“.

291

Vgl. etwa – allgemein auf die Demokratie bezogen – B.-O. Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, 1999, S. 223, 224. 292 Vgl. z. B. Winfried Brohm, Alternative Steuerungsmöglichkeiten als „bessere“ Gesetzgebung? Mit theoriegeschichtlichen Herkunftsnachweisen, in Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, S. 217 ff.; Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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on werde. Der traditionelle Dualismus von Gesetz und Verordnung sei überholt und werde den Problemlösungsanforderungen eines modernen Staates nicht gerecht. Dieses Argument modifiziert die bereits erörterte Parlamentarismuskritik, indem nicht unmittelbar die Fähigkeit des Parlaments zur Hervorbringung substantiell-allgemeiner Normen, sondern die Fähigkeit allgemeiner Gesetze zur Bewältigung der sich stellenden Regelungsanforderungen bestritten wird. Als Folge dieses auch politologisch seit den 80er Jahren zunehmend artikulierten Befundes293 wird ein Ausweichen auf die vermeintlich effektiveren Handlungsformen der Exekutive (die Rechtsverordnung)294, des Selbstverwaltungsrechts (Satzung)295 bzw. auf regelungsvermeidendes Handeln im vorstaatlichen Bereich der Gesellschaft (konsensual orientierte Problemlösungsstrategien durch Interessenbündnisse, Steuerung durch Selbststeuerung) oder private Regelwerke (außerrechtliche Normierung, DIN- bzw. ISO-Standards etc.)296 vorgeschlagen. Einen maßgebenden Rückhalt für das Postulat der Ablösung von Regelungsaufgaben vom Parlament erblicken die Vertreter dieser Auffassung auch in der vom Bundesverfassungsgericht geprägten Doktrin, es müsse das Organ mit der zu treffenden Entscheidung betraut sein, das hierzu am besten geeignet sei297. Diese Tendenzen – in denen sich die allgemeine paradigmatische Ausgangsfrage nach einer Verhältnisbestimmung der Kriterien von Legitimität und Effektivität im Antagonismus Repräsentation vs. Steuerungsfähigkeit konkretisiert – interessieren hier nur, soweit gegen die Zentralstellung des Gesetzes gerichtet sind und es damit in seinem Modellcharakter für legitimitätsgegründete Normsetzung disqualifizieren. So unbestreitbar die Berechtigung der skizzierten Befunde in Teilbereichen der Rechtswirklichkeit erscheinen mag, so fragwürdig erscheint ihre argumentative Verwendbarkeit zur allgemeinen Rela293 Brohm (Fn. 292), m.w.N.; Axel Görlitz, Zur Steuerbarkeit moderner Industriegesellschaften mit Recht, in: Görlitz/Voigt, Jahresschrift für Rechtspolitologie (JfR) 1987, S. 17 ff., 25, m.w.N.; Hermann Hill, Rechtsstaatliche Bestimmtheit oder situationsgerechte Flexibilität des Verwaltungshandelns, DÖV 1987, S. 885 f., 886. 294 Besonders drastisch die Kritik am Gesetz bei Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44, 37: Die Steuerungskraft des Gesetzes gehe gegen Null. 295 Zu Mechanismen kommunaler Selbststeuerung etwa ausführlich Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000. 296 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 213, weist darauf hin, daß außerrechtliche Normenkomplexe wie die TA Luft mit höherem konzeptionellem Aufwand und stärkerer wirklichkeitsgestaltender Wirkung versehen sein können als Parlamentsgesetze; vgl. auch Brohm (Fn. 292), S. 225. 297 Vgl. Kirchhof, HdBStR, § 59, Rdnr. 20; BVerfGE 68, 1, 86.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

tivierung der rechtsstaatlich-materialen Zentralbedeutung der Handlungsform Gesetz. (1) Erstens sind effektive exekutivische Problemlösungsstrategien auch im normsetzenden Bereich mit den legitimatorischen Prämissen dieser Untersuchung, auf der die Leitbildfunktion des Gesetzes für rechtsstaatlichrepublikanische Regelsetzung basiert, nicht unvereinbar. Effizienz und Legitimität sind nicht kategorial verrechenbar, jedoch auch nicht mit Notwendigkeit Antinomien298. Durch die legitimitätsgegründete Zentralstellung des Gesetzes wird die genuine Legitimität der Exekutive in ihrem zugewiesenen Kompetenzbereich auch hinsichtlich normsetzender Tätigkeit nicht bestritten. Die Notwendigkeit gesetzesförmiger Regelung material-allgemeiner Regelungsgegenstände impliziert weder, daß alle nicht-gesetzlichen Regelungsformen nur auf unwichtige Regelungsgegenstände bezogen seien, noch, daß es legitimitätstheoretisch geboten sei, möglichst viele Legislativaufgaben in Gesetzesform zu bewältigen299. Die größere Sachnähe, der stärker ausgeprägte Detailbezug untergesetzlicher Normierung kann durchaus die größere Relevanz für die Problembewältigung in rechtlichen Teilsystemen begründen, die Rechtswirklichkeit mit stärkerer Intensität gestalten. Dies zeigt sich insbesondere im Immissionsschutzrecht300, im Umweltschutzrecht oder im Straßenverkehrsrecht sinnfällig. Weder die Zentralstellung des Parlaments als Organ noch die des Gesetzes als typischer Handlungsform desselben sind daher zur Begründung einer monistisch hierauf fixierten Ausübung von Hoheitsgewalt konzipiert301. Die Funktion des Gesetzes ist, wie gezeigt, bezogen auf ein gewaltengeteiltes System; Gewaltenteilung im dargelegten Sinne meint vernunftschlüssige Bindung der Exekutive durch legislative Obersätze als Konkretisierung des allgemeinen freiheitlichen Anspruchs von Recht schlechthin, nicht aber Annihilation exeku-

298 Ähnlich auch Roland Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 106 f.; ders., Demokratie und Entscheidungsfähigkeit in der künftigen Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Systemwandel in Europa: Demokratie, Subsidiarität, Differenzierung, 2. Aufl. 1999, S. 11 ff., 22: Demokratie und Effizienz seien kein Gegensatzpaar; ebenso zum Verhältnis von Recht und Effizienz Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 590 ff. 299 So aber Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 128; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 286: Gesetz als die beste Gestalt der Norm“. Überspitzt jedoch die Rezeption dieser Auffassung als Grundlage eines „durchgängigen Legitimitätsplus“ des Gesetzes bei von Bogdandy (Fn. 296), S. 200. 300 Vgl. Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1 ff.; von Bogdandy (Fn. 296), S. 213. 301 Maßstabsetzend nach wie vor BVerfGE 68, 1 ff.

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tiver Handlungsfähigkeit durch Parlamentsallmacht302. Der Parlamentarismus wäre mit der Regelung subalterner Aufgaben nicht nur mengenmäßig, sondern oftmals auch vom Sachverstand überfordert303. Exekutivische Rechtsetzung ist aber nicht nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, sondern ebenfalls nach dem kategorischen Gehalt des Gewaltenteilungsprinzips unverzichtbar. Auch das Gesetz hat ein rechtsprinzipiell notwendig beschränktes Funktionsgebiet304. Sein mögliches illegitimes Ausgreifen in den Handlungsbereich der Exekutive ist mit der klassischen Gegenüberstellung des allgemeinen Gesetzes zum Maßnahme- oder Einzelfallgesetz gekennzeichnet305, „Regieren durch Parlament“ hat ebenso wie Gesetzgebung durch die Regierung306 eine latent despotische Dimension307. Deshalb wird mit guten Gründen auch von den Vertretern eines starken Gesetzesbegriffs bestritten, ob die genuine Aufgabe gesetzlicher Rechtsetzung überhaupt „Steuerung“ sein könne, da das Gesetz mehr auf eine Rahmenfestlegung im allgemeinen hin ausgelegt sei, Steuerung aber das Anpeilen von Zielen in überschaubaren Verhältnissen bedeute308, sozusagen einen vorweggenommenen Einzelfallbezug. Daß dies der genuine Bereich exekutivischer Rechtsetzung ist, ist daher kein kontroverser Gegenstand. Eine aus der Analyse der Steuerungsfähigkeit unterschiedlicher Normierungsformen herrührende Kritik am Gesetzesbegriff geht von einer den Gesetzesbegriff überfordernden Vorstellung seiner normativen Tragfähigkeit aus. Die Zentralstellung der Handlungsform Gesetz wird von ihren Kritikern allzu schnell mit Omnipräsenz gleichgesetzt309.

302 Zur Kritik parlamentsabsolutistischer Konzeptionen vgl. M. Köhler, Rechtsphilosophie, 5 I 7 (demn.). 303 Insoweit zutreffend – in bezug auf die Langsamkeit parlamentarischer Willensbildung – von Bogdandy (Fn. 296), S. 209. 304 Vgl. nur Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 157 ff.: Das Gesetz sei auf „grundlegende Regelung und politische Leitentscheidung“ bezogen; auch von Bogdandy (Fn. 296), S. 213. 305 Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 10; M. Köhler, Rechtsphilosophie, 5 I 7, m.w.N. (demn.). 306 Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 98 f. 307 A.A. die Konzeptionen, die wesentlich auf einer Form der Parlamentsregierung beruhen. 308 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Badura zu Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 46; allgemein zur Kritik einer utilitaristisch steuernden Gesetzgebung M. Köhler, Rechtsphilosophie, 5 I 7.2.1 (demn.). 309 Übertrieben deshalb von Bogdandy (Fn. 296), S. 200: Die These eines grundsätzlichen und durchgängien „Legitimitätsplus“ des Gesetzes führt zur Forderung, „daß möglichst viele Materien gesetzlich geregelt werden sollten“.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Bereits dadurch dürfte die Unversöhnlichkeit eines vermeintlichen Gegensatzes von Freiheitsbezug und Effektivitätsgebot viel von ihrer Schärfe verlieren. Die Entschärfung geht aber gerade nicht zu Lasten der kategorialen Tragfähigkeit der Gesetzesform, sondern zu Lasten eines unkonturierten Effizienzpostulats310. Gerade in der Betonung der genuinen Fähigkeit der Exekutive zur Bewältigung bestimmter Regelungsmaterien ist die schlüssige Vorstrukurierung der Grundprinzipien durch Gesetz als Bedingung eines sachangemessenen Einzelfallbezugs von Verordnung und Satzung mit Notwendigkeit schon vorausgesetzt. (2) Problematisch erscheint es aber auch, durch das Aufzeigen von gebietsbezogenen Grenzen im Steuerungsvermögen parlamentarischer Gesetze die Tragfähigkeit dieser Handlungsform und ihren Primat gegenüber exekutivischen Rechtsetzungsakten insgesamt relativieren zu wollen. Denn hierfür wäre nachzuweisen, ob und inwieweit der positivrechtliche Befund einer in bestimmten Rechtsgebieten eingeschränkten Steuerungsfähigkeit der Rechtsform Gesetz zu einer Verlagerung der Wahrnehmungsberechtigung auf die untergesetzlich-exekutivische Rechtform der Verordnung führt, die von einer Abgrenzung der Anwendungsfelder nach der Wesentlichkeitstheorie und der Orientierung am Gesetzesbegriff überhaupt abweicht. Eine solche Analyse der Unterschiede aber fehlt weithin. Ein regelungstechnisches Unvermögen des Parlaments und seiner Handlungsformen zu konstatieren, wo ohnehin untergesetzliche, weil nicht grundlegende Bereiche betroffen sind, ist für eine Relativierung der Zentralstellung des Gesetzes nicht weiterführend. Der Umstand, daß in Grenzbereichen technischer oder sachverstandsakzentuierter Regelungsgegenstände das Gesetz mangels funktionaler Tauglichkeit als steuerungsfähige Norm ausscheiden kann, besagt weder etwas über das normative Ordnungsvermögen des Gesetzes im übrigen noch über seine rechtsstaatliche Zentralfunktion. Es ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, eine nach Aufgabenfeldern differenzierte Analyse des Problemlösungsvermögens der Handlungsform Gesetz vorzunehmen; gleichwohl bestehen kaum Anhaltspunkte dafür, daß die Steuerungsdebatte gesetzestechnische Grenzen aufzeigt, die nicht ohnein auch unter Zugrunde legung eines starken Gesetzesbegriffs der Exekutive überlassen bleiben könnten. So dürften die in der Frage der Steuerungsfähigkeit der Rechtsform Gesetz vorgebrachten Beispiele eher Einzelfälle betreffen, die ohnehin im Grenzbereich zur Verordnung auch nach herkömmlichem Verständnis angesiedelt

310

Kritisch dazu auch Brohm (Fn. 292), S. 219.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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sind311. Einschlägig sind etwa Fragestellungen des Umwelthaftungsrechts oder immissionsschutzrechtliche Grenzwertbestimmungen mit Grundrechtsrelevanz312. Zu betonen ist daher das Regel-Ausnahme-Verhältnis von grundsätzlicher normativer Adäquanz des Gesetzes und vereinzelten Grenzen derselben für die angestammten Aufgaben gesetzgeberischer Tätigkeit. Auf diese Argumente wird bei der Auseinandersetzung mit den sekundärrechtlichen Rechtsetzungsformen des Gemeinschaftsrechts zurückzukommen sein. Außerdem vernachlässigt die vom überlegenen Steuerungsmöglichkeiten nichtgesetzlicher Normierungskomplexe ausgehende Argumentation die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber durch Inkorporation nichtgesetzlicher Normenkomplexe sich externes Normierungsvermögen zueigen macht und dadurch parlamentarisch beglaubigt. Diese Option entgeht der kategorial unbefriedigenden Alternativität von Effizienz und Recht, indem sie parlamentsexternen Sachverstand aufgreift und gesetzesförmig affirmiert. Musterbeispiel hierfür ist die Inkorporation von Technischen Baubestimmungen (insbesondere DINNormen) durch § 3 der Landesbauordnungen. In einigen Landesbauordnungen ist darüber hinaus allgemein auf die „anerkannten Regeln der Technik“ als generalklauselartiges bauordnungsrechtliches Erfordernis Bezug genommen313. Hierin dokumentieren sich Möglichkeiten, parlamentarische normative Letztentscheidung mit sachgebietsspezifischer Expertise zu verbinden. Angesichts solcher „arbeitsteiliger“ Regelungstechniken besteht keine Notwendigkeit, um der Sachkomplexität willen auf parlamentarische Regelungsmacht dort zu verzichten, wo für sie ein legitimatorisches Bedürfnis besteht. c) Nicht überzeugend sind auch aus Gründen der Steuerungsfähigkeit vorgebrachte Möglichkeiten normativen Ausweichens auf nicht-gesetzliche oder selbstregulative Alternativen. Die Koordination von Partikularinteressen im nichtrechtlichen, gesellschaftlichen Bereich mag problemlösende Anwendungsgebiete haben; sie unterscheidet sich aber in ihrem Vermögen kategorial von der Regelungsbedeutung, die dem Gesetz zufallen muß. Die Allgemeinheit ist keine aus einer Addition der einzelnen Sonderinteressen folgende Summe von Partikularitäten314; sie ergibt sich gerade aus dem Ausblenden derselben, 311

Brohm (Fn. 292), S. 219, weist darauf hin, daß die Erörterung alternativer Steuerungsformen nicht neu sei, sondern lediglich die Ausschließlichkeit, mit der diese neuerdings an die Stelle des Gesetzes treten solle. 312 Beispiele bei Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44. 313 Vgl. § 3 Abs. 3 S. 1 HBauO; § 3 Abs. 1 S. 2 BauO NRW. 314 So auch Brohm (Fn. 292), S. 221; Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, 1991, S. 65 ff.; Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

aus der Abstraktion von materialen Willkürgehalten, die der individuellen Ausfüllung von Freiheitsspielräumen nach Maßgabe der individuellen Strebensprioritäten überantwortet sind. Deshalb ist kategorial der Unterschied zwischen korporatistischer Artikulation verbandsmäßig gebündelter Privatinteressen und allgemeiner Artikulation von freiheitskoordinierenden Grundprinzipien des Gemeinwesens durch Gesetz unaufhebbar315. Die Ersetzung gesetzesbedürftiger Regelungen durch private Einigungen bedeutet einen ideengeschichtlichen Rückfall in vorrechtsstaatliche Auffassungen. Kritisch verhält sich dies auch zu einer vermeintlichen Ausgewogenheit von Interessenkompromissen mittels Runder Tische und korporatistischen Konsensbildungsbemühungen unter Interessenverbänden zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Problemstellungen. d) Schließlich aber – dies dürfte der grundlegendste Gesichtspunkt sein – geht es bei der Handlungsformbestimmung nicht um eine Ausspielung der Kategorien von Effektivität und Funktionalität, sondern um ihre Integration. Die funktionalistische Betrachtungsweise suggeriert Alternativität, wo Kumulativität rechtlich gefordert ist. Diese Kritik am Befund fehlender normativer Funktionalität des Gesetzes betrifft im Grundsatz die bereits im Einleitungskapitel skizzierte Kontroverse des zugrunde gelegten Legitimitätsbegriffs mit funktionalistischen Betrachtungsweisen, allerdings hier in ihrer handlungsformbezogenen Konkretion. Legitimität ist keine unverbunden neben dem praktischen Problemlösungsvermögen der Rechtsphänomene, auf die sie sich beziehen soll, stehende Kategorie. Die Legitimitätsorientierung des vorliegend entwickelten Handlungsformverständnisses dient nicht dazu, einer Handlungsformenzuordnung das Wort zu reden, die letztlich zur Handlungsunfähigkeit des Staates führt, weil die zugewiesenen legislativen Steuerungsinstrumente für die Aufgaben der Rechtswirklichkeit ungeeignet sind. Ein solches Legitimitätsverständnis wäre absurd. Gleichermaßen erscheint es aber nicht gangbar, Funktionalität und Legitimität von Handlungsformen gleichsam verrechnen zu wollen, ausgehend etwa von der Prämisse, ein Mehr an Effektivität gleiche ein Weniger an Legitimität aus316. Wo die konkrete Handlungsform zur Problembewältigung nicht in der Lage ist (wo etwa ein technischer Normierungsbereich gesetzgeberischer Lösung mangels Verfassungsstaat, 1996, Rdnr. 18; Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL 1990, S. 70 f.; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 200. 315 Hierauf weist auch von Bogdandy (Fn. 296), S. 40, hin, wenngleich in kritischer Stoßrichtung gegen das hier zugrunde gelegte Parlamentsverständnis als authentischem Artikulationsorgan des Allgemeinwillens. 316 Vgl. etwa Lobkowicz, Legitimität oder Effizienz – das Dilemma der Regierungskonferenz, 1996, S. 49.

III. Repräsentation als Funktionsprinzip der Legislative

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Sachangemessenheit des parlamentarischen Entscheidungsverfahrens verschlossen bleibt), ist der Rückgriff auf das Gesetz schlechthin gegenstandslos. Funktionale wie legitimatorische Prämissen führen hier zu keinem unterschiedlichen Ergebnis, da beide voraussetzen, daß überhaupt rechtliche Normierung als Gegenstand der Legitimation stattfinden kann und nicht schon aus sachlogischen Gründen unmöglich ist. Funktionale Handlungsformangemessenheit wird auch von einer legitimitätsorientierten Betrachtungsweise insofern vorausgesetzt, freilich ohne die dem Funktionalismus eigentümliche Behauptung, Effizienz stehe mit Legitimität auf einer Kategorienstufe. Schließlich finden funktionalistische Positionen im Sinne eines einseitig verstandenen Effizienzgebotes jedenfals bei näherer Betrachtung auch keinen Rückhalt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zwar entspricht es ständiger Rechtsprechung des BVerfG zur Umsetzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, daß „staatliche Entscheidungen möglichst richtig, d. h. von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“317 oder die „besten Voraussetzungen für sachgerechtes staatliches Handeln bieten“318. Diese funktionelle Organkompetenzformel enthält aber selbst – durchaus in klarer Selbstbeschränkung – nicht das Kriterium, nach Maßgabe welcher Umstände die im einzelnen angemessene Gewichtung der genannten Kriterien zu ermitteln ist, und artikuliert deshalb keineswegs die ihr bisweilen zugeschriebene Prärogative für Effektivität gegenüber Legitimität. Beste Voraussetzung nach Verfahrensweise im Sinne der zitierten Formel muß beispielsweise nicht auf schnellste und flexibelste Ergebnisproduktion bezogen sein, sie kann auch realisiert sein im Hinblick auf stärkste und unmittelbarste Gewähr für legitimatorischen Ableitungszusammenhang, Höchstmaß an Entscheidungstransparenz oder Unparteilichkeit etc. Zur prononcierten Verwirklichung solcher Prioritäten bietet das Parlament die höchste Gewähr319. Nach den bisherigen Darlegungen ist es der spezifische freiheitsgenerierende Gehalt von Gesetzen, der durch gesetzliche Allgemeinheit besonders sachangemessen zu artikulieren ist. Hierauf ausgelegter Funktionalismus führt zu ganz anderen Aufgabenverteilungsmustern als ein solcher, der eine möglichst situationsangemessene Geschwindigkeit in der Reaktion auf sich wandelnde Bedingungen

317 So etwa BVerfG DVBl. 1997, 42, 43; vgl. Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44, 42 f.; ders., Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1 ff. 318

Kirchhof, HdBStR, § 59, Rdnr. 19; BVerfGE 68, 1, 86.

319

s. Brohm (Fn. 292), S. 228.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

zur Priorität erhebt320. Eine einseitige Bezugnahme auf rasches Handlungsvermögen, auf Effizienz im engen Sinne würde hingegen die Frage aufwerfen, welche Bereiche überhaupt noch dem Parlament zufallen könnten, da schwer vorstellbar ist, daß der parlamentarische Entscheidungsfindungsprozeß einmal der Einigung im Kabinett oder der ministerialen Entscheidung an Entscheidungsgeschwindigkeit überlegen sein soll. Soll folglich nicht das Kriterium der Effektivität entweder der Unbestimmtheit anheimfallen oder aber eine obrigkeitsstaatlich-selbstzweckhafte Bedeutung erhalten, in denen staatliches Funktionieren dem individuenbezogenen Auftrag des Rechts übergeordnet wird – und dies ist explizit nicht im Sinne der Vertreter dieser These321 – so müßte entsprechend der Bezugsgegenstand für das im Effektivitätskriterium des Funktionalismus liegende Optimierungsgebot dargelegt werden. e) Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß das Gesetz zwar in bestimmten Bereichen an Grenzen seiner Funktionsfähigkeit gelangt und hier die Exekutive zu einer effektiveren Normgebung in der Lage ist. Dies relativiert die Zentralbedeutung der Handlungsform des Gesetzes für Rechtsstaat und Demokratie jedoch nicht, weil die funktionellen Befunde bei richtigem Verständnis mit der legitimitätsorientierten Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Exekutive zusammenfallen und andererseits auch die normsetzende exekutivische Problembewältigung auf die normative Vorstrukurierung der Legislative angewiesen ist.

IV. Repräsentationsprofil exekutivischer Handlungsmacht Normsetzung im parlamentarischen Rechtsstaat ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt. Die Unmittelbarkeit des vorverständnisgeprägten Bezugs der Repräsentationskategorie auf die Legislative bedingt nicht ihre Einschränkung darauf. Die Legitimität der Teilnahme auch der Exekutive an der Normproduktion ist nach den vorangegangenen Ausführung nicht als solche fragwürdig, mag auch das Parlament im Mittelpunkt der Volksrepräsentation stehen. Fraglich ist gleichwohl, wie sich der Exekutivnormgeber legitimationstheoretisch zum parlamentarischen Gesetzgeber ins Verhältnis setzen läßt.

320

von Bogdandy (Fn. 296), S. 37, betont daher zu Recht, daß der Funktionalismus als solcher lediglich ein relationales Prinzip darstelle, nicht jedoch eine eigenständige Wertentscheidung. 321 von Bogdandy (Fn. 296), S. 494.

IV. Repräsentation exekutivischer Handlungsmacht

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1. „Absorptive“ parlamentarische Repräsentation oder Eigenständigkeit exekutivischer Repräsentation? Die Betrachtung des Parlaments als repräsentativem Willensbildungsorgan läßt zwei mögliche Betrachtungen hinsichtlich der Stellung der Exekutive zu. Eine Möglichkeit sieht das Parlament als ausschließliches repräsentatives Organ, das „absorptiv“322 den Volkswillen artikuliert und alle übrige Gewalt dem untergeordnet und ohne eigenständiges Repräsentationsprofil charakterisiert323. In diesem Fall müßte die exekutive Normsetzung als legitimationstheoretisch wertlos gekennzeichnet werden, so daß ihre Rechtfertigung allenfalls aus der fehlenden Legitimationsbedürftigkeit untergesetzlicher Normsetzung heraus argumentativ zu rechtfertigen wäre. Exekutive und Judikative, verstanden beide als Diener des Gesetzes, profitierten dann nur noch in Form mittelbarer demokratischer Legitimation vom Abglanz einzig originär-demokratischer Rückgebundenheit des Parlaments an den Souverän. Die andere Position betrachtet alle drei Gewalten als Repräsentanten des Souveräns: „Der repräsentative Charakter der Regierungsorgane vermittelt sich über das Parlament“324. Sie führt zu einem Konzept gestufter, jedoch jede Form der Hoheitsausübung umfassender Repräsentativität. Für die Beschränkung des Repräsentationsprinzips auf die Legislative scheint vordergründig die gewaltenteilungsbedingte Suprematie der parlamentarischen Legislative zu sprechen, die den Handlungsspielraum beider anderer Gewalten durch die rechtssatzförmige Konkretisierung von Verfassungsprinzipien determiniert, und die diese Determination aus dem Umstand ihres entwickelten repräsentativen Konstitutionsprinzips als spezifischem legitimationstheoretischem Vorzug zu Exekutive und Judikative herleitet. Das Vermögen der zweiten Gewalt zur Ausrichtung des normgenerierenden Willensbildungsprozesses an den allgemeinen Prinzipien der Freiheit ist unterentwickelt; eine Abbildung des gesamten Meinungsspektrums wie im Parlament und die Möglichkeit eines diskursiven Austausch- und Willensbildungsprozesses finden nicht mit gleicher Unmittelbarkeit statt. Die normsystematische Gegenüberstellung von Gesetz und Verordnung beruht gerade auf diesem Aspekt. Andererseits findet Verantwortungswahrnehmung durch staatliche Organe – zumindest in der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit – nicht durch Isolation von Aufgaben innerhalb der jeweiligen Gewalt statt; die bun322

Böckenförde, HdBStR, Band 2, § 30, Rdnr. 15, Fn. 21, unter Bezugnahme auf Kriele. 323 So wohl Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1981, S. 240. 324 Böckenförde, HdBStR, Bd. 2, § 30, Rdnr. 17.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

desdeutsche Verfassungsordnung ist nicht von einem starken Antagonismus der Gewalten geprägt, sondern eher von einem Kooperationsverhältnis325. Das Aufgreifen der vorgängigen Gesetze durch die Exekutive und die gebietsbezogene normsetzende Ausfüllung von Lücken durch Verordnung ist ebenso Ausdruck eines solchen Kooperationsverhältnisses wie die Einbringung exekutivischer Vorstellungen in Gesetzesinitiativen. Auch wenn dies nicht zwingend für eine eigenständige repräsentative Stellung der Exekutive spricht, wäre doch diese Form exekutivischer Partizipation am Gesamtbild staatlicher Normsetzungsprozesse nicht plausibel, ginge mit ihr nicht die Vorstellung einher, die Einbringung exekutivischer Handlungsmacht sei ihrerseits das Resultat einer organisatorisch begründeten Repräsentationslegitimität. Die Notwendigkeit, exekutivisches Handeln gleichwohl als Ausdrucksform repräsentativer Verfaßtheit darzustellen, wird aktuell vorrangig im Hinblick auf die hier gegenständlichen Aufgaben der Regierung innerhalb eines Gesamtsystems der Rechtssatzartikulation auf unterschiedlichen Ebenen. Die untergesetzliche Normsetzung durch Exekutive ist noch immer keine reine Einzelfallanwendung, sondern generell-abstrakte Normierung in der Konkretisierung der gesetzgeberischen Leitvorstellungen auf ein bestimmtes Anwendungsgebiet. Der Aufweis von Legitimität untergesetzlich-exekutivischer Normsetzung bedarf deshalb der Rückführbarkeit normsetzenden Regierungshandelns auf einen Bezug zur Allgemeinheit. Nach hier zugrunde gelegtem Verständnis setzt dies ein abgestuftes Modell von reiner parlamentarischer Legislativtätigkeit, gesetzeskonkretisierender Verordnunggebung und normenvollziehender Exekutivtätigkeit sowie ein hierauf bezogenes Repräsentationsverständnis voraus. Der Funktion nach nimmt die Regierung durch Erlaß von Verordnungen eine Mittlungsfunktion zwischen typischem, einzelfallbezogenen Exekutivhandeln und der generell-abstrakten Prinzipienkonkretisierung in Gesetzesform durch die Legislative vor. Weder ist die Regelungsfunktion der Verordnung mit gleicher Unmittelbarkeit Prinzipienartikulation wie das Gesetz, noch ist sie bloße Ausführung von Rechtssätzen in dienender Funktion. Im Erlaß von Verordnungen dokumentiert sich kraft der normhierarchischen Nachrangigkeit derselben unter dem Gesetz die dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechende Unterordnung aller Gewalt unter die legislative Obersatzbildung, wird aber andererseits eine quasilegislative Aufgabe der Normkonkretisierung durch Normerlaß vorgenommen, die ihrerseits der regierungstypischen „Ausführungstätigkeit“ noch vorgeordnet ist und eine wiederum generell-abstrakte, prästrukturierende Funktion hat. Auch in der gemeinschaftsrechtlichen Bündelung mitgliedstaatlich-exekutivischer Rechtsetzungsmacht im Rat als Hauptrechtsetzungsorgan

325

So mit teilweiser Berechtigung von Bogdandy (Fn. 296), S. 147.

IV. Repräsentation exekutivischer Handlungsmacht

157

kommt genau diese Hypothese des Vorverständnisses, daß die Regierungen nicht als bloße latent despotische Gegenspieler zur parlamentarischen Normsetzungskompetenz zu sehen sind, sondern letztlich den gesamten Funktionenzusammenhang des innerstaatlichen Institutionengefüges repräsentieren, zum Niederschlag. Nun folgt indes aus der bloßen Konstruktionsnotwendigkeit noch nicht die tatsächliche Beschaffenheit der an dieser Notwendigkeit auszurichtenden Realität: Wenn daher auch das Repertoire exekutivischer Handlungsformen als Teil eines insgesamt repräsentativ verfaßten Herrschaftssystems auffaßbar sein soll, stellt das vor die Anforderung, einerseits Teile der dargestellten Typizität des Repräsentationsprinzips als übertragbar auf die Exekutive darzustellen, andererseits aber spezifische Differenzen mitzuthematisieren, aus denen der Gesetzesvorbehalt – als Vorbehalt material-legislativer Willensbildungstypizität – zu rechtfertigen ist. Ansatzpunkte für eine repräsentative Dimension auch exekutivischer Normsetzung lassen sich aus zwei kategorialen Erwägungen gewinnen, freilich in einer Weise, die stärker die hervortretenden Differenzen zum Modell parlamentarischer Willensbildung und der sie kennzeichnenden materialen Repräsentation aufzeigen als ihre Gemeinsamkeit: Einesteils aus dem Gewaltenteilungsprinzip, anderenteils aus dem spezifischen Hervorgehen der Exekutive aus dem Volkswillen.

2. Das Legitimitätsprofil exekutivischer Normsetzung im Kontext des Gesetzesbegriffs Das Gewaltenteilungsprinzip in seiner dargelegten Bedeutung von parlamentarischer Repräsentativität teilt die Handlungsmacht auf drei Gewalten nach einem vernunftschlüssigen Schema auf und ordnet der Legislative den normativen Erstzugriff auf einen Regelungsgegenstand zu. Sie begreift alle staatliche Handlungsmacht außerhalb der Legislative als Vollzugsmoment des vorgegebenen Normbefehls326. Das Wesen einer durch das parlamentarische Gesetz gebundenen, wenn auch nicht hierdurch determinierten327 Exekutivmacht liegt 326 327

Vgl. von Bogdandy (Fn. 296), S. 39 f., 88.

Gegenläufig wirkt diesbezüglich das staatsverfassungstheoretische Paradigma einer genuinen Prärogative von Verwaltung und Exekutive für bestimmte Aufgabenbereiche, vgl. BVerfGE 68, 1, 86 ff.; für ein Leitbild der gesetzesdirigierten statt gesetzesgebundenen Verwaltung auch Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, S. 176; von Bogdandy (Fn. 296), S. 213 ff. Solche Konzeptionen sind nicht schon terminologisch unvereinbar mit dem hier entwickelten Gesetzesverständnis; entscheidend ist, ob in ihnen das Ordnungsbild der Gesetzesherrschaft über hierarchisch nachrangige Normebenen anerkannt wird.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

darin, ihr gesamtes Kompetenzfeld vorstrukturiert zu finden durch gesetzgeberische Wertungen. Die vom Gesetzgeber der Exekutive im einzelnen vorgegebene Regelungsdichte und die ihr korrespondierenden Spielräume mögen abhängig von der Regelungsmaterie erheblich differieren, insbesondere weil die Exekutive in bestimmten Bereichen über geeignetere Handlungsformen – sowohl engeren Sinnes vollziehender als auch normsetzender Art – verfügt als die Legislative. Insofern haben die vorgenannten Ausführungen zum Verhältnis von parlamentarischem Willensbildungsprozeß und Steuerungsfähigkeit gezeigt, daß die Kategorien Repräsentation, Gesetz und republikanische Gewaltenteilung auf keinen Regelungsmonismus der Handlungsform Gesetz hinauslaufen, ja nicht einmal in ein Postulat münden, der parlamentarische Gesetzgeber solle soviel wie möglich selbst regeln328; Exekutivherrschaft ist aber im republikanischen Rechtsstaat wesentlich ausgeführte Gesetzesherrschaft. Von diesem System staatlicher Gewaltenverteilung aus muß sich das Tätigkeitsgebiet der Exekutive begreifen. Exekutivische Tätigkeit ist weder bloßes Regieren noch rein administrativer Gesetzesvollzug in einem durch Gesetzgebung determinierten Raum. Ein solch deterministisches Gesetzesverständnis hat seit den gesetzesoptimistischen Kodifikationen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jhdts. ausgedient329. Die genuine Aufgabe der exekutivischen Gewalt ist vielmehr wesentlich Konkretisierung des gesetzgeberischen Willens. Die Differenzierung zwischen parlamentarischer Gesetzgebung und exekutivischer Konkretisierung beschreibt eine perspektivische Differenz von neutraler Allgemeinwohlorientierung und konkreter Einzelfallentscheidung. Der Aufgabenbereich des Einzelfallbezugs als genuines Betätigungsfeld der Exekutive dokumentiert sich einesteils im Vorbehaltensein von Einzelfallentscheidungen, die dem gesetzgeberischen Handlungsrepertoire entzogen sind. Einzelfallgesetze sind der rechtsstaatliche Ausnahmefall, in dem sich ein latent illegitimes Übergreifen der Legislative, ein „Regieren durch Parlament“ und damit eine despotische Dimension der Herrschaftsausübung dokumentiert. Der Einzelfallbezug der Exekutive ist nicht stets als Resultat gesetzgeberischer Vorgaben allein verwirklichungsfähig. Vielfach bedarf die gesetzgeberische Leitentscheidung der Intermediation durch eine zweite normsetzende Ebene, die, ohne Gesetzgebung zu sein, den Einzelfall lediglich vorbereitet, aber ihrer328 Zu weitgehend deshalb wohl Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 286: „Gesetz als die beste Gestalt der Norm“. 329 Hierin zutreffend die Kritik am überkommenen Modell der Gesetzesherrschaft; für ein Verständnis des Gesetzes als Verwaltungsauftrag – und eine resultierende Kooperationsstruktur – auch G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 105, 108; ebenso bereits Scheuner, Das Gesetz als Auftrag der Verwaltung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 545 ff.

IV. Repräsentation exekutivischer Handlungsmacht

159

seits noch von formeller Allgemeinheit geprägt ist. Es handelt sich dabei um Regelungsaufgaben, die der Exekutive überantwortet werden können, weil sie nicht materiell gesetzesbedürftig sind, sondern die gesetzgeberischen Leitentscheidungen ausfüllen. Insofern handelt es sich um subalternes Recht, weil die in ihm artikulierten Wertentscheidungen akzessorisch zur vorgegebenen Gesetzesregelung sind, sich in sie einfügen, sie weiter ausfüllen, aber nicht beanspruchen, mit dieser zu konkurrieren. Ihre Unterordnung unter die Gesetzesebene dokumentiert sich auch anhand des Umstandes, daß sie vom Gesetzgeber an die Exekutive delegiert sind. Positivrechtlich in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes bekräftigt der von Art. 80 GG statuierte Gesetzesvorbehalt, daß die Exekutive nicht aus eigener Machtvollkommenheit normsetzende Tätigkeitsbereiche sich erschließen kann, sondern der Anordnung der Legislative bedarf. Hieraus resultiert ein Verhältnis zwischen parlamentarischer und untergesetzlicher Normsetzungstätigkeit, das man mit einiger Berechtigung als Funktionsteilung im normsetzenden Bereich kennzeichnen kann – freilich nur, wenn dieses Kooperationsverhältnis nicht argumentativ instrumentalisiert wird zur Relativierung des normhierarischen Verhältnisses zwischen Gesetz und Verordnung330. Positivrechtlich bezogen auf die Bundesrepublik stellt sich der Bundestag als einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ dar und ist insbesondere die Exekutive in Ableitung hiervon – mittelbar – demokratisch legitimiert. Auch Exekutivhandeln artikuliert insofern mittelbar repräsentativen Willen. Die dem zugrunde liegende verfassungsdogmatische Hypothese liegt in der Autorisierung aller staatlichen Gewalt durch ihre mittelbare Rückführung auf das Volk in Wahlverfahren, kraft derer in allen staatlichen Handlungsformen eine stellvertretende Aufgabenwahrnehmung für das Gesamtsystem zu sehen ist, die der Gemeinschaft als ihr Werk zurechenbar ist. Gewaltenteilung bedingt Diversifikation in der Wahrnehmung von Hoheitsgewalt. Die „Legitimationskette“ mit ihrer Implikation angemessener Zurechnungs- und Verantwortungsstrukturen legt deshalb ein Begriffsverständnis nahe, das exekutivischem Normsetzungshandeln in bezug auf das Repräsentationsprinzip zumindest teilweise prinzipienverwirklichenden Gehalt attestiert. Es ist nicht zu übersehen, daß die für die Exekutive kennzeichnende Ausgestaltung des Repräsentationsprinzips hinter den materialen Gehalten legislativer Willensbildung der Legislative erheblich zurückbleibt. Die charakteristische Verknüpfung von Willens-

330 Zu weitgehend deshalb von Bogdandy (Fn. 296), S. 212: Funktionelle Arbeitsteilung statt Hierarchie; ähnlich Winfried Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steuerungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, S. 265 ff.; mit dem hier entwickelten Gesetzesprimat vereinbar jedoch am Maßstab der Wesentlichkeitstheorie orientierte Relativierungsüberlegungen.

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

bildungsbedingungen und Willensbildungsresultat als Ausgangspunkt repräsentativer parlamentarischer Normsetzungstätigkeit findet in den exekutiven Formen der Normsetzungstätigkeit kein auch nur annähernd äquivalentes Surrogat. Diese Abstufung rechtfertigt sich indes aus dem vom Gewaltenteilungsprinzip vorgegebenen unterschiedlichen Aufgabenbereich: Da der Gesetzgeber nur an die abstrakten Prinzipien der Verfassung gebunden ist, bedarf die ihm überantwortete Aufgabe einer rechtsgebietsbezogenen Konkretisierung von Freiheitsprinzipien in viel stärkerem Umfang auf prozedurale Gewährleistungen dieser Ausrichtung angewiesen als die in ihren Spielräumen durch die Aufgabe des Normvollzugs beschränkte Exekutivaufgabe. Die Vermitteltheit exekutivischer Repräsentation ist stärker auf eine genetische Ableitung von einem Repräsentiertenwillen angewiesen und überdies auch um eine Stufe stärker mediatisiert. Mit dieser Rechtfertigung geht aber gleichzeitig einher, daß die Argumentationsgrundlage für den exekutivischen Normsetzungsbereich sich von einer legitimitätsorientierten zu einem an der Funktionsnotwendigkeit orientierten Argumentationsansatz notwendig verschiebt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die dargestellten funktionalistischen Thesen, die exekutivische Normsetzungstätigkeit der parlamentarischen vorziehen, die Auswechslung einer legitimitätsorientierten gegen eine effektivitätsorientierte Betrachtung zur Grundlage haben. An dieser Stelle geht es noch nicht um die Bestimmung der Reichweite, mit der die exekutivisch wahrnehmbaren Repräsentationsgehalte eine Befassung der Regierung oder mit Regierungsvertretern besetzter supranationaler Organe auch legitimationstheoretisch rechtfertigen und damit die teilweise Entlastung des Parlaments von der Normsetzungsverantwortung ermöglichen. Ausreichend ist zunächst die Feststellung, daß Exekutivtätigkeit gerade für den Bereich der Normsetzung repräsentative Elemente aufweist, aber gleichwohl mit konstruktiver Notwendigkeit hinter dem Repräsentationsvermögen des Parlaments zurückbleibt.

V. Zwischenergebnis Der neuzeitliche Rechtsbegriff, beruhend auf einer individualismuszentrierten Kritik an teleologischen Ordnungen, geht mit legitimationstheoretischen Unverfügbarkeiten einher. Legitimatorisches Konstruktionsprinzip allen Rechts ist die Rückführbarkeit der mit dem Rechtszwang begriffsnotwendig verbundenen Heteronomie auf den freien Willen des Subjekts. Die Tragfähigkeit der theoriegeschichtlichen Teilansätze differiert danach, wie sie das zugrunde liegende Willens- und Subjektskonzept bestimmt. In der anspruchsvollsten Vari-

V. Zwischenergebnis

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ante im Ausgang von Kant ermöglicht sie, Recht als autonome Selbstherrschaft freier Vernunftsubjekte zu begreifen. Dieses Legitimationsverständnis kann durch den Verweis auf konstruktive Neu- oder Andersartigkeit supranationaler Ordnungen nicht dispensiert werden, wie es umgekehrt in einer rein demokratietheoretischen Betrachtungsweise unterbestimmt ist. Die von unterschiedlichen funktionalistischen Ansätzen hierfür ins Feld geführten Effizienz- und Verselbständigungserwägungen stehen nicht auf der gleichen argumentationslogischen Ebene wie die Legitimitätskriterien. Die konstruktive Berücksichtigung der sui-generis-Qualität der Gemeinschaftsrechtsordnung kann nur durch konstruktive Abweichungen vom Modell staatlicher Willensbildung erreicht werden; die Eigenständigkeit der Konstruktion muß aber legitimationstheoretisch in gleicher Weise am universellen Begriff des Rechts gemessen werden. Die Institutionalisierung des Legitimitätsbegriffs von Recht mündet – zunächst im staatsrechtlichen Verfaßtheitskontext – in eine repräsentative Ordnung. Diese ist auf die konstruktive Vergegenwärtigung aller Normsetzungsadressaten als durch ein gemeinsames Verrechtlichungsinteresse verbundener Einheit gerichtet und gewährleistet verfahrensorientiert die Ausrichtung des legislativen Willensbildungsprozesses an den verallgemeinerungsfähigen, wechselseitigen Bedingungen der Freiheit. Die Willensbildungsbedingungen eines typischerweise parlamentarischen Repräsentationszusammenhangs münden in die legislative Handlungsform des Gesetzes, das sich so wesentlich als Artikulationsform von Allgemeinwohlbedingungen versteht. Der hierdurch konstituierte Wechselbezug von Repräsentationsprinzip und Gesetzesform impliziert einen engen Bedingungszusammenhang zu den Prinzipien der Gewaltenteilung und des Republikanismus im kantischen Sinne. Der legitimationstheoretische Gehalt der Gewaltenteilung besteht in der Sicherung der Gesetzesherrschaft, der die als Bindung aller staatlicher Gewaltausübung an die legislativ konkretisierten Bedingungen allgemeiner Freiheitsverwirklichung zukommt. Die Herrschaft des Allgemeinwillens – in Abgrenzung zu einer Partikularisierung des legislativen Willensbildungsprozesses – charakterisiert die so konstituierte Ordnung als republikanisch. Kritische Einwände an diesem System gesetzeshegemonialer Rechtsetzungstheorie beruhen entweder auf einer Überbewertung von nicht gleichrangigen Effektivitätskriterien oder auf einer Unterbestimmung des im Parlamentarismus konzentrierten Prinzipienzusammenhanges. Die politische Natur des Parlaments, der in ihm ausgetragene Meinungskampf und die Überlagerung parlamentarischer Willensbildung von exekutivischen und parteienstaatlichen Einflüssen sind einesteils zutreffende Teilaspekte, beruhen aber anderenteils entweder auf Inadäquanzen positivrechtlicher Verfassungsordnungen oder thematisieren Randerscheinungen oder historische Reminiszenzen, auf denen die

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Kap. 2: Das Repräsentationsprinzip als legitimatorisches Strukturprinzip

Zentralstellung des Parlaments nicht entscheidend beruht. Sie taugen deshalb nicht zum Leitbild einer legitimitätsorientierten Institutionentheorie. Das Regelsetzungsvermögen der Exekutive bleibt in repräsentationstheoretischer Hinsicht hinter der parlamentarischen Willensbildung erheblich zurück. Aus der Funktionengliederung der Gewalten folgt zwar die Zulässigkeit und Notwendigkeit, gesetzgeberische Spielräume durch untergesetzliche Normsetzung zu schließen; auch exekutivische Normsetzung begreift sich so als Gesetzesvollzug. Der die Exekutive legitimierende Ableitungszusammenhang vom Willen des unmittelbar demokratisch gewählten Parlaments ist aber in erster Linie an der Aufgabe materieller Regierungstätigkeit, weniger an der Schaffung von allgemeinheitsorientierten Willensbildungsbedingungen ausgerichtet. Die Zulässigkeit der exekutivischen Rechtsetzungstätigkeit ist daher strikt an die Unterordnung unter das Gesetz gebunden und folgt im übrigen eher funktionellen Zugeständnissen.

Kapitel 3

Der gemeinschaftsrechtliche Vertrag als Artikulationsform repräsentativer Willensbildungsstrukturen

I. Der Anspruch vertragstypischer Repräsentativität 1. Ist nach den bisherigen Ergebnissen die Repräsentativität der Herrschaftsausübung legitimationstheoretischer Kernanspruch für alle Formen der Legislativwillensbildung, so folgt daraus notwendig, daß auch das staatliche Handeln im Außenverhältnis, also die Ausübung von Souveränität in der andere Staaten koordinativ einbeziehenden Selbsterweiterung im internationalen Recht, in welcher Form sie organisatorisch verteilt sein mag, konstruktiv rückführbar auf ein Fundament repräsentativer Willensbildungsstruktur sein muß. Unabhängig von der Verteilung der Wahrnehmungsberechtigungen auf die am Vertragsschluß beteiligten Legislativ- und Exekutivorgane im einzelnen manifestiert sich im Abschluß völkerrechtlicher Verträge die Ausübung staatlich radizierter Hoheitsgewalt, deren staatsverfassungsrechtliches Repräsentationsprofil so auf die inter- bzw. supranationale Ebene hinüberwirkt. Diese Erkenntnis ist isoliert betrachtet eine bloße analytische Folgerung aus den vorangegangenen Bestimmungen. Sie entspricht auch dem gängigen staatsund völkerrechtlichen Verständnis des internationalen Vertrages und seiner Legitimität1, was verfassungsrechtlich durch die Rückbindung der Verträge an ein Zustimmungsgesetz, Art. 59 Abs. 2 GG reflektiert wird2. 1

Vgl. zum Vertrag als völkerrechtlicher Handlungsform im Überblick Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 4; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 10. Aufl. 2000, §§ 13 ff., S. 48 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3. Aufl. 2002, § 27, S. 134 ff.; BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; zur Frage des Geltungsgrundes vgl. unten, Kap. 3, II. 3.; zur spezifischen Frage nach dem Verhältnis von Vertragskonsens und Ratifikationsgesetz als vertraglichem Geltungsgrund vgl. unten, II. 3. d). 2 Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965-974, sieht deshalb das Ratifikationsgesetz als Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts an; vgl. auch dens., Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 ff., 14: „Europa fließt über die Brücke des Zustimmungsgesetzes“. Vgl.

164

Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Stärkere systemprägende Bedeutung der Notwendigkeit, den Vertrag als repräsentative Handlungsform auszuweisen, ergibt sich aus dem bereits dargelegten3 – zunächst staatsrechtlichen – Verweisungszusammenhang von Repräsentationsprinzip, Republikbegriff und Allgemeinheitskategorie in der Anwendung auf die supranationale Rechtsordnung. Im zweiten Kapitel wurde das Repräsentationsprinzip als essentielles Kriterium republikanischer Staatsorganisation entfaltet und gezeigt, daß die repräsentationsförmige Ausrichtung der Legislativtätigkeit an der Kategorie materialer Allgemeinheit den republikanischen Gehalt des Repräsentationskriteriums ausmacht. Der Begriff der Republik hat damit im staatsrechtlichen Zusammenhang eine legitimatorische Zentralstellung4. Noch vor der Betrachtung einzelner Handlungsformen des supranationalen Teilsystems und ihrem institutionellen Hervorbringungshintergrund wirft dies die Frage auf, welche Möglichkeiten einer Applikation des Republikanismuskriteriums auf das supranationale Recht bestehen, das über den normalen Wirkungskreis völkerrechtlicher Verfaßtheit den Anspruch erhebt, die innerstaatliche Rechtswirklichkeit für den jeweiligen Bürger mitzugestalten: Läßt sich die Europäische Union – trotz fehlender Staatsqualität – in ihren Willensbildungsformen als doch insoweit dem Staat angenähert ansehen, daß die republikanischen Anforderungen an staatliche Machtausübung auf den supranationalen Organisationszusammenhang übertragbar sind5, oder überfrachtet ein insoweit vom staatsrechtlichen Prinzipiendenken instruierter Kategorienanspruch die konstruktiven Möglichkeiten internationalen Rechts? Der Rückgriff auf ein „überkommenes Begriffsrepertoire“6 verlangt nach einer sorgfältigen dazu ausführlich unten, II. 3. d); zum Zustimmungsgesetz auch Rojahn in: von Münch, Grundgesetz, Art. 59, Rdnr. 33 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2002, § 27, S. 134 ff. 3 Kap. 2, III. 3. 4 Besonders deutlich artikuliert diesen rechtsprinzipiell-freiheitlichen Gehalt des Republikbegriffs Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 49 ff. 5 Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 23 ff. 6 Schuppert, Zur Staatswerdung Europas. Überlegungen zu Bedingungsfaktoren und Perspektiven der europäischen Verfassungsentwicklung, StWStP 1994, S. 35, 53; vgl. auch die kritische Zurückhaltung Böckenfördes, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 8, gegenüber der Applikation staatsrechtlicher Kategorien auf das Gemeinschaftsrecht, demzufolge „wir in einer Situation des Übergangs stehen, in der überkommene dogmatische Kategorien und Strukturen die sich verändernde Wirklichkeit nur noch zum Teil oder gar nicht mehr normativ übergreifen.“ Demgegenüber plädiert Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 533, für die begriffliche Offenheit staatsrechtskontextueller Begrifflichkeiten und meint umgekehrt (wenn auch vornehmlich bezogen auf das Rechtsstaatsprinzip), es handle sich um eine petitio principii, wenn man aus dem staatsrechtlichen Kontext der Staatsstrukturprinzipien ihre staatsrechtsex-

I. Der Anspruch vertragstypischer Repräsentativität

165

Rückbindung aller den Staatstheorien entlehnten rechtsprinzipiellen Bezüge an ihre kategoriale Verallgemeinerungsfähigkeit. 2. Der Begriff der Republik hat seinen typischen Kontext im Staatsrecht. Die Akzentuierung der gängigen paradigmenleitenden Dichotomie der Systeme Staatsrecht – Völkerrecht7 führt die Problembetrachtung aber am repräsentationstheoretisch zentralen Kern des Begriffsgehalts vorbei. Sie orientiert sich an einer externen Organisationsbetrachtung, anstatt die zunehmend gleichgewichtige Bedeutung beider Systemreferenzen gegenüber dem Adressaten in der Rechtswirklichkeit als das repräsentationstheoretisch ausschlaggebende Kriterium aufzufassen. Die staatsrechtstranszendierende Dimension gemeinschaftsrechtlicher Geltung (hier: insbesondere die unmittelbare Anwendbarkeit gegenüber dem Bürger) setzt die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsformen für das Individuum als Adressaten per se in ein Konkurrenzverhältnis zu den staatsrechtlichen Handlungsformen. Hieraus legitimiert sich die Frage nach der Verwirklichungsfähigkeit essentieller legitimationstheoretischer Strukturprinzipien, die typischerweise im Staatsrecht beheimatet sind, in bezug auf den supranationalen Kontext. Das Republikanismuskriterium könnte für den Anwendungsfall gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgebote nur dann außer Betracht bleiben, wenn international- wie supranationalrechtliche Ordnungen per se auch strukturell metastaatlich und damit metarepublikanisch wären. Der Bürger europäischer Mitgliedstaaten ist jedoch Adressat mitgliedstaatlicher und gemeinschaftsrechtlicher Handlungsformen zugleich8; er wird vom Gemeinschaftsrecht als autonomes Rechtssubjekt in Bezug genommen9. In den Folgen seiner Rechtsetzung für die rechtsunterworfenen Individualsubjekte konkurriert

klusive Lesart herleite. Für die Einstellbarkeit der Grundbegriffe der staatlichen Verfassungslehre auf die europäische Integration auch Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100, 120. 7 Vgl. nur die Kategorisierung bei Schweitzer, Staatsrecht III, 7. Aufl. 2000, Rdnr. 42-51: die paradigmatische Einordnung zwischen beiden Systemen (vgl. etwa von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 109: „eigenständige Rechtsordnung zwischen dem internationalen und dem staatlichen Recht“; Hilf, Europäische Union und die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 75, 77: „nur sui generis faßbare Union“; Jachtenfuchs, Die Europäische Union – ein Gebilde sui generis?; in: Wolf (Hrsg.), Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, 1997, S. 23) nachvollzieht in ihrem Bemühen um Abgrenzung zu den vorbindlichen Begriffen der Rechtssystemkategorisierung diese Dichtomie in gewisser Weise. 8

Vgl. nur Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, FCE-Spezial 4/2000, Rdnr. 27. 9 Oppermann, Europarecht, 1999, § 4 II 2, Rdnr. 210; Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 41.

166

Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

das Gemeinschaftsrechtsregime mit dem Staat10. Diese Eröffnung einer normativen Konkurrenzebene muß zu dem institutionalisierten Freiheitsgehalt des republikanischen Bürgerstaates eine supranational-zwischenstaatliche Korrelation liefern. Wenn die im vorangegangenen Kapitel entwickelte Kategorienbildung einer Antinomie von Republikanismus und Despotie als materiales Auszeichnungskriterium für ein am Allgemeininteresse und der Freiheitsverwirklichung ausgerichtetes Rechtssystem tragfähig ist, so muß sie sich als Anforderung an den materialen Gehalt institutioneller Rechtsherrschaft unabhängig davon durchhalten, wo deren institutioneller Ausübungsrahmen verortet ist. Rechtsherrschaft, die als innerstaatliches Rechtsregime auftritt, muß sich als republikanisch erweisen11, unabhängig davon, ob sie konstruktiv als supranationale Teilrechtsordnung zu qualifizieren ist. Aus der verfassungspolitischen Integrationsentscheidung, rechtliche Selbstorganisation nicht allein in Gesetzesform und in der überkommenen Selbstbezogenheit der staatsrechtsinternen Handlungsformen auszuüben, sondern durch die bündnisförmige Einbeziehung anderer Staaten mit selbsterweiterndem Gehalt auch koordinative Rechtshandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, kann und darf gegenüber dem Individuum als Rechtadressaten nicht die Konsentierung in ein minderes Niveau rechtsstaatlichen Gehaltes der Rechtsetzung selbst abgeleitet werden. Für den Rechtsadressaten ist es gleichgültig, ob ihn rechtliche Gebote in der Form formeller staatlicher Gesetze, völkerrechtlicher Verträge oder untervertraglichsupranationaler Rechtssätze adressieren; entscheidend für die Rezeption des in ihnen ausgeübten Rechtsregimes als legitim ist, daß in ihnen keine Vereinseitigung von Partikularinteressen, sondern freiheitliche Prinzipienherrschaft sich manifestiert. Nach den repräsentationstheoretischen Gundlegungen des zweiten Kapitels folgt hieraus die Notwendigkeit einer prinzipienäquivalenten Ausgestaltung supranationaler Legislativwillensbildung. Dieser Ansatz dokumentiert, daß das Denken in isolierten Systemordnungen ein für eine gesamteuropäische Gesetzgebungslehre kategorial trügerischer Weg ist. Ergibt sich aus dem An-

10

Zu der Frage, in welchem Umfang aus den unterschiedlichen Handlungsformen Richtlinie und Verordnung eine Differenzierung hergeleitet werden kann, die der legitimationstheoretischen Schärfung der Kompetenzordnung dient, vgl. unten, Kap. 5, IV. 4. b). 11

Zum Ineinanderwirken von europäischem und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000, S. 463 ff. Ein dem nicht entsprechendes System der Rechtsherrschaft wäre nach der Begrifflichkeit Kants als nichtrepublikanisches despotisch, vgl. EF, Erster Definitivartikel zum Ewigen Frieden, VIII, 352: „Der Republikanism ist das Staatsprincip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird“. Vgl. auch Hasso Hofmann, Repräsentation, 1974, S. 413.

I. Der Anspruch vertragstypischer Repräsentativität

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spruch des Rechtsprinzips das Gebot praktischer Vernunft zur Schaffung verrechtlichter Strukturen auch über die Staatsstiftung und eine schlüssige Institutionenordnung im innerstaatlichen Recht hinaus, ist aber andererseits das Verifikationskriterium für eine rechtsprinzipiell angemessene Ausprägung von Allgemeinheit in den Verrechtlichungsformen die Ausprägung repräsentativer Strukturen, so muß zur Umsetzung des freiheitlichen Rechtsanspruchs im internationalen Recht eine Entsprechungsform zum Repräsentativsystem der innerstaatlichen Verfassung gefunden werden, die das Prinzip mit den Strukturbesonderheiten des supranationalen Rechts integriert. Diese Anforderung ist keine staatsrechtsbegriffliche, sondern eine rechtsapriorische12. Zur Einlösung dieses Konstruktionsanspruchs ist es nicht hinreichend, repräsentative Willensbildungsstrukturen des Vertrages aufzuzeigen. Repräsentativität, so ist gezeigt worden, kann in unterschiedlicher Intensität verwirklicht sein, und die Anforderungen an den Repräsentationsmodus differieren nach der zu bewältigenden Regelungsaufgabe. Auch exekutivische Normsetzungstätigkeit artikuliert einen repräsentativen Gehalt, wenngleich dieser zur Legitimierung materiell gesetzesbedürftiger Regelungen nicht hinreicht13. Um den Vertrag seinem legitimatorischen Vermögen und den ihm in Abhängigkeit davon zuzuweisenden Regelungsgegenständen auch zum staatsrechtlichen Normensystem in ein Verhältnis setzen zu können, muß deshalb mit der Charakterisierung des vertragstypischen Willensbildungsprozesses auch eine Relationsbestimmung zu den staatsrechtlichen Normebenen einhergehen. Hier sind zwei konstruktive Alternativen darzulegen: Zum einen die Möglichkeit, den Vertrag als Verfassung aufzufassen, zum anderen den Vertrag als gemeinschaftsrechtliches Gesetzessurrogat, d. h. als Ersatz für die einfachgesetzliche Regelungsebene des innerstaatlichen Rechts aufzufassen. Dabei wird sich zeigen, daß der Vertrag eher Mischformcharakter als den einer eindeutig zuzuordnenden Handlungsform hat14.

12 Ähnlich, allerdings mit dem Demokratieprinzip als sedes materiae Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 10: „legitimacy of each level of political governance […] originates with – and must be founded in – the will of the people affected“. 13 14

s. o., Kap. 2, IV. 2.

Ähnlich Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 56: „zahlreiche technische und administrative Vorschriften [...], die nicht materiell verfassungswürdig sind“.

168

Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

II. Die gesetzessurrogierende Dimension des Gemeinschaftsvertrages Die Möglichkeit einer konstitutionellen Systemposition des Vertrages im supranationalen Verbund versteht sich ausgehend vom staatsrechtlichen Rechtsregime – ungeachtet seiner statustheoretischen Bestimmung im einzelnen – nicht von selbst. Der grundgesetzlichen Völkerrechtskonzeption läßt sich vielmehr eine unmittelbare Parallele zwischen den Maßstäben innerstaatlicher Gesetzesvorbehalte und der Vertragsbedürftigkeit entsprechender Regelungsgegenstände entnehmen, von der ausgehend der Vertrag auf einer normhierarchischen Ebene mit den innerstaatlichen Gesetzen einzuordnen wäre. Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG gilt das Erfordernis einer Ratifikation für alle „gesetzesinhaltlichen Verträge“15, d.h. alle auf solche Regelungsmaterien gerichteten Vertragsschlüsse, die innerstaatlich einer gesetzesförmigen Behandlung bedürften. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klingt von Anfang an eine auch der Formulierung nach auffällige Parallele zwischen staatsrechtsinternem Gesetzesvorbehalt und Vorbehalt ratifikationsvertraglicher Regelung im zwischenstaatlichen Rechtsverhältnis an16. Das Grundgesetz geht mithin davon aus, daß die innerstaatliche Differenzierung nach gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungsformen die maßstabsbildende Systemreferenz für die Differenzierung zwischen völkerrechtlichen Verträgen und bloßen Verwaltungsabkommen darstellt. Damit prägt die grundgesetzliche Betrachtungsperspektive grds. eine handlungsformhierarchische Stellung des Vertrages als völkerrechtlichem Gesetzessurrogat vor17. Der Grund hierfür liegt nach der Ratifikationsvorschrift des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG auf der Hand: Über die Rückbindung an ein parlamentarisches Zustimmungsgesetz wird völkerrechtlichen Verträgen eine staatstheoretisch gesetzesäquivalente Willensbildungsstruktur zugeschrieben, die es rechtfertigt, den völkerrechtlichen Vertrag – vermittelt über das Zustimmungsgesetz – als eine an das Gesetz angenäherte Handlungsform zu begreifen, die zwar im zwischenstaatlichen Verhältnis andere – teils weitergehende – Rechtsfolgen auslöst18, jedoch in gleicher Weise wie ein parlamentari15 So die treffende Bezeichnung von Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2002, § 27 I, S. 135; der Begriff der Gesetzesinhaltlichkeit kennzeichnet im wesentlichen den gleichen Sachverhalt, der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als „materielle Gesetzesbedürftigkeit“ bezeichnet wird. 16

Vgl. bereits BVerfGE 1, 372, 380: „wesentlich und unmittelbar“.

17

Diese Einordnung ist zunächst nur legitimationstheoretisch, d.h. in bezug auf die vertragsgenerierenden Willensbildungsmechanismen zu verstehen. Geltunglogische Vorrangverhältnisse, insbesondere i.S.d. Art. 25 GG, bleiben hiervon zunächst unberührt. 18 Zum Wesen vertragstypischer Geltung und der gesetzestranszendierenden Bedeutung koordinativer Geltung vgl. unten, Kap. 3, III. 3. b).

II. Gesetzessurrogierende Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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sches Gesetz als authentischer Ausdruck des Gemeinwillens zu begreifen ist. Bei solchen Regelungsgegenständen ergibt sich der einzige, freilich konstruktiv entscheidende Unterschied zwischen innerstaatlich-gesetzesförmiger und zwischenstaatlich-vertragsförmiger Handlungsform daraus, daß staatliches Willensbildungsvermögen im Außenverhältnis durch ein Wechselseitigkeitsverhältnis den Kontext des reinen Selbstbezugs überschreitet und deshalb auf ein voluntatives Korrelat auf seiten des Kontrahenten angewiesen ist. Im Vertrag schlägt sich diese Koordination normativ nieder. Bereits aus den positivrechtlichen Anknüpfungspunkten heraus läßt damit sich die Vertragsgeltung als Staatswillensbildung auf einen in wesentlichen Punkten verwandten Geltungsgrund zurückführen wie der gesamte Bereich staatlich-gesetzesförmiger Normsetzung. Innerstaatliche Normgebung ist Willensartikulation nach innen in vollkommener Selbstbestimmung; zwischenstaatliche Vertragseingehung ist Willensartikulation nach außen, die aber letztlich aus dem gleichen Willensbildungsvermögen des Staates seine Verbindlichkeit gewinnt, die die innerstaatliche legislative Handlungsfähigkeit begründet19. Die geltungstheoretische Hochstufung des gemeinschaftsrechtlichen Vertrages gegenüber dem konventionellen, staatstheoretisch begründeten Völkerrecht bedarf damit einer Darlegung aus der Strukturbesonderheit des Gemeinschaftsrechts. Die handlungsformhierarchische Neubestimmung der Vertragsstellung im supranationalen Verbund bedarf keiner vollkommenen Überwindung dieser konventionellen völkerrechtlichen Ausgangsposition. Einzelne Bestandteile des Gemeinschaftsvertrages dürften vor dem Hintergrund einer materialen Kennzeichnung weniger Verfassungsqualität als einen konventionellen gesetzessurrogierenden Normstatus dokumentieren20. Dies sind in zunächst lediglich subtraktiver Bestimmung all diejenigen primärrechtlichen Bereiche, die nicht im folgenden21 als materielle Bestandteile der Gemeinschaftsverfassung charakterisiert werden, sondern in denen das Vertragsrecht – ungeachtet geltungslogischer Besonderheiten – weitgehend die herkömmliche Funktion unmittelbarer zwischenstaatlicher Eigenregelung qua Vertrag dokumentiert, ohne daß es sich bei diesen Regelungen um materiell konstitutive Prinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung handelte. Eine Zuordnung jeder einzelnen primärrechtlichen Bestimmung dürfte en detail schwierig sein, ist jedoch für die normsystemati-

19 Zur ausführlichen geltungstheoretischen Einordnung des internationalen Vertrages sogleich unten, Kap. 3, III. 3. b). 20 Eine Möglichkeit innerprimärrechtlicher Differenzierung zwischen Verfassungsrecht und Unterverfassungsrecht erwägt auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 341; vgl. dazu auch Herwig Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 80 ff. 21

Dazu sogleich unten, III.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

sche Klärung auch nicht erforderlich. Vielmehr genügt hier die Feststellung einer ambivalenten funktionalen Stellung des Vertrages, der sich einerseits – konventionellem Völkerrecht entsprechend – in all denjenigen Bereichen als typische Handlungsform zur Bewältigung des normalen materiell gesetzesbedürftigen Regelungsbedarfs darstellt, die nicht – den Besonderheiten des supranationalen Verbunds und seinen Konstitutionalisierungserfordernissen gemäß – als genuiner Ausdruck einer spezifisch supranationalen Verfaßtheitsform erscheinen.

III. Die konstitutionelle Dimension der Handlungsform des Gemeinschaftsvertrages

1. Verfassungsbegriffliche Vorgaben: Zwischen etatistischem und funktionellem Verfassungsverständnis a) Weitaus größere konstruktive Begründungsschwierigkeiten gegenüber einer normsystematisch gesetzeskorrespondierenden Position des Vertrages weist das Unterfangen auf, das Konvolut der Gemeinschaftsveträge – jedenfalls Teile derselben – als Gemeinschaftsverfassung in einem normprinzipiellen Verständnis auseinanderzusetzen. Die Bestimmung konstitutioneller Elemente der Handlungsform des Gemeinschaftsvertrages sieht sich einer Thematik ausgesetzt, die von großer Aktualität und entsprechend quantitativ unüberschaubarer Meinungsbeiträge geprägt ist. Etwa seit Mitte des Jahres 2000 hat die Debatte um die institutionellen Reformen der kommenden Regierungskonferenzen nunmehr – nach einer langen Phase erheblicher Zurückhaltung im Umgang mit Begriffskategorien, die einen Anklang an staatsähnliche Strukturen nahelegen22 – die Reflexion auch über das systematische Verhältnis von jurisprudentieller Kategorienbildung und politischem Problemlösungsbedarf in das Zentrum des Interesses zurückbefördert. Praktischen Ausdruck findet diese Neubesinnung in den gegenwärtigen Konstitutionalisierungsbemühungen des Post-Nizza-Prozesses, insbesondere den zur Ratifikation anstehenden Ergebnissen des Verfassungskonvents23.

22

Offener gegenüber staatsorganisatorischen Parallelen jedoch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 32 ff. 23 Dazu Oppermann, Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, DVBl. 2003, S. 1 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

171

Die Auseinandersetzung um die seit langem im Schrifttum präsente Frage24 nach Verfaßtheit und Verfaßbarkeit der Europäischen Union ist zu einem nach wie vor erheblichen Umfang von der Auffassung getragen, die Europäische Union sei gegenwärtig nicht verfaßt, nicht vollkommen verfaßt oder zumindest einer weiteren Konstitutionalisierung bedürftig. Wenn auch die Zweckmäßigkeit von Explikationen bestimmter Verfassungsgehalte durch die vom Verfassungskonvent in Angriff genommene Grundsatzrevision unzweifelhaft ist, kann nicht übergangen werden, daß die normsystematische Verortung der gegenwärtigen gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen hinter den weit ausholenden politischen Absichten zurückbleibt: Vorrangig gegenüber einer Fortentwicklung der Europäischen Union durch ihre Konstitutionalisierung erscheint aus rechtswissenschaftlicher Sicht eine Bestandsaufnahme hinsichtlich des gegenwärtigen spezifischen Verfaßtheitsstatus25. Obwohl trotz aller Kontroverse um die Beurteilung der Verfassungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Europäischen Union eine weitgehend meinungsübergreifende Einigkeit besteht, daß die Verfassungsdebatte ohne eine vorrangige Klärung des Verfassungsbegriffs kaum sinnvoll führbar erscheine26, läßt sich nicht konstatieren, daß die vorfindlichen Beiträge überwiegend von einer solchen 24

Vgl. nur Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1677; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff.; Günther Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, NJW 2000, S. 46; Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, S. 1065, 1069; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 28 ff.; Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997, S. 1 ff.; Steinberg, Grundgesetz und europäische Verfassung, ZRP 1999, S. 365 ff.; Oppermann, Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, JZ 1999, S. 317, 321; ders., Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, DVBl. 2003, S. 1 ff.; Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 292 ff.; Habermas, Remarks on Dieter Grimm’s ‚Does Europe Need a Constitution?‘, 1 ELJ 303 (1995); Bieber, Steigerungsform der Europäischen Union: Eine europäische Verfassung, in: Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 291 ff.; Pernice, German Constitution and „Multilevel Constitutionalism“, in: Riedel (Hrsg.), German Reports on Public Law, International Congress on Comparative Law Bristol 1998, S. 43 f.; Rupp, Europäische „Verfassung“ und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), S. 269 ff.; Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, S. 268, jeweils m.w.N. 25

Vgl. auch Pernice, Eine neue Kompetenzordnung für die Europäischen Union, WHI-Paper 15/02, www.whi-berlin.de/pernice-kompetenzordnung.htm, S. 27: Man solle das Rad nicht neu erfinden, sondern sich auf die Optimierung vorhandener Strukturen konzentrieren. 26 Vgl. insbesondere Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1677; auch Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm – erläutert am Beispiel der Art. 105 ff. GG, Der Staat 11 (1972), S. 161 ff.; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff.

172

Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Begriffsklärung ihren Ausgang nähmen. Allenfalls findet sich bei verfassungspolitischen Anregungen der Hinweis, daß der zugrunde gelegte Verfassungsbegriff nicht juristisch-formal verstanden werde27. Sobald sich hingegen die Verfassungsdiskussion auf die Ebene der Klärung begrifflicher Voraussetzungen begibt, erweckt sie den Anschein, in großen Teilen stärker von implizierten Prämissen und von einer Einbringung intuitiver konstitutioneller Vorauffassungen als von einer Betrachtung des Verfassungsbegriffs unter einer neutralen analytischen Betrachtung seiner legitimitätsbezogen kategorialen Bedeutung her präjudiziert zu sein. Daran hat sich durch die Instituierung des Verfassungskonvents nicht viel geändert; vielmehr scheint es bisweilen, daß die praktische Tätigkeit des Herausarbeitens materieller Verfassungsinhalte die Frage nach der Verfaßtheitsform zusätzlich marginalisiert. Dies erschwert die Klärung einer Frage, die hier im Grunde nur vorbereitenden Charakter gegenüber dem Anliegen handlungsformsystematischer Einordnung hat. b) Ein Minimalkonsens über den Verfaßtheitsstatus der europäischen Union läßt sich darin feststellen, daß eine funktionale Verfassungsdimension den Gemeinschaftsverträgen allgemein zuerkannt wird28. Begriffliches Modell hierfür sind – meist eher implizit als ausdrücklich thematisiert – allgemeine 27

So J. Fischer, Bulletin der Bundesregierung 2/1999, S. 11: es gehe ihm „eher um Inhalte und Ziele als um die Aufarbeitung rechtlicher Grundlagen“. 28

Etwa Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 521; Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsgerichtsfunktionen – Verfassungsprozeß im EWG-Vertrag, 1987, S. 52 ff.; von Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: ders. (Hrsg.), Die europäische Option, 1993, S. 97 ff., 102 ff. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581, 584 ff.; Heintzen, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1994, S. 35, 39 ff.; Lecheler, Braucht die „Europäische Union“ eine Verfassung? Bemerkungen zum Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 9. September 1993, GS Grabitz 1995, S. 393, 398; Schwarze, Verfassungsentwicklung in der EG, in: Bieber/Schwarze (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 15 ff.; ders., Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz als Ordnungspostulate der Europäischen Gemeinschaft, FS Maihofer, 1988, S. 529, 532. Das gängige Begriffsverständnis divergiert in dieser Frage. Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 42, spricht demgegenüber zur Kennzeichnung des genannten funktionellen Verfassungsbefundes von „materieller“ Verfassungsqualität. Ähnlich sind auch die Ansätze der Rechtsprechung des EuGH, vgl. Generalanwalt Lagrange in der Rs. 8/55, Slg. 1955, S. 266 f. – Fédéchar. Dagegen spricht, daß für die Qualität einer Verfassung in materiellem Sinne es gerade – über die funktionale Dimension hinaus – auf die Klärung der einem Verfassungsbegriff zukommenden ordnungsparadigmatischen Bestimmungsgehalte ankommt. Nach hier vertretenem Begriffsverständnis ist die europäische Gemeinschaftsverfassung als materielle Verfassung durch die mit dem Begriff der Komplementarität einhergehenden strukturdeterminierenden Wirkung auch in bezug auf den pouvoir constituant und die mitgliedstaatliche Regelungsbalance gekennzeichnet, dazu unten, Kap. 3, II. 4. b).

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

173

funktionsbezogene Definitionen. Hesse etwa definiert die Verfassung als Normtypus, der die Funktion der Festlegung von Rahmenbedingungen zur Ausübung von Rechtsherrschaft in einem Verband erfülle29. Spezifisch europarechtliche Ausprägungen eines eher funktionalen Verfassungsverständnisses beziehen sich inhaltlich insbesondere darauf, daß die Gemeinschaftsverträge die autonome Ausübung von Hoheitsbefugnissen regelten30. Ihnen sind für den Verfassungsbegriff keine weiterreichenden Anforderungen zu entnehmen, aus denen heraus eine Konstitution in Vertragsform Probleme aufwürfe. Verfassungskriterium in diesem Sinne ist dann lediglich die „rechtliche Determiniertheit eines Gemeinwesens“, seine „Organisiertheit“31. Daß EG-Vertrag und EU-Vertrag konstitutionelle oder doch zumindest quasikonstitutionelle Funktionen erfüllen und entsprechend verfassungstypische Inhalte zum Regelungsgegenstand haben,32 die die inhaltliche Funktion der Verträge dokumentieren, „Gründungsurkunden einer Rechtsgemeinschaft“33 und damit Verfassungsakte zu sein34, steht demnach nicht zur Diskussion. Auf dieser Grundlage kann festgestellt werden: „Die Europäische Union braucht keine Verfassung, sie hat bereits eine“35. Das funktionsorientierte Verfassungsverständnis kann sich zudem darauf stützen, viele zentrale Prinzipien des Primärrechts materialiter als Verfassungsbestandteile zu charakterisieren: Die Gemeinschaftsverträge legen die organisatorischen Grundlagen36, institutionelle Ausstattung, das Wertefunda-

29 So Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, Rdnr. 24. 30 Vgl. dazu C.-F. Ophüls, Zur ideengeschichtlichen Herkunft der Gemeinschaftsverfassung, in: FS Hallstein 1966, S. 387 ff.; Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 40 f. 31 Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 49. 32 So bereits BVerfGE 22, 293, 296 mit Blick auf die vom Vertrag konstituierte „neue[…] öffentliche […] Gewalt“: „gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft“. 33 Vgl. die entsprechenden Ausführungen des EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, S. 1339 ff; Rdnr. 23 – Les Verts: Vertrag als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“. 34 Vgl. nur Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 319 unter Verweis auf H. Lesguillons, L’application d’un traité instituant la CEE, Paris 1968. 35 Oeter, Die Genialität der Verträge, F.A.Z. vom 6. September 2001, S. 8; ebenso Pernice, Eine neue Kompetenzordnung für die Europäischen Union, WHI-Paper 15/02, www.whi-berlin.de/pernice-kompetenzordnung.htm; Herzog, Demokratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen, Bull. BReg. 25/1999, S. 242. 36 Dazu Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 41.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

ment und die hauptsächlichen37 Gemeinschaftsprinzipien fest und bilden damit das normative Rückgrat, die institutionenstiftende Grundnorm für nachgeordnete Herrschaftsausübung im supranationalen Rahmen durch selbständige Sekundärrechtsetzung38. Typische Prinzipien der Verträge in dieser Eigenschaft sind bereits de lege lata insbesondere die Grundfreiheiten39; die Organisationsstruktur40, das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Bestand an Grundwerten (Grundfreiheiten und Menschenrechte als gemeinsamer Wertegrundbestand)41, die Kompetenzordnung im innergemeinschaftsrechtlichen Organbezug sowie das Handlungsformsystem; außerdem diejenigen Prinzipien, mit denen bereits in der bisherigen Gemeinschaftsrechtsordnung eine Verhältnisbestimmung zum Recht der Mitgliedstaaten stattfindet; so etwa das Subsidiaritätsprinzip als eine den Staatsstrukturprinzipien ähnliche42 Gemeinschaftsstrukturbestimmung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, sowie die normativ-materialen Hauptbestandteile der „Wirtschaftsverfassung“, die namentlich in den binnenmarktbezogenen Vorschriften ihren Hauptausdruck finden43. 37 Zur Bedeutung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen außerhalb des EG-Primärrechts als Grundlage gemeinschaftsrechtlicher Strukturprinzipien vgl. U. Everling, Der Beitrag des EuGH zur Entwicklung der Gemeinschaft, in: Magiera (Hrsg.), Entwicklungsprinzipien der europäischen Gemeinschaft, 1985, S. 195, 203; Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1996, S. 125, 128 f. Diese Beiträge stellen namentlich auf die konstitutionelle Qualität des vom EuGH richterrechtlich geschaffenen ungeschriebenen Gemeinschaftsverfassungsrechts ab, was die Thematik in den allgemeinen normsystematischen Problemkreis der Verhältnisbestimmung von ungeschriebenem und kodifiziertem Recht einordnet. In der Tat ist nicht zu bestreiten, daß die materiellen Konstitutionalisierungsgehalte der Gemeinschaft namentlich in der Frühphase der Integration nicht erschöpfend im vertraglichen Primärrecht niedergelegt waren und den ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen der Europäischen Union daher ein besonderes Gewicht zukam. Für die Verfassungsqualität der Handlungsform des Vertrages folgen aus der Feststellung der Existenz außervertraglicher Verfassungsprinzipien indes keine normtheoretischen Besonderheiten, abgesehen davon, daß alle drei Revisionskonferenzen seit Maastricht von einer fortschreitenden Verlagerung der Verfassungsprinzipien in das geschriebene Recht gekennzeichnet waren. 38 Hierauf abzielend auch bereits C.-F. Ophüls, Zur ideengeschichtlichen Herkunft der Gemeinschaftsverfassung, FS Hallstein 1966, S. 387 ff. 39 Art. 39, 43, 49, 56 EG. 40 Namentlich Art. 249 ff. EG. 41 Zunächst vorrangig durch den EuGH in richterlicher Rechtsschöpfung herausgeprägt; grundlegend hierfür etwa EuGH, Slg. 1969, S. 419, 425; Slg. 1974, S. 491, 507 – Nold. 42 Dazu ausf. unten, Kap. 5, IV. 43 Übergreifend zu den Elementen eines materiellen Verfassungsbegriffs als Summe der grundlegenden, das öffentliche Leben prägenden und die Grundmuster des Zusammenlebens bestimmenden organisatorischen Normen von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 101; Isensee, Staat und Verfassung, HdBStR, Band 1, 1987, S. 591, 638 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

175

Eine inhaltliche Bestimmung der Verfassungsprinzipien der Europäischen Union im einzelnen steht aber in einer auf Normsystematisierung abzielenden, insoweit formal-allgemeinen Fragestellung nicht im Vordergrund. Die materiale Dimension des Verfassungsbegriffs, also die Frage, welche Inhalte die supranationale Verfassung aufweisen muß, um die Anforderung der Konstitutionalisierung der Europäischen Union einzulösen, ist einerseits Gegenstand der Erörterung im Zusammenhang mit den Kompetenzprinzipien im fünften Kapitel, andererseits anhand des Strukturkennzeichens der Komplementärverfassung unten näher zu bestimmen. c) Die Existenz inhaltlicher Verfassungsbestandteile in Vertragsform wirft die Frage nach dem normsystematischen Genügen einer bloß funktionalen Verfassungskennzeichnung der Gemeinschaftsverträge auf. Der handlungsformtheoretische Ertrag einer funktionalen Vertragsverfassung für die Frage, ob in der Übernahme von Verfassungsfunktionen durch den Vertrag eher ein normtheoretisch unangemessenes Provisorium oder eine spezifische Angepaßtheit an die Erfordernisse und Strukturbesonderheiten einer supranationalen Union, gewissermaßen eine „Verbandsadäquanz“ der Verfaßtheitsform zu sehen sei, bleibt nämlich kontrovers. Pointiert ließe sich sagen, daß gerade in der Einigkeit über den (bloß) funktionalen Verfassungsgehalt sich der Streitstand um das angemessene Verfassungsverständnis niederschlägt. Die vorauszusetzende Begrifflichkeit konkretisiert sich in der Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung von formalen und funktional-inhaltlichen Elementen als Mindestausstattung eines Verfassungsbegriffs, der auf die Europäische Union applizierbar ist, ohne als bloßes Provisorium gegenüber einer „Verfassung im Vollsinne“44 stigmatisiert zu sein. Dies ist der eigentliche Gegenstand und Grund der Auseinandersetzung mit den divergierenden staats- und völkerrechtlichen Verfassungsbegriffen. Maßgebend für die in weiten Teilen fehlende Vergewisserung über die Begrifflichkeit mag die Abwesenheit einer konsistenten Rechtstheorie sein, auf die die Erscheinungsformen des Gemeinschaftsrechts zurückbezogen werden45. Die zahlreichen Beiträge zur Verfassungsbedürftigkeit der Europäischen Union dürfen deshalb nicht ohne Zwischenüberlegungen in den hier maßgeblichen Kontext eingebracht werden; dem stehen im wesentlichen drei Relativierungsüberlegungen entgegen.

44 45

Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581, 586.

Das konstatiert auch Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 8 f.: Viele Positionen beschränkten sich auf eine Rückführung auf die leading cases des EuGH und eine genetische Autonomiebegründung für das Gemeinschaftsrechtssystem, ohne Strukturen, Elemente und Funktionen im einzelnen zu untersuchen.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Zum einen ist die derzeit anhaltende Verfassungsdiskussion in ihrem Erkenntnisanliegen nicht in erster Linie normsystematisch orientiert46. Die Fragestellung nach der Verfassungsbedürftigkeit der Europäischen Union reflektiert nicht das Bestehen oder die Abwesenheit einer konstitutionellen Dimension in der legislativen Handlungsform Vertrag47, sondern versteht sich als Thematisierung materialer Gehalte einer europäischen Verfassungsordnung, die als erforderlich, aber gegenwärtig noch defizient angesehen werden. Ob diese Behauptung formaler Verfaßtheitsdefizite der Europäischen Union berechtigt ist48, mag bezweifelt werden. Jedenfalls ergibt sich aus der Kontroverse um den Inhalt europäischer Konstitutionalisierung kein direkter Ertrag für die normsystematische Einordnung des Vertrages. Deutlich wird dies auch daran, daß die Diskussion um die Verfassungsbedürftigkeit der Europäischen Union die Frage nach dem formalen, legeshierarchischen Status einer solchen Verfassung de lege ferenda nach Abschluß des Verfassungskonvents weitgehend unthematisiert läßt49. Es wird sich deshalb mit der Verabschiedung der vom Konvent erarbeiteten neuen „Unionsverfassung“ unverändert das Problem stellen, zu den vorfindlichen europarechtlichen Handlungsformen, insbesondere dem geltenden Primärrecht einen konsistenten Systemzusammenhang zu formulieren, in der ein spezifisch vertragsüberschreitender Gehalt der „neuen“ Vertragsverfassung inhaltlich wie formal plausibel wird50. Zweitens muß der Verfassungsbegriff darauf Bedacht nehmen, daß die normsystematische Problematik der Form einer europäischen Konstitution nicht auf 46

Exemplarisch J. Fischer, Bulletin der Bundesregierung 45/1999, S. 481: Man solle sich „von einem strikten rechtlichen Verständnis freimachen“; unter Verfassung verstehe er „eher eine Zusammenstellung der Werte und der Grundprinzipien des Zusammenlebens einschließlich des Funktionierens der Europäischen Union als Konstrukt sui generis“. 47 Eine bemerkenswerte Ausnahme macht hier die Stellungnahme des EuGH vom 14. Dezember 1991, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079: „stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.“ 48 Zweifelnd Oeter, Die Genialität der Verträge, FAZ vom 17. September 2001, S. 8; ausführlich zum Verfaßtheitsproblem auch Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1677 ff., m.w.N.; Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung, Der Staat 41 (2002), S. 359 ff. 49 Hierzu finden sich in der Regel nur allgemeine Hinweise des Inhalts, daß die künftige Verfassung vorrangig gelten solle. In welcher Weise dieser Vorrang geltungslogisch konstituiert wird und wie er sich namentlich vom „einfachen“, gleichfalls vertragsförmigen Primärrecht soll abgrenzen lassen, bleibt gegenwärtig noch offen. 50 Zweifelnd gegenüber dem Sinn der Verfassungneugebung auf der Grundlage des Konvents Pache, Eine Verfassung für Europa – Krönung oder Kollaps der europäischen Integration?, EuR 2002, S. 767 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

177

den „sinnbeladenen Hochtitel […] der staatstheoretischen Tradition“51, sondern ein Verfassungsanliegen eigener Art hin angelegt ist. Defizite der Rechtsform Vertrag in seiner Tauglichkeit als Verfassungsträger können deshalb einerseits nicht aus der bloßen Abwesenheit staatsverfassungstypischer Elemente begründet werden52. Im Gegenteil spiegelt der nichtstaatliche Verfaßtheitsstatus der Europäischen Union ihre verbandshierarchische Unterordnung unter den souveränen pouvoir constituant der Mitgliedstaaten; die Nichtstaatlichkeit vertraglicher Verfaßtheitstypizität erweist sich dadurch als normative Anpassungsleistung der Gründungsurkunde an das Charakteristikum einer komplementären Ordnung53. Drittens relativiert – auch unabhängig von der fehlenden Staatsqualität der Europäischen Union – der Mehrebenencharakter der europäischen Herrschaftsordnung den Anspruch an die zu bewältigende Konstitutionalisierung. Einige verfassungsbegriffliche Auffassungen sind auf ein unitarisches, zentralistisches Gebilde hin orientiert54 und deshalb schon kaum in der Lage, föderale Spielarten der Verteilung von Souveränität auf unterschiedliche Ebenen zu erklären. Sie verlangen insoweit nach einem Abgleich mit dem Souveränitätsproblem, von dem sie abhängig sind. Vollends unfähig sind sie aber, die normative Artikulation von Ordnungsbedingungen einer in eine Mehrebenenstruktur eingebetteten Teilebene als Konstitutionalisierungsleistung zu begreifen55. Föderale Systeme im weiten Sinne sind jedoch durch die in ihnen vorhandene Ausdifferenzierung von Herrschaftsverbänden durch jeweils selbständige normative Teilhierarchien gekennzeichnet. Diesen normhierarchischen Subsystemen korrespondiert eine jeweilige Teilverfaßtheit, die immanent dadurch beschränkt

51

Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 521. Ebenso Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 220 ff. 53 Dazu im einzelnen unten, II. 2. a). 54 Vgl. zu den von den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen bedingten Unterschieden in bezug auf die Verfassungsbegriffsbildung nur Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000, S. 463 ff. 55 Kritisch gegenüber einem solchen Zugriff und für ein „postnationales Verfassungskonzept“ auch Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148, 155 ff. unter Bezugnahme auf Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998, S. 91 ff.; ebenso G. F. Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates. Einige Bemerkungen zum Legitimationsproblem der Europäischen Union, in: Heyde/Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa? Zur Legitimation einer europäischen Rechtsordnung, 2000, S. 65, 76 ff.: „postnationale Konstellation oder die EU als dynamisches Mehrebenenkonzept“; vgl. auch Zürn, The State in the Post-National Constellation – Societal Denationalization and Multi-LevelGovernance, ARENA Working Papers WP 35/99, www.arena.uio.no. 52

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

ist, daß die jeweiligen Verfassungsteilordnungen in ihrem Geltungsgrund nur auf die Spitze der Normenhierarchie im jeweiligen Teilverband zurückführbar sind. Gleichzeitig stehen die einzelnen (Teil-)Verfassungen notwendig in einem Verhältnis wechselseitiger Einwirkung. An der supranationalen Teilrechtsordnung läßt sich das spezifisch erkennen: Das europäische Verfassungsrecht baut auf den gemeinsamen Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten auf56, ist aber mit seiner legislativen Handlungsformsystematik jedenfalls so weit verselbständigt, daß die einzelnen „autonom“ gesetzten Rechtsakte des Sekundärrechts sowie die subdelegierten Durchführungsrechtsakte der Kommission und der Komitologieverfahren in ihrem Geltungsgrund auf die primärrechtlichen Verträge zurückführbar sind, obwohl – wie sich in der weiteren Erörterung zeigen wird – diese nicht den Status eines normativen Letztgrundes aufweisen. Legt man diese methodischen Restriktionsüberlegungen der Betrachtung des Verfassungsaspekts des Unionsvertrages zugrunde, so zeigt sich, daß sowohl in ihren affirmativen als auch in ihren kritischen Ausprägungen die weitaus meisten Stellungnahmen zu den notwendigen Elementen eines Verfassungsbegriffs um die Frage kreisen, wie stark die Kategorien Verfassung und Staat miteinander verbunden sind und in welchem Maße der Begriff der Verfassung in gemeinschaftsrechtlicher Absicht hiervon abzulösen ist.

a) Staatsbezogene Verfassungsbegriffe Eine in sich nicht homogene, aber insgesamt starke Auffassung in der Literatur kann unter dem Schlagwort staatsorientierten Verfassungsverständnisses zusammengefaßt werden57. Als Grundlage einer Binnendifferenzierung der unterschiedlichen Positionen zum Staatsbezug des Verfassungsbegriffs läßt sich unterscheiden, daß hierbei entweder ein explizit staatsbezogener Verfassungsbegriff zum Ausgangspunkt. oder zumindest argumentationsinhärent das Leitbild staatlicher Verfaßtheit als Referenz genommen wird Explizit staatsbezogen in diesem Sinne sind alle solchen Diskussionsbeiträge, die den Prozeß einer Konstitutionalisierung Europas mit der Staatswerdung Europas gleichsetzen und schon aus diesem Grunde die Frage nach der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung abschlägig beantworten. Prominent steht hierfür Kirchhof, der Verfaßtheit mit Staatsverfaßtheit weitgehend identi56 Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1677, 1678. 57 So auch die Kategorisierung von Schwarze (Fn. 56), S. 1677 ff.

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fiziert und resultierend vor einer Konstitutionalisierung Europas sogar warnt, da die Verbindlichkeit der nationalen Verfassungsordnungen durch konkurrierende Verfassungen gefährdet sei58. Auch Grimm thematisiert zwar den Verfassungsbegriff unter der Notwendigkeit, sich über den Staatsbezug und seine kategoriale Notwendigkeit oder Verzichtbarkeit Rechenschaft abzulegen; er kommt aber zum Ergebnis, daß Verfaßtheit auf ein Volk bezogen sein müsse und in Ermangelung eines europäischen Volkes auch eine europäische Verfassung nicht etablierbar sei59. Die Verträge als Verfassung dokumentierten vielmehr eine Form der Fremdkonstitution, welche nicht durch die europäischen Völker gemeinsam, sondern in Vertretung derselben durch die Mitgliedstaaten vorgenommen werde60. Staatlichkeit erscheint hierin über die postulierte Notwendigkeit eines (Staats-)Volkes als notwendige Verfassungsbedingung. Die Konstitutionalisierung Europas wird mit der Staatswerdung Europas gleichgesetzt und aus diesem Grund als der bisherigen Gemeinschaftsstruktur zuwiderlaufend abgelehnt61. Rupp betrachtet die Staatsbezogenheit des Verfassungsbegriffs unter dem Aspekt des Zusammenhangs zwischen demokratischer Legitimation und Verfaßtheit62, die er exklusiv im staatlichen Kontext verortet. Bei Lecheler63 und Seidel64 liegt in der Verfassung für die EU ebenfalls ein Schritt zu einer neuen Staatlichkeit. Implizit bezieht sich eine andere Gruppe von Positionen auf die Verbundenheit von Staat und Verfassungsbegriff, die die Unvollkommenheit europäischer Verfassungsbildung konstatieren und dabei implizit auf ein Modell „vollkom-

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P. Kirchhof, Zu schnelle Vereinheitlichung gefährdet Europa, Süddeutsche Zeitung Nr. 275 v. 27./28. Nov. 1999, S. 14: „Deswegen ist es so wichtig, nicht von einer europäischen Verfassung zu sprechen, weil nur so die Verbindlichkeit der erprobten Verfassungsordnungen, die ihren Beitrag zur europäischen Integration leisten, aufrecht erhalten bleiben“. Ders., HdBStR, Bd. VII, § 183 A 1, Rdnr. 11; betont den entscheidenden Unterschied eine Gemeinschaftsverfassung zur mitgliedstaatlichen Verfassungslage aufgrund deren fehlender Staatsqualität. Diese Differenz aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, aber gleichfalls am Kriterium der fehlenden Staatsqualität festmachend H. P. Ipsen, HdBStR, Band VII, § 181, B I Rdnr. 12. 59 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff. 60 Grimm, Vertrag oder Verfassung. Die Rechtsgrundlage der Europäischen Union im Reformprozeß Maastricht II, StWStP 6 (1995), S. 509, 516 ff. Vgl. auch Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, S. 2. 61 Vgl. auch Schwarze (Fn. 56), S. 1682. 62 Rupp, Europäische „Verfassung“ und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), S. 269 ff. 63 Lecheler, Braucht die „Europäische Union“ eine Verfassung? Bemerkungen zum Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 9. September 1993, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz 1995, S. 393 ff. 64 Seidel, Basic Aspects of a European Constitution, Außenwirtschaft 1995, S. 221.

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mener“ Verfassung rekurrieren, das seinen Begriffselementen nach wesentlich von den Verfassungsfunktionen her geprägt ist, die der Verfassung typischerweise im Staat – damit aber nicht notwendigerweise als Verfassung als solcher – zukommen. Beispielhaft steht hierfür Isensee65; auch Carl Schmitt entwickelt in seiner Verfassungslehre ein Verfassungsverständnis, das vom Staatsbezug nicht separierbar erscheint66. Hierhin gehören aber auch alle solchen Ansätze, die – wie etwa Habermas67 – nach der Verfassungsnotwendigkeit für die Union fragen, die Frage nach dem status quo der Verfaßtheit aber übergehen und hiermit als unproblematisch voraussetzen, daß die gegenwärtige Rechtsform den Anforderungen an entwickelte Verfaßtheit zu genügen eben nicht in der Lage ist68. Hierzu zählen schließlich auch für sich genommen berechtigte Aussagen über die fehlende Bundesstaatlichkeit einer qua Vertrag verfaßten supranationalen Ordnung69 oder über die fehlende Staatsqualität der EU70. Insgesamt wird zwar von der staatsorientierten Betrachtungsweise durchaus anerkannt, daß die Europäische Union mit den Verträgen bereits eine Verfassung weitesten Sinnes habe71; gleichwohl liegt der Akzent der Bewertung in den staatsverfassungsbezogenen Stellungnahmen des Schrifttums auf der Betonung des Provisorischen, in der kontradiktorischen Gegenüberstellung von Verfassungsfunktion und der hierfür ungenügenden Rechtsform Vertrag, der eine genuine Konstitutionalisierung entgegenzusetzen sei72, und damit im Her65 J. Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdB StR Bd. I (1995), § 13 Rn. 1; § 19, Rdnr. 18; „Staat als Voraussetzung und Gegenstand der Verfassungsgebung“; s. auch Pernice, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer/P.-M. Huber (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, XI. Deutsch-Polnisches Verwaltungsrechtskolloquium, 2000. 66 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 3. 67 Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung? Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen, Zeit 27/2001. 68 Beispielhaft hierfür Habermas (Fn. 67). 69 Zu Recht betont Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 9, 19 f. die fehlende Bundesstaatlichkeit der Gemeinschaft. Weshalb sich Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 45, zur Annäherung an den Verfassungsbegriff der Gemeinschaft darauf bezieht, bleibt allerdings unklar. 70 Oppermann, Europarecht, 1999, § 11 I b Rdnr. 902 ff.; H. P. Ipsen, HdBStR Bd. VII, § 181, B I Rdnr. 12; Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in FS Doehring 1989, S. 179, 180. 71 Vgl. auch BVerfGE 22, 293, 296: die Verträge seien „gewissermaßen die Verfassung“ der Gemeinschaften. 72 Die durch die Regierungskonferenz von Laeken vorgenommene Einsetzung eines Verfassungskonvents dokumentiert die Wirkmacht dieser Auffassung; schließlich dokumentiert die Beauftragung eines Konvents selbst dort, wo diesem eine nur vorbereitende Funktion für einen späteren Konstitutionalisierungsakt zukommt, die Vorstellung,

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ausstellen von Defizienz73. Eine Verfassung der Gemeinschaft durch die bestehenden Verträge wird danach in eher metaphorischer Bedeutung als im juristischen Sinne anerkannt.

b) Internationalrechtliche Verfassungsbegriffe Dem stehen Positionen gegenüber, die die Europäische Union als bereits verfaßt betrachten, und zwar in einer institutionenadäquaten, nicht bloß provisorischen Form. aa) Konventionell international-rechtliches Verfassungsverständnis Positionen solcher Art werden einmal aus einer spezifisch völkerrechtlichen Betrachtungsweise heraus vertreten, die die genetisch internationalrechtliche Qualität der Gemeinschaftsrechtsordnung in den Vordergrund stellen und hieraus verfassungsbegriffliche Implikationen ableiten. Erstaunlicherweise entfaltet die Verfassungsbegrifflichkeit im Kontext konventionell völkerrechtlicher Anwendungsgegenstände74 weitaus weniger Kontroversen. Riccardo Monaco etwa sieht die Europäische Union in der Parallele zu internationalen Organisationen und den völkerrechtlichen Vertrag als die Normalform internationalrechtlicher Verfaßtheit75. Die völkerrechtliche Betrachtungsweise hat den Vorteil einer rechtsbegrifflichen Ablösung vom staatsfixierten Verfassungsdenken; sie kann sich darin auch philosophiegeschichtlich auf bedeutsame Konzeptionen beziehen. Namentlich in der Rechtslehre Immanuel Kants ist das Verständnis der Verfassung schon begrifflich in staatstranszendierender Offenheit gedaß bloße Vertragsrevisionskonferenzen auf Regierungsebene legitimatorisch defizitär seien. Zur „Konventsmethode“ auch unten, Kap. 5, IV. 73 Vgl. nur W. Pauly/M. Siebinger, Der deutsche Verfassungsstaat, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, 1999, S. 79 (88): „schon jetzt [werde] das europäische Primärrecht als Verfassung angesehen“ dies entspreche „aber dem modernen Verfassungsbegriff bei weitem nicht“. 74 Vgl. etwa Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 565 ff.; zur Anwendung auf das UN-System etwa B. Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto, 1998, S. 19 ff., 89 ff. 75 Le caractère constitutionnel des actes institutifs d’organisations internationales, in Mélanges Rousseau, Paris, S. 153-172; Cours général de droit international public, Recueil des cours de l’Académie de droit international, Bd. 125 (1968), S. 109 ff.; Les principes régissant la structure et le fonctionnement des organisations internationales, ibid., Bd. 156 (1977), S. 101 ff.; vgl. dazu auch Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 319, Fn. 3.

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dacht. Kant bezieht in sein Verfassungskonzept das internationale Recht mit ein und konzipiert Staats- und Völkerbundesverfassung in wechselseitiger Verwiesenheit und Abhängigkeit. Modell der völkerrechtlichen Verfassung ist der Föderalismus republikanischer Staaten, die in vertraglich-koordinativer Form sich im Wechselseitigkeitsverhältnis selbst verfassen76. Eine argumentative Anlehnung der Europäischen Union an Verfaßtheitszusammenhänge konventionellen internationalen Rechts erleichtert insofern die Plausibilisierung eines konstitutionellen Status. Im Sinne der kantischen Systematik interpretiert erscheinen die Gründungsverträge der Europäischen Union als internationalrechtliche Verfassung einer Föderation77, ungeachtet ihrer den bündischen Status überschreitenden Charakteristika. bb) Supranationale Verfassung in der „postnationalen Konstellation“ Schließlich läßt sich eine weitere Gruppe ausmachen, die vielleicht in der gegenwärtigen Diskussion die größte Bedeutung für sich beanspruchen kann. Diese umfaßt die gemeinschaftsrechtlichen Argumentationsansätze, die sich nicht mehr in der klassischen Autonomiethese H. P. Ipsens vom Gemeinschaftsrecht als autonomer Ordnung sui generis78 manifestieren, sondern seit den neunziger Jahren verstärkt in unterschiedlicher Akzentsetzung die Gemeinschaftsverfassung als Resultat unterschiedlicher konstruktiver Bausteine sehen und dementsprechend als supranationalitätstypische79, föderalismustypische80,

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Zum Begriff der internationalen Verfassung im Ausgang von Kant vgl. Höffe, Königliche Völker, 2001, insb. S. 227; ders., Kategorische Rechtsprinizpien, 1990, S. 249 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 67 ff. 77 Modellhaft hierfür der Zweite Definitivartikel zum Ewigen Frieden: Kant, EF, VIII, 354: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.“ 78 Vgl. dazu Jachtenfuchs, Die Europäische Union – ein Gebilde sui generis?, in: Wolf (Hrsg.), Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, 1997, S. 23; Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung? Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen, Zeit 27/2001; Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, 1999. 79 von Bogdandy, in: ders., Die Europäische Option, 1993, S. 107; ders., Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 61 ff. 80 Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Döhring, 1989, S. 179, 195 ff.; Laufer/Th. Fischer, Föderalismus als Strukturprinzip für die EU, 1996; Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff.; vgl. auch Capelletti/Seccombe/Weiler, General introduction, in: dies. (Hrsg.), Integration through law, Vol. 1 Book 1, S. 12 (auf der Grundlage eines Strukturvergleichs von USA und Gemeinschaft): „quasi-föderal“.

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kooperative, subsidiäre oder komplementäre81 Verfassung bzw. als unselbständigen Bestandteil eines neuartigen „multi-level-constitutionalism“82 zu typisieren versuchen83. Der möglicherweise bedeutendste, weil konstruktionslogisch grundsätzlichste Ansatz geht dabei von einer „postnationalen“ Verfassungsnotwendigkeit aus, die auf den Umstand des Monopolverlustes der Staatlichkeit in der Ausübung von Hoheitsgewalt entscheidendes Gewicht legt. Wenn die ausschließliche Anwendbarkeit des Verfassungsbegriffs auf Staaten nicht plausibel begründet werden könne, so müsse Verfaßtheit darauf bezogen sein, wo hoheitliche Autorität tatsächlich verortet sei, und sich hierauf institutionalisierend beziehen84. Die noch weitergehende, von Anne Peters vorgeschlagene „Verfassung durch Bewährung“ löst den Verweisungszusammenhang von Verfassung und Staatlichkeit vollkommen auf, unterscheidet sich aber, wie gezeigt, nicht nur verfassungsparadigmatisch, sondern auch legitimationsprinzipiell von dem hier zugrunde gelegten Verständnis und eignet sich deshalb nicht, um das hier zugrunde gelegte Repräsentationsverständnis mit einer supranationalen Ordnungsvorstellung zu verbinden. Diese neuen Formen eines originär an den Strukturbesonderheiten des gemeinschaftsrechtlichen Verfassungsverbundes orientierten Begriffsverständnisses beruhen in Teilen ihrerseits auf den konstitutionalistischen Begründungsansätzen, die bereits in der Frühphase der Integration die verfassungsrechtliche Dimension der Gemeinschaftsverträge herausgestrichen haben85; insoweit haf81 Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union – Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 207; Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, Der Staat 41 (2002), S. 332, 354 f.; Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 51 ff.; de Witte, International Agreement or European Contitution?, in: T.M.C. Asser Instituut (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 3, 13: „complementary constitution“. 82 Pernice, Multilevel Constitutionalism in the European Union, European Law Review 27 (2002), S. 511 ff. 83 Ausführlich zum Ganzen auch Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl., 2001; ders., Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, KritV 1995, S. 298-312. 84 Vgl. in dieser Richtung etwa Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 620; Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zur Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, S. 1065, 1066; K. Sobotta, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 30 ff.; Pernice, WHI 05/01, S. 9: „There is no more or other (legitimate) public authority than created by the constitution“. Zu den materialen Implikationen des von Pernice hiermit verbundenen Verfassungskonzepts und der Kritik hieran vgl. unten, III. 2. a) dd). 85 Dafür hat wiederum auch die Rechtsprechung des EuGH eine bedeutende, impulsliefernde Funktion. So ist bereits im Schlußantrag von Generalanwalt Lagrange in der Rs. 8/55, Slg. 1955, S. 266 f. – Fédéchar, die Qualität des Gemeinschaftsrechts angesprochen, daß „in Form internationaler Verträge abgeschlossen wurde und zweifelsohne ein solcher ist, von einem materiellen Gesichtspunkt aus betrachtet, darum nicht minder die Charta der Gemeinschaft darstellt“ [Hervorhebung vom Verf.]. Bezeichnend ist, daß

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tet ihnen keine Besonderheit gegenüber den funktionellen Verfassungsbegriffen an. Die ihnen zu entnehmenden Fortentwicklungsimpulse sind im Zusammenhang mit der konkreten Bestimmung des Geltungsgrundes der Gemeinschaftsrechtsordnung vorzunehmen. Im übrigen kommt es auf eine Konkordanzbildung zwischen staatsrechtlichem und supranationalem Institutionengefüge an.

c) Vom konstitutionellen Paradigmenstreit zu einem institutionenakzessorischen Verfassungsbegriff aa) Eine bekenntnisähnliche Einordnung der Verfassung als staatsbezogen oder völkerrechtsbezogen ist für die Normsystematisierung nicht zielführend. Weder emphatische Überwindungsrhetorik in bezug auf den Nationalstaat86 noch die Betonung der unersetzlichen substantiellen Sittlichkeitsgehaltes von Staatlichkeit87 geben in bezug auf die europäische Verfassungsfrage letztlich den Ausschlag88. Die implizite oder explizite Staatsreferenz in der Verfassungsdiskussion ist ebenso Ausdruck der engen ideengeschichtlichen Verbundenheit von philosophiegeschichtlichem Verfassungsbegriff und staatstheoretischer Bewußtseinsbildung in der europäischen Rechtstradition der Neuzeit89, wie ihre mehr oder weniger dezidierte Zurückweisung in der Betonung der neuartigen konstruktiven Qualität europäischer Integrationsprozesse diese Verankerung des Verfassungsdenkens in der Staatslehre durch die Negation bestätigt. Die verfassungshistorische Bedingtheit von Begriffsbildungen besagt aber nichts über den

solche genuin gemeinschaftsrechtlichen Begründungsansätze der integrativen Frühzeit gerade aus den Unterschieden der Gemeinschaft zum konventionellen internationalen Recht Ansatzpunkte für eine vertragliche Verfassungsqualität herleiten und insofern eine zu den vorgenannten völkerrechtlichen Verfassungstheorien genau gegenteilige Position beziehen. 86 Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, FS Everling 1995, S. 945 ff.; Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, S. 2; Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, FS Bernhardt 1995, S. 1313, 1326 unter Verweis auf Hallstein. 87 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“. 88 Vgl. auch Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, S. 2. 89 Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 319 ff.

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normativen Gehalt eines dem Verfassungsbedarf gegenwärtiger Rechtsphänomene angepaßten Begriffsverständnisses. Daraus ergeben sich zwei Ansatzpunkte für eine Einschränkung des Staatsrechtsbezugs in bezug auf die hier betrachtete Frage nach einem normativen Gesamtsystem. bb) Einmal ist eine Verfassungsdiskussion, die der Delegitimierung der bestehenden Verfaßtheitsform, d. h. des gegenwärtigen Erscheinungsbildes der gemeinschaftsrechtlichen Ordnung, allein wegen ihrer Nichtstaatlichkeit Vorschub leistet, für den verfolgten norm- und handlungsformsystematischen Ansatz unergiebig90. Die Notwendigkeit der Analyse staatsbegrifflicher Elemente des Verfassungsverständnisses ist kein Selbstzweck, sondern folgt entweder aus der kategorialen Prämissen rechtlicher Verfaßtheit selbst oder muß als rechtsbegrifflich unangemessene Restriktion neuartiger Organisationsformen außer Betracht bleiben. Mit Schwarze und anderen ist deshalb zunächst eine „etatistische Verengung des Verfassungsbegriffs“91 zurückzuweisen. Schon die Gegenüberstellung von Verfassung und völkerrechtlichem Vertrag im Sinne einer Antinomie verengt das Verfassungsverständnis in eine von der Theoriegeschichte des Staates her instruierte Richtung, die für eine Verfassungsdimension des Vertrages keinen Blick mehr hat. Die Anwendung eines staatsrechtlichen Begriffs mag vom Vorverständnis angesichts der Dominanz staatsrechtlicher Verfassungen in der Rechtswirklichkeit naheliegen. Auch manifestieren sich in der engen Verbundenheit der Kategorien Staat und Verfassung Elemente kategorialer Unverfügbarkeit in legitimationstheoretischer Hinsicht, die die Verfaßtheit der Union vor spezifische konstruktive Probleme stellen92. Diese kategorialen Probleme bestehen jedoch unabhängig von der begrifflichen Koppelung mit der Staatsorientierung des Verfassungsverständnisses. Es führt in eine Paradoxie, einerseits zu betonen, die Union sei kein Bundesstaat und auch

90 Vgl. auch Pernice (Fn. 88); sowie Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521, 533: Petitio principii. 91 Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1682; vgl. bereits Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union – Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 205 f.; H. P. Ipsen, Europäische Verfassung – nationale Verfassung, in: Gesellschaft für Rechtspolitik (Hrsg.), Jahrbuch 1987, S. 37, 42; ders., Zum Parlamentsentwurf einer Europäischen Union, Der Staat 24 (1985), S. 325 ff., 347. 92

Namentlich wird unten, Kap. 3, II. 2. b), gezeigt, daß der Begriff der Letztverbindlichkeit als Verfassungskriterium auf das Dilemma einer notwendigen geltungslogischen Inbezugsetzung der beiden Teilrechtsordnungen verweist, ohne deren Beantwortung die Verfaßtheitsfrage nicht sinnvoll einer Lösung unter dem Aspekt der Staatsbezogenheit zuzuführen ist; zur Problematik einer Demokratisierbarkeit supranationaler Rechtsverhältnisse vgl. unten, Kap. 4, III. 2.

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nicht integrationsfinal auf das Erstarken zum Staat ausgelegt93, andererseits aber die Herausbildung supranationaler Rechtsformen auf der Grundlage ausschließlich staatsrechtlicher Assoziationen zu kategorisieren. Die grundsätzliche Akzeptanz supranationaler Rechtserweiterung kann auf den Verfassungsbegriff nicht ohne Auswirkung bleiben. Ein etatistisches Verfassungsverständnis ist demnach unangemessen, weil es die Herstellung gerade eines handlungsformsystematischen, nicht bloß insgesamt auf die Teilrechtsordnungen bezogenen Beziehungsverhältnisses von Gemeinschaftsrecht und Staatsrecht in legitimitätsorientierter Absicht begrifflich verhindert. Was konstitutionell, gesetzlich oder untergesetzlich bzw. vertraglich und untervertraglich geregelt gehört, ist nicht eine Frage deklaratorischer Bezeichnung von Handlungsformen als „Verfassung“ oder „Vertrag“, sondern richtet sich nach der materialen Dimension der zuzuordnenden Regelungsgehalte selbst. Das Verfassungsverständnis ist dieser Ordnungsfrage nicht vorgeordnet, sondern daran anzupassen. bb) Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Anbindung des Verfassungsbegriffs an die insoweit vorgängige materiale Kennzeichnung des zu verfassenden Institutionengefüges. Die ausschließliche Orientierung des Begriffs der Verfassung am Staat folgt keinem sachlogischen Prinzip. Unterstellte man, daß der Staat nicht nur Normalfall, sondern mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretender Prototyp verfaßter öffentlicher Gewalt schlechthin wäre, so könnte auf dieser Grundlage der Transfer von Hoheitsrechten auf zwischenoder überstaatliche Einrichtungen nur als illegitim qualifiziert werden. Wenn Verfaßtheit nur in staatlichen Formen möglich erschiene, Verfaßtheit aber eine essentielle Voraussetzung zur konstruktiven Ermöglichung legitimer Herrschaft wäre, wären mit Notwendigkeit nichtstaatliche Herrschaftsregime wie das der gegenwärtigen Europäischen Union per se nicht verfaßbar, damit wäre zugleich in ihr rechtlicher Status legitimitätstheoretisch erheblich eingeschränkt94. Folglich müssen die explizit staatsbezogenen Verfassungsansätze in den gemeinschaftsrechtlichen Formausprägungen entweder ein bloß pragmatisch geduldetes Provisorium sehen, oder aber eingestehen, daß die Staatsexklusivität ihres Verfassungsverständnisses zur angemessenen Erfassung der supranationalitätstypischen Eigenheiten nicht in der Lage ist. Indes wird auch in der staatsakzentuierten Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts im MaastrichtUrteil – wenn auch auf der Grundlage einer problematisch-reduzierten Betrachtung der Union als reiner Wirtschaftsgemeinschaft – die Kompetenzdelegation

93 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585; a.A. Seidel, Zur Verfassung der europäischen Staaten nach Maastricht, EuR 1992, S. 125, 139. 94 Vgl. zum legitimatorischen Gehalt der Verfassung als „Gegenseitigkeitsordnung“ Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 54.

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als legitimer Ausdruck grundgesetzlicher Integrationsoffenheit qualifiziert95, so daß ein selbstreferentiell-staatsexklusiv orientiertes Verfassungsverständnis nicht einmal in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine Stütze findet. Es ist aber widersprüchlich, einerseits die Legitimität des gemeinschaftsrechtlichen Herrschaftssystems im Grundsatz anzuerkennen (mögen im Detail auch reformbedürftige Defizite bestehen), andererseits auf der Grundlage einer Orientierung der Begriffsbildung an staatsrechtlichen Formkategorien die schlechthinnige Unmöglichkeit zu konstatieren, die Union vollgültig zu verfassen96. Daher wird gegen ein solches Verständnis zu Recht eingewandt, daß die Interpretation von Staatsstrukturprinzipien als staatsexklusiv allein aufgrund des Umstandes ihrer staatsverfassungsinternen Normiertheit auf eine petitio principii hinausläuft97. cc) Was „Verfassung im Vollsinne des Begriffs“ ist, richtet sich demnach ausschließlich nach der zu verfassenden Ordnung98. Die Lehre vom „postnationalen“ Verfassungsbegriff formuliert in diesem Interpretationskontext nicht nur die maßstabsbildende Ordnungsvorstellung, sondern liefert mit der Begründung einer Abhängigkeit des Verfassungsbegriffs vom zu verfassenden Hoheitskontext auch die entscheidende kategoriale Begründung zur staatstranszendierenden Begriffsbildung und enthebt damit die Diskussion aus der Gefangenheit in einer Orientierung an Polaritäten. Rechtliche Rahmenbildung vollzieht sich nicht mit Notwendigkeit im staatlichen Kontext99. Der Umstand, daß der Staat die selbstbestimmungsunmittelbarste Institution des öffentlichen Rechts darstellt100, impliziert kein staatliches Verfassungsmonopol. Andererseits ist Kennzeichen der Supranationalität in ihrer durch die Europäische Union ausgeprägten Form de lege lata der Fortbestand der Mitgliedstaaten als Staaten101, negativ formuliert: den Ausschluß eines Übergangs zu europäischer 95

BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht. Ähnlich auch Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 533, der in bezug auf das Rechtsstaatsprinzip eine Auslegung als petitio principii kritisiert, die dieses über eine Bedeutung als „Rule Of Law“ hinaus als exklusiv staatsbezogen interpretieren will. Diese Problematik stellt sich strukturäquivalent bei allen Staatsstrukturprinzipien, besonders verdichtet allerdings beim Verfassungsbegriff und beim Demokratieprinzip. 97 Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 533. 98 Ebenso Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 582. 99 s. auch Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHIPaper 5/01, S. 9: „‚Constitution‘ does not necessarily imply, or depend on a state“. 100 Grundlegend hierfür Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274: Der Staat müsse durch seine Verfassung alle Verhältnisse durchdringen. 101 Vgl. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 218, 220, der in der „integrierten Staatlichkeit“ zutreffend ein Konstitutionsprinzip der EU sieht. 96

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Bundesstaatlichkeit102. Aufgabe eines supranationalen Verfassungsbegriffs kann es dementsprechend nur sein, die formale Notwendigkeit der Verfaßtheit des „europäischen Gemeinwesens“ mit dem materialen, über ihre Nichtstaatlichkeit hinaus positiven Gehalt zu integrieren. Diese Betrachtungsweise leitet zu einem Verfassungsverständnis, das man als institutionenakzessorisch bezeichnen könnte, und das weder formal noch funktionalistisch ist. Es ist nicht formal, weil es den Staatsbezug nicht schon in den Verfassungsbegriff integriert und jegliche nichtstaatliche Verfaßtheit begrifflich ausschließt. Es ist andererseits nicht funktionalistisch, weil es die ideal-kategorische Funktion von Recht, in deren Kontext Verfaßtheit praktisch wird und auf die sie deshalb in ihrem substantiellen Gehalt bezogen sein muß, nicht dem Primat ökonomischer, sachlogischer oder sonstiger Zweckmäßigkeitskalkulation pragmatisch überantwortet. Die bewußte Zweckbeschränkung, die sich in der Kennzeichnung der Gemeinschaft als „Zweckverband funktioneller Integration“ artikuliert fand, trägt der politischen Dimension der heutigen Union und dem hieraus resultierenden Mehrebenenverhältnis staatlicher und suprastaatlicher Verbände nicht hinreichend Rechnung103. Demgegenüber rückbezieht der institutionenakzessorische Verfassungsbegriff zwischen Einheitsbildung und Anerkennung dynamisierungsbedingter Rechtswandlungsprozesse die kategorische Funktion der Verfassunggebung auf eine staatsrechtstranszendierende Rechtswirklichkeit, um den in ihr enthaltenen Selbstverwirklichungsgehalt, d. h. den Autonomiebezug des Rechts in seinen formspezifischen Konkretisierungen und nach Rechtsgebieten unterschiedlichen Artikulationsformen zur Geltung zu bringen. So konzipierte Verfaßtheit akzentuiert die Eigenberechtigung einer von staatsrechtlichen Formen ausgehenden, diese aber überschreitenden Selbstorganisation und trägt damit dem freiheitlichen Legitimationsprofil des Einleitungskapitels unmittelbar Rechnung. Insofern wird der staatsverfassungsrechtliche Ausgangszusammenhang der Mitgliedstaaten nicht 102

Hier ist nicht die Frage, ob und inwieweit eine solche entweder überhaupt oder zumindest staatsverfassungsrechtlich im Wege einer evolutionären Fortentwicklung der Europäischen Union ausgeschlossen erscheint. Ausgesagt ist hier nur, daß Supranationalität vom Fortbestand der Mitgliedstaatlichkeit und fehlender Bundesstaatlichkeit begrifflich geprägt ist; vgl. statt vieler dazu deutlich Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 5, S. 149 ff. 103 Wohl weitgehend einhelliger Befund, vgl. bereits Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Ipsen 1977, S. 595; ders., Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Döhring, 1989, S. 179, 195 ff. sowie Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 53; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 74 („politische Union“); ders., S. 65, kennzeichnet die Europäische Union als „Rechtsgemeinschaft“ bzw. als „Rechtsetzungsgemeinschaft“ (S. 66); hierzu auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 83.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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als bloß genetischer Ableitungspunkt, sondern als Verfassungsstrukturprinzip der Europäischen Union begriffen. Damit verbleibt die Möglichkeit, die vom staatsorientierten Verfassungsverständnis akzentuierten Verfassungscharakteristika kontextüberschreitend als essentielle und unverfügbare Probleme auch supranationaler Verfaßtheit zu thematisieren, scheitert das supranationale Verfassungsanliegen jedoch nicht schon begrifflich an ihrer Unstaatlichkeit. Verfassungsparadigma und Verfassungsbegriff sind entkoppelt, ohne daß diese Entkoppelung mit einer Relativierung des legitimationstheoretischen Anspruchsniveaus gegenüber der Europäischen Verfassung einherginge104. Die freiheitsgesetzliche Erweiterung, welche im staats- und völkerrechtsüberschreitenden europäischen Integrationsprozeß sichtbar wird, findet ihr institutionalisierendes Widerlager in einem offenen Verfassungsbegriff, der die Prinzipien fortbestehender Mitgliedstaatlichkeit und subsidiärer-supranationaler Ordnung metastaatlich in der Rechtsform einer komplementären Verfassungsform zu integrieren vermag und daher seinerseits als freiheitlicher Verfassungsbegriff bezeichnet werden kann.

2. Verfassungsprinzip: Der Gemeinschaftsvertrag als Komplementärverfassung – Ansätze zu einer geltungslogischen und materialen Bestimmung des vertraglichen Verfassungsaspektes Der damit zu beschreitende Weg einer institutionenakzessorischen Verfassungscharakterisierung gewinnt hinreichende Kontur gegenüber einer beschränkten, äußerlich-plakativen Zuordnung zu einem sui-generis-Konstrukt traditioneller europarechtlicher Provenienz erst durch die inhaltliche Bestimmtheit der Unionsverfassung als Rechtsbegriff. Maßgebend für diese materiale Bestimmung ist die Integration der vermeintlichen institutionellen Antagonismen der gemeinschaftsrechtlichen Ordnung unter einem einheitlichen Verfassungsbegriff. Es genügt nicht, die Verfaßtheit einer zwischen Staat und Staatenbund angesiedelten Ordnung an diesen Kontext begrifflich zu adaptieren, sondern im Begriff vertraglicher Unionsverfaßtheit müssen sich alle Merkmale sowohl des geltungs- als auch legitimationstheoretischen Anforderungsprofils versammelt finden und sich zudem der determinierende Gehalt in bezug auf die materiale Gestalt, die die so verfaßte Ordnung aufweist, manifestieren. Alles, was an verfassungsbegrifflicher Bestimmtheit hinter diesem Anforderungspro104 Demgegenüber impliziert die von Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, vorgeschlagene „Verfassung durch Bewährung“ eine Entscheidung für die ex-post-Legitimation dar; mit diesem Verfassungsparadigma geht daher zugleich eine Entfernung vom in der Staatsrechtslehre herrschenden, inklusionsvermittelten Legitimationsparadigma einher.

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fil einer materialen Integration der supranationalen Bestimmungselemente zurückbleibt, wäre damit notwendig einer Grauzone zugeordnet, die allenfalls knapp oberhalb gängiger inflationärer Europarhetorik anzusiedeln wäre und deshalb keinen wirklichen heuristischen Impuls in bezug auf ein integriertes Mehrebenenhandlungsformsystem zu liefern vermöchte. Nur wenn Geltungsverständnis, Ordnungsbild und Verfaßtheitsform widerspruchsfrei konvergieren, hat der diese Bündelung leistende Unionsvertrag einen schlüssigen Platz als Handlungsform, der ihm relativen Selbstand auch gegenüber den staatsrechtlichen Legislativkategorien verleiht.

a) Der Begriff der Komplementärverfassung in Abgrenzung zu konkurrierenden Verfassungsparadigmen

aa) Gemeinsamkeiten moderner Verfassungsparadigmen: Mehrebenenstruktur und „konzeptionelle Nichtstaatlichkeit“ Ansätze zu einer verfassungsbegrifflichen Festschreibung des materialen Gehalts einer vertragsförmigen Unionsverfassung existieren in erheblicher Bandbreite gerade im neueren Schrifttum105. Zur inhaltlichen Kennzeichnung der Verfaßtheitsform der Gemeinschaftsrechtsordnung, die die Strukturbesonderheiten der Europäischen Union möglichst pointiert zum Ausdruck bringt, werden in der europarechtlichen Diskussion zunehmend sehr unterschiedliche, zum Teil pointierte Begriffe verwendet, die auf eine angemessene Erfassung der janusköpfigen Zwischenstellung der Europäischen Union im Spannungsverhältnis von Staatlichkeit und internationalem Recht zielen. Das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgerichts hat mit dem Begriff des „Staatenverbundes“ bereits die Balance der supranationalen Ordnung zwischen klassischzwischenstaatlicher Vertragskooperation und Übergang zur Staatlichkeit auf einen Begriff gebracht. Dieser Begriff enthält jedoch keine repräsentationstheo-

105 Hier sei auf die allgemeine Unterscheidung der für die Einordnung der Europäischen Union zwischen Bundesstaatlichkeit und Verbandsförmigkeit prägenden Begriffsmerkmale verzichtet; zur Klassifikation der Paradigmen in dieser Hinsicht insbesondere Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 108 ff.: Funktionalistisches, föderalistisches und unitaristisches Paradigma. Die hier den Gegenstand der Betrachtung bildenden Begriffe zur materiellen Kennzeichnung der Unionsverfassung wären nach dieser Kategorisierung wohl sämtlich als pluralistisch zu bezeichnen, während sie nach hier zugrunde gelegter Terminologie ein starkes föderatives Element beinhalten. Zur verfassungsparadigmatischen Einordnung der Europäischen Union ausführlich auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 178 ff.

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retischen Folgerungen106, sondern impliziert legitimationstheoretisch den überkommenen Ansatz einer Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer demokratischer Legitimation107; ihm ist eine unionsexterne, weil staatsverfassungsrechtliche Perspektive eigentümlich, während für den vorliegenden Zusammenhang eine unionsinterne Verfassungsperspektive erfordert wird. Für diesen Betrachtungsgegenstand sind namentlich die folgenden paradigmatischen Hauptbegriffe herauszuheben, die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion besondere Wirkmacht aufweisen: Nach von Bogdandy der Begriff des „supranationalen Föderalismus“ bzw. der „supranationalen Union“108; die von Pernice geprägte Konzeption des „multilevel constitutionalism“; der der Sozialwissenschaft entstammende109, insbesondere von Di Fabio auf den supranationalen Anwendungszusammenhang aktualisierte Begriff der „Mehrebenenordnung“110; viertens der Begriff der „Komplementärverfassung“, der ebenfalls zunehmend aus vielfältigen Assoziationszusammenhängen auf einen rechtlichen Anwendungskontext hin aktualisiert wird111. Diese begrifflichen Kennzeichnungen stehen weder in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander, noch sind sie einem einheitlichen Abstraktionsniveau zuzuordnen. Die 106

Eine Kritik des dem Maastricht-Urteil zugrunde liegenden Legitimationsverständnisses findet sich unten, Kap. 3, III. 4. c) cc). 107 Vgl. auch die sehr nuancenreiche Auseinandersetzung mit dem Institutionenprofil bei Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 140. 108 Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001. 109 Scharpf, Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenen-Politik, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union: Materialien zur Revision des Maastrichter Vertrages 1996, 1995, S. 75 ff.; Jachtenfuchs/Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, S. 16 ff. 110 Etwa Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union - Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 207; Pernice, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 23, Rdnr. 23; von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 12; Thomas König/Elmar Rieger/Hermann Schmitt (Hrsg.), Das europäische Mehrebenensystem, 1996, S. 13 ff.; Renate Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 232: „Mehrebenenstruktur staatlichen Entscheidens“; Schmitter, Representation and the Future Euro-Polity, StWStP 1992, S. 379, 381: „multi-layered governance“; Gary Marks/Liesbet Hooghe/Kermit Blank, European Integration and the State. Paper Presented at the American Political Science Association Meeting, New York September 1994, S. 7: „multi-level governance“. 111 Läufer (Fn. 110), S. 207; Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 332, 354 f.; Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 51 ff.; Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 318; de Witte, International Agreement or European Contitution?, in: T.M.C. Asser Instituut (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 3, 13: „complementary constitution“; Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

mit ihnen verbundenen Ordnungsvorstellungen112 überschneiden sich vielfältig. Als konzeptionenübergreifende Gemeinsamkeit eint sie einerseits die Vorstellung einer auf mehrere Ebenen verteilten Rechtsherrschaftsstruktur; dem Begriff der „Mehrebenenordnung“ kommt insoweit die Funktion einer paradigmatischen Grundcharakterisierung aller derjenigen Vorstellungen zu, die die Emanzipationsnotwendigkeit der Europäischen Union von staatstheoretischen Restriktionen postulieren113. Andererseits ist ihnen eine verfassungsparadigmatische Festschreibung der „konzeptionellen Nichtstaatlichkeit der Organisationsform Supranationale Union“114 eigen. Alle in diesem Kontext zu nennenden Kennzeichnungen streichen – trotz divergenter Schwerpunktsetzungen im einzelnen – sowohl in begrifflicher Hinsicht als auch mit den im einzelnen vorgenommenen Kennzeichnungen zur materiellen Verfassungsstruktur des Gemeinschaftsrecht ein gewisses Eigenständigkeitsprofil und eine Einordnung des Phänomens EU zwischen Staatlichkeit und konventionellem Völkerrecht heraus. Alle liefern konkrete konstruktive Ansatzpunkte für einen Ausweg aus dem Dilemma, nur die dem staatsrechtlichen Maßstab entspringende „Unverfaßbarkeit“ der Europäischen Union zu konstatieren oder aber sie zum bloßen Völkerrecht konventionellen Sinnes mit einer Verfaßtheitsform minderer Bedeutung zurückzustufen. Im Einzelnen sind die Unterschiede gleichwohl beträchtlich. Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den hierunter zu fassenden Einzelvorstellungen ist zuzugeben, daß weniger der Begrifflichkeit als solcher als dem mit ihr bezeichneten Ordnungskonzept die entscheidende Bedeutung zukommt115; indes sind Begriff und zugehöriges institutionelles Konzept in der Regel so eng miteinander verbunden, daß die Einbringung abweichender Ordnungsvorstellungen in ein bestehendes Begriffsgefüge die vorfindlichen Konnotationen nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu relativieren vermag. Gleichzeitig sind fortschreitende Begriffsneuprägungen der Übersichtlichkeit abträglich.

112

So werden in der von Pernice entwickelten Ordnungsvorstellung eines „multilevel constitutionalism“ die Begriffe von Komplementarität und Mehrebenenordnung als inhaltlich kennzeichnende Bestandteile dieser Ordnung mitvereinnahmt, vgl. ders., The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 5 ff., 11. 113 Begriffliche Vorklärungen für eine Verfassungstheorie nichtstaatlicher Entitäten auch von Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 50; Weiler, „…We Will Do, And Hearken“. Reflections on a Common Contitutional Law for the European Union, in: Bieber/Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen, S. 417 ff. 114 115

So treffend Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 201 ff.

So Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.

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bb) Spezifika eines materialen Verständnisses der Komplementärverfassung Die vorliegende Untersuchung geht davon aus und versucht im folgenden darzulegen, daß es notwendig ist, für die EU einen einheitlichen Konstitutionsbegriff zu prägen, der die unterschiedlichen geltungs-, souveränitäts- und legitimationstheoretischen Aspekte ebenso wie das hiermit verbundene materiale Erscheinungsbild der so verfaßten Ordnung kohärent unter einem Begriff zusammenführt. Die Notwendigkeit, Aspekte des Geltungsbegriffs und der materiellen Ordnung zu bündeln, legitimiert sich aus der Einsicht, daß das Anliegen des Verfassens von Herrschaftsordnungen zur materialen Gestalt dieser Ordnung akzessorisch ist. Konstitutionsessentialien bedürfen einer spezifischeren Untersuchung ihrer wechselseitigen Verbundenheit, um nicht paradigmatische Unvereinbarkeiten in der Begriffsbildung unter der Bemäntelung bloßer Metaphorik verschwinden zu lassen. Für die hier zugrunde gelegte Ordnungsvorstellung eignet sich am besten der Begriff der Komplementärverfassung. Gegenwärtig häufig pejorativ zur Typisierung von Verfassungsdefiziten verwendet116, enthält der Begriff schon etymologisch eine deutlich über diesen Gehalt hinausreichende Qualität, indem er ein wechselseitiges Verwiesenheitsverhältnis unterschiedlicher Verfassungsebenen zur Geltung bringt. Diese Interdependenz zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht117 ist indes mit der bloßen Feststellung ihres Bestehens nicht hinreichend bestimmt. Der ursprünglich der Sozialwissenschaft entnommene Begriff der komplementären Ordnung, in der europarechtlichen Diskussion angewandt zur Thematisierung einer Komplementärfunktion der Gemeinschaftsverfassung118, kommt 116

So Läufer (Fn. 110), S. 207: „nur als Komplementärverfassung“; vgl. demgegenüber indes Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 332, nach dem sich fortbestehende staatliche Primarität im Begriff der komplementären Verfaßtheit zur Geltung bringt. Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Komplementärverfassung finden sich auch bei Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 51 ff.; Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 318; de Witte, International Agreement or European Contitution?, in: T.M.C. Asser Instituut (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 3-18, 13: „complementary constitution“. 117 Dazu Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998, S. 47; Schwarze, Entwicklungsstufen des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: FS Carstens, Bd. 1, 1984, S. 259, 267; ders., Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz als Ordnungspostulate der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Maihofer, 1988, S. 529. Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 11. 118 Dazu: Thomas Läufer, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, in: Gedächtnisschrift für Grabitz, 1994, S. 355 (362 ff.); Thomas Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 386 f. Vgl. auch die Hinweise auf die komplementäre Funktion nationalstaatlicher und europäischer Verfassungsstrukturen: Pernice, in: H. Dreier, Grundgesetz Kommentar, 1998, Art. 23, Rdnr. 20

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

hiernach vielmehr der Status eines Rechtsbegriffs zu, der die inhaltliche Qualität dieses Verweisungszusammenhangs institutionell qualifiziert. Komplementärelemente sind nicht mehr die sozialwissenschaftlichen Gegensatzpaare von Regionen und Weltgesellschaft119, sondern einzelstaatliche und gemeinschaftsrechtliche Freiheitsverwirklichung; denn es geht hier um die Herstellung von Bezügen zwischen normativen Zurechnungseinheiten, nicht bloß gesellschaftlich-empirischen Entitäten. Die Union erfüllt für den Integrationszweck einer mitgliedstaaten-transzendierenden Ordnung eine Komplementärfunktion, indem sie diesen Integrationszweck gerade durch Anerkennung, Beibehaltung und Fortschreibung des Prinzips der Mitgliedstaatlichkeit zu befördern die Aufgabe hat. Hier soll deshalb gezeigt werden, daß legitimationstheoretische Bedeutung dem Typus der Komplementärverfassung dadurch zukommt, daß der Vertrag sich als konkordanzstiftende Handlungsform zwischen den Prinzipien der staatlichen Selbstbestimmung und dem Letztgültigkeitserfordernis einer Verfassungsordnung qualifiziert. Im Unterschied zu den im Schrifttum vorherrschenden allgemeineren Referenzen an den Komplementärbegriff verbindet sich damit im vorliegenden Zusammenhang ein konkretes Verfassungsstrukturprinzip, daß sich durch drei Kernelemente auszeichnet: Erstens – in geltungstheoretischer Hinsicht – die Fundierung des geltungslogischen Prius der Staatsverfassung bei gleichzeitiger konsenstheoretischer Herleitung des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs aus diesem Abhängigkeitszusammenhang120. In geltungslogischer Hinsicht manifestiert sich das in der Zuordnung des pouvoir constituant bei den Mitgliedstaaten und einer hieraus abgeleiteten normsystematischen Stellung des Vertrages als relativer oder bedingter (weil auf ein externes Teilsystem bezogener) Grundnorm121. Die Zuschreibung der Letztinstanzlichkeit zu einer anderen konstitutionellen Ebene als eine scheinbar paradoxe konstitutionelle Selbstrestriktion, durch die die Unionsverfassung ihren derivativen, eine andere Souveränität ergänzenden Charakter in bewußtem Verzicht auf einen diesbezüglich konkurrierenden eigenen Anspruch ausmacht, charakterisieren demnach den neuartigen Typus der Komplementärverfassung. Gegenbegriff zur Komplementärverfassung ist eine durch einen von einem gemeineuropäischen Volk ausgehenden Schöpfungsakt originär geschaffene Verfassung122. Die Komplementärverfaßtheit als Gemeinschaftsverfassungsprinzip schreibt damit 119

Dazu Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, S. 10 m.w.N.

120

Dazu unten Kap 3., II. 3. c) bb).

121

Dazu unten, Kap. 3, III. 4. b). Auch hierin findet das Diktum Marcel Kaufmanns (Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 218 f.) von der „quasiautonomen“ Teilrechtsordnung einen adäquaten konstruktiven Anwendungsgegenstand. 122

Läufer (Fn. 110), S. 204, 209.

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die Nichtstaatlichkeit der Union einerseits und das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit, verstanden als die Trägerschaft des pouvoir constituant seitens der in ihrem Fortbestand unangetasteten Mitgliedstaaten, verfassungsrechtlich fest123. Läufer hat zutreffend herausgestellt, daß sich mit der Kategorisierung der Union als Komplementärordnung eine fortdauernde Akzentuierung des Überwiegens mitgliedstaatlicher gegenüber europäischer Identität verbindet124. In legitimationstheoretischer Hinsicht führt dies zweitens zur Herausarbeitung der legitimationstheoretischen Angemessenheit des den Vertrag auch geltungslogisch tragenden Konsensprinzips als eines besonderen Anwendungsfalles des Repräsentationsprinzips125. Das schließt bloße Delegationsmechanismen126 als repräsentationstheoretisch genügende Konstruktionsalternativen ebenso aus wie die Auffassung von Staatlichkeit als genetischem Ausgangspunkt einer in ihrer Willensbildung hiervon entkoppelten supranationalen Ordnung, die in einer europäischen Staatlichkeit ihren integrationsfinalen Endpunkt finden könnte127. Positiv verbunden ist dies mit einem Institutionengefüge, in dem die Mitwirkung der Mitgliedstaaten am gemeinschaftlichen Willensbildungsprozeß der Europäischen Union sich als Kompensation des nationalstaatlichen Steuerungs- und Einflußverlustes darstellt (Kompensations- bzw. Wiedergewinnungselement). Gleichzeitig trägt drittens der Begriff der Komplementärverfassung der auseinanderfallenden Trägerschaft von pouvoir constituant und Legitimationssubjektivität als Kennzeichen einer supranationalen Verfassungsordnung Rechnung. Repräsentationsbedürftig in einer komplementär verfaßten supranationalen Ordnung sind sämtliche als Rechtssubjekte anerkannten Subjekte, d. h. sowohl die Bürger als auch die Mitgliedstaaten; Träger der pouvoir constituant sind hingegen nach hier zugrunde gelegter Betrachtung nur die Mitgliedstaaten. Hiermit verbindet sich das Postulat einer dualen Repräsentationsstruktur, in 123 Zu diesen Begriffskennzeichen der supranationalen Ordnung auch Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 5, S. 149 ff., 150: „mitgliedschaftliche Struktur der Gemeinschaftsverfassungen“. 124 Läufer (Fn. 110), S. 204, 209; vgl. auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 350 ff. Zum Identitätskriterium in seiner repräsentationstheoretischen Bedeutung für den supranationalen Willensbildungsprozeß vgl. unten, Kap. 4, IV. 3. a)/b). 125 Dazu unten, Kap. 3, III. 3. b) bb). 126 Vgl. auch die Kritik an Legitimationsketten bei Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 646, m.w.N. 127 Weitgehend einhellige Ansicht, vgl. nur die Rede von Valery Giscard d’Estaing, Rede zur Verleihung des Karlspreises in Aachen am 29. Mai 2003, http://europeanconvention.eu.int/docs/speeches/9192.pdf, S. 8: „Unsere Verfassung kann nicht die Charta eines zentralistischen Bundesstaates sein.“

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

dem sowohl Mitgliedstaaten als auch Bürger der EU sich im supranationalen Willensbildungsprozeß in actu repräsentiert finden, in kritischer Entgegensetzung zu gegenwärtig dominierenden Ordnungsvorstellungen von unmittelbarer und mittelbarer Legitimationsstruktur ohne klaren Subjektsbezug und eine qualitative Verhältnisbestimmung zwischen beiden sog. Legitimationsformen128, aber auch zu einem Verständnis, das allein die Partizipation der Individuen stärken will und nicht nur gegenüber dem institutionellen Rahmen solcher Partizipation indifferent ist, sondern auch den staatenrepräsentierenden Kategoriengehalt des Rates unterbestimmt129. Ein solches Konzept einer repräsentationstheoretisch angemessen strukturierten Europäischen Union, das im folgenden zu entwickeln ist, setzt die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten mit anderen materiellen Verfassungsparadigmen und eine Abgrenzung von dortigen Unterschieden voraus. cc) Supranationaler Föderalismus von Bogdandy rückt mit seinem Kennzeichnungsbegriff des „supranationalen Föderalismus“ eine Begriffsverbindung zwischen einem nicht auf staatliche Gemeinwesen beschränkten Föderalismusprinzip130 und dem Kriterium der Supranationalität, verstanden in einer der geltenden Gemeinschaftsrechtswissenschaft entsprechenden konventionellen Weise131, in den Mittelpunkt einer facettenreichen Charakterisierung der Verfassungsstruktur. Seine Untersuchung basiert auf einer Typisierung unterschiedlicher unitaristischer132 und zentrifugaler133 Elemente der Union, die er als eine die Einzelgemeinschaften und Europäische Union insgesamt umfassende Rechtspersönlichkeit ansieht134. Union und Mitgliedstaaten erscheinen als jeweils fragmenta128

Vgl. zu dieser unten, Kap. 4, III. 5. a) einerseits, IV. 3. andererseits. So aber Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 566, die im Sinne einer von ihr sog. „individualistischen Sichtweise“ die Ratsrepräsentation als bloßen institutionellen Umweg einer Bürgerrepräsentation sieht: „Wer vom Bürger ausgeht, kann die Staatenvertretung kaum neben der Bürgervertretung sehen.“ 130 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 62 f. 131 Zum Begriff des Supranationalismus insgesamt ausführlich Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3, S. 69 ff. m.w.N.; Zuleeg, Wandlungen im Begriff der Supranationalität, Integration 1988, S. 103; vgl. auch von Bogandy, in: ders., Die Europäische Option, 1993, S. 120. 132 Bestimmend hierfür die Etablierung eines neuen administrativen Zentrums, von Bogandy (Fn. 131), S. 110. 133 Wesentlichstes strukturelles Element in dieser Hinsicht ist die Überwindung der nationalen Rechtseinheit, vgl. von Bogandy (Fn. 131), S. 106 ff. 134 Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 38 ff. 129

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rische Rechtsordnungen, die durch wechselseitige Verwobenheit, gegenseitige Rücksichtnahme und das konstruktive Streben nach Kompatibilität eine Tendenz zu einer polyzentrisch strukturierten Gesamtrechtsordnung hin verkörperten. Die Europäische Union wird in einem solchen multipolaren Verfassungsgefüge „zur Organisation kollektiver Ordnung, die Mitgliedstaaten sehen in ihr eine Stabilisierung der eigenen Verfaßtheit“135. Der Kategoriebegriff der supranationalen Union artikuliert damit einerseits einen übergreifenden, nicht auf einzelne Zwecksetzungen beschränkten politischen Organisationsanspruch und verbindet diesen gleichzeitig mit einer nicht bundesstaatlich ausgerichteten Konstruktionsteleologie136. dd) „Multilevel constitutionalism“ In der Diktion von Pernice steht das Kriterium eines neuartigen „multilevel constitutionalism“ im Vordergrund der Gemeinschaftsverfassung. Wesentlich hierfür sei die Überlagerung von unterschiedlichen Verfassungsebenen, deren (Teil-)Rechtsordnungen gemeinsam die Rechtswirklichkeit prägten. Ähnlich charakterisiert auch Di Fabio das Wesen der Union als das einer verfaßten Mehrebenenordnung137. Gegenüber dem von v. Bogdandy verwendeten Kriterium der Polyzentrik hat diese Begrifflichkeit den Vorzug, organisatorische Strukturäquivalenzen der einzelnen Ebenen stärker zu veranschaulichen138. Auch die von Pernice im Anklang an Habermas139 verwendete Charakterisierung der Unionsverfassung als eines „postnationalen Verfassungskonzepts“ verdient hierin insoweit Zustimmung, als sie die Verfaßtheitsfrage aus einer staatsrechtlichen Engführung auf den allgemeinen Legitimationshorizont zurückbezieht. Pernice befreit die gesamte Diskussion aus der irreführenden 135

von Bogdandy (Fn. 134), S. 13 ff. von Bogdandy (Fn. 131), S. 120, explizit kritisch gegen die Zweckverbandsformel Ipsens. 137 Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm. 138 So auch Martenczuk, Besprechung zu von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, ZaöRV 60 (2000), S. 1103; zum Mehrebenenbegriff ausführlich Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 36 ff., 53 ff.: zur sozialwissenschaftlichen Verwendung des Mehrebenenbegriffs Jachtenfuchs/Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, S. 16 ff.; Scharpf, Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenenpolitik, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 74 f.; ders., Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, StWStP 1994, 475. 139 Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 05/01, S. 9; Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation. Politische Essays 1998, S. 91 ff. 136

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Dichotomie von Staatlichkeit und Zwischenstaatlichkeit und kann insofern als einer der Hauptautoren der eigentlichen gemeinschaftsrechtlichen Innovation der gegenwärtigen Begriffsbildung angesehen werden. Mit dem Begriff des multilevel constitutionalism verbindet Pernice indes eine Konzeption eines – von einem einheitlichen verfassunggebenden Willen der Nationalbürger als Bürger Europas ausgehenden – verfassunggebenden Willens, der eine einheitliche „Europäische Verfassung“ stifte und bezogen auf die sich Vertragsverfassung und Nationalverfassungen jeweils als Partikularelemente darstellten. Pernice sieht die gemeinschaftskonstituierenden Verträge durch ihre innerstaatliche Rückbindung an die dortigen Willensbildungsmechanismen als „europäischen contrat social“ an140; er folgt damit einer in der europarechtlichen Literatur bereits verbreiteten Terminologie141. Der materiale Gehalt seines postnationalen Verfassungskonzepts steht in der Lesart von Pernice für eine konvergente Rückführung sowohl des entscheidenden supranationalen Legitimationssubjekts als auch der Verfassungsträgerschaft auf die Bürger der Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Bürger der Union142. Diesem Konzept wird vorliegend nicht gefolgt; vielmehr wird versucht zu zeigen, daß das Wesen der verfaßten Mehrebenenordnung in einer Differenzierung der Verfassungsträgerschaft auf den einzelnen Ebenen liegt und in bezug auf die supranationale Verfassung nicht die Bürger Europas, sondern die Mitgliedstaaten Träger des pouvoir constituant sind143. Mit diesem abweichenden Konstruktionsansatz verbindet sich die Kritik an der These eines europäischen Sozialkontrakts, die sich im Licht vorliegender Konzeption einerseits als idealisierende Annahme einer de jure nicht vorhandenen verfassungsstiftenden Rolle der Bürger Europas, andererseits als eine Unterbestimmung des legitimationstheoretischen Eigengehaltes fortbestehender Staatlichkeit als solcher im europäischen Konstitutionsgefüge erweist und deshalb einer gewissen Beliebigkeit Vorschub leistet, an welcher

140 Pernice (Fn. 139), S. 9 f.; ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JÖR 48 (2000), S. 205, 212; ders./Franz C. Mayer/Wernicke, Renewing the European Social Contract. The Challenge of Institutional Reform and Enlargement in the Light of Multilevel Constitutionalism, King’s College Law Journal Vol. 12, Issue 1, 2001, S. 61 ff.; zum Begriff auch Mestmäcker, Risse im europäischen Contrat Social, S. 53 f. 141

Vgl. etwa Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997, S. 39; ders., Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVBl. 2000, S. 846; Mestmäcker (Fn. 140); Weiler, Reflections on a Common Constitutional Law for the European Union, 1995, S. 439. 142 Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff; ders., The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 9 f. 143 Zur Kritik an der Vorstellung eines europäischen Sozialvertrags i.e. unten, Kap. 3, III. 3. c) bb) (3).

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Stelle und aus welchem Grund die für das europäische Konstitutionsgefüge angeblich tragende Rolle der Bürger Europas praktisch wird144. Aufgrund dieser Differenz in der Konzeption wäre es irreführend, den Begriff des multilevel constitutionalism auch auf die hier entwickelte Ordnungsvorstellung anwenden zu wollen, so daß seine Verwendung trotz der mit ihm verbundenen, in vielen Aspekten überzeugenden Analyse von Strukturelementen verstellt ist.

b) Verfassung als Grundnorm? Zur Begriffsnotwendigkeit des Kriteriums der Letztverbindlichkeit als Merkmal der Verfassung Gehört es zum Vollbild einer Verfassung, daß diese Fundamentalgrund der Geltung aller systemzugehörigen Rechtssätze ist145 und alle übrigen Rechtsquellen in ihrer normativen Existenz hierarchisch abhängen von der Verfassung als Grundnorm, so treten Verfassungsfrage und Geltungsfrage dadurch in einen Verweiszusammenhang. Wenn etwa Kirchhof das normative Wesen der Verfassung mit dem geltungslogischen Letztgrund für abgeleitete Verbindlichkeiten nachrangiger Normebenen identifiziert, ist Verfassung in diesem Verständnis begriffsnotwendig die geltungslogische Fundamentalebene146. Heintzen vertritt demgegenüber die Auffassung, bereits der – von ihm behauptete – Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge bedinge Direktwirkung und Vorrang des Gemeinschaftsrechts, ein nationaler Rechtsanwendungsbefehl sei danach überflüssig147. Das europäische Gemeinschaftsrecht sei eine autonome Rechtsordnung, weil eigenständig verfaßt. In ähnlicher Weise wie diese Position, die die Behauptung eines staatsverfassungsrechtlichen Konnex zwischen fehlender Staatlichkeit und resultierender fehlender Verfaßbarkeit gewissermaßen auf den Kopf stellt, wird die Autonomiethese insgesamt häufig zur Be144 Bezeichnenderweise billigt Pernice im Rahmen seiner Konzeption etwa den Nationalparlamenten eine entscheidende Funktion auch im gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß zu, vgl. The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 11. Zur Kritik hieran als einer tendenziell systemfremden Repräsentationsform vgl. unten, Kap. 4, V. 145 Vgl. zum Problem der Grundnorm im supranationalen Recht Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 528 ff. m.w.N.; Grussmann, Grundnorm und Supranationalität – Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: von Danwitz et. al. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 9 ff. 146 Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 102; zum Verhältnis von Grundnormqualität und Verfassungsqualität auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 395. 147 So Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Kollisionskurs?, AöR 119 (1994), S. 565, mit Hinweis auf den EuGH.

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gründung einer geltungslogischen Grundnormqualität der Verträge herangezogen, die axiomatisch gleichwertig neben den staatsrechtlichen Geltungsbegründungen zu stehen beansprucht und mit der das Postulat einer Verfassungsqualität der Verträge auch in geltungslogischer Hinsicht verbunden wird. In der Junktimbildung von Verfassung und Verbindlichkeit bei beiden Positionen ist gleichzeitig angelegt, daß das geltungslogische Konkurrenzverhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, der Streit darum, ob das Gemeinschaftsrecht eine auch geltungslogisch autonome Rechtsordnung ist148 oder vom innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl als externem Geltungsletztgrund seine Verbindlichkeit herleitet, zur Schlüsselfrage für die Handlungsformsystematisierung wird. Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge hängt demnach davon ab, ob in ihnen eine grundnormartige Manifestation eines gemeinschaftsrechtlichen pouvoir constituant gesehen werden kann; Letztverbindlichkeit kommt entweder der Staatsverfassung oder der Unionsverfassung zu, sofern nicht durch die Zugrunde legung eines Modells vollkommener Loslösung beider Systeme die rechtspraktische Evidenz bestehender wechselseitiger Einwirkungsverhältnisse für verfassungsparadigmatisch bedeutungslos erklärt werden soll149. Bekanntlich vertritt der EuGH die Auffassung, daß die Gemeinschaftsverträge als Gründungsakte einer autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung den Mitgliedstaaten die staatliche Souveränität nähmen, während das Bundesverfassungsgericht die Mitgliedstaaten in ihrer Rolle als Herren der Verträge emphatisiert und das Gemeinschaftsrecht als fortdauernd abhängig von begrenzter Einzelermächtigung und mitgliedstaatlich vermittelter demokratischer Legitimation sieht150. Das Kriterium der Letztverbindlichkeit ist insofern eng verwandt mit dem allgemeinen Staatsbezug des Verfassungsverständnisses, als die Argumentationen sowohl des EuGH als auch des Bundesverfassungsgerichts die Betrachtung 148 So Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 218 f., kennzeichnet diese als „quasi-autonome Rechtsordnung“, ordnet sie geltungslogisch jedoch gleichwohl als abhängig vom innerstaatlichen Rechtsnwendungsbefehl ein, vgl. S. 216; vgl. auch die Ausführungen von Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 172 ff.; sowie unter souveränitätstheoretischen Aspekten auch Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 392 ff. 149

Zu den Grenzen der Plausibilität einer Theorie unabhängiger polyzentrischer Geltungssysteme vgl. Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 538: Es sei fraglich ob hiermit ein angemessener Rechtserkenntnisstandpunkt eingenommen werde; allgemein auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 13 ff. 150

Vgl. Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Kollisionskurs?, AöR 119 (1994) S. 565; Rupp, Europäische „Verfassung“ und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), S. 269 f.

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der Souveränität als essentielles Kriterium der Verfassungsbildung postulieren und zugleich die Unmöglichkeit behaupten, Konstitutionalisierung abseits von Letztinstanzlichkeit zu etablieren: Der Unterschied beider Auffassungen konzentriert sich in der Frage, wo Souveränität verortet wird. Akzeptiert man diese Implikation und appliziert man sie unbekümmert und mit begrifflicher Striktheit auf das geltungshierarchische Konkurrenzverhältnis von Gemeinschaftsrecht und Staatsrecht, führt das ebenfalls zur Dekomposition der Möglichkeit vertragsförmiger Verfaßtheit der EU. Wenn die Letztverbindlichkeit der Primärverträge notwendige Voraussetzung ihrer Verfassungsqualität ist, dieser Verbindlichkeitsstatus aber zugleich die so verfaßte Ordnung zum Staat qualifiziert, dann ist die Union entweder – als Staat – verfaßt, oder aber – als supranationale Ordnung eigener Art – nicht verfaßt, weil nicht verfassungsfähig. Die o.g., staatsbezogenen Verfassungspositionen wie etwa von Kirchhof kommen deshalb – auf den ersten Blick folgerichtig – zu dem Ergebnis, daß im Prozeß der Verfassungsbildung Europas die latente Infragestellung der Verbindlichkeit der Nationalverfassungen beteiligter Nationalstaaten inbegriffen, „Verfassung im Vollsinne mit Kompetenz-Kompetenz“ verbunden sei151. Im Hinblick darauf mag es auf den ersten Blick überraschen, daß die vorliegende Untersuchung den Schlüssel für die Auseinandersetzung mit diesem Kriterium nicht in der Relativierung der Verbindlichkeitsproblematik oder zumindest einer Abmilderung der systematischen Verwiesenheit der Kategorien von Verfassung und Geltung sucht, da das herkömmliche Argumentationsmuster europarechtlicher Betrachtung aus der Darlegung unionsspezifischer Besonderheiten die Inkommensurabilität der Europäischen Union und damit die Relativität staatsradizierter Kategoriebezüge folgert152. Bei genauerer Betrachtung eröffnet indes gerade die strikt auf die Untersuchung von Abhängigkeiten vom staatsrechtlichen Verfaßtheitszusammenhang bedachte Bestimmung des geltungslogischen Status der Unionsverträge nicht nur den Zugang zu seiner normsystematischen Spezifikation, sondern offenbart sich im Geltungsgrund auch das Wesen der Union als komplementäre Ordnung153. Im Unterschied zu den konventionellen gemeinschaftsrechtlichen 151

Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 586; zur begrifflichen Differenz von Souveränität und Kompetenz-Kompetenz vgl. Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 580; McCormick, Sovereignty Now, 1 ELJ 259, 260 (1995). 152 In diesen Kontext sind auch alle Begrifflichkeiten einzuordnen, die die europäische Rechtsordnung als autonome, aus der Quelle der Verträge fließende Verfassung sehen, vgl. EuGH, Slg. 1963, S. 1 ff. – Van Gend & Loos. 153 Vgl. dazu Pernice, The Role of National Parliaments, WHI Paper 05/01, S. 11: „interwoven and complementary“; Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union – Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 204, 209; Zum

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Begründungsansätzen, deren Defizite im folgenden darzulegen und die damit als nicht zureichender Ausgangspunkt für vorliegende Systematisierung zu relativieren sind, sucht daher die vorliegende Untersuchung in der Analyse des geltungstheoretischen Status den Schlüssel für das normsystematische Verständnis der Verträge als spezifischer Verfassung. Sie greift damit den staatsorientierten Anforderungsrahmen einerseits auf und sucht eine Zuordnung des pouvoir constituant und Bestimmung der Geltungsbedingungen in dem staatsrechtlichen Willensbildungsprozeß, der die europäischen Gemeinschaftsverträge hervorbringt. Gleichzeitig wird dieser Ausgangspunkt jedoch nicht als Grundlage einer Dekomposition, sondern als geltungslogisch-materiales Bestimmungskriterium einer genuin supranationalen Verfaßtheitsform verwandt und der Grund der Verbindlichkeit der Unionsverträge aus dem Wesen der durch sie konstituierten Komplementärordnung selbst heraus relativiert. Dies ist in folgenden vier Argumentationsschritten aufzuzeigen: Das Wesen der Vertragsgeltung besteht in einer auf Selbstbindung angelegten, koordinativ strukturierten und voluntativ generierten Verbindlichkeit (3. b) bb)). Der Grund der Vertragsverbindlichkeit eröffnet kein grundnormartiges Letztverbindlichkeitsverständnis, sondern nur eine auf die gemeinschaftsrechtliche Teilrechtsordnung bezogene relative Letztverbindlichkeit, die im übrigen vom pouvoir consituant der Mitgliedstaaten – und nur von diesem – als „Herren der Verträge“ abhängig ist (cc)). Von der Geltung des Vertrages als gemeinschaftsrechtlicher „Quasi-Grundnorm“ leitet sich die gesamte gemeinschaftsrechtliche Teilrechtsordnung ab (3. d)). Dieser geltungslogische Status macht den Vertrag zur Verfassung einer komplementären Ordnung, indem er die Notwendigkeit partieller gemeinschaftsrechtlicher Geltungsautonomie154 mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verfassungsprinzip der Wahrung der Mitgliedstaaten in ihrer Staatlichkeit zur Konkordanz bringt. Gerade in der Defizienz gegenüber einer grundnormartigen Letztgeltung im Vollsinne ist die spezifische Verfaßtheit der Union als integrative Komplementärordnung angelegt, in denen der Fortbestand der Mitgliedstaatlichkeit aufgehoben ist (4.).

Komplementärbegriff – und zu verwandten begrifflichen Klassifizierungsbemühungen – auch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 51; Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 318; de Witte, International Agreement or European Contitution?, in: T.M.C: Asser Instituut (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 3, 13: „complementary constitution“. Vgl. auch o., III. 2. a). 154 Zur Relativität möglicher Autonomie des supranationalen Verbunds im Mehrebenengefüge unten, Kap. 3, III. 3. c) bb).

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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3. Geltungsbegriff und Vertragsgeltung Ein Strukturvergleich von Gemeinschaftsrecht und staatlichem Recht dokumentiert normhierarchische Parallelen. Die Geltungsgründe der gemeinschaftsrechtlich untervertraglichen Normen – deren normsystematische und legitimationstheoretische Betrachtung im Einzelnen dem vierten Kapitel vorbehalten ist – weisen jedenfalls darin keine spezifische Differenz zur staatsrechtlichen normenhierarchischen Struktur auf, daß auch sie ihre normative Existenz der autoritativen Setzung durch einen Hoheitsträger verdanken, der die Rechtsetzungsgewalt innehat. Die Innehabung dieser Rechtsetzungsgewalt resultiert aus der ermächtigenden Festschreibung dieser Hoheitsgewalt im jeweiligen Verfassungsrecht; für die gemeinschaftsrechtliche Ordnung konstituieren die primärrechtlichen Ermächtigungen erst die Hoheitsgewalt der normsetzungsbefugten Organe des Gemeinschaftsrechts. Der gewichtige Unterschied zum Staatsrecht, daß die zur sekundärrechtlichen Normsetzung ermächtigte Hoheitsgewalt keine originäre, sondern derivatives Resultat mitgliedstaatlicher Übertragung von Hoheitsgewalt zur Ausübung auf die gemeinschaftsrechtlichen Normsetzungsinstitutionen155 korrespondiert der normativen Differenz von Staatsverfassung und Vertragsverfassung. Es läßt sich daher sagen, daß die Problematik der Gemeinschaftsrechtsgeltung kein Phänomen des Sekundärrechts selbst ist, sondern sich aus der Qualität des Geltungsstatus der die Sekundärrechtsetzung erst ermöglichenden Ermächtigung im Primärrecht versteht. Mit anderen Worten: Die gesamte Geltungsproblematik des Gemeinschaftsrechts ist in den primärrechtlichen Verträgen konzentriert; aus einer zureichenden Bestimmung des primärrechtlichen Geltungsgrundes ergibt sich zugleich das abgeleitete sekundärrechtliche Geltungsverständnis. Die Betrachtung vertragstypischer Geltung, die diesen als konstitutionellen Ausgangspunkt einer Teilrechtsordnung ausweist, kommt nicht ohne eine begriffliche Vergewisserung über das Wesen von Geltung aus. Gerade durch die normphänomenologische Besonderheit des Vertrages als koordinativer Handlungsform156 bedarf es zu seiner Geltungscharakterisierung in besonderem Maße der Beachtung, wie geltungsbegriffliche Kategorien auf den Vertrag in spezifischer Differenz zu subordinativen Normen anwendbar sind. Erst in dieser methodischen Rücksichtnahme ist das Wesen vertraglicher Geltung erfaß-

155 156

Vgl. BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht.

Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 9 f. Zum koordinativen Charakter des Vertrages als Rechtsquelle vgl. unten, Kap. 3, III. 3. b) bb); sowie allgemein zur Normativität koordinativer Selbstbindung Neil McCormick/Joseph Raz, Voluntary Obligations and Normative Powers, Proceedings of the Aristotelian Society XLVI/1972, Supplementary Volume, 59-105. Michael H. Robins, Promising, Intending, and Moral Autonomy, 1984.

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bar. Die Auseinandersetzung mit der Vertragsgeltung erfolgt in drei Teilen. Auf der Grundlage des Geltungsbegriffs ist zunächst zu verdeutlichen, daß der Grund rechtlicher Geltung auf den Normalfall autoritativ (subordinativ) gesetzter Normen zugeschnitten ist (a). In Abgrenzung hierzu bedarf deshalb die Kennzeichnung der Vertragsgeltung einer eigenen geltungstheoretischen Begründung, die in Anlehnung an die Gesellschaftsvertragstheorien herauszuarbeiten ist (b). Auf der Grundlage dieser allgemeinen Kennzeichnung des Wesens vertraglicher Geltung kommen sodann die Besonderheiten der positivrechtlichen Erscheinungsform des Gemeinschaftsvertrages in Betracht. Hier geht es namentlich um eine Verhältnisbestimmung des vertraglichen Geltungsgrundes zum Ratifikationsgesetz und um eine geltungstheoretische Einordnung des Phänomens der unmittelbaren Anwendbarkeit (c).

a) Der Begriff rechtlicher Geltung Rechtliche Bindung verweist unausweichlich auf Zwangsbefugnis als notwendiges Kriterium allen Rechts157. Das Recht ist aber andererseits schon begrifflich158 nicht nur mit den faktischen Elementen von Befolgung und – notfalls zwangsbewehrter – Durchsetzung verbunden159, sondern auf die Kategorie der Geltung hin angelegt160. Die Frage nach dem Grund der Geltung von recht157 Grundlegend Kant, MdS; RL, § D. Das Recht ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden, VI, 231: „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht“; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 94: „Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht, weil das Unrecht gegen dasselbe eine Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache ist“. vgl. auch Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 63 ff.: „Legitimationsaufgabe: Zwangsbefugnis“; von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 53, setzt Rechts- und Zwangsgemeinschaft gegeneinander und sieht in dem ersteren Begriff ein Legitimationsprädikat. 158 Entsprechend ist es eine Unterbestimmung des kantischen Rechtsverständnisses, wenn Hasso Hofmann, Gebot, Vertrag, Sitte, 1993, S. 44, Kant unterstellt, er identifiziere Rechtsmacht mit bloßer Zwangsbefugnis. Hofmann scheint hier die Antinomien von Moralität und Legalität einerseits Normativität und Faktizität andererseits in eins setzen zu wollen, indem er die Verbindlichkeit auch von Recht als zur Innerlichkeit gehörig zuordnen will. 159 So differenziert Luhmann, Rechtssoziologie, Band 2, 1972, S. 267, zwischen Befolgung und Durchsetzung (vgl. dazu auch Boros, Normativität, rechtliche Geltung und Rechtsgeltung, ARSP Beiheft 27, S. 18), verbleibt aber damit hinsichtlich beider Elemente in einem von bloßer Faktizität des Recht geprägten Verständnis. 160 Dem widerspricht es nicht, wenn Alexy, Der Begriff und die Geltung des Rechts, 1992, S. 44, betont, daß man sowohl einen geltungsfreien als auch einen Geltung impli-

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lichen Quellen ist dementsprechend für den Vertragsbegriff grundlegend und thematisiert zugleich schlechthin einen analytischen Grundbestandteil des Rechts161. Geltung gewinnt als normative Kategorie Gestalt erstens in der Abgrenzung zu faktischen Befolgungskriterien, sei es in empiristisch-psychologistischer Ausprägung162 oder in soziologischer Orientierung auf die gesellschaftliche Befolgung und faktisch verstandene Akzeptanz163. Die Reduktion des Wesens von Recht auf die bloß faktische Durchhaltung seiner Befolgung marginalisiert zum einen die Dimension des Sollens164 und bleibt andererseits die Erklärung schuldig, was Recht von bloßer kontingenter Wiederholung von Gewohnheiten unterscheidet165. Geltung muß sich in der Anwendbarkeit auf den das Recht Negierenden beweisen, sich also contrafaktisch durchhalten; erst in der Affirmation gegen die individuell-besondere Negation erweist Recht seine allgemeine Wirklichkeit166 und damit seine eigentliche Bedeutung.

zierenden Begriff des Rechts vertreten könne. Die Differenzierung zwischen geltendem und nichtgeltendem Recht setzt implizit schon voraus, daß der Rechtsbegriff hermeneutisch auf den Begriff der Geltung angewiesen ist. Wegen der konstitutiven Bedeutung der Kategorie der Verbindlichkeit (vgl. Kant, MdS, RL, § E, VI, 232: „Das stricte Recht kann auch als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden“ [Hervorhebung im Original]) ist unverbindliches Recht ohne die Implikation seiner möglichen Geltung kein Recht im Vollsinne und als Rechtssatz nicht einmal identifizierbar. 161 Grundlegend in der geltungstheoretischen Diskussion: Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, insb. S. 7 ff.; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, insb. S. 44 ff.; Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, insb. S. 57 ff.; Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, 1929; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, insb. S. 30 ff.; Schreiber, Geltung von Rechtsnormen, insb. S. 41 ff.; Ralf Dreier, Recht und Moral, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981. 162 Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 77; Jellinek, Allg. Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S. 332 ff., 338 ff., 339 f. 163 Georg Müller (Fn. 162), S. 33 m.w.N.; vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 10, S. 176 ff.; Nachweise zu soziologischen Konzepten der Geltung auch bei Boros, Normativität, rechtliche Geltung und Rechtsgeltung, ARSP Beiheft 27, S. 18; zu Defiziten faktischer Geltungsverständnisse auch Schreiber (Fn. 161), S. 58 ff. 164 Zur normativen Qualität des Rechts als seiner Verbindlichkeitsdimension Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 198; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 18, bezeichnet treffend „Geltung als Seinsweise von Normen“. 165 Vgl. ausführlich zu den nichtrechtlichen Ebenen Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992; Hasso Hofmann, Gebot, Vertrag, Sitte, 1993. 166 Für das Strafrecht insb. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 100, 101.

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Hiermit ist die Einwirkung der faktischen Ebene auf die Kategorie der Geltung nicht ausgeschlossen. Faktische Anerkennung kann die rechtliche Wirklichkeit der normativen Ebene beeinflussen, tatsächliche Wirksamkeit die Qualität einer „aposteriorischen Bedingung der Geltung“167 annehmen. Insofern haben die vielfältigen empirisch-faktischen Erwägungen zum Geltungsbegriff168 ihre Berechtigung. Damit ist aber begrifflich schon vorausgesetzt, daß die Faktizität von Befolgung und Durchsetzung als geltungsfremdes Kriterium von dieser zu unterscheiden und auf sie als logisch vorrangiges Bezugssubstrat ausgerichtet ist. Die damit das Wesen der Geltung kennzeichnende Frage nach dem „Grund der Verbindlichkeit“169, nach Gültigkeit, macht zum maßgebenden Kriterium rechtlicher Geltung im umfassend-vorpositiven Sinne, daß von einem gültigen Rechtssatz ein rechtliches Sollen ausgeht. Das entspricht der seit Hume170 in Staatsrechtswissenschaft und Rechtsphilosophie geläufigen Kategorienunterscheidung von Sein und Sollen und verortet Geltung in der Sphäre der Normativität171. aa) Die hierarchische Begründung als Normalfall der Normgeltung Jede Theorie findet ihren Ausgangspunkt im Normalfall des Betrachtungsgegenstandes. Auch eine Theorie der Geltungsbegründung muß ihren Ausgang davon nehmen, was in der rechtswissenschaftlichen Befassung als Normalfall rechtlicher Geltung anzusehen ist. Dieser Normalfall ist in Anbetracht des Wesens staatlicher Rechtssätze nicht Vertragsgeltung, sondern Normgeltung172. Das Phänomen der Normgeltung bildet – in Ermangelung außerstaatsrechtli-

167 Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 33; vgl. auch Radbruch, Rechtsphilosophie, § 10, S. 174 ff.; auch Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 41, hält ein „Minimum an sozialer Wirksamkeit“ einer Rechtsnorm für geltungskonstitutiv. 168 Aus soziologischer Sicht Max Weber, Staatssoziologie, § 2, S. 27 ff. 169 Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 32, vgl. auch Schreiber (Fn. 161), S. 104 ff., mit ausführlicher Darstellung der positivistischen und „naturrechtlichen“ Geltungspositionen. 170 Hume, Treatise of Human Nature, III, 1, 1; zum Streitstand in der Auslegung der Kritik Humes instruktiv Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, 1988, S. 30 ff. 171 Grundlegend hierzu auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S 35 ff. 172 Vgl. zum hierarchischen System der staatsrechtlichen Normtypen Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 19 ff.; zum Stufenbau des Rechts auch Schelsky, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts – eine säkularisierte politische Theologie?, S. 255 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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cher Rechtsnormerscheinungen – als staatsrechtsinternes Problem ein weitgehend geschlossenes System173. Daß der Geltungsgrund innerstaatlicher Normgebung in der staatsrechtswissenschaftlichen Literatur vergleichsweise unproblematisch behandelt wird – Gustav Radbruch spricht von einer „alten List der Weltgeschichte“174, daß das Recht, das zur Geltung gebracht werden soll, für bereits in Geltung ausgegeben wird175 –, sich auf einige „klassische“ paradigmatische Ansätze hin systematisieren läßt und auch dort, wo es um rechtsformsystematische Charakterisierungen geht, nur ein geringes Problemniveau zu implizieren scheint176, liegt hauptsächlich daran, daß das Junktim zwischen der Geltungskraft staatsrechtlicher Normen und dem verbindlichkeitsgenerierenden Vermögen der normhervorbringenden Institutionsstrukturen die Normgeltung mit einem starken Evidenzmoment versieht: Die Gültigkeit einer als Anwendungsbefehl staatlicher Hoheitsgewalt verstandenen Norm erklärt sich gewissermaßen selbst; diese Selbstverständlichkeit, mit der aus staatlicher Autorität verbindliche Normen fließen, muß dabei nicht einmal auf der Grundlage eines positivistischen Rechtsverständnisses beruhen. Ohnehin kommt es an dieser Stelle nicht auf die Auseinandersetzung mit der Problematik an, ob die Geltung des Rechts legalistisch-formal verstanden wird oder ob ein materiales, legitimitätsorientiertes Kriterium zur Geltungsannihilation ungerechten, „unrichtigen“177, illegitimen Rechts führt, etwa im Sinne der Radbruchschen Formel, die eine solche materiale Anforderung in Form des Verdikts formuliert: „Für die Geltung erweislich unrichtigen Rechts läßt sich keine Rechtfertigung erdenken“178. Auch in solchen legitimitätsorientiert verstandenen Geltungstheorien, die das Moment der inhaltlichen Rückbindung und darin die Überzeugung von der richtigkeitsgewährende Kraft von Verfahren artikulieren179, sich also in der behaupteten Konvergenz von freiheitskonform-repräsentativ strukturiertem Verfahren und Geltungsgrund von einer

173 Vgl. nur Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 3. Abschnitt, S. 101: „Für alle Rechtssätze unterhalb des Verfassungsranges ist die Verfassung der Geltungsgrund“. 174 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1910, S. 22. 175 Vgl. auch Kirchhof, HdBStR, Bd. 1, § 19, Rdnr. 12. 176 Vgl. etwa die lapidare Abhandlung der Gesetzesgeltung in der im übrigen sehr ausführlichen Untersuchung von Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, § 50. 177 Vgl. Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 12 ff., unter Bezugnahme auf Stammler. 178 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 171; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie, 9. Aufl. 1983, S. 178 f. 179 Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, § 32, lit. a, S. 165.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Bestimmung des Gesetzesbegriffs als bloßem obrigkeitlichem Befehl180 abgrenzen, klingt das geltungsbegründende Voraussetzungsgewicht einer staatsrechtlich instituierten Monopolgewalt an. Die mit der Rechtsmonopolisierung durch Staatsgründung erwachsende Vereinnahmung von Zwangsbefugnis mit Ausschließlichkeitsanspruch (Gewaltmonopol) enthält mit Notwendigkeit – und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit – das Vermögen zur hoheitlichen Ausübung dieser Herrschaftsgewalt. Sie impliziert das verpflichtende Vermögen des Staates, einseitig subordinativ zu handeln. Dieses Vermögen verteilt sich in einem republikanisch gewaltengeteilten System auf die je spezifischen Rechtsformen der Aufgabenwahrnehmung durch die jeweilige Gewalt. Staatliche Herrschaftsgewalt äußert sich dann legislativ als Ge- oder Verbot imperativischer Einkleidung181. Dem entspricht in der rechtstheoretischen Literatur ein recht umfassender Konsens einer unbefangenen Gleichsetzung von Gesetzesgeltung mit Rechtsgeltung schlechthin. Mit anderen Worten wird die Betrachtungsperspektive schon dem Vorverständnis nach mit Priorität bezogen auf das Gesetz bzw. den Rechtssatz als Normalfall des Rechts. Beispiele für diese Koppelung lassen sich theoriegeschichtlich in mehrfacher Richtung wiederfinden, so insbesondere etwa schon bei Bentham: „Law … as an assemblage of signs declarative of a volition conceived or adopted by the sovereign in a state concerning the conduct to be observed in a certain case by a certain person or class of persons who, in the case in question, are or are supposed to be subject to the power.“182,

180 Zum Gesetz als autoritativer Normbefehl vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 20. Schmitt sieht als Elemente gesetzesstaatlicher Autorität die rechtsschaftende Kraft des Gesetzes sowie Gesetzesvorrang und Vorbehalt. Vgl. auch Otto Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, S. 64: „Die oberste Art von Staatswillen ist die, so da unter dem Namen Gesetz ausgesprochen wird“; die autoritative Dimension der Geltung insgesamt betonen auch Radbruch, Rechtsphilosophie, § 10, S. 174, sowie Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 16. 181 Hierin manifestiert sich die autoritative, d. h. herrschaftsförmige Seite dessen, was seit Carl Schmitt als „Gesetzgebungsstaat“ bezeichnet wird, vgl. dazu Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 7, 20; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 195; Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, S. 2. Anderenteils verwirklicht der Gesetzgebungsstaat ein Moment der Verfassungsstaatlichkeit, vgl. dazu Drath, Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats, S. 556, 561 ff.; Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 48. Im Gesetzgebungsstaat fließen daher die legitimatorischen und autoritativen Gehalte staatlicher Rechtsherrschaft in der Handlungsform des Gesetzes zusammen. 182 Jeremy Bentham, Of Laws in General (1970) 1; Bentham ist andererseits – anders als Hobbes – nicht auf diese Rechtsdefinitionin einer das internationale Vertragsrecht schon begrifflich ausschließenden Weise fixiert, wie Mestmäcker, On The Legitimacy

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aber auch bei Austin: „Laws are commands“183, Hobbes: „Law, in general, is not counsel but command […] of him, whose command is addressed to one formerly obliged to obey him“.184 H.L.A. Hart: „an order backed by threats“185. Es manifestiert sich darin zweierlei: Einmal die Assoziation des Wesens von Recht mit Subordination, Zwang und Befehlsform als Typizität von Sollenssätzen186. Zum anderen die Auffassung einer Bestimmung des Geltungsgrundes vom Souveränitätsaxiom her und von dem normhervorbringenden Vermögen der souveränen Instanz, des Staates, als freier Schaffensmacht und Artikulation von Herrschaftsgewalt. Die besondere Suggestivkraft des Hierarchiearguments für normbezogene Geltungsbegründung dokumentiert auch der Normlogismus187 in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens188, die Geltung als Resultat eines Rekurses auf die übergeordnete Autoritätsebene189 und die Verpflichtung durch diese kennzeichnet. Geltungslogische Gemeinsamkeit aller genannten Auffassungen ist die Annahme, daß dieses Vermögen souveräner Körperschaften sich der Norm in ihrer Geltung mitteilt, was begründen mag, daß Souveränität, Geltung und

of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 615 ff., 618 zutreffend herausstellt, vgl. dazu Bentham, An Introduction to the principles of Moral and Legislation, 1970, S. 296. 183 John Austin, Lectures on Jurisprudence, Band I, 5. Aufl. 1885, S. 79. 184 Leviathan, Molesworth Edition III (1739), S. 251. 185 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 6; vgl. Mestmäcker, On The Legitimacy of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 615 ff. 186 Zum „normtheoretischen Dilemma setzungsorientierter Normgeltungsbegriffe“ vgl. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 44. 187 Auch – irreführend – als Normativismus bezeichnet, was suggeriert, daß das Spezifikum der Reinen Rechtslehre in der Geltungstheorie bestünde. 188 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, V. 28. Die Rechtsordnung als Rechtserzeugungszusammenhang, S. 63. 189 Zur Grenze dieses Arguments – dem gängigen Vorwurf des infiniten Regresses – aber auch zur Grenze der Berechtigung dieser Kritik an Kelsen vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 13 ff.; zur Grundnormtheorie auch Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 101 f.

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Subordination als Rechtsbegriffe nicht nur in einem engen Verweisungszusammenhang stehen, sondern auch die Geltungslehre insgesamt dominieren190. bb) Der Grund der Verfassungsgeltung als außerrechtliches Problem Eine Ausnahme hierfür gilt nur für den normtheoretischen Typus der Verfassung. Als Letztgrund normativer Ableitungen, als Spitze einer staatsorganisationsrechtlichen Normpyramide sind die normlogistischen Ableitungskonstruktionen im Geiste Kelsens verschlossen, wollte man nicht in einen infiniten Regreß auf metakonstitutive Geltungsgründe verfallen und damit das Wesen der Verfassungsgeltung letztlich normlogistisch ad absurdum führen191. Das Wesen der Verfassung ist es umgekehrt, ihrerseits „Grundnorm“192 bzw. „rule of recognition“193 für nachgeordnete Normebenen darzustellen. Folge ist, daß die Geltungserklärung der Verfassung auf die Akklamation vorrechtlicher Geltungsgründe angewiesen ist194, in welcher entweder auf naturrechtliche Vorstellungen rekurriert wird oder aber die Verfassung auf eine konsensförmig-fiktive Geltungsstruktur im Geiste der Gesellschaftsvertragstheorien rückgeführt wird. Verfassungsgeltung ist Resultat „verfassungsgebender Gewalt“195 der sich verfassenden Einheit. Die Ableitung vom pouvoir constituant des Volkes führt zur Verortung des Geltungsgrundes der Verfassung im subjektivallgemeinen Willen (Gemeinwillen) der sich selbst verfassenden Einheit; die Beziehung auf das Verpflichtungsvermögen der vorstaatlichen Normativität des Volkes macht die Verfassung zum Bindeglied von vorrechtlichen Geltungsprämissen und staatsrechtlicher Positivierung. Die verfassunggebende Gewalt steht außerhalb der rechtlichen Ordnung, die sie konstituiert196. Sie ist Letztgrund für die Rechtsordnung und kann ihrerseits aus dieser keinen Grund für ihre eigene Geltung herleiten. Ihre Geltung hat ein dezisives Moment un190

Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 1983, § 10, S. 174: „Auf der Suche nach dem Grunde [der] Geltung stößt die juristische Geltungslehre mit Notwendigkeit irgendeinmal auf die Tatsächlichkeit eines nicht weiter ableitbaren autoritativen Wollens.“ 191 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 13 ff., und Radbruch, Rechtsphilosphie, 1983, S. 120 f., weisen deshalb zutreffend darauf hin, daß die Normenlehre Kelsens in letzter Konsequenz auf eine naturrechtliche Komponente angewiesen ist und das wissenschaftlich-methodologische Purifizierungsanliegen Kelsens mit dem Positivismusetikett nur unvollkommen beschrieben wird. 192 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 196 ff. 193 H.L.A. Hart, The Concept Of Law, 1965, S. 94 f. 194 Vgl Kirchhof, HdBStR, Bd. 1, § 19, Rdnr. 13 ff.; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 102 ff. 195 Kirchhof (Fn. 194), Rdnr. 17. 196 Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 525: Der Verfassunggeber werde gewissermaßen unsichtbar.

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mittelbarer Wollensartikulation der verfassunggebenden Gewalt197. Das verfassunggebende Wollen, der pouvoir constituant, hat in seinem geltungslogischen Status letztendlich axiomatischen, weder begründungsfähigen noch begründungsbedürftigen Charakter198.

b) Das Wesen der Vertragsgeltung als normdifferentes Geltungsproblem Nicht alle geltungsbegrifflichen Erwägungen nehmen in der oben a) dargestellten Weise ihren Ausgang von einem normbezogen-autoritativen Geltungsverständnis. Allgemeiner kennzeichnet etwa Weinberger den Ursprung rechtlicher Geltung als auf „normerzeugende[n] Willensakte[n] autorisierter Subjekte“199 beruhend. Formulierungen solcher Art bleiben offen für nicht subordinativ strukturierte Geltungsphänomene und sind insofern für eine Analyse des vertraglichen Geltungsstatus zugänglicher. Gleichwohl muß die geltungstheoretische Einordnung des Vertrages in ein stringentes Handlungsformsystem im Kontrast zum Grund der Rechtssatzgeltung (in Gesetzes- oder Verordnungsform) als Ausdruck hoheitlicher Machtbefugnis mit Notwendigkeit problematisch sein, weil die fehlende Möglichkeit normhierarchischer Ableitung durch den bloßen Verweis auf eine abweichende, koordinative Struktur nicht kompensiert wird. Während die staatsrechtlichen Normen kraft hierarchischer Ableitung von der Autorität entweder übergeordneter Normebenen gelten, ist dem Vertrag die Ableitung von der Autorität einer übergeordneten (Norm- oder Organ-)Instanz als analytisches Resultat seiner koordinativ-konsensualen Struktur verwehrt; ein Rekurs auf einen übergeordneten Anwendungsbefehl scheidet aus. Zur geltungslogischen Integration des Vertrages in ein legislatives Gesamtsystem muß geltungslogisch plausibilisiert werden, daß Geltung nicht notwendig eine emanative Wirkung übergeordneter Autorität ist. Im Unterschied zu Normen ist der Vertrag vor die Aufgabe gestellt, die Hervorbringung rechtlicher Bindungen in der bloßen Selbstbezüglichkeit zu leisten; bei ihm geht es um die Hervorbringung von Verpflichtungsgehalt aus dem normativen Moment einer wechselseitig-freiwilligen Selbstbindung. Als Vorbildmodell des staatorganisationsrechtlichen Formkanons kommen für den Vertrag nur Anleihen im Geltungsverständnis der Verfassung in Betracht; von ihr hebt der Vertrag sich jedoch andererseits dadurch signifikant ab, daß er sich mit den vertragsschließenden Staaten auf Rechtssubjekte bezieht, die ihrerseits eine ausdifferenzierte Rechtlichkeit im Innenverhältnis bereits institutionalisiert haben und 197

Marcel Kaufmann (Fn. 196), S. 525.

198

Marcel Kaufmann (Fn. 196), S. 525.

199

Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 118.

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für sich beanspruchen, die vertragsbewirkenden Willensbildungsmechanismen abschließend und letztverbindlich festzuschreiben200. Das Postulat einer hiervon abgelösten dezisiv-absoluten Geltungsuranfänglichkeit ist deshalb nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu plausibilisieren. Daß der Vertrag als rechtliche Formkategorie einzuordnen ist und nicht etwa in den Bereich gesellschaftlicher Konventionen ohne Geltungsstatus gehört, ist dem Begriff des Vertrages schon semantisch eingeprägt201, was den Vertrag schon vor jeder genaueren Betrachtung des spezifischen Grundes seiner Geltung als rechtliche Handlungsformen charakterisiert: Kein Vertrag – in einem vorpositiven Sinne – ist auf eine bloß faktische und kontingente Übereinkunft mehrerer naturalistisch verstandener individueller Willensausdrücke der Vertragspartner beschränkt202. Betrachtete man den Vertrag als bloßen natürlichen Willenszusammenschluß203, würde er keine willensunabhängige Geltung entfalten und sich seine Rechtlichkeit in der Abhängigkeit vom immerwährenden faktischen Fortbestand des Willens der Vertragsparteien verflüchtigen. Das Wesen des Vertrages liegt aber nicht in der Symbolisierung eines faktischen Konsenses, sondern in der Bindung der Beteiligten aufbauend auf dem durch konvergente Willenserklärungen institutionalisierten Konsens der Vertragsschließung. Der einmal geschlossene Vertrag hängt nicht davon ab, daß die Vertragsparteien ihn weiterhin wollen, sondern verpflichtet kraft seiner Eingehung zu seiner Einhaltung204. Das normative Wesen des Vertrages ist die Verpflichtung zu seiner Einhaltung. Verpflichtung kennzeichnet die Einschränkung der Handlungsalternativen des verpflichteten Subjekts. In der Verpflichtungskategorie teilt der Vertrag mit anderen rechtlichen Handlungsformen das rechtskennzeichnende Merkmal des

200 Ausführlich zur Bedeutung der Staatlichkeit für das komplementäre Verfassungsparadigma unten, Kap. 3, III. 4. a). 201 So Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 21 ff. 202 Vgl. Schottky, Die staatsphilosophische Vertragstheorie als Theorie der Legitimation des Staates, PolV 1976, S. 83; Siep, Vertragstheorie – Ermächtigung und Kritik von Herrschaft?, in: Bermbach/Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit, S. 130 f.; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 51. 203 Philosophiegeschichtliche Ansätze für ein solches vertragsbezogenes Geltungsverständnis etwa bei Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, 1793, S. 236. 204 Dazu Hengsbach, Die Vertragstheorie als Staatslegitimation. Eine kritische Untersuchung ihrer Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung von Vertragsgerechtigkeit und Konsens, 1998; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 25: „Das Versprochene ist in die moralische Verfügungsgewalt des Versprechensadressaten übergegangen“.

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Gebundenseins der Adressaten bzw. Beteiligten205. Der im Vertragsschluß in Koordination mit anderen sich selbst relativierende Wille, sei es natürlicher Personen, sei es verfaßter Staaten als juristischer Personen im hier thematischen internationalen Recht, ist zur Erreichung des jeweiligen subjektiven Ziels, den Kontrahenten zu binden und dadurch sich selbst zu erweitern, auf die normative Validität der vertragsbewirkenden Willensentäußerung angewiesen. Wo dieser Übereinkunft keinerlei bindender Gehalt zuerkannt wird, handelt es sich in Wahrheit um voluntativ-beliebige Übereinstimmungen jenseits von Rechtskategorien206. Die vereinzelten theoriegeschichtlichen Ansätze zur Entwicklung eines Vertragsbegriffs unter Absehung von der Notwendigkeit einer Vertragsbindung207 denaturieren deshalb den Vertrag zum Nichtvertrag; Vertragsgeltung ist ein analytisches Merkmal. Die prädikative Zuschreibung eines Merkmals beinhaltet jedoch noch keine Bestimmung einer Begründungsargumentation. Daß der Vertrag gelte, enthält keine Aussage über den Geltungsgrund. Für eine weiterreichende Annäherung an das Wesen der Vertragsgeltung ist zu differenzieren zwischen positivrechtlich-immanenten und vorpositiven, namentlich vertragstheoretischen Ansätzen. aa) Völkerrechtliche Geltungstheorien Die positivrechtliche Bestimmung von Geltungsgründen des Vertrages kann auf völkerrechtliche und staatsrechtliche Überlegungen aufbauen. Positivrechtlich liefert zunächst die Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969208 eine Typisierung der mit dem Wesen zwischenstaatlicher Verträge verbundenen Willensbildungsvoraussetzungen. Namentlich positiviert das Übereinkommen in Art. 26 den Grundsatz pacta sunt servanda, differenziert Manifestationsformen völkerrechtlicher Selbstbindungshandlungen, typisiert Beginn und Beendigung vertraglicher Geltung und statuiert ein abgestuftes System des Inkrafttretens zwischenstaatlicher Verträge in Abhängigkeit von den innerstaatlichen Willensbildungsakten209. Für eine prinzipielle Bestimmung des Gel205

Vgl. Kant, MdS, RL, § D; Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 140. Siep, Vertragstheorie – Ermächtigung und Kritik von Herrschaft? In: Bermbach/Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit: Leviathan – Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, 1982, S. 131; Schottky, Die staatsphilosophische Vertragstheorie als Theorie der Legitimation des Staates, PolV 1976, S. 83; vgl. auch Kersting (Fn. 204), S. 195, der von „normativer Entleerung“ spricht. 207 So hat Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, 1793, S. 239, mit Blick auf das normativ-menschenrechtliche Gewicht der willensbegabten Rechtsperson deren Gebundensein an geschlossene Übereinkünfte als freiheitswidrig kritisiert. 208 BGBl. II, 1985, S. 926 f. 209 Art. 46 WVRK. 206

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tungsgrundes zwischenstaatlicher Vertragsbindung bleibt eine dezidierte Auseinandersetzung mit den hier niedergelegten Grundsätzen indes schon deshalb letztlich unzulänglich, weil die vertragsförmige Normierung von Vertragsbindungsgrundsätzen das Vorhandensein eines vertragsexternen Geltungsgrundes implizit schon voraussetzt210. Auch eine hierauf aufbauende, den positivrechtlichen Definitionenkontext gleichwohl überschreitende Annäherung an den Geltungsgrund des zwischenstaatlichen Vertrages anhand der völkerrechtswissenschaftlichen Geltungstheorien erweist sich nur in Teilen als weiterführend. Die Frage nach dem Geltungsgrund völkerrechtlicher Rechtsakte oder des Völkerrechts insgesamt in der Völkerrechtswissenschaft ist wenn nicht ausdiskutiert, so doch zumindest in den vertretenen Grundparadigmen211 artikuliert. Abseits völkerrechtsskeptischer Ansätze wie etwa von Austin212, aber auch von Thomas Hobbes213, die in der (Über-)Betonung souveräner Bindungslosigkeit von Staaten das Ungenügen völkerrechtstypischer Rechtsformen gegenüber einem positivistischabsolutistischen Staats- und Rechtsverständnis konstatieren wollen214 (der Hobbessche Gesellschaftsvertrag ist eine rein staatsbezogene Konstruktion) und damit implizit die Subordinativität des Rechtsnormerlasses nach dem Muster des innerstaatlichen Gesetzes zur schlechthinnigen Grundlage jedes Normgeltungsverständnisses machen, stehen einander mit unterschiedlicher Betonung der Geltungsbegründung im Einzelnen all jene Auffassungen nahe, die den Vertrag und seine Geltungsbegründung als Kategorie der Rechtlichkeit anerkennen und dementsprechend in einen Handlungsformkanon rechtlicher Regelsetzung einordnungsfähig erweisen215. Den oft detailbezogenen Differenzierungen soll hier nicht das Hauptaugenmerk gewidmet sein; aufzeigungsbedürftig für die Einordnung supranationaler Handlungsformen ist nur, welche normentsprechenden Implikationen mit dem Konsensprinzip als Grundlage völkerrechtlicher Rechtsgeltung verbunden sind, wie also die Handlungsform des supranationalen Vertrages in bezug auf die Kategorien von Allgemeinheit und Repräsentativität dadurch einzuordnen ist, daß er als Ausdruck konsensgegründeter Geltung der vertragsbeteiligten Staaten bestimmt wird. Nur im Hin210

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 69 f. Vgl. den Überblick bei Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, § 1, Rdnr. 20 ff.; SeidlHohenveldern, Völkerrecht, 2000, § 12, S. 47 ff. 212 John Austin, Lectures on Jurisprudence, Band I, 5. Aufl. 1885, S. 79: „Laws are commands“. 213 Hobbes, Leviathan, Kap. 30, a. E. 214 Vgl. zu Hobbes etwa Mestmäcker, On the Legitimacy of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 618: „Law as the command of a sovereign power“; völkerrechtskeptisch auch Charles Beitz, Political Theory and international Relations, 1979, Part One. 215 Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, Rdnr. 16 ff. mit ausf. Nachweisen. 211

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blick hierauf ist eine Auseinandersetzung mit den Geltungstheorien erforderlich. Völkerrechtliche Geltungsbegründung in ihren herrschenden Ausprägungen – soweit von solchen überhaupt die Rede sein kann – erweist sich in vielerlei Hinsicht als mit kategorialen Unzulänglichkeiten behaftet216. Sie schwankt im wesentlichen zwischen positivistischen, naturrechtlichen und souveränitätstheoretischen Bestimmungen des Grundes vertraglicher Geltung, die einander unverbunden entgegengesetzt sind217, und neueren Ansätzen etwa dekonstruktivistischer Methodik218. Auf diese Weise tendiert völkerrechtliche Geltungsbegründung entweder zur positivistischen Verkürzung des Geltungsmomentes völkerrechtlicher Verträge oder zur Operation mit unabgeleiteten und mehr oder weniger hergesuchten „Geltungsaxiomen“, die ein allzu eng am staatsrechtlichen Normenbestand entwickeltes Verständnis dokumentieren oder die Unschärfe und materiale Beliebigkeit naturrechtlicher Geltungsbegründung in positivrechtliche Fragestellungen infiltrieren. (1) Die Versuche der Übertragung staatsrechtlichen Normgeltungsverständnisses auf das Völkerrecht, wie sie insbesondere für Kelsens Rechtssystem kennzeichnend sind, erweisen gerade in der Suche nach einem übergeordneten Geltungsgrund im Sinne einer Grundnorm die Unzulänglichkeit der Völkerrechtsbetrachtung. Das Axiom „pacta sunt servanda“, in dem etwa Verdross den Grund völkerrechtlicher Vertragsgeltung und damit gewissermaßen die völkerrechtliche Grundnorm im Sinne Kelsens erblickt219, ist keine Norm, sondern die beweisbedürftige Geltungshypothese220. Erst durch den Aufweis der Geltungsstruktur gewinnt der Satz pacta sunt servanda rechtliche Wirklichkeit. Das pacta sunt servanda-Axiom ist entweder ein Synonym für bereits in ihrer Begründung vorausgesetzte Vertragsgeltung oder eine petitio principii. (2) Auch die sogenannten Staatswillenstheorien221 stellen in der Rückführung der völkerrechtlichen Vertragsverbindlichkeit auf den Willen der beteiligten Staaten zwar zutreffend den Ansatzpunkt der staatlichen Selbsterweiterung und souveränen Selbstbestimmung heraus, verfallen aber unversehens auf die Ebe216 Für einen Überblick über die geltenden Doktrinen vgl. etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 71 ff. 217 Überzeugend systematisierter Überblick bei Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, Rdnr. 16 ff. 218 Vgl. hierzu die Nachweise bei Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, S. 12, Rdnr. 34. 219 Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926. 220 Ähnlich Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 69 f.: pacta sunt servanda sei keine Norm, sondern ein Grundsatz, der indes der Vertragsgeltung nichts hinzufüge. Allgemein kritisch gegenüber Zirkularitätselementen in Kelsens Grundnormthese Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 76. 221 Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, Rdnr. 20, S. 8.

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ne einer voluntaristischen Unterbestimmung staatlicher Fähigkeit zur Willensbildung und identifizieren völkerrechtliche Vertragsgeltung als Resultat eines fortbestehenden Willens der Vertragsparteien, was schon analytisch den vorgenannten semantischen Vertragskennzeichnungen widerspricht. Daß Verträge gelten, weil sie Ausdruck des darauf gerichteten Willens der Staaten sind, impliziert nicht, daß ein Fortbestand des im Vertragsschluß sich verobjektivierenden Willens erforderlich ist222, um den Fortbestand der Vertragsgültigkeit konstatieren zu können. Die von der sog. Vereinbarungslehre223 vorgebrachten argumentativen Rettungsversuche erfassen ihrerseits das Wesen des Vertrages nicht richtig, weil sie der Notwendigkeit, Vertragsgeltung aus dem normativen Gehalt des Vertragsschlusses selbst herzuleiten, dadurch ausweichen, daß sie mit einer fiktiven „Gemeinüberzeugung“ als externer Grundlage der Vertragsgeltung operieren. Vertragsgeltung als analytisches Prädikat ist auf der Grundlage solch voluntaristischer Unterbestimmung nicht erklärbar. Einzig zutreffend, gleichwohl aber über die allgemeinen Vorerwägungen kaum hinausweisend erscheint die von der herrschenden Meinung vertretene Rückführung vertraglicher Geltung auf den Konsens224. Damit aber bleibt die Geltungstheorie auf halbem Wege stehen. Die Kennzeichnung des Konsenses als vertraglichem Geltungsgrund darf diesen nicht in seiner Tatsächlichkeit in den Vordergrund stellen, soll nicht die Geltungsbegründung auf bloße Faktizität zurückfallen. Die Konsensnormativität ist deshalb ihrerseits noch begründungsbedürftig aus den normativen Implikationen des Willensbildungsvermögens der konsensbeteiligten Subjekte heraus zu bestimmen.

222 In dieser Weise interpretiert Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, Rdnr. 16 ff., die Position von Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, 1880, S. 40, m.E. jedoch zu Unrecht. Wäre seine Deutung Jellineks korrekt, so sprächen dagegen bereits die obigen, aus der Vertragssemantik folgenden geltungslogischen Vorüberlegungen, nach denen Vertragsgeltung als solche vom Fortbestand des Willens der Kontrahenten unabhängig ist. Jellinek artikuliert jedoch lediglich eine Bindung der Vertragsgeltung an den Fortbestand des mit seiner Eingehung verbundenen staatlichen Zwecks und emphatisiert hiermit gewissermaßen die Bedeutung der außervertraglichen Geschäftsgrundlage für das zwischenstaatliche Verhältnis, indes ohne damit eine direkte Identifikation von Vertragsgeltung und Willensgeltung zu verbinden. 223 224

Dazu ebenfalls Knut Ipsen (Fn. 211), § 1, Rdnr. 22, S. 8, m.w.N.

So zutreffen auch Knut Ipsen (Fn. 211), § 16, Rdnr. 48: Konsensprinzip als zentraler geltungslogischer Ausgangspunkt des Völkerrechts; zur Bedeutung des – formlosen – Konsenses als schlechthinniger Referenz für die völkerrechtlichen Handlungsformen insgesamt Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 639.

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bb) Geltung als Resultat des normativen Gehaltes der Willensbildung Im folgenden wird die These aufgeworfen und zu begründen versucht, daß der Grund vertraglicher Konsensnormativität sich aus dem Vermögen rechtlicher Subjekte zur Willensbildung und damit aus dem zugrunde liegenden Subjektsverständnis herleitet. Normativ gehaltvoll, so die im folgenden darzulegende These, wird der Konsens als Willensübereinkunft von willensmächtigen Subjekten. Im Unterschied zu der Position Carl Schmitts, die gleichfalls den souveränen Willen der Vertragspartner als vertraglichen Geltungsgrund sieht225, ist damit aber nicht eine dezisive Abolutsetzung axiomatisch vorausgesetzten Wollensvermögens intendiert, sondern soll dokumentiert werden, daß die subjektsinternen Willensbildungsbedingungen den Schlüssel zu einer insofern deduktiv begründbaren Vertragsverbindlichkeit darstellen226. Damit rückt das Subjekts- und Willensverständnis als zentraler Verortungspunkt der vertragsexternen Geltungsprämissen in den Mittelpunkt der Geltungsdefinition. Es soll gezeigt werden, daß eine Betrachtung rechtsphilosophischer Vertragskonzepte der Schärfung des Blicks auf eine Geltungssituation dient, deren konstruktiv-substantieller Gehalt positivitätsimmanent nicht hinreichend bestimmbar ist, und der Vertrag aufgrund seiner spezifischen, normdifferenten und koordinativen Geltungsnatur der Falle positivistischer Zirkularität nur dadurch zu entrinnen vermag, daß er in metapositiven Argumentationsformen mitbestimmt wird. Die Untersuchung geht dabei von der Annahme aus, daß zwischen allen Verträgen eine strukturelle Übereinstimmung in der Verknüpfung von Subjektsbegriff und Konsensprinzip liegt. Für dieses Argumentationsziel ist zu zeigen, daß eine der Form des Vertrages immanente architektonische Verknüpfung der Elemente von Geltung und Legitimität besteht und daß diese Bestimmungen auf den Vertrag internationalen Rechts auch in seinen rechtstatsächlichen Ausprägungen mit praktischem Bestimmungswert anzuwenden sind. Nur die abstrakte Entwicklung der Vertragsnormativität aus dem Subjektsbegriff heraus bewahrt vor der positivistischen Zirkularität des Aufsuchens vertragsvorrangiger Grundnormen oder anderer Ableitungsscheinbarkeiten. Die Untersuchung rechtsphilosophischer Geltungsbegründung vertraglicher Selbstbindung im Kontext einer Theorie des geltenden Rechts versteht sich nicht von selbst, wird aber schon durch die angedeutete strukturelle Verwandtschaft von Verfassung und Vertrag nahegelegt. Die Instrumentalisierung des 225

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 69: „Beruht eine Verfassung auf Vereinbarung oder Vertrag, so ist Rechtsgrund ihrer Gültigkeit der politische Wille der Bundesgenossen und die darauf beruhende Existenz des Bundes“. 226 Vgl. auch den insofern bestehenden Unterschied zur Position Carl Schmitts, Verfassungslehre, 1928, S. 70: „der einzelne Vertrag gilt und ist rechtlich bindend kraft positiven Rechts“.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Vertragsgedankens – in Form einer Referenz an die Gesellschaftsvertragstheorie227 – ist auch in der europarechtlichen Diskussion namentlich für die Erfassung der supranationalen Verfassungsarchitektur präsent. So rekurriert Pernice auf den contrat social im Ausgang von Rousseau als Modell spezifisch supranationaler Verfaßtheit228; Referenzen dieser Art wären nicht verständlich, ruhten sie nicht auf der Prämisse unausgeschöpften normativen Potentials des Vertrages als vorpositiver Kategorie229. „Volenti non fit iniuria“ – das Kernmotto der Vertragstheorie230 – weist der Kategorie des Wollens prominenten Begründungsgehalt zu. Schon bei Hobbes wird dies im Leviathan und in De Cive – vermittelt über das willentliche Ver-

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Teilweise wird – etwa von Tschentscher, Der Konsensbegriff in Vertrags- und Diskurstheorien, Rechtstheorie 33 (2002), S. 43 ff.; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 529 ff. – unter Berufung auf den hypothetischen Charakter der Gesellschaftsvertragstheorien behauptet, daß zwischen dem Konsensbegriff des Kontraktualismus und dem empirisch-realen Vertrag als Rechtsform keine normative Gemeinsamkeit bestehe. Das erscheint nicht überzeugend. Zweifelsohne handelt es sich bei den überwiegenden sozialvertraglichen Rechtsbegründungstheorien um Legitimationshypothesen, die weder die historische Wirklichkeit abzubilden noch auf einem realen omnilateralen Willenskonsens aller Staatskonstituenten sich zu gründen beanspruchen. Das impliziert jedoch nicht die These fehlender Konsensnormativität. Die legitimatorische Plausibilität aller Gesellschaftsvertragstheorien gründet sich auf die Überzeugungskraft einer – freilich vorgestellten – vorvertraglichen Ausgangssituation, von der aus der Vertrag den Stellenwert eines argumentativen Vermittlungsschrittes zur vertragsgegründeten, staatlichen Endsituation bekommt. Der hypothetische Vertrag des Kontraktualismus hat aufgrund dieser zeitlich strukturierten Argumentationseinkleidung notwendig eine prozeduralistische Form, die ihn von den diskurstheoretischen Ansätzen abhebt, in denen in der Tat nicht mehr der Diskurs als solcher, sondern die Akzeptabilität der diskursiv eingeführten Gründe den Ausschlag gibt (insoweit stimme ich mit Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 534, überein). Die Plausibilität dieser prozeduralistisch-kontraktualistischen Ausprägung des Konsensarguments hängt aber – im Unterschied zu der Diskurstheorie – davon ab, daß die Normativität dieses hypothetischen Vertragskonsenses vorausgesetzt und aus den gedachten Prämissen der Vertragsausgangssituation konsequent entwickelbar gedacht wird. 228

Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), 703 ff. 229 Zur Auseinandersetzung mit dem von Pernice zugrunde gelegten Konzept einer vom pouvoir constituant auch der Bürger Europas getragenen Komplementärverfassung vgl. unten, Kap. 3, III. 2. a) dd). 230 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 43; aufgegriffen bei Kant für den contractus originarius, MdS, RL, § 46, VI, 313 f.: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“.

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sprechen – explizit artikuliert231; auch bei den nachfolgenden kontraktualistischen Modifikationen von Locke232 und Rousseau233 bis hin zur kantischen Rechtslehre234 findet es Ausdruck und beansprucht für die Normativität des Vertrages, ob implizit oder explizit, zentrale Bedeutung. Insofern ist der Voluntarismus der vertragsgegründeten Normativitätstheorie235, seine Verknüpfung von rechtlicher Institutionalisierung und individueller Willensartikulation als Autonomieausdruck, Grund für die theoriegeschichtliche Wirksamkeit des Vertrages. Nähere Betrachtung offenbart allerdings in erster Linie das geltungstheoretische Ungenügen dieser Formel, den Vertrag normativ hinreichend zu tragen: Kein Vertrag gilt ipso facto, weil dem Wollenden – scil. in der (damit schon vorausgesetzten) Annahme der Geltung des Vertrages – kein Unrecht widerfährt236. Vielmehr handelt es sich um ein – zwar mit einem starken Evidenzmoment versehenes – Legitimitätspostulat, von dem aus das argumentative Vermittlungsstück zur positiven Formulierung vertragsimmanenter Normativität noch fehlt. Das Beweisziel muß daher über diese Ebene hinausgehen; der Vertrag muß in der Weise bestimmt werden, daß aus der negativen Formulierung der Abwesenheit von Unrecht gegenüber dem Willen ein Geltung implizierendes „ius generatur voluntate“ wird. Dies dokumentiert die eingangs dargelegte Notwendigkeit einer kategorial klaren Differenzierung von Geltung und Legitimität. Die Frage nach dem Vermögen, willensvermittelt ein Sollen zu etablieren, ist untrennbar mit der Konzeption der rechtlichen Person verknüpft. Keine Ver231

Hobbes, De Cive II, 9: „Wo aber dem einen oder beiden Vertrauen geschenkt wird, da verspricht der, der das Vertrauen genießt, eine spätere Erfüllung, und ein solches Versprechen heißt ein Vertrag.“ 232 Eingehend analysiert von Dunn, Consent in the political Theory of John Locke, in: ders. (Hrsg.), Political Obligation in Its Historical Context. Essays in Political Theory, 1980, S. 29-52, 40. 233 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: ders., Politische Schriften Band 1, 1977, S. 6, 73 ff.; vgl. auch Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 159 ff. 234 Kant, MdS, RL, § 46, VI, 314: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“ 235 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 23. 236 Für die Notwendigkeit zusätzlicher Normativitätselemente auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 43; ders., Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 44.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

tragstheorie vermag ohne Bestimmung der Grundqualitäten der Vertragsparteien auf die Frage nach dessen Geltung oder auch nur Wirksamkeit eine hinreichende Antwort zu geben. In diesem Sinne ist es berechtigt, den Vertrag mit Kersting als geltungslogsisch „sekundär“237 zu bezeichnen: Die Normativität von rechtlichen Handlungsformen ist nie selbstreferentielles Resultat vorfindlicher Geltungsevidenzen, sondern auf externe Normativitätsprämissen angewiesen. Bei dem Vertrag besteht die Abhängigkeit von nicht vertragsinternen Normativitätsprämissen in der Bezogenheit auf das Willensvermögen der vertragsbeteiligten Personen. Daß diese Kategorie das eigentliche Kernelement für vertragstheoretische Normativität darstellt, läßt sich im folgenden anhand der kontraktualistischen Hauptkonzepte dokumentieren, indem jeweils untersucht wird, wie die Kategorie des Wollens von vertragsschließenden Personen (natürlichen oder juristischen) als Grundlage des (immer mit einem voluntaristischen Moment notwendig versehenen, freilich hiermit nicht erschöpfend beschriebenen) Vertragsschlusses ausgestaltet ist.

(1) Vertragsnormativität als Resultat instrumenteller Vernunftpragmatik: Vertragstheorie im Ausgang von Hobbes In der vertragstheoretischen Ausprägung bei Hobbes ist das Geltungsvermögen des Vertrages noch unterentwickelt. Das Hobbessche Rechtsbegründungsanliegen lebt von der unproblematisch-naiven Unterstellung, daß aus der Prämisse „pacta sunt servanda“ eine Vertragsgeltung ableitbar sei. „Das zweite der abgeleiteten natürlichen Gesetze verlangt, daß man die Verträge halte und das gegebene Wort nicht breche. [...] Da mithin die Einhaltung der Verträge [...] nötig ist, so ist sie [...] ein Gebot des natürlichen Gesetzes“238. Hierin liegt indes ebenfalls eine konzeptionelle Unzulänglichkeit. Die natürlichen Gesetze bei Hobbes sind in ihrem Verbindlichkeitsgehalt Resultat der voluntaristisch akzentuierten anthropologischen Prämissen, die das Individuum als im Kampf um Selbsterhalt bindungslos charakterisiert239. Bezeichnet 237

Kersting (Fn. 236), S. 24: „verpflichtungslogisch sekundär“. Kersting bezieht dies unmittelbar auf das Verhältnis des Vertrages zum Versprechen; weiteren Sinnes gilt dies aber auch für die Abhängigkeit vertraglichen Verpflichtungsvermögens vom Willenskonzept, wie es dem jeweiligen Subjektsbegriff entspringt, insgesamt, vgl. dazu ebenfalls ders., S. 210: „geltungslogische […] Sekundarität“. 238 Hobbes, DC III, 1. 239 Hobbes, DC, I, 10, S. 82; ausführlich Kersting (Fn. 236), S. 73 ff.

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Hobbes die natürlichen Gebote als Vernunftvorschriften – und das impliziert im Rahmen seiner reduziert-pragmatischen Vernunftauffassung den status bloß hypothetischer Imperative240 –, so bezieht er sie ihrer Grundlegung nach gleichfalls auf die Kategorie des Selbsterhaltungsstrebens, zu der die natürlichen Gesetze in ein instrumentelles Verhältnis treten. Damit verwehrt er ihnen nicht nur den Charakter genuin normativer Sätze, sondern überantwortet die Befolgung der natürlichen Gesetze dem subjektiven Zweckkalkül des Vertragsschließenden, der diese gewissermaßen im Wechselspiel mit dem ius in omnia pragmatisch-geschicklich nach eigenem strategischen Kalkül bald befolgt, bald dem schrankenlosen ius in omnia unterordnet, stets jedenfalls für die subjektiv verfolgte Selbsterhaltungsstrategie instrumentalisiert. Hobbes erkennt diese Paradoxie und versucht die Konzeption argumentativ durch unterstützende Elemente zu retten: Vertragsbruch sei Unrecht241 in dem Sinne, daß er ohne Recht geschehe. Die Unrechtlichkeit des Vertragsbruches folge daraus, daß durch den Vertragsbruch dasjenige Recht eingefordert wird, dessen sich der Vertragsbrecher eben durch die vertragliche Übertragung entledigt habe. Die dem Vertragsbruch zugeschriebene Unrechtlichkeit setzt jedoch wiederum gerade voraus, was sie erklären soll, nämlich daß die im Vertrag erfolgende Rechtsübertragung wirksam ist. Nur wenn das der Fall ist, handelt der Vertragsbrecher infolge der vorangegangenen wirksamen Rechtsentäußerung „ohne Recht“, andernfalls hingegen fordert er mit Recht ein, was er nicht wirksam übertragen und deswegen nach wie vor innehat. Normativität entsteht nicht aus dem Nichts, sondern hat ihren Ursprungsgrund entweder in einem gehaltvollen Subjektsbegriff oder nirgends. Die Vertragsverbindlichkeit als Grundlage Hobbesscher Rechtsbegründung bleibt eine Paradoxie, weil das Subjektskonzept in seinem Willensvermögen unterbestimmt ist242. Sie reduziert sich ihrer normativen Essenz nach auf ein bloßes Verbot der Selbstwidersprüchlichkeit, dessen Verhältnis zum Vertrag selbst wie zu dem Subjektsbegriff unklar bleibt. 240

Hobbes, L, 14, 99 f.; dazu vgl. etwa Mayer-Tasch, Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht, 1965, S. 24; Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit – Begriffsgeschichtliche Studien, 1983, S. 208; Kersting (Fn. 236), S. 75; U. Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, 1980, S. 174, spricht in bezug auf Hobbes in Anlehnung an die Terminologie aus Kants Grundlegungsschrift von „assertorisch-hypothetischen Imperativen“; Baumanns, Hobbes und die praktische Philosophie der Neuzeit, in: Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens, 1979, S. 73. 241 242

Hobbes, DC III, 3.

Überwiegende Hobbes-Kritik, vgl. nur Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 118 f.; Höffe, Widersprüche im Leviathan: Zum Gelingen und Versagen der Hobbesschen Staatsbegründung, in: ders. (Hrsg.), Thomas Hobbes: Anthropologie und Staatsphilosophie, 1981, S. 113-143.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

(2) Vertragsverbindlichkeit und transzendentalidealistische Subjektivität bei Kant Das kantische Konzept der Begründung von Normativität – verstanden als normativer Selbstand der Person als Ableitungsgrundlage für den allgemeinen Anwendungszusammenhang der Vertragsnormativität – ist in der Reihe der neuzeitlichen Vertragstheoretiker das anspruchsvollste243. Es ist in seinem Grundlegungspotential für eine allgemeine Rechtstheorie des internationalen Vertrages nur dann sinnvoll zu erfassen, wenn man zumindest implizit die einzelnen, im Subjektsbegriff und seiner vernunftrechtlichen Fundierung wurzelnden Prämissen in ihrer Fortwirkung durch die allgemeine Rechtslehre, die dortige institutionenstiftende Bedeutung für den privatrechtlichen Vertrag und den Verfassungsvertrag als Staatsbegründungsprinzip bis hin zur staatsrechtstranszendierenden Bedeutung des internationalen „Föderalism freier Staaten“244 mitdenkt245. Eine solche geschlossene philosophische Darstellung würde einerseits den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten und erscheint andererseits in Anbetracht der außerordentlich aspektreichen Kantinterpretation im neueren Schrifttum, die vielfache Anknüpfungspunkte auch für positivrechtliche Erträge bietet, entbehrlich246. Deshalb kann sich die vorliegende Untersuchung an dieser Stelle skizzenartig auf die Darlegung von Thesen und die Rekapitulation von Grundbegriffen beschränken und die jeweiligen Anklänge verdeutlichen, auf die sie sich rechtstheoretisch bezieht. Namentlich steht die Kantinterpretation Kerstings, aber auch in Teilen von Höffe im Mittelpunkt der Bezugspunkte.

243 Riley, On Kant as the Most Adequate of the Social Contract Theorists, 1982, S. 125; Kersting (Fn. 236), S. 28: „anspruchsvollste Fassung der Willenstheorie der freiwilligen Verpflichtung“; ders., Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 36; a.A. Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, 1973, S. 41; Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht – Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie, KantStudien, Ergänzungshefte 60, 1926, S. 50 f.; die mit dem transzendentalidealistischen Rechtsbegriff eine Dekonstruktion der kontraktualistischen Rechtsbegründungstradition insgesamt einhergehen sehen. Dagegen zutreffend Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 356. 244

Kant, EF, 2. Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 354.

245

Eine solche geschlossene Kantinterpretation, die einen den Kontext der kantischen Rechtslehre selbst transzendierenden Gehalt herauszuarbeiten versucht, findet sich namentlich bei Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993. 246 Bezüge der Kanttheorie zur Konzeption eines modernen Völkerrechts: Höffe, „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, 2001, insb. S. 226 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, insb. S. 67 ff.

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Ausgangspunkt der kantischen Normativitätsbegründung ist ein Subjektsbegriff, dem der Bezug zu einem gehaltvollen Pflichtbegriff inhärent ist247 und der sich auf dieser Grundlage wesentlich definiert als Vermögen zur Selbstbindung und Selbsterweiterung im Wechselseitigkeitsbezug zu anderen248 nach Maßgabe einer reflexiven Maximenrevision249 auf die Kategorie des unbedingt Gesollten hin. Referenz ist der in der Kritik der reinen Vernunft explizierte Freiheitsbegriff, der als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ ein „Vermögen“ enthält, „sich unabhängig von [dieser] Nötigung [...] selbst zu bestimmen“250. Beide Komponenten – Pflichtbegriff und Intersubjektivitätsverhältnis251 – transzendieren das mechanistischsolipsistische Vernunftkonzept von Hobbes bereits erheblich. Jedes Intersubjektivitätsverhältnis erweist sich danach – anders als bei Hobbes – idealiter als ein grundsymmetrisches Anerkennungsverhältnis. Dieses Wechselseitigkeitsverhältnis, wurzelnd in der vernunftsubjektiven, auch jeweils subjektiv als Einsicht realisierbaren Grundgleichheit aller Menschen, bildet bei Kant den normativen Ausgangspunkt einer vernunftbasierten Maximenbildung zunächst im moralischen Innenverhältnis, im weiteren Sinne jedoch eines auf Verallge247

Entwickelt in Kant, GMS, IV, 397 ff.; vgl. ders., KpV, 3. Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, V, 80: „Die Handlung, die nach diesem Gesetze mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung objectiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche um dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nöthigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen […] enthält“. 248

Kant, GMS, Kap.: II. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, IV, 430 f.: „Dieses Princip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst, (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist) ist nicht aus der Erfahrung entlehnt“. 249 Die Differenzierung von hypothetischem und kategorischem Imperativ expliziert Kant, GMS, IV, 417-421. Grundlegend in der Differenzierung von Pragmatismus und kategorischem Sollen auch ders., KpV, § 8, Lehrsatz IV, V, 36: „Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an; das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es ist aber doch ein großer Unterschied zwischen dem, wozu man uns anrätig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind“. Aufbauend auf dieser Differenzierung in ihrer Bedeutung für die Selbstgesetzgebung sodann ders., GMS, Kap. II. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, IV, 431: „Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß“. Zum Universalisierungsvermögen des kantischen Vernunftsubjekts nach dem Maßstab des kategorischen Imperativs Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit, 1996, S. 109. 250 251

Kant, KRV, II, 489.

Kant greift darin die insbesondere von Rousseau, Contrat Social, 1. Buch, Kap. 6, 17; stammende Innovation des Intersubjektivitätsbezugs auf.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

meinerung angelegten, praktisch werdenden Regelbildungsvermögens überhaupt252. Auf diese wesentlich im Subjektsbegriff konzentrierte Grundlegungsleistung bezieht sich der Rechtsbegriff, der in der Metaphysik der Sitten strukturäquivalent zum kategorischen Imperativ253 und in der Aufnahme der systemprägenden Unterscheidung von moralischem Innenverhältnis einerseits und der empirischen Willkürintersubjektivität im Außenverhältnis andererseits254 in der bekannten Form in § B der Rechtslehre entwickelt wird als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“255. Hiervon ausgehend, d. h. im Rahmen des damit bereits etablierten und vorausgesetzten Rechtsbegriffs wird zunächst die Institution des Vertrages als Prinzip der Herstellung eines Konkordanzverhältnisses zwischen den Erfordernissen intersubjektiver Selbsterweiterung und fortbestehender Selbstbestimmung im Begriff des Konsenses eingeführt. Wenn auch in einem privatrechtlichen Systemzusammenhang, der vordergründig stärker der Legitimation eines abgeleiteten Erwebs als einer Verallgemeinerung der Vertragskategorie in geltungstheoretischer Hinsicht Vorschub zu leisten scheint, exponiert Kant hier die mit seinem Freiheitsbegriff einhergehenden subjektrechtlichen Unverfügbarkeiten in bezug auf den Vertrag, indem er feststellt, daß „Übetragung […] nur durch einen gemeinschaftlichen Willen möglich ist, und sodann definiert: „Der Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht, ist der Vertrag“256. Die Verallgemeinerungsdimension dieser Vertragsexposition ergibt sich aus dem ersten Satz des § 18 der Rechtslehre, in dem Kant „den Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen That zu bestimmen“, als ein „Recht“ definiert. Hierin ist das Wesen der Vertragsbindung dahingehend veranschaulicht, daß sich die Vertragsschließenden durch den Vertragsschluß ihrer Willkürfreiheit in Ansehung des Vertragsge252 Instruktiv zur Moralität und Legalität überspannenden Bedeutung des Pflichtbegriffs Kant, MDS, TL, Einleitung, I.: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein“. 253 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 183; vgl. auch ders., Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 31; Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 126, spricht sogar vom „kategorischen Rechtsimperativ“; vgl. auch ders., Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 77 ff. 254 Zur Unterscheidung von Moralität und Legalität bei Kant, KpV, Kap. 3. Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, V, 71 f. 255 Kant, MdS, RL, § B, VI, 230. 256 Kant, MdS, RL, § 18, VI, 271.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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genstandes wechselseitig entäußern. Der Vertragskonsens erweist sich darin als Prinzip der Rückführung rechtlicher Bindung auf Selbstbestimmung; äußerlich unterscheidet diese Variation des volenti non fit iniuria-Gedankens, den Kant als Hobbes-Referenz ausdrücklich übernimmt, nicht viel von ihrem Vorbild257. Der hier entfaltete Konsensbegriff setzt indes den kantischen Rechtsbegriff voraus und füllt ihn mit der formprägenden Kraft eines selbstkonstituierten Rechtsverhältnisses. Anders als der am Abgrund der Zirkularität wandelnde Konsens bei Hobbes, der das Selbstbindungsvermögen quasi als creatio ex nihilo im Moment des Vertragsschlusses implizit mitentwickeln muß, findet der kantische Vertragsschluß bereits in seiner privatrechtlichen Artikulationsform alle Subjektsimplikationen aus der kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vor. Der staatsstiftende contractus originarius258 nimmt dieses Formprinzip wiederum auf und verdichtet es zu einer omnilateralen Erscheinungsform im Hinblick auf das kollektive Anliegen der Staatsinstitutionalisierung259. Wenngleich der Vertrag damit im Zeichen einer ohnehin vorausgesetzten apriorischen Notwendigkeit instrumentalisiert wird260, bleibt doch der vertragstypische Konsens das entscheidende geltungslogische Vermittlungsstück zwischen den beiden hypothetischen Zuständen naturzuständlicher Rechtlosigkeit und nachvertraglicher Staatlichkeit261. Die letzte der kantischen Rechtslehre immanente Verallgemeinerungsform besteht in der Übertragung auf die internationalrechtliche Ebene. Der Vertrag fungiert hier als Modell eines „Föderalismus freier Staaten“, in gewissem Umfang in Analogie zum staatsstiftenden contractus originarius. Eine entscheidende Innovation dieses Verallgemeinerungsschritts besteht in der Einsicht, daß die im Vertragskonsens verdichtete Willenskongruenz von Subjekten sich bei Kant von vornherein von einem naturalistisch verstandenen Willensbegriff, 257

Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 203. Kant, Gemeinspruch, VIII, 297. 259 Daß es sich dabei um ein „hypothetisch-konstruktives Staatsbegründungsargument“ handelt (vgl. Kersting), steht einer Betrachtung im Rahmen einer konkreten positivrechtlichen Fragestellung nicht entgegen, weil die konstruktive Funktion des Vertrages bei Kant hier insgesamt zur Gewinnung verallgemeinerungsfähiger Thesen über seinen Geltungsgrund betrachtet wird, die als Matrix durch unterschiedliche Vertragsformen ausfüllungsfähig vorgestellt werden. 260 Der contractus originarius setzt das Gebot des „exeundum e statu naturali“ (Kant, XIX, 565, R 7961), um und realisiert damit ein der kantischen Rechtslehre zufolge unbedingtes Vernunftgebot. Diese vertragsinhaltliche Besonderheit realisiert Kant namentlich, indem er im Gemeinspruchaufsatz, VI, 143 f., artikuliert: „Der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung [ist] von so eigentümlicher Art, daß [...] er sich im Prinzip seiner Stiftung von allen anderen wesentlich unterscheidet.“ 261 Ausführlich Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 48 ff. 258

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

also einem bestimmten, wesentlich psychologisch determinierten Subjektsbegriff entkoppelt erweist, statt dessen den abstrakten Zusammenhang von Sollen und Rechtssubjektivität akzentuiert und dadurch es überhaupt ermöglicht, Staaten als institutionelle Zweckschöpfungen an die Stelle natürlicher Individualsubjekte treten zu lassen. An die Stelle der psychologischen Innen-AußenDifferenz des Individualsubjekts tritt zwar der verfaßte staatliche Willensbildungsmechanismus262, entscheidender normativer Ausgangsgrund bleibt indes auch hier die Verbindlichkeitskraft eines rechtsförmig entäußerten Willens. Diese Verankerung des vertraglichen Geltungsgrundes im Subjektsbegriffs entlastet den Vertrag von der paradoxen Aufgabe, Heteronomie ex nihilo aus Autonomie produzieren zu müssen; der Vertrag wird als geltungslogisch sekundär bestimmt, indem er auf vertragsexterne, nämlich subjektsimmanente Normativitätsprämissen angewiesen ist. Durch die Ableitung vom Willenskonzept der vertragsbeteiligten Individuen ist damit aber gleichzeitig eine „quasiimmanente“ Vertragsnormativität aufgezeigt, die der Ausfüllung durch unterschiedliche Subjektskonzepte und dadurch einer Universalisierbarkeit in bezug auf internationalrechtliche Anwendungszusammenhänge zugänglich ist.

(3) Zwischenresultat Die vorgelagerten Geltungsprämissen, von denen der Vertrag geltungslogisch abhängt, liegen im Subjektskonzept, genauer gesagt in den die Willensstruktur determinierenden Prämissen subjektsimmanenten Selbstbindungsvermögens als Ausdruck eines aprioischen Sollensbezugs. Der Subjektsbegriff bedarf einer Ausfüllung mit Normativitätsgehalt, andernfalls ist die gesamte vertragliche Geltungsbegründung – und mit ihr die kontraktualistische Intention der vertraglichen Rechtsbegründung – eine zirkuläre Illusion. Die Instanz, die den Vertrag gültig macht, ist das wollende vertragsbeteiligte Subjekt und seine Fähigkeit zur versprechensförmigen, formalisierten Disposition über seine küntige Willensentschließung263. Hiervon ausgehend ist für den Vertrag eine Selbsterweiterung gerade im wechselseitigen Verbund mit anderen als rechtlicher Handlungsform kennzeichnend.

262 263

Dazu ausführlich unten, II. 3. d).

Dazu auch Neil McCormick/Joseph Raz, Voluntary Obligations and Normative Powers, Proceedings of the Aristotelian Society XLVI/1972, Supplementary Volume, S. 59-105. Michael H. Robins, Promising, Intending, and Moral Autonomy, 1984.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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c) Der Zusammenhang zwischen Geltungsgrund und Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung: Auseinanderfallen von pouvoir constituant und Legitimationssubjekten als Supranationalitätskriterium Die allgemeine vorpositive Exposition des Begriffs der Vertragsgeltung bedarf, um nicht als eine kontraktualistische Referenz unverbunden neben der eigentlichen positivrechtlichen Fragestellung einer Handlungsformbestimmung des gemeinschaftsrechtlichen Gefüges zu stehen, einerseits der Ausfüllung durch die positivrechtlichen Fragestellungen, andererseits aber auch der Herstellung von Bezügen zu den vorherrschenden positivrechtlichen Kategorisierungsvorschlägen und ihrer Implikationen. Die beiden Hauptprobleme in der Anwendung eines allgemeinen Vertragsgeltungsarguments auf das Gemeinschaftsrecht sind einerseits die Erklärung des supranationalitätstypischen Anwendungsvorrangs, andererseits die Auseinandersetzung mit der These einer geltungslogsichen Autonomie des Gemeinschaftsrechts. Auf Teilfragen der Europäischen Union bezogene kategoriale Optimierungsbemühungen stoßen alsbald auf den zentralen Hauptstreitpunkt in der Phänomenologie des supranationalen Mehrebenengefüges und verweisen damit auf die vorgängige Notwendigkeit paradigmatischer Einordnung des Gemeinschaftsrechts insgesamt. Auch die Frage nach Geltungsgrund des Vertrages als Verfassung und Trägerschaft des pouvoir constituant kann nicht davon losgelöst gesehen werden, ob die Gemeinschaft als autonome Rechtsordnung anzusehen ist oder nicht. Geltungsgrund und Zuordnung des Trägers des Geltungsgrundes bestimmen gemeinsam das Maß an Eigenständigkeit der supranationalen Teilrechtsordnung. Insofern hängt mit der Verfassungscharakterisierung des Vertrages die Frage eng zusammen, ob und in welcher Form die Verfassungsordnung der Gemeinschaft auf der Autonomiethese beruht und von ihr getragen werden kann: Der institutionenakzessorische Charakter des verwendeten Verfassungsbegriffs verträgt keine Implementation von Unvereinbarkeiten in der durch ihn konstituierten Verfassungsordnung, so daß konstruktive Widersprüche zwischen paradigmatischen Annahmen zum Wesen der supranationalen Ordnung der EU ausgeräumt werden müssen, bevor der Verfassungsbegriff hierauf bezogen werden kann. Namentlich geht es an dieser Stelle um die Ausräumung eines Kategorienwiderspruchs in bezug auf die Rechtsnatur der Geltungsbegründung, die nämlich zu einem gänzlich unterschiedlichen Verfassungsverständnis in Abhängigkeit davon führt, ob die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“264 sind oder die Europäische Union sich autonom konstituiert. Beide Alternativen schließen sich aus. Andererseits ist es erforderlich, vermeintlich notwendige

264 D.h. hier: Träger des pouvoir constituant; zu Grenzen des Begriffs der „Herren der Verträge“ zutreffend H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 195.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Verbindungen zwischen kategorial selbständigen Verfassungsaspekten aufzulösen. Hier soll namentlich gezeigt werden, daß das Wesen der Gemeinschaft als „neuartige[r] Form zwischenstaatlicher Verbindung“265 sich nicht aus einer lediglich postulierten Autonomie, sondern einer präzisen Differenzierung eines unionstypischen Anwendungsvorrangs einerseits und einer abzulehnenden Geltungsautonomie andererseits bestimmen läßt. aa) Duplizität der Rechtsadressaten als Kennzeichen der supranationalen Rechtsordnung Für eine auf dem Boden des klassischen Völkerrechts verbleibende internationale Rechtsordnung, die gekennzeichnet ist durch Koordinativität266, fehlenden Rechtszwang stricto sensu267, Mediation des Geltungsmodus durch innerstaatliche parlamentarische Transformationsbedürftigkeit aller ihrer Handlungsformen268 und insbesondere fehlende Rechtssubjektivität der Individuen269, genießt die Verortung des Phänomens völkerrechtlicher Vertragsgeltung in der originären Kraft des zwischenstaatlichen Konsenses oder der Abhängigkeit vom innerstaatlichem Anwendungsbefehl eine nur untergeordnete Bedeutung. Diese Problematik eröffnet sich erst dort in vollem Maße, wo es zu einer stärker ausdifferenzierten und den klassischen Dualismus der Zuordnungssubjekte verlassenden Herausbildung von integrierten Handlungsformen kommt, innerhalb derer der norm- oder besser geltungstheoretische Systemstandpunkt des Vertrages nicht nur in bezug auf die überkommenen staatsrechtlichen Rechtsquellen zu bestimmen ist, sondern auch in Beziehung zu setzen ist zu den von ihm abgeleiteten untervertraglichen Normebenen. Das Anliegen einer handlungsformorientierten Kompetenzverteilung setzt deshalb voraus, daß der Vertrag in seinem Geltungs- und Legitimitätsgrund sowie seiner normsystematischen Stellung bestimmt wird. Letzteres ist erforderlich, um staatsrechtliche 265

Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 887. Zur begrifflichen Kennzeichnung des Völkerrechts als „Koordinationsrecht“ vgl. nur Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 9 f. 267 Zu den defizitären Durchsetzungsmodalitäten des Völkerrechts ebenfalls statt vieler Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 436 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, §§ 71 ff.; zum fehlenden europäischen Rechtszwang auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 83, Fn. 207. 268 Klassisches Völkerrecht wirkt bis heute nicht in signifikanter Weise unmittelbar auf die innerstaatlichen Verhältnisse ein, vgl. auch von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 106; allgemein zum Völkerrecht und den Theorien seiner Wirksamkeit Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 71 ff. 269 Zur fehlenden unmittelbar innerstaatlichen Anwendbarkeit vgl. Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 418 f.; vgl. auch Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, § 5, der treffend vom Staat als der „Normalperson des Völkerrechts“ spricht. 266

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und gemeinschaftsrechtliche Handlungsformhierarchie zueinander in Verhältnis setzen zu können und hieraus Anhaltspunkte für eine angemessene Kompetenzbalance zu gewinnen. Der eingangs genannten Reduplikation von hoheitsausübenden Ebenen korrespondiert eine Ausdifferenzierung der durch sie geschaffenen Normebenen in einem supranationalen Mehrebenensystem270. Verfassung, Gesetz und untergesetzliche Handlungsformen des Staatsrechts erfahren zwar keine identitäre Wiederholung auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene; gleichwohl prägt diese mit Notwendigkeit ein eigenes normatives Handlungsformsystem aus, das jedenfalls eine funktionale Entsprechung zu den staatlichen Normebenen auszeichnet271. Grund hierfür ist die aus der Dreiecksbeziehung Bürger – Staat – Integrationsgebilde resultierende Vervielfältigung der Blickrichtung der Rechtsadressaten272. Während der klassische völkerrechtliche Vertrag allein den Staat als Berechtigten und Verpflichteten, als „Normalperson des Völkerrechts“273 270 Zum Mehrebenenbegriff ausführlich Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, S. 13; ders., Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenenpolitik, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 74 f.; ders., Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, StWStP 1994, S. 475; ausführlich auch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 36, 53 ff., zu den Begriffselementen der „Ebenenmetapher“; Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm; Pernice, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 23, Rdnr. 23; Thomas König/Elmar Rieger/Hermann Schmitt (Hrsg.), Das europäische Mehrebenensystem, 1996, S. 13 ff.; Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 232: „Mehrebenenstruktur staatlichen Entscheidens“; Schmitter, Representation and the Future EuroPolity, StWStP 1992, S. 379, 381: „multi-layered governance“; Gary Marks/Liesbet Hooghe/Kermit Blank, European Integration and the State. Paper Presented at the American Political Science Association Meeting, New York September 1994, S. 7: „multi-level governance“. Dann, Looking through the federal lens: The Semiparliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02; Jachtenfuchs/Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 17 ff. 271 Zur Problematisierung des Verhältnisses beider Ebenen unter dem Gesetzgebungsbegriff Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 64; Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 6. 272 Gewissermaßen von der anderen Seite her konstatiert Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI Paper 8/99, S. 14, dieselbe „doppelte Legitimationsstruktur“, wenn er hervorhebt, nicht nur Bürger, sondern auch Staaten seien Rechtssubjekte des Gemeinschaftsrechts. Im Hinblick auf die völkerrechtliche Konstitution des Gemeinschaftsrechts dürfte jedoch nach wie vor eher der Subjektsstatus des Bürgers hervorhebenswert sein. Zur doppelten Legitimationsbasis der Europäischen Union auch, allerdings i. E. ablehnend, Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 556 ff. 273 Knut Ipsen, Völkerrecht, § 5; die Besonderheiten einer Durchbrechung dieses Grds. durch regional besonders leistungsfähige Systeme wie insbesondere die EMRK

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

kannte, reißt die europäische Integrationsgemeinschaft mit ihrer unmittelbaren innerstaatlichen und die Individualsubjekte betreffenden Geltung die Barriere strikter Kategorientrennung zwischen Völker- und Staatsrecht ein. Indem das europäische Gemeinschaftsrecht den Bürger teilweise unmittelbar anspricht274, tritt es in Konkurrenz zum klassischen normsetzenden Primat des Staatsrechts und begibt sich zu den staatsrechtlichen Rechtsquellen in ein Verhältnis der Interferenz. Das macht eine Vergewisserung nicht nur über seine rechtsquellensystematische Stellung, sondern auch über die Qualität der Einbezogenheit der von der Rechtsordnung adressierten Rechtssubjekte in die Konstitutionalisierung notwendig275. Nach der Intention dieser Untersuchung hängt von dieser Verortung – wiederum in legitimitätsorientierter Akzentsetzung – die kompetenzielle Verteilung zwischen Staatsrecht, Gemeinschaftsprimärrecht und Gemeinschaftssekundärrecht und damit mittelbar auch die im vierten Kapitel zu erörternde Frage ab, unter welchen organschaftlichen Entscheidungsvoraussetzungen sekundärrechtliche Normen zustandekommen können und sollten, um mit keinem legitimatorischen Rückschritt einherzugehen. bb) Autonomie oder geltungslogische Abhängigkeit? Ansatzpunkte zu einer Synthese Die paradigmatischen Gegenstandpunkte zum Geltungsgrund des supranationalen Rechtssystems (Gemeinschaftsrechtsautonomie vs. Ableitung vom innerstaatlichen Rechtssystem) prägen den gesamten gemeinschaftsrechtlichen Diskussionszusammenhang seit der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften276. Am deutlichsten dokumentiert sich ihr Implikationsgewicht möglicherweise in der exemplarischen Gegenüberstellung der Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und EuGH. Ungeachtet der Formulierung des Bundokumentieren gleichwohl gerade ex negativo diesen völkerrechtlichen Normalfall und sind zudem ihrerseits im Kontext und in bezug auf den supranationalen Integrationsmechanismus der EU zu sehen. 274 Soweit die Normen ihrem Inhalt nach self-executing sind, vgl. Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 629 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 83; zur Bedeutung der Unterscheidung von self-executing und non-self-exekuting für das konventionelle Völkerrecht s. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 2000, § 41, S. 121 ff. 275 Die Begrifflichkeit bedarf einer differenzierenden Vergewisserung. „Rechtssetzungssystematisch“ trifft den Sachverhalt nicht genau, da Rechtsetzung im klassischen Verständnis von der dem Vertrag fremden Subordinativität geprägt ist. „Normsystematisch“ wiederum reiht den Vertrag als Rechtsquelle vorschnell in den Rang einer Norm ein. Als Rechtsquelle zeichnet er sich demgegenüber als originärer Entstehungspunkt von Rechtlichkeit aus, ohne bereits die systematische Verortung zu präjudizieren. 276 Schweitzer/Hummer, Europarecht, 1995, § 4, S. 30 ff.; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 615 ff.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 8, S. 182 ff. m.w.N.; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3 I, S. 72 ff.

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desverfassungsgerichts, es bestehe ein „Kooperationsverhältnis“ zwischen beiden Gerichten277, muß das Verhältnis beider Positionen hinsichtlich der Bestimmung des Letztverbindlichkeitsgrundes als fortbestehender Dissens bezeichnet werden. Trotz eines faktischen Kooperationsverhältnisses in der Gewährung von Rechtsschutz, insbesondere Grundrechtsschutz, proklamieren beide Gerichte eine je selbständige und wechselseitig inkompatible Auffassung zum Wesen des Geltungsgrundes: In der Rechtsprechung des EuGH steht das Gemeinschaftsrecht geltungslogisch unabhängig neben den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, während das Bundesverfassungsgericht geltungslogische Abhängigkeit vom innerstaatlichen Zustimmungsgesetz beansprucht. Mag dieser Dissens für den judiziellen Alltag ausgehalten werden können, bleibt seine Auflösung doch ein unübergehbares Essentiale für den Verfassungsbegriff. Denn mit ihm geht die Bestimmung untrennbar einher, wer Träger der verfassunggebenden Gewalt der Gemeinschaft ist278. Die dargelegte Bestimmung der abstrakten geltungstheoretischen Grundlagen des Vertrags an sich verweist bereits auf implizierte Zweifel an der Tragfähigkeit der These einer autonomen Begründung von Gemeinschaftsgeltung, ist mit dem Autonomiepostulat doch die Behauptung einer Ablösung von den völkerrechtlichen – und das heißt: vertragstheoretischen – Grundlagen des Gemeinschaftsrechts verbunden. Das erscheint schwerlich mit dem kontraktualistischen Vertragsverständnis und einer auf ihr beruhenden, die Normativität des Vertrages betonenden Geltungsauffassung vereinbar. Gleichwohl ist damit keine einseitige Stellungnahme für genuin staatstheoretische Positionen im überkommenen Sinne vorgeprägt; vielmehr soll im folgenden gezeigt werden, daß beide Auffassungen Elemente einer Vereinseitigung in sich bergen, weil beide den geltungslogischen Status des Gemeinschaftsvertrages nicht in einer vertragstheoretisch überzeugenden Weise analysieren und sich statt dessen mit Behauptungen zufrieden geben, die von integrationspolitischen Einstellungen, von Begründungsansätzen eher metaphorischen Gehalts oder von axiomatischen Setzungen präjudiziert sind. Die vorfindlichen Argumentationspolaritäten lösen den Anspruch einer Gesamtbetrachtung, die die Eigenständigkeitsimplikationen des Verfassungsbegriffs und die Geltungsbegründung aufeinander bezieht, insofern beide nicht zureichend ein. 277

Vgl. nur BVerfGE 89, 155, 175, 178. Kritisch zu Kooperationsformeln Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 394. 278

Ähnlich zum Verhältnis von Grundrechtsschutz und Letztentscheidungsmacht Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, FS Böckenförde 1995, S. 44: Das Kooperationsverhältnis sei „juristisch ein Lippenbekenntnis“; kritisch gegenüber die Konflikte verdeckenden Formeln vom „Zusammenwirken“, der „praktischen Konkordanz“, dem „Gleichklang“ auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 394 m.w.N.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Fronten in der paradigmatischen Einordnung des Gemeinschaftsrechts verhärtet und auch mit großem Implikationsgewicht im Hinblick auf integrationspolitische Ordnungsvorstellungen verbunden sind, die die Akzeptanz vermittelnder Argumentationsansätze begrenzen. Möglich bleiben gleichwohl in Bezug hierauf auch ohne die Bemühung um Streitentscheidung Relativierungsüberlegungen279. So ist das Denken in Antinomien für das Anliegen strukturadäquater Problembewältigung dort hinderlich, wo schon die Begrifflichkeit, mit dem die Verfassungsproblematik analysiert wird, durch ihre staatsrechtsdogmatische Vorprägung die Zuordnung zu einer der Positionen präjudiziert und dadurch weniger die konkreten Konstruktionsprobleme als eine integrationspolitische Standortbestimmung in den Vordergrund rückt. Teilweise wird angenommen, daß überhaupt zwischen den vom Bundesverfassungsgericht und dem EuGH vertretenen Auffassungen keine streitentscheidende Stellungnahme möglich sei, da beide juristisch widerspruchsfrei und keiner weiteren Begründung fähig seien280. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Einschätzung ist es jedenfalls ratsam, einer Zuordnung zu einem „Lager“ durch eine möglichst weitgehend neutralisierende methodologische Standortwahl vorzubeugen und diese nur dort zu verlassen, wo die begriffliche Verbundenheit von Strukturprinzipien mit einem der Ordnungsparadigmen (Staatlichkeit oder bündische Konstruktionsstruktur) zwingend eine Zuordnung notwendig macht. Dies kann einmal geschehen, indem die unstreitigen Momente beider Paradigmen im Verständnis der Gemeinschaftsverfassung separiert werden und auf der Grundlage einer solchen Bestandsaufnahme eine konstruktive Annäherung an Verfassungsbedingungen der Europäischen Union vorgenommen wird. Wenn dies möglich ist, wird dadurch die paradigmatische Leitbildfunktion einer bundesstaatlichen oder staatenbündischen Integrationsfinalität für eine gemeinschaftsrechtliche Geltungsgrundbestimmung zwar nicht bedeutungslos, aber doch stark relativiert. Angelehnt an eine vielzitierte Formulierung Häberles, die bezogen ist auf den Zusammenhang von Konstitutionalisierung und Staatswerdung: Es gibt nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiert281. Nicht ein bestimmtes integrationspolitisches Bekenntnis oder kategoriales Vor-

279 Für eine Annäherung zwischen den Positionen auch Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 35 (1997), S. 536. Demgegenüber hält Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 168, die Positionen von EuGH und BVerfG zum Charakter des Gemeinschaftsrechtssystems für unvereinbar. 280 Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Kollisionskurs? AöR 119 (1994), S. 564. 281

Häberle, Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, KritV 1995, S. 298-312.

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verständnis, sondern der Nachvollzug der konkreten Institutionenstrukturen führt danach zur kategorialen Einordnung der Union und ihrer Verfassung. Zum anderen können Abhängigkeiten zwischen Teilprämissen, die sich auf das Selbstverständnis der Europäischen Union beziehen, aufgezeigt und dadurch Widersprüche innerhalb der bezogenen Positionen vermieden werden. Die rechtswissenschaftliche Entscheidung dafür, ob ein eher unitarisches oder pluralistisches Verfassungsverständnis zugrunde gelegt wird, steht in gewissem Maße im Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zur geltungslogischen Einordnung der EU. Die verfassungsstrukturellen Konsequenzen einer eher staatstheoretischen oder gemeinschaftsrechtlichen Betrachtungsweise müssen in die Kategorisierung miteinbezogen und zu Ende gedacht werden; teilweise enthüllt eine solche Konsequenz Unvereinbarkeiten oder Inkohärenzen. Dies gilt auch für die Kategorisierungen mittels begrifflicher Neuprägungen der Europarechtswissenschaft, etwa als komplementäre Ordnung282, Bestandteil eines „multilevel constitutionalism“283 oder supranationalen Föderalismus284. Solche Verfassungsprädikate implizieren, sofern den Begriffen rechtlicher Gehalt abgewonnen werden soll, nach hier vertretener Auffassung ein Moment der Festlegung auch im Hinblick auf die geltungslogische Einordnung. Diese wiederum interferiert mit der Zuordnung des pouvoir constituant. Diese drei Aspekte (Verfassungsparadigma, Geltungsparadigma und Verortung der verfassunggebenden Gewalt) können deshalb nur auf der Grundlage einer kohärenten Betrachtung sinnvoll aufeinander bezogen werden, nicht aber durch ein eklektizistisches Auswählen von Verfassungsprädikaten, die widersprechende Konnotationen bergen und diese nur scheinbar vereinigen.

282 Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union – Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 207; Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 332, 354 f.; Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 51 ff.; Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 318; De Witte, International Agreement or European Contitution?, in: T.M.C. Asser Instituut (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 3, 13: „complementary constitution“; Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff. 283 Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), 703 ff.; ders., Multilevel Constitutionalism in the European Union, European Law Review 27 (2002), S. 511 ff.; ders., German Constitution and „Multilevel Constitutionalism“, in: Riedel (Hrsg.), German Reports on Public Law, International Congress on Comparative Law Bristol 1998, S. 43 f. 284 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

(1) These: Notwendigkeit einer Entkopplung von Geltungsautonomie und Anwendungsvorrang Der erste Schritt im Versuch einer konstruktiven Annäherung besteht in der Analyse des mit den Begriffen der Eigenständigkeit bzw. gemeinschaftsrechtlichen Autonomie verbundenen Bedeutungsgehaltes. Zentraler Kontroversegegenstand ist die Balance aus Eigenständigkeit gegenüber und Abhängigkeit vom völkerrechtlich eingekleideten, staatsrechtlich radizierten Hervorbringungsverfahren, das die Europäische Union als vertraglich konstituiert kennzeichnet. Kritikbedürftig ist im vorliegenden Rahmen lediglich die gemeinschaftsrechtliche Autonomie in einem engen, nämlich geltungslogischen Verständnis. Eigenständigkeit zeichnet die supranationale Teilrechtsordnung in verschiedener Hinsicht aus285; diese materialen, supranationalitätskennzeichnenden Merkmale sind nahezu unstrittig286, hängen mit der Geltungsfrage aber nur lose und vermittelt zusammen. Ausgeblendet – weil unbestritten – bleiben damit diejenigen Aspekte institutioneller Autonomie, durch die sich das Gemeinschaftsrecht inhaltlich von konventionell völkerrechtlichen Rechtsformen abhebt, namentlich die Ermächtigung zur Setzung sekundären Gemeinschaftsrechts durch ihre Organe287. Autonomie in dem verbleibenden, begrifflich eingegrenzten Verständnis kennzeichnet eine partielle Verselbständigung der gemeinschaftsrechtlichen Teilrechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten, von denen sie genetisch gleichwohl abhängt. Soll der in dieser Position verwendete Autonomiebegriff nicht als bloße Chiffre für ein politisches Selbstverständnis der Integrationsgemeinschaft wirken, sondern einen judiziellen Gehalt aufweisen, so muß die behauptete Eigenständigkeit qualifiziert werden. Dies kann in zweifacher Weise geschehen. Wird dieser Begriff erstens geltungslogisch in direkter Bezogenheit auf den Vertrag als Primärrechtsquelle verstanden, beinhaltet er eine Vorfestlegung auf ein normlogisches Verständnis der Gemeinschaftsverträge als Grundnorm, durch die eine unabhängige Willensbildung etabliert wird. Autonomie in geltungslogischer Hinsicht meint insofern Loslösung von einer Abhängigkeit vom jeweiligen innerstaatlichen Willensbildungsprozeß288, der sich im Vertrags285

Vgl. bereits oben, Kap. 2, I. 5. a). Ausführlich zu diesen Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 179 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3, S. 69 ff. 287 Dazu Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 130 f.; EuGH, Rs. 26/63, Slg. 1963, S. 1, 25 – Van Gend & Loos. 288 Vgl. dazu Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 73. 286

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schluß manifestiert. Die Autonomiethese ist damit der im Maastricht-Urteil artikulierten Brückenhäuschentheorie289, die das Gemeinschaftsrecht als geltungslogisches Resultat des nationalen Zustimmungsgesetzes ansieht, entgegengesetzt. Hiermit geht einher, daß die Aufhebbarkeit der vertragsförmigen Unterwerfung unter das Gemeinschaftsrechtsregime durch einen actus contrarius in Abrede gestellt wird290. Die bundesdeutsche Verfassungsrechtsprechung ist damit jedenfalls in einem geltungslogischen Sinne widersprüchlich, wenn sie einerseits die vom EuGH geprägte Autonomieterminologie affirmativ aufnimmt291, andererseits aber materiell von einem Verständnis geltungslogischer Abhängigkeit ausgeht292. Der zur Verhältnisbestimmung von EuGH und Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff des „Kooperationsverhältnisses“ ist nur berechtigt, wenn man mit ihm eine faktische Koexistenz in der Gewährleistung effektiven Grundrechtsschutzes thematisiert, nicht hingegen eine inhaltliche Übereinstimmung in der Lozierung von Letztverbindlichkeit. Die Europäische Union kann zweitens auch insofern als verselbständigt begriffen werden, als sie zwar nicht vom Willen der sie konstituierenden Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ losgelöst wird, aber die spezifische Eigenständigkeit der von solcher Rückbindung entkoppelten sekundärrechtlichen Willensbildung in den Vordergrund rückt. Insbesondere die durch den Vertrag von Amsterdam gestärkten Dynamisierungsmechanismen, die Verstärkung und Ausweitung des Mehrheitsprinzips als Willensbildungsform im Rat oder Mechanismen der verstärkten Zusammenarbeit293, verleihen diesem Spezifikationskriterium besonderes Gewicht. Eine solche Bezogenheit des Autonomiebegriffs auf die im Primärrecht festgeschriebene Verselbständigung sekundärrechtlicher Willensbildung würde indes eher die – auch geltungslogischen –

289 So Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 624, in bezug auf Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11, 14. 290 Vgl. EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. – Costa/ENEL: Die Errichtung der Gemeinschaftsrechtsordnung bewirke den Mitgliedstaaten gegenüber eine „endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte“, die nicht durch entgegengerichtete Einzelmaßnahmen aufgehoben werden könne. 291 BVerfGE 22, 293, 296: „das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht fließt aus einer ‚autonomen Rechtsquelle‘“ (bezugnehmend auf die Formulierung des EuGH, Rs. C6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1269 f. – Costa/ENEL). 292 Vgl. BVerfGE 89, 155 ff.; die Verfassungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Entwicklung wird eingehend analysiert von Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 163 ff. 293 Ausführlich hierzu Bender, Die Verstärkte Zusammenarbeit nach Nizza. Anwendungsfelder und Bewertung im Spiegel historischer Präzedenzfälle der differenzierten Integration, ZaöRV 61 (2001), S. 729 ff.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Besonderheiten der Supranationalität referieren, nicht jedoch die spezifische Frage nach Verfassung, Grundnorm und Letztverbindlichkeit im Primärrecht. Die vorliegende Fragestellung bezieht sich in ihrer Analyse zunächst nur auf die Frage einer direkten geltungslogischen Verselbständigung des Vertrages selbst. Sie blendet die Thematisierung jedweder inhaltlicher oder institutioneller Eigenständigkeit nicht geltungstheoretischer Art aus. Besonderheiten des Verfassungsinhaltes betreffen die Rechtsnatur der komplementären Verfassungsordnung insgesamt; für die Frage geltungslogischer Letztverbindlichkeit hilft der Verweis auf inhaltlich-organisatorische Konstruktionsbesonderheiten nicht weiter. Zweitens setzt die Klärung möglicher Annäherungsmöglichkeiten die rechtstheoretische Unterscheidung zwischen zwei vornehmlich gemeinsam abgehandelten Aspekten des gemeinschaftsrechtlichen Systems voraus, nämlich einerseits des Postulats seiner Autonomie (als geltungslogischer Unabhängigkeit von jeglicher außergemeinschaftsrechtlich normativen Präkonditioniertheit) und andererseits des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs (als der jedenfalls für die Rechtsanwendungspraxis294 normhierarchisch vorrangigen Ebene). Die Verbündelung des Vorrangpostulats mit der Autonomiehypothese führt den Anwendungsvorrang in einen unentrinnbaren Zirkel. Denn während die Autonomiethese in ihren sämtlichen Begründungsvarianten zirkuläre Restelemente behält und deshalb als rechtliche Theorie wenn nicht unhaltbar295, so doch zumindest von einer derartigen axiomatischen Unverbundenheit gegenüber den Gegenargumenten einer abgeleiteten Geltungstheorie ist, daß für sie 294 Es wird allgemein – nicht nur auf der Basis der herkömmlichen gemeinschaftsrechtlichen Geltungsanalysen mit gutem Grund – anstelle eines normativen Geltungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts mit der Folge der Nichtigkeit entgegenstehenden nationalen Rechts ein pragmatischer Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts angenommen, vgl. nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 633 f. m.w.N., wenngleich ebenfalls allgemein betont wird, daß dies praktisch bedeutungslos sei, vgl. ders., Rdnr. 634 ff., m.w.N. 295 Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 245 ist der Ansicht, daß die Theorie des gemeinschaftsrechtlichen Urknalls sich auf der Grundlage der Feststellung, es fehle ein europäisches Volk als Träger eines gemeineuropäischen pouvoir constituant, selbst noch nicht widerlegen lasse. Indes scheint methodisch schon zweifelhaft, ob innerhalb einer Normativitätsdiskussion die axiomatische Setzung eines fiktiven Geltungsgrundes gleichgewichtig neben dem Versuch einer ableitenden Geltungsgrundbestimmung soll bestehen können oder ob nicht vielmehr die These ihrerseits eine Begründung liefern müßte und es ausreichend erscheint, auf der Grundlage eines für die abgeleitete These eintretenden Geltungsstandpunktes ihre Begründungsansätze in ihren Unzulänglichkeiten zu kritisieren. Zu den Einwänden ausführlich unten, Kap. 3, III. 3. c) bb).

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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heuristisch wenig spricht, läßt sich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch mit vertragsimmanenten Normativitätsargumenten, gewissermaßen als Ausfluß des Grundsatzes volenti non fit iniuria in ihrem oben präzisierten Gehalt begründen. Darauf aufbauend soll gezeigt werden, daß erst die Trennung beider Kategorien296 den Weg frei macht für eine widerspruchsfreie Synthese der drei Supranationalitätskennzeichen: Zuordnung des pouvoir constituant bei den Mitgliedstaaten, Vorrang des abgeleitet in Geltung gesetzten Gemeinschaftsrechts in der praktischen Rechtswirklichkeitsgestaltung („Anwendungsvorrang“) und Auseinanderfallen von Legitimationssubjektivität und Verfassungsträgerschaft. Der Schlüssel für eine hiervon unabhängige Bestimmung des Gemeinschaftsrechtsvorrangs liegt in seiner Rückführung auf das Prinzip vertraglicher Konsensnormativität.

(2) Geltungslogische Autonomie: Die Position des EuGH und der Europarechtsliteratur (a) Die Rechtsprechung des EuGH hat mit der Entscheidung Costa/ENEL als der ersten von einer einheitlichen Ordnungsvorstellung über das rechtliche Wesen der Gemeinschaften getragenen Entscheidung den Weg bereitet für die in der europarechtlichen Literatur vorherrschende Auffassung der Gemeinschaftsrechtsordnung als autonom. Zentraler Anknüpfungspunkt aller gemeinschaftsrechtlichen Autonomiethesen ist die Formulierung: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist […]. Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie auch immer gearteten internationalen Rechtsvorschriften vorgehen können.“297 Der EuGH postuliert seitdem in ständiger Rechtsprechung, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung vom Willen ihrer Mitgliedstaaten abgelöst, nicht durch

296 Kategorial differenzierend, aber den Vorrang als gegenüber der Autonomie weitergehendes Kriterium ansehend Werner Schroeder (Fn. 295), S. 163, unter Bezugnahme auf BVerfGE 31, 145, 173 – Lütticke: Das BVerfG akzeptiere „nicht nur die Autonomie des Gemeinschaftsrechts, sondern auch seinen Vorrang vor deutschem Recht“ (Hervorhebung vom Verf.). 297 EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251, 1269 f. – Costa/ENEL.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

einseitige staatliche Maßnahmen aufhebbar298 und auch verfassungstheoretisch emanzipiert sei. (b) Die in eine ähnliche Richtung weisenden Positionen des Schrifttums greifen den autonomiebezogenen Grundansatz mit teilweise abweichender Akzentuierung im Detail auf. Nur wenige Begründungsansätze beziehen sich allerdings in der erforderlichen analytischen Isoliertheit auf die Geltungsfrage; viele Auffassungen begnügen sich demgegenüber mit allgemeinen Hinweisen auf Strukturbesonderheiten des Gemeinschaftsrechts und verbinden so die Charakterisierung einer supranationalen Ordnung mit der Implikation einer hiermit einhergehenden Geltungsbestimmung. So vertritt H.P. Ipsen, daß Inhalt und Wesen einer Ordnung einerseits sowie Entstehungsgrundlage andererseits unterschieden werden könnten und müßten, so daß die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung durch den völkerrechtlichen Vertragscharakter der Gemeinschaftsverträge nicht angetastet werde299. Noch weitergehend konstatiert er sogar, die Gemeinschaften seien weder zum Völker- noch zum Staatsrecht zu zählen300. Verschiedene europarechtliche Positionen beziehen sich affirmativ auf Ipsen301. (c) Nach anderer Auffassung soll die Gemeinschaftsrechtsautonomie nicht ab initio bestehen, sondern erst als Resultat nachträglicher rechtsschöpferischer Betätigung namentlich durch den EuGH zur Wirksamkeit gelangt sein. Diese Position geht davon aus, daß dem EuGH eine Rekonstruktionsleistung zufiele, die eine – nachträgliche – Transformation der völkerrechtlichen Verträge in eine autonome Verfassungsordnung bewirkte302, und weist deshalb dem Ge298

EuGH, Rs. 804/79, Slg. 1981, S. 1045, 1072 – Kommission/Vereinigtes Königreich: „Zuständigkeitsübertragung vollständig und endgültig“; Rs. 106/77, Slg. 1978, S. 629 ff., Rdnr. 17, 18 – Simmenthal-II: Der Kompetenztransfer durch die primärrechtlichen Ermächtigungen sei „unwiderruflich“; Rs. 43/75, II, Slg. 1976, S. 455 ff., Rdnr. 56, 58 – Defrenne: Anwendbarkeit „unumkehrbar“; vgl. auch Beschluß 1/78, Slg. 1978, S. 2151, Rdnr. 8 – Objektschutz. 299 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 59 f. 300 H. P. Ipsen (Fn. 299), S. 7, 100 f. 301 Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 30; Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, S. 5 ff., 33 ff.; Badura, Supranationalität und Bundesstaatlichkeit durch Rangordnung des Rechts, in: Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998, S. 63 ff., 72. 302 Dowrick, A Model of the European Communities’ Legal System, YEL 3 (1983), S. 184 f.; E. Stein, Lawyers, judges, and the making of a transnational Constitution, AJIL 75 (1981), S. 1 ff.; O’Neill, Decisions of the European Court of Justice, S. 7 f.; Richmond, Law and Philosophy 16 (1997), S. 393 f.; angedeutet auch bei Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2405 ff.; dagegen mit Recht Schilling, Harvard International Law Journal 37 (1996), S. 395 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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richtshof die zentrale Autorität zur Ablösung des Gemeinschaftsrechts von seinen völkerrechtlichen Geltungsgrundlagen zu.

(3) Kritik Sämtliche Konstruktionshypothesen zur Affirmation einer autonomen gemeinschaftsrechtlichen Geltung sind vergleichbaren Einwänden ausgesetzt: Sie erweisen sich entweder als petitio principii oder sie verbrämen das Stigma der Zirkularität durch die Ausschmückung mit zusätzlichen Konstruktionsornamenten, ohne dadurch die Argumentationslogik in ihrem Kern retten zu können. Die These von der geltungslogischen Autonomie, die das Gemeinschaftsrecht als geltungstheoretisch selbstreferentiell ansieht, erfordert den Rückbezug auf eine gemeinschaftsrechtliche Grundnorm303 bzw. einen originären gemeinschaftsrechtlichen Geltungsgrund304. Die Autonomiethese muß sich als Gegentheorie zu einer Auffassung, die den Geltungsgrund in Ableitung vom staatsrechtlichen Willensbildungsprozeß bestimmt, an der Überzeugungskraft messen lassen, mit der sie die postulierte Loslösung vom völkerrechtlichen Ursprung geltungslogisch verortet; sie kann nur dann beanspruchen, einen gleichberechtigten paradigmatischen Stellenwert eingeräumt zu bekommen, wenn sie für die postulierte Geltungsautonomie konstruktive Gründe benennen kann und nicht in deren bloßer axiomatischer Behauptung verharrt. Die Grundthese einer im Moment ihrer Entstehung von ihren Entstehungsbedingungen entkoppelten Rechtsordnung kann für sich argumentativ nicht viel mehr in Anspruch nehmen als die bloße axiomatische Setzung eines dualistischen Rechtsverständnisses305; mit ihr erweist sich die autonome Rechtsordnung der EU als creatio ex nihilo. Weder vom Gerichtshof selbst noch in der Literatur ist mit Begründungsanspruch dargelegt worden, kraft welcher auto-

303 Grusmann, Grundnorm und Supranationalität – Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: von Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 ff.; ähnlich Thiemel, Der Bundesstaatsbegriff der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, 1993, S. 123, 133; Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 381, 395; Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 521 ff. 304 Ungenau insofern auch von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 101: „Die Gemeinschaft fußt auf Akten, die zumindest zu Beginn völkerrechtliche Verträge und nicht Verfassungsakte waren“. 305 So in bezug auf das von ihm sog. „funktionalistische“ Paradigma Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 526: gleichsam „axiomatische Annahme“ eines eigenen Rechtsanwendungsbefehls; ebenso auch die Charakterisierung von Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 617.

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nomiebegründender Spezifika des Gemeinschaftsrechts in concreto die konstruktive Ableitung des Gemeinschaftsrechts aus dem staatsrechtlichen Willensbildungsmechanismus dispensiert sein könnte. Ohnehin mutet eine solche These einer in der logischen Sekunde völkerrechtlich begründeter Entstehung von dieser Grundlage bereits emanzipierten Ordnung eher als Mystifikation denn als juristische Geltungsanalyse an. Andere neuere Ansätze – etwa die Vorstellung eines europäischen contrat social306 – entbehren gleichfalls zumindest der konkreten juristischen Darlegung ihrer Konstruktionsessentialia und sind deshalb eher als bildliche Umschreibungen anzusehen307. Dem entspricht es, daß neuere Beiträge im Schrifttum insgesamt die Begründungslosigkeit der Gemeinschaftsrechtsprechung in bezug auf diese Fragestellung konstatieren308. Vor dem Hintergrund der unstreitigen Feststellung, daß das Gemeinschaftsrecht seinem Ursprung nach auf einer völkerrechtlichen Grundlage beruht309, ist die Grundlage für eine gleichwohl beanspruchte, ihre Autonomie bedingende Loslösung der Europäischen Union von ihrer Konstruktionsgrundlage darlegungsbedürftig. Die zur Begründung angeführten, supranationalitätskennzeichnenden Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts310 dokumentieren eine Sonderstellung der Europäischen Union zwischen Staats- und Völkerrecht und lösen sie aus der Einordnung in überkommene Ordnungsvorstellungen311, stützen die Annahme 306 So Pernice, VVDStRL 2000, S. 246, 248 ff.; ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 2000, S. 210 ff., sieht explizit die Bürger Europas als Träger eines gemeineuropäischen pouvoir constituant an; vgl. auch dens., The Role of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 10 f.; ebenso ders./Franz C. Mayer/Wernicke, Renewing the European Social Contract. The Challenge of Institutional Reform and Enlargement in the Light of Multilevel Constitutionalism, King’s College Law Journal Vol. 12, Issue 1, 2001, S. 61 ff. 307 Ebenso Hobe, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassunggebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, EuR 2003, S. 1, 8: „wohl fiktiv“ zu verstehen. 308 Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 176. 309 von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 101; Ophüls, Juristische Grundgedanken des Schumanplans, NJW 1951, S. 289, 290. 310 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, nennt: organisatorische Verselbständigung, Schaffung eigenständiger Organe, Befugnis zur mitgliedsstaatsunabhängigen Befugnisausübung; vgl. auch EuGH, Slg. 1991, S. I-6079 ff., Rdnr. 21 – EWR-I-Gutachten: „Die wesentlichen Merkmale der so verfaßten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für die Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen“. 311 Wohl allg. Ansicht, vgl. ausführlich Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 175 ff. Supranationales Recht als besonderes Völkerrecht in Gestalt von „Weltinnenrecht“: Delbrück, Wirksameres Völkerrecht oder neues „Weltinnenrecht“, in: ders., Die Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 1996,

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geltungslogischer Autonomie indes nicht. Der Begriff der Supranationalität als Inbegriff der den Eigenständigkeitsgehalt der Gemeinschaftsrechtsordnung kennzeichnenden Kriterien312 offenbart eine ganze Reihe von Strukturmerkmalen, manifestiert sich jedoch nicht notwendig in geltungslogischer Unabhängigkeit. Wenngleich eine solche Begründungslosigkeit die Anfechtbarkeit der These durch Argumente erschwert, die aus Kategorien der Geltungsableitung vom staatlichen Verfaßtheitszusammenhang herrühren, bleibt doch fraglich, ob nicht das Begründungsdefizit als solches schon einer paradigmatischen Gleichwertigkeit dieser Sichtweise gegenüber staatsbezogen-derivativen Geltungsbegründungsansätzen entgegensteht313. Das einzige über schiere Behauptungsaxiomatik hinausweisende Begründungssubstrat, das sich der Grundsatzentscheidung Costa/ENEL entnehmen läßt, liegt darin, daß eine wiederum nicht näher spezifizierte Brücke zwischen der Vertragsgegründetheit und der geltungstheoretischen Autonomie geknüpft wird: Weil das Gemeinschaftsrecht vom Vertrag geschaffen sei, fließe es aus einer autonomen Rechtsquelle. Nur als Metapher mag dieser Ansatz in seiner verkürzenden Qualität hingenommen werden. Nimmt man ihn als geltungslogische Begründung ernst, so enthält er mehrere Ungereimtheiten: Einerseits suggeriert er einen reduzierten Begriff des Gemeinschaftsrechts, indem dieses als

S. 318. Hilf, Europäische Union und die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten, in Hommelhoff/Kirchhof, Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 75 ff., 77: „nur sui generis faßbare Union“. Ders., in: VVDStRL 53 (1994), S. 7, 8; Magiera, in: FS Morsey (1992), S. 211, 214; Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, S. 985, 986; H. Schneider, in: PVS-Sonderheft 23 (1992), S. 3, 9; BVerfGE 22, 293, 296: „Gemeinschaft eigener Art“ (st. Rechtsprechung); von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 109: „eigenständige Rechtsordnung zwischen dem internationalen und dem staatlichen Recht“. 312 Streinz, Europarecht, Rdnr. 115, weist zu Recht darauf hin, daß der Begriff der Supranationalität keinen allgemein anerkannten Bedeutungsgehalt umschreibt. Zum Begriff der Supranationalität und seiner Verwendung im Kontext des Gemeinschaftsrechts vgl. H. P. Ipsen, Über Supranationalität, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97 ff.; zur Begriffsgeschichte ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 67 f.; Lecheler, „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaften – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel? JuS 1974, S. 7 ff.; Georg Ress (Hrsg.), Souveränitätsverständnis in den Europäischen Gemeinschaften, 1980; Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, S. 103 ff. 313

Ebenso auch treffend Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 538: Es sei fraglich ob hiermit ein angemessener Rechtserkenntnisstandpunkt eingenommen werde; anders demgegenüber Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 395: Man komme dem Autonomiepostulat nicht schon dadurch bei, daß man die staatsverfassungsrechtlichen Ermächtigungsansätze thematisiere.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

vertragsgeschaffenes Recht deklariert wird und der Vertrag selbst damit gewissermaßen als außergemeinschaftsrechtliche „Rechtsquelle“ ausgeklammert bleibt. Hierin dokumentiert sich spezifisch die bereits im Einleitungskapitel hervorgehobene Mißlichkeit der Rechtsquellenterminologie, die an der mißlungenen Begründungsqualität auch des vorliegenden kritisierten Gegenstandes einen maßgebenden Anteil haben mag. Spezifisch kritikwürdig ist indes, daß eine nicht näher begründete Autonomie des Vertrages selbst als Begründung für eine resultierende Gemeinschaftsrechtsautonomie herhalten muß. Denn da wenigstens die formale Qualität der gemeinschaftsrechtlichen Gründungsurkunde eine konventionell völkerrechtliche Natur enthüllt314, versteht es sich gerade nicht von selbst, ausgerechnet eine vermeintliche Handlungsformbesonderheit des Vertrages zum Ausgangspunkt zu machen und diese zudem noch als evident vorauszusetzen. Daß sich sowohl EuGH als auch das Schrifttum315 für die Verortung des Ableitungspunktes für gemeinschaftsrechtliche Geltungsautonomie auf einen besonderen Charakter des Vertrages beziehen, ist isoliert betrachtet nicht zu kritisieren. Darin zutreffend316, bestimmen sie aber das Wesen vertragsgegründeter Normativität unzutreffend, wenn sie hierauf kein vertragstypisches Geltungsverständnis, sondern gemeinschaftsrechtliche Geltungsautonomie gründen: Nach den vorgenannten vertragssemantischen Feststellungen317 sind Verträge stets in dem Sinne geltungslogisch sekundär, daß sie auf externen Normativitätsprämissen aufbauen und von ihnen aufbauend das ihnen eigentümliche Konsensprinzip mit einer gewissermaßen immanenten Normativitätsstringenz auszubuchstabieren vermögen318. Wenn Kutscher in dem Wesen der Verträge als „gemeinsame Verfassung für einen Teilbereich ihrer hoheitlichen Aufgaben“ einen Ansatzpunkt für deren geltungslogische Sonderstellung sieht, beschreitet er damit den genau umgekehrten Weg gegenüber der hier zugrunde gelegten Hypothese, die die Verfassungsqualität in Abhängigkeit von der Begründung der Geltung zu bestimmen versucht. Über diesen Argumentationsansatz hinaus läßt sich den genannten Ausführungen nicht entnehmen, weshalb das normative Wesen der Gemeinschaftsverträge Ausgangspunkt für die Be-

314 Das ist wenigstens weitgehend unstreitig, vgl. zur Antinomie völkerrechtlicher Form und verfassungsrechtlichen Inhalts bereits den Schlußantrag des Generalanwaltes Lagrange in der Rs. 8/55, Slg. 1955, S. 266 f. – Fédéchar. 315 Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, S. I-32. 316 Jedenfalls insofern, als vertragliche Normativität – als nicht rechtsatzförmige – eine gesetzesdifferente ist. 317 s.o. Kap 3, II. 3. b). 318 Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 24, 210.

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stimmung der Rechtsnatur der Gemeinschaft als autonomer sein könnte319. Es scheint – weiterführende ausdrückliche Begründungen sind dem Postulat der Vertragseigentümlichkeit nicht zu entnehmen – daß die behauptete Eigentümlichkeit der Gemeinschaftsverträge hier wiederum in ihrer inhaltlichen Qualität gesehen wird, eine supranationale Ordnung zu begründen. Der Schluß vom Inhalt der Verträge auf eine diesen eigentümliche geltungstheoretische Qualität bleibt indes ebenso unabgeleitet wie logisch defizitär. Als Aufhängungspunkt für eine Autonomiemystifikation aber ist der Vertrag nach seinen vorgenannten Bestimmungen nicht instrumentalisierbar. Implizit läßt sich der Rechtsprechung eine zweite, hiervon unterscheidbare, Facette der geltungslogischen Positionierung der Gemeinschaftsrechtsordnung entnehmen, die zwar keine isolierte Begründung für Gemeinschaftsrechtsgeltung als solche liefert, jedoch der Affirmation einer Vorstellung geltungslogischer Verselbständigung und Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts dient: Das ist die im Kern teleologisch geprägte, unter dem Stichwort des effet utile artikulierte Auffassung, daß die Verträge bzw. einzelne Bestimmungen des Vertrages gelten müßten – und zwar vorrangig –, da andernfalls die mit ihnen verfolgte integrative Zweckbestimmung nicht verwirklicht werden könnte. Namentlich findet sie einen bedeutenden Anwendungsfall in der Theorie der Geltung von Richtlinien. Dieser Hintergrund macht auch verständlich, weshalb in Teilen der gemeinschaftsrechtlichen Literatur zumindest unterschwellig davon ausgegangen wird, daß eine präzise Geltungsgrundbestimmung vor dem Hintergrund der funktionellen Gebotenheit einer vorrangigen Geltung wenn nicht entbehrlich, so doch zweitrangig sein mag320. Mit diesem Ansatz, der aus der Funktionsnotwendigkeit einer bestimmten Geltungsmodalität und damit ein in der Tat von jeglichen Ableitungszusammenhängen losgelöstes Geltungsargument Geltungsbegründung betriebe, würde indes die methodische Unzulänglichkeit der Zweckkategorie321 im geltungslogischen Kontext verkannt: Die Auslegung der Prinzipien des Gemeinschafts319

Ähnlicher Befund bei Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 128: Das EWR-I-Gutachten biete keine Aufschlüsse über die Geltungsgrundlage. 320 Vgl. statt vieler Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 628: Die vorrangige und einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten verstehe sich anhand des Integrationszwecke eigentlich von selbst. 321 Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 235, weist zu Recht darauf hin, daß der EuGH von allen Auslegungsmethoden die teleologische mit Abstand bevorzuge. Zur Bedeutung der teleologischen Auslegungsmethode in der Judikatur des EuGH auch Pieper/Schollmeier/Krimphove, Europarecht. Das Casebook, 2. Aufl. 2000, S. 37, m.w.N.; allgemein zu Grund und Grenzen des Effizienzkriteriums im Recht Eidenmüller, Effizienz als Rechtsbegriff. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 1998.

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vertrages kann zwar erklären, weshalb das Gemeinschaftsrecht einen Vorrang genießen soll, nicht aber läßt es den unmittelbaren Schluß auf den Grund der Geltung zu322. Der Schluß von den intendierten Inhalten des Vertrages auf eine diesen Intentionen entsprechende Gültigkeit setzt in der Prämisse das Beweisziel bereits als gegeben voraus und disqualifiziert sich damit wiederum als petitio principii: Nur wenn die Gültigkeit des Vertrages bereits als Annahme feststeht, kommt der Auslegung des – gültigen – Vertrages ein im Hinblick auf Rechtsgeltung bedeutsamer Aussagegehalt hinsichtlich der Frage zu, auf welche normsystematische und geltungslogische Plazierung hin der Vertrag von den Herren des Vertrages angelegt ist. Mit dem effet utile-Argument ließe sich auch der Vorrang privatrechtlicher Verträge vor öffentlichen Gesetzen begründen, denn die eigentlich substantielle Frage nach dem geltungslogischen Vermögen der Vertragsparteien, entgegenstehende Normkomplexe oder -systeme abzubedingen, bleibt im effet utile-Gedanken hier wie dort ausgeklammert. Kritikbedürftig sind auch diejenigen Auffassungen, die die geltungslogische Autonomie des Gemeinschaftsrechts mit einer evolutionär-organischen Emanzipation des Primärrechts von seinen völkerrechtlichen Wurzeln zu plausibilisieren versuchen. Die Argumentation mit einem nachträglichen rechtsschöpferischen Akt im Sinne der a posteriori-Theorie etwa – teilweise veranschaulichend als „big bang“ des Gemeinschaftsrechts bezeichnet323 – verweist auf die ungeklärte Anschlußfrage nach dem Ermächtigungsgrund, der den EuGH geltungslogisch nachvollziehbar und nicht wiederum durch bloß axiomatische Setzung in die Position eines Verfassungsgebers hochstuft. Die Annahme einer durch den EuGH verantworteten a posteriori-Konstitution führt in ein zirkuläres Begründungsproblem, weil die Befugnis zur Verfassunggebung qua richterrechtlichen Transformationsaktes seinerseits nur auf der Grundlage der in der Vertragsverfassung dem EuGH zuerkannten normativen Transformationsmacht als plausible Ableitungserklärung enthalten sein kann. Der teilweise demgegenüber geltend gemachte Erklärungsversuch, die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge hätten dem EuGH hierzu mit dem vormaligen Art. 220 EGV eine Art „Blankovollmacht“ erteilt324, wirft hingegen seinerseits zum einen das Problem auf, worin diese Konstruktionshypothese im EG-Primärrecht ihren 322

Differenziert insofern auch zum „Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit“ H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 280. 323 Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2407; Schilling, Zu den Grenzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, Der Staat 33 (1994), S. 558; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, FS Stern 1997, S. 1263. 324 So bezeichnet Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 238, die Position namentlich von Mancini/Keeling, MLR 57 (1994), S. 186, sowie von Pescatore, ELR 8 (1983), S. 157, die in Art. 220 EG eine solche Ermächtigungsnorm sehen.

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Ausdruck gefunden hat und zum anderen, weshalb in einem solchen Fall nicht die blanko bevollmächtigenden Verträge (und damit ihre Urheber), sondern der EuGH als ermächtigtes Organ Träger des pouvoir constituant sein sollten. Die integrierende Wirkung der Gemeinschaftsrechtsprechung erscheint aber doch überstilisiert, wenn man sie zur Begründung einer Verfassungsträgerschaft des EuGH zumindest in geltungstheoretischer Hinsicht instrumentalisiert. Die sog. Gesamtaktstheorie hingegen, derzufolge die Verträge trotz ihrer völkerrechtlichen Rechtsnatur zugleich eine originäre öffentliche Gemeinschaftsgewalt in Unabhängigkeit von der völkerrechtlichen Radizierung geschaffen haben325, vermag ebenfalls die Herkunft eines sich angeblich außerhalb des völkerrechtlichen Rechtscharakters der Gründungsverträge vollziehenden autonomen Mehrwertes nicht zu begründen und mystifiziert insofern eher, als zu erklären, wem ein bestimmter Konstitutionalisierungsakt zuzurechnen ist.

(4) Konsequenzen für die Einordnung des europäischen pouvoir constituant Welche Konsequenzen gehen – angesichts der eingangs vertretenen These, daß Verfassungsparadigma, Geltungsbegründung und Zuordnung der verfassunggebenden Gewalt einander korrespondieren müssen – mit dieser Kritik einer gemeinschaftsautonomen Bestimmung des Letztgrundes für die Einordnung des pouvoir constituant einher? In der Frage nach der Zuordnung der die Union konstituierenden verfassunggebenden Gewalt läßt sich mittlerweile ein recht ausdifferenziertes Meinungsspektrum konstatieren. Die skeptischste Position korrespondiert mit dem Postulat der Unverfaßbarkeit der Europäischen Union als Folge ihrer Nichtstaatlichkeit und verneint in Ermangelung eines europäischen Volkes auch die Existenz einer verfassunggebenden Gewalt326. Die paradigmatische Begrenztheit dieser Position wurde bereits verschiedentlich gekennzeichnet. Die andere Hauptposition sieht die Mitgliedstaaten als – einzigen und ausschließlichen – Träger des europäischen pouvoir constituant327. Darüber hinaus existiert eine Reihe unterschiedlicher, konstruktiv neuartiger Ansätze. Ihnen zufolge bilden die Europäischen Völker entweder gemein-

325

H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 195. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585 ff.; vgl. auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 390. 327 Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 1991, S. 22; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 120. 326

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schaftlich die verfassunggebende Gewalt328, oder aber die Mitgliedstaaten bilden gemeinsam mit den Individualsubjekten einen pouvoir constituant mixte, der sowohl bei den Mitgliedstaaten als auch bei den Völkern liege329. Nach Marcel Kaufmann wiederum ist für den supranationalen Verbund charakteristisch, daß sich die verfassunggebende Gewalt nicht etwa in ihrer – verfassungsexternen – Funktion der Konstituierung einer Verfassungsordnung erschöpfe, sondern vielmehr bringe sich der pouvoir constituant in die Verfassungsorganisation des von ihm konstituierten Verbundes zugleich als pouvoir constitué ein. Pernice hingegen sieht in den staatsverfassungsrechtlichen Zustimmungsakten eine Beteiligung der Bürger der Mitgliedstaaten am Prozeß der Verfassunggebung verwirklicht, welche es rechtfertigt, die Gemeinschaft als Ausdruck eines genuin europäischen contrat social zu sehen, in dem die Bürger Europas als Träger des pouvoir constituant erscheinen330. Systematisiert man die Argumentationsansätze zur Neuartigkeit des europäischen pouvoir constituant auf ein ihnen Gemeinsames, so lassen sich zwei Hauptargumente erkennen, aus denen die Verlagerung des pouvoir constituant von den Mitgliedstaaten (entsprechend dem konventionell-bündisch völkerrechtlichen modus constitutionis nach dem kantischen Völkerrechtsparadigma) zur Summe der europäischen Völker oder ihren Individualsubjekten begründet wird. Einerseits die Dynamisierung des Begriffs der Verfassunggebung, der sich – anders als im Kontext staatlicher Konstitutionalisierung – nicht in einem singulären Konstitutionsakt erschöpft, sondern Momente kontinuierlichen Fortschreitens, Prozeßhaftigkeit und Dynamik enthalte331. Andererseits die Einbringung der Bürger Europas in Form mittelbarer Beteiligung über die erforderlichen Zustimmungsakte der Nationalparlamente oder Referenden332.

328

Di Fabio, Eine europäische Charta, JZ 2000, S. 739; Häberle, Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVBl. 2000, S. 840, 846. 329 Constantinesco, L’Union européenne: par le droit ou vers la politique? (ad augusta per angusta ?), in: Gérard Duprat, L’Union européenne, droit, politique, démocratie, 1996, S. 175, 186. 330 Insb. Pernice, Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JÖR 48 (2000), S. 205, 212; ders., The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 9 ff.; ders./Franz C. Mayer/Wernicke, Renewing the European Social Contract. The Challenge of Institutional Reform and Enlargement in the Light of Multilevel Constitutionalism, King’s College Law Journal Vol. 12, Issue 1, 2001, S. 61 ff. 331 Hobe, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassunggebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, EuR 2003, S. 8; Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), insb. S. 530 ff. 332 Hobe (Fn. 331), S. 9.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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Alle Positionen, die die Völker Europas oder einzelne Individualsubjekte in den Status von Trägern eines pouvoir constituant hochstufen, kranken indes an den gleichen konstruktiven Mängeln. Angesichts einer unbestrittenen, vollkommenen Mediatisierung durch die Mitgliedstaaten als einzigen unmittelbaren Verfassungsakteuren kann in einem juristisch greifbaren Sinne kaum plausibilisiert werden, worin die Verfassungsträgerschaft der Bürger einen aktualisierten Niederschlag findet. Die bloß mittelbare Beteiligung manifestiert vielmehr – sowohl prima facie als auch im Rekurs auf die allgemeinen Zurechnungsgrundsätze in bezug auf das Handeln juristischer Personen – den fehlenden Status der Bürger als Zurechnungssubjekt im europäischen Verfassungsrecht. Einige der vertretenen Positionen – so namentlich die Vorstellungen von einer pouvoir constituant mixte333 oder einem europäischen contrat social334 – ermangeln zudem einer juristisch validen Begriffsbildung. Bloß veranschaulichende Konstruktionsvorstellungen, die nicht die Erklärung ersetzen, woraus sich angesichts einer vollkommenen konstruktiven Mediatisierung der Bürger Europas durch ihre Mitgliedstaaten auf Verfassungsebene ihr angeblicher Verfassungssubjektstatus335 rechtfertige, genügen nicht, um einem Verfaßtheitsbild reale Qualität zuzumessen. Wenn alle vorgenannten Konstruktionsvorschläge nicht greifen, bleibt nur der Rekurs auf die einzigen Akteure des Verfassungsgeschehens, die unmittelbar in Erscheinung treten und die auch einen unmittelbaren und originären Verfassungssubjektstatus im internationalen Recht kraft Bestehens haben: nämlich die Mitgliedstaaten. Die vorliegende Untersuchung geht damit davon aus, daß die supranationalen Strukturbesonderheiten sich jedenfalls nicht in einer vom konventionellen Völkerrecht abgehobenen Zuordnung des pouvoir constituant manifestieren.

333 So V. Constantinesco, L’Union europeénne: par le droit ou vers le politique?, 1996, S. 186. Diese Position entspricht nur vordergründig, wie Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 391, annimmt, der doppelten Legitimationsstruktur der Europäischen Union. Verfassungsautorenschaft und Legitimationssubjektivität sind vielmehr, wie im folgenden zu zeigen ist, zu differenzieren. 334

335

s. u., aa).

Für diese Frage muß insofern terminologisch unterschieden werden zwischen der – unbestrittenen – Eigenschaft der Bürger als Träger von Rechten und Pflichten im Gemeinschaftsrecht und der Frage, ob sie auch Träger von Verfassungsrechten und -pflichten seien; für eine solche Differenzierung auch Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 47.

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(5) Offenheit der Argumentation für eine vertragstheoretische Geltungsbegründung: Ansatzpunkte für eine Annäherung Läßt sich damit als Zwischenergebnis die mangelnde argumentative Überzeugungskraft einer Autonomietheorie sowohl in geltungslogischer als auch in verfassungstheoretischer Hinsicht festhalten, jedenfalls soweit damit eine im Widerspruch zur konsenstheoretischen Geltungsbestimmung stehende geltungstheoretische Festlegung verbunden ist, so ist andererseits zu zeigen, daß sich in der Rechtsprechung des EuGH für eine vertragstheoretische Deutung der Gemeinschaftsrechtsnormativität durchaus Ansatzpunkte finden lassen. Zwar fällt die immanente Begründung der Differenzierung von Anwendungsvorrang und Geltungsautonomie anhand der vom EuGH und vom Schrifttum gegebenen Begründungsformulierungen prima facie schwer; beide neigen zu einer zumindest impliziten Annahme der Verbundenheit und Abhängigkeit beider Teilelemente. Bei näherem Hinsehen freilich offenbaren die als Kronzeugenpassagen der Autonomiethese herangezogenen Urteilsgründe hinreichende Ansatzpunkte für eine auf sie gestützte Auslegung, daß selbst in dem vom EuGH zugrunde gelegten Verständnis der Gemeinschaftsrechtsordnung für eine Differenzierung zwischen Anwendungsvorrang und geltungstheoretischer Autonomie Raum verbleibt. So bleibt die vom EuGH verwendete Begrifflichkeit bei unvoreingenommener Betrachtung zumindest teilweise offen für ein Verständnis, das die Verselbständigung der Gemeinschaft in spezifischer Bezogenheit auf den Vertrag als Handlungsform auffaßt. Auch die Autonomiethese des EuGH stellt bestimmte Strukturelemente zur Einordnung des Gemeinschaftsrechts in bezug auf die überkommenen Kategorien von Staats- und Völkerrecht nicht zur Gänze in Abrede. Das Gemeinschaftsrecht wird als „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“336 kategorisiert und dadurch in der Grundzuordnung zum Völkerrecht nicht angezweifelt. Das neue Rechtsphänomen steht im Lichte dieser Interpretation nicht etwa außerhalb der Dichotomie von Staatsrecht und Völkerrecht, sondern etabliert sich innerhalb des zwischenstaatlichen Rechts und entfaltet ausgehend von dieser eindeutigen genetischen Zuordnung unabhängigkeitsbegründende Aspekte. Der Vertrag bildet die „Nabelschnur zum internationalen Recht“337. Anhaltspunkte einer Annäherung zum hier entwickelten Systemverständnis folgen auch daraus, daß der Gerichtshof in seinen Grundsatzentscheidungen weitgehend die Merkmale der Supranationalität allgemein, nicht aber eine

336

EuGH, Slg. 1963, S. 1 ff. – Van Gend & Loos (Hervorhebung von mir).

337

Ophüls, Juristische Grundgedanken des Schumanplans, NJW 1951, S. 289, 290.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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dezidiert geltungslogische Argumentation in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Die jahrzehntelange Rezeption namentlich der Grundsatzentscheidung Costa/ENEL mag insofern zu einer übertriebenen Emphase des hier anklingenden Geltungskonzepts geführt haben, die sich auf den Wortlaut der Entscheidungsbegründung nur begrenzt berufen kann. So streicht der EuGH im wesentlichen die Spezifika der Supranationalität: eigene Organe, Rechts- und Geschäftsfähigkeit, internationale Handlungsfähigkeit und Übertragung von Hoheitsrechten zur selbständigen und vom Willen der Mitgliedstaaten unabhängigen Wahrnehmung heraus. Die Grundlegung gemeinschaftsrechtlicher Eigenständigkeit in Costa/ENEL enthält insgesamt fünf Kennzeichnungen zum Wesen der Gemeinschaftsrechtsordnung nebst einer Kausalverknüpfung: (1) Die Gemeinschaft sei eine von herkömmlichen internationalen Verträgen unterschiedene Ordnung. (2) Sie sei in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten aufgenommen und von den nationalen Gerichten anzuwenden [m.a.W.: sie gelte direkt]. (3) Das Gemeinschaftsrecht sei vom Vertrag geschaffen. (4) Das Gemeinschaftsrecht fließe somit aus einer autonomen Rechtsquelle. (5) Dem Gemeinschaftsrecht könne keinerlei nationales Recht vorgehen. Mit Ausnahme der vierten These beziehen sich sämtliche Ausführungen des EuGH auf Kennzeichnungen supranationaler Rechtsphänomenologie, die – auch nach hier vertretener Auffassung – unstreitig sind338 und sich auf den Kern der Geltungsfrage nicht beziehen. Die Thesen 1, 2 und 5 explizieren nochmals – wiederum nicht mit einem Begründungsanspruch, sondern als Deskription – die Kriterien der Supranationalität, nämlich völkerrechtliche Strukturbesonderheit (1), Geltungsunmittelbarkeit (2) und Anwendungsvorrang (5) trotz formaler Völkerrechtlichkeit (3). Die Gesamtargumentation hat damit schon quantitativ eine nicht auf geltungslogische Letztbegründung, sondern auf Sicherung eines rechtstheoretischen acquis communautaire gerichtete Begründungsrichtung. Das legt es nahe, daß aus der Sicht des Gerichtshofs eine rechtstheoretisch fundierte Begründung nicht notwendig beanstandet werden müßte, sofern sie die gemeinschaftliche Wirksamkeit hinsichtlich aller prakti338

Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts genießt ebenfalls allgemeine Anerkennung und wird auch von der staatsrechtlichen Betrachtungsweise, die die genetische Abhängigkeit vom innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl bzw. – allgemeiner – vom staatsrechtlichen Willensbildungsmechanismus betont, nicht in Abrede gestellt. Schon in der relativ frühen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ist zwar einerseits die Monopolisierung der Prüfung, ob sich Gemeinschaftsrechtsakte im Rahmen der innerstaatlichen Ermächtigung halten, erkennbar. Gleichzeitig legt das Bundesverfassungsgericht jedoch in seinen Formulierungen als gänzlich unproblematisch zugrunde, daß das Gemeinschaftsrecht dem staatlichen Recht vorgehe, wenn auch in mehr beiläufigen Stellungnahmen. So heißt es in BVerfGE 31, 145, 175 – Lütticke: Zur Entscheidung der Frage, „ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer vorrangigen Bestimmung des Europäischen Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist“, sei das BVerfG unzuständig.

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schen Postulate in Konformität mit der EuGH-Rechtsprechung bestimmt, hiervon aber die Frage nach geltungslogischer Letztbegründung ablöst. Das läßt sich auch mit der Rolle des EuGH und der hiermit zusammenhängenden Einordnung des von ihm verfolgten Argumentationsziels begründen. Seine vertragsgemäße Funktion liegt in der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ der Verträge339. Über ein wortlautgebundenes Verständnis seiner so definierten Funktion hat der EuGH bereits frühzeitig die Rolle eines „Motors der Integration“ übernommen; er steht stärker noch als die Kommission in ihrer Aufgabe als Hüterin der Verträge für eine dynamisierende Organfunktion innerhalb des Integrationsprozesses340. Die von ihm in Grundsatzentscheidungen wie Costa/ENEL und Van Gend & Loos bezogenen Positionen sind aus diesem Kontext heraus zu verstehen. Die Aufgabe des EuGH besteht deshalb – wie bei jedem Gericht – nicht in der abstrakten Reflexion über das rechtstheoretische Wesen von Gemeinschaftsrechtsakten, sondern in der konkreten Definition des Auslegungsmaßstabes hinsichtlich konkreter gemeinschaftsrechtlicher Entscheidungsnotwendigkeiten. Seine Aufgabe ist keine rechtstheoretische Einordnung, sondern die Angabe von Kriterien zur praktischen Geltungsreichweite gemeinschaftsrechtlicher Rechtssätze in bezug auf konkurrierende mitgliedstaatliche Regelungsbefugnisse. Von ihm stammende Definitionsansätze über das Wesen der europäischen Rechtsgemeinschaft sind deshalb mit Blick auf das Entscheidungsziel zu sehen, in bezug auf das seine Betrachtungen praktisch werden. Sie sind Begründungsmuster zur Rationalisierung der hiervon getragenen konkreten Rechtsauffassung341. Es ist nicht zu verkennen, daß der EuGH von seinem Argumentationsziel auf die Begründung des Anwendungsvorrangs, nicht aber auf die Autonomiethese angewiesen ist. Bei Van Gend & Loos wurde die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts statuiert. Bei Costa/ENEL ging es darum, weshalb das Gemeinschaftsrecht gegenüber einem nationalen, die Verstaatlichung von Stromversorgungsaufgaben bewirkenden Gesetz vorrangig und unmittelbar anwendbar sei. Keiner der zu entscheidenden Fälle hat 339

Art. 220 EG; 31 EGKSV, 136 EAGV.

340

Zur Funktion und Integrationsbedeutung des EuGH allgemein vgl. Gerald G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998; vgl. auch A. M. Donner, Le Role de la Cour de Justice dans l’élaboration du droit européen, 1964: „Kämpfer für die Integration“; Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft als Integrationsfaktor, FS Hallstein, 1966, S. 431 ff.: „Integrationsfaktor erster Ordnung“; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 384: „kühn vorwärtsweisende Grundsatzentscheidungen“. 341 Zum Wesen richterlicher Entscheidung und Urteilsbegründung vgl. allgemein Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1983; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 143, apostrophiert den Richter als „Mund des Gesetzes“.

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als praktische Entscheidungsnotwendigkeit die Frage aufgeworfen, ob das Gemeinschaftsrecht geltungslogisch autonom sei. Argumentationslogisch bedient sich der Gerichtshof vielmehr der Figur der Autonomiethese, um von diesem Mehr auf das scheinbar enthaltene Weniger (dem Anwendungsvorrang) einen schlüssigen Ableitungszusammenhang herzustellen. Daß damit eine kategoriale Verknüpfung einhergeht, die die heute unbestrittene Vorranghypothese begründungslogisch anfechtbarer macht als im Falle einer schlichten vertragstheoretischen Begründung des Anwendungsvorrangs, scheint für den Gerichtshof nicht im Vordergrund gestanden zu haben. Letztlich dürfte auch die mit der Eigenständigkeitsrechtsprechung verfolgte integrationspolitische Zielsetzung – Betonung der praktischen Selbständigkeit in der Normsetzung und Jurisdiktion – dafür sprechen, daß es dem EuGH um die Fundierung von Gemeinschaftsrechtsvorrang und praktischer Effektivität der supranationalen Gemeinschaften gegangen sein mag, unter der Voraussetzung einer Sicherung derselben die Frage nach dem geltungshierarchischen Status aber für sein Selbstverständnis als „Motor der Integration“ eher zweitrangig sein mag. Anders formuliert: Die Betonung der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung dient der Bekräftigung ihres effet utile und damit nicht einer geltungslogisch-genetischen, sondern einer folgenbezogenwirkungsorientierten Argumentationsrichtung. Im übrigen handelt es sich bei diesem Befund um kein isoliertes Phänomen in der Gemeinschaftsjurisdiktion. Eine in verfassungstheoretischem Gewand mit allgemeinem Begründungsanspruch auftretende EuGH-Argumentation, deren Intention letztlich weniger in rechtstheoretisch heuristischen Erträgen als in der Sicherung konkreter Praktikabilität der Gemeinschaftsrechtshandhabung besteht, ist für den EuGH nicht untypisch, sondern methodologisch kennzeichnend für vielfältige Begründungszusammenhänge des institutionellen Selbstverständnisses. So hebt Schroeder hervor, daß die Gerichtsbegründungen zur Verfassungsqualität der Verträge weniger der Affirmation eines rechtstheoretisch stringenten Letztverbindlichkeitsverständnisses mit allen verfassungsbegrifflichen Implikationen als der Begründung der materiellen Legitimität der Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft diene342. Die materiellen Eigenschaften der Verfassungsordnung, die der EuGH so kennzeichnet, sind namentlich seine Rechtsstaatlichkeit, das Vorhandensein eines gemeinschaftsrechtlichen Gewaltenteilungssurrogates in Gestalt institutionellen Gleichgewichts, sowie eine eigenständige, in den Gemeinschaftspolitiken artikulierte Rechtsfinalität, mithin sämtlich Bestimmungsgehalte, die das Gemeinschaftsrechtssystem mit eigenen Legitimationsgehalten versieht und sie gegenüber staatsrecht342

Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 126 ff.

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lich induzierten Annahmen konstruktiver Unvollkommenheit imprägniert. Das ermöglicht die Annahme, daß die Eigenständigkeitsbegrifflichkeit auch dort, wo sie eine explizit geltungslogische Konnotation erhält, im Kern auf einen deutlich weiteren als diesen spezifisch geltungstheoretischen Kontext bezogen ist, und dokumentiert andererseits, daß gerade dort, wo eine Ausweitung des Deutungsmodells der Autonomie auch auf das Kriterium der Geltung bezogen wird, mit dieser Ausweitung eine Überdehnung einhergeht, die mit dem überhöhten Begründungsanspruch auch die im übrigen weithin unstrittigen Gehalte in Frage stellt. Das Aufzeigen von geltungslogischen Abhängigkeiten einer Teilrechtsordnung impliziert nicht, daß Eigenständigkeit und Neuartigkeit des in ihr verkörperten Integrationsphänomens marginalisiert würden. Andererseits entbindet das bloße Postulat der Eigenständigkeit nicht von einer Substantiierung, worin diese bestehe, und bleibt eine bloß axiomatisch behauptete Geltungsautonomie zu schwach, um den geltungslogischen Prüfstein ihrer Unabhängigkeit, die Frage der Letztentscheidungskompetenz im Fall der Kompetenzkollision, auszuhalten343.

(6) Position und Kritik des Bundesverfassungsgerichts Die namentlich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht dokumentierte Gegenansicht344 sieht die Geltung des europäischen Gemeinschaftsrechts vermittelt durch den nationalen Rechtsanwendungsbefehl345: „Europa 343

Demgegenüber nimmt Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 394, die Autonomiethese ernster als hier zugrunde gelegt, wenn er zugunsten einer genuin gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung anführt, diese lasse sich nicht dadurch erschüttern, daß nationale Verfassungsordnungen durch nachträgliche Ermächtigungen die Geltung der EU aus staatsverfassungsrechtlicher Sicht erklärbar machten. Baldus flüchtet sich letztlich in die – unbefriedigende – faktische Feststellung, die Machtverhältnisse akzentuierten zumindest gegenwärtig noch den Nationalstaat. Er schlägt zur Lösung von Konflikten einen Vergleich beider Rechtsordnungen vor und stellt anheim, daß sich Konflikte aufgrund faktischer Ungleichheit nicht immer werden normativ lösen lassen können. Allgemein muß es verwundern, in welchem Maße die bloße Eigenständigkeitsbehauptung fortdauernd ernstgenommen wird. 344 BVerfGE 89, 155, 187 – Maastricht; vgl. auch schon BVerfGE 31, 145, 174 – Milchpulver-Einfuhr. 345 Herrschend in der deutschen Staatsrechtslehre, insb. Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/91, S. 15; „Ausgangsnorm für […] das Maß der Verselbständigung des Europarechts gegenüber den nationalen Verfassungen sind […] die nationalen Verfassungen“; vgl. Bernhardt, Quellen des Gemeinschaftsrechts: Die „Verfassung“ der Gemeinschaft, 1981, S. 77, 79; Ehlermann, Die Europäische Gemeinschaft und das Recht, FS Carstens, 1984, S. 81, 83; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. 1994, S. 248; Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen, S. 162; de Witte, Rules of Change in International Law: How Speci-

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fließt über die Brücke des nationalen Zustimmungsgesetzes“346. Die Position des Bundesverfassungsgerichts verweist damit in ihren Grundzügen auf ein Paradigma abgeleiteter Geltungsbegründung, das sich jedenfalls als solches nicht zum Postulat einer vertragstheoretisch-konsensbasierten Geltungsbegründung in Widerspruch setzt. Hingegen enthält auch die isolierte Bezugnahme auf den nationalen gesetzlichen Rechtsanwendungsbefehl nach hier vertretener Auffassung ein Moment der Unterbestimmung des Wesens vertraglicher Normativität, was allerdings im Zusammenhang mit den Darstellungen des Wesens staatlicher Willensbildung immanent kritisiert werden kann347. An dieser Stelle reicht es demgegenüber aus, Spielräume der paradigmatischen Annäherung zur genannten Position des EuGH aufzuzeigen. Ansatzpunkte für eine solche Bestimmung von Bereichen, in denen die Position des EuGH vom Bundesverfassungsgericht affirmativ aufgegriffen wird, lassen sich weniger dort ausmachen, wo das Bundesverfassungsgericht den Kriterien der Supranationalität begriffliche Referenzen erweist und darin – scheinbar – die paradigmatischen Implikationen des EuGH übernimmt. Wenn etwa die Diktion vom Gemeinschaftsrecht aufgenommen wird, das aus einer autonomen Rechtsquelle fließe348, spricht einiges dafür, daß hiermit stärker die Verselbständigung des sekundärrechtlichen Willensbildungsprozesses nach Maßgabe der primärrechtlichen Ermächtigungen anerkannt werden soll als eine geltungslogische Autonomie insgesamt, da andernfalls nicht erklärbar wäre, wie die Annahme einer geltungslogisch verselbständigten Rechtsordnung mit der zentralen Bedeutung des deutschen Zustimmungsgesetzes als „Brücke“ des Gemeinschaftsrechts, die in ständiger Rechtsprechung betont wird349, in Einklang zu bringen wäre. Auch Formulierungen wie in BVerfGE 87, 154, 159, die betonen, daß beide Rechtsordnungen „prinzipiell eigenständig und unabhängig voneinander gelten“350, dürften zur Vermeidung eines immanenten Widerspruchs weniger der Begründung einer geltungslogischen Eigenständigal is the European Community?, NYIL 25 (1994), S. 299 ff.; dazu auch Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 392. 346 Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11, 14; BVerfGE 89, 155 ff. 347 Dazu ausführlich unten, II. 3. d). 348 Vgl. BVerfGE 22, 134; 22, 292, 296; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 163 ff., weist zu Recht darauf hin, daß es sich hier eher um ein Entgegenkommen in der Formulierung als in der Sache handele. Begrifflich ist dieses Entgegenkommen gleichwohl inkonsistent. 349 Ebenso Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 90, der feststellt, diese Funktion ziehe sich „wie ein roter Faden“ durch die Verfassungsjudikatur. 350 Ähnliche Anhaltspunkte in BVerfGE 2, 293, 296; 29, 198, 210; 31, 145, 174.

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keit als der Anerkennung des Anwendungsvorrangs als Beleg dienen. Immerhin dokumentiert dies jedoch, daß zentrale Kriterien der Supranationalität auch aus staatsverfassungsrechtlicher Sicht und trotz einer abweichenden geltungstheoretischen Einordnung unstreitig gestellt werden.

(7) Aspekte paradigmatischer Überlegenheit der Position des EuGH gegenüber dem Bundesverfassungsgericht Wenn etwa der EuGH die Rechtsordnung der Gemeinschaft als „vom Vertrag geschaffenes, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließendes Recht“351 kennzeichnet, stellt dies – abgesehen von der fragwürdigen Rechtsquellenterminologie – die Bezugnahme auf das Wesen der Handlungsform Vertrag als Grund supranationaler Eigenständigkeit in den Vordergrund. Hierin liegt zwar einesteils eine begründungslogisch nicht gänzlich schlüssige Referenz an die Geltungseigentümlichkeit des Vertrages; anderenteils drückt sich hierin aber ein Ernstnehmen der Handlungsform des Vertrages in deren Eigenständigkeitsgehalt aus, das diese Position gegenüber einer geltungslogischen Reduktion zwischenstaatlicher Rechtsgeltung auf staatliche Rechtsanwendungsbefehle auszeichnet. In ähnlicher Weise versucht auch Kutscher, der Vertragsform Eigenständigkeitsgehalt zuzuerkennen: „Der besondere Charakter der Verträge schließt es aus, die Gemeinschaft als eine vornehmlich nach Völkerrecht zu beurteilende Staatenverbindung anzusehen.“352 Diese Positionen nehmen damit den Vertrag nicht nur abstrakt als Rechtsquelle ernster, sondern sie vermeiden auch konkrete geltungslogische Engführungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht seinerseits die Verhaftetheit in staatstheoretischen Paradigmen (und darin das Unvermögen zur Erfassung anerkennungswürdiger Eigenständigkeitsgehalte) dokumentiert. Andererseits lassen sich auch dem Begründungsansatz des EuGH Aspekte abgewinnen, die gegenüber der Position des Bundesverfassungsgerichts eine stärkere Annäherung an das Wesen der Vertragsgeltung enthalten. Partielle Berechtigung kommt dem Postulat der geltungstheoretischen Eigenständigkeit jedenfalls auf der Grundlage der o. g. konsenstheoretischen Vorbestimmung dort zu, wo eine geltungstheoretische Indisponibilität des Gemeinschaftsprimärrechts gegenüber den Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Herren der Verträge postuliert wird. Der EuGH richtet sich hiermit

351

EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1257 – Costa/ENEL; ständige Rechtsprechung, vgl. auch Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643 ff. – Simmenthal-II. 352 Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrecht, aus der Sicht eines Richters, 1976, S. I-32.

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bekanntlich kritisch gegen die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß mit der Eigenschaft der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ auch die Aufhebbarkeit der vertragsförmig eingegangenen Verbindlichkeit durch einen actus contrarius einhergehe353. Er zieht dieser Position Grenzen, indem er betont, daß eine „endgültige Beschränkung ihrer Souveränitätsrechte [eingetreten sei], die durch spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann“354. Aus vertragstheoretischer Sicht sprechen für eine solche Betrachtung einige Gründe. Die These von der Aufhebbarkeit vertraglicher Bindung durch actus contrarius setzt die normative Berechtigung einer solchen Aufhebung voraus. Eine bloß faktische Möglichkeit des Sichentziehens gegenüber einer Gültigkeit beanspruchenden Verbindlichkeit verfehlte den Begriff der Geltung in seinem herausgearbeiteten Normativitätsgehalt. Daß einzelne Mitgliedstaaten die machtfaktische Möglichkeit besäßen, das normative Gebilde der Europäischen Union durch ihren Austritt zu annihilieren, ist daher insoweit bedeutungslos. Auseinandersetzungsbedürftig ist die Position des Bundesverfassungsgerichts vielmehr, indem sie die fortdauernde Verfügbarkeit über die Vertragsnormativität seitens der Vertragsparteien impliziert. Wenn das Wesen der Vertragsbindung aber die durch das Konsensprinzip herbeigeführte, von Wechselseitigkeit geprägte Entäußerung des eigenen Selbstbestimmungsvermögens in bezug auf den Vertragsgegenstand ist, so schließen sich die Möglichkeit willkürlicher Lossagung vom Vertrag und der Begriff der Vertragsgeltung logisch aus. Möglichkeiten einer Auflösung gemeinschaftsvertraglicher Bindungen sind folglich allenfalls als immanente Grenzen der Vertragsbindung, etwa nach Maßgabe des Wegfalls der Geschäftsgrundlage oder artverwandter Konzeptionen denkbar, nicht aber als ein allgemeiner staatlicher Voluntativvorbehalt355. Über diesen Unverfügbarkeitsgehalt täuscht die Formulierung von den „Herren der Verträge“ leicht hinweg. Sofern die Annahme von Geltungsvorrang und unmittelbarer Anwendbarkeit mit der geltungslogischen Sekundärnatur der Primärverträge vereinbar erscheint, steht ein Aufweisen staatsorganisationsrechtlich radizierter Geltungs-

353

Mitgliedstaaten sind nach wie vor Herren der Verträge: BVerfGE 75, 223, 242 – Kloppenburg; BVerfGE 89, 155, 204 – Maastricht (Aufhebbarkeit durch actus contrarius). Dagegen EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1257 – Costa/ENEL: „endgültige Beschränkung ihrer Souveränitätsrechte […], die durch spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann.“ 354 EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1257 – Costa/ENEL. 355

Wie hier auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 96.

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bedingungen des Gemeinschaftsrechts in keinem Widerspruch zur These von der Eigenständigkeit und zu der vom EuGH damit verfolgten integrationspolitischen Ausrichtung. Hierzu sind im folgenden die positivrechtlichen Bedingungen der die gemeinschaftsrechtlichen Verträge tragenden staatsrechtlichen Willensbildung in Übereinstimmung mit den vorpositiven Charakteristika der Rechtsform Vertrag so auszubuchstabieren, daß das Prinzip der Konsensnormativität auch den gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang mitträgt. Hierin liegt eine schlichte, aber in dieser Schlichtheit gegen gravierende logische Konstruktionseinwände dafür weitgehend gesicherte Begründung.

d) Der Geltungsgrund als Resultat der staatlichen Willensbildungsstrukturen: der Zusammenhang von staatsrechtlichen Ratifikationsstrukturen und Vertragsgeltung aa) Die damit zugrunde gelegte Ausgangssituation einer aus der Konsensnormativität der Rechtsform des Vertrages gespeisten supranationalen Geltung nach Maßgabe der staatsrechtlichen Willensbildungsmodalitäten bleibt als Geltungsmodell unvollkommen, wenn nicht die Spezifika staatlicher Rechtssubjektivität miteinbezogen werden. Das Wesen der Vertragsgeltung wurde oben, ausgehend von den konstraktualistischen Lehren, als der formalisierte Konsens von Willenssubjekten aufgrund ihres vorausgesetzten Vermögens zu selbstbestimmter Willensbildung bestimmt356. Hieraus resultiert die zentrale Bedeutung der Subjektsqualität, die die metapositiven Strukturbestimmungen vertraglicher Geltungstypizität konkret ausfüllt. Die Rechtsform des Vertrages gewinnt ihre Universalität entscheidend daraus, daß sie nicht auf Individualsubjekte beschränkt ist. Allein aus diesem Grunde erweist sich ein Blick auf die den Gesellschaftsvertragstheorien zu entnehmenden allgemeinen Strukturprinzipien erst als fruchtbar für den vorliegenden Problemzusammenhang: Das zwischenstaatliche Rechtsverhältnis folgt in seiner vertraglichen Regelbarkeit keinen anderen Strukturprinzipien als die Willenskongruenz von Einzelpersonen. Allerdings ist staatliches Wollen, verstanden als Summenbegriff für die die Willensbildung im Staat strukturierenden prozeduralen und organisatorischen Bedingungen, dadurch vom individuellen Wollen unterschieden, daß staatliches Wollen ein synthetisches Konstrukt ist und als solches ohne die organschaftliche Gewährleistung von Handlungsmacht nicht auskommt, die für juristische Personen ausfüllt, was bei Individuen deren Willensautonomie darstellt.

356

s.o., Kap. 3, III. 3. b) bb).

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Der Staat ist als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“357 keine vorfindliche Entität, sondern eine „Zweckschöpfung“358, die ihre rechtliche Realität als „juristische Person“ einem virtuellen Konstruktionsakt, der Verdichtung von partizipierenden Einzelsubjekten zu einer kollektiven Identität unter der einigenden allgemeinen Herrschaft von Rechtsgesetzen verdankt. Ihre Willensbildungs- und Handlungsfähigkeit folgt der Notwendigkeit, dem dem Staat zugrunde liegenden Selbstbestimmungsanliegen seiner Konstituenten unter einer gemeinsamen Institution zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen. Die vom Staat zu leistende Willensbildung ist letztlich die Willensbildung des hinter ihm stehenden Souveräns, dem seine Handlungen zuzurechnen sind359. Die strukturelle Gemeinsamkeit des so verstandenen Staates zum willensmächtigen Individualsubjekt liegt darin, daß die Lehre von der juristischen Person in konstruktiver Analogie zur natürlichen Person deren Fähigkeit zur rechtlichen Bezugnahme auf andere Zurechnungssubjekte ebenfalls davon abhängig macht, daß die im Außenverhältnis erklärte Willentlichkeit auf der Fehlerfreiheit der Willensbildung im Innenverhältnis nach Maßgabe der dort verbindlichen Regeln beruht und von ihr abhängt. Die zivilrechtlichen Willensbildungsbedingungen positiven Rechts enthalten für die vertragskonstitutive Willenserklärung privaten Rechts eine abgestufte Differenzierung des Einflusses von Willensmängeln auf die Wirksamkeit eines hierauf beruhenden Vertragsschlusses360. In ähnlicher Weise legen die Organisationsregeln der juristischen Person die Konstitutionsbedingungen für den ihr zugerechneten synthetischen Willen fest und benennen die Kriterien, die die Beurteilung des im Außenverhältnis sich manifestierenden Vertragswillens in seiner rechtlichen Wirksamkeit ermöglichen. Willensbildung juristischer Personen vollzieht sich nach Maßgabe des sie begründenden Organisationsrechts. Hiervon muß das 357 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313. Wenn hier der prägnante kantische Staatsbegriff zugrunde gelegt wird, ist darin keine Verengung auf ein spezifisch kantisches Staatsverständnis angelegt. Alle Staatsbegriffe, die legitimitätsorientiert aufzufassen sind, könnten gleichermaßen an die Stelle treten. 358 Ähnliche Terminologie zum Staat als „juristischer Zweckgemeinschaft“ bei Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 14, 78, 94; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 93 f.; ausführlich Schindler, Das Recht der Zweckgemeinschaften, in: Recht, Staat, Völkergemeinschaft. Ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlaß, 1948, S. 111 ff. 359

Zur ideengeschichtlichen Verwurzelung dieses Staatsgedankens in der Philosophie Hobbes’ vgl. insbesondere Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 87 ff.; vgl. Hobbes, Leviathan, 17, 134 f. 360 Zur Dogmatik der vertraglichen Willensmängel im deutschen Zivilrecht statt aller Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. 1989, § 20, S. 363 ff.

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Verständnis der Vertragsgeltung allgemein seinen Ausgang nehmen. Der Geltungsgrund der Gemeinschaftsverträge findet sich in der diese Willensbildungsbedingungen festlegenden, der juristischen Person „Staat“ damit erst Handlungsfähigkeit verleihenden Verfassung der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung. Im Lichte dieser Erkenntnis muß die Einordnung der Kontroverse „Zustimmungsgesetz vs. Autonomie“ beurteilt werden. bb) In der Verknüpfung der metapositiven Strukturanalyse des Vertrages mit den staatsorganisationsrechtlichen Willensbildungsbedingungen des Staates kommt keine spezifische rechtsphilosophische Referenz einem bestimmten Modell gegenüber zum Ausdruck. Die Auffassung vom Staat als synthetischer Rechtsperson und eigenständigem Zurechnungssubjekt hat sich in durchgängiger staatsrechtlicher Rezeptionsgeschichte seit dem 19. Jhdt. durchgehalten. Die Lehre von der juristischen Person ist als „nahezu unangefochtenes Dogma der Staatsrechtslehre“361 konstitutiv für das Staatsverständnis der Rechtswissenschaft. Anknüpfungspunkte finden sich teilweise bereits in den aufklärerischen Vorstellungen; als explizite Begriffskategorie geht die Vorstellung des Staates als juristischer Person aber zurück auf Wilhelm Eduard Albrecht, der in Abkehrung von patrimonialen Lehren des deutschen Frühkonstitutionalismus362 die Grundlegung der Lehre von der juristischen Person als Theorie des geltenden Rechts beschreibt363 und den Staat explizit als mit eigener Rechtsfähigkeit ausgestattet denkt. Eine Explikation der Willensbildungslehre zur Umsetzung der Staatssubjektivität in eine judiziell operationalisierbare Handlungseinheit verdankt sich wesentlich Gerber, der zunächst die Rechtsfähigkeit des Staates kritisiert364, später jedoch einräumt, daß es „unmöglich“ sei, „das staatliche Willensrecht ohne Anknüpfung an die staatliche Persönlichkeit zu entwikkeln“365. Auf dieser Grundlage begreift sich Staatsgewalt als staatliche Willensmacht einer von den natürlichen Personen losgelösten Organisationseinheit, die – wenn auch für Gerber wesentlich die Beziehung des staatlichen 361

Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person, 2000, S. 39. Vgl. dazu Uhlenbrock (Fn. 361), S. 40; zu der ideengeschichtlichen Innovation, die Albrechts Lehre vom Staat als juristischer Person auch im Gegensatz zur eher unklaren Begrifflichkeit des Staates als „moralischer Person“ mit sich brachte, vgl. dens., S. 44. 363 Göttingische Anzeigen, S. 1492: „Indem wir somit in Beziehung auf das erste Gebiet dem Individuum alle selbständige juristische Persönlichkeit (das um seiner selbst willen Berechtigt-Seyn) absprechen, werden wir notwendig dahin geführt, die Persönlichkeit, die in diesem Gebiete herrscht, handelt, Rechte hat, dem Staate selbst zuzuschreiben, diesen daher als juristische Person zu denken“. 364 Vgl. dazu die Darstellung bei Uhlenbrock (Fn. 361), S. 63-73, m.w.N. 365 Von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1880, S. 217 f.; vgl. auch S. 2: die Lehre von der juristischen Staatspersönlichkeit sei „Voraussetzung jeder juristischen Construktion des Staatsrechts“. 362

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Willens auf die Einzelwillen der ihm unterworfenen Individuen im Vordergrund steht366 – als Zurechnungssubstrat auch für Subjektsqualität und Handlungsvermögen des Staates im internationalen Rechtsverhältnis den maßgeblichen ideengeschichtlichen Ausgangspunkt markiert: Unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine bloße Fiktion handelt367 – hierzu neigt ein Teil der neueren konservativen Staatsrechtslehre – oder die Personqualität tatsächliches juristisches Wesen des Staates darstellt, liefert dieses Systemverständnis erst die Grundlage dafür, das Willensbildungsvermögen des Staates unter Abstraktion von der realen staatlichen Aufgabenwahrnehmung durch natürliche Personen als Teilakte einer zurechnungskonstituierenden Gesamtkonstruktion zu begreifen368. Ausdifferenziert findet sich dieser Ansatz letztlich in der Organlehre Jellineks als Bestandteil seiner Staatslehre, die mit der Bestimmung des Verhältnisses von Staatsperson und Staatsorganen369 die organisationsrechtliche Binnenstruktur des Staates als Theorie einer Willensbildung des Staates als Person selbst zum Thema macht und zu Recht als „Höhepunkt der Entwicklung der Lehre von der juristischen Persönlichkeit des Staates“370 angesehen werden kann. Wesentlicher Punkt der von Jellinek ausgehenden Verständnisinnovationen zum Wesen des Staates ist insbesondere die Repräsentationsfunktion der Organe für den Staat371. Sie bedingt die fehlende eigene Rechtspersönlichkeit der Organe und präjudiziert ein System, das von der Gegenüberstellung von subjektiven Rechten, die Rechtspersonen zugeordnet sind, und objektivrechtlichen Kompetenzen als der den Organen zukommenden Befugnismacht geprägt ist372: Organstreitigkeiten sind nach Jellinek subjektsinterne – den Willensbildungsprozeß der juristischen Person abbildende – Zuständigkeitskonflikte rein objektiven Rechts373. Jellinek gelingt damit eine Juridifizierung auch der staat366

Vgl. Uhlenbrock (Fn. 361), S. 73 f. So – in der Rezeption Labands – insbesondere Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1929, S. 17; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 262. Zu den kritischen Positionen gegenüber der Lehre von der juristischen Person vgl. auch Uhlenbrock (Fn. 361), S. 73. 368 Treffend bezeichnet daher Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 119 f., den Staat insgesamt „als juristisches Zurechnungsproblem“. 369 Vgl. dazu Uhlenbrock (Fn. 361), S. 107. 370 Uhlenbrock (Fn. 361), S. 110; Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, 1959, S. 142. 371 Vgl. Uhlenbrock (Fn. 361), S. 107: „Innerhalb einer gewissen Zuständigkeit stelle das Organ vielmehr den Staat dar“. 372 Uhlenbrock (Fn. 361), S. 107 f. 373 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1929, S. 560 f. 367

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lichen Innenverhältnisse in Abkehr von Laband374, ohne auf Lehren zurückgreifen zu müssen, die eine eigene Organpersönlichkeit postulieren mußten375. Auch in den modernen Ansätzen wird der Verweisungszusammenhang der Kategorien von Rechtsfähigkeit, Organstrukturen und Willensbildungsverständnis trotz zum Teil erheblicher Modifikationen in Einzelfragen des Staatsverständnisses nicht angezweifelt376. Leibholz und Rupp relativieren zwar die Ausschließlichkeit der Organwalterschaft und betonen die Möglichkeit der Existenz von Rechtsbeziehungen auch zwischen Organen, zwischen Bürger und Staat und zu anderen Staaten. Namentlich Rupp geht es um eine Überwindung einer zu strikten Analogie von Staat und Individuum und einer daraus fälschlich abgeleiteten Erkenntnis, daß die staatliche Binnenstruktur überhaupt nicht rechtssatzförmig strukturiert sei377: Dies bedeute letztlich nämlich die Auflösung der dogmatischen Grundlage für Staatsrecht überhaupt378. Leibholz stellt demgegenüber die Eigenständigkeit des Staates als durch die Organe repräsentierter Einheit in den Vordergrund und kritisiert insbesondere die auf Otto von Gierke zurückgehenden Vorstellungen einer absorptiven Organschaft, die die „Verbandsperson“ aufsauge379. Beide lassen aber insgesamt die konstruktive Leistung unangetastet, dem Staat als Zurechnungssubjekt eine eigene rechtliche Existenz zuzuerkennen und die innerstaatliche Willensbildung instrumentell hierauf zu beziehen. Ihre Relativierungen sind eher Warnungen gegen Vereinseitigung formaler Betrach-

374

Vgl. Uhlenbrock (Fn. 361), S. 108. So etwa Otto von Gierke, vgl. dazu Uhlenbrock (Fn. 361), S. 108 m.w.N. 376 Einzig Böckenförde verbindet seine Staatslehre mit einer Aufgabe des Zentralbegriffs der juristischen Person und sieht die einzelnen Staatsorgane als Repräsentanten einer wesentlich im Volksbegriff konzentrierten vorrechtlichen Identität. Die von ihm geäußerte Kritik an der Orientierung des Staatsverständnisses auf die Kategorie der juristischen Person verdient eine umfangreichere Auseinandersetzung als sie dieser Rahmen ermöglicht. Gleichwohl erscheint fragwürdig, ob die von ihm vorgeschlagene Alternative – der Staat als ein Umfassungsbegriff für die vorgefundene Vielfalt von Seinsbedingungen, die sich im Volksbegriff zur Identität fügen – nicht nur als Rechtsphänomenologie, sondern auch als Zurechnungsmodell über die Lehre von der juristischen Person hinausgeht. Es mag vor diesem Hintergrund auch nicht erstaunen, daß die Auffassung Böckenfördes wenig Gehör gefunden hat, vgl. dazu Uhlenbrock (Fn. 361), S. 116: „ungehört verhallt“. 377 Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1991, S. 22. 378 Rupp (Fn. 377), S. 21. 379 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 1966, S. 133. 375

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tungen als Infragestellung der Konstruktion des Staates als juristischer Person insgesamt. Mit dem Einzug der Lehre von der juristischen Person in die Theorie vom geltenden Recht ist erst die Grundlage dafür geschaffen, die metapositiven Erwägungen zur Natur der Vertragsnormativität, wie sie in den Gesellschaftsvertragstheorien als bloßer „wissenschaftlicher Theorie“380 artikuliert sind, auch in eine Theorie des geltenden Rechts einzubeziehen, die die neue Rechtsform des Gemeinschaftsrechts zum Gegenstand hat. Durch sie tritt der Staat als eigenständige, rechtlich verselbständigte Zurechnungseinheit aus dem Schatten von patrimonialen Konstruktionen heraus und ordnen sich zugleich die innerstaatlichen Formen der Organhandlung dieser Zurechnungseinheit unter. Erst dadurch ist der Staat in der Lage, das am Willensvermögen der natürlichen Person orientierte normative Raster der Handlungsform Vertrag durch die ihm eigentümliche Subjektsnatur auszufüllen. Damit läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Vertragsnormativität in der Lehre vom Staat als juristischer Person ihr materiales Bezugssubstrat findet, das die Entsprechung zum individualen Subjektskonzept darstellt, dessen Normativitätsrelevanz in der Gegenübersetzung von Kant und Hobbes dokumentiert wurde. dd) Die positivrechtlichen Bestimmungen des Staatsverfassungsrechts entsprechen diesen metapositiven Strukturen. Das bundesdeutsche Staatsrecht knüpft den Abschluß internationaler Verträge, also die staatsrechtlichkoordinative Selbstbindung gemeinsam mit anderen Staaten, nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 GG an die Einhaltung bestimmter Modalitäten der innerstaatlichen Willensbildung381. Völkerrechtliches Repräsentationsorgan im Außenverhältnis ist der Bundespräsident; Wirksamkeit aber erlangen die von ihm vorzunehmenden Abschlußakte, sofern es sich nicht um bloße Verwaltungsabkommen nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG handelt, in Abhängigkeit von der Mitwirkung des Parlaments durch ein Zustimmungsgesetz. Die geltungslogische Stellung des Zustimmungsgesetzes ist ebenso wie seine Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsgeltung umstritten. Während zum Teil im Schrifttum die dogmatische Konstruktion eines Transformationsgesetzes 380

Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585 ff. Freilich ist im einzelnen manches umstritten; vgl. zur Frage, ob es sich bei dem Zustimmungsgesetz um einen Transformationsakt oder um eine Vollzugsanordnung handle, im Überblick nur von Münch-Rojahn, GG, Band 2, 3. Aufl., 1995, Art. 59, Rdnr. 33. Diese Fragestellung ist letztlich wenig weiterführend für den hier betrachteten Kontext, weil sie die Frage nach der geltungslogischen Eigenständigkeit des zwischenstaatlichen Vertragsrechts als solchem letztlich unbeantwortet läßt. 381

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angenommen worden ist, geht das Bundesverfassungsgericht382 und im Einklang mit ihm ein nicht unerheblicher Anteil des Schrifttums davon aus, daß das Zustimmungsgesetz Ermächtigungsakt gegenüber der Exekutivspitze sei. Allein diese Auffassung ist mit den vorpositiven Überlegungen zum Grund der Vertragsnormativität in Einklang zu bringen. Fraglich bleibt jedoch, ob es im Hinblick auf die innerstaatliche Willensbildung nach Art. 59 Abs. 2 GG gerechtfertigt ist, das Gemeinschaftsrecht als geltungslogische Emanation des Zustimmungsgesetzes anzusehen. Diese Betrachtung wird der Aufgabe, Vertrag und Gesetz in ihrem jeweiligen Systembezug (internationales Recht einerseits, Staatsrecht andererseits) zu kennzeichnen und zwischen beiden ein Verhältnis herzustellen, das Gemeinschaftsrechtsgeltung in Übereinstimmung mit der Typizität der Vertragsnormativität darstellen kann, allenfalls zum Teil gerecht. Zwar ist nach den vorpositiven wie völkerrechtsdogmatischen Feststellungen unzweifelhaft, daß der Geltungsgrund des völkerrechtlichen Vertrages – auch in seiner supranationalen Sonderform – Ausfluß staatlicher Souveränität und damit eine Handlungsform abgeleiteter Geltung ist. Insofern wird die – mitkonstitutive – Bedeutung der parlamentarischen Partizipation beim Willensbildungsprozeß für die Geltung zwischenstaatlicher Verträge zutreffend betont. Ohne die Betrachtung der Einbeziehung von mitgliedstaatlichen Parlamenten in den Vertragsschluß bleibt die Legitimitätsarchitektur unvollkommen. Der „Legitimationsstrom“ mittelbarer demokratischer Legitimation resultiert aus der der auch geltungslogischen Ableitung von den „verbundenen demokratischen Regierungen und Parlamente[n] der Mitgliedstaaten“383. Die Frage nach dem Geltungsgrund der Verträge ist aber nur mittelbar eine Legitimitätsfrage. Der geltungsbewirkende Akt souveräner Willensbildung ist im Zustimmungsgesetz nicht erschöpfend verortet. In der Fixierung der herrschenden Lehre auf das Zustimmungsgesetz als Geltungsgrund liegt eine subjektstheoretische Vereinseitigung. Nach hier vertretener Auffassung kommt der innerstaatlichen gesetzlichen Ratifikationsermächtigung zwar eine Zentralfunktion für die Legitimität, nicht aber die eines exklusiven Geltungsgrundes zu.

382 Die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Terminologie des „Rechtsanwendungsbefehls“ (vgl. BVerfGE 46, 342, 363; 89, 155; 90, 286, 364) deutet in diesem Zusammenhang stärker auf die Gültigkeit der Vollzugstheorie hin. 383

Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, http://www.whiberlin.de/difabio.htm. Zur Bedeutung der Differenzierung von mittelbarer und unmittelbarer demokratischer Legitimation vgl. ausführlich Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 347 ff.

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Schon die Brückenmetapher des Bundesverfassungsgerichts legt einen Anklang an die dualistische Völkerrechtskonzeption nahe, die in merkwürdigem Gegensatz zu den supranationalen Spezifika unmittelbarer und vorrangiger Geltung auch des Sekundärrechts steht: Es widerspricht der konstruktionslogischen Intuition und ist auch im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtsinterne Normenhierarchie unplausibel, die sekundärrechtlichen Akte des Gemeinschaftsrechts in ihrer direkten innerstaatlichen und nicht transformationsbedürftigen Geltung anzuerkennen384, das Primärrecht hingegen, das deren Ermächtigung enthält und ihnen geltungslogisch übergeordnet ist, als transformationsbedürftige, externe Rechtsquelle einer unverbunden neben dem Staatsrecht stehenden Rechtsordnung anzusehen, die erst über die normative Brücke eines Transformationsgesetzes eine Einwirkungsmöglichkeit erhält. Auf der Grundlage der vorpositiven Geltungsüberlegungen ist daher die direkte Ableitung des Geltungsgrundes völkerrechtlicher Verträge vom parlamentarischen Zustimmungsgesetz allenfalls eine – für bestimmte Fragestellungen hinnehmbare – Verkürzung. Dies gilt sowohl für die Bestimmung völkerrechtlicher Vertragsgeltung aus dem parlamentarischen Zustimmungsgesetz als auch im besonderen für die Erklärung des spezifischen gemeinschaftsrechtlichen Geltungsstatus aus ihm385. Die Kluft zwischen Geltungsorientierung auf das Zustimmungsgesetz und Anerkennung gemeinschaftsrechtlicher Eigenständigkeit ist deshalb zu Recht als Dilemma der herrschenden Sichtweise kritisiert worden386. Sie wird auch der Form des Ratifikationsgesetzes als eines die innerstaatliche Willensbildung bei der Verabschiedung von Verträgen betreffenden Teilaktes nicht gerecht. Verträge des internationalen Rechts gelten, weil sie eine eigenständige koordinative Willensbildungsmöglichkeit von Staaten im Außenverhältnis artikulieren, nicht, weil ein inhaltsgleiches Gesetz im innerstaatlichen Recht existiert. Der Staat kann jede – auch eine unverbindliche – externe Normenquelle durch innerstaatliches, inhaltsgleiches Gesetz reduplizieren und dadurch seine Verbindlichkeit hervorrufen387; über das Geltungswesen der so inkorporierten Vorlage sagt dies jedoch nichts. Durch ein Transformationsgesetz kann der innerstaatlichen Rechtsordnung jeder Inhalt jedes beliebigen Sollensgehaltes

384 Vgl, EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. – Costa/ENEL. 385

Kritisch dagegen auch Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 619: „Rückfälle in traditionelles Denken“. 386 387

Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 392 f.

Vgl. etwa die bereits o. g. Inkorporierung von DIN-Normen in öffentliches Recht durch ihre Einführung als Technische Baubestimmungen im Sinne der Landesbauordnungen.

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inkorporiert werden. Dadurch wird die staatsrechtsexterne Norm jedoch nicht in Geltung gesetzt, sondern es findet lediglich eine – inhaltsgleiche – Reduplikation des Regelungsgehaltes in Form eines einfachen Gesetzes statt. Das so erlassene Gesetz hat zu dem transformierten Normkontext keinerlei geltungslogischen Bezug, die Geltung des so transformierten Inhaltes findet ihren einzigen Grund im Transformationsgesetz selbst. In dieser Konstruktion kommt aber die Bezogenheit des Zustimmungsgesetzes auf eine andere normative Systemebene, zu deren Autorisation sie dient, nicht zum Ausdruck; mit ihr ist rechtstheoretisch nicht angemessen erfaßbar, daß die Gemeinschaftsverträge einheitlich und vorrangig in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gelten388. Mit der Vorstellung, das Zustimmungsgesetz als Transformationsakt sei der eigentliche Geltungsgrund der Gemeinschaftsverträge, werden die Verträge selbst ihres normativen Kerns entledigt und zur bloßen Schablone für eine gesetzesförmige Reduplikation im innerstaatlichen Recht. Die ausschließlich auf das Zustimmungsgesetz fixierte Vertragsgeltungsbegründung setzt damit materiell an die Stelle einer Theorie der Vertragsnormativität ein am Leitbild der Rechtsfigur der Inkorporation389 orientiertes Verständnis. 2. Auch aus der konstruktiv notwendigen Begrenztheit der Reichweite innerstaatlicher Gesetzesherrschaft folgt die argumentative Anforderung, Vertragsgeltung nicht mit der Geltung des Zustimmungsgesetzes zu identifizieren. Gesetzesherrschaft, staatliches Gewaltmonopol und Souveränitätsverständnis stehen nach den Erörterungen des vorangegangenen Kapitels in einem engen Verhältniszusammenhang. Das innerstaatliche parlamentarische Gesetz ist die Artikulationsform für staatliche Selbstbestimmung und dadurch immanent limitiert auf die durch Staatsgebiet und Staatsvolk limitierte Reichweite staatlicher Gewalt. Gesetzesherrschaft überschreitet den Systemkontext Staat nicht, Selbstbestimmung als solche kann in der Form der Mitverpflichtung anderer, die dem Selbstbestimmungskontext nicht zugehören, jedenfalls als Resultat einseitig autoritativer Setzung nicht erfolgen. Gesetzesgeltung mit dem Anspruch der Bestimmung auch anderer staatsrechtlicher Zusammenhänge ist insofern ein Fall legislativen Handelns ultra vires. Mit dem Zustimmungsgesetz kann deshalb zwar erklärt werden, weshalb das mit dem Vertrag wortlautgleiche Ratifikationsgesetz zukünftig innerstaatlich Geltung beansprucht (nämlich schlicht nach Maßgabe staatsrechtlicher Willensbildung), nicht aber, weshalb die Handlungsform des Vertrages gerade zwischen- und überstaatliche Geltung

388 Im Herausstreichen dieses Arguments – wenn auch ohne eine im einzelnen überzeugende geltungslogische Analyse – liegt die Stärke der europarechtlichen Betrachtungsweise. Vgl. zu diesem Punkt nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 627. 389 Vgl. dazu Haratsch, Die normative Bezugnahme auf Rechtsnormen, ZG 1999, S. 346, 347 ff.

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und Befolgung beansprucht. Der Ableitung der Vertragsgeltung von der innerstaatlichen Ratifikation liegt deshalb die unzutreffende Normvorstellung mehrerer gleichlautender und die jeweilige staatsrechtliche Sphäre im Innenverhältnis normativ determinierender Gesetze der jeweiligen Mitgliedstaaten zugrunde. Das aber erklärt nicht die Einheitlichkeit, die durch den Vertrag selbst Ausdruck findet. Der Vertrag ist keine Addition isolierter innerstaatlicher Normen der jeweiligen Vertragspartner, sondern in erster Linie einheitliches, für sie gemeinsam und als Resultat ihres vereinigten Willens geltendes originär internationales Recht. Ein Verständnis, daß die Vertragsgeltung unproblematisch als bloßes Resultat eines innerstaatlichen Anwendungsbefehls betrachtete, würde die kategoriale Pointe des Vertrages als Rechtsform verfehlen, die gerade in einer Rechtskreiserweiterung über das eigene Vermögen hinaus durch das koordinativ-wechselseitige Eingehen von Bindungen mit anderen Rechtssubjekten versteht.

4. Das Wesen der Komplementärverfassung: Zur Bedeutung des Verhältnisses von verfassungsrechtlicher Integrationszielbestimmung und Staatsbegriff

a) Die materiell legitimationstheoretische Bedeutung des Begriffs der Komplementärverfassung

In welcher Weise die vorgenannten geltungstheoretischen Einordnungen die verfassungsparadigmatische Bestimmung der Europäischen Union prägen, im Begriff der Komplementärverfassung einen angemessenen, kategorial unmittelbaren legitimatorischen Widerhall finden, bzw. was die legitimationsstrukturelle Auszeichnung des Unionsverfassung als Komplementärverfassung ausmacht, bleibt die Aufgabe eines Verfassungsbegriffs, der auf die Integration der drei Elemente von Legitimität, Geltung und Verfassungsparadigma angelegt ist. Zu zeigen ist, daß die Besonderheiten der koordinativen Willensbildung, auf denen das unionsverfassende Vertragsrecht in der dargestellten Weise beruht, die Verbindung der vermeintlichen Antinomien von gemeinschaftsrechtlichem Vorrang und fortbestehender Staatlichkeit ermöglichen.

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aa) Staatsbezug des Begriffs der Komplementärverfassung Anders als im Staatsrecht findet das internationale Recht konventioneller Ausprägung seine hauptsächliche Artikulationsform im Vertrag390. Indem auch das supranationale Rechts auf diese Handlungsform als seinen normhierarchischen Ausgangspunkt bezogen ist, weicht es von der im System des Staatrechts dominierenden Grundkategorie der Gebote ab391. Um diese Besonderheit in ihrer systemprägenden Bedeutung angemessen zu erfassen, muß zur geltungstheoretischen Einordnung des gemeinschaftsrechtlichen Vertrages im vorangegangenen Abschnitt eine Analyse der strukturellen Notwendigkeit einer solchen koordinativ geprägten Rechtsarchitektur hinzutreten. Folgt es Bedingungen des zwischenstaatlichen Rechtsverhältnisses selbst, dieses koordinativ zu strukturieren, ist der Vertrag völkerrechtliche „Normalform“ zwischenstaatlichen Regelungsbedarfs. Gemeinschaftsrechtlich impliziert dies insbesondere, daß Umgestaltungen und legislative Akzentverschiebungen zugunsten der sekundärrechtlichen Handlungsformen sich dann an diesen für den Vertrag sprechenden kategorialen Gründen zu legitimieren hätten und nicht schon aus bloßen Nützlichkeitserwägungen heraus statthaft wären. Kategoriale Gründe für die Notwendigkeit der Vertragsform als völker- und gemeinschaftsrechtlichem Normsurrogat in diesem Sinne folgen aber nicht aus dem positiven Recht immanenten Begründungserwägungen, sondern machen die Vergewisserung des vorpositiven Anforderungsprofils an legitimes Recht erforderlich. Es liegt auf der Hand, daß der bloße Verweis auf Rationalitätsargumente, die bestimmten rechtsphilosophischen Konzeptionen immanent sind, nicht in der Lage ist, die genuine verfassungsschöpfende Kraft sich fortentwickelnder Integrationsprozesse zu restringieren. Dies ist auch weder Aufgabe noch Intention der vorliegenden Untersuchung. Die hier entwickelten Strukturprinzipien schließen die Staatswerdung Europas nicht aus. Sie schließen aber eine evolutionäre Herausentwicklung der Europäischen Union zu einem Staat aus der gegenwärtigen Gestalt ihrer Verfaßtheit aus, weil hierdurch das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit aufgegeben würde, daß sich in der Eigenschaft der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ manifestiert, und das sowohl Bestandteil der bisherigen Gemeinschaftsverfassung, vgl. Art. 6 Abs. 1, 3 EU, als auch Anforderung mitgliedstaatlicher Verfassungsordnungen an die supranationale Ordnung ist, vgl. Art. 23 GG. Daran wird auch die Verabschiedung der vom 390

Deutlich zeigen dies alle völkerrechtlichen Lehrbücher schon mit dem Umfang, in dem die Darstellung des Vertrages zu den wenigen übrigen völkerrechtlichen Phänomenen erfolgt. 391 Hasso Hofmann, Vertrag, Gebot, Sitte, 1993, S. 11, sieht den Vertrag, verstanden als Oberbegriff für jede Form konsensuellen Verhaltens, als „Urphänomenen“ der Verbindlichkeit generierenden normativen Handlungsformen an.

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Europäischen Konvent ausgearbeiteten Verfassung nichts ändern. Die mit einer Verstaatlichung der Europäischen Union einhergehende Verlagerung des pouvoir constituant auf ein direkt verfassunggebendes europäisches Volk bedürfte – seine Existenz als Volk vorausgesetzt – deshalb eines neuen verfassunggebenden Aktes392, der eine Staatsverfassung Europas konstituierte und mit den Strukturprinzipien der Europäischen Union als komplementärer Ordnung nichts mehr gemein hätte. Eine Theorie der Unionsverfassung nach geltendem Recht muß sich aber auf die im status quo verwirklichten Kategoriegehalte beziehen. Es ist Ziel dieser Untersuchung, einen solchen rechtskategorialen Hintergrund des Begriffs der Komplementärverfassung aus dem Verhältnis von internationalem Recht und Wesen des Staates zu gewinnen. Dieser Systematisierungsvorschlag greift auf die Kategorienbestimmungen eines namentlich von Kant instruierten Völkerrechtsentwurfs in der Annahme zurück, daß für die Verhältnisbestimmung von Staats- und Völkerrecht selbst in den kategorieüberschreitenden neuen Formen des europäischen Gemeinschaftsrechts die kantische Völkerrechtskonzeption gültige Darlegungen an den Legitimitätsanspruch von Recht enthält, von denen eine legitimitätsorientierte Verhältnisbestimmung von Teilrechtsordnungen ausgehen muß. bb) Kategoriale Notwendigkeit fortbestehender Staatlichkeit Mit dem der europäischen Integration zugrunde liegenden Konzept einer Verbindung von Staaten zu einer Rechtsgemeinschaft, in der diese fortbestehen393, bleibt die Rückbindung der europäischen Rechtsgemeinschaft an die Mitgliedstaaten nicht nur in den vertrags- und verfassungsrechtlich festgeschriebenen Willensbildungsformen präsent394, namentlich im Status der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge und durch ihre Beteiligung an der Gemeinschaftsrechtssetzung durch ihre Repräsentation im Rat. Auch der Bezug auf die Vernunftidee des Staates steht hierdurch konstruktiv im Zentrum des Selbstverständnisses, von dem das gemeineuropäische Verfassungsgefüge seinen Ausgang nimmt. Der Begriff des Staates erhält dadurch eine Schlüsselstellung für die Erfassung der Verfassungsprinzipien, die die Europäische Uni392

Ganz überwiegende Auffassung, vgl. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585 ff.; zu Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke einer evolutionären Staatswerdung der Europäischen Union auch Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 124 ff. m.w.N. 393 Dies kennzeichnet den Begriff der „Integration“ im eigentlichen Wortsinn: Die integrierten Staaten bestehen in der Integrationsverbindung als solche fort, ohne in der Gemeinschaft unter Verlust ihrer eigenen Identität aufzugehen. 394 Zu den sekundärrechtlichen Verknüpfungen von staatsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Willensbildung unten, Kap. 4.

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on in ihrer Bezogenheit auf die sie konstituierenden Staaten kennzeichnen. Unter den staatstheoretischen Bestimmungen stellen die Kennzeichnungen eines auf dem Prinzip personaler Autonomie gegründeten Rechtsprinzips einen für die deutsche Staatrechtslehre fortdauernd bestimmenden Maßstab dar395. Indem der Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“396 bzw. als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“397 und damit als Vergemeinschaftungsform unter dem Prinzip des Rechts398 begriffen wird, nimmt er definitionsgemäß teil an und ist gespeist aus einem legitimitätsorientierten materialen Rechtsbegriff, auf dessen Verwirklichung er final bezogen ist. Der Staat ist Institutionalisierungsform des im kantischen Sinne peremtorischen Rechts399, das Recht seinerseits als Modus äußerer Verbindlichkeit von Freiheit definiert. In Anbetracht solcher kategorialer Verbundenheit von Recht und Staat als materialen Begriffen hat das durch staatliche Autorität in Geltung gesetzte Recht nicht den bloß formalen Charakter einer inhaltlich kontingenten äußeren Regel, ist nicht in erster Linie formell (Setzung) bestimmbar, sondern verwirklicht die Vernunftforderung, einen Zustand verstetigter Koexistenz freier Individuen rechtlich zu konzipieren, der Rechtsherrschaft als Formulierung von Freiheitsbedingungen auffaßt400. Dieser kategorische Gehalt der Institution des Staates findet bei Kant – aufbauend auf den vertragstheoretischen Vorläufern Hobbes, Locke und Rousseau – seine Darlegung in Abgrenzung zum Gegenmodell des rechtlosen „Naturzustandes“. In einer Reihe denkbarer idealer Verrechtlichungsschritte kommt dem Staat der Status institutionellen Erstzugriffs unter allen denkbaren Vergemeinschaftungsformen des öffentlichen Rechts zu: Der Übergang zum Staat markiert die idealtypische Grenzlinie zwischen bloß 395 Grundlegend etwa Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12; Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR Band I, § 23. 396 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313. 397 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, A. Das innere Staatsrecht, § 260. 398 Durch die Unterordnung unter das – materiale – Prinzip des Rechts wird der Staatsbegriff kritisch abgegrenzt zur Alternative einer bloß äußeren Bezogenheit auf die Formkategorie des Rechts als Artikulationsform staatlicher Hoheitsgewalt. 399 Zur Unterscheidung von provisorischem und peremtorischen Recht als Grenzziehung zwischen privaten Rechtsverhältnissen und öffentlicher Rechtsinstitutionalisierung vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 332 ff.; vgl. auch Enders, in FS Böckenförde 1995, S. 32: im kantischen Sinne sei gewissermaßen alles geltende Recht öffentliches Recht. 400 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260: „die konkrete [durch den Staat gewährleistete, FS] Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelnheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwickelung und die Anerkennung ihres Rechts für sich […] haben.“

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provisorischem401 und peremtorischem Rechtszustand. Zwischen- und überstaatliche Verrechtlichungsformen, zu denen auch die Europäische Union zählt, sind gemessen an der Staatskonstitution nicht konstruktiv gleichursprünglich, sondern setzen Staaten als Bezugssubstrate voraus402. Im konstruktiven wie legitimitätstheoretischen Primat des Staates ist die Nachordnung des hierauf bezogenen internationalen Rechts impliziert. Eine teilweise geäußerte Kritik dieses inhaltlichen Anspruchs an Recht und Staatlichkeit als rationalistische Utopie übersieht die vernunftkritischen Prämissen, die in ebendiesem Rechtskonzept ihren spezifischen Niederschlag gefunden haben403, und führt entweder zu positivistischer Unterbestimmung des materialen Gehalts von Recht oder einem indifferenten Relativismus. Auch eine ausschließlich am geltenden Recht orientierte Staatstheorie kommt nicht umhin, in den staatsorganisationsrechtlichen Institutionen und Prinzipien des Grundgesetzes den deutschen Staat namentlich durch Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit mit Gewaltenteilungsprinzip, einen freiheitlich repräsentationszentriert demokratischen Willensbildungsprozeß, die Bindung aller staatlicher Gewalt an Recht und Gesetz sowie die verfassungsstaatliche, justitiable404 Unterworfenheit auch des Gesetzgebers unter die letztverbindlich durch ein Verfassungsgericht konkretisierten Verfassungsprinzipien405 gekennzeichnet zu finden, der in kritischer Unterscheidung von bloß positivistischer Bestimmtheit seine Orientierung an Prinzipien dokumentiert. Nachfolgenden supranationalen Rechtsverfassungsformen ist die Bewahrung dieses konstruktiven Vorbestands staatlichen Rechts mit seinen rechtsprinzipiellen Implikationen vorgegeben.

401 Die Existenz privatrechtlicher Beziehungen ist im provisorischen Rechtszustand freilich bereits vorausgesetzt, vgl. Locke, 2nd Treatise of Government, § 87, S. 253; Kant, MdS, RL, § 15, VI, 264: „Also nur in Conformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d.i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden“. 402 Zumindest implizit anerkannt auch in der genuin gemeinschaftsrechtlichen Betrachtungsweise etwa von H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 182 ff., demzufolge die „Gliedstellung“ der Mitgliedstaaten die Verfassungsstruktur der Europäischen Union besonders kennzeichne. 403 Dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 124 ff. 404 Zu den Grenzen der Justitiabilität vgl. unten Kap. 5, IV. 2. c) bb) (4). 405 Dazu Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 1 ff.

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cc) Verhältnis von internationalem Recht und Staat: Zwischen Verrechtlichung und Staatenverschmelzung Die im staatlichen Verfassungskonsens konstituierte staatliche Autorität manifestiert nach innen das staatliche Gewaltmonopol, in dem sich das Zuhöchstsein der Entscheidungsmacht des Staates als prinzipienbezogene, diese Prinzipien durch seine Gesetzgebungsmacht verbindlich konkretisierende Institution konzentriert406. Diese begriffsnotwendige Höchstordnung findet im Souveränitätsprinzip ein auf das Außenverhältnis bezogenes, notwendiges Korrelat des Selbstbestimmungsvermögens nach innen. Letztentscheidungsbefugnis und Souveränität sind begriffsnotwendig verbunden407: Zwangsunterworfene Staaten sind nicht denkbar, da sie der Selbstbestimmung nicht fähig und damit schon begrifflich keine Staaten wären: „Darin [im Völkerstaat, FS] aber wäre ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältnis eines O b e r e n (Gesetzgebenden) und einem U n t e r e n (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würde, welches […] der Voraussetzung widerspricht“408. Dem steht es nicht entgegen, daß die Bedeutung des Souveränitätsbegriffs durch den Ausbau supranationaler Bindungen einer starken Relativierung ausgesetzt ist409. Zwar haben diese Relativierungseffekte zu vereinzelten Einschätzungen geführt, die die Kategorie der Souveränität gänzlich aufgelöst sehen 406 Zur notwendigen Verbundenheit von Letztinstanzlichkeit und Staatlichkeit im kantischen Rechtssystem vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 345. 407 Vgl. nur Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 20 II, Rdnr. 84; zur inneren Dimension der Souveränität im Staatsrecht auch Randelzhofer, HdBStR, Band I, § 15, Rdnr. 23 ff. m.w.N. 408 Kant, EF, Zweiter Definitivartikel zum ewign Frieden, VIII, 354: „Darin aber wäre ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältnis eines O b e r e n (Gesetzgebenden) und einem U n t e r e n (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würde, welches […] der Voraussetzung widerspricht“. Höffe, Völkerbund oder Weltrepublik?, in: ders. (Hrsg.), Zum Ewigen Frieden, 1995, S. 109, 113. 409 Zur „Entstaatlichung“ des Souveränitätsbegriffs vgl. Pernice, Verfassungsentwurf für eine Europäische Union, EuR 1984, S. 126, 136; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 382 m.w.N., hält die Unteilbarkeit der Souveränität für eine Erblast aus den Zeiten der Monarchie. Zu den integrationsbedingten Veränderungen des Souveränitätsbegriffs bereits H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 1052 f.; für ein Konzept geteilter Souveränität als Grundlage eines supranationalen Verfassungsverständnisses Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 45; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1994, § 17, Rdnr. 2 ff.; Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 30 ff.; Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Sovereignty, LIEI 1993, 1. Zu den Grenzen solcher souveränitätsrelativierender Positionen vgl. unten, Kap. 4, IV. 2. c).

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und ihm keinerlei kategorisierenden Gehalt mehr zuerkennen410. Dennoch lassen sich im Verhältnis von Staat und überstaatlich-supranationalem Verbund Verantwortlichkeitsverhältnisse und Zuständigkeitsprioritäten angeben, die das Festhalten an der typologischen Unterscheidung von souveränen Staaten und nichtstaatlichen Bündnisverfassungen rechtfertigen. Unabhängig vom terminologischen Streit um die Souveränitätsfrage bleibt jedenfalls die Zuordnung der für den Verfassungsbegriff zentralen Kategorie der Letztverbindlichkeit innerhalb eines über mehrere Ebenen erstreckten Verfassungszusammenhangs schon wegen der o. g. geltungslogischen Implikationen erforderlich. Die im kantischen Völkerrechtsbegriff betonte staatliche Selbstbestimmungsmacht führt nicht etwa zu einer konzeptionellen Vorstellung, derzufolge das zwischenstaatliche Verhältnis keiner Verrechtlichung zugänglich wäre411. Das Verbleiben in einem unverrechtlichten zwischenstaatlichen Zustand aufgrund der Unantastbarkeit staatlicher Suprematie, wie sie etwa der Hobbesschen Staatskonzeption immanent ist412, stellt sich als rechtskategorial nicht pausible Verkehrung eines einseitigen Souveränitätsverständnisses in sein Gegenteil dar. Aus der versagten Unterordnung von Staaten unter eine zentralistische Rechtsinstanz in der kantischen Völkerrechtskonzeption folgt jedoch die Absage an ein Modell des Staaten-Staates als Verrechtlichungsmodell auch des internationalen Rechts. Dieser Ausschluß folgt der kategorialen Notwendigkeit, alle Verrechtlichung rückzubeziehen auf den Zweck und das Prinzip des Rechts, das in seinem auf die Individualrechtssubjekte bezogenen, freiheitsaffirmativen Wesen besteht: Wenn bereits freiheitskonforme, d. h. republikanische Staaten existieren, läßt sich darüber hinausgehende Notwendigkeit zur Gründung von Metastaaten jedenfalls nicht in unmittelbarer Ableitung aus dem Begriff der individuellen Freiheit als Rechtsgrund konstruieren413. Das Konzept des internationalen Rechts muß auf die Dialektik des Verhältnisses zwischenstaatlicher Verrechtlichung und Wahrung binnenstaatlicher Verfaßt410

Vgl. Bleckmann, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, DVBl. 2004, S. 333 ff.: „Aufbrechen des Souveränitätspanzers“. Im einzelnen wird die nach hier vertretenem Verständnis fortbestehende Bedeutung des Souveränitätsbegriffs auch im supranationalen Verbund im 4. Kap. in bezug auf die Fragestellung thematisiert, ob sich eine vom Willen der Staaten verselbständigte supranationale Rechtsetzung bereits als solche als das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit negierende Aufhebung ihrer Souveränität darstellt, vgl. dazu unten, Kap. 4, IV. 2. d). 411 Präzise in der Zurückweisung eines solchen vermeintlichen Junktims von Souveränität und rechtlicher Ungebundenheit auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 95: zwischen Souveränität und Rechtsgebundenheit bestehe kein Widerspruch. 412 413

Hobbes, Leviathan, Kap. 30 a. E.

Höffe, Völkerbund oder Weltrepublik?, in: ders. (Hrsg.), Zum Ewigen Frieden, 1995, S. 109, 121.

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heit Bedacht nehmen, um nicht mit dem vermeintlich perfektesten Institutionenmodell des Staaten-Staates in einem „seelenlosen Despotismus“414 zu münden. Die entscheidende Differenz des internationalen Rechts zu dem, was in den Gesellschaftsvertragstheorien als principium exeundum e statu naturali415 die konstruktive Plausibilisierung der Verrechtlichung durch den naturzustandsüberwindenden Staat beschreibt, liegt in der Subjektsqualität, auf die die Schaffung eines Rechtszustandes bezogen ist. Der konstruktive Ausweg einer Staatsgründung analog dem principium exeundum e statu naturali der Individualsubjekte durch willentliche Subordination unter einen gemeinsamen vereinigten Rechtswillen in einem Verfassungsvertrag scheitert an der Binnenstruktur des Staates als juridischer Zweckschöpfung416 im Unterschied zum Individuum. Das Verhältnis der Staaten zueinander vor der Schaffung rechtlicher Bindungen unter ihnen ist zwar in Entsprechung zu dem individuellen Naturzustand auffaßbar417. Nicht hingegen konvergiert ihre eigene Subjektsqualität mit der der Individuen. Anders als bei den vernunftbegabten und als Teil der Menschheit selbstzweckhaften Individualsubjekten418 handelt es sich bei Ein414 Kant, EF, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens, VIII, 367: „Die Idee des Völkerrechts setzt die A b s o n d e r u n g vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus, und, obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist (wenn nicht eine föderative Vereinigung derselben dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorbeugt); so ist doch selbst dieser, nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht; weil die Gesetze mit dem vergrößten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism…“. 415 Dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 325 ff.; ders., Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 188. 416 Zum Charakter des Staates als Zweckgemeinschaft vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 14; Schindler, Das Recht der Zweckgemeinschaften, in: Recht, Staat, Völkergemeinschaft. Ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlaß, 1948, S. 111 ff. Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, Der Staat 1982, S.187. 417 Kant, EF, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 354: „Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurtheilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinanderseyn lädiren, und deren jeder, um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche, Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“ 418 Kant, GMS, Kap. II. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, IV, 428: „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck be-

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zelstaaten als Völkerrechtssubjekten nicht um Rechtssubjekte kraft eines angeborenen Rechts, sondern um insitutionelle Konstrukte, bestehend ihrerseits bereits als Teilverwirklichungen des praktischen Vernunftsgebotes, aus dem Naturzustand herauszugehen. Sie befinden sich daher nicht wie menschliche Individuen allein im Zustand gesetzloser Freiheit, sondern schon kraft ihrer Existenz in einem dialektischen Verhältnisses von äußerer Gesetzlosigkeit und innerer Verfaßtheit419. Die hieraus folgenden konstruktiven Unterschiede von Rechtsverhältnissen unter Staaten zu Rechtsverhältnissen unter Individuen werden deutlich, wenn man das Prinzip der individualsubjektiven Willensbildung mit dem von Staaten in Verhältnis setzt. Die Konzeption des Individualsubjekts bei Kant ist geprägt von der Unterscheidung zwischen – moralischer – Selbstbestimmung im Innenverhältnis nach Maßgabe sittlicher Pflichtenbestimmung und – legaler – äußerer Strukturierung des Intersubjektivitätsverhältnisses. Der kantische Freiheitsbegriff als Substrat rechtlich interpersonaler und moralisch individueller Selbstbestimmung umfaßt doppelsinnig einerseits als negatives Moment die Unabhängigkeit von fremder nötigender Willkür, andererseits als positives „das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein“420. Dem korrespondiert die unterschiedliche Bezugsrichtung juridischer und ethischer Freiheitsgesetze: während jene nur auf äußere Gesetzeskonformität gehen, sind letztere durch das Zusammenfallen von Bestimmungsgrund eigenen Handelns und äußerem Gesetzesprinzip gekennzeichnet421. Durch die bloße Bezogenheit der Konstitution eines gemeinsamen Rechtswillens auf das intersubjektive Außenverhältnis kann – der Unterscheidung von forum internum und forum externum entsprechend – die rechtliche Gebundenheit als Resultat der Willentlichkeit und die Subordination unter äußere Zwangsgesetze kraft der fortbestehenden moralischen Autonomie des Individualsubjekts bestehen bleiben. Die äußere Verbindlichsetzung von Rechtspflichten ist wesentlich dadurch kompatibel zum Postulat originärer Individualautonomie, daß sie die individuelle Zwecksetzung nach Maßgabe der moralischen Selbstgesetzgebung unberührt läßt422. Die Trennung der Kategorien von trachtet werden“; Williams, Kant on the social contract, 1994, S. 140; Höffe, Immanuel Kant, S. 216. 419 Geismann, Kants Lehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 37 (1983), S. 367. 420 Kant, MdS, RL, Einleitung, VI, 213 f. 421 Kant, MdS, RL, Einleitung, VI, 214. 422 Kant, MdS, TL, Einleitung, S. 381: „Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck machen.“ Diese Einsicht verhält sich gewissermaßen reziprok zu den Bezugspunkten, die als Gegen-

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Legalität und Moralität ermöglicht es, den Übergang von Individualsubjekten in den Staat als bloßen Eintausch gesetzloser äußerer Freiheit gegen kollektivinstitutionalisierte Selbstherrschaft aufzufassen423. Die durch den Staat durch Zwangsbefugnis und Gewaltmonopol verbindlich gemachte Rechtsherrschaft gegenüber den staatskonstituierenden Individuen tangiert nicht das Vermögen der Selbstgesetzgebung, sich die äußeren Gebote der Rechtsordnung deshalb selbst zur Maxime zu machen, weil dies praktischer Vernunft entspricht. Nicht so im Staat. Eine analoge Verhältnisbestimmung von Innen und Außen ist bezogen auf die zwischenstaatlich zu verrechtlichenden Staaten als Völkerrechtssubjekten nicht möglich. Zwar ist eine terminologische Differenzierung nach äußerer und innerer Dimension der Souveränität geläufig424. Innen- und Außenverhältnis des Staates entsprechen indes nicht der Differenzierung von Moralität und Legalität, sondern bezeichnen innerhalb der gleichen Kategoriensphäre des Rechts lediglich perspektivische Differenzierungen, die unterschiedlichen Rechtssubjekten durch eine Aufteilung in „Rechtsgebiete“ Rechnung tragen. Die Möglichkeit von Selbstbestimmung nach innen in der Form parlamentarisch-repräsentativer Willensbildung und im Artikulationsmodus des verbindlichen normativen Befehls ist durch die Abwesenheit externer Intervention bedingt. Hierin liegt der konzeptionelle Grund dafür, daß nach Kant Staaten, die „innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben, dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen“ sind425. Ein Gebot der Überwindung des internationalen Naturzustandes sieht sich insofern mit dem gegenläufigen Gebot konfrontiert, die im Innenverhältnis bereits geleistete Naturzustandsüberwindung nicht zu gefährden oder gar preiszugeben. Der mit den Staatengründungen erreichte Fortschritt an Rechtsinstitutionalisierung, ihre rechtliche Verfaßtheit und damit ihr Vermögen zur Gewährleistung inneren Friedens, würden für den Übergang zu einem die Einzelstaaten aufhebenden Gesamtstaat aufs Spiel gesetzt426. Die Schaffung internationaler Rechtsverhältnisse ist aus diesem Grunde vor die stand des Rechtsbegriffs in MdS, RL, § B, S. 230, ausdrücklich ausgeschlossen sind: „Drittens, in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung […].“ Beide Momente zusammenfassend MdS, TL, Einleitung, II., S. 382: „Die Rechtslehre geht auf dem ersten Wege. Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er für seine Handlung setzen wolle“. 423 Kant, MdS, RL, § 47, IV, S. 434: Alle geben „ihre äußere Freiheit auf [...], um sie als Glieder des gemeinen Wesens [...] sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: [...] der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen Freiheit einem Zwecke aufgeopfert...“. 424 Vgl. nur Randelzhofer, HdBStR, Band I, § 15, Rdnr. 23 ff. m.w.N. 425 Kant, EF, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 355 f. 426 Geismann (Fn. 416), S. 187.

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Anforderung gestellt, auf Rechtsformen zu rekurrieren, die beide Anforderungen vereinen: einerseits normatives Bindungsvermögen zu entwickeln (was die Willensbildungsform erst als rechtliche kennzeichnet) und die Verfaßtheitsleistung der Staaten unangetastet zu lassen. Anders gesagt: Das Modell des internationalen Rechts, das dem zugrunde liegt, setzt die Existenz von Staaten, bezogen auf die es zur Verrechtlichung des zwischenstaatlichen Verhältnisses kommen soll, voraus, baut auf ihr auf und erhält ihre konkrete konstruktive Gestalt aus ihrer Verbindung in ihrem Fortbestehen. Der Vertrag ist die Verrrechtlichungsform, die rechtliche Bindung auf den Willen der Betroffenen zurückführt und deshalb ihren internen Willensbildungsmechanismus unangetastet läßt. dd) Die Komplementärverfassung als Konkordanzkategorie zwischen Mitgliedstaatlichkeit und gemeinschaftsrechtlicher Eigenständigkeit Kann der Übergang zur zwischenstaatlichen Verrechtlichung nicht als aus einem Zustand bestehender Einzelstaaten in einen übergeordneten Metastaat freiheitsgesetzlich entwickelt gedacht werden, so bleibt als „negative[s] Surrogat“427 zu bürgerlicher Verfaßtheit im Rechtsstaat nur das koordinative Vertragsrecht, der Föderalismus freier Staaten428. Die Rechtsquellennatur des Vertrages im Völkerrecht, seine Prototypqualität für die Etablierung zwischenstaatlicher Rechtsformen, resultiert hier aus der Dialektik, daß ein Verharren in zwischenstaatlicher Nichtrechtlichkeit zwar gleichfalls als „im höchsten Grade unrecht“ erscheint und daher zu verlassen ist, seine Ersetzung durch einen Zustand peremtorischer Rechtlichkeit analog der Staatsbegründung, d. h. unter Neuetablierung einer gemeinsamen Souveränitätsinstanz, aber in einen unaufhebbaren Vernunftwiderspruch zur schon geleisteten Rechtsetablierung treten müßte. Der vertragliche Selbstbindungsmechanismus gewinnt seine Adäquanz für das zwischenstaatliche Rechtsverhältnis gerade daraus, daß er gemessen an einem zwangsbewehrten Rechtsbegriff, wie ihn Kant selbst im Staatsrecht als unabdingbar für einen peremtorischen Rechtszustand definiert429, defizitär bleibt und damit den Fortbestand der konstituierenden Staaten sichert. Die charakteristischen Merkmale des völkerrechtlichen Vertragsentwurfs, der seinen Niederschlag in der Rechtsform eines

427

Kant, EF, 2. Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 357. Kant, EF, 2. Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 354. 429 Vgl. Kant, MdS, RL, § E, VI, 232: „Recht und Befugnis zu zwingen, bedeuten also einerlei“; vgl. auch Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 63 ff. 428

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„Föderalism freier Staaten“ findet430, sind seine Freiwilligkeit und Unabgeschlossenheit431. Seine koordinative Struktur, die Rückführung der Verbindlichkeit auf die Autonomie der freien (und das impliziert im internationalen Verhältnis: souveränen) Entscheidung der Kontrahenten sind Inbegriff dessen, was als „negatives Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes“432 der Unmöglichkeit entspricht, das Völkerrecht als Recht strikten Sinnes unter Einschluß einer zentral institutionalisierten Zwangsbefugnis zu denken433. Auch die sekundärrechtlichen Formen haben an dieser Struktur der Unionsverfassung insofern teil, als die ihnen zugebilligte Autonomie Resultat einer über die Willentlichkeit der Staaten vermittelten Ausübungsüberlassung von Hoheitsrechten darstellt. Das Modell des internationalen Rechts, das dem Gemeinschaftsrecht zugrunde liegt, setzt die Existenz von Staaten voraus, baut auf dieser auf und erhält ihre konkrete konstruktive Gestalt aus deren Verbindung und Fortbestehen.

b) Die verfassunggebende Gewalt der Komplementärverfassung: Zusammenhang von Geltungsgrund und pouvoir constituant Indem der Geltungsgrund der Primärverträge im innerstaatlichen Willensbildungsmodus verortet ist und die kategoriale Bedeutung des Begriffs der Komplementärverfassung dargelegt worden ist, erweist sich die Annahme einer geltungslogischen Verselbständigung nach der Autonomiethese des EuGH mit der materiellen Qualität der Verträge als Komplementärverfassung als unvereinbar. Die dem gängigen europarechtlichen Verfaßtheitsparadigma zugrunde liegende Annahme, daß die supranationale Dimension der Gemeinschaftsrechtsordnung eine strukturell bundesstaatsähnliche Zuordnung der verfassunggebenden Gewalt bei den Bürgern Europas einzufordern scheine, während die konventionell föderative, genetisch völkerrechtliche Herkunft der Europäischen Union auf eine bündische Verfassungsstruktur mit – exklusiver – Trägerschaft ihrer Mitgliedstaaten hindeute434, die dem supranationalen Charakter der

430 Vgl. Höffe, Völkerbund oder Weltrepublik?, in: ders. (Hrsg.), Zum Ewigen Frieden, 1995, S. 109, 115. 431 Kant, EF, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 356; ders., MdS, RL, § 54, VI, 344. 432 Kant, EF, VIII, 356. 433 Vgl. Merkel, „Lauter leidige Tröster“ – Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs, ARSP 82 (1996), S. 161, 165. 434 Zu den unterschiedlichen Theorien der Träger des europäischen pouvoir constituant vgl. Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 390 ff.

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Gemeinschaft nicht gerecht werde, verweist auf eine unangemessene kategoriale Kopplung. Eine autonome, im Laufe des Integrationsprozesses verselbständigte Verfassung orientiert sich nicht an Abhängigkeitsbedingungen und ist auf diese auch nicht funktional bezogen, sondern bezieht sich geltungslogisch auf sich selbst. Das Kriterium der Komplementärverfassung hingegen rückbezieht die supranationale Verfassungsfunktion auf eine vorgefundene Ordnung, auf die diese sich unterstützend und ihr unterordnend bezieht, deren Unzulänglichkeiten sie kompensiert und dessen Begrenztheit im Steuerungsvermögen sie transzendiert, jedoch ohne diese damit zu überwinden. Bezogen auf die Europäische Union als den Mitgliedstaaten gegenüber komplementäre Verfassung bedeutet dies: Die Gemeinschaftsverfassung ist auf die in der Europäischen Union integrierten Staaten als Zweck bezogen, ihre Bewahrung und ihr Fortbestand sind Aufgabe einer supranationalen Teilrechtsordnung mit komplementärem Selbstverständnis. Entweder der Vertrag nimmt den Staaten ihre Souveränität und bildet eine eigene, autonome Grundnorm, die dann von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ weitgehend gelöst ist. Dann ist das Gemeinschaftsrecht keine komplementäre, sondern eine auf Verselbständigung hinstrebende, zentrifugale Ordnung. Oder die staatliche Souveränität manifestiert sich in der Verfassung und besteht in ihr fort; dann kann die Konzeption aber nur auf etwas angelegt sein, das nicht gleichbedeutend ist mit autonomer Geltung des Gemeinschaftsrechts, sondern eine derivative und komplementäre Ordnung ist. Der Fortbestand der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, wie er im Prinzip der Komplementärverfassung anklingt, fällt insofern mit der Affirmation des vernunftrechtlichen Prinzipiengehaltes von Staatlichkeit zusammen, der im kantischen Völkerrechtsparadigma angelegt ist. Die Bestimmung der Komplementärverfassung gewinnt deutlich an Konturen, wenn man sie mit konkurrierenden Paradigmen vergleicht, die von einer abweichenden Zuordnung der verfassunggebenden Gewalt ausgehen. Namentlich sind hier zwei Extrempositionen herauszuheben: Einerseits das Konzept permanenter Verfassunggebung von Marcel Kaufmann; andererseits die bereits erwähnte Vorstellung eines europäischen contrat social von Ingolf Pernice. aa) Permanente Verfassunggebung: Marcel Kaufmann Ähnlich wie der hier vertretene Ansatz erscheint auch in der Bestimmung Marcel Kaufmanns die Unionsverfassung als Anwendungsfall geltungslogischer Ableitung vom Willen der Mitgliedstaaten. Diese Auffassung hat sowohl die Ablehnung der europarechtlichen Autonomiethese als auch die Zuordnung eines exklusiv bei den Mitgliedstaaten liegenden pouvoir constituant mit der hier vertretenen Position gemeinsam. Das konsensnormative Moment, das der

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vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, beansprucht auch bei Kaufmann ein erhebliches Gewicht. Kaufmann begründet das damit, daß die Rechtssubjektivität von Staaten keine den Individuen vergleichbare Diskontinuität zwischen innen und außen wie bei Individuen kenne. Hieraus resultiere eine erhöhte Fähigkeit zum normgeleiteten Handeln und zur Selbstbindungsfähigkeit435. Darüber hinaus sieht Marcel Kaufmann das Konstruktionsspezifikum der europäischen Verfaßtheitsform in einem Zustand dynamischer Permanenz begründet, bei dem die verfassunggebende Gewalt – anders als im herkömmlichen staatlichen Organisationszusammenhang436 – sich nicht außerhalb der durch sie verfaßten Ordnung einordne, sondern sich zugleich in das Gewaltengefüge der pouvoirs constitués einstelle. Die konstituierte Hoheitsgewalt konsolidiert sich daher nicht, sondern bleibt durch das Mitwirken der verfassunggebenden Gewalt und das Ineinanderfließen von Verfassunggeber, verfassungsänderndem und einfachem Gesetzgeber in einem Zustand fortdauerender konstitutioneller Fortentwicklung. An die Stelle der Ausblendung des Verfassunggebers aus dem Verfassungsrecht könne somit im Staatenverbund seine „rechtlich-politische“ Selbstbindung treten437. Diese Vorstellung permanenter Verfassunggebung hat mit verschiedenen anderen Positionen des Schrifttums438 die Akzentuierung eines stärker prozeßhaft-evolutionären anstelle des konventionell-statischen Verfassungsverständnisses gemeinsam439. Mit Marcel Kaufmanns Konzeption der politischen Selbstbindung wird der im Ansatz prägnant bestimmte normative Gehalt der vertragsförmig manifestierten konstitutionellen Gewalt aber in seinem konsensuellen Verbindlichkeitsgewicht unterbestimmt. Politische Selbstbindung suggeriert Freiwilligkeit und fehlende rechtliche Normativität. Es liegt aber im Wesen der Vertrages, daß die Trägerschaft verfassunggebender Gewalt – das normative Vermögen – in Abgrenzung von der Selbstbestimmung einzelner potentiell austrittswilliger Mitgliedstaaten sich als Verfügungsvermögen in Vertragsform, wechselseitig gebunden durch die Reziprozität der vertragskonstituierenden Versprechenssituation und insofern der individuell-selbstbezoge435

Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 534. Marcel Kaufmann (Fn. 435), S. 532. 437 Marcel Kaufmann (Fn. 435), S. 535. 438 Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1994, S. 65; Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997, S. 11 f.; F. Müller, Fragment über verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 15 ff. 439 Vgl. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 1995, S. 689; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 390: eine „Kumulation von Schritten mit unterschiedlichem Rechtscharakter“ habe die europäische Verfassung geschaffen. 436

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nen Dezision enthoben, manifestiert. Kaufmann räumt selbst ein, daß die verfassunggebende politische Gewalt den Mitgliedstaaten zur gesamten Hand zusteht. Von der Zuordnung „zur gesamten Hand“, mit der das vertragliche Verbindlichkeitsprofil zutreffend umschrieben ist, zur individuell mitgliedstaatlichen Dezision führt kein argumentativer Vermittlungsschritt. Insofern ist der von Kaufmann metaphorisch herangezogene „flüssige Aggregatzustand“440 sogar noch eine Untertreibung. Die „Permanenz“ der permanenten Verfassunggebung bei Kaufmann verflüchtigt sich mit der Zuordnung zur bloß politischen Gebundenheit in reiner Dezision, und es bleibt von der mit Verfaßtheit konnotierten normativen Gebundenheit kein substantieller Rückstand. Vertragliche Selbstbindung bedarf aber der Abgrenzung von politischer Selbstbindung, um als Ausgangspunkt der normativen Tragfähigkeit der gesamten supranationalen Verfassungsordnung auffaßbar zu sein. bb) Die Bürger Europas als Träger des pouvoir constituant im europäischen contrat social: Ingolf Pernice Das andere Extrem einer vom Paradigma der Komplementärverfaßtheit erheblich stärker abweichenden Zuordnung der verfassunggebenden Gewalt manifestiert sich in einer Konzeption, deren herausragendes Kennzeichen es ist, die Bürger Europas in ihrer über die nationalen Ratifikationsmechanismen vermittelten Partizipation am Zustandekommen von Primärrecht als Träger der verfassunggebenden Gewalt anzusehen. Diese Auffassung wird plakativ umschrieben in der Wahrnehmung der Gemeinschaftsverträge als eines europäischen Sozialvertrages im Sinne von Pernice. Die Annahme, die Bürger Europas seien selbst Träger der verfassunggebenden Gewalt, wird von ihm in kritischer Entgegnung gegenüber der vermeintlich übertriebenen Staatorientierung der Gegenauffassung, die die ausschließliche Verfassungsträgerschaft bei den Mitgliedstaaten sieht441, aufgefaßt. So meint Pernice: Die „Bürger der Mitgliedstaaten sind es, auf die in der Demokratie jede politische Entscheidung und damit auch die gesamte europäische Konstruktion zurückzuführen ist. Sie sind Legitimationssubjekt und Adressaten jeder öffentlichen Gewalt, als Staatsbürger für ihren Staat, als Unionsbürger für die Europäische Union“442. In ähnliche Richtung geht auch Everling, der her-

440 Marcel Kaufmann (Fn. 435), S. 537, bezugnehmend auf Isensee, HdBStR § 162, Rdnr. 36. 441 So – wie hier – Marcel Kaufmann (Fn. 435), S. 531 ff. m.w.N. 442 Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, FCESpezial 4/2000, Rdnr. 14.

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vorhebt, daß die EU auch Bürgerverbund sei443. Auch Anne Peters hebt hervor, daß die direkte Abschlußgewalt bei den Mitgliedstaaten als „Herren“ dieser Verträge liege. Sie geht aber mit der Annahme, daß der starke individualrechtliche Bezug des Gemeinschaftsrechts, der sich in der Adressatenschaft der Bürger Europas, der unmittelbaren Anwendbarkeit etc. niederschlägt, eine Mitinhaberschaft der verfassunggebenden Gewalt begründe, darüber hinaus444. Zutreffend erscheint an der Auffassung von Pernice, daß der rechtliche Subjektsstatus der Bürger im Gemeinschaftsrecht sich auf die Anforderungen an die Repräsentationsstruktur im Rahmen der Rechtsetzung auswirken muß. Für die Etablierung einer Repräsentationsstruktur, die den rechtsprinzipiellen Anforderungen auch im Gemeinschaftsrecht genügt, kommt es nicht allein darauf an, wer der Träger der verfassunggebenden Gewalt ist, sondern auch auf die Frage nach den Adressaten der Rechtsordnung. Während völkerrechtliche Verträge herkömmlicher Natur Wirkung allein inter partes, d. h. im Verhältnis der Staaten als solcher zueinander entfalten445, gestalten die legislativen Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts die innerstaatliche Rechtswirklichkeit direkt mit. Ihre Adressaten sind Mitgliedstaaten und Individualrechtssubjekte zugleich; in bezug auf letztere konkurrieren Gemeinschaftsrechtsnormen mit dem innerstaatlichen Typus der parlamentarischen Gesetze446. Der Anspruch eines äquivalenten Rationalitätsgehalts der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzung gebietet es, den spezifischen Repräsentationsgehalt der Rechtsform Vertrag auf beide Adressatengruppen (Mitgliedstaaten und europäische Bürger) zu erstrecken. Die Bürger Europas als Adressaten müssen zugleich (Mit-)Autoren im europäischen Rechtssetzungsprozeß sein, und das bedeutet: sie müssen im Rechtsetzungsprozeß repräsentiert sein. Diese Umstände dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bürger Europas am Prozeß der Verfassunggebung in ihrer Eigenschaft als Bürger Europas gerade nicht beteiligt sind – und auch nicht beteiligt sein müssen. Die Annahme, die Bürger Europas seien Mitträger des pouvoir constituant, obwohl sie nur nach Maßgabe der innerstaatlichen Willensbildungsbedingungen, d. h. durch den Staat mediatisiert am Vertragsschluß mitwirken, bedeutet einen paradigmatischen Bruch mit den Zurechnungsvoraussetzungen der deutschen Staatsrechtslehre, die das Handeln des Staates als eigener Person kenn443 U. Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union, Integration 1994, S. 165, 167. 444 Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 390. 445 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 2000, § 15, Rdnr. 323; Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, § 12, Rdnr. 26 ff., S. 133 ff. 446 Ebenso Pernice (Fn. 442), Rdnr. 14.

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zeichnen. Die hiermit erfolgende Statusvermischung von Organträgerschaft und Organwalterschaft ist nicht den Konstruktionsbesonderheiten der Europäischen Union geschuldet. Sie dokumentiert vielmehr die erhebliche Gefahr, unter dem Einfluß der Suggestionskraft neuer Begrifflichkeit wie „supranationale Union“ und „Mehrebenenverfassung“ die eigentlichen Konstruktionsprobleme zu marginalisieren. Bezeichnenderweise begnügen sich die Vertreter dieser Auffassung zur Beantwortung der Frage, welcher Beteiligungsstatus die Bürger zu (Mit-)Verfassungsgebern mache, mit recht pauschalen Erwägungen. So führt etwa Pernice lediglich aus: „Pouvoir constituant der Union sind die Bürger der Mitgliedstaaten; im Prozeß der schrittweisen ‚Verfassung‘ der Union definieren sie sich zugleich als Unionsbürger und Verfassungsgeber dieses supranationalen Gemeinwesens“447. Deshalb seien „es letztlich die Bürger der Mitgliedstaaten, die durch formal völkerrechtliche Verträge, tatsächlich aber in einer Art europäischen Sozialvertrags mittels ihrer verfassungsmäßigen Organe und Verfahren die europäische Hoheitsgewalt konstituiert“448. Zutreffend kritisiert Pernice zwar in gleichem Zusammenhang Kirchhofs Auffassung, daß die Europäische Union nicht aus dem nationalen Zustimmungsgesetz ihre Geltung extern verliehen bekomme449. Wenn er aber zugleich im Zustimmungsgesetz eine „Annahme des vereinbarten Vertragsinhalts als Ausdruck des gemeinsamen Willens der Unionsbürger zur originären Konstituierung europäischer öffentlicher Gewalt“450 erkennt, so überhöht er das Zustimmungsgesetz aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Hiergegen spricht, daß die (bloße) Beteiligung der Bürger am staatsrechtlichen Willensbildungsprozeß gerade gegen und nicht für ihre Verfassunggebungsfunktion spricht. Zwischen der distributiven Annahme der Vertragsgeltung durch jeweilige – separate – mitgliedstaatliche Parlamentszustimmung einerseits und der Zusammenkunft der Völker Europas zur kollektiven Annahme einer supranationalen Verfassung andererseits liegt ein gewichtiger, ja zentraler konstruktiver Unterschied: Gerade darin, daß der Vertrag auf ein mitgliedstaatlich mediatisiertes Zustimmungsverfahren der jeweiligen Na447

Pernice (Fn. 442), Rdnr. 15.

448

Pernice (Fn. 442), Rdnr. 15, Hervorhebung von mir.

449

Kritisch hiergegen ebenfalls statt vieler Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 619, der es als „Rückfälle in traditionelles Denken“ kritisiert, wenn das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil das deutsche Zustimmungsgesetz als entscheidenden geltungslogischen Ausgangspunkt bestimmt. Kritisch gegenüber dem Maastricht-Urteil auch Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., 1685; sehr kritisch Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union, Integration 1994, S. 165 ff. 450

Pernice (Fn. 442), Rdnr. 15.

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tionalparlamente angewiesen ist, dokumentiert sich, daß das so konstituierte Europa nicht auf dem gemeinsamen Willen der Unionsbürger, sondern auf der Koordination bloß distributiver (d.h. im Rahmen des jeweiligen mitgliedstaatlichen Willensbildungszusammenhang sich innerstaatlich vollziehender) Willensbeteiligungen in einem gemeinsamen – völkerrechtlichen – Vertrag konstruktiv beruht. Die europäische Verfassungsordnung ist nicht so konstruiert, daß sie die Einbeziehung der Bürger Europas als unmittelbare Autoren der europäischen Verfassung in Entsprechung zum Konstruktionsmodell staatlicher Ordnung widerspiegelte. Herren der Verträge sind nicht die Bürger Europas, die in einer gemeineuropäischen verfassunggebenden Gewalt vereinigt wären, sondern die Mitgliedstaaten, die in ihrer Herrschaft über die Unionsverfassung ihren eigenen Fortbestand dokumentieren. Mit der Notwendigkeit, auf europäischer Ebene repräsentiert zu werden, und dem Anspruch, als Träger der verfassunggebenden Gewalt aufgefaßt zu werden, sind zwei unterschiedliche Systemreferenzen angesprochen. Die Eigenheit der supranationalen Verfassung liegt gerade darin, daß pouvoir constituant und „einfachgesetzliche“ Autorenschaft nicht in eins fallen. Die verfassunggebende Gewalt bezeichnet, von wem das normative Vermögen ausgeht, die Verfassung als verbindliche Ordnung zu proklamieren451. Die Trägerschaft des pouvoir constituant ist damit sowohl zu unterscheiden von der Adressatenschaft und Rechtssubjektivität der von der verfassunggebenden Gewalt instituierten Ordnung als auch von den repräsentationsprinzipiell erforderlichen institutionellen Mechanismen, durch die innerhalb der einmal konstituierten Rechtsordnung die konstruktive Verbundenheit von Autor und Adressat hinsichtlich einfacher Rechtsakte sichergestellt wird. Für die Eigenschaft der Bürger Europas als Träger der verfassunggebenden Gewalt spricht auch nicht die Existenz eines europäischen Unionsbürgerstatus. Denn hierbei handelt es sich gerade nicht um einen originär-europäischen Bürgerstatus, sondern um ein bloßes Akzidenz zu den mitgliedstaatlichen Staatsbürgerschaften452. Schon gar nicht ist erkennbar, weshalb Phillips und Wolf in der Einführung der Unionsbürgerschaft den Übergang zur Staatswerdung der Europäischen Union sehen453. 451

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 21. Zum jetzigen Art. 17 EG vgl. Kluth, in Calliess/Ruffert, Art. 17 EG, Rdnr. 3 ff.; dies wird durch dem vom Verfassungkonvent vorgesehenen Bürgerstatus auf konstitutioneller Ebene befestigt, vgl. Dok. CONV 724/03, S. 5, Art. I-8. 453 Wolfgang Phillips, Ein dreistufiger Bundesstaat? Deutsche Einheit zwischen Europa und den Ländern, ZRP 1992, S. 433 ff.; Joachim Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht. Ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, JZ 1993, S. 594, 597; ähnlich auch Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht – ein 452

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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Zwar ist Pernice zuzugestehen, daß die Staatsbürger durch die innerstaatlichen Modalitäten der Willensbildung (parlamentarische Ratifikation, Wahl der vertragsschlußbefugten Exekutivrepräsentanten) mittelbar, nämlich nach Maßgabe der innerstaatlichen Partizipationsrechte des Parlaments (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG), an der Konstitutionalisierung beteiligt sind. Gerade diese Vermitteltheit dokumentiert aber doch, daß die die Verfassunggebung autorisierenden, in diesem Sinne verantwortlichen Rechtssubjekte die Mitgliedstaaten sind. Die Einbeziehung der Bürger – in ihrer Eigenschaft als Bürger der Mitgliedstaaten, nicht der Europäischen Union – in den Prozeß des Vertragsschlusses folgt den staatsorganisationsrechtlichen Willensbildungsregeln, nicht einem originär europäischen Konstitutionalisierungsbedürfnis. Zur willensartikulierenden Einheit verfestigt ist das Volk nur innerhalb der jeweiligen Mitgliedstaaten. Seine Repräsentation im Vertragsschluß erfolgt nach Maßgabe der organisatorischen Verteilung von Gewalt auf unterschiedliche Organe; eine willensbestimmende Einheit auf europäischer Verfassungsebene verkörpern die Bürger Europas jedoch nicht, unmittelbar verantwortliche Zurechnungseinheit im Außenverhältnis bleibt der Staat. Jede weitergehende Teilnahme am Prozeß der Verfassunggebung würde im übrigen mit einer Entkopplung vom mitgliedstaatlichen Willensbildungsprozeß einhergehen, der das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit außer Kraft setzte und dadurch die Staatswerdung Europas beförderte. Dies ist zwar nicht ausgeschlossen, entspricht aber nicht den Konstruktionsmerkmalen des gegenwärtigen Verfassungsgefüges und müßte sich auch aus staatsorganisationsrechtlichen Anforderungen heraus anders artikulieren: Denn dadurch würden die staatlichen Verfassungsordnungen ersetzt, Art. 79 Abs. 3 GG wäre berührt und das gesamte gegenwärtig charakteristische Balanceverhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten wäre hinfällig. Änderungen dieser Art am Verfassungsgefüge stünden nicht mehr zur Disposition des demokratisch legitimierten, verfassungändernden Gesetzebers, sondern wären nur unter Beteiligung des pouvoir constituant des Volkes selbst möglich454.

Schritt auf dem Weg in den europäischen Bürgerstaat?, Der Staat 32 (1993), S. 245; ders., Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521, 540: Übergang des Status europäischer Bürger vom bourgeois zum citoyen. Hiergegen läßt sich kritisch einwenden, daß es für die Bestimmung eines Bürgerstatus nicht auf seine Deklaration im supranationalen Verfassungsgefüge, sondern auf die Substanz des mit ihm verbundenen Rechtestatus ankommt. Gemessen hieran ist der originäre Gehalt des europäischen Bürgerstatus an subjektiver Rechtsmacht gegenwärtig eher gering zu veranschlagen. 454 So auch Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S. 161, 165.

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Es ist auf der Grundlage dieser Unterscheidung nicht einsichtig, weshalb Pernice die bloße verfassungändernde Gesetzgebungsleistung, die sich in Art. 23 GG niederschlägt, sowie die jeweiligen Zustimmungsgesetze zum Anhaltspunkt nehmen will, um die europäischen Verträge zum gemeinschaftsrechtlichen contrat social zu stilisieren. Eine solche Vermengung von Legislativtätigkeit nach Maßgabe der Verfassung und Verfassunggebung marginalisiert die für Verfassunggebung notwendige normative Kraft. Der Schluß von der Legitimationsbedürftigkeit des Gemeinschaftsrechts durch Einbeziehung der Bürger in den Willensbildungsprozeß auf die Innehabung der verfassunggebenden Gewalt vermengt Legitimations- und Geltungserwägungen. Diese rechtskonstruktive Unterscheidung sollte durch Referenzen an den europäischen Bürgerstatus von eher metaphorischem Gehalt nicht überspielt werden. Der innerstaatliche Willensbildungsprozeß ist aus legitimationstheoretischen Gründen vor die Anforderung gestellt, die Bürger an der Verwendung des Vertrages als Handlungsform zu beteiligen, um seine Geltung zu autorisieren. Zuzurechnen ist der Vertrag als Verfassung aber demjenigen, der als äußere Einheit das Rechtssubjekt verkörpert, das den Vertrag geschlossen hat. Die Bürger Europa müssen aus legitimationsprinzipiellen Gründen sowohl staatsrechtlich als auch gemeinschaftsrechtlich originär repräsentiert sein – die Verfassung der Europäischen Union tragen sie jedoch nicht. Die Verfassungsträgerschaft liegt ungeachtet aller institutionellen Reformen fortdauernd bei den Mitgliedstaaten.

c) Materialer Gehalt des Begriffs der Komplementärverfassung: Fortbestand der Mitgliedstaatlichkeit und duale Repräsentationsstruktur

aa) Begriff der durch die Komplementärverfassung zu verfassenden Komplementärordnung Das in der Rechtsform des Vertrages legitimationstheoretisch und geltungstheoretisch angelegte Systembildungspotential für den gemeinschaftsrechtlichen Anwendungszusammenhang ist mit Implikationen verbunden, die über die bloße begriffliche Kennzeichnung der höchsten normhierarchischen Ebene des supranationalen Rechts hinaus reichen und dieses auch materiell in bestimmtem Umfang ausbestimmen. Die Einsicht, daß der materielle Gehalt des Vertrages in seiner Eigenschaft als Komplementärverfassung nicht unverbunden neben seiner repräsentationstheoretischen Verankerung steht, so als ließe sich konsensual die Rechtsform des Vertrages auch mit anderen Gehalten füllen und als wäre der Vertrag so beliebig funktionalisierbar für die unterschiedlichsten konstitutionellen Ausrichtungen des durch ihn verfaßten supranationa-

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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len Verbandes, kann gewissermaßen als Erbe des Kontraktualismus bezeichnet werden455. Komplementärverfassung ist er nur dann, wenn er auch eine materialiter komplementäre Ordnung verfaßt. Die Gemeinschaftsrechtsordnung verdient nur dann das Prädikat komplementär, wenn sie ein System zwischenstaatlicher Verrechtlichung repräsentiert, das die Staaten als fortbestehende und rechtskonstruktiv originäre Zurechnungssubjekte integriert und in diesem Fortbestand in sich aufhebt. Mit der Kennzeichnung des Vertrages als Komplementärverfassung ist die auch inhaltliche Verwirklichung eines prinzipiengerechten Organisations- und Repräsentationsstandards der vertraglich konstituierten Rechtsordnung unmittelbar eingefordert. Der Vertrag würde als repräsentationsverkörpernde Rechtsform ausgehöhlt, der Repräsentationsbegriff in seiner Anwendung auf ihn verflacht, wenn das ihn tragende Konsensprinzip zur Selbstentäußerung des den Vertrag konstituierenden Staatswillens denaturiert werden könnte. Eine solche Konzeption der Unionsermächtigung stünde für eine trotz Einkleidung in einen konsenstheoretischen Ableitungszusammenhang illegitime Fremdherrschaft. Die konkreten Konstruktionserwägungen in bezug auf die Europäische Union müssen aus der Repräsentationsanalyse der Vertragskategorie folgen und sich folglich an dem Einwand messen lassen, ob sie bloße Ableitung verwirklichen, wo Repräsentation im Vollsinne erforderlich ist. Die Union ist funktionell in erster Linie ein legislativer Integrationsverbund456. Alles, was mit dem Begriff der Komplementärverfassung verbunden ist, muß sich deshalb primär darin bewähren, wie die Legislativtätigkeit der Union ausgestaltet ist. Material ausgeschlossen unter dem Regime einer Komplementärverfassung sind danach von bloßer Selbstentäußerung bzw. einseitiger Delegation geprägte Verrechtlichungsformen oder solche supranationalen Ausgestaltungen, die die unionskonstituierenden Staaten als Zurechnungssubjekte durch ihr Aufgehen im Integrationsverbund annihilieren würden. Dies allerdings ist nicht erst dann der Fall, wenn in einem Prozeß schrittweiser Aushöhlung staatlicher Hoheitsmacht durch Ermächtigungsakte quasi der letzte Schritt des Übergangs von Einzelstaatlichkeit auf Gesamtstaatlichkeit vollzogen ist und die Mitgliedstaaten die letzten verbleibenden Attribute staatlicher Hoheitsmacht auf die dann als Bundesstaat auftretende Unionszentralgewalt 455

Bezug nehmend auf den Kontraktualismus ebenfalls, allerdings zur Begründung eines abweichenden Ordnungsparadigmas Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 10 f. 456 Vgl. zur fehlenden Bundeszwangsgewalt der Union nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 689 ff., 905; Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 467, sieht allerdings Anhaltspunkte für eine zukünftige Ausweitung auch der unionsunmittelbaren Vollzugstätigkeit und für eine Beeindigung der Tabuisierung von unionsunmittelbaren Zwangsmitteln.

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transferieren457. Bereits überall dort, wo die Substanz staatlicher Rechtssubjektivität und staatlicher Aufgaben- und Befugnisstruktur berührt ist, muß die komplementäre Unionsverfassung in ihren auf die supranationale Union bezogenen Ermächtigungsgehalten ein Balanceverhältnis zwischen Verselbständigung und Rückbindung an nationalstaatliche Rechtswillensbildung verwirklichen. Mit anderen Worten: In der inhaltlichen Kennzeichnung des Vertrages als Komplementärverfassung spiegelt sich ein legitimationstheoretisch notwendiger Unverfügbarkeitsgehalt, der das formkategoriale Potential des Vertrages, sein dargelegtes repräsentationstheoretisches Profil, mit einem bestimmten, notwendigen Verfaßtheitsstatus der supranationalen Ordnung amalgamiert: Form des Vertrages (Konsens- und Subjektsbezug als Grundlage seiner Entstehung) und Inhalt (Komplementärverfaßtheit Prinzip der durch ihn konstituierten Ordnung) des Vertrages stellen sich in dieser Verfassungsarchitektur als notwendiges Verwiesenheitsverhältnis zueinander dar. Dies konkretisiert die eingangs aufgestellte Hypothese, wonach der Vertrag legitimations- und geltungstheoretischer Ausgangspunkt der gesamten supranationalen Ordnung sein muß: Der Vertrag schreibt nach Maßgabe des Modus seiner eigenen Hervorbringung die Bedingungen der Willensbildung im Sekundärrecht als vertragsund verfassungsbegrifflich notwendige Folgerung vor und schließt alternative Optionen der Ausgestaltung von Legislativwillensbildung aus, soweit sie hinter diesen vertragsbegrifflich notwendigen Minimalbestand zurückfallen. An dieser Stelle sind diese Grundprinzipien, die aus der Vertragsgegründetheit der supranationalen Ordnung im wesentlichen folgen, in den Grundzügen zu entwickeln, während es dem vierten Kapitel vorbehalten bleibt, ein hieraus folgendes duales Repräsentationskonzept in seinen organisatorischen Konkretionen auszubuchstabieren, und im fünften Kapitel der Frage nachzugehen ist, welche konkreten Beteiligungsformen für die im vierten Kapitel gekennzeichneten Repräsentationsträger an der legislativen Entscheidungsfindung damit einhergehen. bb) Zwischen Repräsentation und Selbstentäußerung Repräsentation – verstanden nach den kategorialen Kennzeichnungen des zweiten Kapitels als materialer Verantwortlichkeitszusammenhang der Entscheidungsträger zu den in actu nicht beteiligten Trägern der Souveränität – steht mit konstruktiver Notwendigkeit in der Gefahr, in Vereinseitigung des legitimationstheoretisch intendierten Gegenseitigkeitszusammenhanges in bloß 457 Dies ist der Kerngedanke der Erwägung des Maastricht-Urteils, demzufolge dem nationalen Parlament „Aufgaben von substantiellem Gewicht“ verbleiben müßten (BVerfGE 89, 155, 156, LS 4).

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einseitige Ermächtigung umzuschlagen und mit dieser Reduktion des Repräsentationsbegriffs auf einen reinen Delegationsmechanismus Selbstentäußerung zu bewirken, ohne daß die dies erst legitimierende Wiedergewinnung von institutioneller Freiheit durch die Eingebundenheit in einen Willensbildungsmechanismus der Mitverantwortlichkeit mitreflektiert wäre458. Rechtsphilosophische Beispiele einer solchen Vereinseitigung des Repräsentationsbegriffs in diesem Sinne finden sich – wenn auch mit Einschränkungen459 – in Hobbes’ absolutistischem Totalermächtigungskonzept und in der radikaldemokratischen aliénation totale bei Rousseau. Positivrechtliches Beispiel einer verkürzten Repräsentationsauffassung ist die Argumentatin des Bundesverfassungsgerichts mit der Legitimationskette vom Volk zum Amtswalter460. In der formkategorialen Dialektik der Vertragskategorie liegt die Möglichkeit, ihn zur Entäußerung der ihn tragenden normativen Bedingungen zu funktionalisieren461, in besonders nachhaltiger Weise schon strukturell angelegt. Es gehört zum Wesen des Vertrages, ist gewissermaßen eine handlungsformimmanente Paradoxie, daß dieser für die Vertragsparteien dazu instrumentalisierbar ist, konsensförmig über die Grundlagen der vertragstypischen Normativität selbst zu disponieren und die konsensförmige Selbstbindung in konsensförmige Subjektsentäußerung umschlagen zu lassen462. Der Vertragsinhalt eines Transfers von Hoheitsgewalt auf eine supranationale Ebene rührt auch dann, wenn es nur um die Delegation der Ausübung von Hoheitsmacht geht463, an die Grundlagen staatlicher Selbst458 Paradigmatisch für diese Tendenz Hobbes, Leviathan, vgl. insbesondere Kap. 30; ders., De Cive, Kap. II.2. 459 Ansätze einer modernen, in Teilen repräsentationstheoretisch gehaltvollen Lesart des Hobbesschen Ansatzes bei Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 86 ff.; zur gegenwärtigen Diskussion um die legitimationstheoretische Ergiebigkeit der Hobbesschen Staats- und Rechtstheorie vgl. einerseits Campagna, Leviathan und Rechtsstaat, ARSP 84 (1998), S. 340 ff.; andererseits Kersting, Rechtsverbindlichkeit und Gerechtigkeit bei Thomas Hobbes. Bemerkungen anläßlich der zugleich naturrechtlichen und modernitätseuphorischen Hobbes-Interpretation von Norbert Campagna, ARSP 84 (1998), S. 354 ff. 460 BVerfGE 47, 253, 275; 83, 60, 73; 93, 37, 67. 461 Dies ergibt sich aus der Willensbezogenheit des Konsensprinzips und dem Vermögen des Willens, selbstwidersprüchlich die Bedingungen seines eigenen Bestandes in Frage zu stellen. 462 Ausführlich zum Wesen der Vertragsnormativität und seinem Verhältnis zum Willenskonzept des Rechtssubjekts Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 21 ff.; Neil McCormick/Joseph Raz, Voluntary Obligations and Normative Powers, Proceedings of the Aristotelian Society XLVI/1972, Supplementary Volume, 59-105. Michael H. Robins, Promising, Intending, and Moral Autonomy, 1984. 463 Vgl. statt vieler H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 9, 55, 56, S. 230 f.: Delegiert werde nur die gemeinsame Ausübung der Souveränität, diese bleibe ihrer Substanz nach bei den Mitgliedstaaten verortet; dementsprechend konstatiert Randelzhofer, HdBStR, Band I, § 15, Rdnr. 33, daß nicht die Substanz der Verfassungsho-

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bestimmungsmacht, deren normativitätsbegründende Bedeutung für den Vertrag oben dargelegt wurde. Der sich vertragsförmig an ein supranationales Rechtssetzungsregime bindende Staat disponiert in Verträgen wie dem EGV/EUV in gewisser Weise und in variablem Umfang über das Substrat seiner eigenen Rechtssubjektivität. Dies kann legitimationstheoretisch nur dann hingenommen werden, wenn solche Disposition eingebunden ist in ein erweitertes Zurechnungs- und Ordnungskonzept, das den preisgegebenen Selbstbestimmungsgehalt in befriedigender Weise auf den supranationalen Bezugszusammenhang transponiert und hier Momente der Äquivalenz und kompensatorischen Wiedergewinnung der einzelstaatlich eingebüßten Steuerungs- und Kontrollmacht setzt. Die gesamte Unionsermächtigung löst das Wesen vertraglich-konsensualer Verfaßtheit folglich nur dann ein, wenn sie sich zwar einerseits als Delegation von staatlicher Hoheitsmacht darstellt, zu dieser aber andererseits ein Moment kompensatorischer Wiedergewinnung der durch die Delegation bewirkten Selbstentäußerung durch genuin supranationale Partizipationsmöglichkeiten der staatlichen Hoheitsmacht selbst hinzutritt. Die im bisherigen Integrationsprozeß dominierende Betrachtungsweise, die einseitig auf die Ermächtigungsdimension hin bezogen war, bedarf deshalb einer Abrundung, die die rechtskategoriale Gleichgewichtigkeit des Anliegens fortbestehenden staatlichen Selbstandes mit einbezieht und die Anforderung an das sekundärrechtliche Willensbildungsprofil in einer Synthese beider Gesichtspunkte begreift. Nur dann läßt sich auch interkorporativ ein institutionelles Gleichgewicht464 zwischen den Verfassungsverbänden der Union und ihren Mitgliedstaaten realisieren, in dem der Fortbestand der Staatlichkeit als Fortbestand eines staatlichen Selbstbestimmungszusammenhanges in Abgrenzung zu einer bloßen ausgehöhlten staatlichen Restform ohne inhaltlichen Fortbestand verstehen läßt. cc) Exkurs: Entäußerungsgrenzen nach dem Bundesverfassungsgericht (Maastricht-Urteil) Grund und Grenze der Möglichkeit einer vertragsförmigen Disposition über staatliche Hoheitsmacht sind jedenfalls seit dem Maastricht-Vertrag Gegenstand einer fortdauernden, sowohl staatsverfassungsrechtlichen als auch geheit von den eingegangenen Bindungen betroffen sei. Gegen einen behaupteten Widerspruch von Souveränität und Rechtsgebundenheit auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 95. 464 In der gängigen Terminologie des EuGH verwandt zur Kennzeichnung eines unionsinternen Organisationsgefüges als Gewaltenteilungssurrogat, vgl. dazu etwa H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 11 IV, S. 317 ff., läßt sich dieser Terminus auch treffend verwenden zur Beschreibung des komplementären Balancegefüges zwischen den beiden Willensbildungssträngen des Sekundärrechts.

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meinschaftsrechtlichen Diskussion465. Auch wenn zwischen der gemeinschaftsrechtlichen und der staatsverfassungsrechtlichen Betrachtungsweise nicht unerhebliche perspektivische Differenzen bestehen, hat namentlich die bundesdeutsche Verfassungsrechtsprechung für die Bestimmung des materiellen Gehalts der supranationalen Komplementärverfassung bedeutende Impulse geliefert, die fortdauernd die Auseinandersetzung um gemeinschaftsrechtliche Legitimitätsgrenzen mitbestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Maastricht-Urteil die Selbstveräußerung der Substanz staatlicher Gesetzgebung für unzulässig erklärt und darin eine Teilantwort auf die Frage nach der Reichweite der den Integrationsprozeß ermöglichenden Ermächtigungsgehalte gegeben. Danach setzt die – vom Bundesverfassungsgericht im Demokratieprinzip lozierte466 – Anforderung des Selbstbehaltes staatlicher Steuerungsmacht voraus, daß dem nationalen Parlament „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht“467 verbleiben müßten. Weiter betont das Bundesverfassungsgericht, daß „die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausführung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden [müsse]“468. Andernfalls wäre der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Kerngehalt des Demokratieprinzips einschließlich der mitumfaßten Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 GG betroffen. Der vom Demokratieprinzip geforderte Zurechnungszusammenhang lasse sich auf verschiedene Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen. „Entscheidend ist, daß ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau, erreicht wird“469. Zwei Aspekte der vom Prinzip der Komplementärverfassung vorausgesetzten Ordnung sind damit in ihrem Grundgehalt thematisiert, ohne daß indes nach hier vertretener Auffassung eine auch im Detail angemessene konstruktive Antwort auf Berechtigung und Grenzen eines supranationalen Ermächtigungszusammenhanges gegeben würde. Erstens wird die vertragsförmige Selbstentäußerung in ihrer staatsverfassungsrechtlichen Begrenztheit thematisiert. Zweitens findet die Möglichkeit einer nichtstaatlichen Legitimationsvermittlung, die vom Bundesverfassungsgericht als Anforderung des Demokratieprinzips, nach hier vertretener Auffassung als Möglichkeit einer repräsentationstheoretisch vermittelten kompensatorischen Partizipation der Mitgliedstaaten am supranationalen Willensbildungsprozeß begriffen werden kann, in dem Urteil Nieder465

Dazu statt vieler Weiler (Fn. 449), m.w.N., ebd., Fn. 2. BVerfGE 89, 155, 179, prüft insbesondere am Maßstab des Art. 38 I GG als „Wahlgrundrecht“ die Vereinbarkeit mit den vertragsförmigen Ermächtigungsakten. 467 BVerfGE 89, 155, 156, LS 4. 468 BVerfGE 89, 155, 201. 469 BVerfGE 89, 155, 182. 466

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schlag. Im Unterschied zu Auffassungen, die die Unionslegitimität ausschließlich oder hauptsächlich danach bemessen, daß die Schwelle zur Staatswerdung nicht überschritten werde, ermöglicht diese Einsicht eine konzeptionelle Erweiterung, die die Kategorien der Legitimität und Staatlichkeit voneinander trennt und nichtstaatliche Legitimitätsformen anerkennt. Daß dieser Zugriff des Gerichts gleichwohl in verschiedener Hinsicht verkürzt bleibt, mag maßgeblich dem Unterschied zwischen der vom Gericht zu beantwortenden Verfassungsfrage und der hier betrachteten metapositiven Legitimationsfrage nach Maßgabe eines allgemeinen Repräsentationsbegriffs geschuldet sein. Diese Unvollständigkeit hat zwei hauptsächliche Dimensionen; beide Kritikpunkte beziehen sich auf eine nicht kategorial hinreichende rechtstheoretische Bestimmung des Selbstveräußerungsverbotes. Einerseits wird das Selbstveräußerungsverbot zu dem status quo gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung in kein hinreichendes Verhältnis gesetzt, was nicht allein dem Urteil selbst zur Last fällt, sondern sich zu einem erheblichen Teil einer recht uneinheitlichen Rezeption der Maastrichtentscheidung im rechtswissenschaftlichen Schrifttum in bezug auf diesen Gesichtspunkt verdankt470. Der konkrete Aussagegehalt des Postulats, „substantielle Befugnisse“ müßten dem Parlament vorbehalten bleiben, ist schon als solcher ambivalent: Verlangt das Gericht damit, daß alle substantiellen gesetzgeberischen Befugnisse den nationalen Parlamenten vorbehalten bleiben müßten, oder steht diese Anforderung nur einem vollständigen Transfer der meisten substantiellen Befugnisse entgegen? Keine dieser beiden Interpretationen führt zu einer konsistenten Bestimmung einer absoluten Grenze für supranationale Ermächtigung. Liest man die Entscheidung im ersten Sinne, daß „wesentliche“ Regelsetzungsentscheidungen471 dem nationalstaatlichen Parlament vorbehalten bleiben müssen, impliziert dies eine demokratieprinzipielle Forderung nach einem umfassenden nationalen Parlamentsvorbehalt472, der mit der Rechtswirklichkeit 470

Kritisch einerseits Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., 1685; Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union, Integration 1994, S. 165 ff.; Tomuschat, Die Europäische Union unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489; weitgehend affirmativ andererseits Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, FS Bernhardt 1995, S. 1313, 1326. 471

D.h. alle nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie materiell gesetzesbedürftigen Legislativentscheidungen. 472 Für einen solchen auch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 474 ff.

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europäischen Rechtsetzungsumfangs nicht einmal ansatzweise in Übereinstimmung zu bringen ist. Sekundärrechtsetzung findet längst nicht mehr ausschließlich in den Formen materiell exekutivischer, d. h. untergesetzlicher473 Rechtsetzung statt, sondern umfaßt in einem ganz weiten Spektrum auch „wesentliche“, d. h. materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände. Das wird bereits bei Betrachtung der Gegenstände der Unionspolitik deutlich, die in abgestufter Ermächtigungsintensität von den klassischen Harmonisierungs- und Deregulierungskompetenzen in den Bereichen des Binnenmarktes und der Grundfreiheiten, Art. 39 ff. und 95 EG, über die wesentlich europäisch bestimmte Verkehrspolitik und über die Regelung der Agrar- und Fischereimarktordnung bis hin zu zunehmend ausgeweiteten Kompetenzen in souveränitätssensiblen Materien wie dem gemeinsamen Außengrenzregime, der Strafrechtsgesetzgebung oder etwa der ziviljustiziellen Harmonisierung reicht. Alle genannten Politikfelder fassen evident wesentliche und damit innerstaatlich materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände in sich, die mit einem rein untergesetzlichen Regelungsregime nicht bewältigungsfähig wären. Interpretierte man das Bundesverfassungsgericht dahin, daß sämtliche im Sinne der Wesentlichkeitstheorie gesetzesbedürftigen Gegenstände einer direkten legislativen Befassung nationaler Parlamente bedürften, implizierte dies die legislative Illegitimität nahezu des gesamten Rechtsetzungsregimes der EU in ihrer gegenwärtigen Form. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die im Maastricht-Urteil formulierten Anforderungen nicht als Grundlage einer Verwerfung gegenwärtiger Unionsrechtsakte verwendet, sondern die bisherigen Integrationsphasen unbeanstandet gelassen und sich in Fortschreibung der judikativen Linie seit „Solange II“ im Grundsatz affirmativ auf die gegenwärtige Gestalt der Europäischen Union bezogen474. Es kann auch im übrigen als konsensfähig angesehen werden, daß – auch ohne daß eine ausdrückliche Thematisierung in diesen Kategorien stattfände – der politische Integrationswille aller beteiligten Staaten und ihrer Bürger überwiegend von der Legitimität der Möglichkeit supranationaler Rechtsetzung in materiell gesetzesbedürftigen Gegenständen ausgeht. Ist dies aber der Fall, so bezieht sich die entscheidende – vom Bundesverfassungsgericht unbeantwortete – Frage darauf, weshalb bzw. aufgrund welcher strukturellen Voraussetzungen es möglich sein kann, die Wahrnehmung von Regelungsgegenständen durch die EU, die vom Bundesverfassungsgericht der do-

473 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, § 17, S. 198 ff., spricht von „gesetzesakzessorische[n] Rechtssatzformen“. 474 So auch der Befund von Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 216 ff.

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maine réservé staatlicher Entscheidungsmacht zugeschlagen ist, als repräsentationstheoretisch unbeanstandet anzusehen. Liest man die genannte Anforderung des Maastricht-Urteils hingegen in der Weise, daß das Demokratieprinzip lediglich gegen eine gänzliche Marginalisierung der Entscheidungsträgerschaft nationaler Parlamente gerichtet sei, so wird aus repräsentationstheoretischer Sicht die Bedeutung der Nationalparlamente unterbestimmt. In diesem Fall bleibt das Maßprinzip für die Frage, in welchem Umfang substantielle Befugnisse dem nationalen Parlament unentziehbar überantwortet bleiben müßten, unterhalb der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG in bezug auf Kernbestandteile der Art. 20, 38 GG unbestimmt. Das erscheint schon perspektivisch verfehlt: Maßgebend kann aus staatsverfassungsrechtlicher Sicht nicht sein, ob dem nationalen Parlament überhaupt substantiell gewichtige Befugnisse verbleiben, sondern ob der Transfer substantieller Befugnisse als solcher zulässig ist. Außerdem führt eine solche Verhältnisbestimmung in der Tendenz dazu, daß lediglich der letzte Schritt einer Aushöhlung staatlicher Hoheitsmacht untersagt wäre, durch den der Übergang der Staatlichkeit von den Mitgliedstaaten auf den supranationalen Verband auch formal und äußerlich sichtbar vollzogen würde, was mit einem substantiellen, materialen Verständnis des Staates als freiheitskonstituierendem Organisationszusammenhang kollektivierter Selbstbestimmung unvereinbar bleibt. Auch in bezug auf Gegenstände, deren Überantwortung an supranationale Entscheidungszusammenhänge legitim und unbeanstandet ist, wirft schon der Delegationssachverhalt als solcher die Frage auf, mit welchem Umfang an Partizipation der Mitgliedstaaten an der supranationalen Willensbildung er einhergehen muß, soll nicht die supranationale Kompetenzausübungsermächtigung unterhalb des Veräußerungsverbotes als Blankoermächtigung verstanden und damit repräsentationstheoretisch unterbestimmt werden. Diese Frage stellt sich zwar nicht unmittelbar als staatsverfassungsrechtliche, so daß die fehlende Thematisierung entsprechender Kriterien im Maastricht-Urteil insoweit verständlich ist. Mit der Frage nach der repräsentationstheoretischen Qualität supranationaler Verfaßtheit geht die Frage aber unmittelbar einher. Eine angemessene Verhältnisbestimmung – die im einzelnen erst im fünften Kapitel vorzunehmen sein wird – muß folglich zwischen den Alternativen einer Überbetonung der supranationalen Anwendungsreichweite der Wesentlichkeitstheorie einerseits und einer bloß formalen Unterbestimmung des Wesens staatlicher Mitwirkung andererseits auf eine Lösung abzielen, die den Forderungen der Repräsentationstheorie durch zwei Mechanismen Rechnung trägt. Erstens durch die Einziehung von Grenzen für den Kompetenztransfer, zweitens durch die Formulierung kompensatorischer Partizipationsmöglichkeiten im supranationalen Entscheidungszusammenhang. Nur durch ein Zusammenspiel beider Aussagegehalte läßt sich eine repräsentationstheoretisch befriedigende

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und gleichzeitig hinreichend flexible Konkretisierung des Begriffs der Komplementärverfassung realisieren. Andererseits bleibt im Maastricht-Urteil außer Betracht, daß die Entäußerung von Gegenständen parlamentarischer Gesetzgebung (durch Ratifikation eines Vertragszustimmungsgesetzes als dem den Vertragskonsens auch staatsverfassungsrechtlich beglaubigenden Wollensakt) eine doppelte subjektstheoretische Dimension hat, von denen die Entscheidung nur die eine Hälfte thematisiert. Die eine Seite liegt in der Verkürzung des – nach der Diktion des Verfassungsgerichts: demokratischen – Zurechnungszusammenhangs für die rechtsunterworfenen Bürger des jeweiligen Staatsvolks, indem supranationale Organe entscheiden. In bezug auf die rechtsunterworfenen Bürger bedarf der Untersuchung, ob diese Zurechnungseinbuße durch genuin europäische Parlamentarisierung kompensationsfähig ist. Auf der anderen Seite aber ist Ermächtigung supranationaler Gremien eine subtraktive Verkürzung staatlicher Selbstbestimmungsmacht, die schon als solche ebenfalls der Rechtfertigung bedarf. Diese beiden Dimensionen werden vom Bundesverfassungsgericht nicht differenziert und statt dessen einer gemeinsamen, allenfalls in Ansätzen tragfähigen Antwort zugeführt. Mit dem Abstellen auf das Kriterium der demokratischen Legitimation gegenüber dem Staatsvolk wird nur die Frage nach der Legitimation dem Bürger gegenüber betrachtet, auf die Selbstentäußerungsproblematik unterhalb des Art. 79 Abs. 3 GG somit keine Antwort gegeben und gleichzeitig das Bestehen von Unveränderlichkeitskautelen im Grundgesetz nur unter dem Aspekt der subjektivrechtlichen Dimension für den Bürger, nicht jedoch in einem objektiv-institutionellen Sicherungsgehalt für den Souveränität einbüßenden Staat thematisiert. Nach Maßgabe dieses Verfassungsverständnisses ist die damit etablierte Anforderung nur ein Minimalpostulat, oberhalb dessen der Unantastbarkeitsgehalt des Demokratieprinzips (Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG)475 verletzt und folglich eine absolute Schranke des Grundgesetzes gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß verletzt ist. Repräsentationstheoretisch ist jedoch ein weitergehender Zurechnungszusammenhang gefordert. Dieser setzt nicht allein – unter Zugrunde legung der Perspektive des Parlaments – voraus, daß diesem substantielle Aufgaben und Befugnisse verbleiben müßten, sondern er fordert darüber hinausgehend – aus der Perspektive der mit einer sie adressierenden Norm konfrontierten Bürger Europas – daß diese in einer hinreichenden Form seiner Autorenschaft zuzurechnen ist. Nicht erst die Wahrnehmungsbefugnisse des den Staatsbürger repräsentierenden Organs, die staatsverfassungsrechtlich im Vordergrund steht, begründen das essentielle Legitimitätskriterium der komplementären Ordnung, sondern

475

Vgl. BVerfGE 89, 155, 172.

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der zurechnungskonforme Willensbildungsmodus, der zu einer Norm führt476. Diese Zurechnungskonformität muß aber ihrerseits der Existenz unterschiedlicher Adressaten (Staaten und Bürger) durch einen differenzierten, auf beide unabhängig voneinander abgestimmten Repräsentationszusammenhang Rechnung tragen. Als Resultat der o.g. Rechtsprechungskritik läßt sich somit festhalten, daß den Selbstveräußerungseinwand eine Doppelbezüglichkeit auszeichnet, die repräsentationstheoretisch reaktionsbedürftig ist. Die eine Dimension ist staatsbezogen. Das Verbot der Selbstveräußerung setzt hier einem evolutionären, aus der staatsverfassungsrechtlichen Ermächtigung herausentwickelten Integrationsfortschritt absolute Grenzen, wo die Substanz staatlichen Fortbestandes in der Europäischen Union betroffen ist, verlangt aber auch, daß der Verlust einzelstaatlicher Entscheidungsmacht unterhalb der absoluten Grenze durch kompensatorische supranationale Repräsentationsmechanismen aufgefangen und dem Staat eine ratsvermittelte Mitwirkungsoption eingeräumt wird. Die andere Dimension ist bürgerbezogen. Die mit jeder supranationalen Rechtssetzungsermächtigung einhergehende subtraktive Entmachtung der Nationalparlamente wird durch die Einrichtung eines staatenrepräsentierenden Gremiums für die Staaten kompensiert, nicht jedoch für die Bürger. Diese Differenzierung des kategorialen Bezugs nach den vom supranationalen Rechtsregime betroffenen Subjektstypen (Mitgliedstaaten und Bürger) bedingt die Notwendigkeit einer dualen Repräsentationsarchitektur für den sekundärrechtlichen Willensbildungsprozeß477. Anders gesagt: Der materiellrechtliche Gehalt des Begriffs der Komplementärverfassung steht für einen institutionellen Repräsentationsdualismus, dessen organisatorische Differenzierungsanforderung der beschriebenen Doppelbezüglichkeit Rechnung trägt und durch ein einzelnes Repräsentationsorgan nicht ausfüllbar ist. dd) Komplementärverfassung und offene Verfassungsstaatlichkeit Indem der Begriff der Komplementärverfassung die staatsverfassungsrechtlichen Vorgaben widerspiegelt, ist ihm ein Maßprinzip für das repräsentationstheoretisch zulässige Ausmaß an Kompetenzdelegation inhärent: Die Ermächtigungsgehalte, die mit der Errichtung einer Komplementärordnung repräsenta-

476

Demgegenüber dominiert im Schrifttum eine abweichende Akzentuierung der Legitimitätsfragestellung, die in erster Linie darauf bezogen ist, wie den im Rat vertretenen Mitgliedern mitgliedstaatlicher Exekutiven eine demokratische Legitimation vermittelt werden könne; vgl. – jeweils m.w.N. – Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 5 ff. 477

Dazu ausführlich unten, Kap. 4.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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tionstheoretisch (noch) vereinbar sind, lassen sich als Entsprechungsverhältnis zur Kooperationsoffenheit der staatsverfassungsrechtlichen Ermächtigungsgehalte begreifen. Die Strukturprinzipien des kooperationsoffenen Verfassungsstaates geben vor, von welchem Umfang an Transferierbarkeit der staatliche Verfassunggeber ausgeht. Die auf der Grundlage des nationalen Verfassungsrechts sich vollziehende Ermächtigung enthält damit in nuce die aus ihr zu entwickelnden Prinzipien der supranationalen Verfassung, die sich als Negativabbild staatsverfassungsrechtlicher Vorgaben präsentiert. Die supranationale Komplementärverfassung ist – negativ betrachtet – ein unmittelbares Resultat der von den mitgliedstaatlichen Verfassungen statuierten Entäußerungsgrenzen, und sie ist – positiv betrachtet – eine direkte Folgerung der von den Staatsverfassungen ausgehenden Ermächtigungsansätze478. Die materielle Dimension des supranationalen Komplementärverfassungsbegriffs spiegelt damit die in dieser Untersuchung herausgearbeiteten geltungslogischen Abhängigkeiten unmittelbar wider. Die negative Dimension staatsverfassungsrechtlicher Integrationsrestriktion ist unter dem Aspekt des Selbstentäußerungsverbotes bereits thematisiert worden; die positive Dimension derjenigen staatlichen Verfassungsprinzipien, die die supranationale Komplementärverfassung prädeterminieren, ist passend zum Typbegriff der kooperativen bzw. offenen Verfassungsstaatlichkeit zu fassen. Ansätze für den kooperativen Verfassungsstaat – als Rechtsbegriff zur Unterscheidung gegenüber dem klassischen geschlossenen Staatsverständnis479 – finden sich bereits seit den 60er Jahren im Schrifttum480. Ausgangspunkt für alle begrifflichen Öffnungsbemühungen des Verfassungsverständnisses in einer Weise, die den Staat als permeabel gegenüber zwischen- oder überstaatlichen Bindungen ausweist, ist die Analyse der verfassungsrechtlichen Bindungsoffenheit gegenüber Kooperationsstrategien, das hierin enthaltene Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit. Spezifischen Gehalt – als ein für das Rechtsphänomen supranationaler Kooperationseingebundenheit der Mitgliedstaaten zu instrumentalisierender Rechtsbegriff – gewinnt dieser Argumentationszusammenhang indes erst in der 478

Ähnlich Pernice (Fn. 476), S. 2 ff. Gegen dieses Verständnis kritisch Hobe (Fn. 480), S. 521 ff.: Die Staatsrechtslehre nehme die Implikationen der Art. 23, 24 GG teilweise noch nicht einmal zur Kenntnis. 480 Vgl. insbesondere Hobe (Fn. 480), S. 521, 530; Ermacora, Allgemeine Staatslehre 1970, Teil 2, S. 1157 ff.; Saladin, Wozu noch Staaten, 1995; Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 1992, § 172; ders., Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7; Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 479

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

Diskussion seit dem Maastricht-Vertrag in den 90er Jahren, wo er unterschiedliche Dimensionen annimmt. Hobe definiert die Merkmale des von ihm sog. kooperationsoffenen Verfassungsstaates im Ausgang der Verfassungsermächtigungen der Art. 23, 24 GG als Form einer fortbestehend unteilbaren Staatsgewalt, die zum Zweck der Ausübung supranationaler Kooperationsstrategien den ihr eigenen Exklusivitätsanspruch bereichsbezogen zurücknehme481. Die Partizipation an inter- und supranationalen Organisationen sei deshalb als Kompensation für verlorene nationalstaatliche Steuerungsallmacht zu begreifen482. Er betont, daß innerhalb der so staatsverfassungsrechtlich vordeterminierten Kooperationsordnung einerseits die Definitionsmacht über die adäquate Allokation der Problemlösungsebene im Mehrebenenzusammenhang bei der staatlichen Ebene verbleibe, andererseits auch das zur Staatsbegrifflichkeit gehörige Merkmal staatlicher Souveränität nicht angetastet werde. Nach Di Fabio steht der europäische Mehrebenenverbund wesentlich für einen Staatenverbund, der – als neues Modell staatlich-überstaatlicher Einordnung – den Anfang eines Herrschaftssystems markiert, der die „abgrenzungsscharfen Elemente der modernen Staatsidee und die integrativ angelegten überstaatlichen Strukturen zum Ausgleich“483 bringt. Mit dem Begriff des verfaßten Mehrebenenverbundes484 bringt er die Typologie einer von fehlendem Souveränitätsanspruch des Verbundes und fortbestehender Staatensouveränität einerseits, aber einer im praktischen Normsetzungsalltag weitgehend verdrängten staatlichen Letztverbindlichkeit angesichts dauerhaft verbundener Herrschaftsausübung im gemeinsamen institutionellen Rahmen zur Deckung. Marcel Kaufmann sieht in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht eine bloße Staatszielbestimmung, sondern eine „Staatsstrukturentscheidung“ für die von ihm so bezeichnete „integrierte Staatlichkeit“, die mit Modifikationen namentlich von Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip und Bundesstaatsprinzip einhergehe485. Das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit finde seinen hauptsächlichen normativpositivrechtlichen Verortungspunkt in der Verpflichtung des supranationalen

481

Hobe (Fn. 480), S. 521, 531, 545; vgl. auch BVerfGE 27, 271, 280; 58, 1, 28; 73, 374; diesen Kompensationsgedanken entwickelt auch bereits Ermacora, Die vierte Gewalt: eine regional-supranationale Gewalt zum Schutz der Menschenrechte, in: FS Leibholz, 1966, S. 673. 482 Hobe (Fn. 480), S. 545. 483 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 141. 484 Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, S. 3 ff. 485 Marcel Kaufmann, Integrierte Staatlichkeit als Staatsstrukturprinzip, JZ 1999, S. 814-822; ders., Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 453 ff.; ders., Permanente Verfassunggebung, Der Staat 36 (1997), S. 535.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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Verbunds zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten gem. Art. 6 EU. Anders gesagt: Nach Maßgabe des bundesdeutschen Verfassungsrechts ermächtigt der offene Verfassungsstaat der Bundesrepublik zur Etablierung einer supranationalen Ordnung, in der die Substanz bundesdeutscher Verfassungsstaatlichkeit erhalten bleibt. Der materielle Gehalt des Begriffs der Komplementärverfassung besteht damit in der die Union bindenden Festschreibung der reziproken Umsetzung staatsverfassungsrechtlicher Vorgaben in supranationale Strukturprinzipien. Diese Festlegung geht über allgemeine Kooperativitätserwägungen486 hinaus und läßt sich in zwei recht konkreten Rechtsbegriffen konkretisieren: Einerseits dem Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit als Verfassungsprinzip der Europäischen Union (1), andererseits der Anforderung „struktureller Kompensation“487 der Einbuße staatlicher Selbstbestimmung in allen von der Delegation betroffenen Bereichen durch Schaffung im einzelnen zu typisierender Repräsentationsstrukturen (2). (1) Die unionsverfassungsrechtliche Festschreibung der Aufrechterhaltung des Paradigmas vom Staatsfortbestand ist die weitere Dimension, die das zweite Kriterium teilweise mitumgreift. Fortbestand der Staatlichkeit hat im Kontext supranationaler Komplementärverfaßtheit zwei Bezugspunkte: Einerseits die Bewahrung staatlicher Residualkompetenzen, die gegenüber Zentralisierungstendenzen der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten verteidigt werden. Wichtige Mechanismen hierfür sind die genetische und modale Abhängigkeit der Union gegenüber den primär zuständigen Staaten, was sich namentlich im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 EG und im Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 2 EG manifestiert488 (s. u., 5. Kap.). Andererseits die Beteiligung der Staaten als Staaten am supranationalen Willensbildungsprozeß, durch die eine Wiedergewinnung der Einbuße an originär staatlichen Aufgaben und staatlicher Lenkungsmacht infolge der Übertragung auf europäische Ebene gewährleistet wird. Auch dies ist repräsentationstheoretisch unverzichtbar, um das zum Begriff der Komplementärverfassung gehörende Prinzip der Wahrung der Mitgliedstaatlichkeit inhaltlich gehaltvoll zu wahren. 486 BVerfGE 89, 155, 175, 178; kritisch zum fehlenden Problemlösungsgehalt des Begriffs des „Kooperationsverhältnisses“ auch Enders, FS Böckenförde, S. 44. 487 So der treffende Terminus von Hobe (Fn. 480), S. 532. Daß das im folgenden 4. Kap. entwickelte Willensbildungskonzept über die von Hobe mit diesem Begriff verbundene Vorstellung in einigen Bereichen hinausgeht, tut seiner Verwendbarkeit keinen Abbruch. 488

Der vom Verfassungskonvent ausgearbeitete Vorschlag sieht eine Aufnahme beider Prinzipien in den Verfassungsvertrag vor (Art. I-11, Abs. 1, 2, vgl. Dok. CONV 797/1/03 Rev. 1) und unterstreicht damit die materiell-konstitutionelle Bedeutung beider Prinzipien.

298

Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

(2) Die strukturelle Kompensation auf staatsrechtlicher Ebene verlorengegangener Steuerungs- und Problemlösungsmacht definiert sich – hierin liegt die entscheidende kategoriale Verknüpfung von Repräsentationsprinzip und Komplementärverfassung – im Lichte repräsentationstheoretischer Betrachtung wesentlich dadurch, daß Staaten nicht nur durch die bloße Beteiligung an Internationalen Organisationen489 den Verlust autonomer Steuerungsmacht kompensieren, sondern durch konkrete, unmittelbare Eigenrepräsentation innerhalb zwischenstaatlich bzw. überstaatlich verselbständigter Willensbildung präsent sind und als Zurechnungssubjekte der supranational gebündelt gefällten Normsetzungsentscheidungen nach wie vor verantwortlich in Erscheinung treten. Nach der hier vertretenen These liegt der Wesensgehalt des Begriffs struktureller Kompensation damit in der Gewährleistung einer repräsentationstheoretischen Immunisierung des Rechtssetzungsprozesses gegenüber dem Selbstveräußerungseinwand: die eigenständige repräsentative Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Sekundärrechtsetzung kompensiert den Einfluß an Steuerungsmacht. Das repräsentationstheoretische Kriterium der Wiedergewinnung stellt sich bezogen auf der Verhältnis von Mitgliedstaaten und EU als Konkordanzkriterium bzw. als Mittelweg zwischen der Selbstentäußerung der Mitgliedstaaten und dem Verharren in nicht supranational integrierter Nationalstaatlichkeit dar. Strukturelle Kompensation setzt eine Ausgestaltung des sekundärrechtsgenerierenden Willensbildungsprozesses voraus, die sicherstellt, daß in ihm kein – im Widerspruch zum Anspruch des materialen Fortbestandes der Mitgliedstaaten stehendes – Fremdregime gegen die staatliche Selbstbestimmung praktisch wird. Mit dem Begriff der Komplementärverfassung geht eine Mindestanforderung der Rückgebundenheit sekundärrechtlicher Willensbildung an den Willen der Mitgliedstaaten als Rechtssubjekte einher, die eine Verselbständigung nach dem Modell einer staatenunabhängigen Vollparlamentarisierung ausschließt. Das im folgenden Kapitel zu thematisierende organisatorische Balanceverhältnis von EP und Rat findet hierin – in Abgrenzung gegenüber Betrachtungen, die primär demokratietheoretische Betrachtungen über unmittelbare und mittelbare demokratische Legitimation thematisieren – sein kategoriales Bezugssubstrat. Der Begriff der Komplementärverfassung ist daher nach Maßgabe dieses Kriteriums als Konkordanzbegriff zu verstehen und kritisch einem Verständnis der Supranationalität entgegenzusetzen, das eine vollkommene Verselbständigung der Willensbildungsbedingungen vom nationalstaatlichen Rückbindungszusammenhang impliziert490.

489 490

Dies ist der von Hobe (Fn. 480), S. 529 ff., hauptsächlich betonte Bezugspunkt.

Angelegt in den „klassischen“ europarechtlichen Autonomiethesen, vgl. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 8, S. 182 ff., 255 ff.

III. Konstitutionelle Dimension des Gemeinschaftsvertrages

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d) Zusammenfassung Die Handlungsform des Gemeinschaftsvertrages qualifiziert sich normsystematisch als Verfassung einer komplementären Ordnung, die durch den konstituierenden Willen der Mitgliedstaaten an deren Fortbestand als Staaten nicht nur genetisch rückgebunden ist, sondern auch auf ihre Wahrung und Integration als Verfassungsprinzip der Europäischen Union hin orientiert ist. Ansatzpunkt für diese Kennzeichnung ist die Analyse des Wesens der Vertragsgeltung und seine Ausfüllung durch die geltenden staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen zur Willensbildung. In der Rechtsform des Vertrages kommt das Konkurrenzverhältnis aus relativer Verselbständigung der supranationalen Rechtsordnung und Rückgebundenheit an den Fortbestand der Mitgliedstaaten, das durch den Begriff der komplementären Ordnung gekennzeichnet wird, zu einem Abgleich, der durch das handlungsformspezifische Vermögen des Vertrages, normative Verbindlichkeit aus Selbstbindung zu generieren, ermöglicht wird. Die rechtskategoriale Substanz des Begriffs der Komplementärverfassung beruht darauf, daß sie einerseits die Konstitutionalisierung von freiheitlichen Selbsterweiterungsmechanismen beteiligter Staaten über den staatsrechtlichen Formenkontext hinaus ermöglicht, andererseits durch die Rückbindung an den Fortbestand der Staaten aber verhindert, daß dieser Prozeß sich verselbständigt und in sein Gegenteil – externe Fremdherrschaft gegen den Willen der Staaten – umschlägt. Die Frage nach der Trägerschaft der verfassunggebenden Gewalt darf nicht mit der Frage verwechselt werden, welche Rechtssubjekte die so konstituierte Rechtsordnung anerkennt. Die supranationale Rechtsordnung adressiert die Bürger Europas, ohne daß diese die Träger der von ihr konstituierten Hoheitsgewalt wären. Die Legitimität der verfassunggebenden Gewalt der Mitgliedstaaten ist in entscheidendem Umfang von der Rückbindung an den Volkswillen durch das Erfordernis des parlamentarischen Zustimmungsgesetzes abhängig; erst hierdurch wird die Legitimität der gemeinschaftsrechtlichen Geltung des Primärrechts auch gegenüber den Bürgern als Adressaten in repräsentationstheoretischer Hinsicht plausibel. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die im Vertrag sich bindenden Zurechnungssubjekte im Außenverhältnis allein die Staaten sind, die die in ihnen konstruktiv vereinigten Individualsubjekte mediatisieren, und nicht auch die Bürger Europa selbst. Allerdings erfordert die mangelnde konstitutionelle Autorenschaft der Bürger Europas, zu ihrer Repräsentation im verselbständigten Rechtsetzungsprozeß des Sekundärrechts eigenständige Inklusionsmechanismen zu etablieren. Das Auseinanderfallen von pouvoir constituant und Rechtssubjektivität, das als genuines und bislang in der verfasssungstheoretischen Diskussion vernachlässigtes Kennzeichen einer supranationalen Ordnung angesehen werden kann,

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Kap. 3: Repräsentationsprofil des Gemeinschaftsvertrages

verlangt nach der Schaffung von repräsentationsverbürgenden institutionellen Strukturen, an denen die Bürger unmittelbar beteiligt sind und durch die der für das Repräsentationsprinzip kennzeichnende Verantwortlichkeitszusammenhang zwischen Entscheidungsträger und Entscheidungsbetroffenen erst konstituiert wird: Ein bloßer Ableitungszusammenhang genügt dafür nicht. Diese Notwendigkeit jedoch betrifft nicht das Primärrecht, das ohnehin durch das Zustimmungsgesetz an parlamentarische Repräsentation rückgebunden ist, sondern das Sekundärrecht.

IV. Zwischenergebnis Der gemeinschaftsrechtliche Vertrag ist mit allen seinen supranationalen Spezifika ein geltungslogischer Anwendungsfall des Konsensprinzips, und zwar als Resultat vorpositiver als auch immanent-positivrechtlicher Bestimmungen. Die normative Qualität des Konsenses, aus welcher sich seine verbindlichkeitsstiftende Wirkung ergibt, ist das Resultat der Willensmächtigkeit der sich im Vertragsschluß wechselseitig bindenden Rechtssubjekte. Der normativitätsgenerierende Gehalt des Willensbildungsvermögens wird in der Anwendung auf Staaten als juristische Personen ausgefüllt durch die Organ- und Handlungslehren des Staates, die das subjektstheoretische Raster der Vertragstheorie mit den spezifischen Zurechnungserkenntnissen der Lehre von der juristischen Person verbinden. Der interne staatsrechtliche Institutionenrahmen, der für die Bundesrepublik im Willensbildungsmechanismus des Art. 59 Abs. 2 GG zur Geltung gebracht wird, ist für den internationalen Vertrag die subjektstheoretische Ausfüllung der Vertragsbedeutung, gewissermaßen das Korrelat der individualsubjektiven Innensphäre in bezug auf die staatliche Rechtssubjektivität. Die Besonderheiten des Anwendungsvorrangs des supranationalen Primärrechts sind gleichfalls in der Rückbezogenheit auf das Konsensprinzip, modifiziert durch den subjektivrechtlichen Gehalt des Gemeinschaftsprimärrechts zu erklären. Die Rückführung auf das Prinzip vertraglicher Konsensnormativität tastet den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts nicht an, sondern imprägniert diesen gegen die Zirkularitätseinwände, die der geltungslogischen Autonomiethese des EuGH entgegengehalten werden könnten. Die Mitgliedstaaten haben, indem sie zur Instituierung der Gemeinschaftsrechtsordnung sich konsensual verbunden haben, gleichzeitig in die Vorrangigkeit derselben eingewilligt. Danach liegt es im souveränen Selbstbestimmungsvermögen der Vertragspartner, der von ihnen getroffenen Vereinbarung konsensual einen bestimmten Geltungs- oder Anwendungsstatus zuzuerkennen. Dem Gedanken des effet utile kommt hierfür nur die – im Verhältnis zu ihrer Bedeutung in der herrschenden gemeinschaftsrechtlichen Methodologie – deutlich eingeschränk-

IV. Zwischenergebnis

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te Bedeutung zu, daß die auslegungsweise zu ermittelnde Auffassung der Vertragspartner über den intendierten Funktionsumfang der konsensual errichteten Ordnung im Vordergrund steht und nicht ein verobjektivierter, verselbständigter Zweckgedanke. Aber indem das Gemeinschaftsrecht schon seinem inhaltlichen Anspruch nach konzipiert ist mit einem starken subjektiv-rechtlichen Gehalt auch gegenüber dem Individuum, schlägt sich diese Erwägung als ergänzendes Element der Selbsterweiterungsdimension des Gemeinschaftsrechts nieder und macht die namentlich vom EuGH postulierte Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts vor nationalen Bestimmungen auch in Übereinstimmung mit dem vertragstheoretischen Ansatz plausibel. Normsystematisch bekleidet die Handlungsform des Gemeinschaftsvertrages wesentlich den Status einer Verfassung; in gewissem Umfang kann er darüber hinaus als konventionell internationalrechtliches Gesetzessurrogat angesehen werden, da er auch Regelungsgehalte enthält, die innerstaatlich Gegenstand eines einfachen Gesetzes wären. Um eine gesetzessurrogierende Funktion im Gemeinschaftsrecht umfassend bekleiden zu können, ist die Handlungsform des Vertrages ihrem Steuerungsvermögen nach zu schwerfällig; die laufende supranationale Normsetzungsproduktion erfolgt in den Formen des Sekundärrechts, nicht aber vertraglich. Grundlegend für die Kennzeichnung des Vertrages als Verfassung ist ein Begriffsverständnis, das in einem weiten Sinne „postnational“, spezifischer jedoch „institutionenakzessorisch“ ist. Entscheidender inhaltlicher Unterschied dieses Verfassungsbegriffs zum staatsrechtlichen Verfassungsbegriff ist ein geltungslogisch derivativer Charakter der durch sie konstituierten Ordnung. Schema dieser derivativen Geltung ist das Prinzip vertraglicher Konsensnormativität; in dieser manifestiert sich die jedenfalls im Ausgang bestehende Willensherrschaft der Mitgliedstaaten über den von ihnen eingegangenen Konsens; diese Willensherrschaft ist mit der Zuordnung des Letztverbindlichkeitsgrundes bei den Mitgliedstaaten notwendig verbunden. Material affirmiert diese Einordnung einer geltungslogisch abhängigen, jedoch aus funktionalen Gründen mit der Vorrangimplikation ausgestatteten Teilrechtsordnung das Prinzip des Vertrages als Komplementärverfassung. Mit dem Prinzip der Komplementärverfassung verbindet sich organisatorisch die Anforderung eines Repräsentationsgefüges, das sich auf den Verlust an nationalparlamentarisch vermittelter Bürgerpartizipation als auch auf den Verlust an staatlicher Selbstbestimmungsunmittelbarkeit kompensatorisch bezieht und beiden Umständen je für sich repräsentationstheoretisch Rechnung trägt. Der wichtigste substantielle Gehalt des Begriffs der Komplementärverfassung ist deshalb die Strukturanforderung eines dualen Repräsentationssystems für den sekundärrechtsgenerierenden Willensbildungsprozeß. Seine Exposition ist Gegenstand des vierten Kapitels.

Kapitel 4

Lösungsansätze zum Defizit des innerstaatlichen Legitimationszusammenhanges für das europäische Sekundärrecht

I. Das Repräsentationsdefizit als Ausdruck gemeinschaftsrechtlicher Mehrebenenarchitektur

1. Die Befundlage: Defizitäre Repräsentationsstruktur sekundärrechtlicher Willensbildung Die durch das Repräsentationsprinzip ausgeformte Legitimationsableitung vom staatsrechtlichen Konstitutionszusammenhang im zuvor entwickelten Sinne erweist sich nach den Darstellungen der vorangegangenen Kapitel als klassische, freilich zunehmend an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangende Quelle1 gemeinschaftsrechtlicher Legitimität. Sie war bis zur Instituierung des Europäischen Parlaments, genauer bis zur 1979 erfolgten Einführung der Direktwahl als Elektionsmodus2, das einzige die Europäischen Gemeinschaften legitimatorisch tragende Prinzip3 und liegt legitimationstheoretisch – wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde – vermittelt durch den innerstaatlichen Willensbildungsmechanismus der primärrechtlichen Handlungs1

So auch Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 586; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 645; vgl. schon Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 10. 2 Eingeführt durch Ratsbeschluß ABl. Nr. L 278 vom 8. 10. 1976, S. 1, fanden die ersten Wahlen am 7.-10. Juni 1979 statt; vgl. zur Entwicklung des Wahlverfahrens ausführlich Neuhold, Das EP im Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Union, S. 62; Glaesner, Die Legitimität der Europäischen Gemeinschaft, in FS Sasse 1981, Bd. 1, S. 73 ff., 74. 3 Durch die Ratsmitglieder als Vertreter der Mitgliedstaaten, vgl. dazu Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 82; Hilf (Fn. 1), S. 10, kennzeichnet diese Legitimitätsgrundlage als „wesensbestimmend“ für die Gemeinschaften.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

form des Vertrages zugrunde, was ihn zugleich insgesamt zur Basis der gemeinschaftsrechtlichen Institutionen macht4. Maßgebend hierfür ist legitimationstheoretisch das enge Wechselspiel von völkerrechtlichem Vertragsschluß und innerstaatlich-parlamentarischem Ratifikationsmechanismus. Dieses Zusammenwirken rechtfertigt es, die koordinativ aufeinanderbezogenen Staatsvölker Europas in einem weiten Sinn als Autor der vertraglich konstituierten gemeinschaftsrechtlichen Ordnung anzusehen5. Die Erscheinungsformen des gemeinschaftlichen Sekundärrechts modifizieren die Problematik. In ihnen manifestiert sich die Defizienz der gegenwärtigen gemeinschaftsrechtlichen Repräsentationsarchitektur6 gemessen an den kategorialen Gehalten des Repräsentationsprinzips7. Entscheidender Ausgangspunkt repräsentationstheoretischer Verwirklichungsschwierigkeiten ist die Verselbständigung von unmittelbaren staatsorganisationsrechtlichen Rückbindungen. Während die primärrechtliche Normebene sich als eine spezifische Kombination aus vertraglich-konsensförmiger Selbstbindung der Staaten im zwischenstaatlichen Verhältnis und hiermit einhergehender repräsentativer Mitwirkung des Parlaments am innerstaatlichen Willensbildungsmechanismus darstellte, ist das Sekundärrecht jedenfalls von der unmittelbaren mitgliedstaatlichen Willensbildung partiell entkoppelt und wirft damit die Frage nach Möglichkeiten unmittelbarer Repräsentation des Individuums in diesem Willensbildungskontext selbst auf. Der Umstand, daß die supranationale Ordnung nicht vom pouvoir constituant eines einheitlichen europäischen Volkes, sondern von der verfassunggebenden Gewalt der Mitgliedstaaten selbst in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Ordnung getragen ist und sich hierin eine Strukturadäquanz einer komplementären Verfassungsordnung manifestiert8, impliziert nämlich nicht, daß im supranationalen Verbund die Anforderungen an den legislativen Willensbildungsmechanismus nicht in gleicher Weise auf die Rückbindung an die Autorenschaft der Adressaten angewiesen wäre wie eine durch den pouvoir constituant eines einheitlichen Staatsvolkes getragene Ordnung. Erwägungen 4

Vgl. auch Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der HumboldtUniversität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm, S. 12: Die EU sei „mittelbar und wohl heute noch kräftiger legitimiert durch die verbundenen demokratischen Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten“. 5 Insoweit mit gewisser Berechtigung Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.; ders., The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 9 (m.w.N., ebd. Fn. 30), 10; zu Kritik und Grenze dieses Verständnisses vgl. die Kritik oben, Kap. 3, III. 2. a) dd). 6 Dazu ausführlich unten, Kap. 4, III. 4. 7 Vgl. oben, Kap. 2, III. 2./3. 8 s.o., Kap. 3, III. 3. c).

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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zum Repräsentationsgehalt der Institutionenstrukturen, aus denen gemeinschaftsrechtliches Sekundärrecht hervorgehen kann, müssen von der Besonderheit ausgehen, daß nicht nur die Staaten, sondern die Bürger Europas selbst Adressaten sekundärrechtlicher Normen sind. Ihre Repräsentation im Normsetzungsprozeß ist prima facie das konstruktive Hauptproblem, das aus der partiellen Verselbständigung legislativer Hoheitsbefugnisse im Sekundärrecht folgt. In Bezug hierauf stellen sich eine ganze Reihe von kategorialen Justierungsfragen, die es rechtfertigen, den Konstruktionsaspekt „Schaffung einer originären europäischen Form der Individualrepräsentation“ als Mittelpunkt der sich stellenden Begründungsanforderung zu begreifen. Gleichwohl würde in der isolierten Bezugnahme auf den Bürger als Repräsentationssubjekt eine Vereinseitigung liegen: Diese würde einer Ausblendung der Frage Vorschub leisten, welche substantiellen Verwirklichungsgehalte mit der Staatsrepräsentation verbunden sind, und damit das, was aus dem eigentümlichen supranationalen Verfaßtheitsstatus, der im dritten Kapitel in seinem theoretischen Gehalt entwickelt worden ist, an konstruktiven Vorgaben für die nachgeordneten Normebenen einhergeht, preisgeben. Betrachtet man nur, wie die Stellung des europäischen Bürgers repräsentationstheoretisch gestärkt werden kann, präjudiziert dies den Weg Europas in eine einseitige Parlamentarisierung nach nationalstaatlichem Vorbild. Diese kann jedoch nicht für sich beanspruchen, genuiner Ausdruck supranationaler Komplementärverfaßtheit in einem im dritten Kapitel dargelegten Sinne zu sein. Sie wäre deshalb keine konsequente Fortführung des dort artikulierten Verfaßtheitsanspruchs, sondern eine staatsanaloge Verflachung, mit der ein Verlust an spezifischer Staatsdifferenz notwendig verbunden wäre. Deshalb ist ein besonderes Anliegen dieses Kapitels auch die Entwicklung, was aus der Subjektsdiversifikation an der Parlamentarisierung gegenläufigen Effekten, manifestiert in einem Festhalten an einer zumindest gleichgewichtigen Willensbildungsfunktion des Rates, folgt9. Defizite in der repräsentativen Ausgestaltung der Europäischen Union sind – so die hier zu explizierende These – weder Ausdruck nationalstaatlich moti9

Anders jedoch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 566: Die „individualistische Sichtweise stürzt aber das Zwei-Quellen-Schema um. Wer vom Bürger ausgeht, kann die Staatenvertretung kaum neben der Bürgervertretung sehen.“ Dieser Ansatz folgert aus der fehlenden Selbstzweckhaftigkeit des Staates seinen fehlenden repräsentationstheoretischen Eigenständigkeitsanspruch im Mehrebenengefüge. Damit wird die institutionelle Bedeutung des rechtlichen Primärzugriffs staatlicher Regelungsmacht, die nach den vorangegangenen Kennzeichnungen als Wesenselement der Komplementärverfassung entwickelt worden ist, unterbestimmt. Staaten beanspruchen repräsentativen Selbstand in der europäischen Verfassung nicht als Individualsubjekte, sondern als eigenständige Verwirklichungsleistung institutionalisierter Rechtsvernunft. Zum rechtsprinzipiellen Gehalt der Staatlichkeit vgl. oben, Kap. 3, III. 4. a).

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

vierter Besitzstandswahrung noch eines fehlenden europapolitischen „good wills“ oder einer expertokratisch motivierten Ausblendung der Partizipationsrechte europäischer Bürger, sondern beruhen auf einer unzulänglichen Kategorienklärung. Das europäische Institutionengefüge kann nur dann mit legitimationstheoretischem Gewinn reformiert werden, wenn der Fluchtpunkt möglicher Reformen kategorial bestimmt ist. Deshalb muß die Reformulierung eines repräsentationstheoretischen Anforderungsprofils, das beanspruchen kann, alle Anforderungen des zweiten Kapitels mit den der europäischen Verfassungsordnung eigentümlichen Besonderheiten in einen konstruktiven Abgleich zu bringen, von den bestehenden Schwächen und ihren impliziten paradigmatischen Grundlagen im sekundärrechtlichen Willensbildungsprozeß ihren Ausgang nehmen. Im folgenden ist deshalb zunächst zu analysieren, welche strukturellen Gründe die Behauptung einer defizitären Repräsentationsstruktur tragen, um sodann Möglichkeiten zur Kompensation von Repräsentationsmängeln zu untersuchen. Hier steht im Mittelpunkt die Frage nach der legitimationstheoretischen Tragfähigkeit des Europäischen Parlaments als Organ. Dies ist gleichzeitig aber in Abgleich zu bringen mit Konstruktionsalternativen, die namentlich im Hinblick auf eine Stärkung von Partizipationsrechten mitgliedstaatlicher Parlamente diskutiert werden. Gezeigt werden soll, daß die Wahl zwischen beiden Konstruktionsmöglichkeiten keiner Beliebigkeit folgt, sondern aus dem Repräsentationsprinzip eine konstruktionslogische Notwendigkeit für das EP spricht.

a) Das Repräsentationsdefizit als Ausdruck zu starker Mediatisierung Hielt sich das Bestehen des EG-Primärrechts ungeachtet seiner unmittelbar innerstaatlichen Geltung10 im Rahmen klassischer völkerrechtlicher Rechtsbegründung, so wird mit der Delegation von Hoheitsgewalt auf zwischenstaatliche Organe zur mitgliedstaatsunabhängigen11 Wahrnehmung die geradlinigklassische Ableitungsstruktur vom innerstaatlichen Konstitutionszusammenhang nicht nur zusätzlich mediatisiert, sondern durch die dadurch entstehende 10

Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 891, 893, zur Geltung als Kennzeichen der Supranationalität; ebenso von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 61 ff. 11 Inwieweit von einer mitgliedstaatsunabhängigen Kompetenzausübung wirklich gesprochen werden kann, bleibt insofern fraglich, als die Europäische Union über keinen eigenen Bundeszwang zum Vollzug ihrer Rechtsetzung verfügt, sondern auf die Durchsetzung ihrer Rechtsakte durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist. Treffender erscheint insofern die die Wechselwirkung von mitgliedstaatlicher und gemeinschaftsrechtlicher Rechtsordnung veranschaulichende Terminologie als „quasiautonomer Rechtsordnung“ (Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 218 f.).

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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Konkurrenzsituation12 zweier Gewaltausübungsebenen13 auch in Teilen konterkariert: Das Repräsentationsverhältnis, das zunächst durch mittelbare Ableitung europarechtlicher Hoheitsmacht vom innerstaatlichen demokratischen Willensbildungsprozeß die Legitimität der so zustandekommenden Rechtsakte begründet, kann mit der zunehmenden Länge von Vermittlungsschritten an Kraft einbüßen, seine legitimatorische Kraft in der Divergenz einer immer größer werdenden Schere zwischen wachsender europäischer Kompetenzfülle einerseits und einer durch zu viele Zwischenschritte mediatisierten Repräsentationskonstruktion andererseits14 verwässern. Repräsentation ist nicht reduzierbar auf Willensdelegation15, sondern begründet einen der Willensableitung entsprechenden Modus des Verantwortens repräsentativer Entscheidungen gegenüber den Repräsentierten16. Gleichgültig, in welchen metaphorischen Einkleidungen repräsentationstheoretische Begründungsmodelle daherkommen, die die mittelbare Repräsentation der Bürger Europas durch die im Rat versammelten Regierungsrepräsentationen zu plausibilisieren versuchen: Diese Argumentationsansätze bleiben hinter dem im zweiten Kapitel dieser Untersuchung entwickelten Anforderungsprofil zurück. Sie versuchen aktuelle Verantwortlichkeit zu ersetzen durch Ableitung. Damit geht notwendig eine Entleerung dessen einher, was Legitimität von Recht ausmacht.

12

Gemeint ist hier keine konkurrierende Kompetenz im technischen Sinne, sondern die bloße faktische Situation geteilter Hoheitsausübungsmacht ohne ein bestimmtes Kompetenzabschichtungsprinzip. Das Diktum von der Mehrebenenorganisation erscheint in dieser Hinsicht ungenau, weil es eine prinzipiell strukturierte Verhältnisbestimmung der einzelnen Ebenen suggeriert und dadurch überdeckt, daß die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte mit ihrer quantitativen Ausdehnung zunehmend zu den staatsrechtlichen Formen in ein Verhältnis ungeordneter Interferenz getreten sind. 13 Zur Bedeutung des Verlustes an Gewaltausschließlichkeit für die Ausprägung eines supranationalen Verfassungsbegriffs von Bogdandy, in: ders., Die Europäische Option, 1993, S. 97 ff. 14 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585 ff.; für einen „Abschied von den Legitimationsketten“ daher auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 645. Überwiegend als Problem des Demokratieprinzips angesehen, handelt es sich hierbei um eine genuine Frage des vom Repräsentationsprinzip implizierten und vorausgesetzten aktuellen Verantwortlichkeitszusammenhangs zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. 15 Böckenförde, HdBStR, Band I, § 22, Rdnr. 11, 14 ff.: Repräsentation ist nicht leere Delegation; vgl. auch BVerfGE 89, 155, 185: „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig“. 16 Vgl. ausführlich oben, Kap. 2, III. 2.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Dieser Effekt wird dadurch noch verstärkt, daß das bisherige System der Kompetenzzuweisung auf die Organe der Gemeinschaften weniger das Prinzip einer Abgrenzung zweier konkurrierender Verbände verfolgt, sondern stärker auf den Aspekt der Ermächtigung abzielt und damit schon in seiner Perspektive nicht auf eine Kompetenzbalance, sondern – einseitiger – das Erstarken des supranationalen Verbunds hin ausgerichtet ist17. Ermächtigung und Kompetenzverteilung sind unterschiedliche regelungsfinale Anliegen. Daraus resultierende Kompetenzkonflikte zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft zu lösen war in der Vergangenheit nur selten Gegenstand der Befassung durch den EuGH18. Das mag unterschiedliche Ursachen haben, auf die in Teilen im Zusammenhang des fünften Kapitels zurückzukommen sein wird; es dokumentiert aber, daß die Verträge ihre Aufgabe einer normierenden Abgrenzung von Verbandskompetenzen auch unter Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Belange bislang nur unvollständig erfüllen19. Das rechtliche Teilsystem sekundärrechtlicher Handlungsformen der Europäischen Union ist deshalb im bloßen Verweis auf das konstruktive Bestehen einer – immer längeren – Legitimationskette mit Ausgangspunkt im demokratischen Parlament des Nationalstaates nicht mehr insgesamt zureichend aufgehoben.

17

Dazu im einzelnen unten, Kap. 5, II. 1. a).

18

So auch schon Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 327, dort ausf. Nachweise in Fn. 17-19; soweit ersichtlich, ist ein Gemeinschaftsrechtsakt erst in zwei Fällen wegen mangelnder Gemeinschaftskompetenz für nichtig erklärt worden, vgl. EuGH, Rs. 281, 283-285, 287/85, Slg. 1987, 3203, 3252; Rs. C-376/98, Slg. 2000, S. I-8419, 8532; vgl. dazu auch Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 652; zur Entwicklung der Kompetenzrechtsprechung des EuGH in jüngster Zeit jedoch zu Recht Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188. 19 In der gegenwärtigen Reformdiskussion ist dies weitgehend einhellige Meinung, vgl. Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866 ff.; Stoiber, Eckpunkte des europäischen Reformprozesses, europapolitische Grundsatzrede vom 8. 11. 2001, www.whi-berlin.de/stoiber.htm; Clement, Europa gestalten – nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach Nizza, www.whi-berlin.de/clement.htm; a.A. allerdings wohl von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 458: „Es gibt bei der Struktur der Verbandskompetenzen keine Defizite“.

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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b) Defizitäre Einbeziehungsintensität Ein weiterer Hauptgrund liegt in der vom Repräsentationsprinzip im dargelegten Sinne geforderten Einbeziehungsintensität. Repräsentation setzt nicht allein einen „idealen Kreations- und Zurechnungsmodus“20, sondern vielmehr das Bestehen eines aktuellen Verantwortlichkeitszusammenhanges voraus, der die Rechtsakte als Ausdruck fortwährend-permanenter Autorisation der rechtsetzenden Organe durch das Volk ausweist21. Mangelnde Verstetigung von Inklusionsoptionen führt sonst dazu, daß die in Frage stehenden Rechtsakte zwar auf die Rechtsadressaten noch konstruktiv rückführbar sind, diese sich in ihnen aber nicht mehr mit hinreichender Unmittelbarkeit wiederfinden. Bloße Ableitung impliziert keine Autorenschaft22. Die kompetenzielle Zuordnung von Wahrnehmungsberechtigungen zum Rechtssetzungssystem der Europäischen Union steht deshalb unter dem Vorbehalt, daß entweder die Grenzen des Legitimationsvermögens mitgliedstaatlich deduzierter Repräsentation eingehalten werden oder aber eine originäre „europademokratische“ Legitimierung möglich ist; andernfalls verfällt sie der Illegitimität. Da nun Legitimität freilich, wie gezeigt, kein exaktes „binäres“ Kriterium ist, das entweder verwirklicht ist oder nicht, sondern mit der repräsentationsbedingten Autorisierung von Rechtsnormen ein Element enthält, das einer Abstufung nach unterschiedlichen Intensitätsgraden zugänglich ist, läßt sich nicht apriori und randscharf angeben, wo die Grenzen einer staatsrechtlich radizierten Repräsentation auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene zu finden sind. Im vorliegenden Kapitel23 werden jedoch Maßstäbe entwickelt, anhand derer differenzierbar ist, in welcher Hinsicht der status quo der Sekundärrechtsetzung in der Gemeinschaft legitimationsprinzipiellen Anforderungen genügt und in welcher nicht. Der Integrationsfortschritt hat überdies ohnehin mit einer gewissen Evidenz deutlich gemacht, daß die Sekundärrechtsetzung als solche jedenfalls dort, wo Inhalte von materiellem Gesetzesrang geregelt werden, durch Hinweis auf die demokratische Legitimiertheit der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat nicht mehr ausreichend gerechtfertigt ist24. Ein anderer 20

So Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 426, in bezug auf den substantiellen Gehalt des Demokratieprinzips. 21 Hierauf bezogen auch Böckenförde, HdBStR, Band I, § 22, Rdnr. 11, 14 ff. 22 Vgl. dazu auch kritisch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 103: Allein die Ableitung vom Wahlakt begründe keine demokratische Legitimität; ebenso Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR Band I, § 23, S. 970. 23 s. u., Kap. 4, III. 5. 24 Vgl. hierzu bereits Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 12; Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Mechanismus der Legitimationsvermittlung muß dann zumindest ergänzend hinzutreten. Die Umsetzung des legitimatorischen Intensitätsgrades in konkreten Mitwirkungsoptionen des EP im einzelnen ist im Zusammenhang mit dem Kompetenzverteilungsvorschlag des letzten Kapitels darzustellen. Logisch vorrangig ist jedoch zu klären, inwieweit die Union der Ausprägung eigener Legitimitätsquellen überhaupt fähig und bedürftig ist.

c) Diffuser Subjektsbezug als Grund defizitärer Repräsentativität Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Grund besteht in der unzulänglichen Vergewisserung über die Zurechnungssubjekte verwirklichter Repräsentation. Nach der herrschenden Auffassung wird ausschließlich das nationale Parlament als Träger unmittelbarer demokratischer Legitimation, der Rat hingegen als mittelbar demokratische Legitimationsquelle aufgefaßt; dem EP fällt nach dieser Kategorisierung eine nicht näher bestimmbare legitimatorische Ergänzungsfunktion eigener Art zu, die keinen gleichgewichtigen Rang zu den beiden vorgenannten Legitimationsquellen bekleidet. Zwischen parlamentsradizierter und ratsvermittelter Legitimation besteht demzufolge ein Unterschied (insofern, als die unmittelbare demokratische Legitimation der mittelbaren vorzuziehen ist), jedoch kein qualitativer (insofern, als beide Organe demokratische Legitimation vermitteln). Defizite einer über den Rat vermittelten demokratischen Repräsentation gemessen am Umfang der übernommenen Rechtsetzungsaufgaben sind nicht ausschließlich Resultat zu starker Mediatisierung, sondern auch Resultat mangelnder Differenzierung der Kategorien demokratischer Legitimation und Funktion. Diese findet ihren Niederschlag in der unzureichenden Durchdringung der Frage, weshalb mit der Besetzung eines Gremiums wie dem Rat mit demokratisch legitimierten Mitgliedern per se auch eine mittelbare demokratische Legitimation der von diesem mitverantworteten Rechtsakte einhergeht. Daß der Rat als mit (demokratisch gewählten) Vertretern der Mitgliedstaaten besetztes Gemeinschaftsorgan den von ihm erlassenen Rechtsakten Träger einer vermittelten demokratischen Legitimität ist, versteht sich ungeachtet der Einhelligkeit einer solchen Betrachtung in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur25 nicht von selbst. Außerdem ist diese These von der vermittelten demokratischen Repräsentation zu undifferenziert, um sich als 36 (1978), S. 65 ff.; Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 1978, S. 27 ff.; diese Befundlage verstärkt sich mit der Ausweitung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens in solchen Bereichen zusätzlich; repräsentationsprinzipiell zu diesem Problemkomplex unten, Kap. 5, VI. 25 Von Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 79, sogar als communis opinio bezeichnet.

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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materiale Ausfüllung des Verfassungsprinzips der Komplementarität zu eignen. Folglich hängt die Organbalance von EP und Rat nicht nur von der Unmittelbarkeit von Repräsentationsstrukturen, sondern auch von der Differenzierung nach den Zurechnungssubjekten ab. Dies geht mit einer weitgehenden Verabschiedung des Paradigmas einer wesentlich ratsvermittelten demokratischen Legitimation der Europäischen Union einher.

2. Bisherige Argumentationsansätze im Umgang mit dem Befund eines Legitimitätsdefizits Fraglich ist der Umgang mit der skizzierten Befundlage legitimatorischer Unzulänglichkeit. Während in der Anfangszeit der Europäischen Gemeinschaften die Legitimationsfrage in bezug auf diese kaum überhaupt thematisch wurde26, hat es in der rechtswissenschaftlichen Diskussion schon seit den 70er Jahren nicht an Argumentationsansätzen gefehlt, die etwaige Legitimationsdefizite als den Eigenheiten des europäischen Integrationsprozesses geschuldet und deshalb als hinnehmbar ausweisen wollen.

a) Funktionalistische Rechtfertigung als Ausdruck subpolitischer Entscheidungsgegenstände Nach der funktionalistischen Betrachtungsweise verkörpert die Europäische Union im Anschluß an die schon klassisch gewordene Formulierung H. P. Ipsens einen „Zweckverband funktioneller Integration“27. In Abgrenzung zu einem von einer politischen Identität getragenen Verband kennzeichnet sie zum einen ihr auf eine sektoral begrenzte Zwecksetzung bezogener, bloß instrumenteller Charakter28; zum anderen der mit dieser Zweckbezogenheit einhergehende Mangel an Determiniertheit für eine bestimmte Rechtsform: Das leitende Paradigma der Legitimation eines an der überlegenen Funktionalität der Bewältigung sozialer und wirtschaftlicher Aufgaben ausgerichteten Verbandes ist 26

Vgl. etwa H. P. Ipsen/Nicolaysen, Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1964, S. 961-967 (965); H. P. Ipsen, VVDStRL 1960, S. 86 f.; ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 72 f. 27 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 8, 24 ff., S. 196 ff.; vgl. Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 11 ff. 28 Ob die Gegenübersetzung zum „Gefühlsverband“ (H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 197, vgl. K. Doehring, FS Forsthoff 1967, S. 105, 131) den Staat angemessen kennzeichnet und das criterium distinctionis zutreffend bestimmt, erscheint zweifelhaft, bedarf aber in diesem Zusammenhang keiner Vertiefung.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

nicht die repräsentative Strukturierung seiner Willensbildungsprozesse, sondern deren Aufgabenadäquanz29. Es ist dargelegt worden, daß das funktionalistische Paradigma allenfalls für den integrativen Frühstatus der 60er Jahre, nicht aber für die Europäische Union in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand einen tauglichen Legitimationsrahmen vermitteln kann30. Angesichts der Veränderungen durch die Reformkonferenzen seit Maastricht ist der supranationale Verband der Europäischen Union durch die Zweckverbandsthese rechtstatsächlich nicht mehr angemessen gekennzeichnet31. Bereits der europäische Bürgerstatus seiner Individuen, seine stark ausgeprägte normenhierarchische Differenzierung, die in dem Verfassungskonvent eine zusätzliche Verdeutlichung erfährt, sowie sein fortschreitend weitergefächertes Kompetenzspektrum, das auch souveränitätssensible Materien umfaßt32, dokumentieren vielmehr eine zunehmend zur politischen Ganzheit hin ausdifferenzierte Teilordnung33, die das Mehrebenengefüge selbständig mitgestaltet. Der funktionalistische Ansatz liefert daher eine fortbestehend gültige Argumentation nur darin, daß er die Erschließung des übergeordneten gemeinschaftsrechtlichen Regelungszugriffs als solchen plausibilisiert. Er plausibilisiert hingegen nicht den Fortbestand von Defiziten in der Willensbildungsstruktur. Legitimität im Geiste der Argumentation von H. P. Ipsen kann deshalb nur in der Form überzeugen, daß die spezifisch gemeinschaftliche Perspektive ein Regelsetzungs- und damit Problemlösungsvermögen eröffnet, welches isolierter mitgliedstaatlicher Befassung jedenfalls in dieser Form nicht zugänglich ist34, ohne dadurch aber die Untersuchung der Bedingungen legiti-

29

Vgl. in bezug auf H. P. Ipsen Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 177. 30 Oben, Kap. 2, I. 4. b)/c). 31 Zweifelnd auch Marcel Kaufmann (Fn. 29), S. 484: Die Verfassungsstruktur der Europäischen Union entspreche nicht dem funktionalistischen Paradigma; zur „politischen Union“ auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 179. 32 Den Höhepunkt markieren diesbezüglich möglicherweise die Bestrebungen zur Etablierung einer europäischen Rechtsetzungskompetenz im Bereich des materiellen Strafrechts, vgl. dazu den Schlußbericht der Gruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ des Verfassungskonvents vom 2. Dezember 2002, Dok. CONV 426/02, S. 9. 33 Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 74: Entwicklung zur „politischen Union“; so auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 179. 34 Zur überlegenen Steuerungsmacht supranationaler Rechtsetzung angesihts eines abnehmenden nationalen Regelungs- und Kontrolleinflusses vgl. etwa Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999. Allgemein kritisch gegenüber dem Steuerungsvermögen der überkommenen Rechtsform des parlamentarischen Gesetzes statt vieler Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, S. 27, 37.

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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mitätsorientierter Willensbildung innerhalb derselben überflüssig zu machen. Diese vermittelte Position, die die Eigenständigkeit des Problemlösungsvermögens eines supranationalen Rechtsetzungsverbundes zuerkennt, ohne hiermit einen Dispens vom Erfordernis autonomiekonformer Willensbildungsstrukturen zu verbinden, reflektiert etwa die Formulierung von Pernice: „Die Europäische Union legitimiert sich als besseres Mittel zur Bewältigung bestimmter Gemeinwohlaufgaben, die auf der staatlichen Ebene mangels Handlungsfähigkeit oder Einfluß nicht effizient wahrgenommen werden kann“35. Die Hinnahme defizienter Repräsentationsstrukturen läßt sich aus einer so verstandenen Funktionalismusreferenz hingegen nicht ableiten.

b) Existente repräsentationsorientierte Ansätze Geht man folglich aus den genannten Gründen diesen Weg der Rechtfertigung von Legitimitätsdefiziten nicht, sondern nimmt man legitimatorisches Anliegen und konstruktive Notwendigkeit der Fortentwicklung der EU als gegenläufige und eines wechselseitigen Ausgleichs bedürftige Faktoren ernst, so wirft die mediationsbedingte Überforderung der innerstaatlich angelegten Repräsentationskette die Frage nach einer Effektuierung von Partizipation gerade im europäischen Vermittlungskontext auf. Verschiedene Ansätze der neueren Literatur zu diesem Thema weisen tragfähige Teilmomente zunächst einer Annäherung an das so verstandene Legitimationsprofil auf. So wird für das Gemeinschaftsrecht nahezu einhellig die Zweigleisigkeit des Legitimationsprofils betont36. Die Terminologie ist hingegen durchaus vielfältig. Unterschieden wird etwa zwischen originärer und derivativer Verwirklichung des Demokratieprinzips bzw. zwischen unitarischer und plural-territorialer Legitimationsbasis37; eine andere Begrifflichkeit differenziert die Legitimität des europäischen Integrationskonzepts nach den Elementen individuenbezogener und staatenbezogener

35

Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, FCE Spezial vom 6. Juli 2000, S. 3 (= JZ 2000, S. 866 ff.). 36 Vgl. statt vieler nur Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 207: „doppelt demokratisch legitimiert“; ebenso Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der demokratischen Legitimation der Europäischen Union, EuR 1999, S. 133 ff.; Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 87: doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union unitarisch über das EP, plural-territorial über die Vertreter der Regierungen im Rat vermittelt. 37 Kluth (Fn. 36), S. 78 f., 87.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Legitimation38. Insgesamt wird wohl einheitlich beurteilt, daß diese „duale Legitimationsbasis“39 eine Konkurrenzsituation von Legitimationsmechanismen beinhaltet, welche unterschiedlich angelegt sind und eine unterschiedliche Akzentsetzung im Ableitungsbezug entweder auf die Mitgliedstaaten (und damit mittelbar auf deren Bürger) oder aber unmittelbar auf die Bürger Europas verwirklicht40. An ihnen ist zutreffend, daß die Legitimationsvermittlung europäischer Integration rechtspraktisch zunehmend durch Versuche der Institutionalisierung des Europäischen Parlaments als demokratisch legitimiertem Entscheidungsträger ergänzt wird, bezogen auf die den Bürgern Europas direkte Partizipationsmöglichkeiten eingeräumt werden, und sich auf diese Weise das Konkurrenzverhältnis zwischen den Legitimationssträngen des innerstaatlichen Parlamentarismus einerseits und des europäischen „sui-generis-Parlamentarismus“ andererseits41 zusehends zugunsten des EP verschiebt42. Dies ist zumindest der faktische Befund zur – unten im einzelnen darzulegenden – Modifikation der 38 Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 145, 146. Diese Begrifflichkeit ist allerdings nur unter der Bedingung hinnehmbar, daß individuenbezogene und staatenbezogene Legitimität nicht als gleichursprünglich unterstellt, sondern in ihrem kategorialen Verwirklichungsgehalt am Wesen der Komplementärverfassung ausgerichtet werden. Sog. staatenbezogene Legitimität als Chiffre für den mitgliedstaatlich vermittelten, aber hier gleichermaßen individualistisch radizierten (weil der Volkssouveränität entspringenden) Repräsentationsmechanismus erscheint als unangemessene Vermischung der repräsentativen Subjektsbezüge, vgl. dazu ausf. unten III. 39 M. Rainer Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Staatswerdung Europas?, 1991, S. 23; vgl. auch die oben, Fn. 36 genannten Beiträge. 40 Vgl. etwa Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union, EuR 1999, S. 133 ff.; ablehnend gegenüber diesem Institutionengefüge des lege ferenda aber Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 566. 41 Beiträge aus der Diskussion um das Verhältnis von Rat als Hauptrechtsetzungsorgan und EP: Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 9 ff.; Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVBl. 1964, S. 781, 784; Scheuner, Bestandsaufnahme und Prognose zur Fortentwicklung des Europäischen Parlaments, ZParl. 1972, S. 496, 500; von Simson, Wachstumsprobleme einer europäischen Verfassung, FS Kutscher 1981, S. 481 ff.; neuerdings Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 87 ff.; vgl. auch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 444: Legitimation des Parlaments durch eine personelle Legitimationsform eigener Art. 42 Auch Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der HumboldtUniversität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm, S. 3, betont, daß es Parlamente weiten Sinnes auf allen Ebenen gebe, entscheidend aber die Betrachtung ihrer Bedeutung sei.

I. Repräsentationsdefizit durch europäische Mehrebenenarchitektur

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Willensbildungsstrukturen im europäischen Rechtsetzungsprozeß durch die Vertragsrevisionen von Maastricht, Amsterdam und Nizza. Der abstrakte Befund zweier Legitimationsmechanismen ist indes für die Legitimationsfrage nicht aufschlußreich. Weder die Existenz des EP als solche noch seine zunehmende Einbeziehung in die Rechtsetzungspraxis der Europäischen Union implizieren Legitimität. Ein handlungsformorientierter Kompetenzverteilungsvorschlag muß vielmehr die rechtskonstruktive Belastbarkeit beider Legitimationsstränge bestimmen und ausweisen, welches Maß an praktischer Aktualität im Rechtssetzungsverfahren ihm zukommen muß, um die legitimatorische Begründungsanforderung für das Sekundärrecht tragen zu können. Die abstrakte Bestimmung, was legitimatorisch an Partizipationsmöglichkeiten geboten ist, ist dann kritisch auf den in der tatsächlichen Ausgestaltung der Entscheidungsstrukturen stattfindenden Partizipationsumfang zu beziehen. Konkret: Nicht das Bestehen originär europäischer Inklusionsansätze für sich43, sondern deren Umsetzung in den Rechtsetzungsverfahren, das Maß konkreter Beteiligung europäischer Repräsentationsorgane ist der entscheidende Schlüssel zur handlungsformorientierten Kompetenzverteilung. Repräsentation wurde im zweiten Kapitel als Prozeß konstruktiver Vergegenwärtigung der im Rechtsetzungsprozeß in actu nicht beteiligten Adressaten durch die Autorisierung von Repräsentanten gekennzeichnet44. Das Repräsentationsprinzip muß diesen doppelten Adressatenbezug in der Form zur Geltung bringen, daß es in der Gestaltung von Inklusionsmechanismen beiden Subjektstypen Partizipationsmöglichkeiten einräumt, die ihrer jeweiligen Repräsentationsbedürftigkeit entsprechen. Während die Repräsentation des Bürgers als Rechtsadressat ein rechtsprinzipieller Selbstzweck ist45, dient die Repräsentation der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ im Rechtsetzungsprozeß der Wahrung ihrer Staatlichkeit und stellt sich so als Institutionalisierungsprinzip dar, durch das qua Partizipation am Entscheidungsfindungsprozeß das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit auch für die sekundärrechtliche Normenproduktion fortgeführt wird, die Staatswerdung der Europäischen Union zugleich ausgeschlossen wird. Diese Fragestellung erfordert folglich die Bestimmung eines angemessenen Gewichtungsverhältnisses zwischen dem Rat als Repräsentationsgremium der Mitgliedstaaten und dem EP als konkurrierendem unmittelbarem Repräsentationsorgan der in der Europäischen Union vereinigten Völker

43 Vgl. auch M. Rainer Lepsius (Fn. 39), S. 22: Es gehe nicht um eine bloße Reform der Institutionenordnung, sondern um eine Vermittlung zwischen unterschiedlichen Legitimitätsprinzipien. 44

s.o., Kap. 2, III. 2.

45

Insoweit zutreffend Anne Peters (Fn. 40), S. 563.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

und der sie konstituierenden Individualsubjekte. Hierfür wird zunächst eine abstrakte, die Anwendungs- und Umsetzungsverhältnisse noch ausblendende Untersuchung notwendig, welche Möglichkeiten und Grenzen zur Verwirklichung repräsentationsorientierter Legislativherrschaft in der Europäischen Union aus dem Prinzip folgen. Zweitens verlangt es die Betrachtung der dem Europäischen Parlament de lege lata zukommenden Partizipation an der europäischen Rechtssetzung unter der Fragestellung, ob diese einem substantiellen demokratischen Legitimierungsanspruch gerecht zu werden vermag. Die undifferenzierte Gleichung, die eine Stärkung des Europäischen Parlaments generell mit einem Legitimitätszuwachs gleichsetzt46, ist unzutreffend47, weil sie das föderale Verteilungsgleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das implizierte, auch demokratietheoretisch aufgeladene Konkurrenzverhältnis der Repräsentationsorgane nicht zur Geltung bringt. Hiermit ist gleichzeitig die Klarstellung verbunden, inwieweit die repräsentationsakzentuierte Betrachtungsweise zu einer spezifischen Betrachtungsdifferenz gegenüber der allgemeinen Frage nach dem Demokratiedefizit in der Europäischen Union verbunden ist. Drittens sind etwaige Unzulänglichkeiten der Ausgestaltung geltenden Rechts mit Modifikationsvorschlägen zu versehen, die den rechtsprinzipiellen Forderungen von Autonomieableitung und Demokratiegebot Rechnung tragen. Dies ist Aufgabe des vorliegenden Kapitels.

II. Kompensatorischer Charakter als Wesensmerkmal der dualen Repräsentationskonzeption Das duale Repräsentationsgefüge, das als Willensbildungsprinzip des supranationalen Sekundärrechts dem Prinzip der Komplementärverfassung Rechnung trägt, hat einen kompensatorischen Charakter. In ihm manifestiert sich die konstruktive Reaktion auf den nationalparlamentarischen Verlust von Steuerungsmacht, der mit der Ermächtigung des supranationalen Verbundes einher46 In diese Richtung gehen verständlicherweise die politischen Erklärungen des EP selbst; exemplarisch etwa Resolution des EP vom 13.4.2000, www.europarl.eu.int/ igc2000/offdoc/en/offdoc0_0.htm.; kritisch gegenüber Möglichkeiten „ergänzender Legitimationsvermittlung durch das Europäische Parlament“ demgegenüber Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 466. 47 Kritisch hiergegen auch Marcel Kaufmann (Fn. 46), S. 279 m.w.N.; vgl. auch die Bestandsaufnahme der Konventspräsidiums „Die Rechtsakte – Das gegenwärtige System“ Dok. CONV 162/02, S. 3, in der auf die fehlende Definition der europäischen Legislative und die nach dem angewendeten Verfahren differenzierten Formen der Organbeteiligung hingewiesen wird.

II. Kompensatorischer Charakter der dualen Repräsentation

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geht48. Dies geschieht durch die Verteilung von Aufgaben, die im innerstaatlichen Verfassungszusammenhang konvergent beim nationalen Parlament liegen, auf unterschiedliche Organe des supranationalen Gefüges. Die Verteilung folgt zwei gegenläufigen Notwendigkeiten. Ein System supranationaler Rechtsetzung ist auf die Ausprägung von Willensbildungsmechanismen angewiesen, die in ihrem legitimationsvermittelnden Vermögen dem nationalen Parlamentarismus äquivalent erscheinen; eine bloß funktionalistische Rechtfertigung verbietet sich aufgrund des politischen Charakters der supranational gefällten Entscheidungen. Gleichzeitig ist der naheliegende Ausweg einer staatsanalogen Parlamentarisierung des supranationalen Willensbildungsprozesses versagt, weil mit ihm ein Widerspruch zum fortbestehenden Suprematieanspruch der Nationalparlamente und damit zum Prinzip der Komplementärverfaßtheit insgesamt verbunden wäre. Nationalparlamente erfüllen eine doppelte Funktion: Sie sind – aus der Perspektive der durch sie repräsentierten Individuen, die gemeinsam ein Volk konstituieren – organisatorische Manifestation ihrer Rechtsherrschaft in einem repräsentativen Modell49; gleichzeitig sind sie in staatsreflexiver Perspektive als zentrales Rechtssetzungsorgan Inbegriff staatlicher Handlungsfähigkeit und damit staatlicher Selbstbestimmungsmacht. Beide Dimensionen zeichnen sich durch einen unmittelbaren Bezug zu den substantiellen legitimationstheoretischen Grundlagen von Recht überhaupt aus und verkörpern in diesem Sinne Unverfügbarkeiten, deren Fortbestand in wenn auch modifizierter Weise im Integrationsprozeß zu gewährleisten sind; gleichzeitig sind diese Dimensionen im supranationalen Verbund nicht in einem einzigen Organ zu verwirklichen. Dies bedingt eine Aufspaltung von Repräsentationsaufgaben auf den Rat und auf das EP. Beide Organe haben einen aufwiegenden Charakter im Hinblick auf einen vorausgesetzten Verlust unmittelbarer Beteiligungsmacht der durch sie repräsentierten Subjekte. Mit der durch den Rat vermittelten Staatenrepräsentation wird ein Element der Wiedergewinnung eingebüßter unmittelbarer staatlicher Selbstbestimmungsmacht verwirklicht. Die Beteiligung der Staaten am supranationalen Willensbildungsprozeß gewährleistet, die erfolgte Delegation von Hoheitsge-

48 Dazu Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2001, S. 14, m.w.N.; Jost Delbrück, Globalization of Law, Politics and Markets – Implications for Domestic Law. A European Perspective, Indiana Journal of Global Legal Studies 1993, S. 9; Scharpf, Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, 1997; vgl. bereits oben, Kap. 1, I. 49 Vgl. zu den Parlamentsrechten im deutschen Staat etwa Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 20 II, Rdnr. 81-81; Stern, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1980, § 26, II 2, benennt insbesondere Wahl- und Kreationsfunktion, Kontrollfunktion ggü. der Exekutive, Gesetzgebungs-, Budget-, und Zustimungsfunktion sowie Repräsentationsfunktion als zentrale Parlamentsrechte.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

walt nicht als Entäußerung, sondern affirmativ als Strategie der staatlichen Selbsterweiterung identifizieren zu können. Die durch das EP zu vermittelnde individualsubjektive Repräsentation der Bürger Europas trägt hingegen der rechtsprinzipiell fortbestehenden Anforderung einer möglichst unvermittelten Inklusion der aktuell von einer Normsetzungsentscheidung Betroffenen in diesen Entscheidungsprozeß Rechnung und kompensiert deshalb für die Bürger Europas den Umstand, daß die Delegation von den Nationalparlamenten substantielle Teile ihres Entscheidungssubstrats entzieht und damit den zentralen staatlich-demokratischen Partizipationsmechanismus der Wahl nach Art. 20, 38 GG in Teilen leerlaufen läßt, durch Einräumung einer neuen, originär supranationalen und auf eine genuin europäische Normsetzungsperspektive ausgerichteten Partizipation. Beide Elemente bringen den Umstand einer auch im supranationalen Verbund fortbestehenden Primarität50 des Staates für rechtliche Selbstbestimmung zur Geltung; beide verhalten sich kritisch gegenüber Vereinseitigungen, die entweder dem Rat oder dem EP eine legitimatorische Präponderanz zuerkennen wollen, und weichen zugleich in nicht unerheblichem Maße von der herrschenden Vorstellung zur europäischen Legitimationsarchitektur ab.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates im dualen Repräsentationsgefüge

1. Der Legitimationsdualismus der supranationalen Ordnung nach der herrschenden Meinung Die herrschende rechtswissenschaftliche Interpretation des an der Sekundärrechtsetzung beteiligten supranationalen Organgefüges beruht auf einem Legitimationsverständnis, das dem Demokratieprinzip die zentrale Bedeutung zuweist51 und sich insofern von dem im zweiten Kapitel entwickelten repräsentationstheoretischen Ansatz unterscheidet. Von diesem Ausgangspunkt leitet sich auch eine divergente Betrachtung der Funktionen von Rat und Parlament ab. 50

Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 347 ff. 51 So die Abhandlungen von Marcel Kaufmann (Fn. 46), sowie – wenn auch im Befund abweichend – Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995; Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S.627 ff.; Kirchhof, in: Hommelhoff/ders., Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 14 ff.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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Das Spektrum vertretener Meinungen in der Institutionenanalyse des supranationalen Organisationsgefüges ist insbesondere im Hinblick auf Fortentwicklungsoptionen vielfältig. Auf der einen Seite bestehen stark parlamentarisierungsbezogene Ansätze, die die Etablierung von originär gemeinschaftlichen Demokratisierungsmöglichkeiten, namentlich durch ein Erstarken des EP, für wünschenswert halten und als weithin unproblematisch voraussetzen52. Diese Betrachtung tendiert zu einer Befürwortung der Stärkung des Europäischen Parlaments im Gleichschritt mit der fortschreitenden Kompetenzerweiterung der Europäischen Union53. Auf der anderen Seite bestehen sehr zurückhaltende Auffassungen, die für eine weitgehende Beibehaltung der bisherigen Organbalance wenigstens dem Grunde nach eintreten und die Rolle des EP eher skeptisch beurteilen. Das letztere Verständnis ist einmal maßgebend mitgeprägt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Legitimität der Europäischen Union davon abhänge, „daß eine vom Volk [d.h. dem deutschen Volk als Zurechnungssubjekt, F.S.] ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist“54 und dementsprechend „demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“ erfolgt55. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, daß der Rat de lege lata nach wie vor das Hauptrechtsetzungsorgan der Europäischen Union darstellt und der von ihm ausgehenden Legitimation der supranationalen Ordnung dadurch das konstruktive Hauptgewicht zufällt56. Das herrschende Verständnis sieht den Rat als mittelbar demokratisch legitimiertes Organ und die Europäische Union durch das Wirken des Rates als Organ insgesamt primär mittelbar demokratisch

52 Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 116; Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 629: Mitgliedstaaten seien Demokratien und auch die Europäische Integration solle in ein derartiges System münden; kritisch demgegenüber Marcel Kaufmann (Fn. 46), S. 277: Ein Erstarken der EP-Kompetenzen stünde in der Gefahr, die mitgliedstaatliche Basis als Konstitutionsprinzip des Staatenverbundes zu tangieren. 53 Vorsichtig Kluth (Fn. 51), S. 90 ff.; vgl. Uhrig (Fn. 52), S. 116; Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 630. 54 BVerfGE 89, 155, 184 – Maastricht. 55 BVerfGE 89, 155, 185. 56 Kluth (Fn. 51), S. 71; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 672.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

legitimiert57. Di Fabio etwa konstatiert eine fortbestehende Zentralstellung der nationalen Parlamente aufgrund ihrer Eigenschaft als Repräsentationsorgane des Volkes58, auf die sich die Mehrebenendemokratie in unterschiedlichen Formen demokratischer Legitimation „unmittelbarer und mittelbarer Art“59 letztlich zurückbeziehe; gleichzeitig konstatiert er, die „Europäische Union [sei] mittelbar und heute wohl noch durchaus kräftiger legitimiert durch die verbundenen demokratischen Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten“60. Nach Auffassung von Pernice erweist sich die demokratische Legitimation der Europäischen Union wesentlich vermittelt durch die nationalparlamentarisch radizierte, personelle Legitimation der im Rat vertretenen Exekutivvertreter61. Andererseits entspricht es einer mit der zunehmenden Bedeutung des EP tradierten Übereinstimmung, daß die beiden Legitimationsstränge des Europäischen Institutionengefüges nach dem Kriterium der Mittelbarkeit zu differenzieren seien62.

2. Charakteristika und Defizite des Demokratiebezugs im supranationalen Zusammenhang Diese demokratiezentrierte Betrachtungsweise der herrschenden Auffassung, unabhängig von Unterschieden in der Bewertung der Position des EP de lege lata und de lege ferenda, beruht auf der bereits im zweiten Kapitel herausgearbeiteten Beurteilung von Legitimation nach dem Verwirklichungsgrad des Demokratieprinzips. Die demokratieorientierte Betrachtungsweise grenzt sich kritisch von funktionalistischen Paradigmen durch ein rechtsprinzipiell zustimmungswürdiges Festhalten am Erfordernis einer durch Partizipation vermittelten Legitimität ab; sie rezipiert jedoch das Demokratieprinzip als ganzes, mit allen seinen vorrechtlichen Verwirklichungsbedingungen, staatsverfassungsrechtlichen Bedeutungsnuancen und Ambivalenzen im Bezugsgegenstand, als einheitliche Bedeutungsanforderung an den supranationalen Organisationskontext. 57 Insbesondere Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm. 58 Di Fabio (Fn. 57), S. 6 ff. 59 Di Fabio (Fn. 57), S. 9. 60 Di Fabio (Fn. 57), S. 13. 61 Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01, S. 5. 62 So etwa Kluth (Fn. 51), S. 87: unitarische und plural-territoriale Legitimationsbasis; ähnlich in der Betonung der Zweigliedrigkeit Marcel Kaufmann (Fn. 46), S. 347; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 145 ff.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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In dieser Hinsicht steht die am Demokratieprinzip orientierte herrschende Auffassung in der Gefahr einer Überforderung. Mit ihr geht eine Implementation aller im Demokratieprinzip enthaltenen Unschärfen in die konkrete Frage nach einer angemessenen supranationalen Legitimationsstruktur einher. Schon das Fehlen eines europäischen Volkes der herrschenden Ansicht nach bedingt einen erheblichen Rechtfertigungsaufwand für die Applikation des Demokratieprinzips auf die Europäische Union; auch erfährt mit der Konzentration auf das Demokratieprinzip die Frage nach dem Maß unablösbaren Staatsbezugs staatsrechtsentstammender Kategorien, die bereits im Bezug auf den Verfassungsbegriff thematisch war, eine die konstruktive Problemlösung nicht erleichternde Wiederkehr. Die vielfältigen Facetten der Diskussion um den möglichen Umfang von Demokratie in der Union bedürfen deshalb einer aus dem Thema der Untersuchung folgenden Einschränkung, die bereits in der Prinzipiengrundlegung des zweiten Kapitels angelegt ist und im wesentlichen auf die Konsequenz hinausläuft, die Aufgabe der Schaffung legitimationstheoretisch angemessener Strukturen repräsentationstheoretisch anstatt demokratietheoretisch zu begreifen. Das schließt allerdings die Notwendigkeit nicht aus, im Rahmen des Legitimationsgehaltes eines durch das EP vermittelten Repräsentation63 sich der Frage zu vergewissern, wie dies mit herrschenden demokratieprinzipiellen Anforderungen in Abgleich zu bringen ist.

a) Doppelbezug des Demokratieprinzips Das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Demokratieprinzip in seiner Gänze differenziert sich aus in Einzelproblemen jenseits der Frage nach legislativen Legitimationsstrukturen64. Der positivrechtliche Verortungspunkt des Demokratieprinzips ist zunächst ein doppelter, diversifiziert nach mitgliedstaatlich verfassungsrechtlichen Vorgaben einerseits sowie gemeinschaftsrechtlichen Binnengeboten andererseits65. Aus dieser Aufteilung folgt auch eine unterschiedliche juristische Funktions- und Aussagebedeutung des Demokratieprinzips bezogen auf den jeweiligen Kontext in Abhängigkeit von dieser Ableitung.

63

Dazu unten, Kap. 4, IV.

64

Ausführliche Darstellungen dieser Fragestellung: Marcel Kaufmann (Fn. 46); Kluth (Fn. 51). 65 Unabhängig davon, ob es sich nun um ein Strukturprinzip oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

aa) Demokratieprinzip als staatsrechtliches Prinzip Die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten statuieren, indem sie wie die Bundesrepublik in Art. 20, 38 GG Demokratie als Staatsstrukturprinzip ausgeprägt haben, kein universales demokratisches Konzept, sondern artikulieren – ihrer Eigenschaft als Staatsverfassung entsprechend – eine Anforderung an die nationale Willensbildung66. In der Applikation auf das europäische Institutionengefüge bewährt sich das mitgliedstaatliche Demokratieprinzip primär als umfassendes Gebot zur Ausprägung von Unionsstrukturen, die den staatsverfassungsrechtlichen Bestand wahren. Aus dieser staatsrechtlichen Betrachtungsperspektive stellt sich die demokratische Frage in erster Linie als Problem der Bewahrung unveräußerlicher Parlamentskompetenzen im Staat; die Frage nach den Inklusionsmechanismen der gemeinschaftlichen Rechtsetzungsprozesse, soweit diese einmal transferiert sind, bleibt gegenüber der Frage nach der Zulässigkeit und Legitimität des Delegationsaktes weitgehend untergeordnet. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Einrichtungen kann mit für das demokratische Repräsentationsverhältnis des innerstaatlichen Rechts abträglichen Effekten einhergehen67. Die integrationsoffene Ausgestaltung nationaler Verfassungsordnungen – im Grundgesetz an Art. 23, 24 GG sowie an der Präambel erkennbar und durch die Neufassung des Art. 23 GG verfassungsfinal auf den europäischen Integrationsprozeß ab dem Vertrag von Maastricht orientiert68 – impliziert eine Ermächtigung zur Modifikation der innerstaatlichen Strukturprinzipien, erlaubt wenigstens zu einem gewissen Maße das Überlagern der Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG (für die Länder in Verbindung mit Art. 28 I GG) durch das Bemühen, für die spezifischen Entscheidungsfindungsnotwendigkeiten zwischenstaatlicher Einrichtungen strukturangemessene Rechtsformen zu finden69. Mit anderen Worten: Aus der

66

Vgl. Marcel Kaufmann (Fn. 46), S. 414 ff. Vgl. BVerfGE 89, 155, 2. Leitsatz: „Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. […]“. Ausführlich zum Verhältnis des Bekenntnisses zu integrierter Staatlichkeit einerseits und den Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit andererseits Marcel Kaufmann, Integrierte Staatlichkeit als Staatsstrukturprinzip, JZ 1999, S. 814 ff. 68 Dazu etwa Schede, Bundesrat und Europäische Union: die Beteiligung des Bundesrates nach dem neuen Art. 23 GG, 1994. 69 Eine der Quintessenzen des Maastrichturteils, vgl. BVerfGE 89, 155, 182 sowie 2. Leitsatz; Steinberg/Britz, Die Energiepolitik im Spannungsfeld nationaler und europäischer Regelungskompetenzen, DÖV 1993, S. 320; Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 113. 67

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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Unausweichlichkeit von Veränderungs- oder gar Preisgabeeffekten für die staatsinterne Verwirklichung des Demokratie- und Repräsentationsprinzips, die mit der Beteiligung an Integrationsprozessen für die Mitgliedstaaten einhergehen, folgt nicht deren Unzulässigkeit70. Vielmehr bekennt sich die Verfassung durch die Integrationsermächtigungsnorm des Art. 23 GG zur Legitimität einer Dynamisierung der klassischen Staatsstrukturprinzipien durch den externen Integrationsdruck der durch Art. 23 GG eröffneten europäischen Vergemeinschaftung: Parlamentarische Demokratie in einem integrationsoffenen Staat, der Bestandteil eines Mehrebenensystems ist, muß sich anderen Anpassungsnotwendigkeiten stellen als das Demokratieprinzip als Staatsstrukturprinzip eines unitarisch-monistisch auf sich selbst bezogenen Staates. Diese Einsicht ist kritisch zu wenden gegen inflationäre Begriffsverwendungen, die Demokratiedefizite überall dort konstatieren wollen, wo sich Unzulänglichkeiten oder auch nur Ineffektivitäten in der rechtlichen Ausgestaltung von Entscheidungsstrukturen zeigen71. Als absolute Grenze dieser Dynamisierung wirkt erst die Aushöhlung der Substanz des betroffenen Prinzips (verfassungsrechtlich: des Wesensgehaltes72). Die Richtung des Integrationsprozesses auf eine Staatswerdung Europas steht nicht zur Disposition des verfassungändernden Gesetzgebers, weil sie das im dritten Kapitel dargelegte Prinzip der Komplementärverfaßtheit dispensierte, die grundgesetzliche Ordnung durch eine Staatsneugründung überformte und damit auf eine Auswechslung des pouvoir constituant hinausliefe, über den nur die vereinigten Bürger des so neukonstituierten Staates73 selbst und unmittelbar befinden könnten74.

70

BVerfG (Fn. 67).

71

Vgl. kritisch dazu etwa Kreile, Legitimität und Demokratie in der Europäischen Union, Universitas 200, 686 ff.; für eine Unterscheidung von rechtstatsächlichen Defiziten und unzulänglichen Modellvorstellungen auch Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 588. 72 S. Art. 19 II, 79 III iVm Art. 20 I GG; vgl. dazu Häußler, Zum verfassungsrechtlichen Rahmen supranationaler und internationaler Integration, VBlBW 2001, S. 134 ff. 73

Es sei an dieser Stelle vermieden, den problematischen Begriff des Volkes als einheitliches Zurechnungssubjekt im Kontext einer Staatswerdung Europas zu verwenden. Zur den Anforderungen an die Identitätsproblematik s. unten, Kap. 4, IV. 3. 74 So auch Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S. 161 ff.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

bb) Gemeinschaftsrechtliche Dimension des Demokratieprinzips Auf der anderen Seite ist der Europäischen Union als von den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen genetisch abhängige supranationale Einheit75 auch unterhalb der Schwelle der Auswechslung verfassunggebender Gewalt die Ausprägung demokratischer Grundsätze selbst und verbandsspezifisch überantwortet. Primär geschieht dies durch nationale Verfassungsnormen der die EU konstituierenden Mitgliedstaaten (für die Bundesrepublik Art. 23 I GG, insbesondere in Verbindung mit Art. 20 GG). Das Demokratieprinzip ist Bestandteil aller mitgliedstaatlichen Verfassungen, und zwar ganz überwiegend in der spezifischen Ausprägung als parlamentarische Demokratie mit substantiellen Gesetzgebungsbefugnissen des Parlaments als Ausdruck der Volkssouveränität76. Die Gemeinschaft steht deshalb zunächst aus mitgliedstaatlich verfassungsrechtlicher Perspektive vor der Anforderung, in ihrer Ausübung von Hoheitsgewalt den Wurzeln dieser Hoheitsgewalt und ihren dort verankerten Bindungen Rechnung zu tragen. Dieser Umstand fungiert zugleich als argumentativer Ansatzpunkt für die Ableitung eines genuin gemeinschaftsrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Demokratie77: Was die Mitgliedstaaten übereinstimmend innerstaatlich als Recht normiert haben, kann für das zwischenstaatliche Rechtsverhältnis unter ihnen zumal dort nicht bedeutungslos bleiben, wo eine eigenständige Ausübung von Hoheitsgewalt stattfindet78. Sowohl Bundesverfassungsgericht79 als auch EuGH80 haben im Ausgang von dieser Argumentation das Demokratieprinzip als ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Europäischen Union anerkannt. Zum anderen normiert auch der EU-Vertrag selbst weniger in Art. 6 Abs. 1 – denn dieser betrifft nur das Verhältnis der Gemeinschaftsrechtsordnung zur Wahrung des Demokratieprinzips als Verfassungsbestandteil

75 Wie oben, 3. Kap., gezeigt, kommt auch die vom EuGH vertretene Theorie von der Eigenständigkeit der supranationalen Rechtsordnung nicht umhin, diese Entstehungsabhängigkeit zu konzedieren. 76 Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 641. 77 Vgl. dazu Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 89; Zuleeg, JZ 1993, S. 1069, 1070. 78 So treffend Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 89, 90. 79 BVerfGE 73, 339 vom 22.10.1986 – Solange II; BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 80 EuGH vom 29. 10. 1980, Rs. 139/79, Slg. 1980, 3393, 3424 – Maizena/Rat; Rs. 138/79, Slg. 1980, 3333, 3360 – Roquette Frères/Rat: zu den Verfassungsprinzipien der Gemeinschaft gehöre auch das „grundlegende demokratische Prinzip“.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

325

der Mitgliedstaaten81 – sondern in der 5. Abteilung der Präambel82 sowie in der Präambel der EEA die Verpflichtung auf demokratische Strukturen83. EuGH und Bundesverfassungsgericht haben die Demokratieanforderung an die europäische Rechtsgemeinschaft im übrigen bereits vor Inkrafttreten des EUV ausdrücklich bekräftigt, freilich mit einer der Aufgabenverteilung zwischen beiden Gerichten entsprechenden unterschiedlichen Akzentsetzung teils als zukunftsbezogenes Verwirklichungspostulat für die Europäische Union selbst, teils eher als Bewahrungsanforderung an die mitgliedstaatlichen demokratischen Verfassungsstrukturen84, teils als – bloßes – Bekenntnis zum Demokratieprinzip als Teil des die Wertegemeinschaft konstituierenden gemeinsamen Überzeugungsbestandes85. In bezug auf ein „gemeinschaftsverfassungsrechtliches“ Demokratieprinzip ist umstritten, ob dieses als Bestandteil des Primärrechts oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz einzuordnen ist, der auf der Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten beruht86. Uneinheitlich wird auch die Frage beurteilt, ob seine Bedeutung auf das Zustandekommen von Sekundärrecht oder auch als Auslegungshilfe für bestehende Verfahrensvorschriften87 eine auf die hierarchisch nachgeordnete gemeinschaftsrechtliche Normebene beschränkte Aussagebedeutung hat oder ob in ihm ein metaprimärrechtliches Strukturprinzip zu sehen ist, in dessen Licht auch das Primärrecht auszulegen sei88 oder das gar den Prozeß gemeinschaftsrechtlicher Fortentwicklung insgesamt auf eine Intensi-

81 Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 85; Grabitz/Hilf, EUV, Art. F, Rdnr. 12 f.; a.A. Christopher Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 257 f. 82 „In dem Wunsch, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrzunehmen“. 83 Zum Demokratieprinzip als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts nur Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 80 ff. 84 BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 85 EuGH, Rs. 138/79, Slg. 1980, 3333, 3360 – Roquette Frères; EuGH, Rs. 139/79, Slg. 1980, 3393, 3424 – Maizena. Diese unterschiedlichen Bezugspunkte des Demokratieprinzips betont auch Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 81 ff., 86. 86 Dazu Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 89 ff. 87 Bezeichnenderweise halten Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 91, sowie Huber, StWStP 1992, S. 349, 351, aufgrund der doppelten Verwiesenheit von den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberliefeungen in das Unionsrecht und hieraus wiederum rückwirkend auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die auslegungsleitende Bedeutung des Demokratieprinzips für gering. 88 Marcel Kaufmann (Fn. 77).

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

vierung demokratischer Institutionenstrukturen verpflichtete89. Der Entwurf des Verfassungskonvents sieht die Aufnahme des Demokratieprinzips in die künftige revidierte Europäische Verfassung in Art. I-2 vor90; dadurch soll die Legitimation der Europäischen Union wiederum in demokratiebezogener Weise affirmiert werden. Freilich resultiert auch aus diesem Schritt, der zugleich eine gewisse Evidenz in der demokratischen Ausrichtung der so verfaßten Europäischen Union zu dokumentieren geeignet ist, weder eine keine kategoriale Klärung des verfolgten Legitimitätsbegriffs als solchem noch eine direkte Lösung der genannten Auslegungsprobleme.

b) Supranationale Defizite des demokratieorientierten Legitimationsverständnisses Indes ist die Differenzierung zwischen demokratietheoretischen Anforderungsgehalten an die Europäische Union und dem Ziel einer repräsentationstheoretisch instruierten konkreten Organstruktur nicht nur ein Gebot der Komplexitätsreduktion, sondern beruht auch darauf, daß die vom Demokratieprinzip abzuleitenden Gehalte in bezug auf die Strukturierung eines legislativen Willensbildungsprozesses in anderer Hinsicht zu wenig konzise sind, um die für den Rechtsetzungsprozeß angemessene Organstruktur konkret zu instruieren, und großenteils zu vage bleiben, um einen konkret umgrenzten Aussagegehalt in bezug auf bestimmte Sekundärrechtsstrukturen verfassungsprinzipiell zu präjudizieren. Wieviel an originärer Demokratie braucht die EU, um selbst demokratisch zu sein; wo reicht das Einwirken der mitgliedstaatlich vermittelten demokratischen Legitimierung durch den Ministerrat aus? In welchem Umfang müssen verfahrensrechtliche Demokratisierungen durch stärkere Einbeziehung des EP vorgenommen werden, um das Demokratiedefizit zu beseitigen? Besteht ein solches überhaupt?91 Schon die diesbezüglich einander stark widerstreitenden Auffassungen in der Literatur92 als konstante Bestandteile 89 Vgl. Zuleeg, EuR 1982, S. 21, 22; Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des EP, 1995, S. 267 ff.; skeptisch hiergegen Marcel Kaufmann (Fn. 77), S. 98. 90 Dok. CONV 797/1/03 Rev. 1, S. 6, vgl. auch das Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie in Art. I-45 sowie den 3. Erwägungsgrund der Präambel des Verfassungsentwurfs. 91 Dazu Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 262, 319 ff.; zweifelnd Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 12 ff., 97 f. 92 Vgl. nur stellvertretend für die Polaritäten einerseits Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 97 ff., 110: „kein normativ feststellbares Demokratiedefizit“; andererseits Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 625 ff. „Geburtsfehler der Union“; Augustin (Fn. 91), S. 262; Grams, Zur Gesetzge-

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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einer Dauerdiskussion seit den 70er Jahren indizieren, daß die Thematisierung von Legitimitätsdefiziten unter dem Aspekt der Demokratie für sich genommen ungenau, wenn nicht untauglich zur Analyse ist, weil sie in isoliert konkretisierbare Legitimitätsfragestellungen die ganze Unschärfe des Demokratiebegriffs ebenso wie seiner empirisch-faktischen Voraussetzungen implementiert. Diese Defizite lassen sich anhand von drei Hauptgesichtspunkten veranschaulichen. aa) Die demokratiezentrierte Betrachtung der herrschenden Meinung impliziert erstens eine stark am Element personaler Legitimation orientierte Akzentuierung93. Die Differenzierung von unmittelbarer und mittelbarer demokratischer Legitimation speist sich wesentlich aus dem Umstand, daß die Rückführbarkeit des Ernennungsaktes von Entscheidungsträgern auf den Willen einer möglichst unmittelbar demokratisch legitimierten Entscheidungsinstanz im Vordergrund des demokratisch induzierten Legitimationsverständnisses steht. Hierin wurzelt der Antagonismus zwischen nationalem Parlament als einzig unmittelbar demokratisch legitimiertem Organ einerseits und allen hiervon abgeleiteten Mandatsträgern als dementsprechend mittelbar demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern andererseits. Der vom Bundesverfassungsgericht als zentral apostrophierte Rückkoppelungszusammenhang sieht Demokratie folglich auch wesentlich dadurch vermittelt, daß die im Rat vertretenen Exekutivmandatare nach Maßgabe des innerstaatlichen Organisationsrechts dem Parlament politisch verantwortlich sind94. bb) Mit diesem aus dem Demokratieprinzip gespeisten Parlamentsmonismus geht zweitens eine Marginalisierung der Funktion des EP einher. Das Leitmodell einer Legitimationskette weist dem Nationalparlament als einzigem authentischem Repräsentanten eines demokratischen Volkswillens den Stellenwert des perspektivischen Fluchtpunktes in der gesamten Legitimationsarchi-

bung der Europäischen Union, 1998, S. 93; Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, EuGRZ 1992, S. 432; skeptisch zur Demokratisierung der EU nach staatsrechtlichem Vorbild auch Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 587; zur Diskussion insgesamt Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, StWStP 1994, S. 349 ff. 93 Vgl. etwa Pernice, The Role Of National Parliaments in the European Union, WHIPaper 5/01, S. 5, in bezug auf die demokratische Legitimation des Rates (!) durch die nationalen Parlamente. 94 Zentral hierfür BVerfGE 89, 155, 187: „Soll eine solche Gemeinschaftsgewalt auf der von dem je einzelnen Volk vermittelten, insofern demokratischen Willensbildung beruhen, setzt das voraus, daß sie von einem Organ ausgeübt wird, das von den mitgliedstaatlichen Regierungen beschickt wird, die ihrerseits demokratischer Kontrolle unterstehen“.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

tektur des Mehrebenensystems zu95. Mit diesem Modell sind Legitimationsalternativen durch Konkurrenzorgane eines polyzentrischen Institutionengefüges nicht kompatibel, die ihrerseits eine authentische, gleichermaßen unmittelbare und wegen ihrer fehlenden Abgeleitetheit auch nicht untergeordnete Repräsentationsfunktion wahrnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in der Maastricht-Entscheidung der Integrationsdynamik einen nicht unerheblichen Spielraum eingeräumt, indem es einerseits die zeitliche Beschränktheit seiner verfassungsrechtlichen Würdigungen auf den status quo des Prozesses mehrfach betont und zugleich eingeräumt hat, daß sich die Legitimationsbalance auf das EP im weiteren Integrationsverlauf zunehmend verlagern könne96. Eine eindeutige, widerspruchsfrei in den kategorialen Bezugsrahmen der vom Nationalparlament ausgehenden Demokratieverwirklichung erfolgende organschaftliche Bestimmung des supranationalen Konkurrenzparlamentarismus ist hiermit jedoch ebenso wenig verbunden wie Ausführungen zu der Frage, worauf sich die demokratietheoretische Belastbarkeit des EP, die zu den am Demokratieprinzip orientierten Äußerungen im übrigen in nicht unerheblichem Widerspruch stehen, nach dieser Interpretation denn gründe. cc) Dementsprechend bedingt das Modell der herrschenden Auffassung drittens eine Bündelung aller die supranationale Legitimationsbedürftigkeit befriedigenden Funktionen im Organ des Rates. Der Rat ist im supranationalen Organigramm das einzige Organ mit Schnittstellencharakter zum nationalen Willensbildungsprozeß. Das EP hat allenfalls eine demgegenüber unterstützende „Legitimierungsfunktion sui generis“, die zum einen in Ermangelung eines europäischen Volkes97 von Defiziten geprägt, zum anderen in Qualität und Bezugspunkt weitgehend inhaltlich unverortet bleibt98. Dem Rat kommen demnach durchaus vielschichtige, kategorial nicht gleichrangige und auch perspektivisch unterschiedene Bedeutungsgehalte zu. Seine vom repräsentativdemokratischen Willen der Nationalparlamente abhängigen Repräsentanten sind Garanten für die Mitwirkung der Mitgliedstaaten am supranationalen Willensbildungsprozeß. Ihre Parlamentsabhängigkeit begründet eine demokratische Legitimation des originär-supranationalen Sekundärrechts, an deren Zu95 Zur legitimationstheoretischen Schwäche des Modells der Ableitungskette allgemein (unabhängig vom supranationalen Anwendungsbezug) oben, Kap. 2, III. 2. 96 Gutwillig andererseits BVerfGE 89, 155, 186: „stützende Funktion, die sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gem. Art. 138 Abs. 3 EG gewählt würde und sein Einfluß auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse“. 97

Zur Problematik des angemessenen Begriffsverständnisses umfassend Augustin (Fn. 91), S. 29 ff. 98 Wolkig BVerfGE 89, 155, 184: „ergänzend eine demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union“.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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standekommen sie beteiligt sind. Die Ratsbeteiligung ist außerdem das Substrat verwirklichter (mittelbar) demokratischer Legitimation auch nach der subjektivrechtlichen Seite des Demokratiegebots. In der Zuspitzung auf die Frage nach dem subjektivrechtlichen Gehalt des Demokratieprinzips bedeutet das: In Anbetracht einer angenommenen, nicht hinreichenden Entwickeltheit der vom EP vermittelten Partizipation und ungeklärter kategorialer Fragen, die mit seiner Stärkung verbunden wären, sind die Adressaten des supranationalen Sekundärrechts, die innerstaatlich eine Partizipation nach Art. 20, 38 GG an allen wesentlichen Legislativentscheidungen beanspruchen können99, auf die mittelbare demokratische Legitimation durch die im Rat vertretenen nationalen Regierungsmitglieder als Surrogat verwiesen. Diese Vermischung des Aspekts der Wiedergewinnung staatlicher Steuerungsmacht mit dem Anforderungsniveau europäischer Demokratie hat erhebliche Kritik an einer angeblichen „Exekutivlastigkeit“ der europäischen Rechtsetzung bewirkt100. Eine Infragestellung der Kategorienbildung als solcher und der Ordnungsvorstellung mittelbarer demokratischer Legitimation ist damit jedoch gleichwohl kaum einhergegangen.

3. Vom Demokratieprinzip zum Repräsentationsprinzip: Bestandteile der Akzentverlagerung von allgemeiner demokratischer Legitimation des supranationalen Verbunds zu einer repräsentativen Organisationsstruktur des Legislativwillensbildungsprozesses Das vorliegende Konzept weicht mit seiner repräsentationstheoretischen Konzeption und der hieraus abgeleiteten dualen Repräsentationskonzeption hiervon ab. Dieses duale Repräsentationskonzept ist in der Institutioneninterpretation zunächst von der überwiegenden Auffassung einer doppelten demokratischen Legitimationsarchitektur durch Rat und Parlament verschieden. Das herkömmliche Verständnis postuliert zwei im einzelnen nachfolgend zu kritisierende Formen demokratischer Legitimation durch Rat und Parlament in flexibler und weitgehend disponibler Gewichtung101. Das duale Repräsentationskonzept im hier vertretenen Sinne beruht demgegenüber auf einem nach den Funktionen hoheitlicher Gewaltausübung differenzierenden Legitimationsverständnis, das den Gegenstand der Legislativwillensbildung als spezifische 99 Zu Art. 38 GG als Quelle eines subjektiven „Wahlgrundrechts“ vgl. nur MaunzDürig-Herzog, GG, Art. 38, Rdnr. 29 ff.; BVerfGE 89, 155, 182. 100 Vgl. dazu statt vieler Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 117, m.w.N. 101 Dazu sogleich unten, 4.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Frage von den sonstigen demokratischen Legitimationsfacetten in bezug auf die Ausübung von Hoheitsgewalt abhebt. Legitimationsgegenstand ist damit nicht der supranationale Verbund als institutionelle Gesamtheit, sondern der konkrete repräsentationstheoretisch angemessene Institutionenzusammenhang der Rechtsetzung. Die konstruktive Reduktion der Legitimationsdimension des Rechtsetzungsprozesses auf einen zentralen repräsentationstheoretischen Zurechnungszusammenhang leugnet nicht die vielfältigen vorrechtlichen, gesellschaftlichen Bedingtheiten und den insgesamt weiteren Kontext eines funktionsfähigen, material verwirklichten Demokratieprinzips (wie Bestehen einer entwickelten Öffentlichkeit, Entwicklung von Loyalitäten, hinreichende Transparenz der Mehrebenenstruktur in ihren interferierenden, divergierenden und vielfältig vernetzten Verantwortlichkeiten auch für den von den Entscheidungsfindungsprozessen Betroffenen)102. Sie erlaubt es aber, die sich diesbezüglich stellenden allgemeinen Bedingungen der Konstituierung gesellschaftlicher Öffentlichkeit als eine allgemein dem konkreten Prozeß der Rechtswillensbildung in einer Legislative vorgelagerte Fragestellung auszublenden (im Bewußtsein ihrer Relevanz für den legitimatorischen Gesamtkontext)103 und dadurch eine konstruktiv ohnehin mit großer Komplexität behaftete Fragestellung wenigstens in Teilen zu simplifizieren. Die Repräsentationsorientierung der Legitimationsstruktur ermöglicht demnach ein Ausblenden mancher Unschärfen. Demokratische Verfaßtheit artikuliert sich in der Ausübung von staatlicher Rechtsherrschaft durch ihre Rückführung auf das Volk als Autor104. Demokratie und Volkssouveränität sind eng verbunden105. Demokratische Verfaßtheit geht mit dem Postulat einher, der Volkssouveränität bezogen auf alle Anwendungsbereiche von Recht angemessene institutionelle Artikulationsbedingun-

102

Vgl. dazu etwa ausführlich m.w.N. Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 699 ff.; Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2001; sowie Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der HumboldtUniversität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm, S. 6 ff. 103 Zu kategorisch Augustin (Fn. 91), S. 334: Fehle eines von beidem, sei Demokratie nicht verwirklicht. 104 Vgl. Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, 1997, S. 97; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HdBStR Band 1, § 22, S. 188; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff.; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 48 ff. 105 Jürgen Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000, S. 120; W. von Simson, VVDStRL 29 (1971), S. 3 ff.; M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971), S. 46 ff.; zum Ganzen auch Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR I, § 23, Rdnr. 27 ff.; Anne Peters (Fn. 102), S. 105.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

331

gen zu schaffen. Von diesem Postulat ist nicht nur die Rechtsetzung, sondern auch die Rechtsanwendung in ihrer Gänze betroffen. Der Anspruch demokratischer Legitimation erfaßt organisatorisch alle drei Gewalten, also neben dem Parlament auch die Regierung und die Judikative, und grundsätzlich jede Form der von ihnen vorgenommenen Hoheitsausübung106. Zugleich kann demokratische Legitimation über unterschiedliche Mechanismen der Ausübung von Partizipation vermittelt werden. Vor allem gilt dies für das Handlungsspektrum des Parlaments. Dies äußert sich auch darin, daß die klassischen Zentralfunktionen des Parlaments nicht nur in der Normsetzung bestehen, sondern auch in der Budgethoheit, der Ausübung von Kontrollbefugnissen über die Exekutive, der bloßen Anhörung ohne konstitutive Gestaltungsrechte, etc107. Vom Demokratieprinzip erfaßt sind aber auch alle mittelbaren Formen außerparlamentarischer staatlicher Willensartikulation. Daß bundesdeutscher Parlamentarismus kein parlamentarischer Gewaltmonismus sei108, hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht zur Verteidigung exekutivischer Handlungsspielräume verschiedentlich und berechtigt deutlich gemacht. Auch das dem staatlichen Parlament nachempfundene Europäische Parlament kann – sofern die kategorialen Bedingungen des Demokratieprinzips seine Ermächtigung als demokratisches Organ anzusehen gestattet – trotz seiner nur fragmentarischen Einbezogenheit in den Rechtsetzungsmechanismus der Europäischen Union demokratische Legitimität etwa durch ein umfassendes Äußerungsrecht109, durch seine Haushaltskontrolle und durch die anderen Organe nicht bindende Beschlüsse vermitteln und so demokratieprinzipiell in substantieller Weise erstarken, ohne daß dies über die handlungsformtheoretische Einordnung des Sekundärrechts irgend etwas aussagte. Demokratie ist ein legitimitätsstiftendes Universalprinzip110, das den Kontext legitimer Rechtsetzung überschreitet.

106

Grundlegend gegen einen aus der primären demokratischen Legitimation des Bundestages abzuleitenden Gewaltenmonismus BVerfGE 68, 1 ff.; zur republikanischen Legitimation des gesamten Staatswesens auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 48 ff. 107 Hierzu namentlich Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 71 f. 108 Vgl. BVerfGE 49, 89, 124, 129 f.; 68, 1, 86, 89. 109 Vgl. dazu und zur Stuttgarter Deklaration Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 26 f. 110 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HdBStR Band I, § 22, Rdnr. 81 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 100; Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR I, § 23, Rdnr. 27 ff.; G. F. Schuppert, Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie, FS Simon, 1987, S. 167 ff., 169; Isensee, Grundrechte und Demokratie, Der Staat 20 (1981), S. 161 ff.;

332

Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Legislative Willensbildung folgt anderen funktionalen und legitimatorischen Notwendigkeiten als administrative oder judikative Mandatswahrnehmung. Legitimationstheoretisch hinreichende Strukturen der hoheitlichen Legislativtätigkeit sind auch mit den übrigen essentiellen Kennzeichen demokratischer Legitimiertheit eines verfaßten Gemeinwesens, etwa über die Ausübung von Budget- und Kontrollrechten oder Ernennungsbefugnissen, nicht verrechenbar. In der Rechtspflicht zur Normbefolgung, in dem Rechtsverhältnis, das durch Normen konstituiert wird, verdichtet sich die Rechtsunterworfenheit der Adressaten und damit die Legitimierungsbedürftigkeit von Recht mit größter Unmittelbarkeit. Die repräsentative Struktur des Legislativwillensbildungsprozesses löst den Anspruch der Rechtssätze ein, als idealtypische Konkretisierung eines freiheitsgesetzlichen Rechtsprinzips auffaßbar zu sein. Das Kriterium der Selbstbestimmungsbezogenheit des Rechts, das eingangs als maßgebend für das hier zugrunde gelegte Legitimitätsverständnis charakterisiert wurde, präzisiert demnach die Fragestellung und erlaubt zugleich die Abblendung bestimmter Bereiche der Demokratiedebatte. Danach ist die allgemeine demokratiebezogene Fragestellung für die Legitimitätsstruktur der komplementär verfaßten Ordnung nur relevant, soweit sie rechtsprinzipielle Voraussetzungen für die Fähigkeit zur Ausbildung von Inklusionsmechanismen betrifft, welche es rechtfertigen, die Sekundärrechtsakte als Ausdruck genuin repräsentativer Autorisierung durch die Rechtsunterworfenen gerade auf europäisch-gemeinschaftlicher Ebene zu identifizieren. Es geht nicht um eine ungerichtete Aufnahme der ganz verschiedenartigen demokratietheoretischen Impulse politikwissenschaftlicher, soziologischer wie rechtswissenschaftlicher Art, sondern nur um die Inklusionsvorgaben des Demokratieverständnisses für die Hervorbringung autorisierter Normen; die Klärung der Fähigkeit des supranationalen Rechtssystems zur Übernahme substantiell-demokratischer Funktionsmechanismen ist lediglich in legislativer Perspektive zu prüfen. Die Fragestellung lautet nicht: Ist die EU demokratisch legitimiert oder bedarf sie demokratischer Legitimierung? sondern: Vermag die EU, verglichen mit der volkssouveränen Autorisierung von Recht im Staat, ein prinzipienangemessenes institutionelles Gefüge bereitzustellen, das eine teilweise Substitution der staatsrechtlichen Inklusionsformen durch gemeinschaftsrechtliche Organe gestattet? Entscheidend ist also, ob die am Prozeß der Sekundärrechtsetzung beteiligten Organe zur repräsentativen Autorisierung der Rechtsetzungsakte befähigt sind. Die Abgrenzung der hier zugrunde gelegten Fragestellung zur Frage nach dem Demokratiedefizit der Europäischen Union spiegelt eine Perspektivendifferenz: Steht mit dem Demokratieprinzip die Einbeziehung des Souveräns Volk in die Ausübung von Ho-

Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 20 Rdnr. 30; Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, StWStP 1994, S. 349 ff.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

333

heitsgewalt schlechthin auf dem Prüfstand, so fragt die repräsentationsorientierte Autorisierungsbedingung, die in den vorangegangenen Erwägungen als Hauptgehalt des Repräsentationsprinzips interpretiert wurde, nach dem Niederschlag, den Inklusionsformen in der je hervorgebrachten Rechtsform finden. Anstelle der Differenzierung von unmittelbarer und mittelbarer demokratischer Legitimation weist das duale Repräsentationskonzept den beiden Repräsentationsträgern Rat und EP jeweils eigenständige, in ihrem subjektiven Bezugspunkt unterschiedliche und in ihrem Legitimationsgehalt nicht verrechenbare111 Institutionenfunktionen zu. Die Organbalance zwischen Rat und EP steht nicht beliebig zur Disposition der politischen Ausgestaltung in der Form, daß ein fortschreitender europapolitischer Wille eine fortschreitende Verlagerung von Ratsbefugnissen zum EP ermöglichen würde. Eine solche Lesart würde eine Vollparlamentarisierung nach nationalparlamentarischem Vorbild im Verlauf zukünftiger Integrationsfortschritte als mögliche Antwort auf bestehende Legitimationsdefizite ermöglichen, sich damit aber in Widerspruch zum komplementären Verfassungscharakter setzen.

4. Repräsentationstheoretische Kritik am Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation Die Akzentverlagerung von allgemeiner demokratischer Legitimität zu repräsentativer Normautorisierung verbindet sich mit einer kritischen Implikation auch in bezug auf das mit der herrschenden Auffassung verbundene Verständnis einer durch das Organ des Rates gewährleisteten mittelbaren demokratischen Legitimation der Europäischen Union.

a) Fehlende qualitative Bestimmung des Prinzips mittelbarer demokratischer Legitimation Die Fixierung auf die Antinomie von unmittelbarer und mittelbarer demokratischer Legitimation veranschlagt Staat und Bürger als unterschiedliche Repräsentationssubjekte des supranationalen Willensbildungsprozesses nicht. Der herrschende Legitimationsdualismus erschöpft sich in einer deskriptiven Kategorisierung unterschiedlicher Formen der demokratischen Legitimation ihrer 111

Ähnlich wie hier, allerdings ohne Angabe von Grund und Grenzen von Schranken eines Verlagerungsprozesses auf das EP Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 110: Ratsvermittelte Legitimation dürfe nicht beliebig ausgehöhlt werden.

334

Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Intensität nach, ohne diese beiden Formen zueinander in einen qualitativen Bezug zu setzen. Er gibt für die Kategorie mittelbarer demokratischer Legitimation kein Kriterium an, unter welchen Bedingungen Mittelbarkeit den substantiellen Legitimationserfordernissen normhierarchisch unterschiedlicher Legislativaufgaben genügen kann. Wird einerseits schon durch die Begrifflichkeit die Bedeutung der mittelbaren demokratischen Legitimation als rechtsprinzipiell minderrangig stigmatisiert, so geht hiermit gleichwohl kein Maßstab einher, für welche legitimatorische Aufgabe welcher Grad an Unmittelbarkeit erforderlich sein solle und welches Maß an Tragfähigkeit mittelbarer demokratischer Legitimation zukomme. Wenn etwa konstatiert wird, man dürfe die demokratischen Strukturen der EU nicht allein in der Bezogenheit auf das EP sehen, sondern „oftmals“ genüge der staatsrechtliche Ableitungszusammenhang zur Legitimitätsvermittlung112, so spiegelt sich in dieser Analyse die begriffliche Vagheit des Demokratieprinzips für die Legitimitätsfragestellung im ganzen wider. Andererseits unterbleibt im Rahmen dieses Paradigmas eine mögliche Differenzierung der unterschiedlichen denkbaren Intensitäten innerhalb der Kategorie mittelbarer demokratischer Legitimation. Mittelbare demokratische Legitimation vermittelt dem Grunde nach bereits jede Ableitung vom Willensakt eines unmittelbar demokratisch legitimierten Entscheidungsträgers. Diese – zudem personal verstandene – Form der Abgeleitetheit führt aber zu einer bereits im 2. Kapitel kritisierten Identifikation von Autorisation mit Delegation und damit zu einer repräsentationstheoretischen Unterbestimmung. Das herrschende Legitimationsverständnis scheint zudem – zumindest implizit – zu der Auffassung zu tendieren, daß substantiell politische Entscheidungen unmittelbarer demokratischer Legitimation bedürfen113. Damit gerät diese Betrachtung in Ansehung der Sekundärrechtsetzung in ein Dilemma: Die Gemeinschaft hat ihren anfänglichen Status einer funktionellen Zweckgemeinschaft bereits bei weitem überschritten und fällt legitimerweise substantielle politische, mithin materiell gesetzesbedürftige Legislativentscheidungen. Hierfür unmittelbare demokratische Legitimation zu fordern, gleichzeitig aber zu statuieren, daß die Gemeinschaft nur mittelbar demokratisch legitimiert sei, bedeutete entweder, sich hier mit ratsvermittelter demokratischer Legitimation begnügen zu müssen und damit ein Legitimitätsgefälle gegenüber innerstaatlich-parlamentarischer Willensbildung hinzunehmen, das nicht begründbar ist, oder aber der Gemeinschaft letztlich die Rechtsetzungsbefugnis in substantiell

112

Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 92.

113

Angedeutet in BVerfGE 89, 155 ff.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

335

politischen Fragen abzusprechen (und damit die Integration in ihrem gegenwärtigen Status in Frage zu stellen).

b) Föderalismustheoretische Einwände gegen das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation Auch unabhängig von dieser eher abstrakten Verhältnisbestimmung demokratieorientierter oder repräsentationsbezogener Akzentsetzung ist aber die Annahme einer mittelbaren demokratischen Legitimationsfunktion des Rates alles andere als selbstverständlich. Der herrschenden Auffassung mittelbarer Unionslegitimation ist eine staatsverfassungsrechtliche Perspektive eigen. Sie sucht die Antwort auf das supranationale Legitimationsbedürfnis in einem Ableitungszusammenhang vom innerstaatlichen, demokratisch strukturierten Willensbildungsgefüge her. Indem das Kriterium der Legitimationsvermittlung in der Bemessung des Mediatisierungsgrades vom innerstaatlich-parlamentarischen Wahlakt gesucht wird, ist dieser Ansatz schon begrifflich nicht auf etwaige, besondere supranationale Organisationsalternativen zugeschnitten. Er folgt zudem einem Verständnis, das zur verfassungsrechtlichen Bewertung der Repräsentationsstrukturen im föderalen Gefüge der Bundesrepublik in einem deutlichen Widerspruch steht und hiermit nur bedingt kompatibel erscheint. Im Vergleich der föderativen Repräsentationsstrukturen von Bund und Ländern im Organisationsgefüge der Bundesrepublik mit denen der Mitgliedstaaten und Bürger Europas im Recht der Europäischen Union zeigt sich, daß die zentralen Prämissen der These von einer mittelbaren demokratischen Legitimation der Europäischen Union durch den Rat dem parallelen Verständnis des staatsrechtlichen Demokratiegefüges der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen. Das ist mit der fehlenden Staatsqualität der Europäischen Union allenfalls zum Teil erklärbar; anderenteils wirft es die Frage auf, ob die Prämissen der Vorstellung einer ratsvermittelten demokratischen Legitimation kategorial hinreichend tragfähig sind. In der bundesstaatlichen Struktur des Grundgesetzes wird die Möglichkeit einer mittelbaren demokratischen Legitimation von Gesetzen durch die Mitwirkung des Bundesrates ganz überwiegend verneint114. In der deutschen Staatsrechtslehre wird überwiegend das Legitimationssubjekt gesamtbundes114 A.A. wohl nur Hesse mit seiner Theorie, das Bundesstaatsprinzip im Lichte einer am Gewaltenteilungsprinzip orientierten Demokratietheorie aufzufassen; kritisch dagegen U. Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 415 ff.; Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, 1997, S. 103.

336

Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

deutscher Staatsgewalt ausschließlich in dem einen deutschen Volk115 – organisatorisch differenziert in den die Landesgewalt legitimierenden (Landes-) Volksteilen116 – gesehen. Hierin manifestiert sich vordergründig ein Verständnis, das das Repräsentationssubjekt bundesdeutscher Staatsgewalt (das Volk) ungeachtet der föderalen Untergliederung in einzelne bundesstaatliche Diversifikationsformen dem Grunde nach ganzheitlich versteht. Im konkreten staatsorganisationsrechtlichen Verständnis des Zusammenwirkens der föderalen Verfassungsorgane und ihrer Legitimationsimplikationen setzt sich diese Auffassung indes nicht um, sondern dokumentiert eher das Gegenteil. Der Bundesrat repräsentiere die Länder, die als solche im Grundgesetz kein Subjekt demokratischer Legitimation darstellten117. Der Bundesrat sei ein „Staatsorgan ohne demokratische Verantwortung“118. Demokratische Legitimation der Bundesratsvertreter durch das Landesvolk und die Aufgabe derselben im Bundesorgan Bundesrat seien gänzlich unterschiedliche Gegenstände, da die Aufgabe der durch den Bundesrat vermittelten Länderpartizipation auf eine Verteilung von Organisationsleistung ziele119. Demokratische Legitimationen der Staatsgewalten auf Bundes- und auf Länderebene koexistieren demnach isoliert, ohne daß es zwischen den Legitimationsmechanismen der unterschiedlichen Ebene zu einer „Durchwirkung“ oder sonstigen Vermittlungseffekten käme. Jedenfalls soweit es um die föderative Mitwirkung des Bundesrates als Repräsentationsorgan der Bundesländer an Bundesrechtsakten geht, wird im Gegenteil die Eigenständigkeit des „Legitimationskörpers Landesvolk“120 emphatisiert und hiermit die Auffassung verbunden, daß die jeweilige Ableitung der Legitimati115 J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, HdBStR, Band VI, § 98, Rdnr. 60 f.; ders., Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248 ff.; W. Schmidt, Das Verhältnis von Bund und Ländern im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, AöR 87 (1962), S. 253 ff., 258 f.; H. Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes in Länder, in: GS Hans Peters 1967, S. 533 ff., 540; 116 Christoph Möllers (Fn. 114), S. 90 ff. 117 Vgl. Christoph Möllers (Fn. 114), S. 103, mit Hinweis auf die ausdrückliche Zurückweisung eines gegenlautenden Vorschlages des Parlamentarischen Rates, vgl. ebd. Fn. 74. 118 Ossenbühl, Zustimmung und Verantwortung des Bundesrates beim Erlaß von Bundesgesetzen, in: D. Wilke/B.Schulte (Hrsg.), Der Bundesrat, S. 300 ff., 319 f.; H. Pollmann, Repräsentation und Organschaft, S. 112 f.; U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: ders. (Hrsg.), Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 415 ff. 119 Hesse, Der unitarische Bundesstaat (1962), in: Ausgewählte Schriften, 1984, S. 116, 124; Christoph Möllers (Fn. 114), S. 93. 120 Vgl. Christoph Möllers (Fn. 114), S. 103; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HdBStR Band 1, § 22, S. 188; G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971, S. 119.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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on der im Bundesrat gebündelten Ländervertreter von demokratischen Landes„Volksteilen“ dem Organ des Bundesrates keinerlei demokratieprinzipiellen Gehalte vermittle121. Daß im Gegensatz dazu der Rat nicht bloß schlichtes föderatives Repräsentationsorgan der Mitgliedstaaten, sondern gewissermaßen mit einem demokratietheoretischen Überschuß ausgestattetes Organ sei, welches auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene durch staatsradizierte Demokratierückgebundenheit gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten hinreichende demokratische Legitimität vermitteln solle, hebt ihn vom strukturell-föderalistisch gleichgelagerten Parallelfall der Bundesrepublik ab und ist aus diesem Grunde erläuterungsbedürftig. Unzweifelhaft folgen zwar aus der fehlenden Staatsqualität der Union und der sich hieraus ergebenden verschobenen Akzentsetzung in der Machtbalance zwischen Union und Mitgliedstaaten gegenüber dem Bund-Länder-Verhältnis im GG gewichtige Differenzierungskriterien. Der gegen einen Vergleich von Bundesrat und Rat der EU auf der Hand liegende Einwand gänzlich unterschiedlicher Strukturen enthebt aber weder von der Beantwortung der Frage, weshalb im Fall des Bundesrates ein „Durchwirken“ vermittelter demokratischer Legitimation durch ein föderatives Repräsentativgremium schlechthin ausgeschlossen sein, im Anwendungsfalle des supranationalen Verbundes hingegen die Hauptlegitimation hierauf beruhen solle. Sowohl der Rat als supranationales Organ als auch der Bundesrat als Verfassungsorgan des Grundgesetzes sind Repräsentationsorgane staatlicher Verbände, die an der Rechtsetzung der höheren Ebene beteiligt sind; zwischen beiden bestehen erhebliche strukturelle Vergleichbarkeiten122. Beide sind besetzt mit den Exekutivspitzen der unteren Ebene; in beiden Fällen sind die Organmitglieder personell legitimiert durch die Rückführung auf ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Parlament. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Organen liegt darin, daß im bundesrepublikanischen Verfassungsgefüge mit dem bundesdeutschen Staatsvolk ein Zurechnungssubjekt auf der höheren Ebene besteht, während in bezug auf den supranationalen Verbund nach immer noch herrschender

121 Zur rechtshistorischen Herleitnug dieser Auffassung aus der Entgegensetzung von Parlament und Bundesrat in der Reichsverfassung auch Christoph Möllers (Fn. 114), S. 84 m.w.N. 122 M. R. Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Union?, in: Wildenman (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1991, S. 20; Oeter, Souveränität und Demokratie als Problem der Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 688; Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 14; zur Vergleichbarkeit der Kompetenzstrukturen Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Ansicht ein europäisches Volk nicht besteht123 und herrschender Auffassung zufolge124 hieraus auch das Fehlen eines originären Repräsentationssubjekts abzuleiten ist. Vor dem Hintergrund dieses Befundes, dessen Tragfähigkeit im einzelnen im Zusammenhang mit den Grundbedingungen europäischer Parlamentarisierung zu überprüfen ist, wird offenbar der Rückgriff auf mittelbare Repräsentationsmöglichkeiten durch den Rat für notwendig und tragfähig gehalten, während für eine Mitverantwortlichkeit des föderativen Repräsentationsorgans des Bundesrates an der demokratischen Legitimation der Bundesgesetzgebung kein Bedürfnis besteht. Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht. Es bleibt offen, weshalb das Fehlen eines europäischen Staatsvolkes den Regreß auf das Staatsvolk der jeweiligen Mitgliedstaaten als ein vom Rechtssetzungskontext gänzlich verschiedenes Zurechnungssubjekt eröffnet. Die Zuordnung einer Regelungsaufgabe zu einem Verband eines Mehrebenengefüges verknüpft sich rechtsprinzipiell mit der Aufgabe, den Adressaten dieser Regelungsebene repräsentative Präsenz zu verschaffen. Ein wahlweise ausgestalteter Subjektsbezug, demzufolge es repräsentationstheoretisch disponibel sein sollte, unter zur Verfügung stehenden Staatsvölkern oder Vereinigungen von Staatsvölkern frei auszuwählen, löste den rechtsprinzipiellen institutionellen Kontext des Repräsentationsprinzips125 in Beliebigkeit auf. Welche Verbandsebene und welches Organ in 123

Vgl. nur Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 158, 162 f.; relativierend allerdings Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., 1685; Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 180: Verschiebung zu einem „verfassungsrechtlich geformten europäischen Demos“; ebenso Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 653: „ein europäischer Demos existiert“. 124 Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HdBStR Band VII, 1992, S. 855, 873; BVerfGE 89, 155, 185: „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig“. Für eine Mindestvoraussetzung „relativer Homogenität“ auch Böckenförde, HdBStR Band I, 1987, S. 887, 929. Ders., Band II, § 22, Rdnr. 11, 14 ff.: Repräsentation sei nicht leere Delegation. Vgl. auch ders., Welchen Weg geht Europa?, 1997, S. 40. Insgesamt kritisch gegenüber der Applikation demokratischer Strukturelemente Graf Kielmannsegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen? In: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, S. 229242, 234. 125 Repräsentationskonstitutiv ist die Vergemeinschaftung der Repräsentierten als substantieller, durch das gemeinsame Verrechtlichungsinteresse untereinander verbundener Einheit unter dem Rechtsprinzip in Abgrenzung zu kontingenten Zweckgemeinschaften oder gänzlich inhomogenen, damit nicht repräsentierbaren Verbindungen; vgl. neben den Kennzeichnungen zum Verhältnis von Repräsentation und Identität im Anschluß an Carl Schmitt (oben, Fn. 109) insb. Kant, MdS, RL, § 46, VI, 314: „Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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der Lage sein kann, welches Repräsentationssubjekt zu repräsentieren, ist keine Frage der Organressourcen, über die das geltende Recht des jeweiligen Mehrebenenverbundes kontingenterweise verfügt, sondern umgekehrt erfordert eine stringente Organisationsstruktur de lege ferenda eine Ausrichtung am Repräsentationssubjekt in Reflexion der substantiellen Regelsetzungsnotwendigkeit des jeweiligen Zusammenhanges. Hinzu kommt, daß die durch den Rat vermittelte demokratische Legitimation ihrem Wesen nach exekutivische Repräsentation ist. Nach den Erörterungen des zweiten Kapitels ist das Wesen exekutivischer Repräsentation zwar ein eigenständiger Mechanismus der Legitimationsvermittelung, reicht jedoch seiner Intensität nach zur Legitimation materiell gesetzesbedürftiger Regelungsgegenstände nicht hin. Es existiert keine Begründung, die es rechtfertigt, die innerstaatlich parlamentsbedürftigen Regelungsgegenstände im supranationalen Organisationszusammenhang einer Repräsentation minderer Intensität zu überantworten.

c) Republikanische (gewaltenteilungsbezogene) Einwände gegen das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation Drittens aber ist die Konzeption einer ratsvermittelten demokratischen Legitimation der Europäischen Union auch gemessen am Prinzip der Gewaltenteilung mit problematischen Implikationen behaftet. Diese Problematik hat je eine auf den staatlichen und auf den gemeinschaftsrechtlichen Kontext bezogene Komponente; im Kern allerdings handelt es sich letztlich um eine ganzheitliche kategoriale Fragestellung der republikanischen Verfaßtheitsprämissen des Mehrebenensystems insgesamt, mit der der gemeinschaftsrechtliche Institutionenzusammenhang an den oben entwickelten Maßstäben vernunftschlüssiger Funktionendifferenzierung gemessen und zu der These mittelbarer demokratischer Legitimation in ein Verhältnis gesetzt wird.

Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“; aufbauend auf die Explikation von Kant, EF, Anhang I. Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden, VIII, 371: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen, in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprincipien zu leben (die distributive Einheit des Willens Aller), zu diesem Zweck nicht hinreichend, sondern daß Alle zusammen diesen Zustand wollen (die collective Einheit des vereinigten Willens) […]“[Hervorhebungen von mir]. Zur Bedeutung des Identitätssubstrats als vorrechtlicher Repräsentationsbedingung unten, Kap. 4, IV. 3. a), b).

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

aa) Die Exekutivzentrierung der EU und der Gewaltenteilungsbezug in der international-rechtlichen Kategorienbildung Die These einer mittelbaren demokratischen Legitimation der Sekundärrechtsetzung über den Rat ist notwendig verbunden mit einem Repräsentationsmodell, das von typischen staatstheoretischen Vorstellungen zum Teil konstruktiv abweicht. Soweit es sich bei den Rechtsakten der Gemeinschaft um materiell untergesetzliche Regelungsgegenstände handelt, entspricht die Befugniswahrnehmung durch den Rat der aus dem staatsrechtlichen Kontext bekannten Funktionenordnung, lediglich erweitert um den Aspekt des dem Kollegialcharakter des Organs geschuldeten Konsenses. Die Ausübung von Normsetzungsbefugnissen in Wahrnehmung einer nach Art. 80 GG erfolgten Ermächtigung ist im innerstaatlichen Recht fraglos materiale Exekutivtätigkeit, wenn auch in normsetzender „funktionell-legislativischer“ Ausprägung. Nichts anderes gilt für Delegationen von Hoheitsmacht, die nicht interorganschaftlich, sondern zwischen Verbänden erfolgen, wie es für die Europäische Union der Fall ist. Soweit die übertragene Normsetzungsbefugnis untergesetzliche Qualität aufweist, spricht deshalb vom Gewaltenteilungsprinzip her nichts gegen ein exekutivisches Organprofil auf supranationaler Ebene. Anders verhält es sich mit Gemeinschaftsrechtsakten in bezug auf material gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände. In bezug auf sie tritt mit dem Rat an die Stelle parlamentarischer Legislativwillensbildung als Hauptrechtsetzungsorgan ein Kollegium mitgliedstaatlicher Exekutivrepräsentanten126. Das parlamentarische Willensbildungsmodell ist abgesehen vom bloßen Delegationsakt, mit dem die Nationalparlamente an der Entäußerung ihrer Entscheidungskompetenzen an die supranationale Ebene mitgewirkt haben und auf denen die Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen konstruktiv beruht, in der Aktualität gemeinschaftlicher Rechtsnormgenese bedeutungslos127. Ein Kompetenztransfer, der ein exekutivisch strukturiertes Organsystem ermächtigt, hat selbst dann exekutivischen Charakter, wenn der Transfer unter Beteiligung des Nationalparlaments stattfindet, und dieses den transferbewirkenden Vertrag ratifiziert. Die Zuordnung der Befugnis, deren Wahrnehmung durch Gemeinschaftsorgane erfolgt, zu einer der Gewalten hängt nicht davon ab, welche Organbeteiligung der Übertragungsakt selbst nach Maßgabe des nationalen Verfassungsrechts erfordert, und auch nicht von ihrer funktionellen de facto-Bedeutung, sondern 126

Daß die Eigenschaft des Rates als Gemeinschaftsorgan – im Unterschied zu einer Regierungskonferenz – den Befund einer exekutivischen Funktionsträgereigenschaft der Ratsmitglieder nicht in Frage stellt, betont zutreffend Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 235 f. 127 So auch Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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von ihrem Status innerhalb des Kontextes, in dem sie wahrgenommen wird. Der hiermit verbundene repräsentationstheoretische Verlust an Unmittelbarkeit ist erklärungsbedürftig, mit dem herrschenden Paradigma mittelbarer demokratischer Legitimation jedoch nicht erklärungsfähig. Die Gewaltenteilungsfrage könnte als für diese Untersuchung relevante Kategorie nur dann außer Betracht bleiben, wenn die funktionalistische Kritik berechtigt wäre, die in diesem Prinzip eine bloß historisch zu begründende Reverenz an aufklärerische Denkformen sieht128. In diesem Fall wären weder etwaige Akzentverschiebungen zwischen Legislative und Exekutive legitimationstheoretisch relevant, noch wäre für die (sekundärrechtlichen) Handlungsformen der Europäischen Union maßgebend, ob diese als Anwendungsfall gubernativer Rechtsetzung oder als Legislativphänomen eigener Art anzusehen ist. Es liegt in dieser Vorgabenlosigkeit gegenüber Normerzeugungsmechanismen angelegt, daß die funktionalistische Argumentation gerade in bezug auf den europäischen Integrationsprozeß von besonderer Attraktivität ist, da sie mit dem Nachweis einer spezifisch exekutivischen Fähigkeit zur Bewältigung von Regelungsproblemen auf europäischer Ebene ein besonders paradigmenkompatibles Begründungsmodell für dessen Legitimität anbieten kann. Die mangelnde kategoriale Tragfähigkeit dieser Argumentation wurde jedoch bereits dargelegt. Abseits solcher konsequentialistischen Institutionenapologien ist keine argumentative Vermittlungsebene ersichtlich, die plausibel machte, weshalb demokratische Legitimation auf Gemeinschaftsebene exekutivlastig ausgestaltet sein müsse. Schließt man sich nach den Erwägungen des zweiten Kapitels der dort entwickelten Auffassung an, daß das Gewaltenteilungsprinzip erstens nicht bloß eine Referenz an überholtes Aufklärungsdenken und zweitens keine bloße Machtbalance zum Gegenstand hat, sondern Ausdruck einer vernunftschlüssigen Einteilung der Verrechtlichung des Gemeinwesens ist, so stellt dies vor die Problematik seiner Applikation auf den gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang. Das Wesen des Parlamentarismus besteht in seinem Vermögen, für rechtsapriorische Anforderung von Recht, substantiell politische Entscheidungsgegenstände in möglichst unmittelbarer Weise auf den Willen der Adressaten zurückzuführen, die notwendigen institutionellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Daß anstelle der Organressource des Parlaments die Befassung von Exekutivmandataren genügen soll, um materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände demokratisch zu legitimieren, wird nur dann plausibel, wenn 128

So aber explizit die Kritik an deduktiv-apriorischen Rechtsbegründungsargumentationen im Anschluß an Gierke bei Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 6; ähnlich ablehnend auch von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 40: „staats- und rechtstheoretisch überholt“.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

das Wesen der vom Rat ausgefüllten Repräsentationsfunktion in spezifischer und kategorial bestimmbarer Weise mit den parlamentarismustypischen Willensbildungsmechanismen inkompatibel ist und sich deswegen als notwendig abweichende supranationale Verwirklichungsform demokratischer Normenlegitimation darstellt. Die Verschiebung der Gewaltenbalance, die Preisgabe des vernunftrechtlichen Anspruchs einer Bindung von Hoheitsgewalt an Obersätze einer parlamentarischen Legislative setzt voraus, daß die Verwirklichungsfähigkeit parlamentarischer Inklusion an strukturellen Notwendigkeiten scheitert, die für den supranationalen Verbund wesenstypisch sind. Andernfalls erscheint es rechtsprinzipiell überzeugender, in bezug auf die Rechtsetzungsformen in der EU eine Entsprechung zu der für das innerstaatliche Rechtsetzungsprinzip charakteristischen Obersatzbildung durch die Legislative zu suchen und das mit der Dominanz ratsvermittelter demokratischer Legitimation notwendig verbundene System „gemischter Gewaltengliederung“129 kategorial neu zu strukturieren. Wenn die Möglichkeit besteht, den europäischen Legislativwillensbildungsprozeß auch originär zu parlamentarisieren (und damit in der Diktion der herrschenden Auffassung direkt zu demokratisieren), stellt das die Tragkraft der durch den Rat vermittelten demokratischen Legitimation als unvollkommenes, exkutivlastiges Surrogat in Frage. Bezogen darauf kann einerseits gefragt werden, ob die Kategorie der Gewaltenteilung innerhalb des gemeinschaftsrechtlichen Institutionengefüges selbst prinzipielle Verortung findet, die der Vorstellung ratsvermittelter Demokratie kritisch entgegengesetzt ist. Daneben stellt sich aber auch die Frage einer Rückwirkung der Ratsstellung auf das innerstaatliche Institutionengefüge. bb) Postulat gewaltengeteilter Verfaßtheit der EU selbst? (1) Es ist bislang im Schrifttum eher für fernliegend gehalten worden zu thematisieren, ob das Gewaltenteilungsprinzip völkerrechtlich anwendbar ist. So ist im Zeitraum von 1970 bis zum Ende der 80er Jahre meist unproblematisch abgelehnt worden, daß Gewaltenteilung in der Europäischen Union überhaupt Verwirklichungsbedingungen vorfinden könne130. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Europäische Union einem montesquieuschen oder kantischen Gewaltenteilungsbegriff, dessen Bezugspunkt die verfaßte Staatlichkeit ist, nie 129 Horn, Die horizontale Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, Recht und Politik 2002, S. 211 ff. 130 Vgl. dazu auch die Bestandsaufnahme im Vermerk des Konventspräsidiums „Die Rechtsakte – Das derzeitige System“ vom 13. Juli 2002, Dok. CONV 162/02, Nr. 4, S. 3: Das gegenwärtige Legislativsystem beruhe nicht auf einem herkömmlichen Prinzip der Gewaltenteilung, sondern auf einer pragmatischen Form der Zusammenarbeit zwischen beteiligten Organen.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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entsprochen hat131. Schon wegen der Prärogative der Exekutive für den Abschluß völkerrechtlicher Verträge132, die die Entstehung von supranationalen Verbänden als Ausdruck exekutivischer Rechtschöpfungsmacht ausweist, scheint die Anwendung des Gewaltenteilungsprinzips auf das Völkerrecht ins Leere zu laufen. Die normative Problematik – also die Frage nach einer Handlungsformsystematik von innerstaatlichen Rechtsformen, Primärrecht und Sekundärrecht – ist von der konstruktiven Problematik der Gemeinschaftsgenese aus völkerrechtlichen Ursprüngen und ihrer schrittweisen Emanzipation von diesen Konstruktionsursprüngen präformiert. Die Europäische Union beruht nicht nur faktisch, sondern in ihrer ursprünglich funktional begrenzten ökonomischen Zweckorientierung auch konzeptionell auf der Delegation von exekutivischer Hoheitsmacht133. Mit Notwendigkeit war infolgedessen auch die sekundärrechtliche Rechtssetzung der Gemeinschaft zunächst „Emanation von Exekutivgewalt“134. Die später hinzutretende institutionelle Neuschöpfung des EP und seine Entwicklung zu einem direkt gewählten demokratischen Repräsentationsforum modifizieren insofern ein Institutionengefüge, das nicht von der Vorstellung einer ausdifferenzierten, politischen Supranationalität, sondern von einem im wesentlichen material untergesetzlichen, an begrenzten Zwecksetzungen orientierten Rechtsetzungsanliegen funktional bestimmt war135 und in dem die heute aktuelle legislative Konkurrenzsituation des Mehrebenensystems noch nicht antizipiert war. Hieraus resultiert die für den supranationalen Verbund konstatierte136 Ungleichzeitigkeit von Organ und Funktion137. (2) Die bestehende Interaktionsstruktur der gemeinschaftsrechtlichen Organe wird vielfach gleichwohl als Gewaltenteilung eigener Art bezeichnet138. Da131 Vgl. Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 625. 132 Zur historischen Bedingtheit dieser Lehre von der Prärogative, ihrer rechtsphilosophischen Verortung und ihren Grenzen Krauß, Parlamentarisierung der europäischen Außenpolitik. Das Europäische Parlament und die Vertragspolitik der Europäischen Union, S. 27 ff. m.w.N. 133 Dazu statt vieler Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 117. 134 Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVBl. 1964, S. 785. 135 Dazu Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 320; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff., § 8/24 ff. 136 s. oben, Kap. 1, II. 2. d). 137 Vgl. auch Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 243. 138 Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 32 f.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 11, II, S. 317; Achterberg, EuR 1968, S. 245: „spezifisch gemeinschaftsrechtliche Funktionenordnung“; Charlotte Schütz, Wer ist der Gesetzgeber der Europäischen Union?, S. 19; Anne Peters,

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

nach ist die Beteiligung der verschiedenen Organe beim sekundärrechtlichen Normsetzungsprozeß als Mechanismus wechselseitiger Einbeziehung, Kontrolle und Befugnisbegrenzung und damit als ein Kräftegleichgewicht139 aufzufassen, welches die Ausgewogenheit betroffener Interessen verbürgt. Dies ist auch der Kern der charakteristischen Formel des EuGH vom „institutionellen Gleichgewicht“140, in der eine komplexe Organstruktur jenseits einer klaren staatsrechtlichen Funktionentrennung thematisch wird. Einzelne Ansätze folgern daraus sogar pauschal, „das Prinzip der Gewaltenteilung [sei] ebenfalls gewahrt“141. Andere Autoren thematisieren das institutionelle Verflechtungsverhältnis von Union und Mitgliedstaaten als Form „kooperativer Gewaltenteilung“ und sehen in ihm ein System der Verwirklichung von Mäßigung und wechselseitiger Kontrolle in einer an die Bedingungen der Supranationalität angepaßten besonderen Erscheinungsform142. Für den Gewaltenteilungsbegriff, der auf ein materiales Verständnis im dargelegten kantischen Sinne ausgelegt ist, sind solche Ansätze nicht weiterführend, wenn sie auch eine zutreffende rechtstatsächliche Umschreibung supranationaler Organarchitektur liefern mögen. Zum einen ist ihr Verständnis rein affirmativ, weil sie in der Prägung eines Gewaltenteilungsbegriffs eigener Art für die Gemeinschaft Bestehendes als so sein Sollendes identifizieren und deshalb nicht der Bewertung ihrer Angemessenheit aus einem rechtskategorialen Hintergrund dienen. Zum anderen erhebt der im zweiten Kapitel dargestellte Gewaltenteilungsbegriff gerade einen über „checks and balances“ hinausgehenden Rechtsverwirklichungsanspruch143, der sich in einem auf wechselseitige Kontrolle reduzierten Gleichgewichtsbegriff nicht wiederfindet.

Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 422: „ungefähres funktionales Äquivalent“. 139 Pernice (Fn. 138), S. 27, 32 f.; H. P. Ipsen (Fn. 138), § 11, II, S. 317. 140 EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, S. 1161 ff., Rdnr. 9 – Köster; Hummer, FS Verdross, S. 459 ff.; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 353 ff.; kritisch demgegenüber Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 243: Maßgebend sei immer die konkrete Kompetenzverteilung nach Maßgabe der Verträge; gänzlich ablehnend gegenüber supranationaler Gewaltenteilung Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, S. 273. 141 So etwa ohne Problematisierung Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 259, mit Blick darauf, daß Funktionen und Aufgaben in der Europäischen Union verschiedenen Organen und Institutionen zugeteilt seien. 142 So von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 445; Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866, 871; Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965, 969 f. 143 A.A. Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 423.

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Selbstverständlich ist die Fortgeltung der Prämisse von der exekutivischen Verfaßtheit der EU angesichts der zunehmenden institutionellen Verdichtung der Integration nach den Reformkonferenzen von Maastricht, Amsterdam und Nizza aber nicht. Von Anfang an hat die Herausbildung einer Dritten Gewalt in Gestalt des EuGH144, deren Erstarkung auch durch den Nizza-Gipfel145 vorangetrieben worden ist, den Integrationsprozeß nachhaltig mitbestimmt. Die funktionale Ausdifferenzierung des Institutionengefüges dokumentiert als Wesensmerkmal supranationaler Verbandsstruktur das Überschreiten einer einseitig auf exekutivischer Staatenrepräsentation beruhenden völkerrechtlichen Ordnung klassischen Sinnes. Die spezifisch supranationale Ausdifferenzierung der Organkompetenzen zwischen Rat, Kommission, Gerichtshof und Parlament in fortschreitender Komplexität entspricht immer weniger dem typischen staatsrechtlichen Erscheinungsbild einer Rechtsetzung durch Regierungshandeln. Beides kann als Beleg für die Fortentwicklung der europarechtlichen Organisationsstruktur in Abwendung von einer rein exekutivischen Ausrichtung dienen. Das kommt selbst in der eher integrationsskeptischen Auffassung des BVerfG im Maastricht-Urteil und der treffenden Begriffsprägung vom Staatenverbund als Mittelform zwischen Staatenbund und Bundesstaat zum Ausdruck und dürfte einhelliger Auffassung in der europarechtlichen und staatsrechtlichen Literatur entsprechen146. Der Funktionenzusammenhang des Gemeinschaftsrechts weist indes noch keine klare, dem staatlichen Organisationsgefüge vergleichbare Übereinstimmung zwischen Funktionendifferenzierung und Organdifferenzierung auf147. Sofern das „institutionelle Gleichgewicht“148 der Europäischen Union überhaupt unter dem Aspekt der Gewaltenteilung thematisierungsfähig erscheint, bezeichnet es ein gemischtes Modell, bei dem in den einzelnen Organen jeweils in unterschiedlichem Umfang und divergenter Gewichtung Legislativ- und Exekutivfunktionen konzentriert sind149. Auch wenn der Integrationsprozeß das 144 Dazu Pernice, Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 ff.; W. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht – Rechtsvergleichende Aspekte, JZ 1998, S. 161 ff. 145 Vgl. insbesondere die Stärkung des EuG 1. Instanz durch Art. 140 a ff., Dok. C80/33 vom 10. 03. 2001. 146 Vgl. nur P. M. Huber, Die Rolle der europäischen Parlamente bei der Rechtsetzung der Europäischen Union, Hanns Seidel Stiftung, Aktuelle Analysen 24, 2001; skeptisch jedoch Kirchhof, Demokratie ohne parlamentarische Gesetzgebung?, NJW 2001, S. 1332-1334. 147 Vgl. dazu Horn, Die horizontale Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, Recht und Politik 2002, S. 211 ff. 148 EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, S. 1161 ff., Rdnr. 9 – Köster; Hummer, FS Verdross, S. 459 ff.; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 353 ff. 149 Vgl. dazu Horn (Fn. 147), S. 211 ff.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Institutionengefüge zunehmend von einer einseitig exekutivlastigen Organstruktur entfernt und einer zukünftigen Restrukturierung in Übereinstimmung mit dem Gewaltenteilungsprinzip näher gebracht hat, so wäre es doch zu weitgehend, im Gemeinschaftsrecht gegenwärtiger Ausprägung eine eigenständige Gewaltenteilung erkennen zu wollen. Kann daher eine Anwendung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf die EU nicht kategorisch ausgeschlossen werden, so kann doch eine dem Gewaltenteilungsbegriff entsprechende Ausdifferenzierung der Funktionen innerhalb der europäischen Organe weder gegenwärtig noch im absehbaren Integrationsverlauf konstatiert werden.

cc) Rückwirkungen der exekutivischen Verfaßtheit der EU auf den innerstaatlichen Verfaßtheitszusammenhang

Wenn die Übertragung von staatsrechtlichem Gewaltenteilungsprinzip auf das Völkerrecht als unangemessene Einbringung staatsrechtlicher Rechtsformgehalte auf einen teils völkerrechtlichen, teils eigenständigen Institutionenzusammenhang verwehrt ist, weil die Europäische Union – wie gezeigt – als exekutivisch-zwischenstaatliche Verbindung mit einem staatsrechtlich induzierten und dem traditionellen Gewaltenbegriff entstammenden Begriffsverständnis nicht erfaßbar ist, macht dies die Betrachtung des Einwirkungsverhältnisses von Europarecht und Gewaltenteilungsprinzip nicht obsolet. Der zweite, gewichtigere Punkt, in dem sich der kategoriale Bindungsbezug des Prinzips der Gewaltenteilung kritisch gegenüber dem Konzept ratsvermittelter demokratischer Legitimation im supranationalen Verbund verhält, begründet sich aus dem Rückwirkungszusammenhang des supranationalen Rechts gegenüber dem nationalen Recht. Kommt es integrationsbedingt zu Einwirkungen auf das Gewaltenteilungsverhältnis im innerstaatlichen Bereich, so bedürfen diese ihrerseits der Rechtfertigung. Denn die Eingehung zwischenstaatlicher Bindungen mit exekutivischer Akzentsetzung ermächtigt weder insgesamt zur Disposition über das innerstaatlich konstituierte Gewaltenteilungssystem, noch kommen die neuen Handlungsformen spezifisch supranationaler Prägung ohne eine Einordnung zu den staatsrechtlichen Formen Gesetz und Verordnung aus, in denen sich Gewaltenteilung handlungsformsystematisch niederschlägt. Staatsrecht und Europarecht bilden wie gezeigt keine jeweils isolierten Teilrechtsordnungen, sondern interagierende Systembereiche wechselseitigen Einflusses. Das Europarecht ist von den staatsrechtlichen Entstehungsbedingungen geltungslogisch abhängig; andererseits wirkt das Europarecht mit unmittelbarer Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang in den staatsrechtlichen Normzu-

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sammenhang hinein. Es liegt eine Situation konkurrierender Normsetzung150 vor, bei der die staatsrechtlichen Handlungsformen von den europarechtlichen Normen geltungslogisch überlagert werden. Der europarechtliche Rechtssetzungsmechanismus ist dem innerstaatlichen Rechtssetzungssystem nicht nachempfunden, er folgt seiner Form nach einer eigenen Logik von Polyzentrik151, exekutiver Rechtssetzung152, Diffusität, Beteiligung mehrerer Organe, Komplexität und Kompromißfindung. Seinem Regelungsanliegen nach ist er ausgerichtet an einer von Kompromißfindung und Vereinheitlichung der zwischenstaatlich regelungsfähigen und -bedürftigen Interessen geprägten Regelungsnotwendigkeit. Dies ist ungeachtet verschiedener Deformationserscheinungen und Vollzugsdefizite der EG-rechtlichen Praxis der Normsetzungsbefund. Diese Situation divergenter Regelsetzungszentren und Normsetzungsprinzipien wirkt in die staatsrechtliche Balance zwischen Legislative und Exekutive hinein. Wenn für das Staatsrecht eine grundsätzliche Aufgabentrennung zwischen Gesetzeserlaß und Gesetzesvollzug postuliert wird, diese Balance aber rechtspraktisch überformt wird durch die Reduplikation der Exekutive auf supranationaler Ebene und durch deren Ausstattung mit Regelsetzungsbefugnissen, die an praktischer Bedeutung dem innerstaatlichen Gesetzesrang zunehmend gleichkommen, so interferiert der supranationale Delegationsmechanismus mit dem innerstaatlichen Institutionengleichgewicht. Innerhalb der Surrogationslogik, die die Betrachtung des Korrespondenzverhältnisses von preisgegebenen mitgliedstaatlichen Kompetenzen einerseits und den Ausübungsmodalitäten in der korrespondierenden Ermächtigung des supranationalen Zusammenhangs andererseits kennzeichnet, entsteht eine an den Kategorien des staatstheoretischen Funktionenverständnisses gemessene Asymmetrie, indem das nationalparlamentarische Befassungssubstrat ausgehöhlt und auf der Grundlage des mittelbaren Demokratieverständnisses dem Rat als exekutivischem Organ überantwortet wird. Ob eine zum Gesetzgeber erstarkende Exe150

Zum Begriff konkurrierender Gesetzgebung im innerstaatlichen System der BRD bestehen gleichwohl nicht unerhebliche spezifische Differenzen; denn die Gemeinschaftsrechtsordnung ist – anders als das deutsche bundesstaatliche System – nicht explizit bipolar strukturiert. Ob aus vorhandenen negativen Kompetenzbestimmungen gleichwohl eine faktisch äquivalente Kompetenzsymmetrie folgt, ist umstritten. Dafür Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 693; kritisch demgegenüber von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 444. Vgl. dazu noch i. E. unten, Kap. 5, II. 1. b). 151 152

von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 49.

Dazu insbesondere Dann, Looking through the federal lens: The Semiparliamentary Democracy of the EU. Jean Monnet Working Paper No. 05/2002; zur Exekutivlastigkeit auch Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 117.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

kutive prinzipieninadäquat erscheint, hängt aber nicht davon ab, ob ein Ausgreifen auf Legislativtätigkeiten durch die innerstaatliche Exekutive selbst oder mittelbar durch ein mehrere nationale Exekutiven zu einem zwischenstaatlichen Organ integrierendes System erfolgt. Auch hier wird das Parlament gleichermaßen durch einen Normgeber in seinen Wahrnehmungsbefugnissen eingeschränkt, der eigentlich zur Rechtsanwendung und nicht zur Bildung von Obersätzen berufen ist. Die Integrationsermächtigungsnorm des Art. 23 GG, die als Explikation offener, integrativer Verfassungsstaatlichkeit Wechselwirkungen, Modifikationsund sogar Preisgabeeffekte in bezug auf fundamentale staatliche Verfassungsprinzipien gestattet, wenn diese der Integrationsdynamik geschuldet sind, ist in ihrem Rechtfertigungsvermögen bezogen auf die dargestellte Modifikation eines zum Rechtsstaatsprinzip gehörenden Prinzipienbestandteils begrenzt. Soll diese „dynamische“ Modifikationsermächtigung der offenen Verfassungsstaatlichkeit nicht als Freibrief unterbestimmt, sondern das Konfliktverhältnis zwischen Integration und Staatsverfassungsprinzipien verfassungsmethodologisch angemessen als Konkordanzgebot aufgefaßt werden, so gebietet die mit dem Konkordanzgebot einhergehende Notwendigkeit größtmöglicher Schonung beider konfligierender Normkategorien, daß Preisgabeeffekte für das innerstaatliche Gewaltengefüge strikt auf unabdingbare Notwendigkeiten supranationaler Integrationsdynamik und Organisationsstruktur rückführbar sind. Sind demgegenüber Alternativen denkbar, die sich in bezug auf das Gewaltenteilungsprinzip als bessere Wahrung verstehen, so sind sie vorzuziehen. In dem Maße, wie daher die organschaftliche Tragfähigkeit des EP als originär demokratische Repräsentationsinstanz plausibilisiert wird153, büßt die exekutivlastige ratsvermittelte demokratische Legitimation auch gemessen am Gewaltenteilungsprinzip ihre Rechtfertigung ein. Die Wahrung und der Fortbestand der vom Rat wahrgenommenen Rechtsetzungsbeteiligung müssen sich dann auf andere Kategorien als das Demokratieprinzip beziehen, da das demokratische Legitimierungsvermögen des Rates mit korrespondierenden gewaltenteilungsbezogenen Defiziten einhergeht, die durch originär-demokratische Repräsentationsformen vermieden werden. Die vorliegende These eines dualen Repräsentationskonzepts vermeidet diese Problematik, indem sie das Wesen der Ratsrepräsentation nicht demokratietheoretisch, sondern als kompensatorische Staatenrepräsentation neubestimmt und damit an einer kategorialen Rechtfertigungsebene mißt, die durch ihre Verwurzelung in den Prinzipien fortbestehender Staatlichkeit und komplementärer Verfaßtheit der Verrechenbarkeit mit der Alternative einer kompensatori153

Dazu ausführlich unten, Kap. 4, IV.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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schen Stärkung des EP entzogen ist. Der eigenständige, vom Staatsrecht unterschiedene Exekutivakzent des europäischen Organgefüges erweist sich im Lichte dieses Interpretationsansatzes als Tribut an die Notwendigkeit einer Staatenpartizipation am Rechtsetzungsprozeß. Das innerstaatliche Recht kennt zu dieser Repräsentationsnotwendigkeit kein unmittelbares Entsprechungsverhältnis154; die Staatenrepräsentation ist infolgedessen eine unmittelbar supranationalen Konstruktionsspezifika geschuldete Organisationsbesonderheit, die als Dispositionstitel innerhalb der geforderten Konkordanzbildung von Art. 23 und Art. 20 GG das erforderliche Kategoriegewicht mitbringt.

d) Zwischenergebnis Damit läßt sich als Zwischenergebnis festhalten, daß das Leitbild einer in mittelbarer demokratischer Legitimation bestehenden Organfunktion des Rates kategoriale Defizite offenbart. Das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation vermag es nicht, die dem staatsrechtlichen Legitimationsverständnis entspringenden Anforderungen auf den supranationalen Anwendungszusammenhang zu transponieren, ohne auf ein minderes Inklusionsniveau abzufallen. Nach hier vertretener Auffassung sind diese Defizite Ausdruck einer organisatorischen Überforderung des Rates aus demokratietheoretischen Gründen, die im Konzept der dualen Repräsentationsarchitektur vermieden werden.

5. Wesen der Staatenrepräsentation

a) Funktion der Staatenrepräsentation durch den Rat als Form des Wiedergewinns verlorener staatlicher Steuerungsmacht Das kontinentaleuropäische Normalmodell der Repräsentation von Individuen ist selbst dort, wo die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen präsidentielle Einschläge dokumentieren155, staatsverfassungsrechtlich der parlamentarische Willensbildungszusammenhang. Dementsprechend hat die vorliegende Untersuchung den repräsentativen Organisationszusammenhang des Parlamentaris154 Die Analogie zum deutschen Bundesrat hinkt, da der Bundesrat – anders als der Rat im Organisationszusammenhang der Europäischen Union – keine gleichberechtigte Kammer in einem symmetrischen Zweikammersystem ist. 155 Vgl. dazu in bezug auf Frankreich und Finnland Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 153 f. m.w.N.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

mus im zweiten Kapitel in den Mittelpunkt ihrer legitimatorischen Kennzeichnungen gestellt. Von parlamentarischer Willensbildung unterscheidet sich die durch den Rat auf supranationaler Ebene gewährleistete Staatenrepräsentation zunächst durch ihre Funktion. Während die Vergegenwärtigung der Individuen im Rechtsetzungsprozeß ein Legitimationsziel verkörpert, das sich im Ausgang von der freiheitsgesetzlichen Rechtsphilosophie Kants als kompensatorischer Wiedergewinn der eingebüßten naturzuständlichen Freiheit in Form kollektiver Selbstbestimmung kennzeichnen läßt156, stellt Repräsentation der Mitgliedstaaten im supranationalen Rechtsprechungsprozeß die Kompensation für die mit der Ermächtigung der Europäischen Union eingebüßte legislative Steuerungsmacht in einzelstaatlicher Perspektive dar. Diese beiden individual- und staatenrepräsentativen Kompensationsfunktionen haben Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Der argumentative Kern des Legitimationsarguments ist in beiden Fällen parallel angelegt. Beiden ist gemein, daß die Einräumung einer Partizipationsmöglichkeit ihre legitimatorische Qualität aus der Implikation einer Gleichwertigkeit von Ausgangszustand und kompensatorisch erlangtem Einfluß auf einen gemeinschaftlichen Willensbildungsprozeß gewinnt. Auf diese Weise erhält das aus einer repräsentativen Institutionenstruktur hervorgehende Rechtsregime nicht den Charakter der Heteronomie, sondern erscheint als Resultat eines evolutionären Tauschprozesses in bezug auf unterschiedliche Modalitäten personaler Autonomie. Indes wirkt die bereits im dritten Kapitel thematisierte subjektstheoretische Unterschiedlichkeit von Individuen und Staaten sich andererseits auch auf die Bestimmung der Repräsentationsfunktion aus. Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, daß der rechtskategoriale Bedeutungsgehalt des Repräsentationsprinzips Bezug auf die Individualpartizipation am staatlichen Willensbildungsprozeß darin besteht, die Kompatibilität der Geltung von Rechtssätzen mit dem Postulat personaler Freiheit zu erweisen. Die Rückführung des staatlich gesetzten Rechts auf einen repräsentativen Institutionenkontext dient unmittelbar dazu, das so gesetzte Recht als freiheitlich zu kennzeichnen157. Staatenrepräsentation im supranationalen Willensbildungsprozeß hat demgegenüber die Funktion, 156 In bezug auf das Wesen des Staates Kant, MdS, RL, § 47, IV, S. 434: Alle geben „ihre äußere Freiheit auf[...], um sie als Glieder des gemeinen Wesens [...] sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: [...] der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen Freiheit einem Zwecke aufgeopfert...“. Darauf aufbauend in bezug auf die konkreten Konstitutionsprinzipien des so am Prinzip des Rechts ausgerichteten Staates ders., § 52: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein, als ein r e p r ä s e n t a t i v e s System des Volkes, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen.“ [Kursivhervorhebung von mir]. 157

s.o., Kap. 2, II.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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eine Preisgabe des staatsrechtlichen Verfaßtheitsstatus gegenüber dem supranationalen Rechtsregime zu verhindern und die Kompatibilität fortbestehender Staatlichkeit mit den eingegangenen suprastaatlichen Bindungen zu erweisen. Diese Notwendigkeit hat eine dem Prinzip der Komplementärverfassung verantwortliche Bedeutung; der Staatenrepräsentation kommt aber nicht der gleiche kategorische Bedeutungsgehalt zu wie die individualrepräsentative Willensbildungsstruktur158. Staatliches Recht, das nicht durch repräsentative Partizipation der rechtsunterworfenen Individuen gekennzeichnet ist, büßt seine freiheitsgesetzliche Qualität und damit insgesamt seine Legitimität ein. Supranationales Recht, das ohne Mitwirkung mitgliedstaatsrepräsentierender Organe gesetzt würde, büßte demgegenüber zunächst nur seine Komplementärqualität ein. Lediglich vermittelt – über den Austausch des Verfassungsparadigmas der Komplementarität und gemessen hieran ggf. zutage tretende legitimatorische Friktionen –, nicht aber ipso facto würde so gesetztes Recht damit seine Legitimitätskonnotation verlieren. Der Übergang zu einer europäischen Bundesstaatlichkeit etwa wäre mit einer solchen Verselbständigung des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses von den staatsbezogenen Repräsentationsformen verbunden, ohne daß dadurch das in seinen Willensbildungsbedingungen modifizierte Sekundärrecht legitimatorisch defizitär würde.

b) Struktureller Unterschied von Individualrepräsentation und Staatenrepräsentation Das Wesen der Staatenrepräsentation durch den Rat unterscheidet sich außerdem strukturell substantiell dadurch vom parlamentarischen Modell, daß ihr keine für den Parlamentarismus kennzeichnende Vorstellung der Einheitsrepräsentation, sondern das Konzept einer kooperativen und distributiven Selbstrepräsentation zugrunde liegt. aa) Parlamentarismus als gesamtrepräsentatives Konzept Parlamentarismus ist die Form repräsentativer Willensbildungsorganisation einer Vereinigung von Individuen unter Rechtsgesetzen159. Zweck des Parlamentarismus ist die Artikulation eines gemeinschaftlichen regelsetzenden Wil-

158

Insoweit zutreffend Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 563: „Die Staaten sind kein Selbstzweck“. 159 Vgl. etwa Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR, Band I, § 23, Rdnr. 32 ff., S. 971.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

lens innerhalb eines auf ein Volk160 als Souverän rückbezogenen staatlichen Gemeinwesens. Die staatliche Identitätsgemeinschaft unter dem Prinzip des Rechts ist eine kollektive, nicht bloß distributive161. In ihr artikuliert sich eine grundlegende Homogenität der Rechtskonstituenten in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Identitätszusammenhangs, der das staatliche Gemeinwesen trägt. Diese Identitätseinheit ist Repräsentationsgegenstand parlamentarischer Willensbildung, nicht etwa die einzelnen Individuen in ihrer jeweiligen Individualität. Die für das Repräsentationsprinzip kennzeichnende Bedeutung der Vergegenwärtigung der normbetroffenen Adressaten162 folgt im Parlamentarismus der Vorstellung einer staatskonstituierenden Willenseinheit aller Staatsbürger darin nach, daß auch das Parlament der Repräsentation einer Einheit, nicht etwa einer Addition von Einzelsubjekten dient. Das Konzept der Gesamtrepräsentation, positivrechtlich für die Bundesrepublik Deutschland verwirklicht in Art. 38 Abs. 1 S. 2163, dient dazu, durch das Parlament die Forterstrekkung des Staatszwecks einer Willensvereinigung unter Rechtsgesetzen auf die einfachgesetzlichen Konkretisierungen dieses Rechtsprinzips institutionell zu gewährleisten. bb) Staatenrepräsentation als Selbstrepräsentation Von diesem Konstruktionsprinzip weicht die Repräsentationsqualität, die dem Rat als supranationalem Organ der Staatenrepräsentation zufällt, in mehreren Aspekten ab. Die Aufgabe der Staatenrepräsentation ist eine originär zwischenstaatliche, das staatliche Intersubjektivitätsverhältnis betreffende Aufgabe, für die es im Staatsrecht keine Entsprechung gibt.

(1) Wesen der koordinativen Selbstrepräsentation Die mitgliedstaatliche Verbundenheit unter einem – zwischenstaatlichen – Rechtsprinzip ist keine dem Prinzip des Staats korrespondierende Form der Staatenvergemeinschaftung. Ein Staatenstaat stößt aufgrund der immanenten

160 Zu der Frage, wie der Volksbegriff inhaltlich zu verstehen und ob es als unverzichtbares Substrat eines repräsentativen Willensbildungszusammenhangs anzusehen ist, vgl. unten, Kap. 4, IV. 3. b). 161 Vgl. Kant, EF, Anhang, VI, S. 230 f.: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen in einer gesetzlichen Verfassung nach Freyheitsprinzipien zu leben (die distributive Einheit des Willens aller) zu diesem Zweck nicht hinreichend sondern daß alle zusammen diesem Zustand wollen (die collective Einheit des vereinigten Willens)“. 162 s.o., Kap. 2, III. 2. a). 163 Vgl. dazu Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 237.

III. Die Repräsentationsfunktion des Rates

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Paradoxie eines solchen Unterfangens an konstruktionslogische Grenzen164. Ihrer äußeren Form nach, die in der Verfassungsform des Vertrages im dritten Kapitel gekennzeichnet wurde, ist die mit der Europäischen Union institutionalisierte zwischenstaatliche Verrechtlichung eine vom Konsensprinzip getragene Kooperationsstrategie. Mit ihr geht keine Verschmelzung der europäischen Staaten oder der sie konstituierenden Völker zu einer homogenen Einheit einher, sondern sie stellt – dem komplementären Wesen der supranationalen Rechtsordnung entsprechend – eine Form der subsidiären Ergänzung der in ihrem Regelsetzungsprimat fortbestehenden selbständigen staatlichen Einheiten dar. Eine Verschmelzung der konstituierenden Mitgliedstaaten bewirkte den Übergang zu einem europäischen Bundesstaat. Die koordinative Verfaßtheitsform der Europäischen Union findet im Wesen der ratsvermittelten Staatenrepräsentation seine Entsprechung und konsequente Fortschreibung. Eine die Staaten kollektivierende Strategie der Gesamtrepräsentation würde – abgesehen von der genannten Paradoxie – in einen notwendigen konstruktiven Widerspruch zur Autorenschaft und Letztentscheidungsbefugnis der jeweiligen Staatsvölker über diesen Verfaßtheitszusammenhang treten. Repräsentationsformen, die darüber hinausgingen, würden die Konstitutionalisierungsbedingungen der Staatlichkeit wiederum mittelbar in Frage stellen und sind deshalb definitionsgemäß nicht gangbar. Im Rat repräsentieren die jeweiligen Vertreter des jeweiligen Mitgliedstaats nur ihren Staat; ein dem Parlamentarismus entsprechendes Konzept der Gesamtrepräsentation ist ausgeschlossen. Die Auffassung, die Mitglieder des Rates seien Vertreter sämtlicher Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wird im europarechtlichen Schrifttum nicht vertreten. Hervorgehoben wird vielmehr, daß die Ratsvertreter jeweils – d. h. distributiv – ihre Verantwortung im staatsrechtlichen Rückkopplungszusammenhang wahren. Eine wechselseitige Mitrepräsentation der anderen Staaten findet hingegen nicht statt. Das hängt wesentlich auch damit zusammen, daß die Repräsentationsfunktion der jeweiligen im Rat versammelten Staatenvertreter bereits als Organfunktion aus dem innerstaatlichen Recht – außerhalb ihrer Funktion als Mitkonstituenten des supranationalen Organzusammenhangs – mitbringen: Ihre Repräsentationsqualität auf supranationaler Ebene entspricht im Grunde dem, was auch ihre Repräsentantenstellung im innerstaatlichen Recht in ihrer Eigenschaft als Exekutivmandatar ausmacht.

164

s.o., Kap. 3, III. 4. a) bb)/cc).

354

Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

(2) Kollegialitätsprinzip als Grenze der Ausgestaltung des Willensbildungsprozesses Kennzeichnend für die interne Organstruktur des Rates ist seine Kollegialität165. Durch das Kollegialitätsprinzip wird die Repräsentationsfunktion der im Rat vertretenen nationalen Funktionsträger lediglich in einer auf die supranationale Willensbildungsnotwendigkeit zugeschnittenen Institutionalisierung gebündelt und um das Element der Koordination ergänzt und erweitert. Der Rat ist ein Schnittstellenorgan zwischen Mitgliedstaatlichkeit und Supranationalität: In der Rechtsetzung beziehen sich die Ratsmitglieder als Konstituenten eines Gemeinschaftsorgans jeweils kollegial aufeinander, ohne daß ihre Repräsentantenfunktion aus dem Umstand der Kollegialität eine qualitativ andere, von ihrem staatsverfassungsrechtlichen Mandat zu unterscheidende Dimension bekäme. Diese Kooperationsform kann man in einer gegenüber dem Parlamentarismus unterscheidenden Begrifflichkeit als distributive Kollegialität bezeichnen, weil sie auf einem auf die Staaten durch ihre Repräsentanten je einzeln bezogenen Konzept beruht. Im Unterschied zu der kollektiven Gesamtvereinigung166 des parlamentarischen Systems manifestiert sich die jeweils einzelstaatliche Repräsentation der Mitgliedstaaten durch den jeweiligen Exekutivvertreter in einer distributiven Kollegialität, deren strukturstiftende Idee nicht auf einer Vergemeinschaftung unter einer gemeinsamen Rechtsidee beruht, sondern auf dem Leitbild der Kooperation. Anders als im Leitbild der Vergemeinschaftung dominiert in dieser Kooperation der fortbestehende Selbstand als individuelle Autonomie. Die Willensbildungsregel dieser Kollegialität ist grundsätzlich der Konsens, der im parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozeß regelmäßig illusorisch sein wird167. Dieser Zusammenhang von Institutionenauffassung und korrespondierenden Willensbildungsregeln kennzeichnet die paradigmatische Unterscheidung zwischen parlamentarischer, majoritärer Demokratieverwirklichung einerseits und dem föderativen, konsensbasierten, nichtmajoritären Strukturverständnis der Europäischen Union168, das im Rat seine organisatorische Ver165 Allgemein zu Kollegialstrukturen Epping, Die Willensbildung von Kollegialorganen, DÖV 1995, S. 719-724. 166 Dazu Kant, MdS, RL, § 46, VI, 314; ders., EF, Anhang I. Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden, VIII, 371. 167 Vgl. aber die Formulierung von Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 ff.: „Soviel Konsens wie möglich, soviel Mehrheitsentscheidung wie nötig.“: Zum Zusammenhang von Konsensprinzip und völkerrechtlicher Verfaßtheitsform auch Curtin, Postnational Democracy: the European Union in search of a political philosophy, 1997, S. 27. 168 Dazu Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 5; Curtin (Fn. 167).

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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wirklichung erfährt. Im Konsens als Willensbildungsmodell des Rates zeigt sich ein Entsprechungsverhältnis von der Normativität der vertragsbewirkenden Willensübereinkunft zum Willensbildungsmodell auch der normhierarchisch nachgeordneten Sekundärrechtsetzung. Die Übertragung der Mehrheitsentscheidungsregel auf den Willensbildungsprozeß des Rates, die im Zuge der letzten Vertragsrevisionskonferenzen und des Verfassungskonvents einen gewichtigen Stellenwert eingenommen hat, ist deshalb problematisierungsbedürftig. Sie ist eine repräsentationstheoretische Kontextüberschreitung, die den Charakter eines Systembruchs annehmen kann169.

IV. Kompensationsfunktion der originären supranational-demokratischen Repräsentation durch das Europäische Parlament Die Etablierung des EP als eigenständiges Repräsentationsorgan in einem dualen Repräsentationssystem wirft verschiedene, jeweils eigenständige Kategoriefragen auf, die ihrem Schwerpunkt nach deutlich unterschieden sind von den Problemen, die die Konturierung des Repräsentationsprofils des Rates offenbarte. Während bei diesem die Aufgabenstellung in erster Linie in der Reformulierung eines reduzierten, von übertriebenen Anforderungen befreiten Organverständnisses bestand, das eine demokratietheoretische Überfrachtung mit Kompensationsaufgaben vermeidet, die dieser nicht einzulösen vermag, erfordert die Zuweisung einer eigenen, selbständigen und kategorial verorteten Repräsentationsstellung des EP gegenläufig die Auseinandersetzung mit Einwänden, die auf behaupteten rechtsprinzipiellen Defiziten des EP beruhen. Diese Defizite konzentrieren sich namentlich wiederum in demokratietheoretischen Erwägungen, die dem herrschenden organfunktionalen Verständnis des Rates als Demokratieträger korrespondieren. Die oben kritisierte Prämisse einer ratsvermittelten demokratischen Legitimation stellte sich dar als gespeist aus einem stark staatsrechtsexklusiven Prinzipienverständnis von Demokratie, welche erklärbar macht, das eine durch den Rat vermittelte Rückführung der Sekundärrechtswillensbildung auf das „authentisch“ demokratische Nationalparlament trotz seiner Defizite vorzugswürdig erscheinen ließ gegenüber der direkteren Inklusion über ein supranationales, in seinem Prinzipiengehalt und Bezugsgegenstand jedoch unbestimmtes Konkurrenzparlament. Spiegelbild dieser Auffassung ist eine kategoriale Rechtfertigungsbedürftigkeit europäischer Parlamentarisierung, die – ungeachtet der hier verfolgten repräsentations-

169

Dazu ausführlich unten, Kap. 5, VI.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

theoretischen Akzentsetzung – wiederum in der Diskussion überwiegend im Demokratieprinzip ihre Verortung findet. Ein Teil der hierfür erforderlichen Begründungsleistung ist in der Kritik des herrschenden Organverständnisses des Rates enthalten, welche bereits170 entwickelt wurde. Während sich nämlich ratsvermittelte demokratische Legitimation als unvollkommenes Surrogat nationaler parlamentarischer Willensbildung darstellte, die namentlich am kategorialen Gehalt des Prinzips der Gewaltenteilung zu beanstanden ist, indem eine exekutivische Organbesetzung zur Legitimation material legislativer Tätigkeit instrumentalisiert wird, und damit die republikanische Qualität einer kategorial schlüssigen Funktionentrennung in Frage stellt, entgeht das supranationale „Quasiparlament“ EP diesem Vorwurf durch die den Nationalparlamenten strukturanaloge Angepaßtheit an die Aufgabe der Mitwirkung am Legislativwillensbildungsprozeß. Mit diesem Befund bestimmter organschaftlicher Vorzüge des EP ist allerdings für sich genommen die organschaftliche Tragfähigkeit des EP insgesamt noch nicht hinreichend plausibilisiert. Die verbleibende Rechtfertigungsbedürftigkeit differenziert sich aus in drei tragende Gesichtspunkte. Einerseits stellt sich die Frage, ob in der Parlamentarisierung des EP eine substantielle Verwirklichung von Demokratie auf europäischer Ebene gesehen werden kann, die dem Kompensationsanspruch genügt, den die duale Repräsentationsarchitektur als Ausdruck supranationaler Komplementärverfaßtheit beansprucht. Die strukturellen Probleme des EP als Konkurrenzparlament werfen die Frage nach einem Demokratiekonzept auf, das staatsradizierte Prinzipiengehalte mit den Anforderungen des Mehrebenensystems versöhnt und sich nicht als demokratietheoretisch defizitäre Partizipation darstellt, mit der sich der Inhalt des Demokratieprinzips letztlich mehr in Frage gestellt als verwirklicht sieht (dazu 1.). Gleichzeitig stellt sich die damit eng zusammenhängende Frage, ob mit einer Parlamentarisierung des europäischen Willensbildungprozesses nicht – trotz der verfassungsprinzipiellen Festschreibung der Nichtstaatlichkeit der Europäischen Union im Prinzip der Komplementärverfassung – eine mit der Primarität des Staates in Widerspruch stehende Aushöhlung staatlicher Souveränität einhergeht, die die Substanz des Fortbestandes staatlicher Selbstbestimmung material entleert und damit die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten trotz formaler Respektierung der Substanz nach in Frage stellt (dazu 2.). Drittens – diese Frage steht repräsentationstheoretisch im Mittelpunkt – ist klärungsbedürftig, worin die Repräsentationsfähigkeit des EP in bezug auf eine von diesem zu repräsentierende Identität besteht. In dieser Frage manifestiert sich die Problematik der vorrechtlichen Homogenitätsbedingungen, die einem 170

Kap. 4, III.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

357

Repräsentationsorgan die Wahrnehmung einer vergegenwärtigenden Funktion in bezug auf die hinter ihm stehenden Repräsentationssubjekte erst ermöglichen (dazu 3.).

1. Demokratietheoretische Einschränkungen einer originär-repräsentativen Position des EP

a) Demokratie als Ausnahmeerscheinung internationaler Rechtsverhältnisse Auch wenn die Diskussion um die Applikation des Demokratieprinzips auf die EU im Zuge des Integrationsfortschritts der 90er Jahre einen weitgehenden Konsens über die Notwendigkeit der Etablierung originär demokratischer Strukturen im europäischen Willensbildungsprozeß dokumentiert171, bedeutet das nicht, daß sich die Demokratisierung von Rechtsverhältnissen internationalen Rechts von selbst versteht172. Da Demokratie im klassischen Völkerrecht nicht beheimatet ist173, stellt sich im konventionellen Erscheinungsbild internationalen Rechts die Repräsentation des Staates mit seiner verfaßtheitsinternen Legitimationsquelle Parlament als zureichendes Surrogat für die regelmäßig problematische Demokratisierbarkeit internationaler Einrichtungen dar. Dies ist auch nicht bloß überkommenen, demokratiefeindlichen Strukturen klassischen Völkerrechts als Tribut an historische Kontingenzen geschuldet, sondern entspricht dem institutionellen Primat des Staates für die rechtliche Selbstbestimmungsleistung der in ihm vereinten Individuen174 und der Bezogenheit des De-

171

Demokratiedefizite der EU beklagend: Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, JZ 2001, S. 53 ff.; Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 625 ff.; differenziert Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm, insb. S. 6 ff. 172 Deutlicher artikuliert in der älteren Literatur, wenn auch z. T. überspitzt mit der Implikation, Demokratie in der EU sei schlechthin ausgeschlossen: Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVBl. 1964, S. 781 ff. 173 Friauf (Fn.172), S. 781 ff.; ausführlich zu den historischen Gründen und philosophiegeschichtlichen Implikation der auswärtigen Gewalt im Anschluß an Locke, Montesquieu und Rousseau Krauß, Parlamentarisierung der europäischen Außenpolitik, 2000, S. 27 ff. 174 Grundlegend hierfür Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274: Der Staat müsse durch seine Verfassung alle Verhältnisse durchdringen.

358

Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

mokratieprinzips auf diese Aufgabe175. Die Anforderung, Demokratie überhaupt auf ein auf völkerrechtlicher Grundlage entstandenes Integrationsgebilde anzuwenden, trägt dem Umstand Rechnung, daß die supranationalitätstypische Verselbständigung von Rechtsetzungsbefugnissen der gemeinschaftlichen Organe gegenüber den Mitgliedstaaten das typisch völkerrechtliche, exekutivisch geprägte Gründungsverfahren funktional überlagert176 und damit eine Legitimationsfrage aufwirft, die durch Verweis auf die sich im Zustandekommen der primärrechtlichen Verträge manifestierende Repräsentation mitgliedstaatlicher Willensbildungszusammenhänge nicht für alle denkbaren Ausdrucksformen europäischen Rechts mehr hinreichend beantwortet ist177. Demokratie wird im Völkerrecht der EU nur deshalb thematisch, weil die klassischen völkerrechtlichen Formen überschritten sind und insoweit staatsähnliche Aufgabenstrukturen erkennbar werden. Diese Etablierung von repräsentativ-demokratischen Willensbildungsstrukturen auf supranationaler Ebene zur Legitimation des Sekundärrechts eröffnet ein Konkurrenzverhältnis zum Demokratieprinzip, das im herkömmlich-staatsbezogenen Verständnis eine Monopolinstitution des Staates ist. Die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten statuieren, soweit sie wie die Bundesrepublik in Art. 20, 38 GG das Demokratieprinzip als Determination ihrer Staatsstruktur artikulieren, je kein universales demokratisches Konzept, sondern bringen – ihrer Eigenschaft als Staatsverfassung entsprechend – eine Anforderung an die nationale Willensbildung zum Ausdruck. Der Gedanke einer kompensatorischen Stärkung originär-supranationaler Demokratiestrukturen ist deshalb nicht ohne weiteres mit der nationalstaatlich radizierten Anforderung demokratischer Willensbildung kompatibel. Er stellt auch dann, wenn die Erwägungen zur notwendigen Begrenztheit staatsbezogener Begriffsbildung, die bereits im vorigen Kapitel anhand des Verfassungsbegriffs expliziert wurden, auf den vorliegenden Kontext übertragen werden, vor eine Rechtfertigungsanforderung, die einerseits staatsverfassungsrechtlicher Art, andererseits rechtsprinzipieller Natur ist. Indem das EP als Träger eines originären Repräsentationszusammenhanges thematisch wird, das nach Maßgabe des überkommenen Begriffsverständnisses als originäre demokratische Legitimation anzusehen wäre, findet es sich in einem rechtsprinzipiellen Kontext, der verschiedene

175 Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR, Band I, § 23; Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 426. 176 177

Nicolaysen, Europarecht I, 2002, § 3, S. 82 ff.

Wo das Repräsentationsprinzip den innerstaatlichen Willensbildungszusammenhang noch legitimierend auch für das Sekundärrecht institutionalisieren kann und wo es der eigenständigen demokratischen Legitimation durch Inklusionsmechanismen auf europäischer Ebene bedarf, wird im letzten Kap. dargelegt.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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Anpassungs- und Rückwirkungsprobleme aufwirft und dementsprechend nicht ausschließlich am Repräsentationsprinzip, sondern auch an demokratietheoretischen Erwägungen rückgebunden werden muß. Um im Legitimitätsniveau gegenüber der gemeinschaftsprimärrechtlichen Ebene nicht abzufallen, muß eine genuin europäische Repräsentationsstruktur die normbetroffenen Individuen gerade in bezug auf jenen Autonomiegehalt in der Willensbildung originär repräsentieren, welcher durch die Verlagerung substantieller Entscheidungskompetenzen auf die Integrationsgemeinschaft der legitimatorischen Befassung der Nationalparlamente insgesamt entzogen wird oder zumindest ihrer Befassung nicht zugänglich ist178. Zweitens muß dieses Repräsentationsvermögen in den sekundärrechtlichen Handlungsformen auch seinen authentischen Ausdruck finden. Beide Anforderungen erfordern einen europaparlamentarischen Ermächtigungsumfang, mit dem sich der konstruktive Antagonismus zwischen Demokratie und staatlicher Öffnung für Integrationsprozesse in die Frage der Auswirkungen originär-europäischer Demokratisierung in das staatsrechtliche Organgefüge hinein fortsetzt. Da Demokratie begrifflich mit Entscheidungsbefugnis verbunden ist – dies meint nicht eine lediglich pro forma durchgeführte Akklamation von in Wahrheit anderswo bereits gefällten Entscheidungen, sondern souveräne und letztgültige Wahl zwischen gerade dem Entscheidungsorgan zugestandenen Handlungsalternativen, so daß seine Entscheidung die Handlungsalternativen anderer Rechtsetzungsbeteiligter determiniert179 – kann die legitimierende Kraft der Einräumung neuer Mitwirkungsbefugnis für ein originär europäisches demokratieverwirklichendes Partizipationsverfahren nur dort erfolgen, wo die der gemeineuropäischen Entscheidung zugestandene Befugnis dem nationalen Parlament gerade nicht mehr zusteht. Parlamentarische Demokratie im staatsrechtlichen Sinne impliziert zunächst latente parlamentarische Allzuständigkeit180. Entscheidungsgegen178

Zur umstrittenen Frage, ob die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen abgeleitet sind (so von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3 b, Rdnr. 11) oder originäre Gemeinschaftskompetenzen darstellen, vgl. oben, Kap. 3, III. 3. c) bb). 179 Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 661; deswegen genügt es nicht, wenn man angesichts der bestimmten Faßbarkeit der Bedingungen einer Organverantwortlichkeit für das Zustandekommen von Rechtsakten wie Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 75, auf „ein gewisses Maß an demokratischer Eigenlegitimation“ auch durch andere Mitwirkungsformen verweist. 180 Maunz/Dürig/Herzog, Art. 20 Abs. 2, Rdnr. 84; Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998; vgl. auch Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 586, der die Totalität staatlicher Verfassungen dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auf Unionsebene kontrastiert; ebenso Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 70 f.; demgegenüber halten von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

stände eines rechtlichen Gesamtsystems, das in ein staatsrechtliches und ein gemeinschaftsrechtliches Teilrechtssystem unterteilt ist, sind aber nicht beliebig reproduzierbar. Die Installation eines supranationalen Parlaments bzw. Parlamentsersatzes geht nicht mit einer Reduplikation der Entscheidungsgegenstände einher, sondern lediglich mit ihrer modifizierten regelsetzenden Befassung aus einem übergeordneten gemeinschaftsbezogenen Betrachtungswinkel181. Staatsrechtliche und gemeinschaftsrechtliche Normsetzung in gleichen Politikbereichen sind auf eine einheitliche Lebenswirklichkeit eines gemeinsamen Rechtsraumes bezogen. Dies wurde bereits eingangs hinsichtlich der Geltungsspezifika des Gemeinschaftsrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung hinein aufgezeigt; dem entspricht auch die Einbeziehung der Individuen, die auf diese Weise sowohl vom Gemeinschaftsrecht als auch vom innerstaatlichen Recht obligiert werden, als Rechtssubjekte in die Adressatengruppe182.

b) Paradoxe Effekte eines mehrebenenbezogenen Demokratiebegriffs Originäre europäische Demokratisierung durch Stärkung von Partizipationsmöglichkeiten demokratischer Gremien in der EU einerseits und mitgliedstaatliches Demokratieprinzip andererseits stehen deshalb in dieser Hinsicht zueinander im Verhältnis kommunizierender Röhren: Die Stärkung demokratischer Partizipationsoptionen in der Gemeinschaft im Zuge erweiterter Befugniseinräumung steht in einem Ermächtigungskontext und ist davon abhängig, auf einen vorgängigen und vorausgesetzten Bedeutungsverlust der nationalen ParUnion, EuGRZ 2001, S. 445, diese staatstheoretische Figur im Kontext einer Abgrenzung der Verbandskompetenzen von Union und Mitgliedstaaten für verzichtbar. 181 In diese Richtung auch von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 3 b Rdnr. 11. Dies zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit in der Ermächtigung der Union bezogen auf die besonders souveränitätssensiblen Politikfelder; beispielhaft etwa im jüngsten Bemühen, die mitgliedstaatlichen Strafrechtskodifikationen durch gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu überformen (vgl. dazu den Schlußbericht der Gruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ des Verfassungskonvents vom 2. Dezember 2002, Dok. CONV 426/02, S. 9; kritisch gegenüber der strafrechtlichen Ermächtigung der Europäischen Union bereits M. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, FS Mangakis 1999, S. 751 ff.; ders., Form und Inhalt europäischer Strafrechtsangleichung, KritV 2001, S. 305 ff.: Der numerus clausus möglicher Gegenstände strafrechtlicher Regelsetzung werde nicht dadurch erweitert, daß seine gemeinschaftseinheitliche Normierung angestrebt wird. Kritik an einer subtraktiven Auffassung des Prinzips der Demokratie auch bei Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, FS Everling 1995, S. 1651 ff. 182

Dazu Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 319 ff.; von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 107.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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lamente bezogen werden zu können183. Die Übernahme von staatsrechtlichen Demokratieanforderungen für einen supranationalen Entscheidungsverbund kann aus diesem Grund die Folge haben, einen weiterreichenden Kompetenztransfer zu fordern, als er verfassungsrechtlich unter dem Aspekt des Parlamentsvorbehaltes184 zu fordern ist, und aufgrund einer unter Umständen vorläufig nur fragmentarisch ausgeprägten demokratischen Leistungsfähigkeit europäischer Organe185 den paradoxen Effekt eines Verlustes an effektiver demokratischer Partizipationsmöglichkeit mit sich bringen186. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der europäische Kompetenzzuwachs sich zunächst jeweils zu Lasten der nationalen Parlamente auswirkt, eine schrittweise Stärkung genuin europäischer Repräsentation durch das EP jedoch regelmäßig erst zeitlich nachgeordnet durch die Vertragsrevisionskonferenzen nachvollzogen worden ist, um vorhandenen Kompetenzen ein adäquates Legitimationsprofil zu vermitteln187. Die Kompetenzen der EU zur Sekundärrechtsetzung erstrecken sich zwar bereits heute – trotz formell begrenzter Einzelermächtigung – auf die meisten Politikfelder und lassen nur bezogen auf wenige, besonders souveränitätssensible Felder Lücken188. Das entspricht dem Selbstverständnis der Union als „Europa der Bürger“189, der Überschreitung des primär wirtschaftsrechtli183 Vgl. Grimm (Fn. 180), S. 586; Werner von Simson, Wachstumsprobleme einer europäischen Verfassung, in: FS Kutscher (1981), S. 481, 485; ders., HdB VerfR 1983, S. 59, 74 f.; Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1984, S. 11. 184 Zur Herleitung aus der Wesentlichkeitstheorie vgl. nur die Nachweise bei Kloepfer, Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, S. 195 ff.; Zum Aussagegehalt als Delegationsverbot vgl. G. F. Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 105, 111; Ossenbühl, HdBStR, Rdnr. 11 ff.; zum Verhältnis von Parlamentsvorbehalt als Maßprinzip gemeinschaftsrechtlicher Ermächtigung BVerfGE 89, 155 ff. 185 Grimm (Fn. 180), S. 586. 186 Zur Paradoxie einer auf der Stärkung des EP beruhenden möglichen Schwächung (demokratischer) Legitimation eingehend Weiler, Parlement Européen, Intégration Européen, Démocratie et Légitimité, in: Louis/Waelbroeck (Hrsg.), Le Parlement Européen, Brüssel 1988; ders., The Transformation of Europe, 100 Yale Law Journal (1991), S. 2466; die paradigmatische Abhängigkeit dieser Auffassung von einem strikt volksbezogenen Demokratieverständnis analysiert ders., The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff. 187 So auch Maurer, Nationale Parlamente in der Europäischen Union – Herausforderungen für den Konvent, Integration 2002, S. 21. 188 Vgl. von Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 116. 189 Wenngleich dieser Begriff recht inflationär als Mittel politischer Rhetorik gebraucht wird, ist in ihm doch der Sinngehalt eines eigenständigen rechtssubjektiven Status der Individuen im supranationalen Verbund und die hiermit einhergehende politische Qualität der Rechtsgemeinschaft treffend charakterisiert.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

chen Integrationsrahmens ihrer Entstehungsphase190. Es fehlt deshalb nicht an einem Bezugssubstrat, in bezug auf das originär demokratische Entscheidungen gefällt werden und eine genuin europäische Befugnisausübung legitimitätsvermittelnd ausgeübt werden könnte. Die gegenwärtige Problematik ist weniger von der Frage geprägt, in welchem Ausmaß ein zukünftiger Kompetenztransfer möglich erscheint, auf den sich originär-europäische Legitimationsmechanismen beziehen könnten, sondern wie demokratische Strukturen in die bestehenden Kompetenzen implementiert werden können. Entscheidend ist aber, daß die Frage der Demokratisierung von Entscheidungsprozessen nicht abgelöst beurteilt werden kann von den Handlungsformen, in denen sich die Kompetenzwahrnehmung vollzieht und auf die die Demokratisierung deshalb bezogen sein soll. Sie ist im Gegenteil zu dieser akzessorisch. Die Übertragung eines rein staatsrechtlich instruierten Demokratieverständnisses könnte mit seinen parlamentszentrierten Ausschließlichkeitsprämissen191 die Konkurrenzsituation von mehreren Demokratieausübungsebenen weder erklären noch zu einer Synthese von Staatsrecht und Gemeinschaftsrecht führen. aa) Staatsorientiertes Demokratieprinzip Verschiedene Autoren haben aus diesem Bezugsverhältnis von staatsrechtlicher Verortung des Demokratieprinzips, defizitärer Ausgeprägtheit des EP und fehlender europäischer Bundesstaatlichkeit den – in der deutschen Staatrechtslehre wohl vorherrschenden192 – Schluß gezogen, daß eine Demokratisierung durch Parlamentarisierung jedenfalls vorläufig193 ausgeschlossen bleibt. Obwohl die Unionsverfassung194 die teleologische Verfassungskomponente eines 190 Vgl. Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, FS Kutscher 1981, S. 335; den wirtschaftlichen Rahmen transzendiert auch der Schlußantrag von GA Trabucchi, Slg. 1975, 692 ff.; „wahre Rechtsordnung nicht nur im Sinne der Wirtschaft, sondern auch der Völker“; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 74: „mehr und mehr in Frage gestellt durch das Ziel der Politischen Union“. 191 Zu dieser Frage insbesondere Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 426, 427. 192 Deutlich statt vieler Marcel Kaufmann (Fn. 191), S. 23: „Wird Demokratie als Strukturgebot der Europäischen Union behauptet und zugleich deren Staatlichkeit verneint, so führt der begriffliche Staatsbezug der Demokratie zu einer schwer behebbaren Unschärferelation“; kritisch gegen die staatsorientierten Demokratiebegriffe etwa Bieber, Demokratie und Entscheidungsfähigkeit in der künftigen Europäischen Union, S. 14 ff. 193 BVerfGE 89, 155, 185. 194 6. Erwägungsgrund: „in dem Wunsch, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken […]“.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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auf Intensivierung angelegten Verfassungsprozesses artikuliert, bleibt die Integrationsdynamik einem Leitbild verpflichtet, das vom Fortbestand der Primarität der Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Institutionen kollektiver Selbstbestimmung ausgeht, und zu der die Parlamentarisierung Europas ein Spannungsverhältnis bildet. Marcel Kaufmann hebt mit Bezug darauf hervor, in der substantiellen Identität von Regierenden und Regierten sei zugleich die Exklusivität der Herrschaftsunterworfenheit impliziert195. Dieses Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit ist in dem Moment gefährdet, in dem originär gemeinschaftsrechtliche Repräsentationsorgane an die Stelle der nationalen Parlamente treten; gewissermaßen ist dies die souvernitätstheoretische Implikation des Demokratieprinzips im Ausgang von einem stark auf die staatliche Unabhängigkeit nach außen akzentuierenden, noch näher problematisierungsbedürftigen Souveränitätsbegriff196. Die Union lebt von der Aufgehobenheit der Mitgliedstaaten in ihrem Verfassungsgefüge197; diese vermitteln ihr nach dieser staatsorientierten Auffassung Legitimität durch ihre repräsentative Binnenverfaßtheit und teilen sie den Rechtsakten der Union über die Ausgestaltung des die Mitgliedstaaten repräsentierenden Rates als Hauptrechtsetzungsorgan mit. Dieser bereits in den vorangegangenen Ausführungen als Hauptgrundlage europäischer Legitimitätsvermittlung bezeichnete Repräsentationsstrang wirkt sich hier mittelbar als Hinderungsgrund aus, sofern ein Erstarken des EP mit einer verdrängenden Wirkung gegenüber nationalen Parlamenten einherginge: Parlamentarisierung wirkt gewissermaßen als unzulässige Staatswerdung über die Hintertür198. Kaufmann bringt diese Auffassung, welche den Gehalt des Demokratieprinzips in enger Verbundenheit mit dem systematischen Kontext staatli-

195

Fn. 191, S. 426.

196

Fn. 191, S. 277; ebenso zum Spannungsverhältnis von Demokratieprinzip und Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit A. Bleckmann, Das Demokratieprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 168. Ausführlich dazu unten, Kap. 4, IV. 2. 197 Ähnlich Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 73: „Gemeinschaftsrechtsordnung […] nicht mehr als von den Mitgliedstaaten separierte Rechtsordnung […], sondern als übergreifende Rechtsordnung im Sinne einer Rechtsgemeinschaft, die durch die Mitgliedstaatenrechtsordnungen aufgenommen und ergänzt wird“; perspektivisch dürfte es sich allerdings eher umgekehrt verhalten, als Mayer es formuliert. Die Qualität als Rechtsgemeinschaft betonen auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 259; Gündisch, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft. Recht und Inneres im Amsterdamer Vertrag, AnwBl. 1998, S. 170 ff. 198

Besonders deutlich Kirchhof, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, S. 38, der davon ausgeht, daß bereits in einer bestimmten Stärkung der EP-Kompetenzen die Staatswerdung der Europäischen Union impliziert sei; H.-P. Schwarz, in: FS von d. Groeben (1987), S. 369, 388; P. Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 34, 74; Marcel Kaufmann (Fn. 191), S. 279; H. A. Stöcker, Der Staat, 1992, S. 485, 516; Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 95.

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cher Herrschaft verortet, mit der Feststellung auf den Punkt: „Demokratie ist konzeptuell mit souveräner Staatlichkeit verknüpft, indem sie das Modell einer souveränen politischen Einheit voraussetzt“199. Die Ausschließlichkeitsimplikation eines vom Leitbild staatsrechtlichen Parlamentarismus seinen Ausgang nehmenden Demokratiebegriffs verbietet demnach die Installation von Konkurrenzparlamenten auf anderer Ebene200. bb) Pluralistische Konzeptionen Gegenläufig zu dieser Einheit einer Herrschaft des Volkes als Souverän im Staatskontext wirken Öffnungsbestrebungen, die in unterschiedlicher Richtung auf den Demokratiebegriff bezogen sind. (1) Pluralistische Demokratiekonzeptionen neigen dazu, in Entgegensetzung zur starken staatlichen Kontextfixierung der vorgenannten Position die Attribute der Offenheit der modernen Gesellschaftssituation argumentativ zu veranschlagen und hieraus eine relativierende Perspektive auf das Junktim von Staat und Demokratie zu gewinnen. Pluralistisch201 meint in diesem Sinne nicht allein die – jede freiheitlich-demokratische Ordnung kennzeichnende – Meinungsvielfalt im politischen Spektrum. Sie bezieht sich auch auf mangelnde Festgelegtheit hinsichtlich institutioneller Lozierung von Inklusionsmechanismen202. Das kann sich äußern, indem die Subsidiarität staatlicher Normierung gegenüber der Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstbewältigung von Regelungsanforderungen betont wird203 und die größere Sachunmittelbarkeit in der Hervorbringung nichtstaatlicher Normen als demokratietheoretischer Vorzug gepriesen wird. Der Staat ist demnach nur, quasi „zufälligerweise“, wegen seines Gewaltmonopols der Mittelpunkt demokratischer Willensbildung, nicht aber aus legitimationsprinzipiellen Gründen. Hiermit geht ein Verständnis einher, das den Modus der Einbeziehung des Individuums in Entscheidungsprozesse für demokratietheoretisch gleichgültig und insbesondere auch staatsferne Formen der Mitbestimmung, der vorrechtlich-gesellschaftlichen Einbeziehung etc. als Ausdruck praktizierter Demokratie für gleich authentisch hält 199

Marcel Kaufmann (Fn. 191), S. 108. Vgl. Marcel Kaufmann (Fn. 191), S. 277 ff. 201 Zum Begriffsverständnis ausführlich Marcel Kaufmann (Fn. 191), S. 188 ff., m.w.N. 202 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 102. 203 Für untergesetzliche Normensteuerung und eine Auflockerung der Gesetzesbindung insb. Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1 ff.; ders., Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, S. 37, 42; vgl. zum Leistungsprofil kommunaler Selbststeuerung auch Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000. 200

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wie staatsbezogen-parlamentarische Inklusion. Auch regelungsvermeidendes Handeln des Staates oder nichtstaatliche Normierung von Regelungsgegenständen durch gesellschaftliche Gruppen erscheinen unter dieser Perspektive als legitimatorisch vorzugswürdig. (2) Eine zweite, kategorial bedeutsamere Haupttendenz besteht in der Anpassung des Demokratieprinzips an die neuen Bedingungen der „Offenheit“204. Der Offenheitsbegriff hat vielfältige Bezüge. In Ablösung von den zunächst statischen Organisationsformen der frühen bürgerlichen Gesellschaft auch der nachständischen Zeit ist einerseits die bürgerliche Gesellschaft des 20./21. Jhdts. von Offenheit gekennzeichnet205. Der offenen Gesellschaft korrespondiert eine Öffnung des Rechts und der den Verfaßtheitszusammenhang institutionell erst ermöglichenden Staaten206. Dieser empirischen Lage in ihrer freiheitlichen Legitimität Rechnung zu tragen ist Aufgabe der demokratietheoretischen Bewältigung der sich stellenden neuen Aufgaben. Die die offene Gesellschaft rechtlich integrierenden „offenen Staaten“207 verkörpern die verfassungsstrukturelle Grundlage für das völkerrechtlich beispiellose Integrationsphänomen der Europäischen Gemeinschaften. Offenheit ist dabei zu verstehen zum einen in territorialer Offenheit, dann aber vor allem im Sinne der Hervorbringung politischer Öffentlichkeit als Grundlage eines zukunftsbezogenen Problembewältigungsvermögens208, und schließlich (für Europa entscheidend) als Offenheit für die rechtliche Einwirkung anderer, insbesondere zwischenstaatlicher Ausübungsebenen von Hoheitsgewalt209. Mit der größten Offenheit und dementsprechend geringster Verbindung zwischen Demokratieprinzip und Staatlichkeit geht eine Argumentation einher, die schon aus der Kodifikation 204

Programmatisch bereits der Titel von Di Fabio: „Das Recht offener Staaten“. Begriffsprägend Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, 7. Aufl. 1992, S. 326 ff.; vgl. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS Böckenförde, 1995, S. 127 ff. 206 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 2 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, Schmitz, Integration in der supranationalen Union, 2001. 207 Die Kategorie der Offenheit hat offenbar eine starke inspirierende Wirkung auf die rechtswissenschaftliche Literatur, vgl. statt vieler hierzu Bengt Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS Böckenförde 1995, S. 109 ff., 110; Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS Böckenförde 1995, S. 129 ff.; Di Fabio (Fn. 206); Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff.; P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, Festschrift H. Schelsky (1978), S. 141 ff.; K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 33 ff.; Pernice, 8/99, Rdnr. 22. 208 Di Fabio (Fn. 206), S. 47 ff. 209 Dazu insbesondere Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. 205

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des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht seine Verwirklichungsfähigkeit im supranationalen Kontext für unproblematisch hält. Diese rechtliche Öffnung korrespondiert den gesellschaftlichen Offenheitsanforderungen. Globalisierte Märkte verlangen nicht nur nach hieran angepaßten Wirtschaftssystemen, sondern haben ihre Ermöglichungsbedingung in der Etablierung von Handelsräumen, die über die Grenzen des Nationalstaates hinausgehen und einzelne Nationalstaaten unter einer gemeinsamen Wirtschaftsordnung amalgamieren. Hierauf reagierende Institutionen in der Grauzone von Staats- und Völkerrecht zu etablieren, wie sie sich als integrationskennzeichnend in der Union herausgeprägt haben, wäre nicht möglich ohne die Fähigkeit des Rechts dieser Staaten, mit Flexibilität auf die sich stellenden Aufgaben auch im Sinne einer Rechtsformflexibilität zu reagieren. (3) Bei allen in diese Richtung zielenden Auffassungen geht es nicht allein – wie es ein unbefangenes Pluralismusverständnis nahelegen könnte – um die Etablierung neuer Formen der Einbringung des individuellen Willens in den Rechtsetzungsprozeß neben den überkommenen210. Vielmehr stellt der Streit um die institutionellen Voraussetzungen angemessener Demokratieverwirklichung insgesamt die Frage nach dem legitimatorischen Grund des Demokratiepostulats und muß deshalb in einem allgemeineren Rahmen erfaßt werden. Ein unitarisches, parlamentszentriertes Demokratieverständnis ist zur angemessenen Erfassung nicht allein im Hinblick darauf zu untersuchen, daß dem Parlament hier die Zentralfunktion zugewiesen wird, sondern wiederum, mit welchem Grund dies erfolgt. cc) Syntheseansätze Wie lassen sich beide Elemente – kategoriale Dimension des Staatsbezugs von Demokratie und Notwendigkeit einer für Fortentwicklungen offenen Adaptionsleistung – in einer Weise vereinbaren, die die Aufgabe und den Gehalt des Demokratiebegriffs in einer für die Integrationsgemeinschaft anwendbaren Weise aufnimmt, ohne ihn staatsrechtlich zu restringieren?

(1) Institutionenbezug statt Staatsbezug Demokratische Partizipation findet nicht voraussetzungslos und spontan im rechtlich unstrukturierten gesellschaftlichen Raum statt, sondern ist institutio210

Ausführliche Darstellung bei Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, S. 51 ff. mit zutreffendem kritischen Einwand, es sei ein Symptom der demokratietheoretischen Unzulänglichkeit, wenn die Frage nach Demokratie über eine Theorie des Widerstandsrechts vermittelt sei.

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nenabhängig. Das herkömmliche, dem staatstheoretischen Institutionenkontext entnommene Postulat der Herrschaft des Volkes impliziert eine doppelte Bezugnahme auf die vorrechtlichen Bedingungen des Volks- und des Herrschaftsbegriffs. Zur ersten Notwendigkeit des Volksbezugs ist – dem weniger demokratie-, als repräsentationsbezogenen Ansatz dieser Arbeit entsprechend – im Zusammenhang mit den Anforderungen an die durch das EP als Organ repräsentierbare Identität Stellung zu nehmen211. Der zweite Herrschaftsbezug verweist hingegen in einem zunächst ganz universalen, noch nicht kontextbezogenen Sinne darauf, daß nur die Partizipation an Entscheidungsprozessen mit politischer und staatlicher, mithin herrschaftsbezogener Dimension212 einen rechtsbegrifflich verwertbaren Gehalt an Legitimationsvermittlung verbürgt213. Bei aller begrifflichen Offenheit impliziert dies schon eine Einengung der Bezüglichkeit gegenüber ungerichteten Legitimationsstrategien: Der demokratietheoretische Verweis auf die stärkere Steuerungsfähigkeit regelungsvermeidender, also nichtrechtlicher Normenkomplexe214 und die Legitimität des problemlösenden Auskommens ohne den Staat bleibt hier weitgehend unergiebig. Denn hiervon bleibt die Legitimationsbedürftigkeit normunterworfener Regelungsmaterie unberührt, hilft also der Verweis auf das Bestehen regelungsvermeidender demokratischer Inklusionsformen im vorrechtlichen gesellschaftlichen Bereich nicht zur Legitimation des Umstandes der fortbestehenden Rechtsunterworfenheit der „nicht vermiedenen Normen“. Zum anderen erhält die Betrachtung ein falsches Gefälle, wenn suggeriert wird, die eigentliche partizipative Legitimität praktizierter Demokratie liege in der staats- und

211

Dazu ausführlich unten, Kap. 4, IV. 3.

212

Jachtenfuchs, Die Europäische Union – ein Gebilde sui generis? in: Wolf (Hrsg.) Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, 1997, S. 23; von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 33. 213 Dies enthüllt einen inflationären Sprachgebrauch des Demokratiebegriffs als prinzipienunangemessen, die jegliche Teilhabe an kollektiven Entscheidungsprozessen unabhängig davon unter dem Aspekt der Demokratisierung begreift, ob diese sich überhaupt als Herrschaftslegitimation darstellt und damit in spezifischem Kontext zur Legitimität von Recht steht. Beispielhaft hierfür ist etwa die in der öffentlichen Diskussion verbreitete Thematisierung von Mitwirkungsoptionen im Betriebsverfassungsrecht unter dem Aspekt der Demokratisierung von Betriebsstrukturen. Unversehens geraten so die Kategorien gerechte Teilhabe und Herrschaftspartizipation durcheinander. Pluralismus in diesem Sinne des Begriffsverständnisses marginalisiert Demokratie. Für eine deutliche Unterscheidung der Legitimationsgegenstände von Staat und Gesellschaft und die ausschließliche Bezogenheit des Demokratieprinzips auf staatliche Herrschaft auch Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, 1997, S. 100; Isensee, Grundrechte und Demokratie, Der Staat 20 (1981), S. 161 ff. 214 Hervorzuheben sind hier etwa DIN-Normen, TA-Luft, TRbF im Immissionsschutzrecht.

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rechtsfernen Bewältigung von Problemen. Es folgt schon aus dem Rechtsbegriff, daß die äußeren Freiheitsbedingungen in ihrer Wechselseitigkeit im Grundsatz durch das Recht durchzunormieren und zur Geltung zu bringen sind. Diese Feststellung negiert nicht die vorstrukturierende Bedeutung gesellschaftlicher Intermediationsleistung215 als Voraussetzung für die in rechtlichen Strukturen ablaufende Inklusion des demokratischen Rechtsstaates216 namentlich in ihrer Bezogenheit auf das demokratische Zentralorgan Parlament. Parlamentarismus ohne vorgängige gesellschaftliche Einheitsbildung im Diskurs, ohne Bündelung von Interessengruppen217 zur kollektiven gesellschaftlichen Wahrnehmung im pluralistischen Wettstreit ist nicht denkbar218. Gleichwohl ist die gesellschaftliche Willensbildung ihrerseits auf ein Bezugssubstrat angewiesen, in dem sich die Willensbildung erstens rechtlich geordnet vollzieht und zweitens in einem Rechtssetzungsprozeß seinen normativen Niederschlag findet. Andernfalls entweicht der rechtliche Kern von Demokratie. Mit dieser Klarstellung ist andererseits keine Anerkennung eines teilweise behaupteten numerus clausus demokratischer Staatlichkeit verbunden. Daß das grundgesetzliche Demokratieverständnis eine starke Kohärenz von Demokratiebegriff und Staatsbezug artikuliert219, kann nicht ohne Mitveranschlagung der relativierenden Aspekte dieses Umstandes konstatiert werden. So finden sich ungeachtet der grundgesetzlichen Bezogenheit auf ein deutsches Staatsvolk im Demokratieverständnis gegenläufige Verfassungsprinzipien, mit der die These einer demokratischen Herrschaftsexklusivität nur scher in Übereinstimmung zu bringen ist. Schon die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG, die die Demokratieanforderung auf unterstaatliche juristische Körperschaften erstreckt, artikuliert eine föderalismustypische Mehrebenenbezogenheit220 von Kompetenzen und die Notwendigkeit einer Erstreckung von Staatsstrukturprinzipien auch auf solche Ebenen, die ähnlich der supranationalen

215 Zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1994, S. 421 ff. 216 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 588 m.w.N. 217 Zur Legitimität der Verbandsbildung unter dem Begriff der Korporation grundlegend Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 250 ff. 218 Grimm (Fn. 216), S. 585 ff.; zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft ausführlich in systemtheoretischer Perspektive auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. 219 Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 426; K. Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten, 1991, S. 67; auch das BVerfG hat diese Verwiesenheit mitreflektiert (vgl. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS Böckenförde 1995, S. 129 ff.). 220 Dazu neuerdings Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin (FCE 10/01), http://www.whi-berlin.de/difabio.htm.

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Ebene zwar Hoheitsträger, nicht aber staatlich sind221. Zudem ist der Staatsbezug des grundgesetzlichen Demokratieverständnisses schon deshalb von begrenztem Ertrag, weil Staatsverfassungen per se in ihrer Funktion auf die Ausprägung von Staatsstrukturprinzipien begrenzt sind, nicht aber den über den staatlichen Kontext hinausweisenden Gehalt solcher Prinzipien zu dokumentieren haben222. Die damit im Mittelpunkt stehende Frage, welcher Aussagegehalt sich den grundgesetzlichen Bestimmungen zum Verweisungszusammenhang zwischen Staat und Volk entnehmen läßt und ob ihm ein Ausschließlichkeitsanspruch einer vom deutschen Volk abgeleiteten Herrschaftsgewalt zukommt, kann aus der Interpretation von Verfassungsprinzipien nur auf der Grundlage eines allgemeineren Interpretationskontextes im Abgleich mit gegenläufigen Faktoren entnommen werden.

(2) Die supranationale Parlamentarisierung als reaktiver Integrationsfortschritt In der Thematisierung der Rolle des EP setzt sich zugleich die demokratietheoretische Überhöhung ratsvermittelter Legitimation in der Ableitung vom nationalen Willensbildungsmechanismus fort. Die mit diesem Verständnis einhergehende Kritik an der Parlamentarisierung des supranationalen Willensbildungsprozesses bezieht sich darauf, daß das EP dem Bezugssubjekt der Staatsvölker ferner stehe als der ratsvermittelte Ableitungszusammenhang. Das erscheint rechtsprinzipiell nicht zureichend. Ein zweiter, die demokratietheoretische Tragfähigkeit des EP als Repräsentationsorgan stärkender Aspekt bezieht sich daher darauf, daß das Wesen der supranationalen Rechtsintegration nicht in einer europaparlamentarischen Ermächtigung besteht, die einem direkten Abfluß nationalstaatlicher Parlamentskompetenzen korrespondiert; die Parlamentarisierung wird vielmehr im Kontext institutioneller Reformen aktuell, die auf einen bereits erfolgten Kompetenztransfer durch die Stärkung des supranationalen Institutionengefüges reagiert. Isolierte Kritik an einer angeblich demokratietheoretischen Insuffizienz supranationaler Parlamentarisierung beruht gemessen daran auf einem unvollkommenen Problemverständnis: Die aus dem Wesen des Demokratieprinzips gespeiste Kritik bezieht sich nur auf die kompensatorische Ermächtigung eines supranationalen Organs mit parlamentarischen Zügen, nicht aber auf den viel unmittelbarer zu beanstandenden Befund eines Umfangs an erfolgter Kompetenzdelegation, der bereits als sol221 Dazu ausführlich unten, Kap. 4, IV. 3. a)/b) im Zusammenhang mit der Frage der Notwendigkeit eines Konzepts vorstaatlicher Identität. 222 Zum demokratietheoretischen Aussagegehalt des Grundgesetzes ausführlich Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 63 ff.

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cher die vom Demokratieprinzip angeblich geforderte umfängliche Einbeziehung der Nationalparlamente gefährdet und verringert. Die skeptische Beurteilung der Funktion des EP am Maßstab eines wesentlich staatsrechtlich interpretierten Demokratieprinzips beruht wesentlich darauf, eine Ableitung vom nationalen parlamentarischen Willen als legitimationstheoretisch vorzugswürdig oder sogar als ausschließlich akzeptabel223 gegenüber allen nicht an das staatliche Parlament rückgebundenen Organisationsformen anzusehen. Das Primat nationalparlamentarischer Willensbildung sollte indes konsequenterweise weniger in der Frage originär europäischer Demokratisierbarkeit, sondern schon in der Zulässigkeit untergesetzlich-gemeinschaftlicher Rechtsetzung von Regelungsgegenständen mit materiellem Gesetzesgehalt überhaupt den primären Gegenstand finden. Staatliche Parlamentsexklusivität wird nicht allein durch die Etablierung von inklusionsermöglichenden Alternativorganen auf supranationaler Verbandsebene infrage gestellt, sondern bereits durch jede Delegation von Entscheidungsgegenständen von den Nationalparlamenten. Hier wie dort ist nämlich die Repräsentation des Volkes qua Parlament und insofern auch die intendierte substantielle Identität von Regierenden und Regierten im dargelegten Sinne nicht gewährleistet. Nicht das Erstarken des EP in der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzbalance als solche, nicht eine bestimmte Binnenverteilung von Wahrnehmungsberechtigungen unter den Gemeinschaftsorganen ist es, durch die nationale Parlamentsherrschaft und so zugleich die Autorenschaft des Volkes in Frage gestellt wird. Bereits die Ermächtigung eines anderen als des staatlichen Verbandes, dem das nationale Parlament zugeordnet ist, zur Wahrnehmung originär parlamentarischer Aufgaben mindert die Einhaltung demokratisch-parlamentarischer Inklusion im staatsrechtlichen Verständnis. Aus der Perspektive eines staatsverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts macht es keinen Unterschied, ob dieser zu verteidigen ist gegen ein Konkurrenzparlament oder gegen ein supranationales Exekutivgremium, das mit Rechtsetzungsbefugnissen von materiellem Gesetzesrang ausgestattet wird. Nichtparlamentarisch und daher nach dem vorgenannten Demokratieverständnis problematisch sind Legislativakte oder Beteiligungen an solchen von Rat, EP und Kommission gleichermaßen. Demokratietheoretische Vorzüge genießt der Rat nur, wenn man das defizitäre Argument der ununterbrochenen Ableitungskette zugrunde legt. Der Parlamentsmonismus etwa von M. Kaufmann und Kirchhof muß sich der Frage stellen, weshalb er zwar argumentativ gegen eine kompetenzielle Stär223

So etwa Isensee (zit. nach Thym, Die verfassungsgebende Gewalt in demokratischen Gesellschaften. Homogenität als Voraussetzung oder Ziel, Volksbegriff, Staat und „Civil Society“, WHI-Paper 1/97, Rdnr. 82, Fn. 255): „demokratiewidrige Fremdbestimmung“.

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kung des EP funktionalisiert wird, hingegen die Praxis einer von den nationalen Parlamenten unabhängigen Rechtsetzung europäischer Organe dort unbeanstandet läßt, wo das federführende Organ der Rat und nicht das EP ist. Das supranationale Quasiparlament hat gegenüber der Legislativrechtsetzung durch den Rat immerhin noch den Vorzug, daß sie an der Herstellung eines originären Inklusionszusammenhanges (Repräsentativität der EP-Entscheidungen durch Wahlen seitens der EU-Bürger) wenigstens orientiert ist. Die entscheidende Frage nach Maßgabe dieses Verständnisses ist daher nicht, wie stark das EP innerhalb eines vorausgesetzten kompetenziellen Ausstattungsumfanges der Europäischen Union ist, sondern ob dieser Umfang nach Maßgabe von Demokratieprinzip, Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie beanstandungsbedürftig ist. Diese Frage stellt sich im Rahmen des fünften Kapitels, berührt nach hier vertretener Auffassung aber nicht die grds. organschaftliche Tragfähigkeit des EP im Rahmen einer Union, die verfassungsparadigmatisch auf das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit festgelegt ist. Es wurde bereits im Hinblick auf das Korrespondenzverhältnis mitgliedstaatlicher und gemeinschaftsrechtlicher Demokratieverwirklichung festgestellt, daß die Notwendigkeit der Schaffung originärer Inklusionsmechanismen auf die Verteilung von Wahrnehmungsberechtigungen bezogen sein muß. Diese sind bereits in einem beträchtlichen Umfang bei der Union angesiedelt; dem Umfang korrespondiert aber keine hinreichend ausgeprägte Inklusionsform. Insofern ist die Stärkung von Inklusionsmechanismen, die über die Ausübung des EP vermittelt werden, nicht initiativ für eine Forderung nach Kompetenzerweiterung, so daß sie sich als Ausdruck unangemessener bundesstaatlicher Orientierung disqualifizierte. Sondern sie ist reaktiv in der Weise, daß die verstärkte Einbeziehung zur Kompensation eines Legitimationsdefizits geboten erscheint, welches der status quo des Kompetenzumfangs mit sich bringt. Unter der Prämisse, daß die Rechtsetzung der EU den ursprünglichen Mechanismus einer von der innerstaatlichen Willensbildung ihren Ausgang nehmenden Repräsentationskette überfordert224, stellt sich die Suche nach Einbeziehungsmöglichkeiten des Rechtsadressaten in die Normierung nicht als Plädoyer für die Staatswerdung dar, sondern als organisatorische Reaktion auf einen Normsetzungsbefund, der insofern eine schon recht weitreichende Staatsähnlichkeit aufweist (nämlich in Teilen parlamentsbedürftige Normen mit materiellem Gesetzesstatus erläßt), diese partikulare Staatsähnlichkeit aber institutionell unzulänglich umsetzt (nämlich einem exekutiven Normsetzungsverfahren überantwortet). Sie hat damit kompensatorische Funktion für dem Integrationsprozeß imma-

224 Zur genauen Bestimmung von Belastungsgrenzen dieses Legitimitätsgrundes unten, Kap. 4, IV. 3. 4.

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nente Defizite, wirkt aber ihrerseits nicht als Avantgarde einer europäischen Staatswerdung. Stellt sich die Parlamentarisierung aber als bloßer organschaftlicher Auffangversuch bereits verwirklichter – qualitativer wie quantitativer – Integrationsintensität dar, so kann in ihm auch kein unangemessenes Verstaatlichungsbestreben liegen. Parlamentarisierung europäischer Normsetzung ist kein Synonym für europäische Staatswerdung225. Wie im Erstarken des EP dem gegenläufigen Erfordernis hinreichender mitgliedstaatlicher Letztentscheidungssouveränität gleichwohl Rechnung getragen werden kann, ist eine sich erst im Rahmen konkreter Kompetenzverteilungsüberlegungen stellende Frage der Organbalance.

(3) Zwischenergebnis Subtrahiert man diese Relativierung vom staatsbezogenen Demokratieverständnis, so bleibt als Gehalt die Herrschaftsdimension und Bezogenheit von Demokratie auf die hiermit verbundene Legitimationsanforderung übrig. Rückbezieht man den kategorialen Kerngehalt des Demokratieprinzips auf die Funktion der Selbstbestimmung von Herrschaft in einem selbstverantworteten Kollektivierungszusammenhang, so hat die Staatsbezogenheit des Demokratieprinzips keine apriorische Bedeutung, sondern bezieht sich auf den Staat als Normalfall öffentlich-rechtlicher Rechtsherrschaft. Der so betonte enge Kontext von Recht und Freiheit dokumentiert die Anpassungsnotwendigkeit der Demokratie an die offene Gesellschaft andererseits unter der Anforderung der strukturellen Anerkennung der Diskursfähigkeit als solcher226 in kritischer Abgrenzung gegen eine Auflösung in institutionelle Beliebigkeit. Es ist weniger der Staat, sondern die vom Staat mitgebrachte Verfassung, der durch sie geschaffene Institutionsrahmen, der Demokratie als unitarisch staatszentriert erscheinen läßt227. Die durch das Demokratieprinzip postulierte Inklusionsanforderung ist deshalb abhängig vom Kontext der Verfaßtheit, auf den sie bezogen ist. Die Betonung struktureller Offenheit drängt zur Schaffung modernitätsadäquater Rechtsformen auch in bezug auf die Inklusionsmechanismen, dispen225 A.A. Kirchhof, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, S. 31, allerdings ohne nähere Begründung für diese Verknüpfung. 226 Jörg P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, S. 32. 227 Ähnlich auch U. Fastenrath, FAZ vom 12. 8. 1993, S. 5: Der Schluß vom Staatsbezug der Staatsverfassung auf den Staat als Strukturprinzip des Verfassungsbegriffs sei ein Trugschluß.

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siert diese aber nicht von der Abhängigkeit von Essentialien des diesen zugrunde liegenden material-legitimatorischen Rechtsverständnisses selbst. Folglich darf eine souveränitätsbezogene und dadurch notwendig stark staatsakzentuierte Auffassung von Demokratie228 keine Formblockade offener Staaten und der ihnen gemäßen Institutionalisierungsstrategien sein,229 meint aber andererseits Offenheit keine Auflösung der legitimatorischen Wurzeln des Rechts in beliebiger institutioneller Neuschöpfung, sondern die unmittelbare Anpassung an die konkreten gewandelten Verfaßtheitsbedingungen. Recht ist als Inbegriff von Willkürkoordinationsregeln – der transzendentalidealistische Rechtsbegriff Kants bleibt in der Formulierung des legitimatorischen Grundanliegens die stärkste philosophiegeschichtliche Reminiszenz – auf adäquate Institutionalisierungszusammenhänge angewiesen. Primärer Institutionenrahmen rechtlicher Selbstbestimmung ist der Staat. Er ist es nicht aufgrund einer überkommenen, veraltet anmutenden Verhaftetheit in Denkformen des Nationalismus230, sondern weil der Staat als „sittliche Institution“231 bzw. als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“232 definitionsgemäß kleinster gemeinsamer Nenner einer institutionellen Integrationsleistung von Rechtssubjekten ist. Der Staat als Forum der Selbstbestimmung bzw. als rechtliche Rahmeninstanz ist nicht beliebig reproduzierbar, wie er andererseits durch bloß privatrechtliche Schutzpakte radikalliberaler Minimalstaatskonzeptionen233 nicht substituierbar ist234. Die von Jellinek geprägte Drei-ElementeLehre235 dokumentiert, daß Partizipation schon begrifflich immer auf eine substantielle Einheit rückbezogen sein muß, an der partizipiert wird und auf die bezogen Partizipation gestalterisch ausgeübt wird. Dies schließt demokratische Teilnahmeformen an beliebiger Stelle kategorial aus. Der Vernunftgehalt staatlicher Verfaßtheit kann nicht durch beliebige experimentelle Einbeziehungsformen organisch-willkürlich herausgebildeter Integrationszusammenhänge 228

Vgl. exemplarisch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 108: „Demokratie ist konzeptuell mit souveräner Staatlichkeit verknüpft, indem sie das Modell einer souveränen politischen Einheit voraussetzt.“ 229 Ebenso S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659-710. 230 So aber offenbar von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 40: „staatsund rechtstheoretisch überholt und verfassungsrechtlich nicht geboten“. von Bogdandy kann für diese Auffassung allerdings nur sehr wenige Positionen im Schrifttum anführen, die seine These untermauern, vgl. ebd. Fn. 69. 231 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 257, 258, 260. 232 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313. 233 Beispielsweise Nozick, Anarchy, State and Utopia, Oxford 1988. 234 Zur Kritik Nozicks vgl. exemplarisch Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 316 ff. 235 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1929, S. 406 ff.

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ersetzt werden. Die Bezugnahme auf die Kategorie der Allgemeinheit grenzt das selbstbestimmungsunmittelbarste öffentlich-rechtliche Gebilde Staat von Interessenverbänden jeglicher Art236 ab, die bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen die unüberbrückbare kategoriale Differenz zum SubstantiellAllgemeinen237 eint. Dieses staatsrechtliche Verständnis kettet die Demokratie nicht unmittelbar an den Staat, sondern bleibt für eine demokratietheoretische Erweiterung, die sich aus den Ausübungsmodifikationen etwa ausgedehnter Delegationsmechanismen ergibt, flexibel. Sie schließt aber aus, jede Willensartikulation, die das Anliegen der Autorisierung von Herrschaft aus dem Augen verliert und eine in ihrer Rechtsform kontingente Partizipation für ausreichend erachtet, als legitimatorisch äquivalent anzuerkennen. Die Europäische Union ist keine in diesem Sinne kritikbedürftige kontingente Hoheitsebene, die einer substantiellen Rechtsqualität und dem grundsätzlichen Vermögen zur Ausprägung von Einheit entbehrte. Sie weist, wie im vorangegangenen Kapitel bereits aufgezeigt wurde, eine eigene, auch normkategorial faßbare verfassungsrechtliche Dimension auf und befindet sich damit in einem engen Anlehnungs- und Überschneidungsverhältnis zum Staat. Dies zeigen ihr Geltungsstatus und die gemeinschaftsrechtliche Rechtssubjektivität der Bürger im Kontrast zur traditionell dominierenden Unverbundenheit von Staatsrecht und Völkerrecht. Auch wenn die Selbstbestimmungsunmittelbarkeit staatlicher Willensbildung von der Europäischen Union nicht erreicht werden kann, befindet sie sich in einem durch den Ableitungszusammenhang vom Staat plausibel gemachten Mittelbarkeitsverhältnis zu dieser. Zudem ist in ihr andererseits die Vernunftleistung vorgängiger nationalstaatlicher Verfaßtheit bewahrt und aufgehoben, wenn auch modifiziert. Der Staat selbst ist es, der sich durch die Ermächtigung von neuen Ebenen der Hoheitsgewalt relativiert, hierin aber fortbesteht. Das gemeinschaftsrechtliche Verfassungsprinzip mitgliedstaatlicher Abgeleitetheit238 hat nicht nur eine staatsbewahrende, sondern auch eine souveränitätsrelativierende Seite. Die Delegation von Hoheitsgewalt auf die supranationale verfaßte Ebene bedingt damit die Notwendigkeit der gleichzeitigen Applikation von legitimatorisch unverzichtbaren Institutionen rechtlicher Herrschaft auf diese. Die legitimatorische Mög236 Zur wechselseitigen Abschichtung der Funktionen von Verbänden und Staat grundlegend Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 250 ff. einerseits, §§ 257 ff. andererseits. 237 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258: „der Staat als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige“. 238 Vgl. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 277.

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lichkeit einer nichtstaatlichen Ausübung öffentlicher Herrschaftsgewalt impliziert die Möglichkeit demokratischer Legitimierungsmechanismen in spezifischer Bezogenheit auf diese Ausübung. Ein ausschließlich staatsrechtliches Demokratieverständnis führte sich sonst bezogen auf die Union ad absurdum239. Ein Beharren auf der Ausschließlichkeit staatlicher Kontexte für Legitimationsprinzipien würde die im Grundsatz bejahte konstruktive Möglichkeit supranationaler Organisationsformen durch restriktive Formulierung der hierauf zu beziehenden Legitimationskategorien über die Hintertür beschränken. Auch hierin stellt sich die Legitimitätsbedingung des Einleitungskapitels in ihrer normsetzungsbezogenen Ausgangsformulierung gegenüber dem Demokratiebegriff konziser dar. Sie verlangt die Etablierung von Inklusionsmechanismen dort, wo Herrschaft und Herrschaftsunterworfenheit einander gegenüberstehen und der Zusammenfügung zu einer Zurechnungseinheit bedürfen. Derjenige hoheitliche Verbund, der die Befugnis zu subordinativem und zwangsbewehrtem Handeln hat, muß konstruktiv als willentlicher Zusammenschluß und in seinem Handeln als Manifestation gemeinschaftlicher Autonomieausübung darstellbar sein240. Die Bezogenheit der Demokratie auf die Funktion der Herrschaftslegitimation macht den Demokratiebegriff akzessorisch zum Ort der Ausübung der Herrschaft. In diesem Sinne läßt sich von einem institutionenakzessorischen Demokratiebegriff sprechen.

239 Dieser Schluß ist nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, der zirkuläre Nachweis der Demokratisierbarkeit der Union durch ihr bloßes Bestehen. Ausgehend von der im EinleitungsKap. dargelegten axiomatischen Prämisse, daß eine staatsrechtsüberschreitende Herausbildung von Rechtsformen legitim ist, solange die Grundbedingungen der Legitimität in ihr reproduzierbar sind, wird apagogisch nachgewiesen, daß ein Stehenbleiben des staatsrechtlich vorgeprägten Begriffsverständnisses der Inklusionsmechanismen selbstwidersprüchlich wäre. 240 Zur konzeptionellen Bedeutung des Willens als Grundlage der staatlichen Rechtsauthorität vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 10, S. 174: „letztlich nicht weiter ableitbares autoritatives Wollen“.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

2. Die rechtskategoriale Bedeutung des Souveränitätsparadigmas für die Verwirklichungsfähigkeit von demokratischer Repräsentation auf supranationaler Ebene

a) Souveränitätstheoretische Problematik des kompensatorischen Erstarkens des supranationalen Parlamentarismus Wenn die Neuordnung von Staatlichkeit, die mit der Eingehung supranationaler Kooperationsstrategien für die Rechtsetzung in bestimmten Bereichen verbunden ist, trotz des Komplementärcharakters der supranationalen Verfassung mit der Preisgabe substantieller Bereiche einhergeht, die die legitimatorische Essenz des Staatsbegriffs in seinem zugrunde gelegten Autonomiebezug betreffen, so stellt auch dies die Zulässigkeit einer Parlamentarisierung des europäischen Integrationsprozesses fundamental in Frage. Die Integration stellt sich dann zwar ihrer formalen Organisationsstruktur nach als Unterordnung unter staatlichen Fortbestand dar, macht diesem aber durch die Form der Ausübung supranationaler Kompetenzen das Substrat der staatlichen Selbstbestimmung streitig. Das Prinzip der Komplementärverfassung verbietet einen Wechsel des Verfassungsparadigmas in zwei Richtungen: Einerseits, indem es die Fortentwicklungsoption der Herausbildung europäischer (Bundes-)Staatlichkeit ausschließt – denn eine solche würde notwendig die Staatlichkeit der bislang unionskonstituierenden Staaten in Frage stellen; andererseits aber auch, indem es die schleichende Preisgabe der Substanz souveräner Staatlichkeit im Wege fortschreitender Gemeinschaftsermächtigung verbietet241, durch die die formale Grenze zur europäischen Staatswerdung zwar nicht überschritten, der Gehalt nationaler Staatlichkeit in seiner Substanz aber bereits in Form eines Aushöhlungsprozesses betroffen ist. Eine materiale Durchhaltung des vom Prinzip der Komplementärverfassung ausgehenden Anforderungsprofils verlangt daher, die Auswirkungen der Ermächtigungen zur Sekundärrechtsetzung auf die konstituierende Staatlichkeit in die Betrachtung miteinzubeziehen. Die auf die Repräsentationsfähigkeit des EP zugeschnittene Analyse dieser Problemfelder in der vorliegenden Arbeit muß sich damit auseinandersetzen, ob das Demokratieprinzip als Prinzip des Staatsorganisationsrechts ein Erstarken des EP über einen bestimmten Punkt der Partizipation hinaus verbietet, der eine Autorenschaft der durch das EP 241

Gegen ein Verständnis souveränitätsbefreiter Staaten deutlich Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, S. 13: „Diese drei elementaren Ebenen würden aber sofort die Voraussetzungen der neuen komplementären Idee entfallen lassen, wenn man die Souveränität der Staaten als Urgrund der Rechtfertigung bestritte.“

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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repräsentierten Bürger Europas konstruktiv erst begründen würde. In diesem Aspekt schlägt sich daher der Bedingungszusammenhang zwischen demokratischer Partizipation im staatsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Kontext als Paradoxie der Verwirklichungsbedingungen gleichartiger Prinzipien im Mehrebenensystem nieder. Namentlich wirft dies die Frage des Fortbestandes der Substanz souveräner Staatlichkeit bei den in das supranationale Verbandsgefüge eingegliederten Staaten auf. Zwei Ansätze des argumentativen Umgangs mit diesen berechtigten Einwänden lassen sich unterscheiden, die beide zum Ergebnis einer Vereinbarkeit supranationaler Ermächtigungs- und Parlamentarisierungsformen mit der konstituierenden Mitgliedstaatlichkeit gelangen: Einerseits die These einer Fortexistenz der Staaten als nichtsouveränen Zurechnungseinheiten im supranationalen Verbund, andererseits eine Modifikation des Souveränitätsbegriffs. Während es vordergründig gleichgültig erscheinen mag, ob der Souveränitätsbegriff an die für ein Mehrebenensystem geöffnete Staatlichkeit anzupassen ist, indem seine Kompatibilität mit der Eingehung supranationaler Bindungen aufgezeigt wird242 oder ob unter Verzicht auf das Souveränitätskriterium die Fortexistenz nichtsouveräner Staaten postuliert und damit der Souveränitätsbegriff in seiner für den Staatsbegriff konstitutiven Funktion im Grunde schon aufgegeben ist243, zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß die letztgenannte Möglichkeit doch mit kaum lösbaren Prinzipienproblemen verbunden ist, die diese letztlich der Kritik aussetzen. Hier soll deshalb gezeigt werden, daß der herrschende Souveränitätsbegriff im Ausgang von Carl Schmitt zu einer Überbetonung des negativen Aspekts von Souveränität neigt, was in einer rechtsprinzipiell einseitigen Paradigmenausrichtung an Thomas Hobbes und an Bodin liegen mag. Im Unterschied dazu stellt die vorliegende Untersuchung das von integrierter oder kooperationsoffener Staatlichkeit ausgehende Verfaßtheitsmodell als eine Form der Fortentwicklung des Souveränitätsparadigmas vor, das zu den eingegangenen Bindungen und Relativierungen kompatibel ist und insofern eine Einordnung fortbestehend souveräner Staatlichkeit in das supranationale Bindungsgefüge ermöglicht. Das hat den konstruktiven wie legitimationstheoretischen Vorteil, daß die Staatlichkeit material bestimmt bleibt und das hierauf beruhende supranationale 242 H.M.: Die Staaten üben ihre Souveränität durch die gemeinschaftsrechtlichen Organe gemeinsam aus, BVerfGE 89, 155, 188 f.; Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965-974; ebenso Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. 243 In diese Richtung zielend H. P. Ipsen, in: FS Scheuner 1973, S. 211, 215: Es sei geboten, den Souveränitätsbegriff in Frage zu stellen, und infolge dieser Infragestellung werde der Souveränitätsbegriff selbst irrelevant.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Gefüge infolgedessen nicht als eine Preisgabe, sondern eine Verwirklichung substantieller Staatlichkeit verstanden werden kann.

b) Souveränitätsverlust durch supranationale Parlamentarisierung? Von Teilen des Schrifttums wird angenommen, daß mit der Delegation von Rechtssetzungsgewalt auf einen supranationalen Verbund eine Preisgabe von staatlicher Souveränität verbunden sei244. Andere Autoren sehen die Souveränitätsfrage angesichts fortdauernder Integrationsdynamik als unentscheidbar an245, während eine dritte Position eine Konzeption geteilter Souveränität als Grundlage einer Gemeinschaftsrechtstheorie vorschlägt246. Begründet werden die im einzelnen divergenten Relativierungsbefunde auf der Grundlage eines Staatsbegriffs, der im Sinne Carl Schmitts das Wesen souveräner Staatlichkeit in der Entscheidungsletztgültigkeit verwirklicht sieht. Danach konstituiert den Souveränitätsbegriff, verstanden als suprema potestas247, wesentlich eine Differenzierung von Entscheidungs- und Gewaltmonopol sowie Letztbestimmungsmacht nach innen sowie Unabhängigkeit von externer Fremdbestimmung oder sonstiger Relativierung des staatlichen Entscheidungszusammenhangs nach außen248. Innere und äußere Dimension erweisen sich als miteinander verbunden durch die allgemeine Fundierung von Staatlichkeit in der Funktion der Selbstbestimmung249. Die Parlamentarisierung des europäischen Willensbildungsprozesses impliziere, auch wenn diese im Kontext komplementärer Verfaßtheit und unter Ausschluß eines Erstarkens zu europäischer Bundesstaatlichkeit stattfinde, eine Konkurrenzsituation zu den nationalen Parlamenten, die die Substanz fortbestehender staatlicher Souveränität in Frage stelle. Auf der Grundlage dieser Begriffsbestimmung erweist sich der im Kooperationsgefüge mit anderen Staaten zu einer supranationalen Rechtsetzung ver244

Für „irrelevant“ erklärt diesen H. P. Ipsen, FS Scheuner 1973, S. 211, 215. Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 227; Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 319. 246 Vgl. etwa Pernice, Die Dritte Gewalt im Europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 30 ff. 247 Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 335; vgl. auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 32 ff.: „summa potestas“. 248 Steiger (Fn. 247); zu innerer und äußerer Souveränität auch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 44, m.w.N.; Randelzhofer, Souveränität, § 15, HdBStR Band I, Rdnr. 23 ff. 249 Steiger (Fn. 247). 245

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bundene und dieser unterworfene Staat als nicht mehr souverän. Soweit aus diesem Befund nicht bereits die Unzulässigkeit einer weiterreichenden Unionsparlamentarisierung überhaupt abgeleitet wird, liegt dementsprechend der Begründungsansatz dieser Position in bezug auf das Phänomen abgeleitetsupranationaler Rechtsetzungsmacht in der Annahme des Fortbestandes der Staaten in ihrer supranationalen Verbundenheit als nichtsouverän250.

c) Vom überkommenen Souveränitätsverständnis zu einem selbstbestimmungsbezogenen Souveränitätsbegriff Die vorgenannte Argumentation überzeugt in der Relativierung der Bedeutung der Souveränitätskategorie für den Staatsbegriff letztlich nicht. Der kategoriale Anlaß der Staatsbezogenheit, die der Entfaltung des Demokratieprinzips in der herrschenden Lehre zugrunde liegt und aus der sich die Skepsis gegenüber einer Parlamentarisierung des gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozesses begründet, liegt in einer Geschlossenheitsauffassung, die vom Souveränitätsbegriff her in mehrerlei Hinsicht instruiert ist251. Ihr hauptsächlicher systemprägender Grund dürfte darin liegen, daß der Entfaltung des Demokratieprinzips als Bezugssubstrat eine Staatlichkeit zugrunde gelegt ist, in der nach wie vor die Staatsrechtslehre des 19. Jhdts. prägend ist und die vom Begriff der Souveränität her wesentlich instruiert ist. Einesteils manifestiert sich hierin ein bloßer wirkungsgeschichtlicher Tribut an die Entwicklungsgeschichte deutscher Staatlichkeit ohne eigenständige kategoriale Gehalte; so hat die staatspolitisch aktuell werdende Notwendigkeit einer Zuordnung territorialstaatlicher Teile zum Ganzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sicherlich eine Betrachtung befördert, bei der das erkenntnisleitende Interesse stärker der Existenzbegründung von staatlicher Zentralgewalt als der Relativierung derselben durch völkerrechtliche Selbstbindung gegolten hat252.

250

So etwa Steiger (Fn. 247), S. 332 ff.; ähnlich bereits Usteri, Theorie des Bundesstaats, 1954, S. 127, m.w.N. 251 Vgl. nur Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 414: „Der integrationsfeste Kerngehalt des demokratischen Prinzips ist in qualifizierter Weise mit der Gewähr souveräner Staatlichkeit verwoben.“ 252 Vgl. dazu Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521, 523; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967; vgl. auch zur im 19. Jhdt. bestimmenden Betrachtung des Staates als Organismus – etwa in der Staatslehre von Julius Stahl, Otto von Gierke und Lorenz von Stein – Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jhdts., in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1960, S. 46; Böckenförde, Der Staat als Organismus, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 263.

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Anderenteils ist aber mit der ideengeschichtlichen Fundierung des Souveränitätsbegriffs auch ein legitimatorisch gehaltvoller Ableitungszusammenhang thematisch, der nicht kurzerhand einer vermeintlichen Modernität supranationaler Relativierung geopfert werden dürfte, sondern aus dessen Bestehen die eigentümliche dialektische Schwierigkeit – die Relativierung des Souveränitätsbegriffs aus der immanenten Begrenztheit seiner eigenen Prämissen – erst resultiert. Das klassische Souveränitätsverständnis253 differenziert sich aus in eine innere und eine äußere Dimension254. Beide Dimensionen weisen eine enge wechselseitige Verbundenheit auf und verkörpern Teilaspekte eines einheitlichen Prinzipienzusammenhangs. Die volkssouveräne Ausgestaltung der Verfassungsordnung nach innen, verstanden als Ableitung der Herrschaftsbefugnis von den Herrschaftsunterworfenen, hat die gleiche Funktion wie die interventionsausschließende255 Impermeabilität256 der Körperschaft Staat nach außen. Selbstbestimmung, bezogen auf eine vorausgesetzte Einheit, vollzogen als Herrschaftspartizipation in einem geschlossenen System, konstituiert einen Staatsbegriff, in dem der enge Wechselseitigkeitszusammenhang von Volksherrschaft, Volksbegriff und staatlicher Autonomie die entscheidende systemprägende Bedeutung zufällt. Die in den institutionellen Willensbildungsbedingungen des Verfassungsstaates positiv verwirklichte Selbstbestimmung erscheint zumindest in den Anfängen neuzeitlicher Staatslehre als wesentlich

253

Randelzhofer, HdBStR, Souveränität, § 15, m.w.N.

254

Vgl. auch in der zunächst gleichen Grundunterscheidung von Dimensionen Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 322, 323: „Die Individualität, als ausschließliches Für-sich-sein, erscheint als Verhältnis zu anderen Staaten, deren jeder selbständig gegen die anderen ist. Indem in dieser Selbständigkeit das Für-sich-Sein des wirklichen Geistes sein Dasein hat, ist sie die erste Freiheit und die höchste Ehre eines Volkes.“ „Im Dasein erscheint so diese negative Beziehung des Staates auf sich als Beziehung eines Anderen auf ein Anderes und als ob das Negative ein Äußeres wäre. […] Aber sie ist sein höchstes eigenes Moment, – seine wirkliche Unendlichkeit als die Idealität alles Endlichen in ihm – die Seite, worin die Substanz als die absolute Macht gegen alles Einzelne und Besondere, gegen das Leben, Eigentum und dessen Rechte, wie gegen die weiteren Kreise, die Nichtigkeit derselben zum Dasein und Bewußtsein bringt.“; darüber hinausgehend aber die in § 278 thematisierte Selbstbestimmungsdimension von Souveränität allgemein. Vgl. auch die Gegenübersetzung von innerem und äußerem Staatsrecht in § 259. 255 Grundlegend zum Interventionsverbot Kant, EF, 5. Präliminarartikel, VIII, 346: „‚Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewaltthätig einmischen.‘ […][Es] würde diese Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein und die Autonomie aller Staaten unsicher machen.“ 256

So auch von Bogdandy in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 132.

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bedingt durch das korrespondierende negative Element der Abwesenheit externer Einmischung in staatliche Willensbildung, das sich im Leitbild des außenpolitisch autarken Staates manifestiert257. Daß die rechtstheoretische Entfaltung des Souveränitätsverständnisses258 theoriegeschichtlich eng einhergeht mit der Entfaltung der Legitimitätsbedingungen verfaßter Binnenstaatlichkeit, ja in gewissem Umfang ihr vorausliegt, und sich daraus eine staatstheoretische Tradition ableitet, in der staatliche Souveränität und staatliche Legitimität einen festen Konnex bilden, ist deshalb nicht erstaunlich. Ihre zumindest implizite wechselseitige Bezogenheit (Demokratie als Herrschaftsrechtfertigung, Herrschaft als monopolistische Machtausübung in einem verfaßten, damit aber notwendig abgeschlossenen Gemeinwesen) konzentriert sich auf die Akzentuierung von Staatlichkeit als Einheit. Dem entspricht der Befund der Rechtswirklichkeit, daß verfaßte Rechtsherrschaft bis in das 19. Jhdt. mit Ausschließlichkeit in staatlichen Gefügen auftritt, und die staatsrechtshistorische Wirkmächtigkeit des Konzepts vom durch Unabhängigkeit starken Staat in den merkantilistischen Anwendungsbeispielen des Absolutismus. Der Begriff staatlicher Souveränität prägt sich im wesentlichen im 17. Jhdt. aus und untermauert das den Rechtsadressaten gegenüber wirkende staatliche Gewaltmonopol auch im Außenverhältnis. Insbesondere im Konzept Bodins wird der Souveränitätsbegriff erstmals systematisch durchdacht, freilich hier noch in starker begrifflicher Fixierung auf den monarchischen Staat259. Souveränitätstheoretische Vorläufer hierfür sind erkennbar etwa in Dantes „De monarchia“260. Dieses Souveränitätsverständnis durchdringt in der Folgezeit wirkungsgeschichtlich aber auch die aufklärerischen und insbesondere vernunftrechtlichen Staatskonzeptionen und erfährt hier seine Verknüpfung mit den bis heute rechtsstaatlich kennzeichnenden Elementen republikanisch-demokratischer Provenienz. Der durch innere und äußere Souveränität bestimmte Staat ist in den im zweiten Kapitel dargelegten Hauptkonzeptionen von Locke über Rousseau bis Kant nach innen durch die Demokratie als das volkssouveräne Binnenelement konstituiert; die Geschlossenheit ist eine vom Volksbegriff als homogener Einheit vorgefaßte Prägung. Der Staat präsentiert sich in diesem Verständnis als geschlossen-institutionelle Integration von Volk, Herrschaft 257

Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 385, sieht die Unteilbarkeit der Souveränität insgesamt als Erblast der Monarchie an. 258 Zur Bedeutung Bodins hierfür vgl. nur Randelzhofer, HdBStR, Band. 1, Souveränität, § 15, Rdnr. 16; ebenso Bengt Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS Böckenförde 1995, S. 109 ff., 113: Bodin als ideengeschichtlicher Begründer des Konzepts der Souveränität; sowie H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1999, S. 66. 259

Bodin, Six Livres de la République, I, Kap. IX.

260

Dante, De Monarchia, 1974.

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und Unabhängigkeit in verfaßter Einheit. Völkerrechtliche Bindungen klassischen Sinnes setzen in Anerkennung dessen die wechselseitige Unantastbarkeit der domaine réservé, der inneren Angelegenheiten voraus, weil der Verrechtlichungsgegenstand das Verhältnis der Staaten untereinander, nicht die innerstaatlichen Rechtsverhältnisse sind und das staatsrechtsunterworfene Individuum nur mediatisiert durch die geschlossene Staatshülle völkerrechtlicher Normreflexe teilhaftig wird. Der moderne kooperationsoffene Staat261 der Gegenwart legt die Geschlossenheitsprämisse des überkommenen Souveränitätsparadigmas ab. Seine als Geschlossenheit und Ausschließlichkeit verwirklichter Herrschaft verstandene Souveränität hat mit der Etablierung von externen und selbständigen262 Hoheitsausübungsebenen aufgehört zu existieren. Dies ist der einhellige Befund aller Theoretiker des offenen Verfassungsstaates in seinen gesellschaftswissenschaftlichen263, staatsverfassungsrechtlichen264, staatstheoretischen265 und engeren Sinnes supranationalen266 Ausprägungen. In dem Maße, wie die Souveränität des Staates sich in der Eingehung der supranationalen Bindungen relativiert267, relativiert sich gleichzeitig der Bezugsgegenstand der Demokratie. Diese kann nun nicht mehr mit Ausschließlichkeit auf eine als einheitlich gedachte Herrschaftsausübung durch eine herrschende Einheit bezogen sein, da diese Einheit in dieser Ausschließlichkeit nicht mehr existiert. Anerkennt man diese supranationale Relativierung – entweder weil 261 Vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz von Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff.; ders., Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; ausführlich zur Bezogenheit dieses Rechtsbegriffs auf das Prinzip der Komplementärverfassung oben, Kap. 3, III. 2. a) aa). 262 Ob sich bezogen auf das Gemeinschaftsrecht wirklich von Selbständigkeit – im Sinne einer teilautarken Rechtsordnung – sprechen läßt, erscheint angesichts des Fehlens eines eigenen gemeinschaftsrechtlichen Verwaltungsvollzugs und im Konfliktverhältnis mit dem Prinzip, daß die Mitgliedstaaten Herren der Verträge geblieben seien, durchaus zweifelhaft, vgl. dazu xx. Selbständigkeit kann aber unabhängig von der damit angesprochenen Kontroverse insoweit konstatiert werden, daß die gemeinschaftsrechtliche Willensbildung von der staatsrechtlichen nicht unmittelbar abhängt. 263 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2000; ders., Die postnationale Konstellation, 1998. 264 Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. 265 Dazu Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 37. 266 Vgl. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 61 ff. 267 Vgl. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 227, 1052 f.; Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248, 268.

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man, wie im Einleitungskapitel erläutert, die Zulässigkeit des europäischen Integrationsprojektes in ihren konkreten Zügen als axiomatisch voraussetzt; oder weil man, fundamentaler argumentierend, die Relativierung unitarischer Staatlichkeit seinerseits als legitimen Ausdruck rechtlicher Selbstbestimmung reflektiert, die ihre eigenen Organisationsformen modifiziert und damit unter dem Aspekt ihrer eigenen Vorläufigkeit thematisiert –, kann die Einwirkung von Hoheitsrechten auf den Staat nicht mehr einfach als zur äußeren Souveränitätsdimension gehörig kategorisiert und unter dem Aspekt einer abzuwehrenden Intervention thematisiert werden. Gerade in dieser Einseitigkeit der Thematisierung von externen Bindungen liegt die Unzeitgemäßheit der Souveränitätsdoktrin. Ihre Bezugsperspektive ist die Imprägnierung des staatlichen Selbstbestimmungsverhältnisses gegen Störungen von außen. Sie ist gespeist aus einem Verständnis, das als völkerrechtlichen Normalfall den latenten Kriegszustand voraussetzt und die unmittelbare externe Einwirkung auf innerstaatliches Recht unausweichlich als illegitime Intervention identifiziert. Sie macht den Staat im Bestreben der Konservierung seines Selbstbestimmungsvermögens gleichzeitig impermeabel gegenüber solchen Bindungen, welche ein Moment der substantiellen regelsetzenden Selbstverwirklichungsgehaltes enthalten, und geht deshalb mit einer Unterbestimmung des rechtlichen Selbsterweiterungsvermögens von Staaten im Außenverhältnis einher. In gewisser Weise dokumentiert die überkommene Souveränitätsdimension ähnlich dem empiristischen Subjektsverständnis des Utilitarismus einen defizitären (Staats-) Subjektsbegriff: Ähnlich wie etwa das Individuum in der Konzeption Thomas Hobbes’ das eigene Streben nach Selbsterweiterung verabsolutiert268 und folgerichtig an dem konzeptionell nicht einbezogenen Anderen auf eine fortwährende faktische Grenze stößt269, die die gemeinsame Rechtsstiftung im Grunde als ein paradoxes Unterfangen ausweist270, leidet der im absoluten Sinne souveräne Staat gerade durch seine unfehlbare Stärke allen externen Faktoren gegenüber an einem Subjektivitätsdefizit, das sein Vermögen in Frage stellt, sich in eine selbstrelativierende Unterordnung unter übergeordnete Verrechtlichungsbestrebungen gemeinsam mit anderen zu setzen. Ein einseitig auf Abwehr hin konzipierter Vernunftmechanismus kann zu einer den anderen integrierenden Regelsetzungsstrategie als Resultat einer eigenen, nicht extern aufoktroyierten Leistung nicht vordringen. Gleichermaßen kann auch das allein in seiner umfassend-negativen Bedeutung konzipierte souveräne Gemeinwesen zu keiner zwischenstaatlichen Verrechtlichungsstrategie vordringen. Der klassische Souveränitätsbegriff versagt als kategorialer Zugang zum Wechselseitigkeitsver-

268

Hobbes, De Cive I, 8 zum ius in omnia.

269

Hobbes, De Cive I, 11.

270

Treffende Kritik bei Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 118 ff.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

mögen verfaßter Staaten. Dieses Verständnis ist insofern untauglich für die angemessene demokratietheoretische Reaktion auf supranationale Verbände271. Die entscheidende, rechtsbegrifflich fundamentale Neuheit der supranationalen Selbstorganisation von Staaten liegt darin, als mögliche Quellen der Relativierung von Souveränität und Einheit nicht lediglich negative Elemente externer Intervention, sondern auch mögliche affirmative Gehalte von Selbstbeschränkung, dialektisch aufgehoben in einem Konzept der Selbsterweiterung, erkennen zu können. Wo der Souveränitätsbegriff es schon verbietet, den Staat überhaupt als Adressaten rechtlicher Gebote aufzufassen, ist das internationale Recht eine konstruktive Unmöglichkeit. Dieses Resultat einer unangemessenen Verkürzung des Staatsbegriffs272, der Vereinseitigung des souveränitätsakzentuierenden Aspekts der Unabhängigkeit von externen Interventionen geht zu Lasten des normativen Selbsterweiterungsvermögens des Staates, das mit gleicher Unmittelbarkeit beanspruchen kann, Ausdruck authentischer Souveränität zu sein. Supranationale Einwirkung ist vermittelte Erscheinungsform neuer, kategorial modifizierter, durch sich selbst im Wechselseitigkeitsverhältnis relativierter Staatlichkeit273. Alle Konzepte, die die Souveränitätsfrage offen lassen, für unerheblich oder für unentscheidbar halten oder auch nichtsouveräne Staatlichkeit für möglich halten, sind dem Einwand ausgesetzt, daß sich ihr Integrationsverständnis mit einem die mitgliedstaatliche Identität in einem materialen Sinne bewahrenden Verfaßtheitsbegriff nicht verträgt. Die Verrechnung der Kategorie der Souveränität mit supranationalen Bindungen impliziert, daß begriffliche Kernelemente des Staates letztlich Dispositionstitel der Integrati271

Entscheidend hierfür ist ein Souveränitätsverständnis, das zwar einerseits die historisch überholten Impermeabilitätsimplikationen relativiert, nicht jedoch die Souveränitätskategorie als solche zugleich eliminiert. Treffend insoweit Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, S. 13; zu weitgehend jedoch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 45, 46, der die Souveränitätsfrage im Ergebnis für entbehrlich hält; zweifelhaft auch die Konzeptionen geteilter Souveränität, etwa Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Sovereignty, LIEI 1993, 1. Relativierende oder agnostische Positionen vertreten auch Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 319; ders., Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1, 7; Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248, 268. 272 273

Kritisch hiergegen u., Kap. 4, IV. 2. c).

Vgl. Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa, FCE 10/01, S. 13: „Die antiquierte Vorstellung von Souveränität als rechtlich ungebundener Fähigkeit zum Machtspruch, zur Dezision, wandelt sich zu einer Idee von rechtlich sich bindender Selbstherrschaft und wird so zu einem konstruktiven Bauelement der komplementären Balance“; ders., Das Recht offener Staaten, 1998, S. 122, 124 f., kennzeichnet aber zugleich die fortbestehend notwendigen Unverfügbarkeitsgehaltes des Souveränitätsbegriffs.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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onsfinalität darstellten, und unterbestimmt damit wiederum das Prinzip der Wahrung mitgliedstaatlicher Identität. Daß Supranationalität nur als Einschränkung von Souveränität wahrgenommen wird, ist erstaunlich. Die dialektische Dimension anderer Prinzipien, die prima facie in erster Linie eine Relativierung staatlicher Selbstbestimmung darstellen, wie namentlich das Prinzip der Gewaltenteilung, wird nämlich durchaus anerkannt. So räumt etwa Heinhard Steiger auf der Grundlage eines eng an den Paradigmenhorizont von Bodin, Hobbes und Carl Schmitt angelehnten Souveränitätsverständnisses ein, daß das Prinzip der Gewaltenteilung eine in bezug auf die positiven Momente des Souveränitätsprinzips durchaus effektivitätssteigernde Bedeutung haben könne274. Gleichwohl setzt er diese Erwägung jedoch nicht dahin fort, daß auch die Eingehung von supranationalen Kooperationsstrategien ein ähnlich dialektisches, beschränkendes wie verwirklichendes Verhältnis in bezug auf staatliche Souveränität haben könnte. Vielmehr stützt Steiger sich insofern ausdrücklich auf den Begriffsgehalt im Ausgang von dem als „Vater der Souveränität“275 apostrophierten Jean Bodin. Daß jedoch zwischen Gewaltenteilung und supranationaler Gewaltdiversifikation eine gewisse strukturelle Analogie besteht und die polyzentrische Zuordnung von Entscheidungsmacht auf staatliche wie nichtstaatliche Entscheidungszusammenhänge eine dem Gewaltenteilungsprinzip ähnliche Rolle erfüllen könne276, liegt dabei nahe. Solch ein Verständnis kann sich auch auf nationalverfassungsrechtliche Ansätze stützen277 und ist gerade auf Grundlage des hier zugrunde gelegten subjektsorientierten Staatsverständnisses in besonderem Maße tragfähig.

d) Grenzen des modernen Souveränitätsbegriffs für die Parlamentarisierung der Sekundärrechtsetzung Die Modifikation und Relativierung des klassischen Souveränitätsparadigmas in der dargestellten Form darf gleichwohl nicht zu der Annahme verleiten, 274

Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende? Der Staat 41 (2002), S. 336. 275 Steiger (Fn. 274), S. 343 unter Verweis auf Bodin, Livre I, Chap. X. 276 So bereits H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 317 ff. 277 Das Bundesverfassungsgericht etwa hat wiederholt das Bundesstaatsprinzip als „vertikale Gewaltenteilung“ apostrophiert und darin gewissermaßen die theoriegeschichtliche Grundlage des interorganisatorischen Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative auf die interkorporative Ebene zwischen Bund und Länder übertragen, vgl. etwa BVerfGE 55, 274, 328 f.; auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., 1984, § 19 II 2, S. 657.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

daß nach diesem Verständnis jede Form der Ausgestaltung des supranationalen Willensbildungsprozeses, jeder Abstufungsgrad supranationaler Verselbständigung gegenüber der konstituierenden Staatlichkeit eröffnet und der so modifizierte Souveränitätsbegriff demnach blind wäre als Kriterium einer Restriktion des Integrationsprozesses in der Grauzone zwischen konventioneller Völkerrechtlichkeit und bundesstaatlicher Emanzipation. Vielmehr ist auch nach Maßgabe eines Souveränitätsverständnisses, das den Betrachtungsakzent von Bindungslosigkeit auf Selbstbestimmung verlagert, eine Parlamentarisierung ausgeschlossen, mit der der sekundärrechtsetzende Willensbildungsprozeß gänzlich der ausschließlichen Entscheidungsbefugnis des supranationalen Parlaments überantwortet würde. Der vorgenannte Souveränitätsbegriff, der staatliche Selbstbindung unter dem Aspekt staatlicher Selbsterweiterung thematisiert, verträgt keine Formen der Delegation staatlicher Hoheitsmacht auf nichtstaatliche Ausübungsebenen, die der staatlichen Mitgestaltung und Mitbeeinflussung entzogen sind und in denen sich deshalb – aus der Perspektive der Mitgliedstaaten als Rechtssubjekte – rechtliche Heteronomie manifestiert. Die Verwirklichung des Gehaltes des Souveränitätsbegriffs steht unter der Bedingung, daß in allen Formen der Legislativdelegation ein Element der Rückgebundenheit an die staatliche Rechtssubjektivität erhalten bleibt, die es rechtfertigt, in den supranationalen Normen des Sekundärrechts eine vermittelt staatliche Normsetzungsentscheidung, nicht aber ein Phänomen staatlicher Aufgabenentledigung zu erkennen. Nur wo staatliche Mitverantwortlichkeit besteht, ist die so gesetzte Norm – auch – ein Ausdruck staatlicher Selbsterweiterung. Mit einer Vollparlamentarisierung der Sekundärrechtsetzung, die aus der individualsubjektiven Legitimationsperspektive der Bürger Europas vielleicht die nächstliegende Option darstellen mag, wäre der Willensbildungsprozeß gegenüber den konstituierenden Staaten entäußert. Im Sekundärrecht manifestierte sich keine Staatlichkeit mehr – weder in Form individueller staatlicher Eigenentscheidung noch in Form staatenrepräsentativer kollektiver Kollegialentscheidung –, sondern ausschließlich supranational emanzipierte legislative Letztentscheidung. Die Europäische Union wäre dann in bezug auf die ihr übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse eine selbständige teilsouveräne Zurechnungseinheit. Sie entbehrte zwar der Totalität staatlicher Aufgabenbefugnis, wäre jedoch ausschließlicher, letztverantwortlicher und unabhängiger Autor der sekundärrechtlichen Normen. Die Mitgliedstaaten wären reduziert auf die Verantwortlichkeit für den – vertraglichen – Ermächtigungsakt, ohne daß sich argumentativ rechtfertigen ließe, auch die sekundärrechtlichen Normen noch als authentischen Ausdruck einer von den Mitgliedstaaten ausgehenden Selbsterweiterungsstrategie zu begreifen. Ein so ausgestaltetes Konkurrenzverhältnis von Regelungsebenen stellte deshalb die Substanz staatlicher Selbstbestimmungsverantwortung in Frage.

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Das Resultat der Souveränitätsanalyse besteht dementsprechend in einem Balanceverhältnis, das einerseits die Schaffung originär supranationaler Inklusions- und Repräsentationseinheiten gestattet, nicht aber zugleich eine Verselbständigung des Willensbildungsprozesses vom staatlichen Willen insgesamt eröffnet. Das Wesen der dualen Repräsentationsarchitektur weist insofern auch eine souveränitätstheoretische Notwendigkeit auf und dokumentiert so die fehlende Verrechenbarkeit der beiden Repräsentationsstränge auch unter diesem kategorialen Blickwinkel.

3. Anforderungen an die Identität des supranationalen Verbundes als Voraussetzung originär parlamentarischer Repräsentation Die beiden das Europarecht legitimierenden Ableitungszusammenhänge aus mitgliedstaatlich ratsvermittelter Repräsentation und originär gemeinschaftsrechtlicher Repräsentation stehen sich nicht voraussetzungslos als austauschbar gegenüber, sondern sind ihrerseits von unterschiedlichen Bedingungen abhängig, die mit der Subjektsqualität der zu repräsentierenden Rechtsadressaten verbunden sind. Während ein verbindendes Element von Rat und EP im surrogativen Charakter beider Legitimationsstränge hinsichtlich solcher Funktionen zu sehen ist, die innerstaatlich konvergent den Nationalparlamenten zugewiesen sind, folgt die duale Unterschiedlichkeit von Rat und EP wesentlich aus der Identität, auf die beide bezogen sind. Die Frage nach der durch das EP originär zu repräsentierenden Identität bildet gewissermaßen den Mittelpunkt europaparlamentarischer Konstruktionsproblematik278 und läßt sich auf zwei wesentliche Aspekte begrifflich fokussieren. Zum einen wirft sie die Frage nach den vorrechtlichen Identitätsbedingungen auf, auf die ein Repräsentationsorgan als empirische Verwirklichungsbedingung seiner Repräsentationsfähigkeit überhaupt bezogen sein muß (dazu a)). Diese Fragestellung erfordert deshalb die Auseinandersetzung mit dem staatsrechtlich typischerweise indizierten Junktim von Parlamentarismus und Volksbegriff und setzt kategorial tragfähige Relativierungsansätze für diese Verknüpfung voraus. Zweitens sind in bezug auf den status quo gemeinschaftsrechtlicher Institutionenstrukturen gewisse organinterne Defizite des EP in ihren möglichen Auswirkungen auf die dem Parlament zuweisbare Repräsentationsstellung zu untersuchen (dazu b)). 278

Hauptaspekte in der nahezu unübersehbaren Identitätsdiskussion in bezug auf den Volksbegriff typisieren insbesondere Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 196 ff.; Thym, Die verfassungsgebende Gewalt in demokratischen Gesellschaften, WHI-Paper 1/97; Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 1 ff.; von Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, JZ 2004, S. 53 ff.; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 707 ff.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

a) Volksbegriff und Identität

aa) Der Zusammenhang zwischen Staat und Volk als kategoriale Problematik für die Herauslösung repräsentativer Demokratie aus dem staatsrechtlichen Kontext Die Bezogenheit aller demokratischer Willensbildung auf ein (Staats-) Volk279 gehört einesteils zur Erbmasse eines Staatsverständnisses, das seine wesentlichen theoretischen Impulse der Phase von Nationalstaatlichkeit und Liberalismus des 19. Jhdts. verdankt280. Keines von den staatlichen Konstitutions- oder Legitimationsprinzipien ist auf dieses kategoriale Wechselseitigkeitsverhältnis zum Staat schon seiner Etymologie nach so unmittelbar bezogen wie das Demokratieprinzip als das Prinzip der „Volksherrschaft“. Zwar ist die Etymologie kein zwingendes Argument für die juristische Bedeutung eines Prinzips, so daß Ansätze aufzeigbar sind, die die im Demokratieprinzip artikulierte Anforderung an die Organisationsform von Herrschaft aus dieser Bezugsenge befreien. Ein möglicher europäischer Parlamentarismus sieht sich aber schon wegen dieser ideengeschichtlichen Bezogenheit auf das Staatsrecht mit der Problematik konfrontiert, ob seine Verwirklichung im nichtstaatlichen Kontext nicht – in Ermangelung eines europäischen Staatsvolks281 – eines Bezugssubstrates entbehrt. Nicht nur nach Maßgabe des Grundgesetzes, sondern auch in der positivrechtlichen Verfassungsausgestaltung der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist die Repräsentationsfunktion der nationalen Parlamente konstruktiv verknüpft mit der Identität des repräsentierten und dadurch für das Gemeinwesen konstitutiven Volkes282. Das Fehlen eines direkten Äquivalents auf europäischer Ebene stellt das surrogative Vermögen des EP in repräsentationstheoretischer Hinsicht zumindest mittelbar in Frage. Mit ihm wird ein Organ als Legitimationsersatz angeboten, obgleich sich in ihm keine dem nationalen Parlamentarismus entsprechende volkssouveräne Legislativmacht artikuliert.

279

Grundlegend hierfür die Drei-Elemente-Lehre von Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 406 ff. 280 Vgl. Thym (Fn. 278), S. 3, Rdnr. 12. 281 H. M. in der deutschen Staatsrechtslehre, z.B. Josef Isensee, Nachwort. Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, Fn. 14, S. 103; Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, S. 629, 634; Di Fabio, Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes, Der Staat 1993, S. 191, 202 ff; a.A. Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., der diese Position als „kein-Demos-These“ bezeichnet. Ihm folgend u. a.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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Schon für das Staatsrecht sind die Konturen des Volksbegriffs stark umstritten. Der klassischen Staatsrechtslehre283 steht eine gegenläufige Auffassung gegenüber284, die das Individuum und seine Interessen in den Mittelpunkt der Rechtsaufgaben stellt und diesen Umstand kritisch wendet gegen die als teleologisch-vormodern empfundene Vorstellung vom Recht vorgefundener Volksentitäten285. Ein Volksbegriff im Sinne einer ethnischen oder anderweitig an abgeschlossene Gemeinsamkeitsmerkmale anknüpfende Identität als notwendige Bedingung der Staatswerdung erscheint in der Tat namentlich dann in seiner Notwendigkeit kaum überzeugend286, wenn man ihn mit den freiheitsgesetzlichen Grundlagen des Repräsentationsprinzips abgleicht: In einer solchen Staatsvorgegebenheit käme kein freiheitlicher Gehalt einer sich selbst verfassenden Kollektividentität zum Tragen, sondern eine Abhängigkeit von vorgefundenen empirischen Sachverhalten, deren Bestehen zum einen häufig bloße mystifizierende Behauptung ist287, zum anderen aber in ihrer Ausschlußwirkung gegenüber anderen, der ethnischen Kollektividentität nicht zugehörigen Individuen begründungsbedürftig bleibt, ohne in Kategorien des Recht selbst überzeugend begründungsfähig zu sein. Begrifflich kennzeichnend für einen modernen Staatsbegriff ist die rechtliche Selbstverfassung Freier, nicht die Verwirklichung teleologischer Gemeinschaftskonzeptionen288. Zusätzlich relaDorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union. Möglichkeiten und Grenzen der europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza, 2001. 282 Vgl. auch Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 646; zum Konzept der Volkssouveränität im Repräsentationsgefüge auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, § 12, HdB VerfR, Rdnr. 75 ff. 283 Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HdBStR Band VII, 1992, S. 855, 873; BVerfGE 89, 155, 185; für eine Mindestvoraussetzung „relativer Homogenität“ auch Böckenförde, HdBStR Band I, 1987, S. 887, 929. 284 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000; Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990), in: ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992, S. 632, 633. Sehr kritisch auch Rittstieg, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, NJW 1991, S. 1383, 1386. 285 Vgl. etwa Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, StWStP 1994, S. 305. 286 So auch Griller, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunft der Europäischen Union, Working Paper Nr. 21 des Forschungsinstituts für Europafragen, Oktober 1996, S. 5 ff. 287 Vgl. auch Thym, Die verfassungsgebende Gewalt in demokratischen Gesellschaften: Homogenität als Voraussetzung oder Ziel, Volksbegriff, Staat und „Civil Society“, WHI Paper 1/97, S. 4, Rdnr. 18; Dürig in MDHS, GG, Art. 3, Rdnr. 61. 288 Teleologiekritik bei Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 17; gegen ein Abgleiten in völkische Identitätsanforderungen auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 178.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

tivierend wirkt der Hinweis auf die abweichende Rechtswirklichkeit in Vielvölkerstaaten289. bb) Unverfügbarkeiten des Konzepts vorstaatlicher Homogenität Hiermit wird das Kategorienproblem der Volksbezogenheit des Demokratieprinzips indes noch nicht gänzlich obsolet. Die teleologische Überdetermination des Staates durch einen zu gehaltvollen Volksbegriff ist nur das eine Extrem; die andere Vereinseitigungsgefahr liegt in der Marginalisierung des Staates zu einer bloßen äußeren Zweckgemeinschaft290, die mit der gänzlichen Ausblendung seiner außerrechtlichen Bedingtheit einherginge. Die Konstruktionselemente eines Staates, der gekennzeichnet ist durch Demokratie als inneres Prinzip der Selbstbestimmung und Souveränität als äußeres Korrelat der Gewährleistung derselben, sind auf ein kohärenzstiftendes Moment angewiesen, das der staatlichen Rechtsgemeinschaft über die bloße Faktizität des „sich Zusammenfindens“ in der Staatsorganisation einen von Gemeinsamkeiten geprägten Halt vermittelt. Deshalb genügt es nicht festzustellen, daß der Verfassunggeber es in der Hand habe, den Volksbegriff primärrechtlich zu definieren und damit auch in bezug auf supranationale Bedürfnisse zuzuschneiden291. Dies verkürzt nicht nur positivistisch den eigentlichen Sinngehalt, aus dem die Volksangewiesenheit des Staates nach den Befürwortern dieser Argumentation erwächst: Die Fähigkeit, bestimmte Formen gemeinschaftlicher Willensbildung zu konstitutionalisieren, hängt von vorrechtlichen Identitäts- und Homogenitätsbedingungen ab, die nicht zur Disposition eines Verfassunggebers stehen, sondern die rechtstatsächliche condicio sine qua non angeben, auf deren Grundlage das Wollen des pouvoir constituant erst verwirklichungsfähig wird. Auch der rechtsempirische Befund, daß die zunehmenden internationalen Verflechtungen einen Erosionsprozeß staatlicher Institutionen und Prinzipien in Gang gesetzt haben, der auch den Volksbegriff stark relativiere292, reicht für sich genommen nicht hin, diese Relativierung als prinzipienangemessen zu

289

Für eine beschränkte Bedeutung des Sprachenkriteriums als Homogenitätsvoraussetzung auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 304 ff. weist zudem auf die Schweiz als empirisches Relativierungsbeispiel des Sprachenkriteriums für die vorauszusetzende Identität hin. 290 Überzogen deshalb wohl Pernice, der Staatsangehörigkeit mit Vereinszugehörigkeit parallelisiert, die „die Möglichkeit des freien Ein- und Austritts“ erlaube, FleinerGerster, Multikulturelle Gesellschaft und verfassungsgebende Gewalt, S. 73, 76. 291 So etwa Griller, Ein Staat ohne Volk, 1996, S. 5; vgl. auch BVerfGE 83, 37, 52; dazu unten, 3. 292 So Griller (Fn. 291), S. 6; Saladin, Wozu noch Staaten? 1995, S. 26 ff.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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deklarieren, wenn der Volksbegriff der Staatlichkeit trotzdem begrenzte Elemente rechtsprinzipieller Unverzichtbarkeit enthalten sollte. Die Repräsentationsfunktion des Parlaments verbindet Volkssouveränität und Demokratieprinzip zur Selbstbestimmungsleistung aller Konstituenten in einer den legislativen Willensbildungsprozeß konstruktiv tragenden Einheit. Der Bezug auf eine Volksidentität, unabhängig davon, wie diese im einzelnen zu bestimmen ist, vergegenwärtigt den Umstand, daß staatliche Selbstbestimmung stets eine kollektive Organisationsaufgabe in der „jeweiligen Besonderheit“ im Sinne Hegels ist, sich also mit der staatlichen Vergemeinschaftungsleistung legitimerweise die jeweiligen identitätsstiftenden empirischen, je kontingenten Bedingungen in der organisatorischen Einheitsbildung verwirklichen und zur Geltung bringen und demgegenüber eine gänzliche Abstraktion hiervon die repräsentierte Identität zu einer leeren Fiktion machte. Ignorierte man für Parlamentarisierungsüberlegungen in bezug auf den supranationalen Verbund diese Kategorienbezüge, so bliebe in der repräsentationstheoretischen Einordnung eine mögliche substantielle Defizienz europäischer Repräsentation zum staatlichen Zusammenhang unthematisiert, mit der sich die surrogative Tragfähigkeit des EP gleichzeitig insgesamt in Frage gestellt sähe. Ansätze, die das Junktim von Staat und Volk durch eine bloße Marginalisierung dieses Kategoriezusammenhangs zu lösen versuchen, sind deshalb für die Prinzipieninstitutionalisierung auf europäischer Ebene nur sehr begrenzt tragfähig, weil sich die Schwäche der Analyse in einer Defizienz der hierauf gegründeten Institutionenstruktur fortzusetzen droht. Daß die innerstaatliche Volkssouveränität durch die Gemeinschaftsbildung zumindest relativiert wird293, ist evident. Sie besagt aber noch nichts über die Möglichkeit einer angemessenen Ersatzkategorie. Die „Bündelung“ von Volkssouveränität294, verstanden als die Vergemeinschaftung mitgliedstaatlicher Souveränität in der EU, oder die „Teilung“ derselben295 293

Ob dies zur Eliminierung der Kategorie der Souveränität oder zur bloßen Relativierung führt, ist umstritten. Vgl. dazu Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 45, 46, der die Souveränitätsfrage im Ergebnis für entbehrlich hält; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1994, § 17, Rdnr. 2 ff.; Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 30 ff.; Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Sovereignty, LIEI 1993, 1. Relativierende oder agnostische Positionen vertreten auch Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315, 319; ders., Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1, 7; Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248, 268. 294 Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 647. 295 Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 45; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, § 17, Rdnr. 2 ff.; Pernice, Die Dritte Gewalt

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

durch Aufteilung zwischen Mitgliedstaat und Gemeinschaft mögen Kennzeichen supranationaler Verflechtung sein, dispensieren aber nicht von der Beantwortung der Frage, ob die sich artikulierende Gemeinschaft von verschiedenen Kollektividentitäten (den jeweiligen Staatsvölkern) einer gemeinsamen Repräsentation überhaupt zugänglich ist. Daß Deutsche zur Repräsentation von Franzosen und umgekehrt auf Gemeinschaftsebene in der Lage seien, versteht sich nicht schon durch den Hinweis von selbst, daß die jeweilige volkssouveräne Selbstbestimmung im Nationalstaat durch die Gemeinschaft an Umfang eingebüßt habe. Die Subtraktion von Gegenständen volkssouveräner Selbstbestimmung auf Nationalebene und ihr korrespondierender Zuwachs im Gemeinschaftsrecht führen nicht per se zur dortigen Ausprägung einer Identität, die dem dorthin verlagerten Selbstbestimmungsanliegen die erforderlichen einheitlichen Artikulationsbedingungen schafft. Ein angemessener repräsentationstheoretischer Umgang hiermit muß deshalb zweischrittig argumentieren: Erstens ist zu zeigen, daß der essentielle Kern des Volksbegriffs, der dem Repräsentationsprinzip auch im supranationalen Verwirklichungskontext als unverzichtbarer Bestandteil aufgegeben bleibt, nicht in einer notwendigerweise völkischen Identität liegt, sondern in einem Identitätsbegriff, der den regelsetzenden Verdichtungsgrad reflektiert, auf den die ihn repräsentierende Institution legitimatorisch bezogen werden soll (b). Zweitens ist das so bestimmte Identitätskriterium in Abgleich zu bringen mit einem entsprechenden Identitätsbefund im gegenwärtigen supranationalen Verbund (c).

b) Ansatzpunkte einer Relativierung des Junktims von Volksbegriff und Demokratieprinzip Die Notwendigkeit eines Volkes als zu repräsentierender Einheit wird durch zwei hauptsächliche Argumente in Frage gestellt: Erstens, indem die Gründe einer auf das Volk bezogenen Repräsentation hinterfragt und auf ihr kategoriales Gewicht hin überprüft werden. Zweitens, indem dem Konzept der vorstaatlichen Homogenität das Prinzip des Föderalismus relativierend gegenübergestellt wird, weil dieses mit der Anforderung einhergeht, die Homogenitätsvorstellungen des volksbezogenen Demokratieverständnisses mit der Rechtswirklichkeit einer auf mehrere Ebenen verteilten Hoheitsgewalt abzugleichen. Beide Ansätze führen gemeinsam zum Konzept einer relativen Mehrebenenidentität – in Kontrast zu einer monistisch-exklusiven Volksidentität –, die als Identitätssubstrat eine den jeweiligen Regelungskontext widerspiegelnde Rechtsgeim europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27, 30 ff.; Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Sovereignty, LIEI 1993, 1.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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meinschaft voraussetzt. Wenn demnach die zu repräsentierende Identität nicht notwendigerweise ein (Staats-)Volk sein muß, bedeutet dies nicht, daß jede Summe der Rechtsunterworfenen gleichermaßen repräsentierbar ist. Die vom Volksbegriff ablösbare Anforderung des Identitätskriteriums liegt darin, daß die Repräsentierbarkeit einer Summe von Rechtsunterworfenen ein gewisses Minimum an „relativer“ Homogenität voraussetzt, ohne die die zu repräsentierende Einheit nicht als zurechnungsfähige Einheit vorstellbar ist, sondern aufgrund der fehlenden Kohärenz der zu vereinigenden Einzelidentitäten diffundiert. aa) Wesen des Volksbegriffs als Identitätsinbegriff In der Auseinandersetzung mit dem Konzept vorstaatlicher Identität ist zunächst zu fragen, ob der Volksbegriff möglicherweise nur der unproblematisierte Inbegriff für eine typischerweise, jedoch nicht repräsentationskategorial notwendigerweise mit den vorrechtlichen Bedingungen der Staatlichkeit verknüpfte Identität ist. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist der Umstand, daß das Phänomen zwischenstaatlicher Bindungen und institutionalisierter Formen einer „kooperativen Souveränität“296 rechtstatsächlich sehr neu, die Normalform geschlossener Staatlichkeit jedoch eine seit der Antike praktizierte Form der Selbstorganisation darstellt. Mit dieser Relativierungsüberlegung ist keineswegs impliziert, durch den bloßen Verweis auf die Neuartigkeit der Supranationalität als Form der Hoheitsausübung alle kategorialen Bedeutungsgehalte des Staatsverständnisses für hinfällig erklären zu können. Alle staatstheoretischen Überlegungen vor Beginn der europäischen Integration jedoch, die als Referenz für die Volksbedürftigkeit von Repräsentationszusammenhängen herangezogen werden, müssen demnach kritisch darauf überprüft werden, ob der Volksbegriff eine Unverfügbarkeit des Demokratieprinzips oder eine bloße Konvention unitarischer Staatlichkeitsparadigmen ohne zwingenden Grund reflektiert. Sofern letzteres gilt, wäre das Homogenitätskonzept volksbezogener Partizipation primär aus der rechtstatsächlich fehlenden Alternative nichtstaatlicher Herrschaftsverbände (zwischenstaatlicher und unterstaatlicher Art) und damit aus letztlich kontingenten, nicht aber kategorialen Gründen mit einer staatsrechtsexklusiven Interpretation verbunden. (1) Anhaltspunkt für eine solche Argumentation tragende Analyse müssen zunächst die den Volksbezug von Demokratie affirmierenden rechtsphilosophischen Primärreferenzen selbst sein. Die Ordnungsvorstellung unitarischer Staatlichkeit und hierauf bezogener „Volksdemokratie“ findet namentlich in 296 Kirchhof, FAZ vom 8. 5. 2003, S. 8; indes stärker bezogen auf das universelle Völkerrecht.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

der Verfassungslehre Carl Schmitts eine Hauptreferenz, die in der Feststellung zum Ausdruck kommt: „Es gibt, wenn Demokratie überhaupt eine politische Form sein soll, nur eine Volks- und keine Menschheitsdemokratie“297. Diese Konzeption beruht wesentlich auf der Gleichsetzung der Begriffe von Volk, Nation und Staat298 und wird hauptsächlich und in Teilen unspezifisch mit der friedensstiftenden Funktion innerer Homogenität begründet299. Bei Fichte begründet eine wesentlich über die Kriterien der Geschichte, Kultur, Religion und Sprache vermittelte vorrechtliche Gleichartigkeit eine Form natürlicher Homogenität, die die staatliche Selbstorganisation als Verwirklichung einer bereits zuvor empfundenen politischen Einheit erscheinen lasse300. In gewissem Sinne bauen die Konzeptionen Kants und Hegels auf diesen Elementen auf. Die Notwendigkeit des Volksbezugs erhält in der deutschen Staatsrechtslehre ihren stärksten kategorialen Gehalt dort, wo sie den Volksbegriff als die Schnittmenge ausweisen kann, welche den abstrakten Gehalt des Postulats rechtlicher Selbstbestimmung mit den vorfindlichen historischen Gegebenheiten in Übereinstimmung bringt. Das ist die hegelianische Referenz an das Recht der Besonderheit. Staat ist danach die rechtlich institutionalisierte Selbstbestimmung eines Volkes. In der Anerkennung des Staates als äußerer Einheit wird das Recht der Besonderheit des Staatsvolkes anerkannt und verwirklicht; das Volk als Zurechnungseinheit geht im Staat als rechtliche Institution auf301. In kritischer Abgrenzung zu einer beliebigen Kollektivierung von Willensbildungsprozessen scheint nach der vorherrschenden Argumentation der demokratietheoretische Bezug auf das Volk als rechtsprinzipieller Tribut an die Vorfindlichkeit und historische Bedingtheit von Identitäten, zu denen sich die rechtliche Institutionalisierung nicht oktroyierend verhalten darf, sondern die zur Geltung zu bringen ihre angestammte Aufgabe ist. Diese Feststellung ist zunächst unabhängig davon, daß eine Determination der diese Volkshomogenität hervorbringenden – normativen wie deskriptiven – „organischen“302 Merkmalsvielfalt nicht möglich und selbst seine typisierende Eingrenzung nur unter Inkaufnahme so erheblicher Randunschärfen möglich erscheint, daß damit die 297

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 234. Carl Schmitt (Fn. 297), S. 251. 299 Carl Schmitt (Fn. 297), S. 231. 300 Fichte, Reden an die deutsche Nation, Rede 13, S. 460; Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HdBStR Bd. VII, S. 866; Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1992, S. 63. 301 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 331: „Das Volk als Staat ist der Geist in seiner substantiellen Vernünftigkeit und unmittelbaren Wirklichkeit…“. 302 Treffende Bezeichnung von Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff. 298

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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Fähigkeit des Volksbegriffs als Begriff insgesamt in Frage steht. Weitgehend konsensfähig dürften allenfalls die Merkmale Kultur, Sprache, Religion und gemeinsame historische Verbundenheit sein303. Kant sieht die Manifestation staatlicher Rechtsherrschaft ebenfalls ausgehend vom Volk als Willensgemeinschaft vor304, während im übrigen der Volksbegriff zwar durchgängig als „gemeines Wesen“305 die Staatsrechtskonzeption der Rechtslehre durchzieht, aber eine begrifflich unproblematisierte Bedeutung als Bezugssubstrat der den Staat tragenden Rechtsgemeinschaft behält. Die weithin mit Kant assoziierte306 angebliche kategoriale Verwiesenheit von Demokratie und Volk erweist sich darin bei näherer Betrachtung eher als die in Ermangelung supranationaler Verbundsstrukturen unproblematisierte Selbstverständlichkeit, daß die rechtliche Zurechnungseinheit kollektiver Selbstbestimmung im Volksbegriff ihren Inbegriff finde. So thematisiert einerseits Kant zwar die zentralen, für die Identität eines Volkes konstitutiven Merkmale als „Sprache und Religion“307 und legt damit zugrunde, daß bei Fehlen essentieller Merkmale die staatskonstitutive Kategorie des Volkes sich nicht werde ausprägen können. Weder bei Kant noch bei Hegel jedoch lassen sich hinreichende Anhaltspunkte dafür finden, daß die Einheit von Volk und Staat als Restriktionskategorie gegenüber konkurrierenden Organisationsformen letztlich mit Ausschließlichkeit eine bestimmte Konstellation von Staat als zwangläufig determiniert, weil die Vorfindlichkeit eines bestimmten Volkes dies gebiete. Kant etwa geht im „Ewigen Frieden“ im Rahmen eines Argumentationszusammenhangs, der gegen die Möglichkeit eines Weltstaates gerichtet ist, zumindest implizit davon aus, daß die Verschmelzung von in verschiedenen Staaten organisierten Völkern ohne weiteres möglich ist308. Auf dieser Grundlage ist auch fraglich, ob 303

Vgl. statt vieler nur Isensee, Nachwort. Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, S. 122: „Ohne ein gewisses Maß an Homogenität kann kein Staat bestehen. Der Wille zur politischen Einheit, der eine Menschengruppe zum Volk als Nation und damit zum möglichen Subjekt demokratischer Selbstbestimmung werden läßt, knüpft an objektive Vorgegebenheiten an, etwa geopolitische Lage, wirtschaftliche Interessen, Geschichte, Sprache, zivilisatorische Standards, Ethos, Kultur, Religion.“ 304 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313: „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“. 305 Kant (Fn. 304); vgl. auch § 46. 306 Etwa Roellecke in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Art. 20 GG, Rdnr. 154, Bezug nehmend auf MdS, RL, § 46. 307 Kant, EF, 1. Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens, VIII, 367. 308 Kant, EF, 2. Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 354: „Darin aber wäre ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden (!), welches (da wir hier das Recht der Völker

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

das in der Rechtsphilosophie Hegels erscheinende Recht der Besonderheit, in welchem sich die Rücksichtnahme auf die gemeinsamen Identitätskriterien manifestiert, welche die empirische Vergemeinschaftungsgrundlage darstellen, wirklich als dem Staat vorgegebene Bedingung seiner Konstitution erscheint oder nicht seinerseits der Staat es ist, welcher durch die von ihm ausgehende identitätsstiftende Kohärenzschaffung ein wesentliches Teilmoment der in ihm artikulierten Identität erst schafft. Das dokumentiert, daß jedenfalls vorrechtliche Identitätsvoraussetzungen und die von der staatlichen Konstitutionalisierungsleistung ihrerseits bewirkte Identitätsstiftung in einem dialektisch wechselseitigen und insofern dynamisch fortentwicklungsfähigen Verhältnis stehen. (2) Selbst wenn man aber zugrunde legt, daß der Staat an einen Inbegriff von vorrechtlichen Identitätsbedingungen gebunden ist, die unter dem Volksbegriff zusammengefaßt wird, folgt daraus nicht notwendig eine vorrechtliche Festgelegtheit und Abgeschlossenheit der Kriterien, die diesen Volksbegriff konstituieren. Die von Carl Schmitt in den Vordergrund gerückte friedensstiftende Kohärenzkraft eines Nationalstaates dürfte – in starker konzeptioneller Verbundenheit mit der oben erwähnten Bedeutung von Souveränität – in ihrer Ausschließlichkeit durch die modernen supranationalen Kooperationsformen überholt sein und die Erklärung schuldig bleiben, weshalb er andersartigen positivrechtlichen Ausgestaltungen entgegenstehen könnte. So wird der Begriff des Staatsvolkes völkerrechtlich als Synonym für „Bevölkerung“309 verstanden, nicht aber für ethnisch-kulturelle Merkmalsanforderungen, die unverzichtbar wären. Der Staat gestaltet durch das Staatsbürgerschaftsrecht die Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeit der Individualrechtssubjekte zu seiner Organisationseinheit bestimmt, selbst aus310; die Staatsbürgerschaft erscheint insofern als die positivrechtliche Form der Selbstdefinition der maßgebenden identitätsprägenden Elemente. Diese fällt in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich aus, ohne daß diese Unterschiedlichkeit die substantielle Repräsentationsfähigkeit in Frage stellte. Deshalb läßt sich zumindest als rechtstatsächlicher Befund nicht feststellen, daß eine bestimmte Qualität von Identitätsbedingungen staatlichen oder sonstigen Gemeinwesen als Verfaßtheits- oder Repräsentationsanforderung vorgegeben wäre. Demnach läßt sich schon den rechtsphilosophischen Primärreferenzen volksbezogener Homogenitätskonzeptionen kein kategorisches Verdikt gegenüber relativierenden Identitätskonzeptionen

gegen einander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht.“ (Hervorhebung von mir). 309

Griller, Ein Staat ohne Volk, 1996, S. 5, Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2002, S. 21. 310

Griller (Fn. 309), S. 5; BVerfGE 83, 37, 52.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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entnehmen. Die Exklusivitätsaussage des Volksbegriffs erschöpft sich im Ausschluß paralleler kontradiktorischer Identitäten, die eine die nationalstaatlichrepräsentative Willensbildung in Frage stellende Konkurrenzsituation implizieren; in bezug auf demokratische Erscheinungsformen der Selbstrelativierung bleiben sie aussagelos. Hierin findet die konzeptionelle Unzulänglichkeit des kritisierten Souveränitätsverständnisses eine Entsprechung. bb) Föderalismus als Einschränkungskategorie gegenüber geschlossenen Identitätskonzeptionen

(1) Grundlagen eines staatstranszendierenden Föderalismusbegriffs Dieser aus der Analyse der kategorialen Gründe für das Verflechtungsverhältnis von Volksbegriff und Repräsentationsprinzip folgende Befund wird durch die Gegenläufigkeit des Föderalismusprinzips als einem auf Vielheit, Heterogenität, dezidiert nichtidentische und plurale Ordnungssysteme bezogenen Strukturprinzip unterstrichen und unterstützt. Schon begrifflich ist Föderalismus von der Voraussetzung abhängig, daß die einzelnen Bestandteile substantielles Eigengewicht, Recht der Besonderheit, Subjektivität haben311. Einer einseitigen Kompetenzstärkungsrichtung in unitarische Dimensionen ist dies schon vom Prinzip her entgegengesetzt. Es liegt auch auf der Hand, daß in bezug auf mehrebenenbezogene Herrschaftsstrukturen die Argumentation mit staatsrechtlichen Identitätsvoraussetzungen schnell den Charakter einer petitio principii annehmen kann, wenn die Notwendigkeit eines zu repräsentierenden Identitätssubstrats für die Schaffung zwischenstaatlicher Einrichtungen dort postuliert wird, wo in Wahrheit das identitätsbildende Spezifikum der Stiftung derselben in der integrierenden Bündelung divergenter Vielheit liegt: Stellt es sich als integrationstypisch dar, daß die Herausprägung von Identität nicht Entstehungsvoraussetzung zwischenstaatlicher Einheiten oder Föderationen ist, sondern die Dynamik dieses Integrationsprozesses selbst erst deren schrittweise Hervorbringung bewirkt, so bedeutete es eine verfehlte Überfrachtung des Anforderungsniveaus an den legitimatorischen Hintergrund von Supranationalität, das Bestehen einer in ihr repräsentierten Identität als in entwickelter Form vorhanden zu fordern312. Der Föderalismus ist in seinen staatsrechtsinternen 311

„Foedus“ als Bund ist nicht vorstellbar, ohne die Identität des sich im Bund verbindenden Identitätssubstrats in seiner jeweiligen Verschiedenheit begrifflich mitzudenken. 312 Ein solches wechselseitiges Verwiesenheitsverhältnis von vorrechtlichen Homogenitätsbedingungen und rechtlich erst vermittelter Homogenisierung nimmt auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 180, an.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Bedeutungsgehalten313 wie auch „als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung“314 ein der Identitätsanforderung gegenläufiges Prinzip. Das relativierende Moment gegenüber zentralistischen Organisationsformen rückt den Föderalismus in die Nähe der Gewaltenteilung. Beide haben – für das bundesrepublikanische Staatsrecht anerkanntermaßen315 – einen gemeinsamen Aspekt der Aufgabenverteilung im Sinne kompetenzieller Balance zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsberechtigten. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Aspekt treffend mit dem auf das Bundesstaatsprinzip bezogenen plakativen Begriff der „vertikalen Gewaltenteilung“ artikuliert316. Damit hat das Föderalismusprinzip ebenfalls eine Legitimitätsimplikation, die es zum tauglichen Gegenpol einer Konkordanzstiftung erhebt und seine Strukturverwirklichung als rechtskategorial tragfähige Ordnungsform qualifiziert. Föderalismus meint begrifflich nicht notwendig Bundesstaatlichkeit317. Er bedeutet in einem unspezifischen, die Gebilde von Föderation und Konföderation318 integrierenden Zugriff die Aufteilung von Hoheitsgewalt auf unterschiedliche Ebenen319, faßt also in sich auch Formen der Eingehung von Bindungen im staaten-intersubjektiven Verhältnis. In den vielfältigen Stellungnahmen zum Föderalismus dominiert mittlerweile bereits ein Verständnis, das mit diesem Begriff lediglich die Mehrebenenstruktur von Herrschaft artikuliert und hiermit weder einen implizierten Staatsbezug noch eine Staatsfinalität des

313 Vgl. dazu nur die ausführliche Analyse von Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998. 314 Dazu Heckel mit ebendiesem Titel; vgl. in die gleiche Richtung gehend – für eine begriffliche Öffnung des Föderalismus auch gegenüber nichtstaatlichen Organisationszusammenhängen – von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 62 f. 315 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., 1984, § 19 II 2, S. 657: „Pluralität der politischen Leitungsgewalt“; Schodder, Föderative Gewaltenteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung ihrer gegenwärtigen Wirkungen und Probleme, 1998. 316 Zur Bundesstaatlichkeit als freiheitlichem Prinzip vertikaler Gewaltenteilung vgl. etwa BVerfGE 55, 274, 328 f. 317 So aber die Begriffsbildung von Böttcher/Krawczynski, Europa Zukunft: Subsidiarität, S. 109, die Föderalismus einer zwischenstaatlichen Gemeinschaftsbildung ohne Herausbildung eigener Rechtssubjektivität entgegengesetzen, sowie Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, Kap. 2, II.; demgegenüber wie hier von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 62 f.; Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, S. 13; Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 37. 318 Vgl. dazu nur Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff. 319 Vgl. Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 98.

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als föderal bezeichneten Integrationskontexts artikuliert. Dieses namentlich von der deutschen Diskussion ausgehende Verständnis beginnt auch die angelsächsische Diskussion der europäischen Integrationsphänomene zunehmend zu instruieren320. Eine hierzu in Widerspruch stehende Zuspitzung des Föderalismusbegriffs auf einen spezifischen staatsrechtsdogmatischen Kontext321 verstellt den Blick dafür, daß Gemeinschaftsbildung unter verfaßten Rechtssubjekten in abgestuften Formen stattfinden kann und das Differenzierungskriterium der Staatlichkeit oder Nichtstaatlichkeit für eine einheitlich begrifflichkategoriale Erfassung unterschiedlicher Organisationsformen der Gemeinschaftsbildung zunehmend an Bedeutung verliert. Der entscheidende Gesichtspunkt nicht-unitarischer Gemeinschaftsbildung ist weniger die Unterschiedlichkeit in der Intensität rechtlicher Verbindung, als die Gemeinsamkeit des Aspekts einer dialektischen Schaffung von bereichsbezogener Einheit unter Wahrung der Vielheit322. Dieses Begriffsverständnis ist allgemein-abstrakt, aber nicht allein dadurch trivial323. Das entspricht auch dem theoriegeschichtlichen Gebrauch dieser Begrifflichkeit diesseits der angelsächsischen Rezeptionsgeschichte324, der stärker auf intergouvernementale Bündnisformen ohne Staatsqualität der Bundesebene hin geprägt erscheint: So macht Kant im für sein völkerrechtliches Rechtskonzept zentralen zweiten Definitivartikel den „Föderalism freier Republiken“325 zum Prinzip des Völkerrechts und prädiziert jeder Form der Bündnisschaffung föderalen Charakter. Dieser Aspekt setzt sich in der gemeinschaftsrechtlichen Diskussion zunehmend durch326; der Föderalismusbegriff wird in diesem Verständnis zunehmend we-

320

Etwa Elazar, Exploring Federalism, 1987, S. 34 ff.; von Bogdandy, The European Union as a Supranational Federation: A conceptual attempt in the light of the Amsterdam Treaty, Columbia Journal of European Law, 6 (2000), S. 51/52; vgl. auch Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 2. 321 Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 108, identifiziert in bezug auf die Europäische Union die Begriffe „föderalistische Betrachtungsweise“ und „unvollkommener Bundesstaat“. 322 Dazu namentlich Leibholz, Repräsentation Sp. 2194 f. 323 So aber Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S.113 ff.; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, S. 81 ff., 101. 324 Madison/Hamilton, The Federalist, Ed. Jacob E. Cooke, Middletown 1961, S. 351. 325 Kant, EF, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden, VIII, 354. 326 Vgl. neuerdings Pernice, Föderalismusperspektiven, WHI-Paper 2001; Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02.

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niger für eine bestimmte integrationsfinale Ordnungsvorstellung verwendet327 und statt dessen unter Ausblendung historisch-semantischer Konnotationen zur Kennzeichnung von Mehrebenenordnungen verwendet. Bei Dann erscheint der Begriff „federal“ in synonymer Verwendung mit dem Begriff „multi level governance“328. Föderationen in diesem weiten Sinne zeichnen sich im Gegensatz zu staatsrechtlich(-zentralistischer) Identitätsbildung329 durch die kompetenzielle Balance zwischen Einheit (bezogen auf die die Volkssouveränität sich zur Geltung bringt) und der Koordination von Vielheit (bezogen auf die es um das Hervorbringen von integrierenden Rahmennormen geht) aus330. Insofern geht die Phänomenologie der supranationalen Rechtswirklichkeit auch auf dieser Ebene mit einer Vereinnahmung ehemals staatsrechtsexklusiver Begriffe einher. Dieses Föderalismusverständnis prägt sich in unterschiedlichen gemeinschaftsrechtsbezogenen Argumentationen aus, die den relativierenden Bedeutungsgehalt des Föderalismusprinzips indes nicht alle gleichermaßen zutreffend reflektieren. So wird zum Teil angenommen, daß die Repräsentationsbedingungen bereits durch eine dem supranationalen Verfassungszusammenhang angepaßte Modifikation des Begriffs der Volkssouveränität in ihren Voraussetzungen angemessen erfaßbar seien. Hieraus wird auch eine Relativierung des Bezugspunktes für Repräsentation in Mehrebenenverbänden entnommen331. Das Fehlen eines homogenen Souveräns sei föderationstypisch; die Einräumung genuiner Gesetzgebungskompetenz auf ein Gremium, das wie das Europäische Parlament diese Vielfalt (Heterogenität) repräsentiere, sei unproblematisch und im Grundsatz ebensowenig zu beanstanden wie die Übertragung von

327 Diese Bedeutung hat der Föderalismusbegriff bei Marcel Kaufmann, der mit dem „föderalistischen Paradigma“ der Europäischen Union eine bundesstaatliche Perspektive identifiziert, vgl. Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 113 ff. 328 Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU. Jean Monnet Working Paper No. 05/2002, http://www.jeanmonnetprogram.org/ papers/02/020501.pdf, S. 2: „multi layered structure of governance“; vgl. auch Zürn, The State in the Post-National Constellation – Societal Denationalization and MultiLevel-Governance, ARENA Working Papers WP 35/99, www.arena.uio.no. 329 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 62 f. 330 Zum Föderalismusprinzip nur Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998; Häberle, Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, in: Die Verwaltung 25 (1992), S. 1 ff.; verfassungsübergreifend auch Hertel, Formen des Föderalismus. Das Beispiel der USA, Deutschlands und Europas, in: Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 33; spezifisch auf die Europäischen Union bezogen Laufer/T. Fischer, Föderalismus als Strukturprinzip für die Europäische Union, 1996. 331 Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 124.

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Rechtsetzungsbefugnissen auf das Kollegialorgan Ministerrat332. Diese Argumentation erkennt zwar zutreffend die Gegenläufigkeit von Föderalismusprinzip und Identität als Konstruktionselementen eines Gemeinwesens, vernachlässigt jedoch, daß das Wesen der Repräsentation auch föderaler Systeme nicht in der Vergegenwärtigung von Heterogenität liegt, sondern in der pluralistischen Segmentierung von Teilidentitäten, in bezug auf die dann bereichsbezogene, jeweils aber auf die Teilidentität bezogene Repräsentationsmechanismen implementiert werden können. Ein Repräsentationssubstrat, daß hinsichtlich der für das Repräsentationsverhältnis entscheidenden Identitätsgesichtspunkte durch Heterogenität gekennzeichnet wäre, könnte in der Einheit eines Repräsentationsorgans nicht vergegenwärtigt werden, weil ihm die die Zusammenfassung rechtfertigende Gemeinsamkeit fehlte. Dem Wesen originärdemokratischer Repräsentation auf Unionsebene kann dementsprechend nicht die Annahme repräsentierter Vielheit zugrunde liegen – dieses seiner Herkunft nach intergouvernementale Ordnungsprinzip verwirklicht sich wesentlich im Rat, nicht im Parlament333 – sondern die Annahme einer sektoralen, relativen Teilidentität der Bürger Europas „als Europäer“, die vom Parlament gemeinschaftlich zu repräsentieren ist. Anhaltspunkte für ihr Vorliegen werden unten cc) diskutiert. Das Föderalismusprinzip rechtfertigt mithin Abstriche von einem zentralistischen Identitätssubstrat aus dem Gesichtspunkt zu integrierender Vielheit, vermag aber nicht unmittelbar die Anforderung einer repräsentationsfähigen Mindestidentität zu dispensieren.

(2) Explikation: Das bundesdeutsche Verfassungsrecht als Beispiel der Notwendigkeit einer Konkordanzbildung zwischen Volksbegriff und Föderalismusprinzip Die relativierende Bedeutung des Föderalismusprinzips gegenüber einem homogenitätsbezogenen und mit Exklusivitätsimplikationen verbundenen volksorientierten Verfassungsverständnis läßt sich beispielhaft veranschaulichen anhand der Konkordanzbeziehung von vorstaatlicher Homogenität und föderaler Herrschaftsstruktur, die dem bundesdeutschen Verfassungsrecht immanent ist – unabhängig davon, daß die herrschende deutsche Staatsrechtslehre diese Konkordanznotwendigkeit nicht zu sehen scheint, jedenfalls aber nicht thematisiert. Abgesehen davon, daß der Europäischen Union – anders als 332 Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Geck 1989, S. 646. 333 Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 3, folgert hieraus ein „semiparliamentary“ Modell der Willensbildung.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Bund und Ländern nach Maßgabe des Grundgesetzes334 – Rechtssubjektivität in ihrem gegenwärtigen Status nach wohl herrschender Ansicht nicht zukommt335, legt das Beispiel bundesdeutschen Staatsrechts die Annahme nahe, daß die repräsentative Ausprägung von Demokratie durch eine Überlagerung und Dynamisierung von Identitäten nicht ausgeschlossen, sondern in föderalen Kontexten geradezu bedingt wird. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Volksbegriff dokumentiert, daß ein Konzept vorstaatlicher Volksidentität als Repräsentationsbedingung schon in bezug auf die föderative Ordnung der Bundesrepublik mit Widersprüchen behaftet ist. Dies stellt zugleich die Übertragbarkeit jedenfalls solcher vorstaatlicher Identitätskonzeptionen als metastaatliche Strukturvoraussetzung zusätzlich in Frage, die mit Abgeschlossenheitsimplikationen behaftet sind. Föderale Mehrebenensysteme wie die Bundesrepublik werfen die Frage auf, welcher Ebene die authentische Hauptidentität bzw. ausschließlich repräsentierbare Identität zuzuordnen ist. Streng auf die Exklusivität homogener Identität bezogene Ansätze können diese Frage schon grundgesetzimmanent nicht zureichend beantworten. (aa) Art. 28 GG Die Konzeption des GG setzt in Art. 28 GG voraus, daß demokratische Legitimation nicht nur über den deutschen Bundestag und die durch ihn mittelbar demokratisch legitimierten Bundesorgane vermittelt wird, sondern auch durch die Länder als staatliche (Art. 28 Abs. 1 GG) und, mehr implizit als explizit durch die Normierung von Wahlrechtsgrundsätzen, die Kommunen als unterstaatliche Gebietskörperschaften (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG)336. Dem Grundgesetz läßt sich damit entnehmen, daß nicht nur die Ausübung von Hoheitsgewalt auf mehrere Ebenen verteilt ist, sondern auch die entsprechenden Inklusionsme334 Das bundesdeutsche Verfassungsrecht erkennt originäre Staatlichkeit – nach heute nahezu allgemeiner, den zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff zugrunde legender Ansicht – sowohl den Ländern als auch dem Bund zu, vgl. dazu Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 418 ff. 335

Str. Für eine Rechtspersönlichkeit der EU bereits de lege lata Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung, der Staat 2002, S. 359 ff.; ders., Die Organisationsstruktur der Europäischen Union, in: von Bogdandy/Ehlermann (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primärrechts nach Amsterdam, EuR Beiheft 02/1998, S. 151 ff.; von Bogdandy/Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 2 ff.; von Bogdandy, Die Europäische Union als einheitlicher Verband, in: ders./Ehlermann (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primärrechts nach Amsterdam, EuR Beiheft 02/1998, S. 165 ff.; Griller, Ein Staat ohne Volk, 1996, S. 5 ff. Dieses Unterscheidungsmerkmal wird nach Inkrafttreten des vom Verfassungskonvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs, der in Art I-6 der Union explizit Rechtspersönlichkeit zuspricht, bedeutungslos werden. 336

Dies allerdings klarstellend BVerfGE 83, 37, LS 5.

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chanismen auf den jeweiligen Ebenen als demokratieverwirklichende Repräsentationsinstitutionen aufzufassen sind. Dem Grundgesetz läßt sich kein Anhaltspunkt für eine Hierarchisierung der in Art. 20, 28 Abs. 1 und 28 Abs. 1 2 GG enthaltenen Artikulationen des Demokratieprinzips nach dem Grad der Unmittelbarkeit entnehmen, mit dem diese auf eine vorstaatliche Identität eines deutschen Staatsvolks bezogen ist; das Grundgesetz enthält auch keinen Hinweis auf Hierarchieverhältnisse der Legitimitätsvermittlung innerhalb des Demokratieprinzips danach, wie diese auf das Staatsvolk bezogen sind. In bezug auf ein angenommenes homogenes deutsches Staatsvolk, auf das alle Ebenen als einheitlicher Repräsentationsgegenstand bezogen sein könnten, sind die drei Ebenen jedoch durch ihre mehr oder weniger starke regionale Partikularisierung höchst unterschiedlich und deshalb rechtfertigungsbedürftig: Vollkommene einheitliche Repräsentation der vorstaatlichen Homogenität eines deutschen Staatsvolks ist nur auf Bundesebene leistbar. Der in der Kommentarliteratur zu findende allgemeine Hinweis, „Staatsvolk in Bund, Ländern und Gemeinden [müsse] das Gleiche sein“337, weicht dieser Frage aus. Während die demokratische Repräsentationsfähigkeit von Landesparlamenten noch mit der Vorstellung begründbar ist, daß sich in ihm bundesstaatlich differenzierte Staatsgewalt artikuliere, die letztlich gleichwohl auf ein einheitliches deutsches Staatsvolk rückführbar sei338, ist die Verpflichtung von unterstaatlichen juristischen Personen auf Demokratie ohne eine Relativierung der volksbezogenen Homogenitätsanforderung strikten Sinnes kaum erklärbar. Das Bundesverfassungsgericht war mit diesem Problemkomplex anläßlich verschiedener wahlrechtsbezogener Fragestellungen befaßt, ohne daß indes den Urteilen ein befriedigender Abgleich zwischen Föderalstrukturen und Homogenitätsvorstellungen zu entnehmen wäre339. In BVerfGE 83, 37 artikulierte es zunächst: „Auch soweit Art. 28 I S. 2 GG eine Vertretung des Volkes für Länder und Gemeinden vorschreibt, bilden ausschließlich Deutsche das Volk und wählen dessen Vertretung“340. Gegen eine implizierte Festlegung auf einen bestimmten status quo vorstaatlicher Identitätsbedingungen betonte das Bundesverfassungsgericht jedoch im gleichen Urteil andererseits die Disponibilität des Identitätskriteriums für den einfachen Gesetzgeber: „Das Staatsangehörigkeitsrecht ist daher auch der Ort, an dem der Gesetzgeber Veränderungen in der Zusammensetzung der Einwoh337

Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, 9. Aufl., Art. 28 GG, Rdnr. 6.

338

So Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus in Deutschland, HdBStR Band VI, § 98, S. 550. 339 Kritisch auch Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, FS Everling 1995, S. 1651 ff. unter Verweis auf BVerfGE 83, 37 und 83, 60: Erstaunlich sei die Art, wie diese Terminologie vom Bundesverfassungsgericht angenommen wurde. 340

LS 5, S. 37.

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nerschaft der Bundesrepublik Deutschland im Blick auf die Ausübung politischer Rechte Rechnung tragen kann“341. Anläßlich einer Stadtteilwahl in Hamburg, die in Ermangelung kommunaler Strukturen im Stadtstaat Hamburg jedoch direkt am Demokratieprinzip des Art. 20 GG zu messen war, entschied das Gericht demgegenüber: „Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, können demokratische Legitimation nicht vermitteln“342. Noch dezidierter heißt es im gleichen Urteil: „Das demokratische Prinzip läßt es nicht beliebig zu, anstelle des Gesamtstaatsvolkes jeweils einer durch örtlichen Bezug verbundenen […] kleineren Einheit von Staatsbürgern Legitimationskraft zuzuerkennen“343. Die Quintessenz dieser unterschiedlichen Aussagen ist demnach primär auf die Betonung von identitätsbezogenen Unverfügbarkeiten trotz föderaler Gewaltverteilung gerichtet: Auch angesichts einer Mehrebenenkonzeption bedarf es des Rückbezugs auf eine gewissermaßen vom Gravitationszentrum der Bundesidentität her bestimmten Gesamthomogenität der Herrschaftsausübung. Modifikationen über das Staatsangehörigkeitsrecht sind zulässig, beeinflussen aber mittelbar die Identitätsanforderungen an alle staatliche wie unterstaatliche Willensbildung. Welche Grenzen der vom Bundesverfassungsgericht ausgeschlossenen „Beliebigkeit“ in der Errichtung kleinerer Legitimationseinheiten damit gezogen sind, wird allerdings nicht näher spezifiziert. Im Gegenteil: Der einzig feststehende Unverfügbarkeitsgehalt, bestehend in der Rückführbarkeit des Willensbildungsprozesses jeweils auf Deutsche, ist zu der Frage der föderalen Aufteilbarkeit von Herrschaftsebenen innerhalb der homogenen Gruppe deutscher Staatsbürger gänzlich indifferent. Wenn es dem Konzept vorstaatlicher Homogenität genügt, Untergliederungen innerhalb des deutschen Staatsvolks als repräsentierte Homogenität ausreichen zu lassen, nur weil diese Gruppen sich aus deutschen Staatsangehörigen zusammensetzen, insinuiert dies gerade die vom Bundesverfassungsgericht in Abrede gestellte Beliebigkeit. Dieser Zirkularität ist nur dadurch zu entgehen, daß dem grundgesetzlichen Föderalismusprinzip eine weitergehende Relativierungsaussage auch gegenüber einem mit dem Demokratieprinzip angeblich verbundenen bestimmten Volkskonzept entnommen wird. (bb) Art. 23 GG Den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts stehen seine ihrerseits je unterschiedlichen Stellungnahmen aus dem Maastricht-Urteil hinsichtlich der demokratiebezogenen Identitätsanforderungen im supranationalen Verbund 341

BVerfGE 83, 37, 52.

342

BVerfGE 83, 60, 81.

343

BVerfGE 83, 60, LS 3.

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gegenüber. Auf einer imaginären Skala, in deren Mittelpunkt die Bundesebene und mit ihr das Vollbild vorstaatlicher Identität loziert ist, liegt dieser Problemkomplex auf der entgegengesetzten Seite von Art. 28 GG: Mit ihm kehrt die unterstaatliche Identitätsfrage für den suprastaatlichen Kontext wieder, so daß man – mit dem Bund als Spiegelebene – Art. 23 GG als Spiegelbild des Art. 28 Abs. 1 GG bezeichnen kann. Einerseits artikuliert das Gericht in dezidierter Offenheit gegenüber der Stärkung originär europäischer Repräsentationsformen: „Hinzu tritt – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die vermittelte demokratische Legitimation durch das […] Europäische Parlament“344. Ansatzpunkte dafür, worauf eine solche Repräsentation gestützt sein könne, erblickt das Gericht in der Unionsbürgerschaft. Diese zeige ein „bestehendes Maß an existentieller Gemeinsamkeit“, die allerdings „nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt“345. Die hier artikulierte, auch repräsentationstheoretische Integrationsoffenheit ist mit den anhand des Kommunalwahlrechts entwickelten Exklusivitätsprämissen kaum in Übereinstimmung zu bringen. Die neue Ebene der europäischen Parlamentarisierung verläßt den nationalen Selbstbezug der deutschen Identität zugunsten eines neuen Organisationszusammenhangs, den das Gericht nicht näher bestimmt. Offen bleibt auch, weshalb das Gericht den Terminus „mittelbarer demokratischer Legitimation“ auf das EP anwendet. In der Konstruktionslogik des verfassungsgerichtlichen Volksbegriffs strikten Sinnes wäre die vom EP vermittelte Legitimation weder eine mittelbare noch auch nur überhaupt demokratisch, die Thematisierung des EP unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips schlechthin gegenstandslos. Konsequent wäre hier eigentlich nur die Marginalisierung als bloße sui-generis-Legitimation ohne sachhaltigen Bezug zu den Staatsrechtskategorien. J. H. H. Weiler hebt zu Recht hervor, daß im perspektivischen Fluchtpunkt einer Kombination der beiden legitimatorischen Prämissen „Kein-Demos-These“ und DemosBedürftigkeit des Demokratieprinzips für das Organverständnis des EP nur bliebe, ein solches „Parlament ohne Demos [für] konzeptionell unmöglich und in der Praxis despotisch“346 zu erklären. Gegenüber dieser konstruktionslogischen Falle bietet eine auf dem Föderalismusprinzip beruhende Relativierung der Exklusivitätsimplikation des Volksbegriffs einen kategorial wie dogmatisch überzeugenden Ausweg. Einer vertieften Auseinandersetzung mit diesen im344

BVerfGE 89, 155, 155 Leitsatz 3.

345

BVerfGE 89, 155, 184.

346

The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff.; vgl. auch ders., ebd., zu den Konsequenzen einer solchen Auffassung: „dann hat die Verfügung eines solchen Parlaments nur geringfügig mehr Legitimität als die Verfügung eines Alleinherrschers“.

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manenten Widersprüchen bedarf es an dieser Stelle indes nicht. Die vorliegende Untersuchung hat das hier vorgeschlagene Ordnungskonzept bereits in Kapitel 3 auch in seinen Abweichungen zu herkömmlichen Vorstellungen expliziert; es genügt deshalb hier festzustellen, daß einerseits dem Grundgesetz keine expliziten Restriktionen gegenüber der Vorstellung konkurrierender Parallelidentitäten zum deutschen Volksbegriff zu entnehmen sind, und andererseits die Homogenitätsvorstellungen der Verfassungsrechtsprechung nicht erkennen lassen, weshalb sie die Annahme einer europäischen Teilidentität schon begrifflich versagen.

(3) Resultat Ein aus dem Volksbegriff folgendes monistisches Konzept, das abseits des Volks keine substantielle Demokratie für verwirklichungsfähig hält, findet keine überzeugenden rechtsphilosophischen Gründe, stellt aber insbesondere keine kategorialen Hinderungsgründe für eine ohnehin am Repräsentationsprinzip als solchem orientierte Legitimationstheorie dar. Das statt dessen zugrunde gelegte offene Identitätskonzept setzt einen Identitätsmittelpunkt (das Staatsvolk) voraus, um den sich nach oben wie nach unten (also staatsintern wie supranational) ergänzende, komplementäre föderale Repräsentationsmechanismen innerhalb eines Mehrebenensystems in einem gestuften Identitätssystem gliedern. Hierbei ist die bundesdeutsche Länderebene durch ihre Staatlichkeit dem Identitätsbegriff bundesdeutscher Staatsidentität am nächsten, während kommunale und supranationale Ebene ergänzende Qualität haben. Das identitätsbezogene Gravitationszentrum des Staates erweist sich durch bestimmte Unverfügbarkeiten, die dem Prinzip der Komplementärverfassung bzw. den staatsverfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG immanent sind, gegen Aushöhlung geschützt. Art. 28 und 23 sind Spiegelbild eines verfassungsrechtlichen pluralistischen Föderalismuskonzepts, das sich auch außerhalb der Staatsverfassung selbst realisiert. cc) Kern der Anforderung des Repräsentationsprinzips: Gemeinschaftsidentität statt Volk

(1) Die Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs als Typusbegriff Mit der Argumentation deutet sich eine Verschiebung des Bedeutungsgewichts vom Volksbegriff zum – allgemeineren – Identitätskriterium an: Nicht der staatsbezogene Begriff des Volkes bleibt als metastaatliche Kategorieanforderung für ein außerstaatlich institutionalisiertes Repräsentationsprinzip erhalten, wohl aber die Notwendigkeit einer gemeinsamen Identität der Reprä-

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sentierten. Auch diese reduzierte Identitätsfragestellung bleibt in ihrer rechtskategorialen Erfaßbarkeit sperrig. Sie umschließt noch immer etwa Fragen faktischer Akzeptanz und subjektiven Nachvollzugs des von den objektiven Identitätsbedingungen vorgegebenen Loyalitätsverhältnisses347, die weder im einzelnen noch auch nur im Überblick einer stringenten Lösung zugeführt werden können. Ohnehin ist die Identitätsproblematik schon deshalb im Kontext einer rechtswissenschaftlichen Untersuchung nur unvollkommen aufzubereiten, weil es sich auch bei ihm – nicht anders als beim Volksbegriff selbst – um einen Grenzbegriff zwischen vorrechtlichen Bedingungen und rechtlicher Kategorienverwirklichung handelt. Insofern ist eine Perspektivenbeschränkung auf den Diskussionsausschnitt geboten, ob die europäische Identität unter Repräsentationsgesichtspunkten hinreichend ausgeprägt ist, oder anders gesagt: ob die der europäischen Integration zugrunde liegenden, identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten ein Maß an Kohärenz bewirken, das das Auffassen der Bürger der Mitgliedstaaten auch als Teil einer europäischen Gesellschaft zuläßt. Die Annäherung an eine Beantwortung der Frage nach hinreichender repräsentierbarer Gemeinschaftsidentität der vereinigten europäischen Völker kann – gerade wegen der Kontextabhängigkeit, Relativität und Ausfüllungsbedürftigkeit des Identitätskriteriums im dargestellten Sinne – nicht den Charakter einer abschließenden Antwort tragen. Auch innerhalb dieser reduzierten Thematik muß sich die vorliegende Untersuchung damit begnügen Ansätze aufzuzeigen, auf deren Grundlage die Repräsentation genuin europäischer Teilidentität durch supranationale Organe möglich wird. Gegenüber der naheliegenden Kritik zu starker Vagheit einer solchen Umsetzung der zuvor entwickelten Kriterien ist indes zu bedenken zu geben, daß auch der Volksbegriff selbst, dessen kategoriale Grundlagenbedeutung im Staatsrecht weitaus größer ist als die Identitätsbedingung für den supranationalen Verbund Europas, sich definitorischen Annäherungen in ähnlicher Weise verschließt und deshalb ebenso nur eine typologische Betrachtung zuläßt. Dieser Umstand disqualifiziert den Typusbegriff aber nicht als Rechtsbegriff348.

(2) Notwendige Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs Was ist demnach mit dieser Akzentverschiebung vom Volkserfordernis zum Identitätskriterium gewonnen? Die inhaltlichen Anforderungen für die Identitätsfindung der Europäischen Union sind aus der kategorialen Abhängigkeit befreit, mit den für Staaten notwendigen Identitätsbedingungen gleichlautend 347

Dazu ausführlich m.w.N. Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., 1685. 348

Vgl. dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1983, S. 106, 108.

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sein zu müssen349. Homogenität, Identität und repräsentierbare Einheit sind Begriffe, die einer quantitativen Differenzierung zugänglich sind. Identitäten haben keinen totalen Ausschließlichkeitsgehalt. Das Identitätskriterium ist gewissermaßen der Oberbegriff einer gleitenden Skala von Gemeinsamkeitsinbegriffen, deren intensivste Verdichtung die den Staat konstituierende Volksidentität verkörpert. Ihm ist damit immer noch eine Abgrenzungsdimension eigentümlich, die sie im Verhältnis zum Nichtidentischen unterscheidet, und diese Funktion ist ein notwendiges Element von Identitätsbildung. Deutlich wird dies im positivrechtlichen Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts, das regelmäßig Überschneidungen zu anderen Staatszugehörigkeiten nicht oder nur als Ausnahme zuläßt. Gleichwohl ist die Identität notwendig in ihrem Bezugspunkt begrenzt. Sie steht damit in einer begriffsnotwendigen Interferenz zu anderen Identitätsbezugspunkten. Mayer spricht deshalb von der „Multiplizität“ des Identitätskriteriums350. Daran wird deutlich, daß es zwar identitätsbezogene Ausschließlichkeiten gibt, bezogen auf die die Synthese von Teilidentitäten ausgeschlossen ist (kontradiktorische Identitäten), der Normalfall des Identitätswesens aber in der Möglichkeit der Interferenz zu anderen Identitätsdimensionen liegt. Die Identität als Staatsbürger, die eine staatskonstituierende Einheit der sich im Staat verbindenden Individualsubjekte bewirkt, begründet nur eine Identitätsdimension. In ihrem Wesen liegt, durch die verschiedensten lebensweltlichen, gesellschaftlichen und rollenbezogenen Merkmale ergänzt zu werden. Die Herausprägung von europäischer Bürgeridentität geht deshalb einerseits nicht mit konstruktionslogischer Notwendigkeit zu Lasten der staatsbürgerlichen Identität. Andererseits muß die europäische Identität nicht notwendigerweise in ihrer Intensität der von der Staatszugehörigkeit ausgehenden identitätsprägenden Bedeutung äquivalent sein, um Repräsentation auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Die Verlagerung vom Volksbezug des Repräsentationsprinzips zur bloßen Angewiesenheit auf eine repräsentierbare Identität schwächt das vom Volksbegriff postulierte Anforderungsniveau an Identitätsbedingungen ab und bezieht diese auf den Kontext, in dem repräsentative Regelsetzung stattfinden soll. In solcher Kontextabhängigkeit des Identitätskriteriums folgt dieses als Relationsbegriff dem jeweiligen Regelungskontext nach, in dem das Repräsentationsprinzip als konstruktive Anforderung an den regelhervorbringenden Willensbildungsmechanismus seine normative Forderung verwirklicht. Substantieller Gehalt der Repräsentation war nach dem oben351 Gesagten die Vergegenwärti349

Griller, Ein Staat ohne Volk, 1996, S. 11.

350

Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 591 f. 351

Kap. 2, III. 2.

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gung auch des nicht aktuell Gegenwärtigen und die Schaffung von Allgemeinheit durch einen Prozeß der Selbstdistanzierung352, welcher aus einer von Wechselseitigkeit geprägten Absehung von den materialen individuellen Bestimmungsgründen der Bürger resultiert. Die argumentative Verortung des Repräsentationsprinzips im Kontext der allgemeinen Legitimitätsbegründung von Rechtsunterworfenheit setzt die Schaffung von Partizipationsstrukturen eben dort voraus, wo Herrschaft und Rechtsunterworfenheit einander gegenübertreten und diese Antinomie folglich der Auflösung in Form einer Autorisierung der einen Ebene durch die andere bedarf. So verstandene Selbstbestimmung bezieht sich damit auf die Grundlage einer vorausgesetzten und zugleich im Prozeß der Selbstbestimmung erst konstituierten Einheit und kann deshalb nicht auf jede heterogene Vielheit bezogen sein. Als praktisches Beispiel für mangelnde Kohärenzkraft einer äußerlich oktroyierten und die besonderen sozial-empirischen Bedingungen der Gemeinschaftsbildung außer acht lassenden Rechtsordnung mögen die kollabierten Balkanstaaten dienen. Auch die repräsentationstheoretische Identitätsbedingung transportiert daher in abgeschwächter Form den rechtskategorialen Gehalt der unter dem Volksbegriff sich artikulierenden Homogenitätsanforderung. Als strukturelles Zugeständnis an die Identitätsüberlagerung in Mehrebenensystemen fordert diese jedoch keine Homogenität im staatsrechtlich geschlossenen Verständnis. Vielmehr ist die Intensität der Identitätsanforderung akzessorisch zu dem Ausmaß an Kohärenz und innerer Geschlossenheit des Verbandes, innerhalb dessen die Rechtsnormproduktion erfolgt, deren repräsentative Ausgestaltung in Frage steht. Gefordert ist ein Entsprechungsverhältnis von Rechtsformbedeutung und Identitätsanforderung: Dasjenige, was repräsentiert wird, muß mit dem Regelungsgesichtspunkt zusammenfallen, auf den bezogen Normativität produziert wird. Für die Repräsentierbarkeit genügt das Vorhandensein einer Teilidentität, aus der heraus der Anspruch nach einer gemeinsamen Rechtsetzung abgeleitet wird. Identität als von Multiplizität geprägte Gruppenzugehörigkeit definiert sich so als Loyalitätsverhältnis, das von anderen Loyalitäten überlagert werden kann. Wenn man dies zugrunde legt, ist die Bildung rechtlich verfaßter Gemeinschaften mit repräsentativen Willensbildungsmechanismen auch auf der Grundlage von Identitätsbedingungen möglich, die jenseits von ethnisch-kulturellen Aspekten, aber auch jenseits der kantischen Volksessentialien von Sprache und Religion angesiedelt sind. Die so konstituierte Gemeinschaft kann insbesondere als Vereinigung unter einem identitätsstiftenden Wertebestand aufgefaßt werden; J. H. H. Weiler sieht so die Europäische Union als „commitment to the 352

Dazu insbesondere M. Köhler, Rechtsphilosophie (demn.).

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

shared values of the Union as expressed in its constituent documents“353. Ob ihm auch darin zuzustimmen ist, auf dieser Grundlage ein europäisches Volk für existent zu erachten und sogar die gleichzeitige Zugehörigkeit zu unterschiedlichen demoi für konstruktionslogisch möglich zu erachten, braucht in diesem Rahmen nicht entschieden zu werden, da die Existenz eines europäischen Volkes für die Frage nach originär europäischer Bürgerrepräsentierbarkeit auf der Grundlage der Identitätserwägungen keine konstitutive Voraussetzung ist: Wirklich erforderlich wäre eine solche Klärung nur dann, wenn eine Staatswerdung der Europäischen Union zur Diskussion stünde und damit die Frage einer möglichen Konkurrenz von europäischem und mitgliedstaatlichen Völkern entscheidungsbedürftig wäre. Immerhin erscheint jedoch fraglich, ob die damit von Weiler vorgenommene Reduktion des Volksbegriffs auf den Identitätsbegriff nicht einerseits mit einer europaoptimistischen Unterbestimmung des Wesens von Staatlichkeit einhergeht und andererseits mit dem Gedankenexperiment vom Volk im Volk eine Theorie eröffnet, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung findet und deshalb auf eine bloße Fiktion hinausläuft.

(3) Aspekte des Identitätsbegriffs: These der Kongruenz von Regelungsregime und Repräsentationsintensität Identität ist einerseits positiv die Beziehung einer Besonderheit auf sich selbst354, andererseits negativ die spezifische Differenz zu nichtidentischen Besonderheiten. Innen- und Außenbezug von Identität stehen in wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis voneinander355. Kollektive Identität definiert sich als Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich ihrerseits aus Einzelidentitäten konstituiert, indem diese durch ein spezifisches Gemeinsames von nicht gruppenzugehörigen Subjekten unterschieden sind und hieraus eine kohärenzstiftende Verbundenheit ableiten. Schon aus dieser begrifflichen Grundlegung folgt, daß die im Identitätskriterium liegende „negative“ Abgrenzungsdimension ein bloß relatives Exklusivitätskriterium statuiert. Das Vollbild der Identität als Eins-Sein mit sich selbst erkauft diese Vollkommenheit mit einer Nähe zur Trivialität; die für die Rechtsfrage nach den Bedingungen für Kollektividentitäten im Vordergrund stehende Frage hinreichender Gemeinsamkeit macht Gemeinsamkeit begriffsnotwendig zu einem relationalen Begriff, der aus der Feststellung des Überwiegens von Übereinstimmung gegenüber konkurrierender 353

Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, Festschrift Everling 1995, S. 1651 ff., 1685. 354

Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 155.

355

Augustin (Fn. 354), S. 156.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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Unterschiedlichkeit nach Maßgabe eines bestimmten Wertungskriteriums sich ergibt.

(4) Ansätze für ein Vorhandensein einer europäischen Identität Es mag auf den ersten Blick leichtfallen, die Repräsentationsvoraussetzung eines gemeinsam zu Repräsentierenden mit Blick auf die Europäische Idee und das hohe Maß an kultureller Konvergenz und wechselseitiger Wertschätzung der mitgliedstaatlichen Völker untereinander zu bejahen. Unbestreitbar ist, daß seit den Anfängen europäischer Integration in den fünfziger Jahren die Ausprägung einer europäischen Identität sich in starker Abhängigkeit von der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen entwickelt hat. Binnenmarktfreiheiten, Grenzabbau, Harmonisierungen, die beginnende Währungsunion, ein gemeinsames Außengrenzregime356 und zumindest Ansätze EU-einheitlichen Handelns in der Außenpolitik haben dazu beigetragen, daß sich im Bewußtsein der europäischen Bürger der europäische Raum des Rechts zusehends als in seinen Divergenzen nivelliert darstellt. Dieser Befund wird durch die zunehmend auf eine allgemeine politische Integration der EU hin abzielenden Vertragsrevisionen der 90er Jahre – exemplarisch dafür mag Art. 17 EG stehen – verstärkt und intensiviert. Rechtliche Integration und kulturelle Annährung zu einer Identität stehen nicht im monokausalen Verhältnis von Voraussetzung und Folge, sondern in einem Interdependenzverhältnis wechselseitiger Impulslieferung und Förderung. Der funktionale Integrationsansatz einer durch wirtschaftliche Integration promovierten politischen Integration ist gleichzeitig nicht ausschließlich auf die faktenschaffende Kraft dieses Prozesses selbst angewiesen, sondern findet ein erhebliches Maß an vorrechtlichen Gemeinsamkeiten vor. Die Idee Europas als solche wurzelt in der Antike; die historische Selbstrezeption Europas war stets auch vom Bewußtsein bestimmter Gemeinsamkeit bzw. einer Schicksalsverbundenheit des europäischen Kontinents getragen357. Die gemeinsame ideengeschichtliche Tradition eines den Menschen als selbstzweckhaft in den Mittelpunkt stellenden und das Recht hierauf konstruktiv beziehenden

356 Vgl. zum Zusammenhang der Schengener Abkommen mit dem im Rahmen der ZBJI harmonisierten Außengrenzregime vgl. nur Schweitzer/Hummer, Rdnr. 1878 ff. 357 Problematisch allerdings die hieran anknüpfenden Wertungen von Kirchhof, HdBStR Band VII, Rdnr. 25; Isensee, Nachwort. Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, S. 103; ders., Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: Schwab/Giesen/Listl/Strätz (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, FS Mikat, 1989, S. 705, 708. Kritisch gegen solche „Mystifikationen“ Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 632, 633.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Normativitätsverständnisses findet im Integrationsprozeß selbst und den in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Grundwerten seinen Niederschlag. Das kulturelle Erbe wird – trotz einer möglicherweise mangelnden exklusiven Determiniertheit in dieser Hinsicht358 – auch affirmiert durch eine gemeinsame religiöse Tradition. Wie sehr die Europäische Union vom Bewußtsein einer bereits vorhandenen eigenen Identität getragen wird, zeigt sich vor allem an denjenigen Fällen hypothetischer Beitrittskandidaten, bei denen nationale und europäische Identität im Widerstreit erscheinen und daher über den Konfliktfall die Identitätsvoraussetzungen des supranationalen Verbundes deutlich zutage treten359. Deshalb läßt sich sagen, daß die Europäische Union auf eine kulturelle und zivilisatorische Homogenitätskomponente durchaus zurückgreifen kann. Verbindende Momente sind die gemeinsame christlich-abendländische Tradition, Verwurzelung im Geist von Aufklärung und Rationalismus, plurale Gesellschaftskonzeption, Bekenntnis zu einem Standard von unveräußerlichen Menschenrechten etc. Gegenläufig in einer notwendigerweise gänzlich kursorischen Behandlung steht diesem Identitätsbefund die fehlende mit einem Vielsprachenregime einhergehende strukturelle Inhomogenität als schwerwiegender Negativfaktor, der auch die Ausprägung einer einheitlichen politischen Öffentlichkeit weithin verhindert360. Hinzu kommen die mit den einzelnen nationalstaatlichen Teilidentitäten einhergehenden Exklusivitätsimplikationen in einzelnen Hinsichten. Ob bei einer Abwägung dieser Gegenläufigkeit die vorhandenen Ansatzpunkte für die Repräsentierbarkeit der im Parlament vereinigten Völker Europas in ihrer Eigenschaft als europäische Bürger hinreichen, ist keiner exakten Bestimmbarkeit zugänglich. Aufschlußreich ist jedoch, daß auch die stark am Volksbegriff orientierten Ansätze die ergänzende Legitimationsfunktion des EP – trotz des Unvermögens, diese qualitativ näher zu bestimmen – ganz überwiegend anerkennen. So sieht etwa Marcel Kaufmann, der in seiner Demokratieanalyse der Europäischen Union dem Volkskriterium einen substantiellen Stellenwert einräumt, über die „Teilmenge der Unionsbürger“ eine personelle (demokratische) Legitimation eigener Art vermittelt, die durch die Abgeordneten

358

Thym, Die verfassungsgebende Gewalt in demokratischen Gesellschaften: Homogenität als Voraussetzung oder Ziel, Volksbegriff, Staat und „Civil Society“, WHIPaper 1/97. 359

Vgl. Hermann, Rainer, Nationale oder europäische Identität? Die Diskussion über Europa und die eigenen Werte teilt die Türkei in zwei Lager, in: F.A.Z. vom 18. März 2002, S. 12. 360 Diskurstheoretisch motivierte Kritik insbesondere von Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 585, 588; ausführlich hierzu m.w.N. auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 539 ff.

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des EP verkörpert werde361. Dies legt – ungeachtet der genannten Verortungsschwächen dieser Positionen – zumindest den Befund nahe, daß auch diese Position hinreichende Ansätze für einen genuin europäischen Identitätskontext impliziert oder voraussetzt. Diese Vermutung reicht zu einer schlüssigen Affirmation europäischer Identität isoliert nicht hin, plausibilisiert aber die Annäherung an einen als Rechtsbegriff letztlich kaum determinierbares Kriterium. Die vorliegende Untersuchung begnügt sich mit dem Ansatz, als ein allgemeines Näherungskriterium für das Maß repräsentationstheoretisch vorauszusetzender vorrechtlicher Identität ein Korrespondenzverhältnis zwischen supranational beanspruchter Regelungsmacht und korrespondierender Repräsentationsidentität zu postulieren. Die erreichte Homogenität der unter dem Aspekt ihrer europäischen Gemeinschaftlichkeit adressierten Rechtssubjekte muß demnach spiegelbildlich dem Ausmaß erreichter normativer Verdichtung auf supranationaler Ebene und damit dem entsprechen, was gegenüber den Rechtsadressaten an Verbindlichkeit gerade aus spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung folgt. Die spezifische Repräsentationsanforderung, vor die sich das EP daher gestellt sieht, liegt darin, daß es eine vorfindliche Vielheit zu homogenisieren und deren einheitsprägende Elemente zur Geltung zu bringen hat. Anders als bei nationalen Parlamenten steht deshalb seine Repräsentationsaufgabe schon strukturell einer starken zentripetalen Gegenläufigkeit der durch die Mitgliedstaaten geprägten Rechtswirklichkeit gegenüber. In die Betrachtung des Ausmaßes supranational beanspruchter Regelsetzungsmacht als Kriterium für die zu fordernde Identität muß die konkrete Kompetenzstruktur mit ihren wesentlichen Grundprinzipien mit einbezogen werden. Im einzelnen ist dieser Betrachtungsgegenstand im folgenden fünften Kapitel zu thematisieren; an dieser Stelle genügt es, auf ein notwendigkes Wechselverhältnisses zwischen Umfang der Regelsetzungsmacht und Umfang der identitätsvermittelten Kohärenz dieser Ebene als Rechtsgemeinschaft hinzuweisen. Beachtet man, daß die Europäische Union ihrem Verfaßtheitsstatus nach nicht beansprucht, die primäre identitätsprägende Kraft der Mitgliedstaaten zu verdrängen, sondern ihr ein subsidiäres Moment der Unterstützung in bestimmten Aspekten von dominierendem Gemeinschaftsbezug zuteil werden zu lassen, so indiziert dies die Verzichtbarkeit von Identitätsintensitäten, die die Harmonisierung von substantiell die nationale Identität mitbeanspruchenden Regelungsgehalten erforderlich machte. Diese Kongruenz von Regelungsmacht und Ableitung legitimierender Kraft aus der repräsentierten Identität entspricht dem Wesen der Rechtsgemeinschaft und der in ihr zu leistenden Auflösung der dem Recht immanenten Heteronomie-Paradoxie. Für die Erfüllung eines so 361

Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 485.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

verstandenen, nicht nur relativen, sondern auch dynamischen – an der Regelsetzungsintensität des jeweiligen Integrationsstadiums orientierten – Identitätsanforderung de lege lata sprechen trotz der verbleibenden Vagheit des Kriteriums einige nicht von der Hand zu weisende Gründe: Die Europäische Union beansprucht kein Rechtsregime, das die mit der polylingualen Struktur verknüpfte, prioritäre nationale Identität aufheben, überformen oder dominieren würde. Ihre nach wie vor auf Einzelermächtigungen beruhenden Regelsetzungskompetenzen korrespondieren einer Wahrnehmung, daß der europäische Rechtsraum auch seinen faktischen Voraussetzungen nach nur in bestimmten Einzelbereichen relativ einheitlich ausgeprägt ist. Die Vergemeinschaftung souveränitätssensiblerer Bereiche erfolgt nur schrittweise und regelmäßig im Anschluß an eine längerfristige öffentliche Diskussion innerhalb der Mitgliedstaaten. Die Rechtsausübung der europäischen Ebene ist nicht verselbständigt, sondern anhand verschiedener Restriktionskriterien gegen ein Ausufern imprägniert. Legt man diese Kriterien zugrunde, so erscheint auf ihrer Grundlage der durch die gemeineuropäische Identität vermittelten Kohärenz die Schaffung einer gemeinsamen, genuin europäischen Repräsentationsebene für die Bürger Europas in Form des EP möglich. Der europäische Bürgerstatus korrespondiert einem zunehmenden, auch empirisch nachweisbaren europäischen Identitätsmoment der Bürger Europas362.

c) Organinterne Voraussetzungen: Gesamtrepräsentation und Abbildung der europäischen öffentlichen Meinung durch das Europäische Parlament Läßt sich als Zwischenergebnis dieser Analyse festhalten, daß die externe Repräsentationsbedingung – die vom EP zu repräsentierende genuin europäische Identität der Bürger Europas – vorliegt, so bleibt die Frage, ob die internen, organspezifischen Voraussetzungen des EP dieses auch in die Lage versetzen, die zuerkannte Repräsentationsaufgabe konstruktiv umzusetzen. Namentlich stellen sich hier zwei Fragen. Einerseits bedarf der Problematisierung, wie die fortbestehende Heterogenität der Zusammensetzung der Abgeordnetenkontingente aus jeweiligen mitgliedstaatlichen Einzelwahlen mit einem parlamentarismustypischen Konzept der Gesamtrepräsentation in Übereinstimmung zu bringen ist. Andererseits ist eine Divergenz festzustellen zwischen der öffentlichen europäischen Meinungsbildung in der Gesellschaft und

362

Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 160 f.

IV. Kompensatorische Funktion des Europäischen Parlaments

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den vom Parlament vertretenen Positionen, die teilweise ebenfalls unter dem Aspekt einer repräsentationstheoretischen Paradoxie betrachtet wird363. Dieser letztgenannte Einwand ist auf der Grundlage des vorliegend implizierten Repräsentationsverständnisses noch relativ leicht zu entkräften: Er stellt nur dann ein grundlegendes Problem dar, wenn man das Wesen der Repräsentation im Vermögen der Parlamente verankert sieht, als „Stimmrohr der öffentlichen Meinung“ zu fungieren. Diese fehlende Abbildungsleistung in concreto entbehrt aber nicht der kategorialen Kontingenz, wenn man berücksichtigt, daß Repräsentation als Konstruktionshypothese zur Konstitution eines Allgemeinwillens in spezifischer Abstraktion von der konkret-empirischen Meinungssituation in der Gesellschaft fungiert. Auf diesen Aspekt bezogen, liegt es im Wesen repräsentativer Gremien, daß ihre Willensbildung, die von der je persönlichen Auffassung der im Gremium versammelten Delegierten, von der empirischen Stimmungslage der Repräsentierten abweicht. Dies ist nicht allein ein Problem in bezug auf den Grad der in der öffentlichen Meinung festzustellenden Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses, sondern stellt sich bezogen auf nahezu jedes Thema öffentlichen Interesses. Das Vorliegen oder Fehlen einer Koinzidenz von öffentlicher Meinung und herrschender Gremienauffassung besagt als solches recht wenig über die repräsentative Qualität des Gremiums, sofern man dem hier zugrunde gelegten Repräsentationsbegriff folgt, der die Vergegenwärtigungsleistung wesentlich an der formalen Qualität der Repräsentierten als Rechtssubjekte festmacht. Folgt man dem nicht, wäre allerdings die fehlende imperative Ausgestaltung des Mandats innerhalb einer solchen Repräsentationskonzeption ebenso schwer zu begründen, wie die dem deutschen Grundgesetz zugrunde liegende und auch in der belgischen Verfassung explizit artikulierte Gedanke einer Gesamtrepräsentation, die den einzelnen Abgeordneten – in damit notwendig vorausgesetzter recht weitreichender Ablösung von empirischen Meinungskongruenzen – als Repräsentanten des ganzen Volkes einschließlich der gegenüber seiner Wahl dezidiert dissentierenden Repräsentationssubjekte auffaßt. Mit anderen Worten: Die fehlende Meinungsrepräsentativität in actu ist dem Begriff der Repräsentation durchaus wesensinhärent, sofern man keiner Empirisierung des Repräsentationsbegriffs verfallen will364.

363 So Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU. Jean Monnet Working Paper No. 05/2002, S. 41. 364 Paradigmatisch wegweisend für ein eher empirisches Repräsentationsverständnis auf der Grundlage der Akzentuierung des Kriteriums der Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern: Gerhard Löwenberg/Samuel C. Patterson, Comparing Legislatures, 1979, S.44-51; Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 379.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Grundlegendere Bedeutung ist mit dem modus constituendi des EP im Hinblick auf ein dem EP zugesprochenes gesamtrepräsentatives Mandat den Bürgern Europas gegenüber verbunden. Bereits im Zusammenhang mit den Spezifika der Staatenrepräsentation im Organ des Rates wurde auf die dem Parlamentarismus zugrunde liegende Konzeption der Gesamtrepräsentation Bezug genommen. Das Europäische Parlament ist in der Tat kein nationalstaatlichen Parlamenten gleichbedeutendes Repräsentativorgan365. In ihm sind nicht die Individuen eines europäischen Volkes als Verfassungskonstituenten repräsentiert, sondern gem. Art. 138 EG die Völker der die Europäische Union begründenden Staaten366. Die Vorfindlichkeit von divergenter Vielheit in Form der vereinigten europäischen Völker erschwert es für das EP als Repräsentationsgremium, die einheitsprägenden Merkmale als dominant auszuprägen und gegen ein Abgleiten des Willensbildungsprozesses in die Partikularisierung von Interessen zu immunisieren367. Denn im Unterschied zu dem Parteienproblem innerstaatlicher Willensbildung überlagert keine Einheit eines hinter dem alltäglichen parlamentarischen Willenbildungsprozeß stehenden europäischen Volkes die Partikularität von Fraktionsbildungen. Auch die mangelnde Einheitlichkeit des Wahlvorganges in Europa erschwert es, die Repräsentation der Einheit zur Geltung zu bringen. Die Fragestellung im Hinblick auf das Vorhandensein einer durch das Europäische Parlament zu repräsentierenden Identität muß folglich darauf abzielen, ob der Repräsentationsgegenstand „Summe der europäischen Völker“ nicht nur dem Parlament überhaupt eine legitimatorische Aufgabe zubilligt, sondern es die konstruktive Last einer Repräsentation dieser Summe als Einheit tragen läßt. Nach Angela Augustin verhindert die staatenpluralistische Zusammensetzung des EP, das als Repräsentationsorgan „der Völker Europas“ anstatt eines europäischen Volkes fungiert, die Annahme eines gesamtrepräsentativen Konzepts in bezug auf das EP368. Eine einheitliche Gemeinschaftsidentität komme dem

365 Auf spezifische, mit der Sitzverteilung zusammenhängende Repräsentationsdefizite weist Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 32, hin. 366 Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, S. 634; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 237; Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 116. 367 So auch – stärker auf die Fraktionenbildung innerhalb des Parlaments und weniger auf die außerparlamentarische Entsprechung an Repräsentationssubstraten bezogen – Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 43. 368

Augustin (Fn. 366), S. 237.

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EP zudem deshalb nicht zu, da es aus einer Summe von Einzelwahlkämpfen anstatt eines europäischen Gesamtwahlkampfs konstituiert werde369. Daran erscheint zutreffend, daß in dieser Konzeption die föderale Struktur der Europäischen Union auch in der Parlamentszusammensetzung ihren konstruktiven Niederschlag findet. Das gravierendste konstruktive Problem – die fehlende Wahlrechtsgleichheit durch die überproportionale Repräsentation kleinerer Mitgliedstaaten – ist demgegenüber durch den Vertrag von Nizza entschärft worden370. Demnach sind künftig die Abgeordnetenkontingente nicht für die jeweiligen Mitgliedstaaten je identisch, sondern proportional nach der Bevölkerungszahl aufgeschlüsselt. Die weitere Fortentwicklung in der Diskussion um den Europäischen Konvent ist gegenwärtig offen. Ungeachtet der mit solchen Kontingentierungen immer einhergehenden Restungenauigkeiten – deren Bedeutung das Ringen um einen angemessenen Kompromiß in der künftigen Verfassung Europas dokumentiert – ist damit jedenfalls dem Prinzip nach eine an der Bevölkerung Europas ausgerichtete Repräsentationsvorstellung und eine Ablösung von einer wesentlich an der Rechtssubjektivität der Staaten orientierten intergouvernementalen Repräsentation angestrebt. Für die rechtliche Frage – die praktische Anwendbarkeit des Repräsentationsprinzips auf das EP – ist aber zusätzlich entscheidend, ob die Repräsentanten in ihrer Gesamtheit sich nicht als divergierende Partikulareinheiten darstellen, die sich unterschiedlichen nationalen Interessen verpflichtet sehen, sondern in der Meinungsbildung an einem gemeinsamen einheitlichen europäischen Gemeinwohl orientiert sind. Diese Problematik mag durch den praktischen Befund bestärkt werden, daß der Rat zur Überwindung nationaler Sonderinteressen in der Regel oftmals eher in der Lage ist als das Europäische Parlament371. Auch kann das EP durch Wahrnehmung seiner Rechte dem Rat de facto eine Einstimmigkeitsentscheidung aufzwingen und damit das Zustandekommen von Beschlüssen im Rat im Mehrheitsentscheidungsverfahren durch seine bloße Beteiligung blokkieren372.

369

Augustin (Fn. 366), S. 237 ff. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl. 1999, S. 1677 ff. 371 Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 78. 372 Ausführlich zu den Auswirkungen verstärkter Parlamentspartizipation im europäischen Entscheidungsgefüge Neuhold, Das Europäische Parlament im Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Union. Demokratische Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf die Durchführungsbefugnisse der Europäischen Kommission, 2001. 370

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Mit diesen strukturellen Defiziten gegenüber den Kennzeichen staatlicher Vollparlamentarisierung ist das gesamtrepräsentative Vermögen des EP noch nicht in Frage gestellt. Die Repräsentationsqualität des EP bedarf der Einbeziehung der vorangegangenen Überlegungen zum Wesen repräsentierbarer Identität. Dieser Relativität des Identitätsbegriffs lassen sich Anhaltspunkte für die Annahme einer repräsentativen Doppelbezüglichkeit des EP entnehmen: Einerseits hat die durch das EP vermittelte Repräsentation – mit Blickrichtung auf das staatsrechtliche Vollbild repräsentierter Volksidentität – eine bewußt und gewollt defizitäre institutionelle Komponente, indem sich die Abwesenheit staatlicher Identität auf europäischer Ebene im Durchwirken der föderalen Untergliederung bezogen auf die nationale Herkunft der Abgeordneten manifestiert. Diese einzelrepräsentative Komponente – die an den Grenzen der Mitgliedstaaten orientierte Kontingentierung der Mandate – bringt authentisch die Dominanz fortbestehender staatlicher Identität gegenüber der europäischen zum Ausdruck. Andererseits jedoch hindert diese Konstruktionsbesonderheit aus der Perspektive der die jeweilige staatsbürgerliche Identität überlagernden europäischen Bürgeridentität nicht die Annahme einer partikularen, sektoral begrenzten Gesamtrepräsentation. Die Doppelbezüglichkeit von Identitäten in einem komplementären supranationalen Verbund wird durch das Wahlverfahren zum EP, das in jedem Mitgliedstaat in bezug auf das von ihm zu stellende Abgeordnetenkontingent gesondert durchgeführt, in ein Hierarchieverhältnis geprägt: die föderale getrennte Konstitution der einzelnen mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente akzentuiert die Dominanz des Staatsangehörigkeit als prägender Gesichtspunkt jeweiliger europäischer Bürgeridentität. Das aus diesen mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingenten zusammengesetzte Parlament fungiert aber gleichwohl als eine – relative – repräsentative Einheit in bezug auf das europäische Gemeinwohl. Wegen der föderalen Untergliederung des EP kann nicht entsprechend zu den Kosntruktionsprämissen des Art. 38 GG angenommen werden, daß jeder Abgeordnete Repräsentant europäischer Bürgeridentität insgesamt sei; gleichwohl ist das EP als Organ originär verantwortlich, den europäischen Willen aller durch eine europäische Teilidentität verbundenen europäischen Individualsubjekte zu repräsentieren. Dies dokumentiert sich auch rechtspraktisch darin, daß der Willensbildungsprozeß durch Strukturelemente einer nationalitätenübergreifenden Fraktionsbildung dominiert wird und vom EP zur Geltung gebrachten Regelungsintentionen – gerade in der Machtbalance mit dem Rat – in der Regel die genuin europäische Perspektive und nicht nationale Partikularitäten in den Vordergrund stellen. Im Lichte dieser Interpretation erscheint deshalb das EP auch nach den Besonderheiten seiner internen Konstitution als authentischer Repräsentant einer europäischen Komplementäridentität.

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d) Zwischenergebnis Das Integrationsgebilde der Europäischen Union ist als Verband einer Parlamentarisierung jedenfalls in der Form zugänglich, daß die rechtlichen Handlungsformen der Union nicht ausschließlich auf die Ableitung vom innerstaatlichen Repräsentationszusammenhang zur Ausprägung von Legitimität beschränkt sind. Die kategorischen Gehalte des Demokratieprinzips beziehen sich auf den Staat als Hauptanwendungsfall dieses Prinzips, nicht aber mit einer analytischen Ausschließlichkeit. Entscheidend ist vielmehr die Bezogenheit auf die Inklusion des Rechtsadressaten in die institutionalisierte, öffentlichrechtliche und damit subordinative Ausübung von Hoheitsgewalt. Das Europäische Parlament kommt hierfür als taugliches Organ für den Betrachtungsgegenstand der Rechtsetzung der Gemeinschaft in Betracht. Sein unüberwindliches Defizit in der Differenz zum Parlamentarismus, wie er als Leitbild staatlicher Demokratieverwirklichung dem Grundgesetz zugrunde liegt, ist ein legitimer Ausdruck der supranationalen Strukturbesonderheit, der zugleich den fortbestehenden Primat des staatlichen Parlaments im supranationalen Mehrebenenverbund dokumentiert. Staatliche Parlamente sind als gesetzgebende Organe nicht reduplizierbar. Das Europäische Parlament ist aber Verfassungsorgan einer supranationalen Gemeinschaft. Die Anforderungen an die Identität und Einheit des durch das EP zu repräsentierenden Souveräns entsprechen dieser Anpassung rechtsbegrifflicher Forderungen an die Besonderheiten der Gemeinschaftsbildung. Die vom EP repräsentierten, in der Gemeinschaft vereinigten Völker sind insofern ein tauglicher Repräsentationsgegenstand, als die Artikulation ihres Willens dem spezifischen Zugriff auf Regelungsgegenstände aus der Gemeinschaftsperspektive entspricht. Daß gegenwärtig von einem europäischen Staatsvolk nicht gesprochen werden kann, hindert diese Aufgabenwahrnehmung nicht. Sie entspricht der föderalen Zusammenfassung von Vielheit unter bestimmten integrationsleitenden Gemeinsamkeitsgesichtspunkten. Für die Repräsentation von föderaler Vielheit genügt die Schaffung partikularer Identität.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

V. Alternativen: Kompensation durch Verstärkung nationalparlamentarischer Partizipation im europäischen Willensbildungsprozeß

1. Inklusion nationaler Parlamente als direktester Weg der Legitimationsvermittlung? Die zunehmende Einbeziehung des EP in den gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß, die vorliegend aus repräsentationstheoretischen Erwägungen heraus stark gemacht worden ist, bildet nicht die einzige Konstruktionsoption zur Vergegenwärtigung der normentscheidungsbetroffenen Adressaten im Rechtsetzungsprozeß. Seit Anfang der neunziger Jahre wird – insbesondere auch auf Initiative der Nationalparlamente selbst – verstärkt diskutiert, bestehende Legitimationsdefizite durch Beteiligung von Nationalparlamenten zu beheben373. Der Gipfel von Laeken hat sich auch dieses Themas durch eine „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union“ angenommen, in der die Frage nach Optionen der Einbeziehung nationaler Parlamente in das Entscheidungsgefüge der Europäischen Union aufgeworfen wird374. Der Europäische Konvent hat eine eigene Arbeitsgruppe eingesetzt375, die ausschließlich mit der Analyse der gegenwärtigen Beteiligung und die Möglichkeiten der Stärkung derselben befaßt war. Die Arbeitsgruppe war darin einig, daß den „einzelstaatlichen Parlamenten eine spezifische Rolle innerhalb der EU zukommt und daß ihre erhöhte Beteiligung zur Stärkung der demokratischen Legitimation der EU beitragen und die Union den Bürgern näher bringen würde“376. Auf der Grundlage dieser Auffassung hat sie empfohlen, einerseits die Rolle der nationalen Parlamente auf EU-Ebene durch Aufnahme in den Verfassungsvertrag zu stärken, andererseits ihre verstärkte Einbeziehung im Willensbildungsprozeß je-

373 Maurer, Nationale Parlamente in der Europäischen Union – Herausforderungen für den Konvent, Integration 2002, S. 20; Pernice, The Role of National Parliaments in the European Union, WHI-Paper 5/01; Peter M. Huber, Die Rolle der europäischen Parlamente bei der Rechtsetzung der Europäischen Union, Hanns Seidel Stiftung, Aktuelle Analysen 24, 2001; R. Bieber, Demokratische Legitimation in Europa: Das Spannungsverhältnis von Europäischem Parlament und staatlichen Parlamenten, Die Union, Nr. 1/1999, S. 56. Meinhard Schröder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2003, S. 301 ff. 374 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Anhang Nr. 1 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Laeken, 14./15. Dezember 2001, S. 6. 375 Gruppe IV – „Rolle der einzelstaatlichen Parlamente“. 376 Schlußbericht der Gruppe IV über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente vom 22. Oktober 2002, Dok. CONV 353/02, II. 4., S. 2.

V. Alternative: Verstärkung nationalparlamentarischer Partizipation

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denfalls dort vorzusehen, wo es um die Ausarbeitung von Grundpositionen der EU geht. Abgerundet wird das Maßnahmenpaket durch verstärkte und direkte Informationsübermittlung, die Einführung eines „Frühwarnsystems“, durch das die nationalen Parlamente in die Rolle von Hütern des Subsidiaritätsprinzips versetzt werden, sowie durch Vorschläge zur verstärkten Kooperation der einzelstaatlichen Parlamente untereinander, soweit ihre Mitwirkungsfunktion in europapolitischen Bereichen betroffen ist. Ob dieses Vorschlagspaket Lösungsansätze zur Verbesserung der Transparenz und Akzeptanz der Europäischen Union aufzeigt, erscheint fraglich. Man kann mit guten Gründen bezweifeln, ob die von der Arbeitsgruppe IV eingebrachten Vorstellungen von einer konsistent prinzipiellen Auffassung geleitet sind oder nicht doch verschiedenste Aspekte zu einem Ganzen vermengen, dessen Resultat weniger ist als die von ihm vereinnahmten Teilbereiche. So ist alles andere als evident, weshalb ausgerechnet die nationalen Parlamente zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips berufen sein sollen; ihre faktische Betroffenheit vom Kompetenztransfer dürfte für eine Hüterposition eine schwache Begründung sein. Auch ist unklar, ob die von Europa ausgehenden gut gemeinten Impulse zur Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Parlamenten nicht zu einer Aufblähung der Verfahrensabläufe führt, wo deren Optimierung durch Reduktion geboten wäre. Dem entspricht es, daß Kritiker dieses Konzepts die Stärkung der Rolle der Nationalparlamente im supranationalen Willensbildungsprozeß und die Intention einer transparenteren Willensbildungsstruktur in einem Zielkonflikt sehen377. Zur Überprüfung steht im vorliegenden Zusammenhang jedoch nur, welche legitimationstheoretische Konsistenz sich dem Vorschlag abgewinnen läßt, die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente auf europäischer Ebene zu stärken. Hierin liegt prima facie eine Alternative zur dominierenden und auch im vorliegenden Zusammenhang vorrangig entfalteten Möglichkeit, das EP als genuin europäisches Repräsentationsorgan der europäischen Bürger zu stärken. Diese Möglichkeit, ein de lege lata bestehendes Repräsentationsdefizit durch die verstärkte Einbeziehung von Nationalparlamenten in den gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß zu kompensieren, liegt zumindest aus der Sicht eines stark parlamentsorientierten Legitimitätsverständnisses nahe. Jedenfalls auf der Grundlage einer grundsätzlich am Volksbegriff orientierten Staatsauffassung, die demokratisches Regieren auch im gemeinschaftsrechtlichen Kontext wegen des dort fehlenden demos auf eine nationale Rückgebundenheit

377 Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02, S. 19.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

angewiesen378 sieht und die deswegen den identitätsbezogenen Relativierungsargumenten in der oben dargelegten Weise grundsätzlich kritisch gegenübersteht, hängt der Legitimitätsgewinn des Gemeinschaftsrechts in erster Linie von der zumindest vermittelten Bezugnahme auf das Nationalparlament und von der Autorisation durch die Zurechnungseinheit des Staatsvolkes ab, so daß seine Stärkung im Entscheidungsverfahren der defizitären379 Einflußnahmemöglichkeit auf die Ratsmitglieder über die „Repräsentationskette“380 als Schritt in bezug auf direktere Verantwortlichkeit vorzuziehen wäre. Aber auch der dargestellte381 enge Verweisungszusammenhang von Parlamentarismus, Repräsentation und Republikanismus scheint einer solchen Option erhebliche legitimationstheoretische Attraktivität zu verleihen: Der mit den integrativen Ermächtigungen einhergehende Kontroll- und Einflußverlust der nationalen Parlamente würde auf diese Weise durch die Einbeziehung in die Machtbalance der supranationalen Ebene ausgeglichen, ohne daß ein organisatorischer Perspektivenwechsel erforderlich wird, Legitimationsstränge in ihrem Konkurrenzverhältnis und ihrer Äquivalenz untersucht und die Auswirkungen organbedingter Defizite des EP mitbetrachtet werden müßten: Das gleiche Organ, dessen Einflußverlust im nationalen Rahmen notwendige Begleiterscheinung des Integrationsprozesses ist382 – und mit ihm der gleiche Repräsentationszusammenhang, den es vergegenwärtigt – würde durch seine Stärkung auf anderer Ebene für seine nationale Marginalisierung „entschädigt“. Seine Zentralstellung bliebe, so mag es zumindest auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, in der Summe der auf das Mehrebenensystem verteilten Entscheidungsmacht annähernd erhalten. Dies erklärt auch, daß neuere Untersuchungen die Einbeziehungsoptionen der staatlichen Parlamente durchgehend optimistisch bewerten383. 378 So etwa Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Staatswerdung Europas?, 1991, S. 19 ff. 379 s. dazu oben, Kap. 4, III. 4. 380 Daß Maurer, Nationale Parlamente in der Europäischen Union – Herausforderungen für den Konvent, Integration 2002, S. 20 die jedenfalls politisch starke Einflußnahmemöglichkeit über diesen Konstruktionsmechanismus betont, steht jedenfalls dem Befund einer fehlenden Parlamentsverantwortlichkeit für die vom Rat gefällten Rechtsetzungsresultate nicht entgegen. 381 s. dazu oben, Kap. 2, III. 382 Vgl. u. a. dazu Andreas Maurer, Nationale Parlamente in der Europäischen Union – Herausforderungen für den Konvent, Integration 2002, S. 21. 383 Vgl. Andreas Maurer, Parlamentarische Demokratie in Europa. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zur Reduzierung des Demokratiedefizits, 2002; Maurer/Wessels (Hrsg.), National Parliaments on their ways to Europe: Lost latecomers?, 2001; ebenso die Einschätzung der Arbeitsgruppe IV des Kon-

V. Alternative: Verstärkung nationalparlamentarischer Partizipation

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Die vordergründige konstruktive Suggestionskraft einer solchen Kompensationsoption, die die ganze legitimatorische Stärke des staatlichen Prinzipien-, Organ- und Handlungsformgefüges auf die Gemeinschaftsebene zu übertragen scheint, darf indes nicht zu einer Vernachlässigung der Untersuchung verleiten, ob die Qualität möglicher Einbeziehungsformen der Nationalparlamente im gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß dem damit versprochenen Legitimitätsprofil gerecht wird. Andernfalls besteht die Gefahr, daß die Nationalparlamente für Partizipationsrechte ihren guten Namen zur Verfügung stellen, die mit dem zum Vollbild parlamentarischer Repräsentation gehörigen Legitimitätsprofil – verstanden als einer Konvergenz von Autorisierungsvermögen und Handlungsmacht – in Wahrheit nichts gemein haben und auf diese Weise eine Scheinlegitimität vermitteln: Faktische Entscheidungsstrukturen und juristische Legitimationstheorie müssen miteinander einhergehen, andernfalls bildet die Rechtstheorie nicht ab, durch wen die zu legitimierenden Legislativentscheidungen realiter gefällt werden. Einer der Untersuchungserträge in der Betrachtung des Verweiszusammenhangs von Parlamentarismus, Republikanismus und Gesetzesbegriffs besteht auch in der Einsicht, daß an der Einbeziehung der Nationalparlamente als solcher – jedenfalls in bezug auf die Legislativtätigkeit – legitimationstheoretisch relativ wenig hängt, solange mit ihr nicht auch die Autorisation der unter seiner Mitverantwortung zustande gekommenen Handlungsformen im oben384 dargestellten Sinne einhergeht. Nicht alles, was die nationalen Parlamente fordern, entspricht einer neutralen legitimitätstheoretischen Betrachtung, geht es doch für die am „Mehrebenenkräfteparallelogramm“ beteiligten Organe auch um die Durchsetzung politischer Macht.

2. Möglichkeiten nationalparlamentarischer Partizipation auf Gemeinschaftsrechtsebene Dementsprechend kann die Konkurrenz zwischen den Konstruktionsalternativen national- oder europaparlamentarischer Repräsentationsverstärkung nur vermittels einer konkreten Betrachtung entschieden werden, welche Einbeziehungsformen den nationalen Parlamenten im supranationalen Zusammenhang überhaupt zur Verfügung stehen. vents über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente vom 22. Oktober 2002, Dok. CONV 353/02, II. 4., S. 2, was auch damit zusammenhängen mag, daß Andreas Maurer Gelegenheit hatte, als Sachverständiger vor der Arbeitsgruppe seine Auffassung von der Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der europäischen Institutionenarchitektur zu erläutern. 384

Kap. 2, III. 2.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Drei konstruktive Hauptalternativen können hier als hauptsächlich vorgebrachte Vorschläge unterschieden werden: Stärkung der europapolitischen Rolle der einzelstaatlichen Parlamente im staatsorganisationsrechtlichen Willensbildungsprozeß; die Schaffung eines neuen, mit Vertretern der Nationalparlamente besetzen Organs, das neben die vorhandenen Organe träte und in das Unionsorganigramm selbständig einzufügen wäre; sowie eine „föderale Ausbalancierung“ durch die Einbeziehung von Mitwirkungsrechten der jeweiligen nationalen Parlamente insgesamt in den Entscheidungszusammenhang der Sekundärrechtsetzung, so daß ein „Kooperationsregime“385 zwischen europaparlamentarischer und staatsparlamentarischer Ebene entstünde386. Darüber hinaus wird verschiedentlich auch die Betrachtung miteinbezogen, auf welche Weise die staatlichen Parlamente auf die Willensbildung der Ratsmitglieder durch die innerstaatliche Gebundenheit der Regierung an den Parlamentswillen Einfluß ausüben könne. Auch hierin liege eine Möglichkeit zur Optimierung von Einfluß der nationalen Parlamente im europäischen Willensbildungsprozeß. Dem liegt ein flexibles Modell der Optimierung von Einflußnahmemöglichkeiten durch die Parlamente zugrunde, durch das der Willensbildungsmechanismus von der Eigeninitiative des Parlaments, sich einzubringen und vorhandene Möglichkeiten zur Partizipation seinerseits zu nutzen, abhängig gemacht wird387.

3. Nachteile verstärkter Nationalparlamentarisierung Die Beurteilung der von diesen Konstruktionsmöglichkeiten ausgehenden Legitimitätsvermittlung bedarf des Rückbezugs auf das dem Repräsentationsprinzip inhärente Anforderungsprofil. Notwendig ist danach, daß das Repräsentationsorgan einerseits in bezug auf die Regelsetzung zumindest mitverantwortlicher Entscheidungsträger ist, zum anderen die Adressaten der zu setzenden Norm in der Weise repräsentiert, daß zwischen ihnen und dem Repräsentationsorgan ein Verantwortlichkeitszusammenhang besteht, der es rechtfertigt, die Repräsentierten als Autoren der gesetzten Norm zu begreifen. Wenn demgegenüber Maurer meint388, der „Mehrwert parlamentarischer Repräsentation“ 385

Maurer (Fn. 382), S. 29. Zu dieser Option auch Christopher Lord, From Intergovernmental to Interparliamentary Union. Democratizing Pastiche Europe, in: Contemporary European Affairs, Nr. 2/3/1991, S. 229 ff.; allgemein zur Frage auch Meinhard Schröder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2003, S. 301 ff. 387 Vgl. dazu den sog. Schröder-Narnier-Vorschlag. 388 Maurer (Fn. 382), S. 33. 386

V. Alternative: Verstärkung nationalparlamentarischer Partizipation

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stehe „selbst unter zunehmenden Beweiszwang“, und diese These durch rückgehende Wahlbeteiligung bei EP-Wahlen fundiert, so ist dem entgegenzuhalten, daß die vom Prinzip des Rechts ausgehenden Anforderungen an das rechtshervorbringende Institutionengefüge nicht davon abhängig sind, daß die dem Recht unterworfenen Individuen auch mit einem repräsentationsdefizitären, damit letztlich freiheitsrechtlich ungenügenden Recht zufrieden wären. Ein Zustand der Unfreiheit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß dieser aus Bequemlichkeitsgründen nicht beanstandet wird. Gemessen an dem daher maßgebenden Voraussetzungsprofil erscheint sowohl die Verantwortlichkeit als auch der Rückbezug der Nationalparlamente auf die Adressatenschaft in den zur Debatte stehenden Konstruktionsalternativen zweifelhaft.

a) Unzulänglichkeit bloß faktischen Einflusses ohne substantielle Verantwortlichkeit Einerseits begründet eine bloß konsultative Position der Nationalparlamente, gleichgültig in welchem Stadium des Entscheidungsverfahrens sie Platz greift, zwar unter Umständen einen nicht unerheblichen politisch-faktischen Einfluß auf die im Ergebnis zu treffende Normsetzungsentscheidung. Auch mag man davon ausgehen, daß eine in der Öffentlichkeit wahrnehmbare Einbezogenheit der Nationalparlamente zu einer größeren öffentlichen Akzeptanz im Hinblick auf die so zustandegekommenen Rechtsakte führen389. Wegen der mangelnden Bindungswirkung einer in konsultativen Verfahren abgegebenen Meinungsäußerungen sind solche Partizipationsoptionen jedoch im Ergebnis nicht geeignet, die normative Mitverantwortlichkeit der Nationalparlamente zu begründen390. Dies bedeutet nicht, daß solche Konstruktionen nicht aus Gründen politischer Balancefindung hilfreich und zweckmäßig erscheinen können, macht diese Einbeziehungsmöglichkeiten jedoch legitimationstheoretisch bedeutungslos. Die Erhöhung der Regierungsverantwortung gegenüber den Nationalparlamenten391 stellt sich auf dem Prüfstand repräsentationsbezogener Anforderungen ebenfalls als nicht vollwertige Konstruktionsalternative dar. Daß das Parlament – zum Teil informell – über Einwirkungsmöglichkeiten auf die mit-

389

Davon ausgehend auch Maurer (Fn. 382), S. 20 ff. Dazu auch unten, Kap. 5, II. 3. b) bb); diesen Umstand beachtet Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 75, nicht hinreichend, wenn er auf das Eigengewicht einer auch durch bloße Anhörung vermittelten Legitimation abstellt. 391 So Maurer für das Amsterdamer Vertragsprotokoll über die Rolle der nationalen Parlamente, Protokoll, S. 25. 390

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

gliedstaatlichen Regierungsmitglieder verfügt und dadurch auf den gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß einen vermittelten Einfluß auszuüben in der Lage ist, begründet keine Verantwortlichkeit der Nationalparlamente für die Rechtsetzung selbst. Sie eröffnet den nationalen Parlamenten nicht positive Gestaltungsmacht, sondern ein bloßes Reaktionspotential gewissermaßen auf der Sekundärebene, indem dieses die von ihm legitimatorisch abhängigen Exekutivrepräsentanten zur Verantwortung ziehen kann. Eine parlamentarische Autorisation der vom Ministerrat erlassenen Rechtsakte wird indes nicht bewirkt. Faktische Einflußnahmemöglichkeiten stehen auch vielen nichtparlamentarischen gesellschaftlichen Gruppen zur Verfügung, ohne daß hiermit eine verfassungsrechtliche Qualität dieser Einwirkung gewährleistet wäre. Um eigenständige Autorisation zu bewirken, kommt es auf die Stellung der Parlamente nach Maßgabe der Gemeinschaftsverfassung und nicht bloß darauf an, ob rechtstatsächlich Einfluß genommen werden kann.

b) Kompensationscharakter der Einbeziehung einzelstaatlicher Parlamente für unzulängliche Kompetenzstrukturen Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt bezieht sich darauf, daß die kumulative Einbeziehung von europäischem und einzelstaatlichen Parlamenten den halbherzigen Charakter einer Mischform hat: Die Konkurrenz von Parlamenten, die unterschiedlichen Verfaßtheitszusammenhängen zugeordnet sind, verweist auf eine mangelnde Prinzipienklärung, wem eine bestimmte Entscheidungsbefugnis letztlich zustehen soll. Die Neigung des europäischen Institutionengefüges, bei Willensbildungsprozessen jedes Organ in jeden Entscheidungszusammenhang einzubringen, ist zu einem gewissen Teil auch ein Ausdruck fehlenden Mutes, Verantwortlichkeiten zu definieren und die hiermit verbundene negative Dimension einer Befugnisexklusivität des betrauten Organs auszuhalten. Bedenken, der europäischen Verbandsebene bestimmte Verantwortlichkeiten zu überantworten, sind nicht dadurch ausräumbar, daß man diese Entscheidungsbefugnis an staatliche Organe rückbindet, die mit der Regelungsaufgabe material ggf. nichts zu tun haben. Die konkrete Ausgestaltung von sekundärrechtsgenerierenden Willensbildungsprozessen, mehr noch aber die zum Erlaß von Durchführungsregeln konzipierten Komitologieverfahren, sind mit ihrer teilweise grotesken Komplexität allseitiger Einflußnahmeoptionen392 nur zu einem geringen Teil das Resultat einer der Sachmaterie geschul392

Dies räumt der Konvent in bemerkenswerter Offenheit im Rahmen seiner Bedarfsanalysen auch ein, vgl. „Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten – Gegenwärtiges System, Problemstellung und zu prüfende Optionen“, Dok. CONV 47/02, S. 5 ff.

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deten Entscheidungsfindungsstruktur393. Runde Tische und eine pluralistische Neigung zum Einbeziehen aller Gruppen ersetzen jedoch nicht die Ausrichtung von Verantwortungsstrukturen an Prinzipien. Daher mag es verständlich sein, komplexe Entscheidungsfindungsstrukturen mit vielfältigen wechselseitigen Konsultations-, Veto- und Kodezisionsoptionen zum strukturellen Normalfall eines gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungsfindungssystems zu erheben, solange die Gemeinschaftsorgane insgesamt mit legitimitätstheoretischen Defiziten behaftet erscheinen und deshalb selbst die geforderte Eindeutigkeit der Zuordnung von Entscheidungsverantwortlichkeit zu einem der Organe mit keiner entsprechenden legitimationstheoretischen Eindeutigkeit einherginge. Steht jedoch als Befund – zumindest nach hier vertretener Auffassung ist das der Fall – fest, daß das EP zur Bewältigung einer repräsentationstheoretischen Konstruktionslast in der Lage ist, dann muß sich die zusätzliche Einbeziehung nationaler Parlamente kategorial daran rechtfertigen, worin der in ihrer Einbeziehung liegende Legitimitätszuwachs konkret liege: „Doppelt hält besser“ gilt für das Feld des Parlamentarismus nicht. Ein prinzipiell ausgerichteter Willensbildungsmechanismus muß demgegenüber für sich beanspruchen können, jede ihn strukturierende Organpartizipation letztlich als Ausdruck einer prinzipiellen Erwägung rechtfertigen zu können, andernfalls muß seine Vereinfachung im Vordergrund stehen.

c) Repräsentationstheoretische Unverortbarkeit der einzelstaatlichen Parlamente im gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozeß Dieser an der Eindeutigkeit der Zuordnung von Entscheidungsverantwortlichkeit orientierte Befund wird auch durch die konstitutionellen Erwägungen zur Unionsstruktur, konkret durch die im dritten Kapitel vorgenommenen Untersuchungen zur Verfassungsstruktur der Union bestärkt. Ist es danach kennzeichnend für das Wesen der Union als Komplementärverfassung, daß der pouvoir constituant bei den Mitgliedstaaten liegt, während sich die Anforderungen an den Verwirklichungsgrad des Repräsentationsprinzips in der jeweiligen Ebene eines Mehrebenenverbunds nach dem Adressatenbezug richten, dann ist dem Repräsentationsprinzip selbst die Anforderung inhärent, die konstruktive Vergegenwärtigung der Adressaten als gemeinsame durch ein sie repräsentierendes Gremium im Rahmen der jeweiligen Ebene vorzunehmen, der die Rechtsetzungsbefugnis zugeordnet ist. Anders gesagt: Repräsentation 393

Hieraus erklärt sich die Diskussion um eigenständige Legitimationsmechanismen, die insbesondere auf die Komitologieverfahren anwendbar sein sollen, so etwa das „expertship principle“, vgl. etwa Hodson/Maher, The Open Method as a new mode of governance: The case of soft economic policy co-ordination.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

muß so institutionalisiert sein, daß die repräsentierte Identität der Regelungsperspektive korrespondiert, in bezug auf deren praktische Umsetzung sie zur Partizipation berufen ist. Europäische Regelsetzung erfordert ein Repräsentationsorgan, das die europäischen Bürger gerade in ihrer Identitätsdimension als Bürger Europas (und nicht als distributiv-heterogene Staatsbürger jeweiliger Mitgliedstaaten) zur Geltung bringt. Es genügt den vom Repräsentationsprinzip vorausgesetzten vorrechtlichen Identitätsbedingungen nicht, hier auf die nationalparlamentarische Ebene auszuweichen. Wenn man es legitimationstheoretisch für zulässig hält, daß die Europäische Union zur selbständigen Rechtsetzung – mit einheitlicher, unmittelbarer Wirkung gegenüber allen Unionsbürgern – befugt sein soll, dann bedeutet es einen Systembruch, die in bezug auf diese Rechtsetzungsebene notwendigen Repräsentationsstrukturen dadurch schaffen zu wollen, daß man eine distributive Vergegenwärtigung der jeweiligen Staatsbürger beim legislativen Willensbildungsprozeß durch Staatsparlamente vornimmt: Diese repräsentieren gerade nicht die Perspektive von Allgemeinheit, die das europäische Gemeinschaftsrecht durch unionseinheitliche Regelungen einzunehmen beansprucht. Allgemeinheit ist ein relativer Begriff; er bezieht sich auf den Kontext eines verfaßten Gemeinwesens, innerhalb dessen er die Einheitlichkeit der zur Geltungsallgemeinheit erhobenen Regelungsperspektive fordert. Der parlamentarische Zweckbezug auf die Ausrichtung von Normsetzungstätigkeit an den Belangen der Allgemeinheit muß auf diese Akzessorietät zum Verfaßtheitszusammenhang Rücksicht nehmen. Die von den Nationalparlamenten einzunehmende Verpflichtung auf das Allgemeinwohl der Staaten, deren Gesetze sie bestimmen, kann sich jedoch aus gemeineuropäischer Regelungsperspektive dialektischerweise als Einbringung von – mitgliedstaatlichen – Partikularinteressen und damit als repräsentationstheoretisch contraproduktiv darstellen. Demgegenüber bürgt eine originär europäische Parlamentarisierung insofern auch für eine kategoriale Aktualisierung des Bezugsgegenstandes von Repräsentation. Der rechtsprinzipielle Sinn der Mehrebenenkonstruktion und ihrer wechselseitigen Durchwirkung liegt insgesamt darin, daß Vergemeinschaftungsvorteile aus dem Erschließen einer übergeordnet-verbindenden Regelungsebene genutzt werden, ohne diesen Regelsetzungsprozeß von dem Selbstbestimmungsgehalt der mitgliedstaatlichen Willensbildung so abzukoppeln, daß dieser de facto überflüssig wird. Deshalb liegt in der Rückbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Willensbildungsprozesse auf staatsrechtliche Willensbildung, wie sie durch Einbeziehung der nationalen Parlamente bewirkt werden könnte, ein wichtiger Aspekt. Fraglich bleibt aber, ob die nationalen Parlamente für das Anliegen der Rückbindung besser geeignet sind als die bisherige Rückbindung durch das staatsrepräsentierende Organ des Rates und seine Einflußnahme auf sekundärrechtshervorbringende Willensbildung. Die begrenzte Tauglichkeit der nationalen Parlamente dokumentiert deshalb, daß die These, verfassunggebende Ge-

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walt und einfachgesetzliche Normsetzungsstruktur auseinanderhalten zu müssen, ihren Niederschlag auch in der praktischen Lösung des Konkurrenzverhältnisses von unterschiedlichen Parlamenten findet. Die Repräsentation der Legislativadressaten bei der Normsetzung ist ein zentrales legitimationstheoretisches Anliegen, die Rückbindung an den innerstaatlichen Willensbildungsprozeß stellt sicher, daß es zu keiner Verselbständigung der europäischen Regelsetzungsmaschinerie kommt. Beides zugleich einem Organ zu überantworten, steht in der Gefahr, dies zu überfordern. d) Transparenz- und Praktikabilitätsdefizite Schließlich darf ein Argument von eher instrumentellem Charakter nicht unterschätzt werden: Schon die verstärkte Einbeziehung des EP als Entscheidungsträger führt zu einer nicht unerheblichen Abnahme der Entscheidungsfindungsfähigkeit und damit einer korrespondierenden Komplexitätszunahme, die die Gesamthandhabbarkeit des gemeinschaftsrechtlichen Willensbildungsprozesses erheblich einschränkt. Die bloß konsultative, informelle oder informatorische Einbeziehung einzelstaatlicher Parlamente ist als weiteres Element bereits an anderer Stelle kritisierter Scheinlegitimation abzulehnen. Die zusätzliche Abhängigmachung der europäischen Entscheidungsstrukturen von Vetound Mitgestaltungsmöglichkeiten eines weiteren parlamentarischen Gremiums hingegen – gleich in welcher Form diese stattfände – erhöht die Komplexität der Entscheidungsfindung nochmals. Wenn jedoch in der zusätzlichen Nationalparlamentarisierung nur eine redundante Konstruktion liegt, die dem Bürger Parlamentarismus suggerieren soll, um Akzeptanz zu schaffen, so scheint der hierfür bezahlte Preis zu hoch. Der von der Arbeitsgruppe „Rolle der einzelstaatlichen Parlamente“ zugrunde gelegte Ansatz, die erhöhte Beteiligung führe zur „Stärkung der demokratischen Legitimation […] und [brächte] die Union den Bürgern näher“394, ist zunächst nicht mehr als ein Postulat. Ob bei den Bürgern Europas die Etablierung weiterer zusätzlicher Verflechtungsebenen als Stärkung des Einflusses einzelstaatlicher Parlamente rezipiert würde, unterliegt zumindest erheblichen Zweifeln. Davon abgesehen jedoch krankt das Konzept der Arbeitsgruppe IV auch an der fehlenden kategorialen Differenzierung von Akzeptanz und Legitimität einerseits und an der bereits zuvor ausführlich kritisierten Identifikation von Legitimität und Demokratie andererseits. Akzeptanz und Legitimität fallen nicht in eins: Wenn der Bürger Europas durch die EPWahlen eine repräsentationstheoretisch hinreichende Einwirkungsmöglichkeit auf gemeinschaftsrechtliche Entscheidungszusammenhänge erhält, braucht ihm

394 Schlußbericht der Gruppe IV über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente, Dok. CONV 353/02 vom 22. Oktober 2002, S. 2.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

nicht durch das ihm unter Umständen näher stehende Nationalparlament ein zusätzliches Gefühl von praktizierter Demokratie vermittelt zu werden, wenn diese sich zudem in der praktischen Gestaltungsfähigkeit nicht einlöst.

VI. Zwischenergebnis Das Verfassungsprinzip der Komplementärverfaßtheit konkretisiert sich in einem Organisationszusammenhang, der durch eine duale Repräsentationsarchitektur geprägt ist. Mit diesem dualen Repräsentationsgefüge werden die rechtsapriorischen Anforderungen an einen legitimen Rechtswillensbildungszusammenhang auf den supranationalen Verbund umgesetzt, ohne daß damit eine bundesstaatliche Integrationsfinalität initiiert würde. Das sekundärrechtsetzende Organgefüge wird durch eine gleichberechtigte Stellung von Rat und Parlament konstituiert und trägt den unterschiedlichen Repräsentationsnotwendigkeiten Rechnung, die aus den unterschiedlichen Adressatentypen Staat und Bürger im supranationalen Rechtssystem resultieren. In Abkehr vom herrschenden Verständnis einer mittelbar demokratischen Legitimierung des Sekundärrechts durch den Rat besteht die Hauptfunktion des Rates in der Repräsentation der Staaten. Demokratische Legitimation durch den Rat ist in mehrerlei Hinsicht defizitär. Die bloße Rückgebundenheit der im Rat vertretenen Regierungsvertreter an nationalparlamentarische Willensbildung durch ihre Wahl bildet keine plausible Erklärung für einen ihnen zugebilligten repräsentativen Status gegenüber den nationalstaatlichen Völkern, von denen sie ihre Legitimität ableiten. Die hierin angelegte Hypothese einer Durchwirkung von Demokratie durch mehrere Delegationsschritte ist gemessen an föderativen Strukturprinzipien problematisch. Sie ist qualitativ eine bloße Ableitungskette, als solche ein unvollkommenes Surrogat für parlamentarischrepräsentative Willensbildung und bedingt, gemessen am staatsverfassungsrechtlichen Prinzip der Gewaltenteilung, eine Akzentverschiebung zugunsten der Exekutive, die mit Konstruktionsbesonderheiten der supranationalen Rechtsordnung nicht zu rechtfertigen sind. Eine am Repräsentationsprinzip in der hier zugrunde gelegten Form orientierte Statuszuweisung für den Rat faßt diesen als unmittelbar staatenrepräsentierendes, nicht aber auch mittelbar individualrepräsentierendes Organ auf. Ratsvermittelte Staatenrepräsentation versteht sich als Mittel der kompensatorischen Wiedergewinnung der mit der Ermächtigung der Europäischen Union notwendig einhergehenden Einbuße an Steuerungs- und Regelsetzungsmacht im einzelstaatlichen Selbstverhältnis. Die repräsentative Partizipation der Mitgliedstaaten an der Willensbildung bietet die materiale Gewähr dafür, daß das Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit nicht als

VI. Zwischenergebnis

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bloße Gewährleistung eines formalen Fortbestandes der Staaten unterbestimmt wird, sondern die Substanz der Unionsverfassung als Kollektivierung von Souveränität sich in ihrem Willensbildungssystem ausprägt. Die Staatenrepräsentation durch den Rat ist ihrem Wesen nach strukturverschieden vom Parlamentarismus als der Hauptform individualsubjektiver Repräsentationsorganisation. Die Strukturdifferenz ist hauptsächlich dadurch bedingt, daß die repräsentierten Staaten als Rechtsubjekte juristische Personen sind. Staatenrepräsentation durch den Rat zeichnet sich im wesentlichen durch eine stärkere Unmittelbarkeit der Repräsentationsform aus: Die mitgliedstaatlichen Mandatsträger in ihrer Eigenschaft als staatliche Repräsentanten beziehen sich im Kollegialgremium des Rates in ihrer Entscheidungsfindung wechselseitig ein. Demgegenüber verwirklicht das EP originär-supranationale Repräsentation der Bürger der Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Bürger Europas. Demokratietheoretisch ist seine Ermächtigung zu einem originären Repräsentationsorgan ein reaktiver Organisationsfortschritt, der auf den Verlust nationalparlamentarischer Befassungsgegenstände an den supranationalen Verbund durch Schaffung eines Repräsentationsgremiums reagiert. Die Repräsentationsfunktion des EP gegenüber den Bürgern Europas schafft eine Kongruenz zwischen dem Ort der Ausübung von Rechtsetzungsmacht und der dortigen Allokation rechtslegitimierender Inklusionsmechanismen. Mit dieser Parlamentarisierung geht keine dem Prinzip der Komplementärverfaßtheit zuwiderlaufende Staatswerdung einher, weil das EP hierdurch lediglich zum Mitautor gemeinschaftsrechtlicher Normen wird, jedoch durch die Beteiligung des staatenrepräsentierenden Rates an der Sekundärrechtsetzung eine Verselbständigung des europaparlamentarischen Willensbildungsprozesses gegen den Willen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen bleibt. Souveränitätstheoretisch wird diese Konstruktion ermöglicht durch eine Abkehr von der überkommenen, auf Bodin, Hobbes und Carl Schmitt zurückgehende Impermeabilitätsauffassung und die Akzentuierung der Selbsterweiterungsdimension vernetzter suprastaatlicher Kooperationsstrategien. Das EP repräsentiert kein Volk; der europäische Verbund ist kein Staat und in seiner Nichtstaatlichkeit nicht von einer homogenen vorrechtlichen Identität getragen. Repräsentationstheoretisch ist aber der Volksbegriff als Identitätssubstrat entbehrlich. Ausreichend und vorhanden ist demgegenüber eine europäische Teilidentität auf der Grundlage gemeinsamer kultureller, philosophischer und historischer Wurzeln sowie eines gemeinsamen Wertebestandes. Das hierfür zugrunde gelegte Identitätsverständnis löst sich von der am Volksbegriff orientierten monistischen Identitätsauffassung Die Repräsentierbarkeit der europäischen Identität durch das EP resultiert aus der für den europäischen Regelsetzungskontext hinreichenden Verdichtung der europäischen Gemeinsamkeiten, die es ermöglicht, die Bürger Europas als in ihrer Teilidentität als Angehörige des supranationalen Organisationsgefüges der Europäischen Union wechselseitig verbunden zu betrachten.

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Kap. 4: Lösungsansätze zum Legitimationsdefizit des Sekundärrechts

Die als Konstruktionsalternative zu diesem dualen Repräsentationsgefüge zunehmend und auch im Verfassungskonvent mit Aufmerksamkeit bedachte Möglichkeit verstärkter nationalparlamentarischer Einbeziehung in den supranationalen Willensbildungsprozeß ist mit mehreren rechtsprinzipiellen Nachteilen behaftet. Sie ist im Hinblick auf die repräsentationstheoretisch gebotene Kongruenz von repräsentierter Identität und hierauf in seiner Ausübung bezogener Regelsetzungsmacht ein Systembruch; darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt der Organisationstransparenz eher abträglich. Notwendig und als authentischer Ausdruck lebendiger Mehrebenenarchitektur wünschenswert erscheinen enge Kooperations- und Konsultationsmechanismen zwischen mitgliedstaatlichen Parlamenten und dem EP. In solchen Formen wechselseitiger Einbezogenheit dokumentiert sich die Verflechtung und Interdependenz der unterschiedlichen staatlichen und supranationalen Regelsetzungsebenen in der Rechtswirklichkeit, jedoch ohne die jeweils für sich bestehende Bereichsverantwortlichkeit der einzelnen Organe auf den unterschiedlichen Ebenen zu verwischen.

Kapitel 5

Ansätze zur Umsetzung von Legitimitätsprämissen in eine Kompetenzstruktur

I. Kompetenz als Resultat legitimatorischer Strukturprädestination verfügbarer Handlungsformen

1. Der Anspruch der Handlungsformorientierung als Kompetenzgrundlage Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die legitimatorischen Bedingungen von legislativer Herrschaft, interpretiert aus einer freiheitsgesetzlich orientierten Lesart des Legitimitätsbegriffs, in seiner konkreten Bedeutung für die einzelnen Handlungsformen Gesetz, Vertrag und europäisches Sekundärrecht dargelegt worden sind, steht das konkrete Vermögen bestimmter Kompetenzverteilungsprinzipien zu praktischer Umsetzung der Legitimitätsbedingungen in vorliegendem Kapitel in Frage. Die Möglichkeit, repräsentationstheoretisch angemessene Institutionenstrukturen im supranationalen Kontext zu verwirklichen und hierdurch das Profil einer ursprünglich mitgliedstaatlich verwurzelten Integrationsphänotypie den spezifischen Willensbildungsbedingungen einer Komplementärordnung anzupassen, ist für die Intention einer Ordnungsvorstellung, die ein einheitliches Legitimationsprofil dieser Mehrebenenordnung reflektiert, demnach nur der eine, sozusagen allgemeine Teil. Mit dem zweiten Schritt der Formulierung von aus der Legitimationsanalyse folgenden Kompetenzprinzipien wird die kompensatorische Bedeutung des supranationalen Repräsentationssystems – der Umstand, daß die duale Repräsentationsstruktur des supranationalen Willensbildungszusammenhangs sich reaktiv auf die staatstranzendierende Selbsterweiterungsleistung der Mitgliedstaaten bezieht – erst in einer konkreten Balance verwirklicht. Diese Bezogenheit einer solchen Kompetenzbalance auf die supranationale Strukturbesonderheit einer surrogativen Repräsentationsarchitektur manifestiert sich darin, daß sie Verselbständi-

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

gungen des supranationalen Willensbildungsprozesses gegenüber dem legitimationsarchitektonischen Anliegen ausschließt. Die Kompetenzordnung der Europäischen Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten muß, um legitimationstheoretisch angemessene Gestalt zu gewinnen, auf Prinzipien hin orientiert sein, die die dargelegten Handlungsformdifferenzen widerspiegeln. Maßgebend für diese Umsetzung der legitimitätsbezogenen Prämissen der vergangenen Kapitel in eine kompetenzielle Ordnungsvorstellung ist die Untersuchung, in welchem Umfang vorhandene Kompetenzverteilungsprinzipien in praktisch verwirklichungsfähiger, justitiabler Weise geeignet sind, die kategorialen Differenzen der einzelnen Handlungsformen zur Geltung zu bringen, die um das „Gravitationszentrum“ eines material verstandenen Allgemeinheitsbegriffs und seiner staatsrechtlichen Normalform, des Gesetzes, herum angeordnet sind. Dabei verfolgt diese Untersuchung das Ziel, als Resultat dieser Analyse die supranationale Mehrebenenkompetenzordnung als Resultat legitimatorischer Strukturprädestination der jeweils verfügbaren Handlungsformen ausweisen zu können. Eine handlungsformorientierte Kompetenzverteilungsstruktur dient also der Zuordnung des Umfanges von Wahrnehmungsberechtigungen in Abhängigkeit vom Legitimationsprofil der zur Verfügung stehenden Handlungsformen. Das Rechtsetzungsvermögen wurde in den vorangegangenen Kapiteln gekennzeichnet als das Resultat einer integrierten Betrachtung von normativem Regelungsvermögen und legitimatorischem Hintergrund der institutionellen Hervorbringung der jeweiligen Handlungsform. Der legitimatorische Hintergrund wurde repräsentationsbezogen gekennzeichnet. Kritisch grenzte es sich damit ab von einer Vereinseitigung von Effizienzkriterien, aber auch von einer etatistisch verengten Lesart des Demokratieprinzips, aufgrund derer den vorrechtlichen Bedingungen von Demokratie ein zu starkes Gewicht zuerkannt wird und die das Demokratieprinzip in einer nicht legitimationsprinzipiell gebotenen Weise unflexibel macht. In der Bezugnahme auf diese Vorbetrachtung und den Versuch der Gewinnung von kompetenzkonkretisierenden Kriterien aus ihr liegt der Anspruch nicht auf der Formulierung einer in irgend einer Weise abschließenden Kompetenzordnung mit detailbezogener Determinierung zukünftiger Integrationsdynamik, sondern geht es um die Applikation eines Minimalbestandes von legitimatorisch unverzichtbaren Bedingungen für eine dem Gehalt des Rechtsprinzips entsprechende Kompetenzverteilung. Diese Selbstrestriktion trägt dem Umstand Rechnung, daß eine „richtige“ Kompetenzverteilung als Resultat rechtswissenschaftlicher Methodik nicht determinierbar ist; die Legitimitätskriterien des Rechts sind zu unbestimmt, um eine konkrete Balance von Entschei-

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

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dungsträgern unmittelbar und in Einzelheiten aus ihnen herausdestillieren zu können1. Die verbleibenden Spielräume sind genuines Betätigungsfeld politischer Gestaltungsdezision, darin auch Ausdruck einer prinzipiell angemessenen Balance der Systemreferenzen von Recht und Politik2. Die Ableitung einer legitimationsradizierten kompetentiellen Rahmenstruktur ist aber gleichwohl möglich. Die Rahmenbedingungen einer von den Repräsentationsstrukturen her gedachten Mehrebenenordnung ergeben sich aus einer Gesamtschau der vorangegangenen Bestimmungen, einem Abgleich, welche Organe als Akteure im supranationalen Willensbildungsprozeß beteiligt sind, welchem Legitimationszweck ihre Beteiligung dient und in welchem Kontext diese Zweckverwirklichung besonders essentiell erscheint. Wo die nationalen Parlamente die ihnen zufallenden Regelungsaufgaben nach wie vor bewältigen können, bedarf es keines Umwegs über den Kompetenztransfer auf die Europäische Union und der dortigen Parlamentarisierung der Kompetenzausübung, sondern kann dem Repräsentationsanliegen am einfachsten durch schlichtes Verbleiben von Residualkompetenzen auf staatlicher Ebene Genüge getan werden. In den Bereichen hingegen, für die sich der einheitliche gemeinschaftsrechtliche Regelungszugriff als problemlösungsangemessener erweist, sind seinerseits Kriterien zu entwickeln, nach denen die notwendige Befassungsintensität beider Repräsentationsstränge differenziert werden kann. Um den zuvor entwickelten Anforderungen an die Parlamentarisierung gemeinschaftsrechtlicher Normsetzung Rechnung tragen zu können, ist daher zunächst die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzstellung von Rat und EP zu untersuchen, um diese alsdann mit den rechtskategorischen Forderungen ihrer jeweiligen Einbeziehung in Abgleich zu bringen. Notwendig ist aber auch eine Vergewisserung darüber, wo eine Modifikation des legitimatorischen status quo überhaupt notwendig erscheint. Weder müssen alle sekundärrechtlichen Akte parlamentsratifiziert sein, um den Legitimitätsanforderungen im dargelegten Sinne zu genügen, noch bedarf es in allen denkbaren Fällen der Legislativwilllensbildung einer einheitlichen Form der Ratswillensbildung. Starre Schematismen, die ohne eine differenzierte Orientierung an den Regelsetzungsbesonderheiten des jeweiligen Kontexts auskämen, stünden in der Gefahr, das Normsetzungsvermögen des supranationalen Parlaments und die Willensbildungsfähigkeit des Rates zu überfordern; darüber hinaus könnten Vorschläge solcher Art auch mit dem spezifisch supranationalen System insti-

1

So auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 452. 2

Dazu noch i. E. unten, Kap. 5, IV. 2. c) bb) (4).

436

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tutioneller Verflochtenheit3 konfligieren. Erforderlich ist deshalb eine Konkordanzbildung zwischen Normsetzungseffektivität und Repräsentationserfordernis durch Bestimmung von Spielräumen, innerhalb derer die hinter dem Repräsentationsprinzip stehende Selbstbestimmung keine unmittelbare Eigenentscheidung des Parlaments erfordert, sondern Ratsentscheidungen – ggf. mit Parlamentsbeteiligung – genügen. Gelingt es, diese Spielräume zu verallgemeinern, so können diese in Prinzipienform artikuliert werden. Diese Prinzipien haben dann den Charakter fundamentaler Bestimmungssätze einer dem Titel dieser Untersuchung entsprechenden „legitimitätsorientierten Kompetenzbalance“.

2. Der Begriff der Kompetenz und seine Verwendung im Kontext der Mehrebenenstruktur Gegenstand von Kompetenzordnungen ist die Abschichtung von Wahrnehmungsberechtigungen zwischen den für ihre Ausübung in Betracht kommenden Wirkungseinheiten4. Einzelheiten des Kompetenzverständnisses – namentlich seine Abgrenzung zu interferierenden Begriffen wie Zuständigkeit, Befugnis, Aufgabe, Entscheidung – sind umstritten, die terminologischen Gepflogenheiten im einzelnen uneinheitlich5; gleichwohl reicht ein die Differenzierungen im einzelnen vernachlässigendes Verständnis für vorliegenden Zusammenhang aus, da die aktuelle gemeinschaftsrechtliche Diskussion um legislative Gemeinschaftskompetenzen ohne spezifische Bezugnahme auf staatsrechtsdogmatische Nuancen auskommt und hierdurch nahelegt, daß ein begrifflicher Minimalkonsens existiert6. Die Zuordnung von Legislativkompetenzen thematisiert im

3 von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 445; Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866, 871; Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965, 969 f. 4 Vgl. Michael Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977, S. 128. 5 Vgl. dazu Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1982, S. 35 ff., unter umfangreicher Bezugnahme auf das staatsrechtliche Schrifttum bis 1982. 6 Wie hier von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441, 442 mit Verweis auf die fehlende Konzeptgetragenheit entsprechender terminologischer Differenzen des Primärrechts; kritisch gegenüber der Selbstverständlichkeit eines Begriffsgebrauchs Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 578 f., der allerdings gleichwohl seinerseits unter Kompetenz als Sammelbegriff „jede Rechtsmacht zur Herbeiführung rechtlich erheblicher Entscheidungen“ versteht.

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

437

vorliegend verwendeten Begriffszusammenhang die Zuordnung von Hoheitsmacht im Funktionsbereich der Rechtsetzung zu einer Zurechnungseinheit7. Während die Verteilung rechtlichen Dürfens zwischen Rechtssubjekten regelmäßig nicht als Kompetenz, sondern als subjektives Recht bezeichnet zu werden pflegt8, sind die möglichen Bezugspunkte der Zuordnung von Kompetenzen Verbände9 und Organe, aber auch Organteile. Die „vertikale“ Abgrenzung von Bund und Gliedstaaten kennzeichnet spezifisch föderal strukturierte Verfassungen, engeren Sinnes damit Bundesstaaten10, weiteren Sinnes aber auch die Glieder des hier im Vordergrund der Betrachtung stehenden Mehrebenensystems insgesamt. Alle Verbände mit Herrschaftsfunktion bilden letztlich gemeinsam die Konstituenten des legislativen Mehrebenensystems11; die Verhältnisbestimmung von staatlicher und supranationaler Ebene bildet jedoch hier den Hauptgegenstand.

a) Kompetenzordnung als Freiheitsordnung Schon im bloßen Umstand der Thematisierung von Kompetenz durch ein Verfassungssystem überhaupt ist die immanente Beschränktheit der Kompetenz – in Abgrenzung von absolutistischer Allmacht – artikuliert12. Nicht erst durch die Verteilung von Kompetenzen auf ein ausdifferenziertes Mehrebenensystem, 7 Ähnlich das Begriffsverständnis bei Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 579. Zu eng erscheint es allerdings, wenn er von „Kompetenzsubjekten“ spricht, da die Typizität des Kompetenzbegriffs gerade darin liegt, als Zurechnungseinheiten sich nicht an Rechtssubjekte, sondern an Handlungseinheiten juristischer Personen, typischerweise also Organe oder Organteile zu richten. 8 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1982. 9 Zur Typizität der Verbandsdifferenzierung als Ausdruck föderativer Ordnungsstruktur vgl. Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977, S. 128. 10 Bothe (Fn. 9), S. 128: „Was die vertikale Aufteilung angeht, so steht vielleicht im Vordergrund der spezifisch bundesstaatlichen Problematik die Aufteilung zwischen Bund und Gliedstaaten.“ Bothe sieht allerdings auch den die staatlichen Körperschaften transzendierende Dimension der Fragestellung und bezieht deshalb Gemeinden und Kreise einbeziehen. Gleiches muß für die Einbeziehung einer supranationalen Ebene gelten. Zur Strukturäquivalenz von Art. 23 und Art. 28 GG s. o. Kap. 4, IV. 3. b) bb) (2) (b). 11 Die Bedeutung der Kompetenzdebatte für die deutschen Bundesländer thematisiert D. Weiß, Zum Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, S. 1 ff. 12 Vgl. Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 581.

438

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

sondern bereits im Bedürfnis der Befassung einer Verfassungsordnung mit Fragen der Zuständigkeit kommt ein essentiales Moment von Verfassungsstaatlichkeit, die Gebundenheit aller staatlichen Gewalt an übergeordnete Rechtsprinzipien, zum Ausdruck. Kompetenzen zu normieren bedeutet die Grenzen von Wahrnehmungsbefugnissen festzuschreiben; hierin artikuliert sich die Rückbindung des staatlichen Gewaltmonopols an den freiheitsgesetzlichen Zweck von Staatlichkeit überhaupt. Dieses Konstruktionsmotiv gelangt auch im Kontext einer staatstranszendierenden Mehrebenenstruktur mit gleicher Berechtigung zur Anwendung. Auch indem das Kompetenzthema als Zurechungsfrage gekennzeichnet worden ist, offenbart sich der spezifische Bezug der Kompetenz zur Kategorie repräsentativer Verantwortlichkeit: Sie verbindet das Vermögen eines Zurechnungssubjekts zur Aufgabenwahrnehmung mit der rechtlichen Zuweisung dieser Aufgabe und kategorisiert damit den Zurechnungsträger als Instanz, in deren Verantwortungsbereich die sachgerechte Lösung staatlicher Aufgaben fällt. Die Kompetenzzuordnung in föderalen Systemen gibt Aufschluß darüber, welchem Verband welche Handlungsmacht zukommt. Die Wahrnehmungsberechtigung, die einer dieser Handlungseinheiten zugewiesen ist13, weist einen starken Entsprechungszusammenhang zu der Abschichtung von jeweiligen Freiheitssphären in Intersubjektivitätsverhältnissen auf. Dieser Freiheitsbezug der Kompetenzfrage offenbart sich, indem staatsorganisationsrechtlich hinter den Handlungsträgern die Individualsubjekte als durch diese mediatisierte Zurechnungseinheiten durchscheinen14. Dieser Gegenstand erweist sich dem Freiheitsbezug des Rechts bezogen auf die natürlichen Rechtssubjekte analog. Die basale interpersonale Aufgabe des Rechts, Freiheitssphären unter dem Kriterium immanenter Eingeschränktheit durch Wechselseitigkeit kompatibel zu machen, ist Ausgangspunkt des Vernunftanspruchs aller staatrechtlichen Institutionen. Die organisatorische rechtstheoretische Differenzierungsleistung, durch Zweckschöpfungen des Rechts Zurechnungseinheiten zu konstituieren15, welche die gewissermaßen vorgefundenen Zurechnungseinheiten der natürlichen Personen vermittelt über einen Repräsentationsmechanismus einerseits transzendieren, andererseits mediatisieren und damit im konkreten Willensbil13

Der Begriff der Handlungseinheit ist hier als unspezifischer Oberbegriff für Rechtssubjekte, Verbände und Organe, also als das weiteste denkbare Bezugssubstrat des Kompetenzbegriffs, gemeint. 14

Diesen Bezug als kategoriale Bedeutung des Repräsentationsprinzips darzulegen war ein argumentativer Hauptbestandteil des zweiten Kap. 15

Zur Entwicklung des Zurechnungsprofils und Organisationsverständnisses des Staates als juristischer Person vgl. ausf. Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person: dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, 2000.

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

439

dungsprozeß aufheben16, um den freiheitsangemessenen Zustand der Rechtsherrschaft institutionell zu festigen, verweist ihrerseits auf diesen allgemeinen Grund von Recht, auf den sich Rechtsherrschaft in allen Formen bezieht. Staatliche Herrschaft begreift sich demnach als Vernunftherrschaft, als organisatorisch diversifizierte Selbstbestimmung in Kategorien des Rechts und durch den staatlichen Institutionenzusammenhang. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern ein durch den Souverän konzipiertes Zurechnungssubjekt zur gemeinsamen verbindlichen Artikulation gemeinsamer Regeln des Rechtsprinzips, dadurch zugleich rückgebunden an die ihm zugrunde liegenden Konstituenten. Den vordergründig eher abstrakt-rechtstheoretischen Charakter verlieren solche Erwägungen zum Freiheitsbezug der Kompetenzfragestellung, wenn man sie auf die hier gegenständlichen Zurechnungsträger Staat und suprastaatlicher Verband hin aktualisiert. Staat und supranationale Ebene mediatisieren die Freiheit des Einzelnen in unterschiedlicher Intensität und in Bezugnahme auf unterschiedliche Kollektividentitäten. Die unterschiedlichen Repräsentationsoptionen sind in der in den vergangenen Kapiteln dargestellten Weise verschieden ausgeprägt. Indem die Kompetenzverteilung diesen Unterschieden Rechnung trägt, ja diese zur Leitlinie der Abgrenzung beider Verbände erhebt, affirmiert die Kompetenzordnung deshalb das Repräsentationsniveau, bringt den freiheitlichen Gehalt der Handlungsform des Gesetzes zur Geltung und drängt auf die Ausweitung von Repräsentationsformen, die der parlamentarischen nicht ebenbürtig, aber angenähert sind, als Voraussetzung für das kompetenzielle Erstarken des supranationalen Verbandes. Damit emanzipiert sich die Kompetenzfrage von bloßem Zweckdenken, wie es in der Betrachtung der Handlungsmacht des europäischen Verfassungsverbands bislang vorherrschend war17, und führt mit stärkerer Unmittelbarkeit die Zuordnung von Rechtsmacht auf die repräsentierten Zurechnungssubjekte zurück. Wahrnehmungsberechtigungen dienen nicht (allein) der möglichst effektiven Verwirklichung von Zwecken, sondern ihr Hauptzweck ist die organisatorische Ermöglichung von Formen rechtlicher Selbstbestimmung durch verfaßte Einheiten. So wie sich die Kompatibilisierung der Freiheitssphären von Individualsubjekten als das prinzipielle Anliegen von Recht überhaupt18 erweist, trägt deshalb die Vertei-

16

Dazu oben, Kap. 2, III. 2.

17

Zu den Grenzen dieses funktionalen Denkens vgl. oben, Kap. 2, I. 4. b).

18

Paradigmenprägend mit dem allgemein bekannten Rechtsbegriff Kant, MdS, RL, § B, VI, 230: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“; vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 29: „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

lung von Wahrnehmungsberechtigungen auf Verbände mittelbar der gleichen Zwecksetzung Rechnung. Es muß somit zur Vergegenwärtigung dieser Bezüglichkeit und zur Vermeidung einer Unterbestimmung des Problemniveaus stets mitgedacht bleiben, daß die Frage der Regelungszuständigkeit selbst in komplexen Organisationszusammenhängen sich nicht zur Verfügungsmasse technischer Prärogativen verflüchtigt, sondern um der Artikulation des (freiheitsbezogenen) Eigengewichts der hinter der handelnden Organisation sich institutionell vereinigenden Zurechnungseinheit willen stattfindet.

b) Integrierte Struktur von Organ- und Verbandsebene im supranationalen Mehrebenensystem Die Ausgangsfragestellung einer schlüssigen Kompetenzverteilung auf mehrere hoheitsgewaltausübende Ebenen scheint primär abzuzielen auf eine verbandskompetenzielle Ordnungsvorstellung19, d. h. das Anliegen schlüssiger Kompetenzverteilung zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Legislativgegenständen20. Schon dieses der staatsrechtlichen Dichotomie entnommene Denken in Alternativen geht aber, soweit es die Möglichkeit einer Betrachtung von Organund Verbandskompetenzen als isolierten Teilfragestellungen impliziert, sowohl an der strukturimmanenten Problematik der Verhältnisbestimmung von Gemeinschafts- und Staatsrecht gerade in Anerkennung supranationaler Strukturbesonderheiten als auch am Kern des Anspruchs einer handlungsformorientierten Kompetenzordnung vorbei. Bereits 1981 hat Pescatore betont, daß Organkompetenzkonflikte in der EG häufig in Wahrheit Ausdruck verbandskompetenzieller Unstimmigkeiten sind. Gemeinschaftsinterne organschaftliche Kompetenzbalance und Verbandskompetenzbalance sind miteinander verzahnt21; 19 Die Begrifflichkeit der Verbandskompetenz für das supranationale Gebilde EU zu verwenden hat sich mittlerweile etabliert, vgl. von Bogdandy/Nettesheim in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 3b, Rdnr. 3; von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 444; Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, S. 484 ff.; Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 693. 20 Vgl. auch Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, FCE-Spezial 4/2000; von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441 ff., bezeichnen diesen Teil der Kompetenzfragestellung als „vertikale Kompetenzordnung“. 21 Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht – Ein Kap. Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geord-

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

441

die gemeinschaftsrechtliche Wahrnehmungsbefugnis ist dem primärrechtlichen Ermächtigungsprinzip nach über die Zuweisung von Organkompetenzen vermittelt und erschließt sich mittelbar aus dieser22. Dies gilt nicht allein deshalb, weil die handlungsformbezogene Zuweisung von Wahrnehmungsberechtigungen davon abhängt, welche Organe in welchem Maße am Zustandekommen der in Frage stehenden Rechtsakte beteiligt sind und wie sich der legislativ zu bewältigende Problembestand verteilt auf unterschiedliche verbandsinterne Normebenen. Hierin dokumentiert sich auch die Strukturbesonderheit der Einbeziehung einer nichtstaatlichen, Rechtsherrschaft ausübenden Ebene in ein legitimatorisch schlüssiges Mehrebenengesamtsystem23. Typisch für Kompetenzverteilung im Bundesstaat ist die Existenz von mehreren hoheitsausübenden Ebenen, die jeweils Staatsqualität haben und bei denen parlamentarisch-repräsentative Partizipation auf jeder Ebene zum Vollbild entwickelt ist. Die hierin angelegte Gleichzeitigkeit von Regelsetzung und Legitimation erübrigt die Herstellung einer Abhängigkeit der Kompetenzverteilungsprinzipien von der Legitimitätsfrage. Bezogen auf die bundesdeutsche Rechtsordnung – ebenso wie jedes andere bundesstaatliche Beispiel der Rechtswirklichkeit – können weder der Bund noch die Länder legitimitätstheoretische Präponderanz verbuchen24. Typisch für die verselbständigten supranationalen Legislativbefugnisse ist hingegen das Zurückbleiben von Legitimitätsbedingungen hinter dem Rechtsetzungsumfang; diese Ungleichzeitigkeit von Organisationsstruktur und Befugnisumfang ist Ausdruck der unter dem Verfassungsparadigma der Komplementarität fortbestehenden genetischen Abhängigkeit des Gemeinschaftsrechts von staatlicher Rechtssubjektivität und hierin liegender souveränitätstheoretischer Inferiorität des Gemeinschaftsrechts. Mit der bereits dargelegten Nichtstaatlichkeit als Perspektive der Verfassungsfinalität für das Gemeinschaftsrecht ist die legitimitätstheoretische Ungleichzeitigkeit der Verbände Staat und net, FS Kutscher 1981, S. 319, 328; Hans Georg Fischer, Die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZG 2000, S. 166; stärker auf die Betonung von Unterschiedlichkeiten bei der Fragen gerichtet von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441 ff., 444; zum Organkompetenzgefüge Horn, Die horizontale Kompetenzverteilung in der Europäischen Union. Faktoren und Alternativen, Recht und Politik 2002, S. 211-219. 22 von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441, 444. 23 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999. 24 Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, 1997, S. 81 ff., 102 f., hält deshalb föderale Partizipationsorgane wie den Bundesrat in legitimatorischer Hinsicht für gegenstandslos.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Union als dauerhaft impliziert und fest in den gemeinschaftlichen Verfassungsbestand implementiert. Die verfassungsparadigmatischen Kernelemente der Supranationalität – partikulare Verselbständigung von Rechtsetzungsbefugnissen unter Festhalten am Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit und der „Herren der Verträge“ – verstellen für den acquis communautaire den konstruktiven Ausweg aus dem legitimitätstheoretischen Ungenügen des Gemeinschaftsrechts, seinerseits den staatrechtlichen Maßstab, an dem er gemessen wird, zum Vollbild auszuprägen. Kompetenzverteilung sieht sich daher mit Blick auf diese Ungleichzeitigkeit stets zugleich mit einer auf das Repräsentationsdefizit des status quo europäischer Sekundärrechtsetzung bezogenen Kompensationsaufgabe konfrontiert. Dieser Kompensationsanforderung kann nicht allein durch die möglichst weitgehende Zuweisung von Regelsetzungsbefugnissen zur – legitimationstheoretisch unmittelbarer ausgestalteten – Staatsebene, also durch einen verbandskompetenziellen Abschichtungsmechanismus begegnet werden, sondern auch durch Modifikation des Binnenkompetenzgefüges in einer Weise, die originär-europäische Repräsentation stärkt. Daß solche Möglichkeiten auch in einer dem Rechtsprinzip genügenden Weise zur Verfügung stehen, wurde im vorangegangenen Kapitel entwickelt25. Dadurch stehen beide Gesichtspunkte in einem engen Interdependenzverhältnis. Je stärker gemeineuropäische Repräsentation institutionell ermöglicht wird, je einschneidender also die binnenkompetenzbezogenen Reformvorschläge profiliert sind, desto weniger strikt muß die Handhabung einer gemeinschaftsrestringierenden Kompetenzverteilung auf Verbandsebene ausgeprägt sein. Umgekehrt erhält die positivrechtliche Forderung strikter Beachtung der Unionssubsidiarität eine um so stärkere legitimitätstheoretische Dimension, je fragmentarischer die gemeinschaftsrechtlichen Repräsentationsdimensionen ausgeprägt sind, je stärker die Sekundärrechtsetzung also am Leitbild koordinativ-exekutivischer Rechtsetzung ausgerichtet bleibt und je unvollkommener die Umsetzung der Konstruktionsanforderung einer im Legislativprozeß vergegenwärtigten Rechtsadressatenschaft erfolgt. Die Prioritätensetzung zwischen beiden Konstruktionsalternativen ist primär der Prärogative der europäischen Verfassungspolitik überantwortet. Auch im Gemeinschaftsrecht kann die Frage nach interner Aufteilung von Wahrnehmungsberechtigungen auf Gemeinschaftsorgane unterschieden werden von derjenigen der Verteilung von Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten. Eine solche isolierte Betrachtung beider Teilfragen mag in der rechtswissenschaftlichen Literatur sogar eher die Regel als die Ausnahme

25

Oben, Kap. 4, IV.

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

443

sein26. Diese Betrachtung ist jedoch nicht in der Lage, die Interdependenz beider Teilfragen mit Blick auf das Anliegen schlüssiger Repräsentationsverwirklichung angemessen zur Geltung zu bringen. Beide Teilordnungserwägungen (bezogen auf Organ und Verband) stehen vielmehr in einem Verhältnis wechselseitiger Bezogenheit und Abhängigkeit, so daß der unionsinterne Ordnungsentwurf (und die in ihm enthaltenen Prinzipienkonkordanzen) in seiner Gültigkeit davon abhängig ist, wie die Verteilung von Union und Mitgliedstaaten gedacht ist, und umgekehrt. Deshalb kann die Frage der Verteilung von Kompetenzen zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten nicht beantwortet werden, ohne zugleich die Verteilung auf Sekundärrecht und Primärrecht mit zu untersuchen und in seiner Wandelbarkeit de lege ferenda zu reflektieren.

c) Verfügungsspielräume des Kompetenzmodells für politische Prärogativen Da die im Rahmen dieser Betrachtung vorzunehmende positivrechtliche Bestandsaufnahme kein Selbstzweck ist, sondern als Grundlage zum Aufzeigen zukunftsbezogener Entwicklungsoptionen dient, muß die Kompetenzfrage in ihrer Struktur durch Prinzipien vorgegeben werden, die als den Legitimationshintergrund differenzierter Handlungsformen reflektierende Verteilungsregeln ausweisbar sind. Die Kompetenzregeln ergeben dann ein differenziert abgestuftes Handlungsformprofil, das von legitimationstheoretischer Unbeschränktheit des Regelungsvermögens beim parlamentarischen Gesetz bis zu beschränkten, aus Legitimationserwägungen heraus eingegrenzten Wahrnehmungsberechtigungen mittels derivativer exekutivischer Rechtsetzungsformen reicht. Wenn der Schlüssel der Kompetenzverteilung in der Bezogenheit der zur Verfügung stehenden Handlungsformen auf das unterschiedlich ausgeprägte Repräsentationsvermögen verschiedener Hoheitsebenen liegt27 und dem Staatsrecht prinzipiell die vollkommenere Verwirklichung dieses Prinzips eigen ist28, ergeben sich allerdings für die Kompetenzordnung de lege ferenda unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf ein konstatiertes Repräsentationsdefizit. Eine als repräsentationsdefizitär beschriebene Handlungsformebene kann entweder

26 Vgl. etwa von Bogandy/Bast (Fn. 1), S. 441 ff., 444: „Verbandskompetenz und Organkompetenz beschreiben so unterschiedliche Verfassungsfragen und Konfliktlagen“. 27 Zu diesem Anspruch vgl. Kap. 1, I. 2. 28 Vgl. zu den strukturbedingten Repräsentationsdefiziten des Gemeinschaftssekundärrechts, Kap. 4, I. 1.

444

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

kompetentiell restringiert oder aber in ihrem Repräsentationsprofil ausgeweitet werden. Diese Interdependenz bedingt eine erhebliche Flexibilität, mittels derer die politische Dimension der Fortentwicklung der Europäischen Union mit den hier getroffenen Feststellungen in Abgleich gebracht werden kann. Kein Kompetenzkatalog in concreto, kein abschließender detaillierter Kompetenzvorschlag, soll aufgezeigt werden, sondern lediglich Unverfügbarkeiten als Grenzbedingungen der zuvor entwickelten Legitimitätsprämissen.

d) Wesentlichkeitstheorie und Subsidiaritätsprinzip als Fundamentalprinzipien einer europäischen Kompetenzverfassung Nach der hier vertretenen These bedarf eine den Legitimitätsbedingungen Rechnung tragende Mehrebenenordnung grundlegender Kompetenzprinzipien sowohl für die verbands- als auch für die organkompetentielle Fragestellung. Vorgeschlagen wird hier eine Fundamentalbedeutung der beiden Hauptprinzipien der Wesentlichkeitstheorie und des Subsidiaritätsprinzips. Die unionsinterne Strukturierung der Legislativkompetenzen steht danach unter dem Leitprinzip einer unionsangepaßten Applikation der Wesentlichkeitstheorie, für die föderale Balance von Union und Mitgliedstaaten steht das Subsidiaritätsprinzip in einer über das geltende Unionsrecht (Art. 5 Abs. 2 EG) hinausgehenden, am Ende des Kapitels zu entwickelnden Lesart. Diese beiden Hauptprinzipien dienen nicht der Verdrängung der bisherigen Gemeinschaftskompetenzordnung, die durch weitere zum Teil fundamentale Prinzipien geprägt ist29. Diese sind aber, wie zu zeigen ist, entweder selbstverständlich für die Gemeinschaftsverfassung oder nicht instruktiv für die zu leistende Weiterentwicklung der Europäischen Union, so daß der Hauptimpuls für die hier entwickelten Kompetenzmaßstäbe von den beiden genannten Prinzipien ausgeht. Die Herstellung von Bezügen zur geltenden Kompetenzstruktur ist im folgenden ebenfalls zu entwickeln. Die These ist abhängig davon, daß der kategoriale Gehalt beider Prinzipien – in der Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden – dargelegt und in seiner Anwendbarkeit auf das hier gegenständliche Problem aufgezeigt wird. Insbesondere hinsichtlich der Wesentlichkeitstheorie muß hierfür nicht nur herausgearbeitet werden, wie die Wesentlichkeitstheorie die zuvor entwickelten insti29

Vgl. dazu unten, Kap. 5, II., die Bestandsaufnahme zum geltenden Kompetenzrecht der Gemeinschaft; zur Bewertung von Defiziten vgl. auch „Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten – Gegenwärtiges System, Problemstellung und zu prüfende Optionen“, Dok. CONV 47/02.

I. Zusammenhang von Kompetenz und Handlungsformsystem

445

tutionellen Legitimitätsvorstellungen in ein Kompetenzverteilungspostulat angemessen umsetzt. Vielmehr ist schon der staatsrechtlichen Herkunft nach erläuterungsbedürftig, ob und inwieweit ein der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprungenes Konstrukt30, das lediglich subsidiär zu den ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln die Reichweite des Gesetzesvorbehalts zu dienen bestimmt ist, einer Erweiterung zum Grundprinzip legislativer Handlungsformen zugänglich ist und zudem, weshalb dieses genuin staatsrechtliche Prinzip sinnvoll anwendbar auf supranationale Zusammenhänge ist. Daß die hier angestrebte Systematisierung von Kompetenzprinzipien auf den plakativen Ausdruck der Wesentlichkeitstheorie zurückgreift, ist dabei nicht als spezifische Referenz an einen eingeschränkten Systemkontext genuin bundesdeutscher Verfassungsrechtsprechung zu verstehen. Es ist nicht die Intention dieser Untersuchung, gerade auf einem – zudem umstrittenen – dogmatischen Fragment der Verfassungsexegese zur Verhältnisbestimmung von Legislative und Exekutive eine allgemeine kontextübergreifende Theorie zu gründen. Weniger die Wesentlichkeitstheorie selbst, als ein in ihr artikulierter verallgemeinerungsfähiger Ansatz, ein Verhältnis wechselseitiger Bezüglichkeit zwischen Regelungsgegenständen eines bestimmten Bedeutungsgrades und der obligatorischen Zuweisung solcher Regelungsgegenstände zu einer legislativen Handlungsform mit einem spezifischen Repräsentationsgehalt zu konstruieren, bildet den Grund ihrer Betrachtung. Diese Anleihe versteht sich als Beitrag zur Entwicklung zu einer eigenständigen, unionsspezifischen Vorbehaltsdogmatik. Einer Einordnung von Wesentlichkeitstheorie und Subsidiaritätsprinzip, die ihren kontextunabhängigen fundamentalen Aussagegehalt so bestimmt, daß sie die Applikation auf einen supranationalen Zusammenhang ermöglicht, geht deshalb eine kurze, bewußt auf die Akzentuierung von Hauptaspekten konzentrierte Bestandsaufnahme vorfindlicher Strukturen von Gemeinschaftsrechtskompetenzen voraus. Im Anschluß daran sind die eigentlichen konstruktiven Optionen zu entfalten, die eine Konkordanzbildung aus beiden Prinzipien ermöglichen. Schließlich sind diese in einem Ausblick mit den bislang bereits diskutierten Fortentwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen.

30

Hierzu ausführlich unten, III. 2.

446

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

II. Bestandsaufnahme: Die Grundstrukturen der gemeinschaftsrechtlichen Legislativkompetenz im geltenden Recht

1. Divergenzen in der Grundstruktur von Gemeinschafts- und Staatskompetenz

a) Die Gemeinschaften als Finalprogramm Kompetenzordnungen herkömmlichen staatlichen Verständnisses sind von der Zuweisung von Mitteln, d. h. Handlungsformen, weniger von dezidierten Zielvorgaben geprägt. Nach Maßgabe des Grundgesetzes ist der deutsche Staat „in seinen Handlungsweisen, nicht in seinen Aufgaben verfaßt“31. Dem entspricht eine ihren Legitimitätsgrundlagen zufolge begrenzte Zahl von Handlungsformen zur Umsetzung der grundsätzlichen Allzuständigkeit staatlicher Gemeinwesen in der Regelung von Sachgebieten. Die Unabgeschlossenheit staatlicher Aufgaben ist Ausdruck staatlicher Souveränität; in der Allzuständigkeit spiegelt sich das Zuhöchstsein des Staates als Entscheidungsinstanz. Ziele oder Aufgaben kompetentiell festzuschreiben ist nur dort eine Verfassungsnotwendigkeit, wo in dieser Enumeration sich zugleich der Umstand einer grundsätzlichen Ziel- oder Aufgabenbegrenztheit dokumentiert. Staatliche Aufgabenunbegrenztheit aber ist mit dem Staatsbegriff notwendig verbunden32.

31 Kirchhof, HdBStR Bd. VII; Vgl. zur Unterscheidung von Aufgabe und Befugnis bei Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 579; zur Komplexität des Kompetenzbegriffs insgesamt auch ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 21; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1982, S. 42 f.; zur Finalstruktur der Gemeinschaftskompetenzen Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 196 f.; Dashwood, The limits of European Community Powers, 21 ELRev. 113 (1996). S. 21; Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11, 16 f.; zurückhaltend Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 40 f.; ebenso von Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441, 446: diese Kategorisierung sei terminologisch nicht geglückt. 32 Dem widerspricht es nicht, daß oben, I. die Thematisierung von Kompetenz als essentialer Ausdruck von Verfassungsstaatlichkeit gekennzeichnet worden ist. Mit der grundsätzlichen Allzuständigkeit des Staates ist hier nämlich eine Allzuständigkeit in sachgebietsbezogener Hinsicht angesprochen, mit der keine befugnisbezogene Allzuständigkeit einhergeht. Erst die letztere würde den Staat zum absolutistischen Staat

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

447

Zu diesem Ordnungsprinzip staatlicher Kompetenzverteilung bildet die in den Gemeinschaftsverträgen verankerte Kompetenzordnung nicht nur im Beginn der Gemeinschaftsentstehung, in der ersten Zuweisung sektoraler Einzelkompetenzen durch die Römischen Verträge33, sondern auch nach seiner gegenwärtigen Ausprägung einen deutlichen strukturellen Unterschied. Zwar existiert in den Verträgen mittlerweile ein dem staatsrechtlichen Muster in bestimmten Grundzügen vergleichbares Organisationsrecht mit der Regelung von Organen, Organbefugnissen und auch einer Typisierung der Handlungsformen EG-Verordnung, Richtlinie, Stellungnahme und Empfehlung bis hin zu den komplexen subdelegierten Willensbildungsprozessen der Komitologieverfahren in bezug auf Durchführungsvorschriften34. Diese Organisationsstruktur bildet, wie gezeigt, einen konstitutionellen Hauptgehalt des geltenden Vertragsrechts35. Auch hat sich das einseitig-ökonomische Integrationsprofil jedenfalls durch die Vertragsrevisionen der 90er Jahre nahezu in Richtung einer Gesamtheit ausdifferenziert36. Subsidiarität im Sinne des Art. 5 EG und Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung werden mit Recht als Ordnungsprinzipien des Gemeinschaftsrechts bezeichnet37, die zu den Staatsstrukturprinqualifizieren, während seine Aufgabenunbeschränktheit ihn lediglich als Problemlösungsuniversalisten kennzeichnet. 33 Zur Geschichte der Europäischen Gemeinschaften Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 19 ff. m.w.N. 34 Hierzu im Überblick Oppermann (Fn. 33), Rdnr. 638, 657 f. 35 Kap. 3, III. 2. 36 Die zeitliche Zuordnung des Übergangs von einem eher zweckverbandsähnlichen zu einem dezidiert politischen Charakter der Gemeinschaften wird uneinheitlich beurteilt. Die politische, nicht mehr nur sektoral-zweckbezogene Qualität der Gemeinschaften betonen bereits Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Ipsen 1977, S. 595; ders., Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Döhring, 1989, S. 179, 195 ff. sowie Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 53; die Verdichtung zur politischen Gemeinschaft artikuliert im neueren Schrifttum insbesondere Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 74 („politische Union“); ders., S. 65, kennzeichnet die Europäische Union als „Rechtsgemeinschaft“ bzw. als „Rechtsetzungsgemeinschaft“ (S. 66); hierzu auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 83. Vgl. zu den von der Zweckverbandslehre Ipsens ausgehenden legitimationsstrukturellen Vorgaben auch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 176 f. 37 Dazu statt vieler ausführlich Ronge, Legitimität durch Subsidiarität. Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation einer überstaatlichen politischen Ordnung in Europa, 1998, mit zahlreichen weiterführenden Nachweisen; zur kompetenzstrukturierenden Bedeutung auch Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht – Zu den Forderungen der deutschen Bundesländer im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, DVBl. 1995, S. 1265; von Borries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, S. 263 ff.; Müller-Graff, Binnenmarkt und Subsidiaritätsprinzip?, ZHR 1995, S. 34 ff.

448

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

zipien eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen38 und deren Fortentwicklung in Übereinstimmung mit den legitimatorischen Vorüberlegungen der Anspruch dieses Kapitels ist. Es dominiert jedoch als regelungstechnisches Grundprinzip die Zuweisung von Aufgaben39, bezogen auf die den Organen geeignete Umsetzungsmaßnahmen mit einer vergleichsweise ungewöhnlich großen Umsetzungsprärogative zur Verfügung stehen. Befugnisnormierung und Aufgabennormierung sind auch im EG-Vertrag kategorial unterschieden; allerdings liegt der Akzent in dieser gemeinschaftsrechtstypischen „Finalstruktur“40 auf der Artikulation von Aufgaben (in der Terminologie des Vertrages „Politiken“). Die Befugnisse sind grundsätzlich Resultat der vorgegebenen Unionszwecke, wie sich bereits aus der spezifischen Terminologie der Verträge erkennen läßt. Zum Teil ist im Schrifttum bestritten worden, daß die Kompetenzordnungen von Staat und Gemeinschaft unterschiedlich strukturiert seien. So weist etwa Fehling41 darauf hin, daß auch das Grundgesetz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit Sachgebiete typisiere, die sich als final orientierte Regelungsfelder auffassen ließen42. Eine insoweit zu konstatierende Ähnlichkeit berührt indes nicht die Feststellung, daß das Grundgesetz die legislative Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern aus einem beide Seiten berücksichtigenden Regelungszugriff normiert, das konkurrierende Kompetenzverhältnis von Gemeinschaftsrecht und Recht der Mitgliedstaaten sich hingegen als bloß subtraktives Resultat von verbliebenen Regelungskompetenzen auf staatlicher Ebene darstellt, die der Gemeinschaft nicht übertragen worden sind.

38 Dazu ausführlich Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 237 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 565 ff. 39 Vgl. T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999, S. 19; ebenso Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 582; Dashwood, The limits of European Community Powers, 21 ELRev. 113 (1996). S. 21; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 24 ff. 40 Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 40. 41 Fehling (Fn. 40), S. 41. 42 Namentlich wird dies auf Art. 74 Nr. 16 GG bezogen; vgl. zum Befund allgemein auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188: „strukturell keine wesentlichen Abweichungen zu Verteilungsmodellen in anderen föderalen Systemen“; ebenso Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 576, 585.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

449

b) Fehlendes bipolares Konzept Mit der Finalstruktur der Union hängt ein weiterer gewichtiger Aspekt struktureller Insuffizienzen des Mehrebenengefüges eng zusammen. Dieser besteht in der fehlenden bipolaren Ordnungsvorstellung als Grundlage des primärrechtlichen Kompetenzsystems. Kompetenzverteilungsprinzipien des Gemeinschaftsrechts bisheriger Prägung sind ausweislich der vorangegangenen Erörterungen weder befugnisbezogen noch überhaupt vom Gedanken einer dichotomischen Abgrenzungsnotwendigkeit her geleitet. Die primärrechtlichen Verträge zielen nicht auf eine abgestufte Verbandsdifferenzierung zwischen Staaten und Union und schon gar nicht auf die konzeptionelle Umsetzung einer Konkurrenzsituation legislativer Befugnisse in Form unterschiedlicher Konkurrenzbewältigungsformen, die der deutschen Konkurrenztrias von ausschließlicher, Konkurrenz- und Rahmenkompetenz im Sinne der Art. 72 ff. GG nahekommen könnte43. Sie sind das Produkt einer mehrere Jahrzehnte umgreifenden Integrationsentwicklung, in deren Lauf die jeweils wandlungsunterworfenen, politisch konsensfähigen Leitvorstellungen hinsichtlich Form, Sachgegenstand und Umfang gemeineuropäischer Funktionenübernahme ihren Niederschlag in entsprechenden Unionskompetenzen gefunden haben. Die hieraus resultierende Struktur folgt nicht sachlogischen Kriterien, sondern stellt das Ergebnis eines jahrzehntelangen politisch-rechtlichen Verhandlungsprozesses dar, der von der Suche nach konsensfähigen Lösungen und von Kompromißbereitschaft geprägt war44. Diese schrittweise Ermächtigung hat keinen Systemcharakter; sie ist nicht getragen von einer einheitlichen, abgeschlossenen Ordnungsvorstellung, die ihren kohärenten Ausdruck in einem prinzipiell konzipierten Befugnis- oder Sachgegenstandskatalog gefunden hat. Hierin liegt eine Stärke, was den Integrationsfortschritt betrifft; das Fehlen eines „starren“ Abgrenzungsmechanismus – die hiermit befaßte Arbeitsgruppe des Verfassungskonvents spricht von einem „materiellen“ Kompetenzabgrenzungskonzept45 – bedingt eine stärkere Anpassungsfähigkeit an sich verän-

43 Zu den gleichwohl bestehenden Ansätzen einer gemeinschaftsrechtsimmanenten Differenzierung nach ausschließlichen und nichtausschließlichen Kompetenzen und ihrer Berechtigung vgl. unten im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip Kap. 5, IV. 3./4. 44 So auch Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 585; Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 218 f.; Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 651. 45 „Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten – Gegenwärtiges System, Problemstellung und zu prüfende Optionen“, Dok. CONV 47/02, S. 6.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

dernde politische Vorgaben. Die fortschreitende Erweiterung von Unionskompetenzen, die Implementation neuer Sachgegenstände (wie die Umweltpolitik und der Beschäftigungspakt durch Maastricht), die Überführung von Teilen des aquis communautaire aus einem intergouvernementalen in einen supranationalen Status (wie den Besitzstand der Schengener Abkommen durch das Implementationsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag46), das korrespondierende Erstarken von gemeinschaftsrechtlichen Verbandskompetenzen auf denjenigen Feldern, die in intensivere Vergemeinschaftungsformen überführt worden sind, reflektieren den organischen Charakter von politischer Konsensfindung, wandlungsunterworfener Leitbildvorstellung und grundsätzlicher Unabgeschlossenheit und Zukunftsoffenheit des Integrationsverlaufs. Negativ formuliert dokumentieren sie in dieser dynamischen Zukunftsoffenheit und Unabgeschlossenheit jedoch zugleich das fehlende Konzept einer Befugnisbalance zu den Mitgliedstaaten47. Das mag durchaus als hinnehmbarer Tribut an die Notwendigkeiten erscheinen, neue Vergemeinschaftungsanliegen in rechtliche Formen zu gießen; die Bestandsaufnahme impliziert diesbezüglich keine statisch orientierte Kritik an der fehlenden Abgeschlossenheit dynamisch ausgelegter europäischer Gemeinschaftsermächtigung. Sie weist die Kompetenzermächtigungstechnik aber als defizitär gemessen an einem Anspruch aus, die Verträge bereits de lege lata als Verfassungsgrundlage einer bipolaren Ordnungsstruktur zu begreifen. Dem steht es nicht entgegen, daß vereinzelte negative Bestimmungen, die einen expliziten Ausschluß gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzen vorsehen, in der Tat die legitimen selbstbestimmungsrelevanten Eigenverantwortlichkeiten der beteiligten Nationalstaaten zur Geltung bringen. Wenn demgegenüber darüber hinaus teilweise behauptet wird, daß eine negative Kompetenzregelung auch darin liegen könne, daß eine bestimmte Befugnis einem anderen kompetentiellen Zurechnungssubjekt zugeordnet ist und damit im Umkehrschluß anderen potentiellen Zurechnungssubjekten nicht zur Verfü-

46 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den institutionellen Rahmen der Europäischen Union zum Vertrag von Amsterdam vom 18. Juni 1997, ABl. Nr. C 340 vom 10. 11. 1997, S. 173 ff.; dazu auch Müller-Graff, Justiz und Inneres nach Amsterdam – Die Neuerungen in erster und dritter Säule, Integration 1997, S. 271 ff. 47

Ebenso Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 9: „eindimensionales“ Kompetenzsystem; a. A. aber Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866, und Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 586, die davon ausgehen, daß die politischen Kompromisse der vergangenen Jahrzehnte eine differenzierte Kompetenzstruktur ergeben hätten.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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gung steht48, beschreibt dies lediglich das faktische Korrelat einer positiven Zuweisung, setzt sich aber nicht mit der Frage auseinander, ob diese positive Zuweisung die implizierte negative Dimension als solche reflektiert und zu einem konzeptionellen Niederschlag in der Regelung geführt hat. Im Hinblick auf diesen Effekt hat insbesondere Scharpf herausgearbeitet, daß eine gleichgewichtige Kompetenzstruktur, die dem Eigengewicht beider konkurrierender Verbände angemessen Rechnung trägt, von einer Thematisierung der „Zweipoligkeit“ dieser Beziehung abhängt49. Demgegenüber behauptet Mayer, die Zweipoligkeit sei auch in den von ihm sog. „ebenentranszendenten“ negativen Kompetenzbestimmungen angelegt und es ginge lediglich um ihre Sichtbarmachung. Diese Argumentation ist zwar in der Logik seiner Begrifflichkeit angelegt, im übrigen aber bloße Behauptung, die auch in der Historie des Integrationsprozesses keine direkte Stütze findet. Bei der Kategorisierung von Mayer bleibt fraglich, ob damit nicht der Begriff der negativen Kompetenzen entleert wird, da die bloße Restriktion einer kompetenzausübenden Ebene nicht notwendig von einem Konzept getragen ist. Eine negative Kompetenzbestimmung, also eine kompetenzrestringierende oder -ausschließende Norm, kann unterschiedlichen Notwendigkeiten Rechnung tragen: Sie kann – im Falle kompetenzeinschränkender Grundrechtsgewährleistungen – Ausdruck der immanenten Grenzen hoheitlichen Handelns gegenüber den Rechtsadressaten sein und das Staat-Bürger-Verhältnis reflektieren50; sie kann eine Selbstrestriktion aus eher zweckmäßigkeitsbezogenen Gründen darstellen und darin die immanente Begrenztheit rechtlich vermittelten Steuerungsvermögens gegenüber gesellschaftlichen Selbstregelungsprozessen und normvermeidendem Handeln kategorial zur Geltung bringen; und sie kann schließlich drittens aus Rücksichtnahme auf eine andere kompetenzausübende Ebene begrenzend ausgestaltet sein. Nur im letzten Fall ist Kompetenzbegrenzung mit einem bipolaren Konzept verbunden. Die Annahme einer durchgängigen dichotomischen Ordnungsvorstellung aufgrund der bloßen Existenz negativer Kompetenzbestimmungen unterbestimmt den für einen zweipoligen Kompetenzcharakter vorauszusetzenden konzeptionellen Hintergrund positiver wie negativer Kompetenzregeln. Hiergegen spricht auch die außerordentliche Zurückhaltung, mit der der EuGH die dem Gemeinschaftsprimärrecht angeblich inhärenten negativen

48

Diese Konstruktion bezeichnet Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 590 ff., sowie ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 26 ff., als „ebenentranszendente Kompetenzschranke“. 49 Scharpf, Kann es in Europa eine stabile föderale Balance geben? in: Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, 1991, S. 415 ff, 422. 50 Dazu die Darstellung von Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 590 ff., insbesondere in bezug auf die kompetenzbegrenzende Wirkung der Binnenmarktfreiheiten.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Kompetenzen zur praktischen Restriktion gemeinschaftlicher Rechtsetzungstätigkeit instrumentalisiert hat51. Allerdings ist zuzugestehen, daß es letztlich schwer sein dürfte, für die gegenlautenden Postulate der Konzeptgetragenheit oder Konzeptlosigkeit vorhandener Restriktivkriterien im einzelnen konkrete Anhaltspunkte im geltenden Recht zu finden.

c) Resultat: Friktionen im kompetenziellen Gesamtsystem

aa) Unionskompetenzen als Querschnittskompetenzen Insbesondere durch die divergenten Kompetenznormierungs- bzw. -zuweisungstechniken von staatlichem und gemeinschaftsrechtlichem Regelungssystem52 kommt es zu normativen Friktionen zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Regelsetzungsbefugnissen, die als Kernproblem der vorliegenden Kompetenzfragestellung angesehen werden können. Dies liegt nicht daran, daß man eine pauschale Überlegenheit eines sachgebietsbezogenen Kompetenzregelungssystems gegenüber einem aufgabenbezogenen Ansatz konstatieren könnte; insofern ist Franz Mayer zuzugeben, daß beide Modelle mehr oder weniger gelungen ausfallen können53 und eine in der Wahl des Kompetenznormierungsansatzes liegende Eignungspräponderanz nicht feststellbar ist54. Entscheidend dürfte vielmehr sein, daß die Legislativkompetenzen des Gemeinschaftsrechts durch eine von den integrationspolitischen Finalprogrammen der Verträge vorgegebene Querschnittsstruktur gekennzeichnet sind, die mit dem Kompetenznormierungssystem mitgliedstaatlicher Verfas-

51

Vgl. dazu etwa Hans Georg Fischer, Die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZG 2000, S. 169. 52 Demgegenüber betont Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 41, die Verwandtschaft von Gemeinschaftsrecht und bundesdeutschem Kompetenzverteilungssystem. Auch Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 185 ff., veranschlagt diese Strukturdifferenz zwischen Staats- und Gemeinschaftsrecht eher gering. Ähnlich Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 585; Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188. 53 Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 579 f. 54 So hält Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866, 872, die finale Normierungstechnik sogar für leistungsfähiger. Ähnlich Magiera, Zur Kompetenzneuordnung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, Integration 2002, S. 274: geringere Leistungsfähigkeit des Finalkonzepts zweifelhaft; a. A. Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, Der Staat 41 (2002), S. 357, allerdings ohne ausführliche Begründung allgemein auf der Grundlage einer für inhaltlich leer erklärten funktionalen Kompetenzzuordnung.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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sungsordnungen wie der des Grundgesetzes nicht deckungsgleich ist55. Dies bedingt eine spezifische Überlagerung von Gemeinschafts- und Staatslegislation: Nicht nur, daß die Gemeinschaftsbefugnisse aufgrund ihrer Ableitung von der staatlichen Rechtsetzungsmacht mit staatlichen Gesetzen in latenter Konkurrenz stehen56, so daß gemeinschaftsrechtliche Normierungen gesetzliche Regelungen verwandten Inhalts „überschreiben“, wie beispielsweise im Wettbewerbsrecht, wo das Gemeinschaftsrecht auf diese Weise zugleich erwünschterweise einen erheblichen Harmonisierungssog für die korrespondierenden nationalstaatlichen Regelungen mitbegründet. Bedingt durch die Finalität der Gemeinschaftsverträge stehen sich die Handlungsformen des Gemeinschaftsund des Staatsrechts auch in Wahrnehmung gänzlich unterschiedlicher Regelungsanliegen als konkurrierend gegenüber. Als wichtigstes Beispiel hierfür mag die Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EG gelten. In der Intention der Vervollkommnung des europäischen Binnenmarktes erlassene EGVerordnungen und Richtlinien derogieren nicht nur unmittelbare Handelshemmnisse wie Alkoholmengennormierungen für Liköre57, nationale Wettbewerbsreglementierungen58 etc., sondern auch so binnenmarktferne Regelungskomplexe wie etwa deutsche standesrechtliche Werbebeschränkungen59. Gleichzeitig ist sogar die darüber noch hinausgehende Tendenz erkennbar, aufgrund der etablierten Auslegungsweite des Art. 95 EG diesen als Rechtsgrundlage auch solcher Gemeinschaftsrechtsakte heranzuziehen, in denen eine Gemeinschaftskompetenz nicht oder in nur sehr eingeschränktem Umfang besteht60. Diese Problematik findet in der Verhältnisbestimmung zwischen den umfassenden gemeinschaftsrechtlichen Binnenmarktkompetenzen und den 55 Zur Finalstruktur der Gemeinschaftskompetenzen Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 513 (bezugnehmend auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung); Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866; Franz C. Mayer (Fn. 42), S. 583; von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 ff.; Dashwood, The limits of European Community Powers, 21 ELRev. 113 (1996). S. 21; Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11, 16 f.; Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 40 f.; Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 219. 56 Zum Konkurrenzverhältnis der Kompetenzen und zur Möglichkeit einer Typisierung von Kompetenzen vgl. unten Kap. 5, IV. 3. 57 EuGH v. 20. 2. 1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon. 58 EuGH v. 24. 11. 1993, Rs. C-267 u. 268/91, EuZW 1993, S. 770 – Keck & Mithouard. 59 EuGH v. 15. 12. 1993, Rs. C-292/92, EuZW 1994, 119 – Hünermund. 60 Vgl. nur Ilka Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, 2000, S. 67 ff.; restriktiv allerdings EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, S. I-8498 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

allenfalls fragmentarischen gesundheitspolitischen Kompetenzen eine aktuelle Manifestation in der Rechtsprechung des EuGH zur Tabakwerberichtlinie61. bb) Gemeinschaftsrechtsvorrang als funktionelle Auflösung der Interferenz? Der einzige instrumentale Ansatz zur Auflösung der so entstehenden Gemengelage von unterschiedlichen Regelungsintentionen des Staats- und des Gemeinschaftsrechts ist die Doktrin von der unmittelbaren Anwendbarkeit und vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts62. Die ihr zugrunde liegende Notwendigkeit, ein bestehendes Konkurrenzverhältnis funktional zureichend auflösen zu müssen, macht einen Gemeinschaftsrechtsvorrang unumgänglich; darauf ist bereits im Einleitungskapitel hingewiesen worden. Für die Aufgabe der Ausbildung kompetenzieller Systemstrukturen ist der Gemeinschaftsrechtsvorrang indes zwar notwendig, aber rechtsprinzipiell unzulänglich. Das rechtsprinzipielle Defizit der durch den Gemeinschaftsrechtsvorrang instruierten Auflösung liegt in der relativen Unverbundenheit beider Teilrechtsordnungen als Teilen eines Handlungsformgesamtsystems63, deren systematisches Verhältnis undifferenziert durch Konstatierung des funktional gebotenen Vorrangs der übergeordneten Ebene gelöst wird, anstatt normsystematisch unter Reflexion des kategorialen Gehaltes der zur Verfügung stehen61

Vgl. dazu insbesondere die Diskussionsbeiträge um die Kompetenzrechtsprechung des EuGH zur Tabakproduktrichtlinie (2001/37/EG), Urteil vom 10. 12. 2002, Rs. C491/01, Slg. I-2002, 11453; sowie zur Tabakwerberichtlinie (Richtlinie 98/43/EG), EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-376/98 Bundesrepublik Deutschland / Europäisches Parlament und Rat der EU, NJW 2000, S. 3701-3704; Selmayr/Kamann/Ahlers, Die Binnenmarktkompetenz der Europäischen Gemeinschaft. Lehren aus den Tabakurteilen des EuGH für die künftige Kompetenzverteilung der EU-Verfassung, EWS 2003, S. 49 ff.; Wägenbaur, Tabak, Ende der Diskussion oder Diskussion ohne Ende?, EuZW 2003, S. 107 ff.; Kreile/Rahn, Das Ende der Tabakwerbung in Deutschland und Europa? Zum Inhalt und zur Rechtmäßigkeit der neuen EG-Richtlinie betreffend das Verbot der Werbung für und das Sponsoring von Tabkerzeugnissen, ZUM 1998, S. 820-833; Reher/Schöner, Das Werbeverbot für Tabakerzeugnisse – geht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Rauch auf?, EWS 1998, S. 294-298; Koenig/Kühling, Der Streit um die neue Tabakproduktrichtlinie. Ist der Gemeinschaftsgesetzgeber bei seinem Kampf gegen den Tabakkonsum einmal mehr im Konflikt mit Gemeinschaftsgrundrechten und Kompetenzbestimmungen?, in: EWS 2002, S. 12-20. 62

Diese Verhältnisunklarheit beklagen auch Oeter, Die Genialität der Verträge, FAZ vom 9. September 2001, S. 8, sowie Philip Allot, Die Gegenwart, FAZ vom 9. Mai 2001, S. 8; zum Konflikt zwischen nationalem Verfassungsrecht und Anwendungsvorrang vgl. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Festschrift Stern 1997, S. 1239 ff., 1263. 63

Daß die beiden Teilsysteme letztlich nicht als asyndetische Elemente verstanden werden können, zeigt sich am Anspruch des Gemeinschaftsrechts, mit Unmittelbarkeit die Rechtswirklichkeit der Bürger mitbestimmen zu wollen, und an seiner hierauf angelegten Geltungsqualität.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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den Rechtsetzungsformen in der Herstellung ihrer Bezüge zum Standort von auftretenden Regelungsnotwendigkeiten und unter Differenzierung nach dem konkreten primärrechtlichen Ermächtigungsumfang in den einzelnen Kompetenznormen. Diese normative Interferenzlage ist weder durch einen Verweis auf die Integrationsoffenheit der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen wie dem Grundgesetz64, vgl. Art. 23, 24 GG, noch durch die EGverfassungsrechtliche Selbstrestriktion des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 EG in ihrer gegenwärtigen Form zufriedenstellend ausräumbar. In beiden dokumentiert sich zwar wechselseitige Verwiesenheit und Rücksichtnahme beider interferierender Verfassungsordnungen65. Doch den Problemschwerpunkt bei der Herstellung eines kompetenziellen Gleichgewichts zwischen Union und Mitgliedstaaten bildet nicht die konstruktive Möglichkeit, Verfassungssysteme überhaupt als kooperativen Mehrebenenverbund konzipieren und aufzufassen zu können66, sondern die Frage nach einem befriedigenden handlungsformsystematischen Konzept innerhalb eines solchen in seiner Möglichkeit unbestrittenen Verbunds, die das Eigengewicht der Regelungsintentionen divergenter Verbände gleichgewichtig zur Geltung bringt: Für eine Gesamtordnung, die den Anspruch erhebt, als Handlungsformsystem auffaßbar zu sein, ist die Formulierung geltungslogischer Vorrangverhältnisse deshalb notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Hinzutreten müssen Kompetenzabgrenzungsprinzipien, die in der Lage sind, das Konkurrenzverhältnis der Ebenen von Staat und Gemeinschaft in ein substantielles Gleichgewicht zu bringen.

64

Vgl. dazu Ossenbühl, HdBStR, Band III, § 61, Rdnr. 31; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; ders., Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff. 65 Zu dieser aus dem Prinzip der Mitgliedstaatlichkeit resultierenden Anforderung etwa Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 218 f.: der Staatenverbund sei gekennzeichnet durch integrierte Staatlichkeit sowie Wechselwirkung von Mitgliedstaaten und „quasiautonomer Rechtsordnung“. 66

Vgl. dazu Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 ff.; auch von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. Zur Gestalt der Europäischen Union nach Amsterdam, 1999, S. 13 ff.: Die Union „wird zur Organisation kollektiver Ordnung, die Mitgliedstaaten sehen in ihr eine Stabilisierung der eigenen Verfaßtheit“.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

2. Kompetenzprinzipien des geltenden Gemeinschaftsrechts

a) Duale kompetenzprinzipielle Struktur: Kompetenzzuweisungsnormen und Kompetenzrestriktionsprinzipien Die Betrachtung des Kompetenzgefüges der Gemeinschaftsrechtsordnung im einzelnen jenseits struktureller Allgemeinkennzeichnungen weist dieses nicht als Resultat bloßer additiver Aufgaben- und Befugnisnormierungen aus. Die Einzelzuweisungen namentlich des EG-Vertrages sind vielmehr von primärrechtlichen Prinzipien vorstrukturiert, durch die der aus den gemeinschaftsrechtlichen Einzelkompetenzen folgende Ermächtigungsumfang als einem einheitlichen System folgend ausgewiesen werden kann; die Gemeinschaftsverträge überlassen die Gestalt der gemeineuropäischen Befugnisgesamtheit damit nicht allein der Integrationsdynamik und der fortschreitenden Ermächtigungsakkumulation im Zuge der Vertragsrevisionskonferenzen, sondern binden die Form von Ermächtigungen an bestimmte Voraussetzungen. Die gegenwärtige Kompetenzstruktur ist nicht ausschließlich durch die – zielbezogene – Typisierung von Gemeinschaftspolitiken und eine entsprechende Zuweisung von Befugnissen gekennzeichnet; charakteristisch für die supranationalen Rechtsetzungsbefugnisse ist vielmehr, daß diese über die Zuweisung von Politiken hinaus durch allgemeine, sektoral übergreifende Kompetenzbeschränkungsprinzipien in ihrer Grundkonzeption gekennzeichnet sind. Das Hauptprinzip dieser Restriktion bildet bereits nach gegenwärtigem Recht das Subsidiaritätsprinzip; daneben kommt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine allgemeine, die Kompetenzen konstitutionell kennzeichnende Bedeutung zu. Die terminologische Kennzeichnung dieser doppelten Kompetenzregulierungsstruktur ist uneinheitlich; nach der wohl verbreitetsten Begrifflichkeit ist zwischen Kompetenznormen und „Kompetenzausübungsregeln“ zu unterscheiden67. Weitgehende Einigkeit besteht in der Notwendigkeit einer solchen Differenzierung und in der Zuordnung des Subsidiaritätsprinzips zu der letzteren Kategorie. Diese Systematisierung verdient grundsätzlich Zustimmung darin, daß sich das Kompetenzgefüge der Europäischen Union als eine wesentlich durch zwei Kategorien von Kompetenzprinzipien konstituierte Ordnung dar67

Nahezu einhellige Ansicht, vgl. Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, 1997, S. 190; von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 451; anders wohl nur Stewing, Das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel im Europäischen Recht, DVBl. 1992, S. 1516-1518.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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stellt, deren konkrete Befugnis sich kumulativ aus der Zuweisung von Handlungszielen und dem Einhalten allgemeiner, die Ordnungsvorstellung reflektierenden Strukturnormen ergibt. Sie entbehrt aber nicht der terminologischen Kritikbedürftigkeit. Als „Kompetenzausübungsregel“ apostrophiert, suggeriert die Kategorisierung in bezug auf Kompetenzregulierungsprinzipien wie das Subsidiaritätsprinzip, daß bei seinem Eingreifen eine Unionskompetenz dem Grunde nach bestehe, jedoch nicht ausgeübt werden dürfe; demgegenüber dürfte jedoch bei fehlenden Subsidiaritätsvoraussetzungen trotz der abstrakten Einschlägigkeit einer Gemeinschaftspolitik schon keine Regelungskompetenz in concreto gegeben sein68. Über das Vorliegen einer Unionskompetenz kann folglich abschließend nur durch kumulative Betrachtung sowohl des einschlägigen Aufgabentitels als auch der konkreten Regelungsbedürftigkeit im supranationalen Verbund befunden werden69. Das Subsidiaritätsprinzip erweist sich darin als verbandskompetentielle Bedarfskontrolle, die eine elementare Transmissionsfunktion zwischen dem intendierten Regelungszweck und der äußeren komplementären Organisationsstruktur des Verfassungsverbunds herstellt. Eine Charakterisierung des Subsidiaritätsprinzips im Einzelnen ist ausführlich unten im Rahmen der Darstellung von Reformulierungsansätzen vorzunehmen. Allgemeine, die Einzelermächtigungen im übrigen übergreifende Strukturprinzipien sind darüber hinaus: das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie als gegenläufige Mechanismen die Vertragsabrundungskompetenz nach Art. 308 EG. Gegenläufig wirken die der Rechtsprechung entstammenden Prinzipien des effet utile70 sowie die Theorie von den implied powers71. Beide sind in ihrer richterrechtlichen Qualität judikative Verfassungsprinzipien; ihnen kommt kein selbständiger Status von Kompetenznormen, sondern von Auslegungsprinzipien in bezug auf bestehen68 Überzeugender scheint mir deshalb die Begrifflichkeit von Bogdandy/Nettesheim in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 3b, Rdnr. 3: „Zuständigkeitsbegrenzungsregel“. 69

Str.; nach Vedder, Das System der Kompetenzen in der EU unter dem Blickwinkel einer Reform, in: Götz/Soria (Hrsg.), Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und dem Mitgliedstaaten, 2002, S. 9, 18; stehen der Union die konkurrierenden Kompetenzen sämtlich zur Verfügung, das Subsidiaritätsprinzip wirke sich nur begrenzend auf eine schon gegebene Kompetenz aus, verhindere aber nicht schon deren Entstehung. Ebenso Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8, 9. Dagegen spricht, daß die konkrete Reichweite der Kompetenz als solcher nur in der Zusammenschau von Ermächtigungs- und Restriktionsnormen ermittelbar ist. 70 71

Vgl. dazu bereits oben, Kap. 3, III. 3. b) bb).

Dazu statt vieler Dittert, Die ausschließlichen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im System des EG-Vertrags, 2001, S. 64 ff., m.w.N.; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union. Rechtsordnung und Politik, 5. Aufl., 2001, Rdnr. 123; Nicolaysen, Europarecht I, 2002, S. 275 f.; Meinhard Schröder (Fn. 69), S. 10.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

de Kompetenzen zu72. Noch weitergehend, in der Rechtsprechung des EuGH jedoch nicht aufgegriffen stellt sich der vom Schrifttum teilweise diskutierte sog. „in dubio pro communitate“-Schluß73 dar. Auch dem in Art. 5 Abs. 2 EG normierten Subsidiaritätsprinzip kommt ein prominenter Kompetenzregelungsgehalt zu; die besonders enge Verbindung von Bestandsaufnahme und Revisionsüberlegungen, die sich aus seiner hier zugrundezulegenden Bedeutung als Hauptprinzip der Unionskompetenzen ergibt, rechtfertigt allerdings seine Ausgliederung aus der an dieser Stelle vorgenommenen Bestandsaufnahme, um Aspekte geltenden Rechts und Reformüberlegungen in bezug auf den Subsidiaritätsgrundsatz im Verbund darstellen zu können74.

b) Einzelprinzipien

aa) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG)

Namentlich dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kommt hierfür eine Schlüsselbedeutung zu75. Dem Vertragstext des EG nach gilt es für alle Kompetenzwahrnehmung der Gemeinschaften, vgl. Art. 5 Abs. 1 EG. Kein Rechtsakt darf ohne ausdrückliche Ermächtigung im Primärrecht vorgenommen werden76. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung setzt die Rückführbarkeit von Gemeinschaftsrechtsakten auf eine vertragliche Rechtsgrundlage voraus. Der originären Totalität der im Selbstbestimmungsanliegen seiner Konstituenten wurzelnden Kompetenzen des Staates steht die enumerative derivative Zuweisung von Wahrnehmungsberechtigungen an die supranationale Ebene gegenüber77. In dieser Durchgängigkeit des Vertragsvorbehaltes kommt die fehlende „Kompetenz72

Meinhard Schröder (Fn. 69), S. 10. Dazu ausführlich Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt. Beitrag zum positiven Rechtmäßigkeitsprinzip in der EG, 1996. 74 Dazu unten, IV. 75 Andere Bezeichnungen sprechen vom „Prinzip der begrenzten Kompetenzzuweisung“, vgl. von Borries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, S. 268, oder vom „Prinzip der Begrenzten Einzelzuständigkeit“, so Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 513. 76 Oppermann (Fn. 75), Rdnr. 513. 77 Vgl. dazu Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 586. 73

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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Kompetenz“, damit letztlich die fehlende Souveränität der Europäischen Union zum Ausdruck78. Mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist daher der Verfassungscharakter der Union als komplementäre Ordnung eng verbunden, da hierdurch die praktische Rückführung aller supranationalen Befugniswahrnehmung auf den primärrechtlich explizierten Willen der Mitgliedstaaten als Konstituenten fixiert wird.

bb) Antagonistische Prinzipien im Primärrecht Rechtspraktisch wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erheblich gelockert79. Einerseits ist dies auf die Rechtsprechung zurückzuführen, die die Anforderungen an die Explikation in Bezug genommener Rechtsgrundlagen entgegen dem Wortlaut des Prinzips erheblich gelockert hat und es insbesondere für ausreichend hält, wenn zur Kompetenzableitung aus Vertragsbestimmungen eine implizite Bezugnahme auf diese erfolgt80. Einzelne Stimmen in der Literatur gehen deshalb dahin, daß der Gerichtshof dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung die Bedeutung einer die Verbandskompetenzen regelnden Strukturbestimmung insgesamt nicht zuerkenne81. Verantwortlich hierfür sind verschiedene Faktoren, denen einesteils berechtigte Einschränkungen zu entnehmen sind, die anderenteils aber auch von einer Gemeinschaftslastigkeit des Kompetenzmodells getragen, methodologisch nicht zu rechtfertigen sind und sich in Widerspruch zum Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung als komplementärer Ordnung setzen, ohne daß allerdings von einer Durchbrechung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung gesprochen werden kann82.

78 Vgl. kategorialen Bedeutung der Souveränität im wechselseitigen Bindungsverhältnis offener Staaten Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 122 ff.; zur begrifflichen Differenz von Souveränität und Kompetenz-Kompetenz jedoch zutreffend Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 580; Neil McCormick, Sovereignty Now, 1 ELJ 259, 260 (1995). 79 Vgl. nur Streinz, Europarecht, 3. Auflage, Rdnr. 437. 80 EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, S. 263; Rs. 3, 4, 6/76, Slg. 1976, S. 1279. 81 So etwa von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 97. 82 So auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 442 ff.

460

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

(1) Art. 308 EG Der Gemeinschaftsvertrag selbst kodifiziert eine Auflockerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung durch die Vertragsabrundungskompetenz gem. Art. 308 EG. Danach kann die Gemeinschaft auch über die ausdrückliche Zugewiesenheit einer Kompetenz im Rahmen der Gemeinschaftspolitiken rechtsetzend tätig werden, wenn andernfalls – d. h. nach Maßgabe der sektoralen Zuweisungen von Regelsetzungskompetenzen – eine Gemeinschaftspolitik nach ihrem primärrechtlich intendierten Wahrnehmungszweck nicht angemessen verwirklichungsfähig wäre. Der dieser Bestimmung zugrunde liegende Grundgedanke ist seiner methodologischen Natur nach eine ermächtigungsförmige besondere Ausprägung des Schlusses vom Zweck83 auf die hierzu erforderlichen Mittel84. Ihrer regelungstechnischen Natur nach handelt es sich um eine den bundesstaatlichen Annexkompetenzen verwandte, wenngleich nicht identische85 Flexibilitätsklausel, die eine zur Verwirklichung der Integrationsfinalität erforderliche Mitregelung von Sachbereichen ermöglicht, die über das wortlautgebundene Verständnis hinausreicht und andernfalls verwehrt wäre. Art. 308 EG kommt nach der Rechtsprechung des EuGH nur subsidiär86 unter der negativen Voraussetzung zur Anwendung, daß dies zu keinen „wesentlichen Änderungen“ in den betroffenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen führt87. Erforderlich ist außerdem, daß der Rückgriff auf Art. 308 EG zur Verfolgung eines (von Art. 308 EG damit bereits vorausgesetzten) Gemeinschaftsziels stattfindet88; insofern erscheint die Vertragsabrundungskompetenz

83

Dieser ist auslegungsweise aus den Verträgen und ihren Politiken zu ermitteln. Zu deren Ergreifung ermächtigt Art. 308 EG. 85 Art. 308 EG ist – anders als die aus der deutschen Verfassungsdogmatik bekannte Annexkompetenz – nicht an eine bestimmte Ermächtigungsnorm geknüpft, deren Erweiterung sie bewirken soll; sie ist daher nicht engeren Sinnes „akzessorisch“, sondern ermächtigt zur „vertragsimmanenten Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts“ (Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 523 ff). 86 EuGH, Rs. C-45/86, Slg. 1987, 1493 – APS I; Rs. C-295/90, Slg. 1992, I-4193 – Studentenrichtlinie. 87 Hans Georg Fischer, Die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZG 2000, S. 170 f.; Vedder, Die „verfassungsrechtliche Dimension“ – die bisher unbekannte Grenze für Gemeinschaftshandeln? Anmerkung zum Gutachten 2/94, EMRK, des EuGH, EuR 1996, S. 309, 318; Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, S. 135. 88 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1763 – EMRK; Häde/Puttler, Zur Abgrenzung des Art 235 EGV von der Vertragsänderung. Neue Erkenntnisse durch das Gutachten 2/94 des EuGH vom 28-03-1996?, EuZW 1997, S. 13, 18, Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 171; Vedder, Die „verfassungsrechtliche Dimension“ – die bisher unbekannte Grenze für Gemeinschaftshandeln? Anmerkung zum Gutachten 2/94, EMRK, des EuGH, EuR 84

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

461

als unselbständige Kompetenznorm. Wenn auch weitgehend einheitlich beurteilt wird, daß die Abrundungskompetenz die Grundprinzipien fehlender Kompetenz-Kompetenz und begrenzter Einzelermächtigung unangetastet läßt, so daß auf ihrer Grundlage nur die unabdingbar erforderliche89 Abrundung von vorhandenen Befugniszuweisungen in Betracht kommen kann, ist diese Bestimmung bislang rechtspraktisch in erheblichem Maße zur Kompetenzextension instrumentalisiert worden90. Gleichwohl läßt sich angesichts der vorhandenen tatbestandlichen Eingrenzungsmerkmale dieser Kompetenznorm nicht sagen, daß sie den Abgeschlossenheitscharakter der mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung instituierten Kompetenzstruktur grundsätzlich in Frage stellt. Angesichts vorhandener Restriktionsmechanismen ist die Suche nach einem angemessenen Abgleich weniger Frage einer kodifikatorischen Revisionsnotwendigkeit als einer rechtspraktisch angemessenen Rechtsanwendung.

(2) Richterrecht: Theorie der implied powers und effet utile-Gedanke Die Rechtsprechung des EuGH ist bislang selten vor die Aufgabe gestellt gewesen, die Rückführbarkeit von Gemeinschaftsrechtsakten auf die primärrechtlichen Ermächtigungen zu überprüfen und sich aus diesem Anlaß mit einer extensiven Wahrnehmung von Kompetenzen durch die Rechtspraxis auseinanderzusetzen. Bis 1992 war die Überschreitung von Kompetenzen durch die Gemeinschaft kaum überhaupt Gegenstand eines Gerichtsverfahrens91. Nicht erstaunlich ist daher, daß – soweit ersichtlich – der EuGH bislang im Rahmen der bisherigen Kompetenzordnung erst zweimal eine gemeinschaftsrechtliche Norm wegen Eingriffs in die mitgliedstaatlichen Kompetenzen für nichtig erklärt hat92. Gleichwohl vorhandene Kompetenzjudikatur erscheint primär

1996, S. 309, 318; Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, S. 135; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 525. 89 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 523 ff.; Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 177. 90 Vgl. dazu Dorn, Art. 235 EWGV – Prinzipien der Auslegung, 1986; Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 178. 91 Rodriguez Iglesias, EuR 1992, S. 225, 235. 92 Vgl. EuGH, Rs. 281, 283-285, 287/85, Slg. 1987, 3203, 3252; Rs. C-376/98, Slg. 2000, S. I-8419, 8532; vgl. dazu Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 652; siehe aber auch die Beispiele bei Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), Fn. 82, für Kompetenzrechtsprechung des EuGH.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

bezogen auf Fragen der horizontalen Kompetenzverteilung93, während die Verbandskompetenz der Union regelmäßig unstrittig war. Zu konstatieren ist immerhin, daß der Rechtsprechung sich klare Konturen entnehmen lassen, was die Anforderungen an die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage, die Verhältnisbestimmung und Kriterienbildung bei der Wahl zwischen mehreren eine Maßnahme tragenden Rechtsgrundlagen und die Prioritätenbildung in solchen Konstellationen angeht94. Mit diesen Ansätzen, die Grundzüge eines dogmatischen Systems tragen, geht immerhin eine für die Konturierung von Kompetenzstrukturen bedeutsame Präzisierung des Anforderungsniveaus an die Gemeinschaftsrechtsetzung einher. In der Ausfüllung einer Funktion als Instanz der Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten war die Rechtsprechung bislang zurückhaltend95. Dies gilt sowohl hinsichtlich der primärrechtlichen Ableitung konkreter restriktiver Vorgaben gegenüber der Sekundärrechtsetzung als auch für die Handhabung dieser Prinzipien. So hat der Gerichtshof das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zunächst nur in bezug auf den Systembereich der EGKS artikuliert96, im übrigen aber sich auf eher implizite Andeutungen von Grenzen der vertragsförmig erfolgten Ermächtigung beschränkt97 und erst im Gutachten zum EMRK-Beitritt98 die Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 EG explizit in ihrer Geltungsreichweite bestimmt. Dementsprechend sind die bisherigen Entscheidungen, in denen eine Überschreitung von Gemeinschaftskompetenzen auch praktisch thematisch wurde, bis in die 80er Jahre hinein kaum überhaupt vorhanden und auch seitdem eher seltene99 Ausnahmefälle. Soweit der Gerichtshof sich mit der Frage der Reichweite gemeinschaftsrechtlicher Kompetenznormen auseinanderzusetzen hatte, ist er – seinem Selbstverständnis als „Motor der Integration“ entsprechend – 93 EuGH, verb. Rs. C-164 und 165/97, Slg. 1999, S. I-1139. Dazu auch von Bogandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 444; Hier ist regelmäßig unstrittig, daß die Union die Verbandkompetenz hat. 94 Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 165 ff. 95 Vgl. Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 169: Der Gerichtshof behandle die Frage „ob sich ein Handeln der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Verbandskompetenz bewegt“ … „eher spärlich“; a.A. Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 201: Die Skepsis, ob der EuGH seiner Funktion als Kompetenzgericht nachkomme, sei unbegründet. 96 EuGH, verb. Rs. 7/56 und 3-7/57, Slg. 1957, 83 – Agera; vgl. Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 167. 97 Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 167. 98 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1763. 99 Vgl. etwa EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 – Les Verts; EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1763.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

463

nicht nur in der Handhabung vorhandener Kompetenzbestimmungen100, sondern auch in der richterlichen Fortbildung von darüber hinausgehenden, befugniserweiternden Ansätzen außerordentlich gemeinschaftsrechtsfreundlich gewesen. Nicht alle Aspekte dieser integrationsfördernden Rechtsprechung vermögen methodisch zu überzeugen. Der EuGH hat einerseits – jenseits ausdrücklich zugewiesener Befugnisse – implizite Kompetenzen der Europäischen Union ermittelt, zu deren Wahrnehmung zwar keine dem Vertragswortlaut zu entnehmende Ermächtigung besteht, ohne die jedoch vorhandene Kompetenzzuweisungen nicht hinreichend bewältigt werden könnten101. Dies ist die Grundlage der Doktin von den implied powers. Hieran erscheint berechtigt, daß die Kompetenzregelungen föderaler Ordnungen wie auch die Bundesrepublik102 ein gewisses Maß an Flexibilität benötigen, so daß die vorhandenen Einzelermächtigungen auslegungsbedürftig und -fähig sind. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dient nicht der Verwirklichung einer Wortlautschranke und soll keiner formalistischen Betrachtung Vorschub leisten, sondern setzt den Komplementärcharakter durch eine grundsätzliche Rückbindung jedes Befugnistitels an den Willen der konstituierenden Mitgliedstaaten um. Dem steht es nicht entgegen, erfolgten Befugnisermächtigungen im Wege teleologischer Auslegung Befugnisannexe zu entnehmen, um ihren Ermächtigungsgehalt zweckkonform umsetzen zu können. Allerdings ist zu beachten, daß die konzeptionsnotwendige Auslegungsoffenheit von Kompetenzregeln nicht in Widerstreit geraten darf zu den Verfassungsprinzipien, auf denen die Unionsordnung beruht. Die in der Rechtsprechung des EuGH vorhandenen Anhaltspunkte für die seiner Kompetenzrechtsprechung zugrunde liegende Einschätzung des Unionscharakters dokumentieren eine nicht hinreichende Rückführbarkeit auf methodologisch schlüssige Begründungsansätze. Das einzige Grundprinzip, dem die extensive Auslegung von Gemeinschaftskompetenzen folgt, ist das der Funktionalität. Grundlage ist eine nicht immer deutliche Artikulation, auf welche der dynamischen Kategorien der EuGH seine gemeinschaftsrechtsfreundliche Kompetenzrechtsprechung im konkreten Fall bezieht. Art. 308 EG, der effet-utile-Gedanke und die impliziten Befugnisse verschwimmen so in ihren Konturen gegeneinander und wer100 Hierzu kritisch Bermann, Taking Subsidiarity Seriously, Columb. Law Review 94 (1994), S. 361 f. 101 EuGH Slg. 1988, 5545, 5560, Rdnr. 7 f. 102 Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 177; Jarass/Pieroth, GG, Art. 70, Rdnr. 5 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

den zur austauschbaren Dispositionsmasse für die argumentative Bewältigung eines integrationsfinalen Ansatzes, der sich von Vertragsauslegung weitgehend löst. Auch jenseits des Art. 308 EG ist die Rechtsprechung des EuGH, die den Gedanken von den implied powers auf den effet utile103 zurückführt, längere Zeit von einer einseitigen, integrationsfinalen Betrachtungsweise geprägt gewesen, die Gegenläufigkeiten nicht veranschlagt hat, sondern einseitig auf Befugniserweiterung ausgelegt war. Nicht zuletzt aus der o. g. Finalstruktur der Unionskompetenzen hat sich die Tendenz zum Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis als zumindest diskussionswürdige, spezifisch europarechtliche Methodologie der Vertragsexegese stark ausgeprägt104. Daran hat auch der EuGH maßgebend mitgewirkt, indem er festgestellt hat: „Weist eine Bestimmung […] der Kommission eine bestimmte Aufgabe zu, so ist davon auszugehen, daß sie ihr dadurch auch die zur Erfüllung dieser Aufgabe notwendigen Befugnisse verleiht.“105 Eine solche Erwägung ist aus rechtsdogmatischen, methodischen und verfassungsprinzipiellen Gründen indes schwerlich haltbar. Der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis ist nicht nur schon als solcher methodologisch unzulänglich106; die argumentationslogische Internalisierung der Integrationsfinalität in die Gemeinschaftsrechtsauslegung führt auch zu einer Vereinseitigung und Verselbständigung der teleologischen Argumentation gegenüber der von Selbstrestriktion geprägten Verfassungsstruktur. Neuere Entscheidungen dokumentieren jedoch seit Mitte der 90er Jahre eine zunehmend vertiefte Beschäftigung mit der Problematik der Reichweite und Bestimmung von Rechtsgrundlagen. Überdies sind seit kurzem auch Ansätze für eine bewußte Umsetzung einer Balancevorstellung in der Rechtsprechung des EuGH erkennbar. Der Gerichtshof relativiert mit seiner neuen Rechtsprechung nunmehr ansatzweise die einseitige Ermächtigungsperspektive, die namentlich von extensiver, teleologischer Auslegungsmethodologie107 sowie der

103

Dazu sogleich unter bb). Zur Theorie von den implied powers Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 174 ff. m.w.N.; Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 10; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 527 ff.; kritisch von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b EGV, Rdnr. 6, bezugnehmend auf die entsprechende EuGH-Rechtsprechung; vgl. auch BVerfGE 89, 155, 210 – Maastricht. 105 EuGH, Slg. 1987, 3203, 3253, Rdnr. 28. 106 Dazu M. Köhler, Form und Inhalt europäischer Strafrechtsangleichung, MangakisFS, S. 751 ff. 107 Zum Schluß von der Notwendigkeit einer Befugnis auf ihr Vorliegen: von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b, Rdnr. 10; Hans Georg Fischer (Fn. 87), S. 168; M. Köhler (Fn. 106), S. 751 ff. 104

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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Annahme einer impliziten Handlungsbefugnis108 geprägt war. Ansätze zur Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung in Richtung einer genuinen Kompetenzjudikatur, die auf die Einhaltung der komplementären Symmetrie von supranationalem Verbund und Mitgliedstaaten gerichtet ist, werden insbesondere in den beiden Urteilen zur Tabakwerberichtlinie und zur Tabakproduktrichtlinie sichtbar109. Ungeachtet einer im einzelnen außerordentlich kontroversen Rezeption beider Urteile liegt ein Fortschritt immerhin in der ausdrücklichen Thematisierung der Problematik, daß eine extensive generalklauselartige Instrumentalisierbarkeit einzelner Kompetenztitel, insbesondere der Binnenmarktkompetenz nach Art. 95 EG, für umfangreiche gemeinschaftsrechtliche Regelsetzungstätigkeit das System abgestufter primärrechtlicher Ermächtigungen latent zu konterkarieren vermag, wenn solche Kompetenztitel dazu verwendet werden, Bereiche fehlender oder nur fragmentarischer Gemeinschaftskompetenzbereiche, namentlich etwa der Gesundheitsschutz gem. Titel XIII EG110, mitzuregeln.

c) Ansätze einer Kompetenzdifferenzierung von ausschließlichen und nicht-ausschließlichen Kompetenzen Ansätze für eine Kategorisierung der vorhandenen Kompetenzen nach ihrem Verhältnis zu den staatlichen Konkurrenzen sind gegenwärtig – abgesehen von den Prinzipien, die sich wie das Subsidiaritätsprinzip sektoral übergreifend auf alle Unionskompetenzen beziehen und damit insgesamt eine relativierende Wirkung entfalten – nur uneinheitlich und in Ansätzen ausgeprägt. Dennoch ist in Art. 5 Abs. 2 EG die Unterscheidung zwischen ausschließlichen und nichtausschließlichen Kompetenzen als eine für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips konstitutive Unterscheidung vorausgesetzt. Mit der terminologischen Einführung einer ausschließlichen Unionskompetenz und der hiermit implizier108 Beispiele aus der Judikatur des EuGH: EuGH, Rs. C-165/87, Slg. 1988, 5545 zur Kompetenz zur Festlegung einer Zollnomenklatur aufgrund von Art. 28 EGV alt (nunmehr Art. 26 EG); EuGH, verb. Rs. C-281, 283-285, 287/85, Slg. 1987, 3202 zum Kompetenzumfang aus Art. 118 Abs. 2 EGV alt. 109

Vgl. die Rechtsprechung oben (Fn. 61) sowie die dort genannten Diskussionsbeiträge; ebenso Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 191. 110

Der Gesundheitsschutz gehört zu den Bereichen, in denen die gemeinschaftlichen Kompetenzen bewußt nur fragmentarisch entwickelt sind. Art. 152 Abs. 4 begründet eine ergänzende Zuständigkeit der EU im Hinblick auf eine im Grundsatz im Regelungsbereich der Mitgliedstaaten verbleibende Materie („Der Rat [=die EG/EU] trägt […] bei“). Daneben verbleibt nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 152 Abs. 5 EG die mitgliedstaatliche Regelungskompetenz in vollem Umfang erhalten.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

ten Unterscheidung von noch näher zu bestimmenden nicht-ausschließlichen Kompetenzen wird eine für föderale Ordnungen bzw. Mehrebenensysteme typische Differenzierungstechnik aufgegriffen und als Gemeinschaftsprinzip kodifiziert, die auch für die grundgesetzliche föderale Ordnung kennzeichnend ist. Zweck solcher Differenzierungen ist die Etablierung eines abgestuften Konzepts verteilter Befugniswahrnehmungen und die Anpassung an die der jeweiligen Sachmaterie angemessene legislative Kooperationsform zwischen mehreren Ebenen. Diese Konzeption einer Bereichseinschränkung des Subsidiaritätsprinzips setzt allerdings im Grunde den Bestand einer föderalen Kompetenztypisierung als schon vorhanden voraus und erscheint, obwohl sie im Schrifttum überwiegend zustimmend aufgenommen worden ist111, unter mehreren Gesichtspunkten als problematisch. aa) Weitgehend entschieden erscheint zunächst die Streitfrage, ob ausschließliche Gemeinschaftskompetenzen überhaupt denklogisch existieren können. Ein solches Verständnis hat sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt; dies weniger deshalb, weil mit der primärrechtlichen Normierung des Begriffs der ausschließlichen Gemeinschaftskompetenzen in Art. 5 Abs. 2 EG die gegenlautende Vorstellung positivrechtlich in die Schranken gewiesen worden ist. Die Gegenauffassung, die dies angesichts der originären Allzuständigkeit der Mitgliedstaaten und der bei diesen lozierten „Kompetenz-Kompetenz“ für konstruktionslogisch widersprüchlich hält112, beruht auf einer Verwechslung zweier Problemkomplexe: Sie folgert aus der geltungslogischen Sekundärstellung des Gemeinschaftsrechts angesichts der Abgeleitetheit ihrer Hoheitsgewalt vom mitgliedstaatlichen pouvoir constituant113, daß die in Ausübung dieser Hoheitsmacht wahrgenommenen Kompetenzen per se auch mit den mitgliedstaatlichen Kompetenzen konkurrieren, und schließt damit aus dem modus constitutionis der auf die Union übertragenen Kompetenzen auf deren Status innerhalb einer bipolaren, zwischen Mitgliedstaaten und Union verteilten Kompetenzordnung. Das erscheint jedoch nicht überzeugend. Der Umfang der den Mitgliedstaaten verbleibenden Kompetenzen hängt davon ab, welchen Ermächtigungs-

111

Vgl. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 174 ff., 185 f.; Dittert, Die ausschließlichen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im System des EG-Vertrags, 2001, S. 24 ff. 112 In diese Richtung Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, S. 105 f., der die Gemeinschaftskompetenz aus strukturellen Gründen stets für eine konkurrierende hält. Kurzschlüssig die Kritik hieran von Dittert (Fn. 111), S. 41, der allein auf den Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 EG verweist; ebenso Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 652. 113

Siehe dazu ausführlich oben, Kap. 3, III. 3. c), 4. b).

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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umfang die primärrechtlichen Kompetenzbestimmungen haben, auf deren Grundlage die Unionsorgane tätig werden. Dort, wo die Mitgliedstaaten Regelsetzungsbefugnisse sachgebietsbezogen umfassend der Union übertragen haben, sind sie zur Rechtsetzung unabhängig davon nicht mehr zuständig, daß diese übertragenen Kompetenzen – wie alle Gemeinschaftskompetenzen – ihre geltungslogische Wurzel in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen haben und damit in einer originären staatlichen Allzuständigkeit ihren Ausgangspunkt finden. Dies entspricht der Normativität der vertragsförmigen Delegation dieser Kompetenzen. Der Status der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“114 ist nicht mit der Prämisse verbunden, daß ihre Regelungskompetenz neben der delegierten Unionskompetenz fortbestünde. Ein solches Verständnis von der Konkurrenzsituation zwischen beiden Regelungsebenen liefe darauf hinaus, daß von der Union ausgeübte Kompetenzen stets neben den fortbestehenden mitgliedstaatlichen Kompetenzen bestünden, und beruhte damit auf der Vorstellung, daß die Mitgliedstaaten trotz der verfassungsrechtlichen Qualität der entsprechenden Unionsermächtigungen stets befugt blieben, ihr einzelstaatliches Regelungsregime zu gemeinschaftsrechtlichen Regelungskompetenzen in Konkurrenz zu setzen. Das würde indes dem Charakter der vertragsförmig eingegangenen Selbstbindung nicht gerecht und implizierte – als ein mitgliedstaatliches Vermögen, unabhängig vom Umfang der Ermächtigung jederzeit konkurrierend regelsetzend tätig werden zu können – eine im Widerspruch zu den Konstruktionserwägungen des dritten Kapitels stehende Unterbestimmung des Wesens vertragsförmiger Verfassungsnormativität. bb) Der geltenden gemeinschaftsrechtlichen Ordnung ist allerdings eine Typisierung von Konkurrenzformen unterschiedlicher Kompetenzen im Mehrebenenverbund nicht immanent115. Vereinzelte Anhaltspunkte im EGVertrag116 zeigen eher die Abwesenheit des Kompetenzkonzepts117. Gleichermaßen erscheint die Judikatur des EuGH vor Einführung des Subsidiaritätsartikels durch den Vertrag von Maastricht, die als Grundlage einer solchen Kompetenzdifferenzierung angesehen werden könnten, als dürftig. So hat der EuGH zwar in vereinzelten Urteilen durch die zumindest terminologische Differenzierung zwischen ausschließlichen und nicht-ausschließlichen Kompetenzen118

114

Zu den Grenzen dieser Formel vgl. oben, Kap. 3, III. 3. b) bb). Streinz, Europarecht, Rdnr. 128. 116 Vgl. etwa Art. 106 Abs. 1 EG als Beispiel einer explizit normierten ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz. 117 So auch Dittert (Fn. 111), S. 34 ff. 118 Vgl. Dittert (Fn. 111), S. 36; EuGH vom 19. 03. 1993, Gutachten 2/91, Slg. 1993, I-1061, Rdnr. 8 f., 18 ff. – ILO-Konvention; EuGH vom 18. 02. 1986, Rs. 174/84, Slg. 1986, 559, Rdnr. 29 f. – Bulk Oil. 115

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

eine Grundlage geschaffen, auf die sich die von Art. 5 Abs. 2 EG vorausgesetzte Unterscheidung bezieht119. Art. 5 Abs. 2 EG zeichnet insofern einen in der Rechtsprechung angelegten Unterscheidungsansatz nach120. Die mangelnde primärrechtliche Definition von Kompetenzausschließlichkeit bedingt jedoch eine weitgehende Uneinigkeit über die Kompetenzbezeichnungen für die nichtausschließliche Kompetenz, aber auch Unsicherheit, welches Balanceverhältnis mit den terminologischen Differenzierungen konkret bezeichnet sein soll. Darüber hinaus wird uneinheitlich beurteilt, ob es sich bei den Kompetenztypen um eigenständige Typisierungen mit konkretem, praktisch umsetzbarem Differenzierungsgehalt oder um „bloße Erkenntnisbehelfe“121 handle. Für solche bloß heuristische Bedeutung des Begriffs der ausschließlichen Kompetenz spricht das dargelegte Fehlen einer primärrechtlichen Differenzierung; sie impliziert jedoch, daß das Gemeinschaftsrecht insofern mit Art. 5 Abs. 2 EG eine fragmentarische Regelung zugrunde gelegt hat. Letztlich manifestieren die nachträglichen Systematisierungsversuche daher nur den Umstand, daß eine gemeinschaftsrechtsinterne Begriffsbestimmung fehlt. Die Kategorie der ausschließlichen Kompetenzen findet sich außerhalb des Art. 5 Abs. 2 EG ebensowenig im Gemeinschaftsprimärrecht wie ihr Gegenbild einer wie immer gearteten konkurrierenden Kompetenz. Art. 5 Abs. 2 EG bedient sich für die Normierung eines Voraussetzungskataloges, das als Voraussetzung der Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips dienen soll, des Rekurses auf Kategorien, die nicht gemeinschaftsrechtsintern vorfindlich sind122. Das kann entweder aufgefaßt werden als Implementation von Vorstellungen des Vorverständnisses, die in die Regelung selbst nicht eingeflossen sind. Oder es versteht sich als die nicht weiter ausgeführte Typisierung des Bestandes an Gemeinschaftskompetenzfeldern. Beide Möglichkeiten sind vom rechtstheoretischen Vorwurf erfaßt, die eigentliche Aufgabe stringenter Systematisierung des Gesamtbe119

Dem EuGH zufolge ist eine ausschließliche Unionskompetenz dadurch gekennzeichnet, daß schon das Bestehen der Ermächtigungsnorm ein mitgliedstaatliches Tätigwerden auf diesem Gebiet ausschließt, vgl. dazu etwa EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76, Slg. 1976, S. 1279, Rdnr. 30, 33 – Kramer; Rs. 804/79, Slg. 1981, S. 1045, Rdnr. 17 f.; Rs. 405/92, Slg. 1993, S. I-6133, Rdnr. 12 – Mondiet; zum ganzen auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 447. 120

Dittert (Fn. 111), S. 36.

121

So Streinz, Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft, DVBl. 1990, S. 949-963. 122

Ebenso Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 190; vgl. dazu auch die Untersuchung von Dittert (Fn. 111), der ebenfalls einräumt, daß der EG-Vertrag die ausschließliche Kompetenz nicht definiert und auch nur fragmentarisch erwähnt (S. 29), der andererseits aber eine primärrechtliche Definition des Begriffs der ausschließlichen Kompetenz für entbehrlich zu halten scheint (S. 183: „derzeit nicht zwingend erforderlich“).

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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standes an Befugnissen, in bezug auf die Subsidiarität als Prinzip praktisch werden könnte, offenzulassen, und so das Substrat des Subsidiaritätsprinzips nicht zu klären. Es mutet regelungstechnisch unvollkommen an, im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Teilrechtsordnung, die einseitig ermächtigend mit derivativer Richtung aus dem Staatsrecht angelegt ist, die Reflexionsleistung einer abgestuften Verhältnisbestimmung nach Regelungsgegenständen unvermittelt in Art. 5 Abs. 2 EG zu implementieren, solange die hierfür vorausgesetzte Typisierungsleistung durch eine einheitliche, gesamtsystemorientierte Vorstellung fehlt, in welcher Weise Staats- und Gemeinschaftsrecht aufeinander in ihren Regelungssphären interferierend Bezug nehmen könnten. Kurz gesagt: Es mag sein, daß rechtliche Gründe für die Bereichsausnahme der ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips sprechen. Es wäre hierfür aber erforderlich, die Verträge insgesamt einer Revision im Hinblick auf ausschließliche und nicht ausschließliche Gemeinschaftskompetenzen zu unterziehen, anstatt die Subsidiaritätsklausel tatbestandlich an kompetenzielle Unterscheidungskriterien binden, die keinen kategorial verorteten Bezugsgegenstand in der ihm unterworfenen Normmaterie vorfinden. cc) Diesen regelungstechnischen Mangel vorausgesetzt, lassen sich in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gleichwohl einige Anhaltspunkte finden, um die geltende Kompetenzordnung inhaltlich als abgestuft thematisieren zu können. Der Rechtsprechung des EuGH zufolge liegt eine ausschließliche Unionskompetenz vor, wenn bereits die bloße Existenz der Kompetenznorm mitgliedstaatliche Regelungen dieser Materie ausschließt. Wann dies der Fall ist, bedarf seinerseits der auslegungsweise zu ermittelnden Konkretisierung123. Die Zuordnung der Unionskompetenzen zu diesem Kompetenztypus ist im einzelnen – wo das Gemeinschaftsprimärrecht nicht ausnahmsweise eine solche Zuordnung erkennen läßt124 – äußerst kontrovers. Nach der europarechtlichen Literatur ist insbesondere die gemeinsame Handelspolitik nach Art. 133 EG als ausschließliche Kompetenz anzusehen125. Unklarheiten bestehen im übrigen nicht 123

Teleologisch hierzu von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 447, abstellend auf die Notwendigkeit einer von Beginn an gemeinschaftseinheitlichen Regelung, um die angestrebte legislative Problembewältigung auf Gemeinschaftsebene erreichen zu können. 124 Art. 106 Abs. 1 EG. 125 Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 194; Heinze, Europäische Einflüsse auf das nationale Arbeitsrecht, RdA 1994, S. 1, 5; von Bogdandy/Nettesheim in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 3b, Rdnr. 30 m.w.N.; vgl. auch die „Beschreibung der derzeitigen Regelung der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“ des Konventspräsidiums, Dok. CONV 17/02, S. 5 f., demzufolge die

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

nur für eher randständige Politikgebiete, sondern auch für gemeinschaftsrechtliche Zentralkompetenzen wie etwa die Binnenmarktkompetenz nach Art. 95 EG126. Hinzugezählt wird im übrigen nach bestrittener Ansicht auch die gemeinsame Agrarpolitik127. Nichtausschließliche Kompetenzen machen demnach den überwiegenden Anteil der Kompetenzgebiete aus. Auch hier ist sowohl die Notwendigkeit weiterer Unterdifferenzierungen als auch der für solche Differenzierungen als Sachkriterium dienenden Unterscheidungsmerkmale kontrovers. Reduziert man die Betrachtung auf diejenigen Beiträge, die einer Beschreibung der gegenwärtigen Kompetenzordnung gelten – Restrukturierungsansätze sind im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Neugestaltungsvorschlägen des Konventsverfahrens zu diskutieren –, so erscheint als das sachhaltigste Differenzierungskriterium eine Unterscheidung danach, welches Konkurrenzverhältnis von den jeweiligen Ermächtigungsnormen zu den verbleibenden mitgliedstaatlichen Regelungen vorausgesetzt wird. Danach können Konkurrenzverhältnisse entweder auf eine derogierende Wirkung der unionsseitig wahrgenommenen Querschnittskompetenzen hin konzipiert sein – dies wird der Regelfall des konkurrierenden Kompetenzkonzepts und die mit stärkerem unionsseitigem Hoheitsgewicht verbundene Wahrnehmungsform sein – oder auf einer gemeinschaftlichen Unterstützung einer im Kern Sache mitgliedstaatlicher Eigenbefassung bleibenden Regelungsmaterie beruhen. In solchen Bereichen – wie der Gesundheitspolitik – kommt dem Gemeinschaftsrecht nur ein verstärkender Status zu, der bestimmte Aspekte der betroffenen Politik einer Vereinheitlichung zuführt, ohne ein durchgängiges Regelungsregime zu beanspruchen. Beide Kompetenzformen sind, bildlich gesprochen, danach differenziert, wie die Finalität des unionsseitigen Regelungszugriffs im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Regelungen ausgerichtet ist: Während bei konkurrierender Kompetenz die Querschnittskonkurrenzen quasi „diagonal“ zum Regelungstelos der derogierten nationalen Kompetenzen laufen – dies veraunschaulicht etwa die Rechtsprechung des EuGH zum Verbot von Maßnahmen gleicher

„gemeinsame Handelspolitik, die biologischen Meeresschätze in den Gebieten, die unter den Vertrag fallen, und die Währungspolitik für die zwölf Mitgliedstaaten, die dem Euro-Währungsgebiet angehören“, zu den ausschließlichen Unionskompetenzen zählen. 126

Bejahend GA Fennelly, Schlußanträge Rs. C-376/98 vom 15.06.2000, Slg. 2000, S. I-8498 ff., Rdnr. 135 ff.; ablehnend von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 449. 127 Kommission, Agence Europe vom 30.10.1992, Nr. 1804/05; dagegen von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 449.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen128, in denen die Unvereinbarkeit von verbraucher- oder gesundheitsschützenden nationalen Regelungen mit dem Rechtsregime der Gemeinschaftsnormen festgestellt wird –, sind die Parallelkompetenzen durch eine identische Regelungsfinalität gekennzeichnet, die sich in zwei konkurrierenden Standards niederschlägt. Hier kann die Unionskompetenz in der Harmonisierung von Mindeststandards bestehen oder in der Befugnis, sektoral begrenzte Teilbereiche129 eines Politikfeldes aus der nationalen Eigenregelung herauszulösen und zu harmonisieren. Diese Ansätze zu einer Binnendifferenzierung vorhandener Unionskompetenzen sind allerdings ihrerseits nicht explizit in den Verträgen verankert, sondern allenfalls im Wege der Primärrechtsauslegung den Verträgen zu entnehmen; sie haben damit keinen verfassungsprinzipiellen Charakter, sondern sind Ordnungsvorstellungen zur Systematisierung der unionsseitigen Kompetenzstrukturen.

3. Veranwortungsstrukturen im Organgefüge: Verfahren der Sekundärrechtsetzung nach geltendem Recht

a) Verantwortlichkeiten von Rat und Kommission Kommission, Rat und Parlament sind die entscheidenden Organe im Willensbildungsprozeß, der zum Erlaß von Sekundärrechtsetzungsakten in der Europäischen Union führt. Die Kommission, die zudem im Bereich der Rechtsetzung des EGKSV das Hauptrechtsetzungsorgan darstellte130, bleibt für die Sekundärrechtsetzung nach EG-Vertrag maßgebend mitverantwortlich in ihrer Funktion als Initiativgeber131. In Abkehr von der dichotomischen Organstruktur der integrativen Frühphase, in der sich Kommission und Rat gegenüberstanden, entwickelt sich jedoch die Verantwortungsverteilung seit der Einführung der

128

Vgl. hierzu die Grundentscheidungen EuGH v. 11. 7. 1974, Rs. 8/74, Slg. 74, 837 – Dassonville; EuGH v. 20. 2. 1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon; EuGH vom 18. 5. 1993, Rs. C-126/91, NJW 1993, S. 3187 – Yves Rocher; EuGH v. 24. 11. 1993, Rs. C-267 u. 268/91, EuZW 1993, 770 – Keck & Mithouard. 129 Beispiel: Gesundheitsschutz gem. Art. 152 Abs. 4 lit. a-c, V EG. 130 Streinz, Europarecht, Rdnr. 453. 131 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 352 f.; allgemein zur Bedeutung des Initiativrechts für die Legislativwillensbildung in Gemeinwesen von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 138 ff. Vgl. auch die Selbsteinschätzung der Kommission – Europäisches Regieren: Bessere Rechtsetzung. (Dok. KOM/2002/0275 endg).

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Direktwahlen zum EP Ende der siebziger Jahre zusehends zu einer Balance zwischen Rat und EP132. Dies kann als organschaftlicher Niederschlag einer sich zuspitzenden Konkurrenzsituation von originär-europäischer und mitgliedstaatlich radizierter133 Legitimation aufgefaßt werden134. Da der Rat ursprünglich Hauptrechtsetzungsorgan des europäischen Legislativgefüges war, besteht die Hauptanforderung an das duale Repräsentationskonzept in der Bestimmung des konkreten Umfangs von Parlamentsbefugnissen im Organigramm der Union, während dem Fortbestand ratsvermittelter Staatenrepräsentation im Legislativwillensbildungsprozeß nicht durch seine Stärkung, sondern durch die Verhinderung einer zu weitgehenden parlamentarischen Verselbständigung Rechnung zu tragen ist. Dies stimmt überein mit den Ergebnissen des vierten Kapitels, demzufolge die organschaftliche Eignung zu originär europäischer Individualrepräsentation im EP konzentriert ist und die hauptsächliche organschaftliche Konstruktionsinnovation darstellt135. Wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde, ist Autorenschaft das Resultat von Letztverantwortlichkeit für die Normsetzungsentscheidung136; die Umsetzung dieses Autorisationsverständnisses im dualen Repräsentationsgefüge des supranationalen Verbunds setzt deshalb eine koordinativ-gemeinsame Verantwortlichkeit der beiden repräsentativen Hauptakteure Rat und Parlament voraus. Der Idealfall einer gleichgewichtigen repräsentationstheoretischen Autorisationsmacht beider Organe bestünde danach einer symmetrischen Verantwortung beider Organe des Legislativwillensprozesses. Anhand dieses Maßstabs sind die vorhandenen Verfahrenstypen zu betrachten.

132

Bedeutsam dafür insbesondere die Einsetzung des Vermittlungsausschusses gem. Art. 251 Abs. 4, der ohne Einbeziehung der Kommission zu einer direkten Verhandlung von Rat und EP führt. 133 Vgl. dazu insbesondere Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, IV 3, S. 78. 134 Zu dieser auch Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 78 ff.; Pernice, The Role of National Parliaments in the European Union, WHIPaper 5/01, S. 5 ff. ausführlich und stärker differenzierend zwischen personaler und sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation auch Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 443 ff. 135 Oben, Kap. 4, IV. 3. 136 s. oben, Kap. 2, III. 2.; vgl. auch Kap. 4, IV. 1. a).

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

473

b) Verantwortlichkeitsabstufungen hinsichtlich des EP im Prozeß der Sekundärrechtsetzung

aa) Fehlendes Initiativrecht Sieht man zunächst einmal von den subdelegierten Entscheidungsverfahren nach Maßgabe der Art. 202, 211 EG ab137, bei denen eine Beteiligung des EP bislang nahezu gänzlich unterbleibt138, wird teilweise in der Literatur beklagt, daß das EP – auch bei den stärksten Einbeziehungsoptionen im Verfahren der Mitentscheidung – kein Initiativrecht habe139. Im Prozeß des Verfassungskonvents ist deshalb die Einführung eines parlamentarischen Initiativrechts, unter anderem auch durch die Vertreter des Deutschen Bundestags im Verfassungskonvent, erwogen worden140. Die dies befürwortenden Stimmen auch in der Literatur pflegen auf die der parlamentarischen Dignität entsprechende Zentralbedeutung zu verweisen, die mit der Ausarbeitung und Gestaltung von Legislativvorhaben „aus der Mitte des Plenums“ einhergeht141. Bezeichnenderweise hat sich das EP diese Forderung gleichwohl nicht zueigen gemacht. Dies mag weniger auf ein fehlendes Interesse an der Initiativbefugnis als auf die machtpragmatische Erwägung zurückzuführen sein, daß eine hierauf beruhende Stärkung des EP wegen des institutionellen Gleichgewichts nicht ohne eine parallele Ausstattung auch des Rates mit einem Initiativrecht durchsetzbar erschien. Daß die Kommission das Initiativmonopol beibehält, erscheint allerdings nicht als konstruktiver Nachteil. Einer Verlagerung des Initiativrechts auf Rat oder Parlament stehen unter Veranschlagung der Strukturprinzipien des gemeinschaftsrechtlichen Organisationszusammenhangs gewichtige Gründe

137

Vgl. hierzu Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 451, 638. Dies wird beklagt als Ausdruck unzureichender demokratischer Legitimation, vgl. Neuhold, Das Europäische Parlament im Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Union, S. 10 ff. Ob damit eine angemessene Verhältnisbestimmung von Komitologieverfahren und Aussage des Demokratieprinzips in bezug hierauf hergestellt wird, kann an dieser Stelle offenbleiben. Zur Bewertung de lege lata bereits vorhandener Vorbehaltsregeln gegenüber der Ebene subdelegierter Durchführungsbestimmungen vgl. jedoch unten, Kap. 5, III. 1. b). 139 Etwa Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 67. 140 Vgl. die Änderungsvorschläge einzelner Konventsmitglieder zum ursprünglichen Art. 15 Abs. 3 des Verfassungsentwurfs, die entweder die Einführung eines begrenzten legislativen Initiativrechts an das EP oder sogar die vollständige Ersetzung der Kommission durch das EP in diesem Punkt vorsahen, Dok. CONV 709/03, S. 7. 141 Vgl. nur Oppermann, Europarecht 1999, Rdnr. 265, wonach das Initiativrecht ein Wesenskennzeichen des „Vollparlaments“ darstelle. 138

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

entgegen142. Auch taugt das fehlende Initiativrecht kaum als Argument gegen eine verantwortliche Stellung des EP143. Hiergegen spricht einerseits der Vergleich mit dem Staatsorganisationsrecht der Bundesrepublik. So entstammen trotz Existenz eines parlamentarischen Initiativrechts im Grundgesetz auch im innerstaatlichen Organgefüge der Bundesrepublik Gesetzesinitiativen de facto ganz überwiegend der Ministerialbürokratie der Exekutive144. Hierin manifestiert sich die auf Sachverstand und Organisationsvermögen gegründete Prärogative der Exekutive; das Initiativrecht ist der Zweiten Gewalt ihrem Problembewältigungsvermögen nach auf den Leib geschneidert145. Im Initiativrecht der Kommission als „Hüterin der Verträge“ dokumentiert sich eine dem staatstheo142 Zum spezifischen kompetentiellen Verflechtungssystem supranationaler Willensbildung vgl. nur von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 444; zur Dominanz des außerparlamentarischen Initiativrechts auch in der bundesdeutschen Verfassungspraxis vgl. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 138; Bryde, Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, S. 859, 870; zum rechtskateogrialen Verhältnis von Initiativrecht und normativer Letztverantwortung auch oben, Kap. 2, III. 4. b) cc). 143

Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 73, weist zu Recht darauf hin, daß parlamentarische Gesetzesinitiativen auch in den mitgliedstaatlichen Parlamenten, in denen sie vorgesehen sind, die Ausnahme darstellen und die demokratische Legitimation der vom Parlament verabschiedeten Gesetze von der Initiative nicht abhänge. Es liegt auf der Hand, daß die Kommission in der Gewichtung von Organkompetenzen bei der legislativen Willensbildung der Union eine andere Betrachtung zugrunde legt, vgl. insbesondere die Mitteilung der Kommission – Europäisches Regieren: Bessere Rechtsetzung. (Dok. KOM/2002/0275 endg.): „Eckpfeiler dieser Methode ist wiederum das Initiativrecht der Kommission, das den unverzichtbaren Gegenpol zu den Mehrheitsbeschlüssen des Rates bildet, denn dieses Recht sichert die Wahrung der wesentlichen Interessen der Minderheit bei der Festlegung des Allgemeininteresses. Diese ausgewogene Konzeption des Allgemeininteresses wird in Zukunft – ganz im Geiste des Aktionsplans für eine bessere Rechtsetzung – noch stärker an Bedeutung für die Wahrung seiner Autonomie gewinnen.“ Das soll hier auch gar nicht bestritten werden, da es lediglich Resultat einer anderen Perspektive ist: Während die Kommission die Antinomie der Positionen von Rat und Kommission in ihrer Funktion als Bewahrer von mitgliedstaatlichem und gesamteuropäischem Interesse in den Vordergrund stellt, geht es vorliegend um die Lozierung von Letztverantwortlichkeit für die – im Widerstreit unterschiedlicher Interessenrichtungen – zustande gekommenen legislativen Resultate. 144 Zum innerstaatlichen Organisationsgefüge bei der Rechtsetzung in der Bundesrepublik ausführlich von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 140 ff.; 156 ff.; zur verfassungspraktischen Dominanz des außerparlamentarischen Initiativwesens ders., S. 138; zu „verkappten Regierungsvorlagen“ vgl. auch Bryde, Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, S. 859, 870. 145 Insoweit zutreffend von Bogdandy (Fn. 144), S. 143: „Leitung der Gesetzgebung als Regierungsfunktion“.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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retischen Befund korrespondierende, dem Integrationsprozeß nach wie vor angemessene Restreferenz an die ursprünglich sektoral begrenzte und expertokratisch strukturierte Gemeinschaftsfinalität. Die Rolle parlamentarischer Repräsentation im Gesetzgebungsprozeß ist demgegenüber – dies wurde auch in der Auseinandersetzung mit Gegenpositionen einer exekutivisch orientierten Gesetzgebungslehre im zweiten Kapitel zu zeigen versucht – weniger in einer originären Autorenschaft des Parlaments als in der verantwortlichkeitsbegründenden Übernahme, dem „sich zueigen machen“ normativer Entscheidungsvorschläge aus der Exekutive in der Verabschiedung als Gesetz zu sehen, welche dadurch, daß sie den parlamentarischen Willensbildungsprozeß durchlaufen haben, von diesem beglaubigt und autorisiert werden146. Zwar wäre ein Parlament ohne jegliche Gestaltungsmacht im Extremfall nicht mehr in der Lage, den Gemeinwohlbezug der Normkodifikation authentisch zu beglaubigen, so etwa, wenn sich der Einfluß parlamentarischer Willensbildung gegenüber exekutiv veranlaßten Initiativen auf die bloße Alternative der Annahme oder Ablehnung reduzierte. Hierfür ist ein parlamentarisches Initiativrecht jedoch nicht ausschlaggebend, da Gestaltungseinfluß auch auf die extern initiierte Regelungsvorlage genommen werden kann, wodurch die parlamentarische Leigslativauffassung sich im Ergebnis ähnlich authentisch niederschlägt wie bei Innehabung eines Initiativrechts. Außerdem ist zu beachten, daß das EP über sog. „Initiativberichte“ nach Art. 148 GO EP die Möglichkeit einer mittelbaren Einflußnahme auf die Initiativtätigkeit der Kommission hat und damit in die Finalität der Gesetzgebungstätigkeit in einer wenn auch schwachen Form einbezogen ist147. Außerdem stellt die Möglichkeit zum Vorschlag von Abänderungen gegenüber den Standpunkten des Rates eine Art „hinkendes Initiativrecht“148 dar, das es ermöglicht, die eigenen Vorstellungen im Rechtsetzungsprozeß zu artikulieren und auf den Rechtinhalt Einfluß zu nehmen. Im Vordergrund für die Beurteilung muß deshalb anstelle einer eher formalen Bezugnahme auf Initiativrechte die nach den unterschiedlichen Verfahrensformen differenzierte Untersuchung der in den jeweiligen Verfahren dem EP zukommenden Gestaltungs-, Veto- und Einflußmöglichkeiten stehen.

146

Vgl. bereits oben, Kap. 2, III. 4. b) cc).

147

Vgl. auch Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 266; Nicoll, Le dialogue législatif entre le parlement européen et la commission – la procédure de renvoi en commission du parlament europeen, RMC 1988, S. 240 ff. 148

Streinz, Europarecht, Rdnr. 318.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

bb) Mangelnde substantielle Mitverantwortlichkeit im Anhörungsverfahren Bei dem „herkömmlichen“149 Konsultationsverfahren ist das EP lediglich durch ein Anhörungsrecht einbezogen, ohne substantielle Verantwortlichkeit für das Zustandekommen entsprechender Rechtsakte zu bekommen und ohne in seiner Stellungnahme den Rat in irgendeiner Weise rechtlich zu binden. Dieses Verfahren gilt für eine Vielzahl gemeinschaftsrechtlicher Politikbereiche150; namentlich seien hier hervorgehoben die bislang fortbestehend intergouvernementalen Bereiche der GASP151 und ZBPJ152, aber auch die substantiell bedeutsamen supranationalen Kernfelder wie Visa, Asyl und Einwanderung153, Wettbewerbs-154 und Beihilfenrecht155, Harmonisierung nach Art. 94 EG und Steuerrecht156, schließlich die bedeutsame Vertragsabrundungskompetenz nach Art. 308 EG. Normtragende Mitverantwortlichkeit des Parlaments resultiert aus seiner Anhörung nicht157. cc) Ratsabhängige Mitverantwortlichkeit des EP im Verfahren der Zusammenarbeit (Art. 252 EG) Abgesehen vom Verfahrenstyp der Anhörung sieht das Gemeinschaftsrecht mit dem Verfahren der Zusammenarbeit und der Mitentscheidung zwei Verfahrensformen abgestufter Einbeziehung des EP in den legislativen Willensbildungsprozeß vor, die damit in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen ihnen besteht in einer mehr oder weniger ausgeprägten Verlaufsdifferenzierung je nachdem, ob die Willensbildung im Rat mit Einstimmigkeit, absoluter oder relativer Mehrheit erfolgt und ob das EP mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit entscheidet. Hieraus ergibt sich eine wechselseitige Abhängigkeit von Parlaments- und Ratshandlungen mit 149

Streinz, Europarecht, 3. Auflage, Rdnr. 443. Vgl. die abschließende Übersicht bei Simm/Heber, Rechtsetzungsbefugnisse des EP, ZG 1999, S. 342 ff. 151 Art. 21 EU. 152 Art. 34 Abs. 2 lit. b-d EU. 153 Art.67 Ab.s 1EG. 154 Art. 83 Abs. 1 EG. 155 Art. 89 EG. 156 Art. 93 EG. 157 Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 75, hebt gleichwohl das nicht unerhebliche faktische Gewicht der Stellungnahme des EP hervor. Seine Feststellung, auch die Anhörung des EP vermittle „ein gewisses Maß an demokratischer Eigenlegitimation“, dokumentiert jedoch abermals, daß das Demokratieprinzip in seiner rechtlichen Bestimmtheit hinter dem vom Repräsentationsprinzip geforderten Verantwortungszusammenhang erheblich zurückbleibt. 150

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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unterschiedlichen Ausgangsmöglichkeiten und eine auf einer organisatorischen Gleichgewichtsvorstellung beruhende „dynamische“ Willensbildung. Das Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren) gem. Art. 252 EG umfaßt nach der Änderung durch den Vertrag von Amsterdam die Sachbereiche der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik158, Zugang zu Finanzinstitutionen159, Verbot der Kreditfinanzierung160 und Umlauf von Münzen161. Gegenüber der Beurteilung des Mitentscheidungsverfahrens162 weist die Einordnung der im Verfahren der Zusammenarbeit dem EP zukommenden Befugnisse größere Schwierigkeiten auf. In diesem Verfahren ist die Position des Parlaments einerseits gegenüber bloßen Konsultationen ohne rechtliche Verbindlichkeit deutlich herausgehoben, da das Parlamentsvotum unter bestimmten Umständen bindet. Andererseits bleibt seine Rolle hinter der angestrebten Position als „Mitgesetzgeber“ deutlich zurück, da eine Bindungswirkung der parlamentarischen Stellungnahme nicht durchgängig verwirklicht ist163. Das Verfahren, das sich aus zwei Lesungsdurchgängen jeweils bei Rat und EP zusammensetzt und auf Initiative der Kommission zustande kommt, setzt voraus, daß der Rat nach Anhörung des Wirtschaft- und Sozialausschusses sowie ggf. des Ausschusses der Regionen und des EP einen „gemeinsamen Standpunkt“ formuliert, der Grundlage der nachfolgenden Auseinandersetzung bildet. Äußert sich das EP nicht binnen drei Monaten, kann der Rat den „gemeinsamen Standpunkt“ mit qualifizierter Mehrheit annehmen; lehnt das EP den Vorschlag ab, kann der Rat gleichwohl mit Einstimmigkeit beschließen. Ändert das EP den Vorschlag ab – wofür eine Beschlußfassung mit absoluter Mehrheit erfordert wird – so wird der Vorschlag erneut der Kommission zugeleitet, die sich die vom EP vorgenommenen Änderungen zueigen machen kann. Lehnt sie dies hingegen ab, so muß der Rat wiederum mit Einstimmigkeit beschließen, wenn er den Rechtsakt annimmt. Damit kann das Parlament einerseits im Unterschied zum bloßen Anhörungsverfahren eine eigenständige normautorisierende Verantwortlichkeit im Rechtsetzungsprozeß jedenfalls dann bekleiden, wenn eine einstimmige Willensbildung im Rat nicht möglich erscheint; seine Funktion reduziert sich damit 158

Art. 99 Abs. 5 EG. Art. 102 Abs. 2 EG. 160 Art. 103 Abs. 2 EG. 161 Art. 106 Abs. 2 EG. 162 Dazu sogleich unten, bb). 163 Vgl. Bieber, Europäische Gesetzgebung nach dem Vertrag von Maastricht, ZG 1994, S. 309 f.; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 268. 159

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

nicht auf eine bloß akklamatorische oder gar konsultative Bedeutung, sondern weist verbindlichkeitsbegründende Elemente auf. Eine Möglichkeit zur Durchsetzung seines Standpunktes hat das Parlament aber nur, wenn es mit absoluter Mehrheit entscheidet und die im Rat vertretenen Repräsentanten der mitgliedstaatlichen Regierungen keine Einigkeit erzielen können. Gegenüber einstimmigen Ratsbeschlüssen besteht jedoch im Ergebnis keine parlamentarische Durchsetzungsmöglichkeit164; das Normenautorisationsvermögen des EP ist in diesem Verfahren quasi ein ratsakzessorisches, damit unselbständiges. Eine solche Form asymmetrischer, weil von den Ratsprärogativen abhängiger parlamentarischer Mitgestaltung rechtfertigt es trotz der erheblichen Aufwertung der Parlamentsposition im Ergebnis nicht, dieses bereits als mitverantwortliches Rechtsetzungsorgan anzusehen. Die Stärke des Parlaments ist keine selbständige, sondern hängt von den Mehrheitsverhältnissen im Rat ab. Nach dieser institutionellen Situation hat der Rat es in der Hand, den parlamentarischen Mitwirkungseinfluß durch ratsinterne Einigkeit zurückzudrängen; Rechtsakte können im Verfahren der Zusammenarbeit auch gegen den Willen und die Vorstellung des EP zustandekommen. Repräsentationstheoretisch verwirklicht ist hier das Gegenteil der dem dualen Repräsentationskonzept entsprechenden Unverrechenbarkeit beider Repräsentationsorgane und ihrer Funktion; vielmehr dokumentiert die Zusammenarbeit einen Abhängigkeitszusammenhang, der auf dem paradigmatischen Verständnis einer demokratietheoretischen Alternativität zwischen unmittelbarer und mittelbarer demokratischer Legitimation basiert und die Kompensation fehlender parlamentarischer Gestaltungsmacht durch ein Plus an Ratswillensbildung vorsieht. dd) Symmetrische Organverantwortlichkeit im Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EG) Die größte Parlamentsverantwortung wird im Mitentscheidungs- oder auch Kodezisionsverfahren des Art. 251 EG (ex 189b EGV) ausgeübt. Zu Recht wurde dieses Verfahren nach Inkrafttreten als „neue Qualität der Beteiligung des Parlaments an der Rechtsetzung“165 bezeichnet. Die Entstehung von Rechtsakten im Bereich des Mitentscheidungsverfahrens folgt einem Entscheidungsfindungsprozeß, der nach dem Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents als Standardverfahren166 für die gesamte Europäische Gesetzgebung

164 Vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 146; Streinz, Europarecht, Rdnr. 447. 165 166

Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 72.

Vgl. Titel V, Art. 32 des Entwurfs für einen Vertrag über eine Europäische Verfassung, ABl. C 169 vom 18. Juli 2003, S. 16.

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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vorgesehen ist und als das am weitesten entwickelte Verfahren im Europäischen Integrationsprozeß bezeichnet werden kann. Kennzeichnend für dieses Verfahren in seiner gegenwärtigen Gestalt ist die gleichberechtigte Verantwortung, die dem Europäischen Parlament und dem Rat zukommt: Keines der beiden Organe kann einem Rechtsakt gegen die endgültige Verweigerung des anderen zu rechtlicher Wirksamkeit verhelfen. Das Mitentscheidungsverfahren spiegelt diese Gleichordnung in Form eines dreiphasigen Prozesses wider: Von der Kommission eingebrachte Rechtsetzungsinitiativen werden zunächst dem Parlament und dem Rat übermittelt. Das Parlament befaßt sich in einer Ersten Lesung mit dem Vorschlag und übermittelt dem Rat eine Stellungnahme. Nehmen Rat und Parlament den Rechtsakt beide an oder billigt der Rat Änderungsvorschläge des Parlaments, so kommt der Rechtsakt damit bereits in der ersten Phase zustande. Verlangt das Parlament demgegenüber Abänderungen, die nicht die Billigung des Rates finden, so kann dieser mit Mehrheit einen sog. Gemeinsamen Standpunkt festlegen, der sodann die Grundlage einer Zweiten Lesung im Parlament bildet. Dieses kann entweder den Rechtsakt in Form des vom Rat formulierten Gemeinsamen Standpunktes annehmen oder mit absoluter Mehrheit ablehnen; im letzteren Fall ist der Rechtsakt endgültig gescheitert. Bringt das Parlament hingegen seinerseits Änderungsvorstellungen ein, kann der Rat die Änderungen in dieser Phase entweder akzeptieren oder durch seine Ablehnung die Einberufung eines Vermittlungsausschusses bewirken, der paritätisch mit Mitgliedern des Rates und des Parlaments besetzt ist und – als letzte Möglichkeit – einen Kompromiß ausarbeitet. Dieser Kompromiß – sog. Gemeinsamer Entwurf – muß anschließend die Billigung beider Organe finden, andernfalls ist der Rechtsakt gescheitert. Für das Mitentscheidungsverfahren ist insofern charakteristisch, daß jeweils das ablehnende Organ durch seine Änderungsvorschläge die Grundlage für einen weiteren Einigungsversuch liefert: Rat und Parlament wirken in gemeinsamer Verantwortung abwechselnd gestaltend auf den Rechtsakt ein, bis es entweder zu einer Einigung kommt oder ein Scheitern feststeht. Lehnt das EP den gemeinsamen Standpunkt mit absoluter Mehrheit ab, so ist dieser endgültig gescheitert; beschließt es jedoch eine Abänderung des Standpunktes, so kann der Rat entweder den abgeänderten Rechtsakt erlassen167 oder ablehnen; im letzteren Fall kommt es zum Tätigwerden des Vermittlungsaus-

167 Hierbei hängt die Erforderlichkeit einer einstimmigen Entscheidung oder die Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung von der erforderlichen Stellungnahme der Kommission ab.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

schusses. Das Ergebnis der Arbeit des Vermittlungsausschusses kann von Rat und EP nur gemeinsam angenommen werden; wird im Vermittlungsausschuß keine Einigung erzielt, hat der Rat nur noch die Möglichkeit, den ursprünglichen gemeinsamen Standpunkt zu billigen; zu dessen Erlaß ist er jedoch wiederum darauf angewiesen, daß das EP von seinem Vetorecht keinen Gebrauch macht. Wenn auch dem Parlament in diesem Entscheidungsverfahren kein Initiativrecht zukommt168, ist sein gestalterischer Einfluß insbesondere durch das in Art. 251 Abs. 4 EG vorgesehene Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Kommission erheblich erweitert. Das EP kann zwar seine Auffassung nicht gegen den einstimmigen Widerstand des Rates positiv durchsetzen in der Weise, daß es den Rechtsakt ohne dessen Mitwirkung erläßt; andererseits kann aber gegen seine ausdrückliche Ablehnung eine Rechtsetzung nicht erfolgen. Dies begründet nicht nur einen erheblichen praktischen Einigungsdruck, da das Parlament den Rechtsakt scheitern lassen kann, sondern räumt dem EP auch einen dem Ratseinfluß durchaus äquivalenten Einfluß auf die konkreten Regelungsinhalte ein169: Kommt ein Rechtakt im Mitentscheidungsverfahren zustande, so ist dieser – ungeachtet der verfahrensmäßigen Differenzierungsmöglichkeiten im einzelnen – notwendig das Resultat einer bejahenden Stellungnahme (oder zumindest konkludenten Billigung durch Nichtäußerung) des EP und rechtfertigt es, das EP im Mitentscheidungsverfahren als Mitgesetzgeber anzusehen170. Bereits nach der Maastrichter Vertragsfassung waren folgende Bereiche Gegenstand des Mitentscheidungsverfahrens: Freizügigkeit171, Niederlassungsund Dienstleistungsrecht172, Binnenmarkt173, Fördermaßnahmen im Kulturbereich174 und im Gesundheitswesen175, spezifische Maßnahmen des Verbraucherschutzes176, Leitlinien Transeuropäische Netze177, Rahmenprogramm Forschung und Technologie178 sowie Aktionsprogramme Umwelt179. Hierbei han168

s.o., aa). Ähnlich in der Bewertung Simm/Heber, Rechtsetzungsbefugnisse des EP, ZG 1999, S. 332: „dem Rat nahezu gleichwertige Rolle“. 170 Vgl. auch Streinz, Rdnr. 451. 171 Art. 40 EG. 172 Art. 7, 46 Abs. 2, 47 Abs. 2, 55 EG. 173 Art. 95 EG. 174 Art. 151 Abs. 4 EG. 175 Art. 152 Abs. 4 EG. 176 Art. 153 Abs. 4 EG. 177 Art. 156 EG. 178 Art. 166 EG. 169

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

481

delt es sich fast durchgehend um grundlegende Sachbereiche des Gemeinschaftsrechts180. Neu hinzugekommen durch die Amsterdamer Änderung sind folgende Sachbereiche: Diskriminierungsverbot181, Verkehr182, Durchführungsbeschlüsse über den Europäischen Sozialfonds183, berufliche Bildung184, transeuropäische Netze185, Durchführungsbeschlüsse zum Europäischen Fonds für regionale Entwicklung186, Implementierung von Forschung und Technologie Rahmenprogrammen187, Umweltpolitik188, allgemeine Aktionsprogramme Umweltpolitik189 und Entwicklungszusammenarbeit190. Dadurch hat das Verfahren eine zumindest quantitativ nicht unerhebliche Aufwertung erfahren. Auch unter Berücksichtigung der erheblichen Stärkung des EP seit 1993 läßt sich eine parlamentarische Universalverantwortlichkeit191 für die Unionsrechtsetzung nicht konstatieren. Der Rat als Hauptrechtsetzungsorgan der Europäischen Union192 ist überall federführend, auch bei der stärksten Form der Einbeziehung im Verfahren der Mitentscheidung. Jedoch eröffnet das Mitentscheidungsverfahren durch die annähernde Gleichgewichtigkeit der Entscheidungsträger den Weg zu einer Mitverantwortlichkeit auf Augenhöhe des Rates, die es rechtfertigt, dem Parlament eine originäre Mitverantwortlichkeit für die im Mitentscheidungsverfahren zustande gekommenen Rechtsakte zuzusprechen.

179

Art. 175 Abs. 3 EG. So auch Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 73. 181 Art. 12 EG. 182 Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffahrtsverkehr nach Art. 71 Abs. 1 EG; Seeschiffahrt und Luftfahrt nach Art. 80 Abs. 2 EG. 183 Art. 148 EG (durch den Amsterdamer Vertrag aus dem Verfahren des Art. 252 EG in das Verfahren des Art. 251 EG überführt). 184 Art. 150 Abs. 4 EG. 185 Art. 156 Abs. 1 EG. 186 Art. 162 EG. 187 Art. 172 Abs. 2 EG. 188 Art. 175 Abs. 1 EG. 189 Art. 175 Abs. 3 EG. 190 Art. 179 Abs. 1 EG. 191 Hier nicht zu verstehen als – aufgrund der fehlenden Kompetenz-Kompetenz der Union ohnehin ausgeschlossenen – Allzuständigkeit, sondern als legislative Letztverantwortlichkeit für alle Bereiche, in denen die Union in Wahrnehmung ihrer Kompetenzen rechtsetzend tätig wird. 192 Einhellige Ansicht, vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 147, Streinz, Europarecht, Rdnr. 438. 180

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

ee) Bewertung der Zuordnung von Aufgabenfeldern zu den Willensbildungsformen Art und Umfang der Einbeziehung des EP in den Prozeß der Sekundärrechtsetzung folgen auch nach den Reformen von Amsterdam und Nizza keinem konsistenten Prinzip, sondern sind Resultat eines politischen Kompromisses193, der letztlich eine unbefriedigende „Zersplitterung“194 der Beteiligungsformen des EP bewirkt hat. Zwar ist insbesondere durch Maastricht und Amsterdam eine kontinuierliche Tendenz zur Stärkung der Parlamentspartizipation im Prozeß der Rechtsetzung zu erkennen195, während die Reformen von Nizza eher die Modifikation der proportionalen Repräsentation der Mitgliedstaaten in der Parlamentszusammensetzung betraf196. Dabei darf jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß in wichtigen und zahlreichen Politiken eine Teilnahme des EP am Entscheidungsfindungsprozeß nach wie vor überhaupt nicht stattfindet197. Zudem ist die Zuordnung von Arbeitsfeldern zu einem der genannten Verfahrenstypen von keinem systematischen Zugriff getragen. Mit einem unspezifischen Erstarken des Parlaments ist jedoch weniger gewonnen, als es in undifferenzierter Gleichsetzung von Demokratisierung und Legitimitätssteigerung nahegelegt wird. Alternative Ausgestaltungsoptionen müßten sich auf zuvor erfolgende Typisierung supranationaler Legislativgegenstände beziehen. Die differenzierten Willensbildungsformen, aus denen zu erlassende Verordnungen und Richtlinien hervorgehen, machen deutlich, daß die Überzeugungskraft des von der europaparlamentarischen Einbeziehung ausgehenden Legitimations- und Akzeptanzgehalts davon abhängig ist, daß der dem Parlament zukommende Verantwortlichkeitsgehalt zu dem Bedeutungsgewicht der zu treffenden Regelung in einem prinzipiengegründeten Verhältnis steht. Denkbar als Ausgangspunkt hierfür wäre einerseits eine Abkehr von der sektoral einheitlichen Zuweisung der Verfahrensform zu einer Differenzierung innerhalb des Verfahrens, die es 193

Streinz, Europarecht, 3. Aufl., Rdnr. 451 f. Streinz (Fn. 193). 195 Vgl. für Maastricht Epiney, Neuere Tendenzen in der Rechtsentwicklung der Europäischen Union, SZIER 1995, S. 140. So auch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 146 f.; für Amsterdam Neuhold, Das Europäische Parlament im Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Union, S. 45 ff.; Simm/Heber, Rechtsetzungsbefugnisse des EP, ZG 1999, S. 331, 332 ff. 196 Vgl. den Überblick hierzu bei Pache/Schorkopf, Der Vertrag von Nizza. Institutionelle Reformen zur Vorbereitung der Erweiterung, NJW 2001, S. 1377 ff.; für die Annäherung der Union an den bislang aus politischen Gründen vernachlässigten Grundsatz der Wahlgleichheit ist dieser Reformpunkt an Wichtigkeit kaum zu überschätzen. 197 Vgl. den Überblick bei Simm/Heber, Rechtsetzungsbefugnisse des EP, ZG 1999, S. 344. 194

II. Bestandsaufnahme europäischer Legislativkompetenzen

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erlaubt, die Verfahrensform nach der Bedeutsamkeit des jeweils konkret betroffenen Regelungsgegenstandes zu unterscheiden. Eine in diese Richtung weisende Möglichkeit hat etwa das Europäische Parlament selbst aufgezeigt: Es hat schon im Zusammenhang mit dem Gipfel von Nizza angeregt, seine Einbeziehung in den Rechtsetzungsprozeß stets im Wege des Mitentscheidungsverfahrens vorzusehen, sofern der Rat per Mehrheitsentscheidung entscheidet. Diese Option beruhte allerdings wiederum auf der Vorstellung, daß der Verlust direkter mitgliedstaatlicher Repräsentation durch die originär europäische Parlamentsrepräsentation kompensiert würde. Abgesehen davon, daß die Repräsentationssubjekte (Mitgliedstaaten und europäische Bürger) nicht identisch sind, ist jedoch die praktische Handhabbarkeit fraglich. Bereits im gegenwärtigen Recht ist der paradoxe Effekt zu beobachten, daß der Rat von möglichen Mehrheitsentscheidungsmöglichkeiten zum Teil dort keinen Gebrauch macht, wo dies zur Einbeziehung des EP im Wege des Mitentscheidungsverfahrens führte. Die politische Konsensfindung innerhalb des Ministerrates erscheint offenbar in solchem Maße gegenüber der Einigung mit dem EP einfacher, daß zur Verhinderung einer zwischenorganschaftlichen Konsensfindungsnotwendigkeit auch solche Vermeidungsstrategien beschritten werden. Daraus wird deutlich, daß die Rechtsetzung auch gegenüber den faktischen Einflüssen der Willensbildung auf eine Optimierung angewiesen ist, durch die sichergestellt ist, daß Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Willensbildungsformen nicht für bloßes Taktieren genutzt werden, sondern legitimitätsorientierte Unverfügbarkeiten zur Geltung gebracht werden. Die aus dem Mitentscheidungsverfahren resultierende Erschwerung der Rechtsetzung muß dort, wo eine mitverantwortliche Position des EP im Normsetzungsprozeß legitimatorisch unverzichtbar ist, hingenommen werden. Welche Kriterien für eine Neuordnung der Sachbereichszuordnungen zu den Beteiligungsformen in Betracht kommen, wird unten im Zusammenhang mit Untersuchung verallgemeinerungsfähiger Aspekte der Wesentlichkeitstheorie für ein allgemeines vertikales Kompetenzabgrenzungsprinzip entwickelt.

4. Zwischenergebnis Damit läßt sich zunächst festhalten, daß die gegenwärtigen Kompetenzprinzipien – trotz teilweise ausdifferenzierter Ansätze einer konsistenten kompetentiellen Ordnungsvorstellung und einer dieser korrespondierenden Prinzipienstruktur – dem für eine Befugnisbalance erforderlichen bipolaren Betrachtungswinkel nicht genügen. Die Gemeinschaftsrechtsbefugnisse stellen sich in ihrer Summe zwar als Balance von befugniszuweisenden und -restringierenden Teilelementen dar; ihnen läßt sich jedoch keine durchgängig gleichgewichtige, an Grundsatzerwägungen ausgerichtete Perspektive auf Gemeinschaftsrecht

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

und nationalstaatliches Recht entnehmen. Namentlich die vom EuGH herausgeprägten dynamisierenden Auslegungsprinzipien entbehren einer Ausrichtung am Komplementärcharakter der Union und etablieren statt dessen einen Grad von Unionsautonomie, der im geltenden Gemeinschaftsverfassungsrecht keine direkte Stütze findet.

III. Restrukturierung des horizontalen Kompetenzgefüges: Die Wesentlichkeitstheorie als Strukturprinzip eines unionsinternen Legislativorganigramms

1. Vorbehaltssysteme im Staatsrecht und im supranationalen Verbundsrecht

a) Das System staatsrechtlicher Normenhierarchisierung: Gesetzesvorrang, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt Im zweiten Kapitel wurde zu zeigen versucht, daß die in einem Rechtsstaat anfallenden Regelungsanforderungen einer Wahrnehmung bedürfen, die keiner Verteilung von Regelungsgegenständen nach bloßer Funktionalität folgt, sondern die Intensität der Rückbindung an den staatsstiftenden Selbstbestimmungskonsens auf die Bedeutung der Regelungsaufgabe abstimmt. Das Gewaltenteilungsprinzip weist den Primat zur Artikulation von Allgemeinheit dem parlamentarischen Gesetzgeber zu198; die starke verfassungsrechtliche Akzentuierung der Rechtsform des Gesetzes in der grundgesetzlichen Kompetenzordnung, ihr im parlamentarischen Willensbildungsprozeß und seiner Ableitung vom Souverän begründeter Vorzug199 ist praktisch davon abhängig, daß die Zuordnung von Regelungsgegenständen innerhalb der staatsorganisationsrechtlichen Normenhierarchie sich hierauf bezieht200. 198 Kube, Vom Gesetzesvorbehalt des Parlaments zum formellen Gesetz der Verwaltung?, NVwZ 2003, S. 59. 199 Kube (Fn. 198), S. 53: „Legitimationstheoretische Dignität“. 200 Dem widerspricht es nicht, wenn etwa Kopp, Inhalt und Form der Gesetze als ein Problem der Rechtstheorie, Band 1, S. 332 ff., und Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 332 ff. meinen besonders betonen zu müssen, daß der Gesetzesbegriff Wandlungen unterworfen sei. Vgl. dazu auch Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 57. Jedenfalls der in vorliegendem Zusammenhang maßgebende Allgemeinheitsbezug (zur

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

485

Das deutsche Staatsverfassungsrecht trägt dieser Anforderung durch ein typisiertes System der Hierarchisierung Rechnung, das hauptsächlich in den Rechtsinstituten des Gesetzesvorrangs, Gesetzesvorbehaltes und Parlamentsvorbehaltes umgesetzt ist201. In abgestufter Form verwirklichen sie Anforderungen an das Maß der Bindung von Hoheitsgewalt an die Handlungsform des Gesetzes. Damit werden durch sie nicht nur die – häufig in der Thematisierung im Vordergrund stehenden202 – rechtsstaatlichen Kerngehalte einer Bindung der ausführenden Verwaltung in ihrem angestammten Tätigkeitsbereich realisiert. Da die Regelsetzungsbefugnis der Exekutive in bestimmten Bereichen als notwendige, eigenständig-normative Ergänzungsleistung erforderlich ist203, liegt eine Hauptaufgabe der Vorbehaltstypisierung auch in der Formulierung praktischer Grundkriterien für eine praktisch zweckmäßige Differenzierung von Regelungsbefugnissen und der hierzu notwendigen Hierarchisierung von Normebenen. Nicht nur rechtsstaatliche Determination der Verwaltung, sondern auch eine Abschichtung legislativer Verantwortlichkeitssphären erfährt durch das Vorbehaltssystem seine Realisation. Der Grundsatz des Gesetzesvorrangs statuiert das rechtsstaatlich204 unverzichtbare Minimum an Gesetzesbindung205. Er sichert den mit dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit implizierten normativen Primat des Gesetzes geltungslogisch gegenüber nachrangiger Exekutivrechtsetzung; das Gesetz derogiert untergesetzliche Rechtsätze kraft seiner übergeordneten normhierarchischen Stellung. Der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts postuliert darüber hinausgehend, daß die Wahrnehmung bestimmter Exekutivkompetenzen – rechtsetzender oder administrativer Art – auf ein Gesetz rückführbar sein müsse. Noch weitergeKontroverse um das Verständnis des Begriffs der Allgemeinheit vgl. oben, Kap. 3, III. 3. a) aa) des Gesetzes erscheint insofern als begriffliches, wandlungsunabhängiges Gesetzesmerkmal. 201 Vgl. nur Ossenbühl, HdBStR Band 3, § 62, Rdnr. 26; nach von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 185, hat die Wesentlichkeitstheorie als zentrales Vorbehaltsprinzip „Gelenkfunktion“ zwischen den Prinzipien der Grundrechtsdogmatik und dem Staatsorganisationsrecht. 202 Nach Detterbeck, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jura 2002, S. 235, manifestiert sich in der Vorbehaltsdogmatik das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. 203 Das Ausmaß dieser Zulässigkeit wurde im zweiten Kap. – in der Abgrenzung zu weitergehenden Konzeptionen wie der von Bogandys – bestimmt. 204 Zum Rechtsstaatsprinzip gehört die Bindung von Staatsgewalt an die Herrschaft des Gesetzes, vgl. Art. 20 Abs. 2 GG. Überblicksweise zu den Grundstrukturen Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 610 ff. 205 Vgl. auch von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 166, unter Verweis auf Kant (ebd. Fn. 52): „die allgemeine Norm als Grundlage und Garant der Rationalität ist eines der tragenden Axiome europäischen Rechtsdenkens überhaupt“.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

hend wirkt sich der Parlamentsvorbehalt aus; im einzelnen ist nach wie vor umstritten, ob dieser als eine spezielle (Unter-)Form des Gesetzesvorbehaltes, als ein „zum Delegationsverbot verdichteter Gesetzesvorbehalt“206 aufzufassen ist oder ob mit ihm das Gebot einer handlungsformunabhängigen, nicht notwendig gesetzesförmigen parlamentarischen Eigenbefassung statuiert ist207. Letzterem zufolge würde der Parlamentsvorbehalt in seinem Anwendungsbereich eine parlamentarische Befassung, nicht aber eine gesetzliche Manifestation dieser Befassung fordern208. Bestimmt sich der Parlamentsvorbehalt demgegenüber wesentlich als Delegationsverbot, so muß, wo er gilt, eine hoheitliche Maßnahme nicht nur auf die Rechtsquelle Gesetz innerhalb eines mehr oder weniger langen Ableitungszusammenhanges rückführbar sein, sondern die im Gesetz manifestierte parlamentarische Entscheidung selbst die anstehenden normativen Probleme grundlegend bewältigen. Die terminologische Differenzierung von (einfachem) Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt ist gängig209, jedoch nicht allzu geglückt, da sie den maßgeblichen Differenzierungsgesichtspunkt zwischen beiden Abstufungen im Sinne der letztgenannten Bedeutungsinterpretation nicht sprachlich angemessen zur Geltung bringt. Sie suggeriert – und wird in der zweiten Bedeutungsvariante des Begriffsverständnisses in der Tat auch so aufgegriffen210 –, daß im einen Fall die Handlungsform, im anderen Fall hingegen die Organzuordnung als vorbehaltsbestimmendes Kriterium im Vordergrund stünde. Unter legeshierarchischen Gesichtspunkten – bezogen also auf die Systematisierung der Rechtsetzungskompetenzen – ist jedoch entscheidend, daß sowohl Gesetzesvorbehalt als auch Parlamentsvorbehalt das nachgeordnete Exekutivhandeln unter den Vorbehalt gesetzesförmiger Ermächtigung durch das Organ Parlament stellen211. Daß staatsorganisationsrechtlich auch Handlungsformen existierten und erforderlich sind, in denen sich nichtgesetzliche parlamentarische Befassung

206 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Band I, § 24, Rdnr. 24, Fn. 182, unter Verweis auf Erichsen. 207 So Detterbeck, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jura 2002, S. 237. 208 Hauptbeispiele hierfür sind Parlamentsbeschlüsse zu nicht engeren Sinnes regelungsbedürftigen Sachentscheidungen (etwa: Auslandseinsätze der Bundeswehr, vgl. dazu BVerfGE 90, 286, 381 ff.) oder das satzungsförmige parlamentarische Selbstverwaltungsrecht der Geschäftsordnung. 209 Vgl. Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 610 ff.; Detterbeck (Fn. 207), S. 235, 237; für Ossenbühl, HdBStR Band III, § 62, Rdnr. 9, manifestiert sich im Parlamentsvorbehalt ein Vorbehalt gesetzesunmittelbarer Regelung und Delegationsverbot. 210 Detterbeck (Fn. 207), S. 237. 211 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Band I, § 24, Rdnr. 24; Ossenbühl, HdBStR Band III, § 62, Rdnr. 9.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

487

manifestiert, hat für ein legitimationsbezogenes System der Legislativhandlungsformen kaum Bedeutung, da die nichtgesetzlichen parlamentarischen Handlungsformen entweder Akte organrechtlicher Selbstbestimmung212 oder schlichter nichtlegislativer Entscheidung sind213. Eine am legislativen Handlungsformsystem selbst ausgerichtete Differenzierung muß deshalb danach unterscheiden, welchen Umfang die Delegation von Entscheidungsmacht annehmen darf oder welche Komponenten unveräußerlich bzw. undelegierbar sind. Hierfür erscheint deshalb überzeugender, zwischen dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt im bekannten Sinne einerseits und einem Unmittelbarkeitsvorbehalt, gekennzeichnet durch die Unveräußerlichkeit parlamentarischer Selbstbefassung, andererseits zu differenzieren. Diese Begrifflichkeit wird im folgenden zugrunde gelegt. Die beiden Vorbehaltsformen sind infolge dieser Aussagegehalte legimationstheoretisch nicht gleichgewichtig. Während der allgemeine Gesetzesvorbehalt mit der Notwendigkeit der Rückführbarkeit von Herrschaftsausübung auf ein parlamentarisches Gesetz im wesentlichen ein legislatives Ermächtigungserfordernis statuiert, artikuliert der Unmittelbarkeitsvorbehalt die Notwendigkeit eines bestimmten (parlamentarischen) Willensbildungsprozesses als Grundlage für die legitimitätstheoretisch zureichende Bewältigung des normativen Gegenstandes. Damit ist die Verknüpfung von Handlungsform und Willensbildungsprozeß beim Unmittelbarkeitsvorbehalt am intensivsten. Der Vorbehalt des Gesetzes im allgemeinen Sinne konstituiert einen Ableitungszusammenhang, der lediglich die formelle Rückführbarkeit nachgeordneter Handlungsformen auf das ermächtigende Gesetz erfordert214; strukturell etabliert er eine Legitimationskette innerhalb des Normensystems. Der Unmittelbarkeitsvorbehalt führt zu einer materialen Bindung von Form und Inhalt: „Das Gesetz muß ein bestimmtes Regelungsminimum zur Determinierung des gesetzesakzessorischen Handelns niederlegen“215. Alle drei Differenzierungsformen akzentuieren die legitimatorische Distinguiertheit der Rechtsform Gesetz im grundgesetzlichen Kompetenzgefüge, sind jedoch ihrerseits in ihren Anwendungsvoraussetzungen im Grundgesetz nur fragmentarisch geregelt. Die differenziertesten diesbezüglichen Normierungen

212

So die GO BT, vgl. BGBl. I 1998, S. 428. So etwa die Entscheidung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, vgl. BVerfGE 90, 286, 381 ff. 214 Detterbeck (Fn. 207), S. 236. 215 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 177; vgl. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 28 ff. 213

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

liefern die Schrankenbestimmungen der Grundrechtsartikel216. Darüber hinaus bestimmt Art. 80 Abs. 1 GG Voraussetzungen für die Delegation normativer Entscheidungsmacht auf exekutivische Entscheidungsträger, die in erster Linie die Bestimmtheit und finale Prädetermination exekutivischer Verordnungsgebung durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage beinhalten217. Eine allgemeine, abstrakt und sachgebietsunabhängig formulierte Vorbehaltsbestimmung, die allgemein und ohne Bezug auf die konkrete Aufgabe grundrechtlicher Eingriffsbestimmung regelte, welche normativen Aufgaben auf ein Parlamentsgesetz rückführbar bzw. von diesem selbst bewältigt sein müßten, normiert die Verfassung jedoch nicht explizit. Gemeinsamer konstruktiver Kerngehalt aller Vorbehaltsregeln ist die Intention der praktischen Hierarchisierung von Normsystemen nach dem Kriterium der Nähe zu einem bestimmten Willensbildungsprozeß. Nach von Bogdandy handelt es sich bei dem Rechtsinstitut des Gesetzesvorbehaltes generell um ein „Gelenk“218 zwischen Grundrechtsgeltung und Staatsorganisationsrecht. Die wesentliche, verallgemeinerungsfähige Dimension konkreter Vorbehaltsregeln wie der Wesentlichkeitstheorie setzt indes, wie zu zeigen sein wird, weniger bei einer grundrechtsgewährenden Dimension des Gesetzesvorbehalts als bei dem Kriterium der Selbstbestimmungsunmittelbarkeit an219.

b) Ansätze einer gemeinschaftsrechtsinternen Vorbehaltsdogmatik de lege lata Das gemeinschaftsrechtliche Handlungsformsystem ist von einer dem Staatsrecht vergleichbaren Vorbehaltsdogmatik allenfalls ansatzweise und nicht in einer dem hier verfolgten Strukturierungsanliegen entsprechenden Weise geprägt.

216

Vgl. BVerfGE 47, 46, 78 f.: Die meisten Grundrechte sehen ohnehin vor, daß Eingriffe nur durch Gesetz oder nur aufgrund eines Gesetzes zulässig sind.“ 217 Mit Möglichkeiten „konkretisierender Rechtsetzung“ außerhalb ausdrücklicher Ermächtigungen nach Art. 80 GG befaßt sich Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, S. 2 ff. Diese Problematik verweist auf die bereits oben, Kap. 2, III. 4. c), dargestellte Verhältnisbestimmung von Rechtsetzungsformen unter dem Aspekt ihres Problemlösungsvermögens und den kategorialen Rahmen, in dem ein solcher Abgleich nur stattfinden kann. 218 Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 185 ff. 219 Dazu i. E. unten, Kap. 5, III. 2. b) cc).

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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aa) Vertragsvorbehalt und Abgrenzung zum Komitologieverfahren als Ansätze gemeinschaftsrechtlicher Vorbehalte Die hauptsächliche Ausprägung erfährt das gemeinschaftsrechtliche Vorbehaltssystem mit dem bereits thematisierten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Dieses Prinzip verlangt die Rückführbarkeit jedes Sekundärrechtsakts auf eine primärrechtliche Ermächtigung und statuiert damit einen umfassenden „Vertragsvorbehalt“220. In Anbetracht der im vierten Kapitel entwickelten handlungsformsystematischen Einordnung des Vertrages liegt in dieser Vorbehaltsregel jedoch kein dem Gesetzesvorbehalt äquivalentes Prinzip; der so apostrophierte supranationale Verfassungsvorbehalt ist eine normhierachische Stufe höher angesiedelt und gibt für einen an den unterverfassungsrechtlichen Repräsentationsstrukturen orientierten Differenzierungsbedarf kein Kriterium an. Differenzierungsformen unterhalb der Dichotomie von Primär- und Sekundärrecht sind explizit im Gemeinschaftsprimärrecht nicht angelegt. Die Rechtsprechung des EuGH hat sich gleichwohl in gewissem Umfang der Verhältnisbestimmung von Sekundärrechtsakten zu den subdelegierten Durchführungsmaßnahmen angenommen und hier Grundkriterien entwickelt, die die mögliche Regelungsreichweite dieser Normebene gegenüber den Sekundärrechtsakten betreffen und die – unter der Prämisse einer gewissen Vergleichbarkeit von Sekundärrechtsakten und Durchführungsregeln mit dem staatsrechtlichen Begriffspaar Gesetz und Verordnung – eine beschränkte Parallele zur deutschen Vorbehaltsdogmatik erkennen lassen. Kennzeichen des hier vor allem bedeutsamen Komitologieverfahrens – wesentlich definiert durch die drei Komitologiebeschlüsse221 – ist die Ermächtigung der Kommission zur eigenständigen Verabschiedung von Implementationsakten222, mit denen die praktische Wirksamkeit vorgängiger Sekundärrechtsakte gewährleistet wird223. Nach der Rechtsprechung des EuGH, die hiermit mögliche Verselbständigungstendenzen der Komitologieebene nach dem Kriterium der Bedeutsamkeit des Regelungs220

Vgl. dazu Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996; ungenau, da nur auf den „Vorrang der Unionsverfassung“ Bezug nehmend, von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 442. 221 87/373 vom 13. 07. 1987, ABl. 1987 Nr. L 197/33, ersetzt durch den eigentlichen sog. „Komitologie-Beschluß“ 1999/468, ABl. 1999 Nr. L 184/23; vgl. zu den damit statuierten Beschränkungen i. e. Schwarze, Kommentar EG, Art. 202 EG, Rdnr. 16 ff. 222 Einen guten Überblick über die Verfahrensdifferenzierungen gibt Streinz, Europarecht, 1999, Rdnr. 457 ff. 223 Zu Legitimationsfragen in bezug auf die Komitologieverfahren umfassend Dehousse, Towards a Regulation of Transnational Governance? Citizen’s Rights ans the Reform of the Comitology Procedures, in: Joerges, Christian/Vos, Ellen (Hrsg.), EU committees: social regulation, law and politics, Oxford 1999, S. 109 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

gegenstandes beschränkt, müssen die „wesentlichen Grundzüge“ der zu regelnden Materie von den Gemeinschaftsorganen im dafür jeweils vorgesehenen sekundärrechtsetzenden Verfahren selbst entwickelt werden224. Die Auslegung dieses gemeinschaftsrechtlichen Wesentlichkeitskriteriums orientiert sich vorrangig daran, ob und inwieweit in Frage stehende Legislativakte die Gemeinschaftspolitik selbständig umsetzen oder lediglich „unterpolitische“ Gegenstände betreffen225. Im übrigen ist die legeshierarchische Verhältnisbestimmung von Komitologieebene und Sekundärrecht indes lediglich von allgemeinen Kriterien bestimmt, in denen Vorrangprinzipien zum Ausdruck kommen226. Darüber hinaus hat der Gerichtshof sich mit der Frage befaßt, ob eine Möglichkeit zur abermaligen Subdelegation von Durchführungsbefugnissen durch die Kommission im Rahmen des Komitologieverfahrens auf die Mitgliedstaaten gestattet sei, und sich hier ablehnend geäußert227. Diese Fragestellung ist weitgehend theoretischer Natur; zudem ist auch nicht klar, ob es sich bei einer gedachten Befugnisebene unterhalb des Komitologieverfahrens überhaupt noch um rechtsetzende Hoheitsakte handeln soll oder hiermit genuin exekutivische Befugnisse auch im funktionalen Sinne gemeint sind. Eine solche über den Mechanismus der Subdelegation erfolgende Etablierung einer eigenen Vollzugsebene stünde seinerseits in Gefahr, das gemeinschaftsrechtskennzeichnende Prinzip eines mitgliedstaatlich dominierten Verwaltungsvollzugs latent in Frage zu stellen. Abgesehen davon hat die Verhältnisbestimmung zwischen Durchführungsrechtsakten und einer unterhalb angesiedelten Ausführungsebene schon aus normhierarchischen Gründen für ein legitimationstheoretisch aufgeladenes Vorbehaltskriterium analog zum staatstheoretischen Vorbehaltssystem kaum Erkenntniswert. Auch die Beschränkung des Durchführungsverfahrens auf nichtgrundsätzliche Regelungsfragen als Ansatz einer Vorbehaltsausprägung beinhaltet für das 224

EuGH, Rs. C-25/70, Slg. 1970, S. 1161, Rdnr. 6 – Köster.

225

Vgl. EuGH, Rs. C- 240/90, Slg. 1992, I-5383, Rdnr. 37.

226

Der Durchführungsrechtsakt muß sich im Rahmen des Basisrechtsakt halten (EuGH, Rs. C-9/95, Slg. 1997, I-645, Rdnr. 37), er muß die allgemeinen Verfahrensregeln der o. g. Komitologiebeschlüsse respektieren (EuGH, Rs. C-374/96, Vorderbrüggen, Slg. 1998, S. I-8403, Rdnr. 35) und die Regeln der GO einhalten (EuGH, Rs. C263/95, Slg. 1998, S. I-441, Rdnr. 32). Hinreichend bestimmte Grenzen der übertragenen Kommissionsbefugnis sind deutlich anzugeben (EuGH, Rs. 291/86, Central Import, Slg. 1988, 3696, Rdnr. 13, 15). Der delegierende Rechtsakt muß gewissen Bestimmtheitsanforderungen genügen (EuGH, Rs. C- 240/90, Slg. 1992, I-5383). 227 Anforderungen an die Möglichkeit weiterer Subdelegation (von der Kommission auf die Mitgliedstaaten): EuGH, Rs. 23/73, Slg. 1975, 1279, Rdnr. 25 f. – Rey Soda; ablehnend auch das Schrifttum, Vgl. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996, S. 242; Peter Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972, S. 213 ff.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

491

Hauptanliegen im komplementären Handlungsformsystem, das aus dem hier entwickelten Legitimationsverständnis folgt, kaum Ertrag. Schon die Prämisse der Gesetzesähnlichkeit der Sekundärrechtsakte erweist sich infolge der komlexeren Verantwortlichkeitsverhältnisse in hohem Maße als differenzierungsbedürftig228. Dies gilt nicht nur, weil supranationale Sekundärrechtsetzung ihrem Wesen nach bereits ihrerseits eine legislative Manifestation von delegierter Rechtsetzungsmacht darstellt, so daß den supranationalen Durchführungsrechtsakten als subdelegierter Normebene ein subalterner Sonderstatus zukommen muß. Wie im vierten Kapitel gezeigt wurde, ist das Sekundärrecht eine in Teilen kategorial überzeugende, in anderen Teilen legitimationsdefiziente Ausprägung supranationaler Entscheidungsformen, die zumindest de lege lata keine direkte Entsprechungsqualität zum staatlichen Gesetz aufweist. Ohne ihre Restrukturierung und ohne eine Standortbestimmung dieser Normebene blieben hierauf bezogene Vorbehaltsregeln unergiebig, solange nicht die legitimationstheoretisch primäre, weil normhierarchisch übergeordnete, Fragestellung einer stringenten sekundärrechtsbezogenen Handlungsformdifferenzierung beantwortet würde. Die Vorbehaltsansätze des EuGH verdienen inhaltlich Zustimmung, können jedoch in einem legitimationstheoretisch angemessen strukturierten Handlungsformsystem nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung formulieren. bb) Von der Richtlinie zum Vorbehalt eines europäischen Rahmengesetzes? Vereinzelte im Schrifttum vertretene Differenzierungsvorschläge beschreiben weniger Strukturen bereits vorhandener Normebenendifferenzierung, sondern konzentrieren sich stärker auf Optionen künftiger Differenzierung. So hat etwa Hilf bereits im Kontext des Maastrichtvertrages Anfang der 90er Jahre angeregt, eine angemessene sekundärrechtliche Vorbehaltsdogmatik könne sich durch die Fortentwicklung der Handlungsform der Richtlinie zu einem europäischen Rahmengesetz herausprägen und auf diese Weise der staatsrechtlichen Handlungsformsystematik annähern229. Ähnliche Vorschläge hat Pernice im Zusammenhang mit der Kommentierung der Vorschläge des Konventsentwurfs

228 A.A., allerdings gänzlich ohne Thematisierung der den Strukturparallelen zugrunde liegenden legitimatorischen Implikationen der beteiligten Handlungsformen Kalbheim/Gerd Winter, Delegation requirements for rule-making by the Commission, in: Gerd Winter (Hrsg.), Sources and Categories of European Union Law, 1996, S. 583, 592: Die vorgenannten Rechtsprechungskriterien für die Anforderungen seien dem Bestimmtheitsgebot des deutschen Art. 80 I 2 GG sehr ähnlich. 229

20 ff.

Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, S. 1 ff.,

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

unterbreitet230. Der Verfassungskonvent hat diese Entwicklungsmöglichkeit in der Reform der Handlungsformen durch die Einführung eines Europäischen Gesetzes und Europäischen Rahmengesetzes zumindest terminologisch aufgegriffen231. Derartige Überlegungen de lege ferenda sind aber nicht auf die Funktion einer Differenzierung zwischen gesetzlicher und untergesetzlicher Ebene bezogen: Der entscheidende Unterschied zwischen Richtlinie und Verordnung liegt nicht in institutionellen Differenzen ihrer Legislativgenese, sondern in ihrer Regelungsdichte. Dieser Differenzierungsansatz kann damit nicht repräsentationstheoretisch gewinnbringend instrumentalisiert werden, sondern ist allenfalls verwertbar, um die mehrebenentypische Rechtsetzungskonkurrenz zwischen Gemeinschaftsebene und Mitgliedstaaten differenzierter zu gestalten232. Nach geltender Rechtslage läßt sich demgegenüber festhalten, daß das Handlungsformsystem weder durchgängige, noch legitimitätsorientierte oder auch nur kohärente Hierarchisierungsprinzipien innerhalb des Sekundärrechts ausweist. cc) Gründe für die fragmentarische gemeinschaftsrechtliche Vorbehaltsdogmatik Dementsprechend läßt sich feststellen, daß ebenenimmanente Hierarchisierungsansätze, die der staatsrechtlichen, an der Handlungsform des Gesetzes orientierten Vorbehaltsdogmatik233 entsprechen, im supranationalen Verbund gegenwärtig nicht existieren. Hierfür bestehen unterschiedliche Gründe. Zu einem erheblichen Teil bildet die fehlende normhierarchische Systematisierung eine Entsprechung zu dem komplexen, institutionell verflochtenen System supranationaler Rechtsetzung234: Die Verantwortlichkeitsstrukturen des dualen Repräsentationsgefüges sind von keinem dem staatsrechtlichen Gewaltenteilungsschema entsprechenden Ordnungskonzept gekennzeichnet. Eine Parallele 230 Pernice, Verfassung der Europäischen Union. Bemerkungen zu den ArtikelEntwürfen des Präsidiums des Verfassungskonvents, WHI-Paper 3/03, www.whiberlin.de/verfassung-1.htm, S. 6. 231 Vgl. bereits Dok. CONV 571/03, Art. 24 ff. VerfE; bestätigt in Dok. CONV 724/1/03; übernommen in Dok. CONV 797/1/03 REV 1. Zur Bewertung dieser Vorschläge im Lichte des hier zugrunde gelegten Prinzipienzusammenhanges vgl. unten 5. 232 Dazu unten, Kap. 5, IV. 4. a). 233 Zur Bedeutung des Gesetzes für die Wesentlichkeitstheorie Kube, NVwZ 2003, S. 57: „Die der parlamentarischen Entscheidungsrationalität und nur ihr gemäße Handlungsform […] ist die Form des […] Gesetzes.“ 234 So von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 444 ff.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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von Organverantwortlichkeit und korrespondierender Handlungsform wie im Staatsrecht existiert nicht235. Vielmehr sind in den Sekundärrechtsakten unterschiedliche, in ihrem Bezugssubstrat divergente Verantwortlichkeiten gebündelt, die teils dem Wesen der dualen Repräsentationsarchitektur entsprechen, andererseits bestimmte Entscheidungsnotwendigkeiten reflektieren und im übrigen durch die Geschichte des Integrationprozesses als organischem Verlauf empirisch-kontingent bedingt sind. Die Formulierung legeshierarchischer Vorrangverhältnisse in bezug auf ein solches System eigenständiger supranationaler Ordnungsprinzipien würde nicht nur dem bestehenden Verflechtungssystem zuwiderlaufen236, sondern stünde auch in der Gefahr, die mit diesem System verbundenen Verantwortlichkeitsspezifika zu konterkarieren. Scheidet demnach die Möglichkeit der Installation einer spezifisch supranationalen Normenhierarchisierung nach gemeinschaftsrechtlichen Rechtsquellentypen weitgehend aus, so ist damit freilich die Installation einer Vorbehaltsdogmatik noch nicht obsolet. Die fehlende Differenzierungsmöglichkeit im supranationalen Handlungsformgefüge beschränkt sich auf die fehlende Möglichkeit, im Gemeinschaftsrecht ein supranationales „Gesetz“, mithin ein Surrogat für die typische, staatsrechtliche Artikulationsform legislativer Allgemeinheit zu identifizieren und das gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzungssystem um diese Handlungsform herum zu konstruieren. Möglich bleibt jedoch die Option einer sekundärrechtsimmanenten Binnendifferenzierung. Ansatzpunkt für eine supranationale Handlungsformhierarchie ist eine nicht am äußeren Erscheinungsbild der sekundärrechtlichen Norm, sondern an den Willensbildungsbedingungen der Hervorbringung dieser Norm selbst orientierte Differenzierung. Die äußere Kategorisierung der Handlungsformen – als Vertrag, Verordnung bzw. Richtlinie und Durchführungsakt – wird durch eine Aufgliederung der Handlungsformen Verordnung und Richtlinie in Abhängigkeit davon ergänzt, in welchem Verfahrenstypus diese zustandekommen237. Ein hierauf bezogenes Vorbehaltssystem hat dementsprechend die Aufgabe, den legitimatorischen Differenzgehalt der unterschiedlichen Entscheidungsverfahren zu reflektieren und zur Geltung zu bringen. Dieser Ansatz hat den Vorteil, daß er – gewissermaßen „unmittelbarer“ – am Verantwortlich235 Kube, NVwZ 2003, S. 59, spricht in bezug auf den staatsverfassungsrechtlichen Systemkontext treffend von der demokratischen und rechtsstaatlichen Dignität des Gesetzes, die sich aus der parlamentarischen Hervorbringung ergebe. 236 von Bogdandy/Bast (Fn. 234), S. 441, 458, nehmen deshalb an, daß eine fundamentale Neuordnung dieses Systems unter Preisgabe seiner bisherigen Ordnungsprämissen die bislang tragenden Willensbildungsstrukturen würde zerreißen müssen und dies praktisch kaum durchführbar wäre. 237

Zu den Verfahrenstypen vgl. oben, Kap. 5, II. 3. b).

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

keitsprofil als dem legitimationstheoretischen Grund der Vorzugswürdigkeit bestimmter Handlungsformen ansetzt, und er ist damit gleichzeitig in der Lage, sich mit diesem Kriterium auf die Spezifika der supranationalen Willensbildung im dualen Repräsentationsgefüge zu beziehen. Die Sekundärrechtsakte sind, wie dargestellt, nicht homogen rückführbar auf ein einheitliches Standardverfahren. Die differenzierte Willensbildungsstruktur der verschiedenen Verfahren ist Ausdruck eines unterschiedlichen Verantwortlichkeitsprofils in bezug auf die beteiligten Akteure. Eine hiervon ausgehende Vorbehaltssystematik bezieht sich auf die einzelnen Verfahrensformen und besteht in der Ausprägung von Aussagegehalten, welche Bezugsgegenstände von Regelsetzung welche Form der Willensbildung erfordern.

2. Die Wesentlichkeitstheorie als Maßstab innerstaatlicher Verteilung von Legislativkompetenzen

Der mögliche Ansatz einer sekundärrechtsinternen Hierarchisierung als solcher liefert selbst noch keinen Differenzierungsmaßstab. Allerdings ist der Seitenblick auf die staatsrechtlichen Kategorisierungsformen auch hier instruktiv. Im folgenden sollen Kriterien entwickelt werden, nach denen die der deutschen Verfassungsdogmatik geläufige, wenn auch umstrittene Wesentlichkeitstheorie in ihren verallgemeinerungsfähigen Bestandteilen analysiert und zum rechtsprinzipiellen Ausgangspunkt für eine legitimitätsorientierte Hierarchisierung des Gemeinschaftssekundärrechts instrumentalisiert wird. Dieses Vorgehen bedarf zweifacher methodischer Rechtfertigung. Einerseits bedarf es der Auseinandersetzung mit zunehmender rechtswissenschaftlicher Kritik, die – im Zuge einer sich neuerdings verfestigenden exekutivorientierten Gesetzgebungslehre – den kategorialen Gehalt der Wesentlichkeitstheorie, ihren Argumentationskontext und ihre Prämissen zunehmend in Frage stellt. Andererseits kann eine direkte Applikation ohne Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Strukturbesonderheiten nicht in Betracht kommen, verbietet sich also jede direkte Übertragung. Folglich geht es nicht um eine quasi am „Wortlaut“ der Wesentlichkeitsrechtsprechung orientierte Übertragung, sondern um eine Rekonstruktion der legitimatorischen Prämissen, aus denen sich die Wesentlichkeitstheorie implizit wie explizit zusammensetzt, als Grundlage für Restrukturierungsüberlegungen, die ihrerseits gänzlich an der supranationalen Ordnung in ihrem dargelegten repräsentationstheoretischen Profil (und nicht an einer Analogie zum staatsrechtlichen Dualismus von Gesetz und Verordnung) orientiert sein soll.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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a) Die Wesentlichkeitstheorie als universales Bestimmungskriterium der Vorbehaltsreichweite Auf der Grundlage einer weitgehend fehlenden Typisierung legislativer Vorbehaltsformen im Grundgesetz238 und einer auch im übrigen nur fragmentarischen Regelung einzelner Anwendungsbereiche durch geschriebene Gesetzesvorbehalte239 erstaunt es nicht, daß die Bestimmung der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes seit langem einen wesentlichen Gegenstand der Kontroverse in der rechtswissenschaftlichen Literatur darstellt240. Ältere Betrachtungen neigten hier einer Typisierung nach Begriffspaaren zu, etwa in der „klassischen“ Unterscheidung zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung241, Außen- und Innenbereich staatlicher Verwaltung oder einer grundrechtsorientierten Kategorisierung nach allgemeinem und besonderem Gewaltverhältnis242. Auch ein totaler Gesetzesvorbehalt – mit Abstufungen hinsichtlich des hierunter verstandenen Vorbehaltsumfangs im einzelnen243 – ist insoweit vertreten worden244. Das rechtsprinzipielle Ungenügen aller genannten Auffassungen liegt indes in der mangelnden Bezogenheit der den Vorbehaltsumfang bestimmenden Differenzierungskriterien auf den spezifischen handlungsformsystematischen Vorzug des Gesetzes. Daraus resultiert eine Unverbundenheit der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes gegenüber dem rechtsprinzipiellen Grund seiner Geltung.

238 Diese wird vom Grundgesetz allenfalls implizit vorausgesetzt. So pflegen die Schrankenbestimmungen der Grundrechte danach zu unterscheiden, ob Einschränkungen „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ zulässig sind, und treffen damit eine Abstufung nach dem Grad verlangter Unmittelbarkeit. Im übrigen ist die Schrankendogmatik der Grundrechte hingegen eher anhand des materialen Kriteriums differenziert, ob ein allgemeines oder ein beschränkendes Gesetz erfordert wird, vgl. dazu im Kontrast Art. 2, 5 GG (allgemeines Gesetz) vs. Art. 14 Abs. 1 GG (Inhalts- und Schrankenbestimmung). 239 Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 611: „zahlreiche Einzelregelungen“ […], „vergleichsweise unsystematisch bestimmte Materien“. 240 Vgl. dazu etwa Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 57 m.w.N. 241 Zur überkommenen Vorbehaltsdogmatik vgl. Detterbeck, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jura 2002, S. 236. 242 Für eine hierauf bezogene Differenzierung etwa Hans Peters, FS Huber 1961, S. 207 ff. 243 Vgl. dazu die Darstellung bei Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 58 ff., m.w.N. 244 So Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl., 1968, S. 197 ff.; in diese Richtung – jedenfalls für eine Erweiterung über die klassische Eingriffsformel hinaus – Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, 1962, S. 29 ff.; vgl. auch Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 105 f.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

In der Verfassungspraxis der Bundesrepublik war letztendlich das Bundesverfassungsgericht dazu berufen, allgemeine, kontextunabhängige Kriterien zu entwickeln, die eine Abgrenzung erlauben, welche Normebene jeweils regelungsbefugt sein soll, und damit das Prinzip der Gewaltenteilung in bezug auf die Rechtsetzung in einer über die enumerative Anlage des Grundgesetzes hinausgehenden Form zu konkretisieren. Mit dem erstmals in BVerfGE 40, 237, 248 ff. artikulierten argumentativen Ausgangspunkt der Wesentlichkeitstheorie245 hat das Bundesverfassungsgericht – in Abkehr von Vorbehaltsformeln, die sich allein am klassischen Eingriff in „Freiheit und Eigentum“ orientierten246 – einen allgemeinen, aus Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip hergeleiteten Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes normiert, der ungeachtet noch zu erörternder Kritik247 als fortbestehendes verfassungsrechtliches Leitprinzip des Gesetzesvorbehaltes die Verfassungspraxis bestimmt. Die Wesentlichkeitstheorie nimmt in der Verfassungsdogmatik die Funktion des wichtigsten „ungeschriebenen“ Gesetzesvorbehalts wahr248. Sie transzendiert – als eine von der Judikatur entwickelte Theorie – die im übrigen im Grundgesetz nur fragmentarisch normierten Vorbehaltsansätze249 zugunsten einer einheitlichen Vorbehaltsregel. Ihre Loslösung von der Eingriffsformel dokumentiert sich besonders deutlich in der folgenden Formulierung: „Die von der konstitutionellen, bürgerlich-liberalen Staatsauffassung des 19. Jhdts. geprägte Formel, ein Gesetz sei nur dort erforderlich, wo ‚Eingriffe in Freiheit und Eigentum‘ in Rede stehen, wird dem heutigen Verfassungsverständnis nicht mehr voll gerecht. Im Rahmen einer demokratischparlamentarischen Staatsverfassung, wie sie das Grundgesetz ist, liegt es näher anzunehmen, daß die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muß, und zwar losgelöst von dem in der Praxis fließenden Merkmal des ‚Eingriffs‘.“ 245

Das Bundesverfassungsgericht hat hier noch nicht die Formulierung der Wesentlichkeit geprägt, sondern den Vorbehalt auf „grundsätzliche Fragen“ bezogen, BVerfGE 40, 237, 249. 246 Vgl. etwa Wolf/Bachof/Stober, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 197 ff.; Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, S. 93 ff. 247 Dazu sogleich unten, b). 248 Detterbeck, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jura 2002, S. 236; Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 611. Zur Bedeutung der Frage nach einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt in der Staatsrechtsdogmatik auch Ossenbühl, HdBStR Band III, § 62, Rdnr. 26; kritisch Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685, 687. 249 Vgl. Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 611: „zahlreiche Einzelregelungen“; „vergleichsweise unsystematisch bestimmte Materien“.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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Bezug nehmend auf diese Entscheidung konkretisiert das Gericht dann in BVerfGE 47, 46, 78 f. die Herleitung der Wesentlichkeitstheorie aus Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Eine spezifische Stärke der Wesentlichkeitstheorie liege in der Ablösung des Gesetzesvorbehaltes von traditionellen grundrechts- und eingriffsbezogenen Formeln. Nicht der Grundrechtsbezug als solcher, sondern das Bedeutungsgewicht einer staatlichen Normsetzungsentscheidung für die Allgemeinheit erweist sich damit als entscheidend für die Feststellung ihrer Gesetzesbedürftigkeit. Hierfür erscheint der Grundrechtsbezug nur als eine – wenn auch praktisch sehr gewichtige – Fallgruppe250. „Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen […] selbst zu treffen und nicht der […]Verwaltung zu überlassen. […] Das gilt insbesondere für die der staatlichen Gestaltung offenliegende Rechtssphäre im Bereich der Grundrechtsausübung.[…] Als entscheidender Fortschritt dieser Rechtsauffassung ist es anzusehen, daß der Vorbehalt des Gesetzes von seiner Bindung an überholte Formeln (Eingriff in Freiheit und Eigentum) gelöst und von seiner demokratischrechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt wird, auf dem aufbauend Umfang und Reichweite dieses Rechtsinstituts neu bestimmt werden können…“251 Daß andererseits mit der Wesentlichkeitstheorie kein an der Verabsolutierung des Demokratieprinzips252 orientierter Parlamentsmonismus vorgezeichnet ist, sondern die Wesentlichkeitsformel durchaus an einer adäquaten Gewaltenbalance orientiert ist, die der genuinen Berechtigung der Exekutivorgane in der Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlichen Entscheidungskompetenzen ebenso Rechnung trägt, wird an der Entscheidung zum Nato-Doppelbeschluß deutlich (auch wenn hier keine legislative Kompetenzkonkurrenz zwischen Parlament und Exekutive, sondern die schlichte Entscheidungsbefugnis Gegenstand der Auseinandersetzung war):

250 Weitere tragende Beispiele aus der Rechtsprechung: Regelung von Grundlinien der Rundfunkordnung, BVerfGE 57, 295, 324; 89, 144, 152; Entscheidung über die Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie, BVerfGE 49, 89, 127; Quotenregelungen zur Frauenförderung, OVG Münster, DVBl. 1989, S. 1162. 251 BVerfGE 47, 46, 78 f.: Verfehlt erscheint es demgegenüber, wenn Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 613, in der Ablösung von der Eingriffsformel zugleich eine Ablösung des Gesetzesvorbehalts von einer freiheitsrechtlichen Argumentation erblickt. Die freiheitsgesetzliche Bedeutung der Rechtsform des Gesetzes manifestiert sich nicht so sehr in ihrem grundrechtsverwirklichenden, sondern in ihrem selbstbestimmungsradizierten Gehalt. 252 Entsprechend den in Kap. 2 entwickelten Hauptaussagen zur sedes materiae des Legitimitätskriteriums in bezug auf staatliche Normsetzungstätigkeit wäre nach hier vertretener Auffassung wiederum stärker auf das Repräsentationsprinzip abzustellen.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

„Die Konzentration politischer Macht, die darin läge, dem Bundestag in auswärtigen Angelegenheiten – über die ihm im GG zugeordneten Befugnisse hinaus – zentrale Entscheidungsbefugnisse exekutivischer Natur zuzuordnen, liefe dem derzeit vom GG normierten Gefüge der Verteilung von Macht, Verantwortung und Kontrolle zuwider. … Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das GG gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehaltes unterlaufen werden… Auch die Exekutive ist als politische Gewalt ausgestaltet und nicht etwa von vornherein auf politisch weniger bedeutsame Entscheidungen beschränkt…“253. Neuerdings hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus anhand der Entscheidung zur Organisationsgewalt der Exekutive den nachrangigen Charakter der Wesentlichkeitstheorie gegenüber bestehenden ausdrücklichen Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes herausgehoben und auch damit einer Verabsolutierung der Parlamentszuständigkeit eine Relativierung entgegengesetzt254. Die in der Unabgeschlossenheit möglicher Regelungsgegenstände begründete latente parlamentarische Allzuständigkeit konvergiert folglich nicht mit einer monistischen Konzentration aller Rechtsetzungsgewalt im Parlament. Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip ergänzen einander. Gegenläufig wirkt die Eigenberechtigung anderer Organe, die ihrerseits mit den materiell untergesetzlichen Regelungsgegenständen ein legitimes Regelungsfeld überantwortet bekommen. Die Wesentlichkeitstheorie artikuliert in bezug auf eine innerhalb des Rechtsstaatsprinzips selbst angelegte Konfliktsituation ein Konkordanzverhältnis. Das zeigen auch die neueren Entscheidungen255. In der Gesamtschau der vom Bundesverfassungsgericht mit der Wesentlichkeitstheorie verbundenen Bedeutungsgehalte etabliert diese ein an der Bedeutung der legislativen Sachentscheidung orientiertes Kriterium zur Ermittlung der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes. Sie transzendiert damit die im Grund253

BVerfGE 68, 1, 86 f.; vgl. auch BVerfGE 98, 218, 251 f.

254

Diese Relativität der Vorbehaltsforderung kann ohnehin bei näherer Betrachtung kaum zweifelhaft sein; vgl. dazu nur – trotz der Betonung der materialen Gehalte des Gesetzesbegriffs – Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 157 ff.; entsprechend von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 213: das Gesetz sei auf „grundlegende Regelung und politische Leitentscheidung“ bezogen. Diese Einsicht stellt die Notwendigkeit und Tragfähigkeit eines allgemeinen Vorbehaltsprinzips jedoch nicht in Frage; insofern erscheint das Diktum von der „umgekehrten Wesentlichkeitstheorie“ (Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1) in speziellen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts als verfehlt. 255

Neuere Beispiele aus der Judikatur: BVerfGE 95, 267, 307 f.; 98, 218, 251 f.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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gesetz ansonsten nur fragmentarisch und enumerativ angelegten Vorbehaltsverhältnisse in der Bezogenheit auf das allgemeine, hinter Exekutive und Legislative stehende Prinzipienverhältnis. Gleichzeitig bestimmt sie nicht allein den Gesetzesvorbehaltes, sondern systematisiert die Differenzierung von Gesetzesvorbehalt und Unmittelbarkeitsvorbehalt256. Die Dimension des Parlamentsvorbehaltes stellt sich hier als Delegationsverbot dar, durch das die funktionale Rückbindung exekutivischer Normsetzung an die Konkretisierung des vorgeordneten, ermächtigenden Gesetzes gewährleistet wird. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt erscheinen danach als quantitative Differenzierungen auf einer gleitenden Skala, die in Abhängigkeit von der Bedeutung des Regelungsgegenstandes eine abgestufte Intensität parlamentarischer Problemlösungshoheit postulieren. Kann der Bedeutung eines Regelungsgegenstandes dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, daß das Parlament seine Wertungen rahmenartig festlegt, so besteht ein ausfüllungsfähiger Konkretisierungsspielraum, der der nachrangigen exekutivischen Normierung zugänglich ist. Strukturell weist das Verhältnis von Parlament und exekutivischem Normengeber eine gewisse Parallele zum Verhältnis des Bundestags zu den Länderparlamenten bei der Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG auf257. Die Bedeutung eines Regelungsgegenstandes kann sich aber auch dazu verdichten, eine abschließende parlamentarische Gesamtentscheidung zu fordern. In diesem Fall konkretisiert sich durch die Wesentlichkeitstheorie die Anforderung an den Umfang des Gesetzesvorbehaltes zum Parlamentsvorbehalt.

b) Kritikpunkte der Wesentlichkeitstheorie Die Wesentlichkeitstheorie stellt schon für ihren angestammten innerstaatlichen Bedeutungskontext keineswegs eine unangefochtene Konkretisierungsformel zur materialen Bestimmung der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes dar. Die anfänglich eher zustimmende Rezeption auch im Schrifttum258 ist in

256 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Band I, § 24, Rdnr. 24; Ossenbühl, HdBStR Band III, § 62, Rdnr. 9. Vgl. auch G. F. Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 105 ff. 257 Zur Problematik der bundesdeutschen Verfassungsdogmatik in dieser Hinsicht auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 423 ff. m.w.N.; Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 39. 258 Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 60 ff.; Pietzcker, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1979, S. 711 ff.; Kube, Vom Gesetzesvorbehalt des Parlaments zum formellen Gesetz der Verwaltung? NVwZ 2003, S. 57 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

neuerer Zeit zunehmend kritischer Entgegnung gewichen259. Bestärkung erfährt diese Kritik auch aus der Interpretation neuerer Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die als zumindest partielle Abkehr von der Wesentlichkeitsrechtsprechung gedeutet wird260. Dies gilt namentlich für Entscheidungen, die sich von einer expliziten Verwendung der Wesentlichkeitsformel entfernen und statt dessen die Bedeutung der expliziten Vorbehaltsregeln des Grundgesetzes betonen261. Ein angemessener Umgang mit kritischen Einwänden, die notwendig implizit auch die Verallgemeinerungsfähigkeit der Wesentlichkeitstheorie zur rechtsprinzipiellen Strukturierung des supranationalen Kontexts mit in Frage stellen, erfordert es, substantielle Gesichtspunkte der Kritik von der Bemängelung unglücklicher Formulierungen oder verfehlten Anwendungsformen der Wesentlichkeitstheorie abzugrenzen. Die Diskussion um die Wesentlichkeitstheorie ist, sieht man einmal von den Argumentationsimpulsen ab, die mit der „gubernativen“ Rechtsetzungslehre verbunden sind262, von keiner besonderen rechtswissenschaftlichen Aktualität; im Gegenteil wird vereinzelt das Thema Gesetzesvorbehalt insgesamt als „abgegrast“ eingeschätzt263. Kritische Positionen gegenüber der mit der Wesentlichkeitstheorie verbundenen Vorbehaltsarchitektur sind dementsprechend weithin gefestigt und paradigmatisch verortet. Drei wesentliche Einwände lassen sich unterscheiden: Erstens der Vorwurf mangelnder Bestimmtheit bzw. mangelnder Prognostizierbarkeit des Kriteriums der Wesentlichkeit. Zweitens die mit der Wesentlichkeitstheorie einhergehende Tendenz zur unterschiedslosen Marginalisierung aller nichtgesetzlichen Handlungsformen unabhängig von ihrem Verbandskontext im föderalen Mehrebenensystem. Drittens eine Unterbestimmung der Grenzen parlamentarischer Steuerungsfähigkeit bzw. der korrespondierenden Leistungsüberlegenheit exekutivischen Rechtsetzungsvermögens, die in einer Überschätzung der Gesetzesform resultiere. Diese Kritik wird teilweise mit der Konnotation verbunden, 259

Bäumlin/Ridder, in: AK-GG, Band 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1-3 III Rdnr. 62; Haltern/Franz C. Mayer/Möllers, Die Verwaltung 1997, S. 51 ff. 260 Dazu Weber, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 62 ff.; ähnlich i. E. auch Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 615: einen allgemeinen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt kraft Wesentlichkeit gebe es nicht, vgl. auch Jarass/Pieroth, GG 5. Aufl. 1999, Art. 20, Rdnr. 39. 261 BVerfGE 47, 46, 79; 98, 218, 252. 262 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000; ihm folgend Dann, Looking through the federal lens: The Semi-parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5/02. 263 So etwa Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1, 3.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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statt der Wesentlichkeitstheorie sollte die Lehre von der Organadäquanz264 Anwendung finden265; auch wird vertreten, die Wesentlichkeitstheorie habe keinen normativen Gehalt, sondern beschreibe lediglich die in der konkreten Kompetenzordnung des Grundgesetzes sich manifestierende Ordnungsvorstellung266. Dieses auf die funktionale Tauglichkeit der Organkompetenzverteilung abstellende Institutionenverständnis reflektiert eine funktional orientierte Paradigmatik der Normsetzungszuordnung; sie bezieht sich nicht spezifisch auf das mit der Wesentlichkeitstheorie angebotene Kriterium zur Bestimmung des Gesetzesvorbehalts, sondern stellt allgemein die Prämisse der legitimationstheoretischen Herausgehobenheit des Parlaments durch Betonung von Grenzen parlamentarischer Steuerungsmacht in Frage. Zur Auseinandersetzung mit diesem Einwand sei auf die im zweiten Kapitel bereits vorgenommene Würdigung verwiesen. Mit dem Kriterium der Wesentlichkeit wird dementsprechend nicht die Möglichkeit einer weitgehend exekutivischen Problembewältigung in bestimmten normativen Sachgebieten, wie dem Umweltrecht267 und dem Immissionsschutzrecht, in Abrede gestellt; Wesentlichkeit kann nur so verstanden werden, daß die Bedeutung der Normsetzungsentscheidung auf ihren Determinationsgehalt bezogen auf die Grundausrichtung des Gemeinwesens hin reflektiert und in Abhängigkeit hiervon einer Regelsetzungsebene zugeordnet wird. Die Wesentlichkeitstheorie ist dementsprechend eine Konkordanzkategorie, keine an einer Hypostasie parlamentarischen Legitimationsvermögens orientierte Vorbehaltstheorie.

264 Vgl. nur BVerfG DVBl. 1997, S. 42, 43; dazu auch Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44, 42 f.; ders., Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1 ff. 265 Stellvertretend für viele Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 610 ff. Für die Maßgeblichkeit des Kriteriums des Problemlösungsvermögens offenbar auch B.-O. Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, 1999, S. 223, 224. Für ein Verhältnis funktionaler Arbeitsteilung statt Hierarchie auch von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 212; ebenso Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steuerungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, S. 265 ff. 266 267

Gusy, Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz, JA 2002, S. 610 ff.

Dazu ausführlich statt vieler Ossenbühl, Der verfassungsrechtliche Rahmen offener Gesetzgebung und konkretisierender Rechtsetzung, DVBl. 1999, S. 1 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

aa) Mangelnde Bestimmtheit der Wesentlichkeitstheorie? Im Zentrum kritischer Rezension der Wesentlichkeitstheorie steht die Erwägung, daß das von ihr angebotene Kriterium der Wesentlichkeit zu unbestimmt sei268. Es eröffne einem Wesentlichkeitsdezisionismus ein weites Feld: Wesentlich sei, was das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall dafür halte269. Gleichzeitig sei das systematische Verhältnis zum rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot270 weitgehend ungeklärt271. Schließlich führe die Unbestimmtheit der Wesentlichkeitstheorie zu ihrer fehlenden Handhabbarkeit und Berechenbarkeit aus der Sicht potentiell normbetroffener Bürger272.

(1) Grundlagen der Kritik an mangelnder Bestimmtheit Der Vorwurf, das Wesentlichkeitskriterium sei zur allgemeinen Normierung der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes zu unbestimmt, ist ausgehend von den Anforderungen an normative Bestimmtheit von Rechtsbegriffen im Sinne des Rechtsstaatsprinzip zu bewerten273. Hierin hat die rechtsstaatliche Komponente einesteils ein starkes individualrechtliches Gewicht, das darin liegt, die Erwartungshaltung des Bürgers und das Vertrauen in die Berechenbarkeit staatlicher Normen zu affirmieren. Mit dem Abstellen auf die Berechenbarkeit von „Wesentlichkeit“ für den Normadressaten wird ein wichtiges Teilmoment rechtsstaatlicher Normsetzungs-

268 Kloepfer, Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie, 1988, S. 195; ders., JZ 1984, 685, 692; Wilke, Zum Parlamentsvorbehalt im Schulrecht, JZ 1982, S. 758, 759; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 3. Aufl. 1981, S. 398; Faber, AK-GG, Art. 20 Abs. 1-3, V, Rdnr. 24; Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1981, S.160; 269 Kloepfer (Fn. 268), S. 196; Ule, Rechtsstaat und Verwaltung, VerwArch Bd. 76 (1985), S. 1, 13; Karpen, Gesetzgebungslehre und Rechtsprechungslehre, 1992, S. 29, 52. 270 Verhältnisbestimmung von allgemeinem rechtsstaatlichem und besonderem Bestimmtheitsgebot nach Art. 80 I2 GG: Lerche, Grundrechtsbegrenzungen „durch Gesetz“ im Wandel des Verfassungsbildes, DVBl. 1958, S. 530; ders., Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, 1981, S. 76 f.Lepa, Verfassungsrechtliche Probleme der Rechtssetzung durch Rechtsverordnung, AöR 105 (1980), S. 142. 271 Kloepfer (Fn. 268), S. 193; Wilke (Fn. 268), S. 759. 272 Kloepfer (Fn. 268), S. 193; Kisker, NJW 1977, S. 1318; Böckenförde, Organisationsgewalt und Gesetzesvorbehalt, NJW 1999, S. 1235; Wieland, DVBl. 1999, S. 719 ff.; Gusy, JA 2002, S. 614. 273 BVerfGE 89, 69, 84, st. Rspr.; vgl. auch BVerfG, 2 BvF 1/00 vom 8.2.2001, Rdnr. 106.

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transparenz betont274, das infolge der quasi-legislativen Teilfunktion des BVerfG275 zu Recht nicht nur an den Gesetzgeber als solchen, sondern auch an die prinzipienetablierende Instanz Bundesverfassungsgericht gestellt wird.

(2) Mängel der Rechtsprechung zur Wesentlichkeitstheorie In dieser Hinsicht ist zunächst einzuräumen, daß das Bundesverfassungsgericht seiner Aufgabe zur Konkretisierung des Begriffs der Wesentlichkeit in bemerkenswertem Kontrast zu den an den Gesetzgeber gerichteten Anforderungen nur unzureichend nachkommt. So heißt es in BVerfGE 47, 46, 78 f.: „Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz.“ Eine nähere Bestimmung, welche Anhaltspunkte dem Grundgesetz zu entnehmen seien, fehlt nicht nur in der vorliegenden Entscheidung, sondern auch in der nachfolgenden Judikatur. Zwar weist das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang auf die Schrankenbestimmungen der Grundrechte hin; da diese jedoch einen expliziten verfassungsrechtlichen Vorbehalt etablieren, bleibt der Verweis der Wesentlichkeitstheorie hierauf im Hinblick auf die Intention einer Ablösung vom klassischen Eingriffsansatz fruchtlos. Auch im übrigen bleibt das Bundesverfassungsgericht nicht nur dem Grundrechtsbezug verhaftet, sondern vermeidet auch weiterführende Definitionen zum Begriff der Wesentlichkeit. Dies dokumentiert insbesondere die – in der folgenden Judikatur im Grundsatz wiederholte – Formulierung: „Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet somit ‚wesentlich‘ in der Regel ‚wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte‘.“276 Damit wird einerseits verfehlt, die in der Wesentlichkeitsformel angelegte Verallgemeinerung des Gesetzesvorbehalts in der Emanzipation der überkom274

BVerfG, 2 BvF 1/00 vom 8.2.2001, Rdnr. 106: Das „Bestimmtheitsgebot erleg[e] … die Verpflichtung auf, gesetzliche Tatbestände so zu fassen, dass die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können.“ 275 Vgl. auch § 31 BVerfGG; verfehlt, weil auf einseitige politische Systemreferenzen abstellend Menger, Aus der Praxis der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das verfassungsgerichtliche Urteil zu § 218 StGB – Gesetzgebung durch das BVerfG?, VerwArch 1975, S. 397, 398 f.; vgl. auch Gerontas, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, S. 179, 180 (krit. gg. eine Überbewertung des Politischen); Drath, VVDStRL 9 (1952), S. 17 f., 90 ff., 108 f. 276 BVerfGE 47, 46, 79.

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menen Eingriffsformel grundrechtsunabhängig unter Heranziehung der als sedes materiae benannten Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien näher zu bestimmen, sondern mit dem fallbezogenen Rückgriff auf die Grundrechtswesentlichkeit wird eine Verhaftung im alten Eingriffsdenken deutlich. Zudem liefert die als Konkretisierung der Wesentlichkeitsdoktrin gedachte Bezugnahme auf Grundrechte allenfalls eine Veranschaulichung, was gemeint sei, während sie den Anspruch an eine Definition im klassischen Sinne277 nicht nur verfehlt, sondern sogar zirkulär bleibt. Zweifelhaft bleibt gleichwohl, ob eine hieran orientierte Kritik am Wesentlichkeitskriterium bereits hinreichend tragfähig erscheint. (aa) Etwaige Defizite des Bundesverfassungsgerichts im Bemühen, die Wesentlichkeitstheorie sachhaltig zu konkretisieren, sind ein schwacher Einwand gegen die Wesentlichkeitstheorie als solche. Die Zirkularität der Definition, wesentlich sei insbesondere, was grundrechtswesentlich sei278, oder den Freiheits- und Gleichheitsbereich des Bürgers wesentlich betreffe279, liegt auf der Hand280, disqualifiziert aber nicht bereits die Tragfähigkeit des Begriffs der Wesentlichkeit als solchen. Auch die Vagheit einzelner als Konkretisierung gedachter Formulierungen281 macht das Kriterium der Wesentlichkeit nicht zu einem untauglichen Rechtsbegriff. Ein richtiger Grundsatz wird nicht dadurch falsch, daß seine Anwendung zunächst in ungenügender Form stattfindet. (bb) Zudem erscheint es fragwürdig, die staatsorganisationsrechtliche Aufgabe einer angemessenen Abgrenzung der Gewalten für die Funktion der Normsetzung vorrangig am Maßstab seiner individualrechtlichen Vorhersehbarkeit und Einklagbarkeit zu messen. Zwar sind Transparenz republikanischer Repräsentativwillensbildung, Voraussehbarkeit staatlichen Handelns und Vertrauen der Öffentlichkeit in die Mandatswahrnehmung der Hoheitsträger essentielle Elemente der Rechtsstaatlichkeit282. Diese Anforderung ist jedoch nicht schon dadurch verletzt, daß die Rechtsordnung in bestimmten Bereichen sich unbestimmter Rechtsbegriffe bedient. Das Kriterium der Wesentlichkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Als solcher eröffnet er keinen Beurteilungsspiel277 Vgl. die maßgebende Bestimmung Aristoteles’: „Definitio fit per genus proximum et per differentiam specificam“. 278 BVerfGE 34, 165, 192; 40, 237, 248 f.; 41, 251, 260 f.; 47, 46, 79. 279 BVerfGE 49, 89, 126. 280 Vgl. Roellecke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Grenzbereich zur Gesetzgebung, NJW 1978, S. 1778; Kloepfer, Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, S. 195. 281 Wesentlichkeit richte sich „allgemein nach dem Grundgesetz“: BVerfGE 34, 165, 192; 41, 251, 260 f.; 47, 46, 79; 49, 89, 127. 282 BVerfGE 89, 69, 84; BVerfG, 2 BvF 1/00 vom 8.2.2001, Rdnr. 106, st. Rspr.

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raum der an die Wesentlichkeitstheorie gebundenen Legislativorgane, sondern unterliegt voller gerichtlicher Überprüfbarkeit283. Die Handhabung unbestimmter Rechtsbegriffe gehört zum Standardrepertoire juristischer Methodologie. Daß der Wesentlichkeitstheorie ein Moment der Unbestimmtheit inhärent sei, macht sie noch nicht intransparent in einem dem Rechtsstaatsprinzip zuwiderlaufenden Sinne. Entscheidendes Kriterium einer Evaluation der Wesentlichkeitstheorie ist somit weniger die mit der Prognostizierbarkeit der von ihr ausgehenden Kompetenzordnung verbundene rechtsstaatliche Transparenz – diese Anforderung gilt für das Recht und seine Auslegung stets, nicht aber hier in spezifischer Weise –, sondern ihre Fähigkeit, den kategorialen Gehalt der beteiligten Rechtsformen, um deren Abgrenzung es geht, angemessen zu reflektieren und in einem – weiterer Ausfüllung bedürftigen – Abgrenzungskriterium aufzuheben. Die Wesentlichkeitstheorie bringt zur Geltung, daß das Abgrenzungskriterium verschiedener Normebenen das in ihrem Formungsakt auf sie transferierte institutionelle Voraussetzungsgewicht in der Legitimität darstellt und dieses selbst die Verteilung von Wahrnehmungsbefugnissen präjudiziert. (3) Die Kritik an der fehlenden Bestimmtheit von Verfassungsprinzipien – seien sie geschriebener oder ungeschriebener Art – ist ein ambivalentes Argument. Das rechtsstaatlich motivierte Bestimmtheitsgebot kann seinerseits keinen selbstgenügsamen und universellen Maßstab für den Umfang zu fordernder Bestimmtheit liefern, sondern ist kontextabhängig. Es entbehrt nicht der Ironie, daß ausgerechnet das zur Kritik der Wesentlichkeitstheorie instrumentalisierte Bestimmtheitsgebot zu den unbestimmtesten Rechtsprinzipien gehört. Je konkreter ausdifferenziert rechtliche Vorschriften sind, desto unflexibler ist ihre Handhabung. Die Allgemeinheit eines Regelungsgegenstandes kann aus Gründen der Handhabbarkeit Abstriche vom rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot erforderlich machen. Die kodifikatorische Determinierbarkeit der Rechtswirklichkeit als Idealbild vollkommen verwirklichter regelsetzender Bestimmtheit ist eine Utopie. Zudem „streiten Verständlichkeit und Überschaubarkeit sowie Einzelfallgerechtigkeit und Flexibilität für eine schwache Regelungsdichte“284. Wer das Bestimmtheitsgebot gegenüber einem normativen Satz kritisch ins Feld führt, muß sich mit der diesem Satz seinerseits innewohnenden Konkretisierungsbedürftigkeit und Abhängigkeit von externen Faktoren auseinandersetzen. Kritiker der Wesentlichkeitstheorie müßten deshalb den von ihnen artikulierten Vorwurf fehlender Bestimmtheit ihrerseits anhand der Funktion der Wesentlichkeitstheorie als Maßstab des Gesetzesvorbehaltes substantiieren. 283 Zur methodologischen Einordnung unbestimmter Rechtsbegriffe vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1983, S. 106 ff. 284 Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 223; vgl. Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 109.

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Hinzu kommt die paradoxe Argumentationssituation, daß gleichzeitig die von der Wesentlichkeitstheorie beanspruchte Determination von Vorbehaltsverhältnissen als eine der Rechtswirklichkeit unangemessene, statische Verhältnisbestimmung kritisiert wird285; die Wesentlichkeitstheorie erscheint so als gleichzeitig zu unbestimmt und unflexibel. Gegen eine solche Lesart ist zu erinnern, daß die Unbestimmtheit der Wesentlichkeitstheorie auch als ein Garant der Flexibilität der Schnittstelle von Exekutive und Legislative wirkt, da dieser das Verhältnis zwischen beiden Gewalten nicht vollkommen determiniert, sondern einen Bereich der Offenheit läßt, innerhalb dessen eine Regelungsmaterie durchaus der Regelung durch beide Normbereiche zugänglich ist. Normative Bestimmtheit von Rechtsbegriffen und legislative Regelungsdichte korrespondieren286. Jede Rechtsnorm ist in Abhängigkeit vom Umfang, mit dem sie auf die Besonderheiten des zu regelnden Sachverhaltes sich normierend einläßt oder von diesen abstrahiert, in ihrem Geltungsanspruch Ausdruck einer bestimmten Regelungsdichte. Diese Regelungsdichte ergibt sich aus dem Verhältnis von Konkretisierung und Abstraktion in der Verwendung von Normbegriffen287. Zwischen der Regelungsdichte und der Stellung der Regelung innerhalb der Normenhierarchie eines Rechtssystems besteht ein enger Zusammenhang. Mit abnehmender normhierarchischer Höhe läßt sich eine Zunahme der Regelungsdichte nicht nur rechtsempirisch konstatieren, sondern diese ist auch Ausdruck notwendiger normsystematischer Funktionsaufteilung. Mit der geringeren Regelungsweite normhierarchisch niederer Rechtssätze, dem kleineren Kreis möglicher Anwendungsfälle wird der Bezug zur jeweiligen lebensweltlichen Besonderheit des konkreten Regelungskontexts notwendig stärker ausgeprägt. Allzu ausgeprägte Anforderungen an die Bestimmtheit verfassungsgerichtlicher Rechtsgrundsätze würden weder der eigentümlichen Zwischenstellung des BVerfG zwischen Gesetzgebung und Jurisdiktion288 noch der Zuordnung der Wesentlichkeitstheorie zum notwendigerweise unbestimmten Bereich der Etablierung von abstrakten Maßstäben für den Gesetzesvorbehalt gerecht. Das BVerfG ist in seiner spezifischen Doppelstellung als Verfassungsorgan und 285 Vgl. Haltern/Franz C. Mayer/Möllers, Wesentlichkeitstheorie und Gerichtsbarkeit, Die Verwaltung 1997, S. 55: die Steuerung der Verwaltung durch den Parlamentsvorbehalt sei eine Scheinsteuerung, die Verwaltung steuere sich vielmehr rechtstatsächlich weitgehend selbst. 286 Vgl. Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 107. 287 Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 222 288 Dazu insbesondere Guggenberger, Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, 1999; vgl. auch Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht – eine funktionell-rechtliche Kompetenzabgrenzung, 1999.

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Teil der Judikative zu durch Verfassungsauslegung gewonnenen, die Legislative bildenden Maßstäben berufen. Es ist im Unterschied zu den übrigen Gerichten nicht an die Gesetze, sondern nur an die Verfassung gebunden. Bei ihm ist das Verwerfungsmonopol gegenüber Parlamentsgesetzen verortet. Zum Teil wird das Bundesverfassungsgericht auch mit gewisser Berechtigung als „Ersatzgesetzgeber“ bezeichnet. Das vom Bundesverfassungsgericht mit der Wesentlichkeitstheorie artikulierte allgemeine Prinzip eines Gesetzesvorbehalts steht als ungeschriebenes Verfassungsprinzip innerhalb der staatsorganisationsrechtlichen Normenhierarchie auf der Ebene des Grundgesetzes. Auch jenseits der Bereiche, in denen das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber unmittelbar Maßstäbe für sein Tätigwerden diktiert289, sind seine verfassungsexegetischen Erkenntnisse der gesetzgeberischen Prärogative vorgelagert. Die Etablierung von Maßstäben für den Gesetzgeber in der Konkretisierung der zum Teil beträchtlich unbestimmten Verfassungsprinzipien ähnelt – auch in den Anforderungen an die Bestimmtheit – der Gesetzgebung. Die Verhältnisbestimmung von Legislative und Exekutive im Handlungsfeld der Normsetzung und in Absehung von den konkreten Gegenständen der Normsetzung weist thematisch einen so beträchtlichen verfassungsrechtlichen Abstraktionsgrad auf, daß ihm angemessen und ohne eine Präjudikation von Einzelfällen nur durch eine Entsprechung in der Formulierung dieser Kriterien begegnet werden kann. Dies rechtfertigt nicht nur die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, sondern macht sie nachgerade notwendig. bb) Parlamentsmonistische Konsequenzen der Wesentlichkeitstheorie? Gewichtiger gegenüber einer Kritik fehlender Bestimmtheit erscheinen demgegenüber Bedenken, denen zufolge die Wesentlichkeitstheorie insgesamt einer Marginalisierung aller Verbände Vorschub leiste, indem sie mit dem Kriterium der Wesentlichkeit den nicht zur Ausprägung von Gesetzen organisatorisch befähigten Verbänden des Mehrebenensystems nur die unwesentlichen Regelungsgegenstände als Befassungsgegenstände übrig lasse. Insbesondere werde demzufolge die Rechtsetzung kommunaler Selbstverwaltung durch die Reduktion auf nicht wesentliche Bereiche in ihrer Eigenberechtigung in Frage gestellt. Indes dürfte dieser Einwand auf einer in der Wesentlichkeitstheorie weder angelegten noch mit ihr bezweckten Überinterpretation beruhen und der Aufzeigung mit ihr verbundener verallgemeinerungsfähiger Ansätze 289 Grundlegend im Hinblick auf die methodische Balance zwischen judicial selfrestraint und gebotener Prüfung Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Eine funktionell-rechtliche Kompetenzabgrenzung, 1999, S. 57 ff.; Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ 1976, S. 696; Schuppert, Die verfassungsrechtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 219.

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daher kaum entgegenstehen. Die Wesentlichkeitstheorie steht im Kompetenzgefüge der Bundesrepublik nicht als ein isoliertes Prinzip der Bestimmung legislativer Vorbehaltsrelationen, sondern in einem Verwiesenheitsverhältnis zu den übrigen Strukturierungsprinzipien und als solche namentlich auch unter dem Diktat einer grundgesetzlichen Ordnungsentscheidung für föderalistische (Art. 20, 28 Abs. 1 GG) und unterstaatliche (Art. 28 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG) Formen der Herrschaftsausübung. Föderative Gliederung und kommunale Selbstverwaltungsautonomie implizieren indes eine Ordnungsform der Herrschaftsuntergliederung, die einer monistisch-parlamentarischen Konzentration von Rechtsetzungsmacht ohnehin entgegengesetzt ist; die relativierende Dimension des Föderalismusprinzips gegenüber unitarischen souveränitäts- oder demokratietheoretischen Begriffsinterpretationen wurde bereits im vierten Kapitel unterstrichen. Die Wesentlichkeitstheorie steht im Spannungsverhältnis zu diesen übrigen grundgesetzlichen Ordnungsprinzipien, beansprucht nicht deren Überformung und versteht sich demnach nicht als verbandübergreifender Ansatz zur gesetzesförmigen Zentralisierung aller Normsetzungsentscheidungen beim (Bundes- oder Landes-) Gesetzgeber, sondern setzt eine föderative Mehrebenengliederung voraus, innerhalb derer sie ein Teilkriterium für die Bestimmung des Verhältnisses von Exekutive und parlamentarischer Legislative im staatlichen Verband darstellt. cc) Kategorial tragfähige Gehalte und Ansätze zu einer Konkretisierung der Wesentlichkeitstheorie Um die Praktikabilität der Wesentlichkeitstheorie nachzuweisen, genügt es gleichwohl nicht, die Unbestimmtheit als Ausdruck verfassungsrechtlicher Notwendigkeiten auszuweisen, solange nicht zumindest Ansatzpunkte zur Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ersichtlich werden, die ihre Prozeduralisierbarkeit für konkrete Abgrenzungsfragen begründen. Nachzuweisen ist insofern, weshalb Wesentlichkeit ein hinreichendes Kriterium für die obligatorische Befassung des Gesetzgebers mit einem Gegenstand sein kann. Wesentlichkeit im hier zugrunde gelegten Verständnis versteht sich als Grundsätzlichkeit im Hinblick auf das allem Recht zugrunde liegende Anliegen institutionalisierter Selbstbestimmung. Negativ gewinnt dieses Kriterium Kontur in Abgrenzung zu der durch sie nicht beanspruchten größten praktischen Bedeutung eines Regelungsgegenstandes. Wesentlichkeit in diesem selbstbestimmungsbezogenen Sinn ist nicht gleichbedeutend mit praktischer Regelungsrelevanz für die Rechtswirklichkeit; nachgeordnete Normebenen können die Rechtswirklichkeit weitaus stärker beeinflussen als übergeordnete Normebenen. In dieser Negativabgrenzung ist der mögliche Gestaltungsprimat exekutivischer Normen für bestimmte sektoral expertisebedürftige Materien wie im Umwelt- und Immissionsschutzrecht konzediert und begrifflich verankert.

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Positiv liegt dem Kriterium der Wesentlichkeit ein mehrstufiges Ordnungsverständnis zugrunde, das von der Voraussetzung einer Differenzierbarkeit zwischen solchen Regelsetzungsgegenständen getragen ist, die einer Befassung durch den repräsentativ in Erscheinung tretenden Allgemeinwillen vorbehalten sind, und solchen, bei denen die Eigentümlichkeit der sich stellenden Regelungsanforderung unterhalb der politischen Richtungsentscheidung, stärker auf der Ebene der Sachlogik und der Bewältigung der sich im Tatsächlichen stellenden Problembezüge angesiedelt ist. Anders als teilweise behauptet, entzieht sich die Wesentlichkeitstheorie damit einer demokratietheoretischen Festlegung auf ein bestimmtes statisches Rollenverständnis im Balancegefüge zwischen Legislative und Exekutive, wie es etwa dem amerikanischen „transmission belt“-Modell zugrunde liegt290. Die Zuordnung wesentlicher Normsetzungsgegenstände zum parlamentarischen Gesetzgeber führt nicht zu einer marginalisierenden Reduktion der Exekutivtätigkeit auf die bloß unselbständige Übersetzung des vorgegebenen Gesetzeswillens und seines Repräsentationshintergrundes auf die von der Exekutive erlassenen abhängigen Normen. Vielmehr schlägt das Kriterium der Wesentlichkeit im Lichte dieser Lesart den Bogen zu den legitimationstheoretischen Wurzeln der repräsentativen Institutionen. Das Vermögen parlamentarischer Repräsentation, kraft organisatorischer Zusammensetzung und Willensableitung vom souveränen Wahlakt als authentische Artikulationsinstanz des Gemeinwohls zu fungieren, ist primär für diejenigen Regelungsgegenstände reserviert, die den Charakter einer Grundsatzentscheidung tragen291. Diejenigen Normsetzungsbereiche, in denen sich die Eigenberechtigung exekutivischer Normsetzung mit größter Stärke gerade durch die ihr eigentümliche Überlegenheit an Steuerungsmacht entfaltet, sind typischerweise solche Bereiche, deren Problembewältigungsbedarf eine technische, mit sachbezogener Expertise verbundene, von der ministeriellen Entscheidungsstruktur und ihrem institutionellen Apparat besser bewältigungsfähige Problemlösungs290 Richard Stewart, The Reformation of American Administrative Law, 88 Harvard Law Review 1667 (1975); Haltern/Franz C. Mayer/Möllers (Fn. 285), S. 53 ff. ordnen unter Bezugnahme hierauf die Wesentlichkeitstheorie als Manifestation dieses Organisationsverständnisses ein und können auf diese Weise mit einer Kritik am „transmission belt“-Modell zugleich die Wesentlichkeitstheorie in Frage stellen. Da hierdurch der Wesentlichkeitstheorie Implikationen zugeschrieben werden, die mit ihr nicht notwendig verbunden sind, überzeugt diese Kritik nicht. Sie basiert auf einer Gleichsetzung der in Art. 20 Abs. 3 GG angelegten Vorbehaltsdogmatik mit einem Modell zentraler Steuerung, Reduktion der Verwaltungsfunktion auf bloßen Gesetzesvollzug (Haltern/Franz C. Mayer/Möllers, S. 54) und einem liberalen Sozialmodell und läßt über diesem Bemühen um eine Etikettierung der Wesentlichkeitstheorie die Auseinandersetzung mit einer Auslegung des Begriff selbst vermissen. 291 Dieser Grundsatzcharakter kann sich durchaus in sehr detailbezogenen Problemen manifestieren, wie sich etwa an der Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt (vgl. OVG Münster DVBl. 1989, S. 1162 gegenüber der Frauenförderquote) aufzeigen läßt.

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kompetenz voraussetzt292. Das können durchaus fundamental bedeutsame Belange sein; es sind jedoch Regelsetzungsnotwendigkeiten, die weniger grundlegender Wertentscheidung oder politischer Richtungsentscheidung bedürfen, sondern wesentlich eines angemessenen Umgang mit sich stellenden technischen, weitesten Sinnes damit instrumentellen Problemen. Die Abschichtung nach der Notwendigkeit parlamentarischer Selbstbefassung muß innerhalb eines jeweiligen Regelungszusammenhanges darauf abstellen, welche der anstehenden Probleme sich als Leiterwägungen darstellen und welche stärker ausführenden, umsetzenden, konkretisierenden Charakter haben. Das Resultat wird stets hinter Bestimmtheit und Justitiabilität bestimmter Rechtsbegriffe zurückbleiben und lediglich Typisierungen ermöglichen, weist die Konkretisierungsnotwendigkeit der Wesentlichkeitstheorie aber als Gegenstand eines rationalen, methodologisch ausgewiesenen und damit gerade nicht dezisiven Verfahrens aus. Die Leistung der Wesentlichkeitstheorie demnach darin, daß sie den Eigenbereich exekutivischen Normsetzungsvermögens anerkennt, ohne auf der Grundlage einer ausgreifenden legislativen Gesamttheorie hierfür zugleich einen Primat der Exekutive für Normsetzung im allgemeinen zu fordern und hiermit das parlamentarische Eigengewicht zu marginalisieren.

3. Grundprobleme der Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf das Gemeinschaftsrecht Die in der Wesentlichkeitstheorie angelegte Ausrichtung des Gesetzesvorbehaltes an der Selbstbestimmungsrelevanz des Regelungsgegenstandes qualifiziert sie als Instrumentarium zur Differenzierung auch der gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen. Die allgemeine, vom staatsorganisationsrechtlichen Bezug abstrahierbare Aussage der Wesentlichkeitstheorie besteht darin, daß die wesentlichen Regelungsgegenstände einer rechtsetzenden Herrschaftsebene in solcher Weise auf eine repräsentationsfähige Institution zurückgeführt werden

292 A.A. Haltern/Franz C. Mayer/Möllers (Fn. 285), S. 54, Fn. 11, unter Hinweis auf die politische Dimension der Genehmigung von Großvorhaben. Gerade der in Planfeststellungsverfahren und anderen konzentrierten Genehmigungsverfahren zutage tretende grundlegende Abwägungsbedarf indes dokumentiert jedoch in Wahrheit gerade die typische Vollzugsfunktion der Verwaltung. Die von Haltern/Franz C. Mayer/Möllers genannten Beispiele zeigen, daß die Verwaltung sich hier nicht von politischen Prärogativen leiten lassen darf, sondern sich auf die Umsetzung der vorgängigen gesetzesförmigen Wertentscheidungen vollziehend beziehen muß. Das Abwägungsverfahren hat vollziehenden Charakter, weil es sich auf externe Wertentscheidungen bezieht und diese auf einen konkreten Entscheidungsfindungsanlaß bezieht, ohne selbst die Wertmaßstäbe zu setzen.

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müssen, daß eine konstruktiv-ideale Identität von Autor und Adressat des in dieser Ebene normsystematisch verorteten Rechts erzielbar ist. Ist damit die Grundlage für die Übertragung der Wesentlichkeitstheorie auf das Gemeinschaftsrecht klar, so bleibt die Anwendung selbst, die Operationalisierbarkeit dieser Theorie im Gemeinschaftsrecht in einer konkreten Verteilung, problematisch. Sie schließt lediglich ex negationis eine zu weitreichende Verlagerung von Regelungsinhalten grundsätzlicher Bedeutung auf sekundärrechtliche Normierungszusammenhänge gegenwärtiger Prägung aus, soweit diese eine am Gesetzesbegriff gemessene Repräsentationsdefizienz dokumentieren, ohne indes eine positive Zuordnung mit gleicher Unzweifelhaftigkeit wie die innerstaatliche Gesetzeszuweisung zu leisten. Im Gemeinschaftsrecht gibt es kein Gesetz; die Etablierung eines dem Gesetzesvorbehalt entsprechenden normenhierarchischen Zuordnungsmaßstabes muß den Besonderheiten gemeinschaftsrechtlicher Handlungsformen angepaßt sein. Der legitimitätsvermittelnde Gehalt der Wesentlichkeitstheorie muß sich im Gemeinschaftsrecht folglich gerade darin bewähren, die unterschiedlichen, spezifisch supranationalen Möglichkeiten der Etablierung originärer Inklusionsmechanismen durch relative Offenheit zu honorieren, ohne in dieser Offenheit zugleich das criterium comparationis gesetzesähnlicher Repräsentationsstrukturen in seinem substantiellen Bezug zu sehr zu verwässern. Dafür muß zunächst geklärt werden, welchem Aussagegehalt der Wesentlichkeitstheorie (Gesetzesvorbehalt oder Parlamentsvorbehalt) die maßgebende Bedeutung zukommt, um sodann die Anwendungsprobleme näher untersuchen zu können, die sich aus den Unterschieden der gemeinschaftsrechtlichen zur staatsorganisationsrechtlichen Legeshierarchie ergeben. a) Affirmativer Gehalt: Legitimatorische Zulässigkeit untergesetzlicher Exekutivregelung Die bisherige Normalform gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung – in neuerer Zeit zunehmend relativiert durch eine gleichberechtigte Ausprägung des dualen Repräsentationsgefüges – war geprägt vom Rat als Hauptrechtsetzungsorgan; Gemeinschaftsrechtsetzung stellt insofern in ihrem Ursprung eine exekutivische Rechtsetzungsform dar. Die Anwendung der Wesentlichkeitstheorie enthält zunächst ein auf die Zulässigkeit exkutivischer Willensbildung bezogenes affirmatives Moment. Nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie sind alle material untergesetzlichen Regelungsgegenstände durch eine hauptsächlich vom Rat bestimmte Rechtsetzung legitimatorisch angemessen umgesetzt. Untergesetzliche Regelungsgegenstände sind nicht mit gleicher Unmittelbarkeit selbstbestimmungsrelevant wie die

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

gesetzesbedürftigen Gegenstände. Für sie genügt nach den Erörterungen des zweiten Kapitels der vermittelte Repräsentationsgehalt exekutivischer Normsetzungstätigkeit, mehr noch: Es entspricht dem typischen Tätigkeitsfeld der Exekutive, durch die Übernahme detailbezogener Regelungsverantwortung den parlamentarischen Gesetzgeber zu entlasten. Die Delegation untergesetzlicher Regelungsgegenstände an einen zwischenoder überstaatlichen Regelungszusammenhang ändert an der Entbehrlichkeit eines parlamentarischen bzw. parlamentsähnlichen Repräsentationshintergrundes für solche exekutivischen Regelungsgegenstände nichts. Untergesetzliche Regelungsgegenstände überfordern weder den Legitimitätsgehalt exekutivischer Handlungsformen des Staatsrechts noch die des internationalen Rechts. Da es legitimationstheoretisch keinen Unterschied macht, ob die Exekutive staatsrechtlich selbstbezogen oder in der Koordination mit anderen Völkerrechtssubjekten gemeinschaftlich rechtsetzend tätig wird, können die im Rat repräsentierten Exekutivspitzen anstelle des Rückgriffs auf staatsrechtsinterne, verordnungsförmige Exekutivrechtsetzungsformen auch die durch die Gemeinschaft vermittelte Kooperationsstrategie erschließen und von ihrem Regelsetzungsvermögen gemeinschaftlich Gebrauch machen. Die supranationale Regelungsbewältigung materiell exekutivischer Gegenstände hat gegenüber dem innerstaatlichen Gewaltenteilungsgefüge keine balanceverschiebenden Effekte; sie findet innerhalb der gleichen Gewaltenform statt, die für sie auch innerstaatlich nach Maßgabe einer legitimationsorientierten Balance von Regierung und Parlament vorgesehen wäre. Daraus folgt, daß diese Gegenstände einer supranationalen Regelung in allen hierfür primärrechtlich vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren zugänglich sind, daher auch im Wege des Verfahrens der Zusammenarbeit oder der Konsultation, d. h. ohne verantwortliche Einbezogenheit des EP. Diese Bereiche untergeordneter Normierungsaufgaben entsprechen am weitestgehenden der EWG in der integrativen Anfangsphase und zeugen hiermit von der der europäischen Integrationsarchitektur zugrunde liegenden Ordnungsvorstellung einer auf exekutivisch-funktionalistische Bereiche beschränkten Rechtsetzungsbefugnis in einem integrativen Zweckverband. Erst deren grundlegende Modifikation im Zuge des fortschreitenden supranationalen Erstarkens der Gemeinschaft hat die rechtsprinzipielle Revision des vorliegenden Zusammenhangs erforderlich gemacht. Gleichzeitig erweisen sich die untergesetzlichen Regelungsgegenstände damit in höherem Maße offen für die Ausprägung originärer, neuer gemeinschaftsrechtlicher Legitimationsansätze wie beispielsweise die verstärkte Einbeziehung von Expertengremien im Rahmen der subdelegierten Komitologieverfahren. Sie sind jedenfalls von dem hier zugrunde gelegten, auf der Differenzierung von materieller Gesetzesbedürftigkeit und Untergesetzlichkeit beruhenden legitimationstheoretischen Ansatz nicht mehr berührt.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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b) Optionen der Behandlung material gesetzlicher Regelungsgegenstände im Gemeinschaftssekundärrecht de lege ferenda nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie Die sekundärrechtlichen Normierungen überschreiten indes wenn nicht in ihrer Mehrzahl, so doch zumindest in einem erheblichen Umfang den Bereich, der im Sinne der Erwägungen zur Wesentlichkeitstheorie untergesetzlicher Regelung überantwortet werden kann. Neben eher technischen Normierungsfunktionen lassen sich zahllose Beispiele finden, die die Normierung materiell gesetzesbedürftiger Regelungsgegenstände im Gemeinschaftssekundärrecht illustrieren. Man braucht nur einen Blick auf einige aktuelle gemeinschaftsrechtliche Regelungsgegenstände des aktuellen Rechtsetzungsgeschehens zu werfen – etwa die Biopatentrichtlinie293, die seit Jahren ihrer endgültigen Verabschiedung harrende Richtlinie zur Schaffung von Mindeststandards bei der Übernahme von Kapitalgesellschaften294, die Schaffung gemeinsamer Mindeststandards der Luftverkehrshaftung in der Durchführung des Montrealer Übereinkommens295, die Harmonisierung des europäischen Urkundsverkehrs296 oder die Schaffung von Harmonisierungsansätzen für ein kohärentes gemeineuropäisches Vertragsrecht297 – um sich auch ohne vielschichtige dogmatische Abgrenzungserwägungen davon überzeugen zu können, daß die Mehrzahl europäischer Rechtsetzungsvorhaben sich mittlerweile auf Regelungsgegenstände bezieht, die innerstaatlich gesetzesbedürftig sind.

293

Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. Nr. L 213 vom 30. 07. 1998, S. 13 ff. 294 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote, Dok. KOM/2002/0534 endg. ABl. Nr. C 45 E vom 25. 02. 2003, S. 1 ff. 295 Beschluss des Rates 2001/539/EG vom 5. April 2001 über den Abschluss des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal) durch die Europäische Gemeinschaft, ABl. Nr. L 194 vom 18. 07. 2001, S. 38 ff., sowie die Richtlinien 2407/92/EG, 2027/97/EG und 889/02/EG. 296 Vgl. den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 26. 10. 2000, Dok. KOM 2000, 689 endg. 297 Eine Gemeinschaftskompetenz für die Schaffung eines sektoral übergreifenden, einheitlichen Vertragsinstruments besteht hier gegenwärtig noch nicht; der Anspruch zur Vereinheitlichung dieses Bereichs dokumentiert sich freilich deutlich in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum europäischen Vertragsrecht vom 11. 07. 2001, Dok. KOM 2001, 398 endg.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Mit besonderer Deutlichkeit zeigt dies die Tätigkeit der Europäischen Union im Bereich der Verkehrspolitik. Die hier in jüngster Vergangenheit verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen betreffen allesamt grundlegend bedeutsame, „wesentliche“ Regelungsgegenstände, die staatsverfassungsrechtlich gesetzesbedürftig wären. Beispiele dafür sind etwa das sog. Dritte Eisenbahnpaket298, aber auch die geplante Neufassung der Eurovignetten-Richtlinie299 und die Kompensationsvorschriften bei Nichtbeförderung im Flugverkehr300. Zwischen der exekutivischen Grundarchitektur der Union und dem auf legislativbedürftige Befassungsgegenstände ausgreifenden Kompetenzanspruch klaffte eine Legitimationslücke, wenn man auf dem ausschließlich ratsbezogenen Repräsentationsniveau der integrativen Anfangsphase verharrte. Die Problematik resultiert nicht aus Unvollkommenheiten, die die gemeinschaftsrechtlichen Regelungsformen gemessen am selbstbestimmungsorientierten Vollbild einer parlamentarischen Rechtsetzung aufweisen und die bereits301 als Ausdruck föderalismustypischer Rücksichten auf konfligierende Rechtsprinzipien dargelegt worden sind. Das Europäische Parlament ist als Repräsentationsorgan einer europäischen Teilidentität notwendigerweise auf einen weniger stark kohärenzstiftenden Bezugspunkt bezogen als dies bei nationalen Parlamenten der Fall ist; dies entspricht der Relativität des Identitätskriteriums in supranationalen Mehrebenensystemen und kann angesichts der nicht determinierbaren Dynamik des europäischen Integrationsverlaufs durchaus im Zuge

298 Bestandteile des sog. „Dritten Eisenbahnpakets“ sind: Verordnung Nr. 881/2004/EG vom 29. April 2004 zur Errichtung einer Europäischen Eisenbahnagentur (Agenturverordnung), ABl. 2004 Nr. L 164, S. 1; Richtlinie 2004/49/EG vom 29. April 2004 über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen und der Richtlinie 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit), ABl. 2004 Nr. L 164, S. 44; Richtlinie 2004/50/EG vom 29. April 2004 zur Änderung der Richtlinie 96/48/EG des Rates über die Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems und der Richtlinie 2001/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems, ABl. 2004 Nr. L 164, S. 114; Richtlinie 2004/51/EG vom 29. April 2004 zur Änderung der Richtlinie 91/440/EWG des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft, ABl. 2004 Nr. L 164, S. 164. 299 Richtlinie 1999/62/EG vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge, Abl. 1999 Nr. L 187, S. 42-50; vgl. dazu den Änderungsvoschlag Dok. KOM/2003/0448 endg. 300

Verordnung Nr. 261/2004/EG vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung, ABl. 2004 Nr. L 46, S. 1-8. 301

Vgl. oben, Kap. 4, IV. 1. b) cc).

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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einer Gewichtsverlagerung zu einer Stärkung der europäischen Identität führen. Vielmehr stellt sich die Frage, in welcher Weise die Forderung, wesentliche Regelungsgehalte durch ein substantiell repräsentationstragendes Organ autorisieren zu lassen, gemeinschaftsrechtlich umsetzbar ist. Diese Anforderung greift das oben analysierte, vom staatsrechtlichen Dualismus von Parlament und Legislative unterschiedliche Konstruktionsprinzip des europäischen Organisationsgefüges auf. Sofern man den Begriff der gemeinschaftsrechtlichen Gewaltenteilung überhaupt akzeptiert, bezieht er sich bislang auf keine organisatorisch randscharfe Abgrenzung klassischer staatsrechtskategorialer Funktionsbereiche, sondern auf das als „institutionelles Gleichgewicht“302 bezeichnete spezifische Balancegefüge verbundener Partizipationsrechte der Gemeinschaftsorgane303. Dies prägt sich in der engen wechselseitigen Verflochtenheit von Kommission, Rat und Parlament beim Rechtsetzungsprozeß nach Maßgabe der im vierten Kapitel dargestellten Grundtypen legislativer Rechtsetzung aus. Diese gehen über die Verzahnung von Legislative und Exekutive bei der staatlichen Gesetzgebung hinaus und folgen einer anderen Systemreferenz. Auch die Überlagerung von organisatorischer und funktionaler Stellung der Organe im Gesamtsystem erschwert im übrigen die Formulierung eines gemeinschaftsrechtlichen „Vorbehaltes“. Die Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf diesen Ausschnitt der Rechtswirklichkeit läuft deshalb nicht mit der gleichen zweidimensionalen Unausweichlichkeit wie im innerstaatlichen Organisationszusammenhang auf ein „entweder – oder“ der Zuordnung zum Organbereich Regierung oder Parlament zu. Vielmehr stehen unterschiedliche Kräfte- und Machtverteilungen zur Diskussion, die im folgenden auf ihre rechtsprinzipielle und praktikabilitätsorientierte Tragbarkeit hin zu untersuchen sind. aa) Die Wesentlichkeitstheorie als Grundlage eines gemeinschaftsrechtlichen Vertragsvorbehalts? Allenfalls einer kurzen Erwägung bedarf die Konstruktionsoption, die in der Umsetzung der Wesentlichkeitstheorie in einen gemeinschaftsrechtlichen Vertragsvorbehalt bestünde. Die Rückführung aller Ausübung von gemeinschaftsrechtlicher Legislativgewalt auf den Vertrag als Ermächtigungsgrundlage ist 302 EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, S. 1161 ff., Rdnr. 9 – Köster; Hummer, FS Verdross, S. 459 ff.; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 353 ff. 303 Vgl. auch den Vermerk des Konventspräsidiums „Die Rechtsakte – Das derzeitige System“ vom 13. Juli 2002, Dok. CONV 162/02, Nr. 4, S. 3: Das gegenwärtige Legislativsystem beruhe nicht auf einem herkömmlichen Prinzip der Gewaltenteilung, sondern auf einer pragmatischen Form der Zusammenarbeit zwischen beteiligten Organen.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

kraft des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, demzufolge jede gemeinschaftsrechtliche Maßnahme eine ausdrückliche, primärrechtliche und nicht generalklauselartige Ermächtigung benötigt, ohnehin geltendes Recht304. Dem entsprechen auch Systematisierungserwägungen in der vorhandenen gemeinschaftsrechtlichen Literatur305. Diskutierbar als Fortentwicklungsoption wäre daher allenfalls die verschärfte, in Form eines Unmittelbarkeitsvorbehaltes bestimmte Forderung einer verstärkten primärrechtlichen Regelung grundlegender gemeinschaftlicher Regelungsgegenstände in Vertragsform. Diese Möglichkeit entginge einerseits legitimatorischen Zwiespälten weitgehend, da sie die so erfolgende Rechtsetzung an das jeweilige innerstaatliche Zustimmungsgesetz rückbände und auf diesem Wege den partizipatorischen Einfluß der europäischen Bürger über die Nationalparlamente sicherte. Ihr stehen jedoch gravierende Einwendungen entgegen, die diese Konstruktion zu einer rein hypothetischen machen. Ein Vorbehalt vertragsunmittelbarer Regelung würde zur weitgehenden Rückführung supranationaler Willensbildung auf die Erscheinungsformen klassischen Völkerrechts führen und damit die Rechtswirklichkeit ignorieren. Dies ist nicht bloß gemessen an der Integrationslogik „rückwärtsgewandt“, da es zur Lösung von Legitimitätsanforderungen auf den „Legitimationsstrang“ mitgliedstaatlich mediatisierter Repräsentation zurückgreift, anstatt für die Bewältigung des laufenden Rechtsetzungsanfalls das originär europäische Institutionenprofil zu nutzen. Es überfordert auch das normative Steuerungsvermögen des Vertrages und steht im Widerspruch zu seiner handlungsformhierarchischen Stellung. Gemeinschaftsrechtliche Legitimationsprobleme sind nicht dadurch sinnvoll behebbar, daß man das Gemeinschaftsrecht dem konventionellen Völkerrecht wieder rückangleicht und die supranationalen Konstruktionsbesonderheiten zurückdrängt. Diese konstruktive Option ist auch im übrigen systemwidrig. Der Vertrag ist zwar seinem Repräsentationsprofil nach die gemeinschaftsrechtliche Handlungsform, welche die stärkste Rückbindung an die Rechtsunterworfenen ermöglicht; der auf Einstimmigkeit angewiesene und von innerstaatlich parlamentarischer Ratifikation abhängige Vertrag sichert die konstruktive Einbezogenheit der normunterworfenen Bürger Europas durch die Mitwirkung der Nationalparlamente und kraft des Zustimmungsgesetzes ohne Abstriche vom gesetzesgenerierenden Repräsentationszusammenhang. Dem korrespondiert 304 305

s.o., Kap. 5, II. 2. b) aa).

So versteht Triantafyllou seine Studie „Vom Gesetzesvorbehalt zum Vertragsvorbehalt“ als „Beitrag zum positiven Rechtmäßigkeitsprinzip der EU“. Er legt hier insbesondere dar, daß die Rechtsform des Vertrages als Normebene den nachgeordneten Ebenen in der Weise vorgeordnet sei, daß diese auf den Vertrag selbst als Ermächtigungsgrundlage zurückführbar sein müssen.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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jedoch eine die Bewältigung laufender Legislativaufgaben ausschließende Schwerfälligkeit der Vertragswillensbildung; anläßlich der Vertragsrevisionskonferenzen der 90er Jahre hat sich gezeigt, daß schon die Verständigung auf grundlegende konstitutionelle Veränderungen die vertraglichen Konsensvoraussetzungen leicht überfordert. Rechtsetzung durch Vertragsrevision erweist sich als ungeeignet zur Bewältigung laufender einfachgesetzlicher Regelungsmaterien. Die fehlende Problemlösungskompetenz einer Rechtsform disqualifiziert diese in der Übernahme von Regelsetzungsfunktionen, für die diese ihrem repräsentationstheoretischen Hervorbringungsprofil nach an sich geeignet wäre306. Diese Problematik verschärft sich mit der Erweiterung der Mitgliedstaaten und der dadurch bedingten Erschwerung der Konsensfindung zusehends. Der Rechtsform des Vertrages fehlt insofern die für die Bewältigung der Normsetzungsaufgaben erforderliche Steuerungsfähigkeit. Ein Vorbehalt vertragsunmittelbarer Regelung aller materiell gesetzesbedürftigen Regelungsgegenstände würde überdies zu einer dem konstitutionellen Rechtsformcharakter des Vertrages als Komplementärverfassung zuwiderlaufenden Inflationierung mit nichtkonstitutionellen Regelungsgegenständen führen und ist demnach ausgeschlossen. bb) Die Wesentlichkeitstheorie als Grundlage eines sekundärrechtsimmanenten Vorbehalts Damit bleibt nur die Möglichkeit, eine der Wesentlichkeitstheorie entsprechende Vorbehaltsdifferenzierung innerhalb des Sekundärrechts zu konstruieren. Hier ein angemessenes Differenzierungskriterium zu finden, wird durch die unvollkommenen normenhierarchischen Strukturen erschwert.

(1) Vorbehaltsverhältnis zwischen Richtlinie und Verordnung? Eine Möglichkeit der Restrukturierung könnte im Aufgreifen der vorfindlichen sekundärrechtlichen Handlungsformtypisierung von Verordnung und Richtlinie bestehen und hier entweder in der Einführung tatbestandlicher Voraussetzungen bestehen, unter denen den Rechtsetzungsorganen die Wahl einer der beiden Rechtsetzungsformen zwingend vorgeschrieben ist, oder aber im verstärkten legislativen Aufgreifen der Unterschiede zwischen Verordnung und Richtlinie. Schon seit der Vorbereitungsphase zum Vertrag von Maastricht werden Optionen der Einführung eines europäischen „Rahmengesetzes“ disku306 Zum Kriterium der Steuerungskraft der Gesetze und ihrer Behandlung Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27-44, 35 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tiert307. Hierin kommt schon terminologisch eine stark analogisierende Auffassung des europäischen Handlungsformensystems namentlich zum deutschen Staatsrecht zum Ausdruck. Der Europäische Konvent hat diese Konstruktionsoption durch Formulierung eines Präsidiumsvorschlags neu belebt, in dem die Terminologie eines europäischen Rahmengesetzes aufgegriffen wird, und der in den Verfassungsentwurf Eingang gefunden hat. Zugleich zeichnet sich dieser Vorschlag dadurch aus, daß er die Durchführungsebene der bisherigen Art. 202, 211 EG in die Legislativterminologie explizit einbezieht und den Durchführungsrechtsakten die Begrifflichkeit einer „Durchführungsverordnung“ zuschreibt308. Beide Konstruktionsalternativen haben indes gewichtige Nachteile namentlich im Hinblick auf die Strukturbesonderheiten der Europäischen Union in ihrer gegenwärtigen Ausprägung, wie sie vorliegend dargestellt worden sind. Richtlinie und Verordnung stehen gegenwärtig in keinem hierarchischen, sondern in einem Gleichordnungsverhältnis. Da Richtlinie und Verordnung im gleichen Willensbildungsverfahren zustandekommen, folgt auch aus ihrem institutionellen Hintergrund keine legitimationstheoretische Differenz. Mit beiden Handlungsformen ist überdies de lege lata keine primärrechtliche Vorfestlegung auf eine bestimmte Regelungsdichte oder eine sonstige Bindung der Gemeinschaftsrechtsorgane verbunden, wie sie etwa dem nach Art. 75 GG gekennzeichneten innerstaatlichen Rahmengesetz entspricht. Die Wahl zwischen beiden Handlungsformen ist gegenwärtig in das legislative Ermessen der Gemeinschaftsorgane gestellt. Angesichts des identischen institutionellen und prozeduralen Hervorbringungshintergrundes ist auch kein legitimationstheoretischer, die Kategoriebezüge der Wesentlichkeitstheorie verwirklichender Ertrag ersichtlich, der mit einer Modifikation dieser Rechtslage verbunden sein könnte. Fraglich ist auch, was mit einem Ausbau der Richtlinie zu einem Europäischen Rahmengesetz jenseits möglicher akzeptanzsteigernder Terminologievorteile inhaltlich gewonnen wäre. Die Begrifflichkeit suggeriert eine Parlamentarismusform, die das duale Repräsentationsgefüge nicht widerspiegelt. Die Parallelen zum innerstaatlichen Gesetz sind begrenzt: Es gibt in diesem Sinne

307 So die Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 12. 12. 1990 (ABl. Nr. C 19 vom 18. 1. 1991, S. 65, 71 f.), vom 18. 4. 1991 (ABl. Nr. C 129 vom 20. 05. 1991, [Bericht Bourlanges, Dok. A 3-85/91] S. 136, 138), vom 17. 5. 1995 (ABl. Nr. C 151 vom 19. 06. 1995, S. 56, 64 f.); Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, S. 1, 19 ff.; vgl. auch Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen, S. 39. 308

Dok. KONV. 797/1/03 Rev 1, Art. I-32 Abs. 1 UAbs 4; Art. I-35.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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keine Hierarchieabfolge „Verfassung – Gesetz – Verordnung“309. Unterhalb der europäischen Vertragsverfassung, die sich normenhierarchisch als typisch eigenständige Verknüpfungsform von Verfassungs- und gesetzesparallelen Elementen darstellt, befinden sich die untervertraglichen Sekundärrechtsakte, die – als Resultate delegierter Hoheitsgewalt – in ihren Hervorbringungsbedingungen einen Respektabstand zum parlamentarischen Gesetz lassen, und schließlich die subdelegierten Durchführungsakte. Die Fortentwicklung der Richtlinie zu einem Europäischen Rahmengesetz setzt eine substantiell vergleichbare Autorenschaft des EP hinsichtlich der Sekundärrechtsakte mit der nationalparlamentarischen Autorenschaft hinsichtlich des Gesetzes voraus. Diese ist angesichts des dualen Repräsentationssystems nicht oder zumindest nur unter Preisgabe des Verfassungsparadigmas der Komplementärverfaßtheit verwirklichungsfähig.

(2) Fortentwicklung der Differenzierung zwischen Sekundärrecht und subdelegierten Durchführungsrechtsakten Denkbar ist auch die Fortentwicklung der bereits angesprochenen Vorbehaltskasuistik gegenüber der Durchführungsebene. Die subdelegierten Akte der von der Kommission – teilweise im Komitologieverfahren – erlassenen Durchführungsvorschriften werden vereinzelt mit den innerstaatlichen untergesetzlichen Normen parallelisiert. Ausgangspunkt hierfür ist die eher metaphorische Bezeichnung der Verordnung als „Gesetz der Europäischen Union“310. Zwar ist zuzugeben, daß – wie Streinz heraushebt311 – gegen die Nichtbeteiligung des EP am Erlaß von Durchführungsvorschriften gerade nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie nichts einzuwenden ist, solange seine Beteiligung an der Ausgangsverordnung ordnungsgemäß war. Indes darf diese Betrachtung nicht dahingehend verallgemeinert werden, daß umgekehrt die Wesentlichkeitstheorie darauf reduziert wäre, wesentliche Entscheidungen der Union den sekundärrechtlichen Verordnungen vorzubehalten und der autonomen Kommissionsregelung auf Durchführungsebene zu entziehen. Auch hierdurch würde eine zu starke, den differenzierten Willensbildungsstrukturen des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht entsprechende Analogie zum Staatsrecht gezogen, die am eigentlichen Aussagegehalt der Wesentlichkeitstheorie vorbeiginge. Zwischen den einzelnen Verfahren, in denen Verordnungen im Gemeinschaftsrecht 309 Vgl. auch Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 535, 657: „keine klare Hierarchie der Rechtsakte“, andererseits ders., Rdnr. 512: „Notwendigkeit gewisser hierarchischer Verhältnisse und weiterer Abstufungen“. 310

Vgl. Oppermann (Fn. 309), Rdnr. 442, 448.

311

Oppermann (Fn. 309), Rdnr. 443.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

zustande kommen können – von Anhörungsverfahren bis zum Mitentscheidungsverfahren – besteht ausweislich der obigen312 Erörterungen ein entscheidender Unterschied hinsichtlich der legislativen Mitverantwortlichkeit des EP, der es verbietet, die Wesentlichkeitstheorie in dieser Weise pauschalierend für einen bloßen Sekundärrechtsvorbehalt heranzuziehen. cc) Mitentscheidungsvorbehalt als supranationales Surrogat der Wesentlichkeitstheorie Können die sekundärrechtlichen Handlungsformen nicht in einer vorbehaltstauglichen Weise hierarchisiert werden, so kommt nur eine Binnendifferenzierung innerhalb der verfügbaren Handlungsformen in Betracht. Eine dem Gesetzesvorbehalt entsprechende, einfache handlungsformbezogene Vorbehaltsformulierung kann jedenfalls nicht auf die im Gemeinschaftsrecht vorzufindenden äußeren Differenzierungen nach Handlungsformen zurückgreifen, sondern muß auf die unterschiedlichen inneren Hervorbringungsbedingungen einer äußerlich gleich bezeichneten Handlungsform eingehen. Der grundsätzliche Entsprechungszusammenhang von Handlungsform und organisatorischem Hervorbringungszusammenhang ist hier nicht in der aus dem Staatsrecht bekannten Form vorhanden. Die sekundärrechtliche Verfahrensdifferenzierung findet äußerlich keine äquivalente Differenzierung vor; eine im Mitentscheidungsverfahren erlassene EG-Verordnung etwa ist einer im Anhörungsverfahren erlassenen Verordnung ihrem normativen Status nach gleichwertig. Deshalb muß weniger auf die Handlungsform ihrer äußeren Normerscheinung nach, sondern auf die hinter ihr stehende Verantwortungstruktur abgestellt werden. Eine nach dem Grad der Organverantwortlichkeit differenzierende Betrachtung spricht dafür, die Parlamentsverantwortlichkeit in der Weise für wesentliche Entscheidungen einzufordern, daß wesentliche, ergo grundsätzliche Legislativentscheidungen unmittelbar unter verantwortlicher Einbeziehung des EP als Entscheidungsträger zu regeln sind. Ein entsprechender Unmittelbarkeitsvorbehalt europaparlamentarischer Entscheidung ist wiederum in unterschiedlichen denkbaren Konstruktionsoptionen denkbar. Abstrakt kommen hierfür zwei Möglichkeiten in Betracht: Einerseits die Schaffung einer weiteren, de lege ferenda neu zu etablierenden sekundärrechtlichen Willensbildungsform, bei der das EP der materiell alleinverantwortliche Entscheidungsträger ist; andererseits die Verknüpfung des Unmittelbarkeitsvorbehaltes mit dem Mitentscheidungsverfahren, in das, wie gezeigt, das EP als substantiell verantwortliches Organ einbezogen ist. Die Schaffung einer neuen Handlungsform, die exklusiv vom EP verabschiedet wird, würde zwar eine hinreichende Norm312

Kap. 5, II. 3. b) cc)/dd).

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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setzungsverantwortlichkeit des EP bewirken, widerspräche jedoch den Verfaßtheitsprämissen der geltenden Rechtsordnung, ohne daß diese Preisgabe legitimatorische Vorzüge böte. Eine die Alleinverantwortlichkeit des EP begründende autonome Entscheidungsbefugnis entkoppelte den sekundärrechtlichen Willensbildungsprozeß gänzlich von den mitgliedstaatlichen Mitwirkungen, die den Komplementärcharakter der Unionsverfassung verwirklichen. Dementsprechend sind nach dem status quo der Gemeinschaftsverfassungsordnung für materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände sowohl Verselbständigungen des Rates als auch des EP ausgeschlossen. Der Komplementärcharakter der Unionsordnung erfordert die Realisation von Parallelverantwortlichkeiten, durch die die Repräsentation sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Bürger Europas sichergestellt ist. Wie gezeigt, ist substantielle Entscheidungsmitverantwortlichkeit des EP nur im Mitentscheidungsverfahren vollständig ausgeprägt. Seine bloße Konsultation im Verfahren nach Art. 252 EG führt zu keiner parlamentarischen Normautorisierung. Aber auch das Zusammenwirken von Rat und EP in der Weise, daß gegen den Willen des EP keine Rechtsetzung erfolgt (Vetorecht), begründet nicht positiv seine autorisierende Mitverantwortung, sondern bedeutet lediglich negativ, daß das Parlament von vorhandenen negativen, normsetzungsverhindernden Einflußmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat. Eine (Mit-) Letztverantwortlichkeit ist nach den repräsentationsbezogenen Erwägungen des zweiten Kapitels erst dann anzunehmen, wenn das Organ, dem die Normsetzung zuzurechnen ist, positive Gestaltungsmöglichkeiten hat und über das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen in bezug auf die konkrete Normgestalt unmittelbar einzuwirken in der Lage ist. (2) Die direkteste Umsetzungsmöglichkeit der Wesentlichkeitstheorie liegt deshalb in einem obligatorischen Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EG, sobald ein materiell gesetzesbedürftiger Gegenstand vorliegt. Nachteil dieser Lösung ist, daß eine Differenzierung nach der Gegenstandswesentlichkeit die bisherige, nach Aufgabenbereichen vorgenommene Kompetenzregelung überlagert. Dies erscheint jedoch mit Blick auf den kategorialen Aussagegehalt der Wesentlichkeitstheorie hinnehmbar, zumal wenn berücksichtigt wird, daß die innerstaatliche Anwendung der Wesentlichkeitstheorie nichts anderes bewirkt. (3) Denkbar ist jedoch auch eine weitere, wiederum staatsrechtlich geprägte Konstruktionsoption, die im Staatsrecht namentlich in Spezialmaterien hoher Regelungskomplexität verwirklicht wird und dem Voraussetzungsgewicht im Hinblick auf ein für die Regelung erforderliches Fachwissen geschuldet ist, über das das Parlament regelmäßig nicht verfügt. Diese Möglichkeit bestünde in einer weiterhin exekutivisch geprägten Rechtsetzung mit allerdings obligatorischer Einbeziehung des Parlaments. Modell eines solchen exekutiven Erst-

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

zugriffs mit obligatorischer Parlamentsbeteiligung sind die bundesdeutschen Zustimmungsverordnungen, welche Gestaltungsrechte des Bundestages bei ansonsten exekutivischen Rechtsetzungsformen vorsehen (§ 48a BImSchG, § 20 II UmweltHG; § 59 KWAG)313. In diesen Rechtsetzungsformen liegt eine gewisse Vorbildfunktion für eine flexiblere Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf Gemeinschaftsebene, die den Erfordernissen effektiver Entscheidung entgegenkommt. Sie könnte verwirklicht werden durch eine Fortentwicklung des bisherigen Kooperationsverfahrens, das auf diese Weise für bestimmte Sachgegenstände einer notwendigen Parlamentszustimmung unterworfen würde. Die Mitverantwortlichkeit des EP für so zustande gekommene Normen wäre durch die obligatorische Parlamentszustimmung ebenfalls gewährleistet. Der Unterschied zu einem generellen Vorbehalt des Mitentscheidungsverfahrens für wesentliche Regelungen liegt darin, daß die Mitgestaltungsbefugnis des Legislativgremiums hier aus Gründen der höheren Steuerungsfähigkeit und damit größerer Sachnähe zurückgestuft und dieses auf eine bloße Ratifikationsstellung zurückbezogen wird. Zwischen dem Vorbehalt des Mitentscheidungsverfahrens und einer Ratifikationsstellung des EP könnte in der anstehenden Vertragsrevision eine flexible Balance gefunden werden, die zu einer effektivierten Problemlösungsfähigkeit des Regelungssystems führte, ohne den Notwendigkeiten des Legitimationsprofils Abbruch zu tun. Auf diese Weise ließe sich den Forderungen der Wesentlichkeitstheorie in praxisgerechter Weise Wirksamkeit verleihen. (4) Unabhängig von den konkreten Ausbalancierungen, die damit zu einem gewissen Rest politischer Gestaltungsfreiheit unterworfen sind, läßt sich damit aber festhalten, daß die Wesentlichkeitstheorie in der Applikation auf das Sekundärrecht die mitverantwortliche Verabschiedung materiell gesetzesbedürftiger Regelungsgegenstände durch das EP fordert. Regelfall für die Verwirklichung dieser Notwendigkeit sollte das Mitentscheidungsverfahren sein; etwaigen Sachzwängen geschuldete Abstriche in der parlamentarischen Gestaltungsmacht müssen sich aus dem konkreten Regelungsgegenstand selbst ergeben und diesen Abstrich erforderlich machen.

4. Zwischenergebnis Die Wesentlichkeitstheorie ist ein tauglicher verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt zur Zuordnung von Regelungsgegenständen zu legislativen Hand313 Vgl. die Nachweise von Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 27, 38 ff.

III. Die Wesentlichkeitstheorie im europäischen Legislativsystem

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lungsformen. Im Staatsrecht führt sie zur Priorisierung der parlamentarischen Willensbildungsform – als Ausdruck des in ihm repräsentierten souveränen Willens – für grundlegende Normentscheidungen. Staatsorganisationsrechtlich formuliert sie Kriterien für den Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt. Beide Aussageelemente affirmieren das Vermögen des Parlaments, kraft repräsentativer Konstituierung den Willensbildungsprozeß am Allgemeininteresse auszurichten. Die Wesentlichkeitstheorie erfüllt gerade infolge ihrer begrifflichen Unbestimmtheit die Aufgabe, einen gleitenden Maßstab für die Anforderungen an gesetzliche Regelungsnotwendigkeit abzugeben. Sie trägt damit zugleich dem Umstand Rechnung, daß die Bestimmung des Gesetzesvorbehaltes nicht allein das „ob“ der legislativen Überantwortung an das Parlament erfaßt, sondern ebenso auch als quantitativer Maßstab für die Überprüfung der erforderlichen Regelungsdichte fungiert. Letzteres aber ist ein stark vom Einzelfall, also von den inhaltlichen Besonderheiten der zu regelnden Materie abhängiger Maßstab. In der Übertragung der in der Wesentlichkeitstheorie enthaltenen Aussagegehalte auf einen allgemeineren Anwendungskontext artikuliert diese die Notwendigkeit, in grundsätzliche Normsetzungsentscheidungen nicht nur den staatenrepräsentierenden Rat, sondern auch das die Bürger repräsentierende EP verantwortlich miteinzubeziehen. Sie bringt damit den zweiten Strang des dualen Repräsentationssystems zur Geltung. Infolge der Varianz der im Sekundärrecht anzutreffenden Willensbildungsalternativen läßt sich diese Forderung nicht in gleicher Weise handlungsformbezogen umschreiben wie für das Staatsverfassungsrecht. Maßgebend ist deshalb weniger die Differenzierung nach den im EG-Vertrag typisierten Sekundärrechtsakten, sondern die Beachtung der differenzierten Verfahrenstypen innerhalb der jeweiligen sekundärrechtlichen Handlungsform, da diese Aufschluß geben über den Umfang der verantwortlichen Einbeziehung des Repräsentationsorgans EP. Eine gemeinschaftsrechtsspezifische Ausprägung des Wesentlichkeitstheorie führt deshalb zu dem Postulat, innerstaatlich materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände dem Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EG zu überantworten. Nur das in dieser Willensbildungsform verwirklichte Einbeziehungsgewicht rechtfertigt es, das EP – und damit seinen auf eine europäische Bürgeridentität verweisenden Repräsentationsgegenstand – als gleichberechtigt neben dem Rat stehenden Autor zu erkennen.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

IV. Restrukturierung der vertikalen Kompetenzbalance: Das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip der Europäischen Union Im Unterschied zu der bisherigen praktischen Relevanz von Kompetenzthemen im Gemeinschaftsgefüge314 dominiert in der Reformdiskussion gegenwärtig die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, mithin die vertikale Kompetenzdimension. Die zentrale Bedeutung, die dafür dem Subsidiaritätsprinzip nach weithin allgemeiner Auffassung zuerkannt wird, bringt die Formulierung des Rates, „wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Kompetenzen erreicht und ihre Einhaltung überwacht“315 werden kann, deutlich zum Ausdruck; die vorliegende Untersuchung geht deshalb in der rechtsprinzipiellen Verortung des Problems weitgehend konform mit den Auffassungen der Literatur316. Die konkreten Implikationen, die mit der konstitutionellen Zentralbedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die von ihm aus konzipierte Kompetenzbalance verbunden sein sollen, sind dagegen durchaus streitig. Die Bewertung von Vorschlägen zur Restrukturierung der vertikalen Kompetenzordnung hängt maßgebend damit zusammen, welchem rechtsprinzipiellen Hintergrund diese sich zuordnen lassen. Die Frage nach möglichen Reformen der Verbandskompetenzen ist damit in erster Linie eine Frage nach dem rechtskategorial vorzugswürdigen Reformparadigma. Bereits im Kontext der Wesentlichkeitstheorie – verstanden als Leitbegriff für eine Hierarchisierung sekundärrechtlicher Handlungsformen nach dem ihnen zugrunde liegenden Willensbildungsprofil317 – wurde versucht deutlich zu machen, daß die Verwirklichung auch rechtspraktisch überzeugender Konstruktionsoptionen stärker 314 von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 444, weisen darauf hin, daß sich die Verbandskompetenz regelmäßig über die Organkompetenz mittelbar erschließe; auch Hans Georg Fischer, Die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZG 2000, S. 163, betont, daß bislang in der Regel ausschließlich Organkompetenzfragen in der Rechtsprechung des EuGH thematisch gewesen seien. 315 Dok. CONFER 4820/00; vgl. Dok. CONV 47/02, S. 1, sowie die Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“ vom 23. September 2002, Dok. CONV 286/02. 316 Bezug nehmend auf die Zielformulierung des Gipfels von Laeken ebenfalls Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 216; Jennert, Die zukünftige Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, NVwZ 2003, S. 936; Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8; Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188, jeweils m.w.N. 317 s.o., III.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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darauf angewiesen ist, vorfindliche Institutionenstrukturen in ihrem Vernunftgehalt aufzugreifen und rechtsprinzipiell zu verstärken, anstatt vollkommene Neukonzeptionen vorzuschlagen. Fundamentale paradigmatische Umgestaltungen stehen in der Gefahr, die Komplexität und Besonderheiten des Integrationsprozesses unterzubestimmen und simplizistische Lösungsvorschläge für offenbar gewordene institutionelle Defizite anzubieten, die sich in der Praxis mehrschichtiger Abstimmungsprozesse nicht bewähren können318. Dies gilt nicht nur für die Organebene, sondern – mehr noch – für die Frage nach dem Umgang mit dem Verbändeverhältnis, in dem sich die Multipolarität der Akteure319 besonders sinnfällig manifestiert. Anders als die von der Wesentlichkeitstheorie ausgehende Restrukturierung des Organkompetenzgefüges ist das Subsidiaritätsprinzip bereits Bestandteil des geltenden Gemeinschaftsrechts; die mit seiner Einordnung als Verfassungsprinzip einhergehenden Impulse haben deshalb weniger den Charakter paradigmatischer Neubestimmung als den einer normativen Hochstufung seiner rechtspraktischen Bedeutung durch Verbesserung des institutionellen Umsetzungsrahmens. Auch diese Vorgehensweise kommt allerdings nicht ohne eine eindeutige Bestimmung des rechtsprinzipiellen Gehalts des Subsidiaritätsprinzips und eine Abgrenzung von konkurrierenden Interpretationsparadigmen aus. Die Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip ist spätestens seit seiner ausdrücklichen Aufnahme als Primärrechtsbestandteil durch den Vertrag von Maastricht unüberschaubar geworden320; eine auf alle Nuancen bezogene Auseinanderset318 Gegen eine grundlegende Neuorganisation auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 452, 458. Ob allerdings die Analyse, es gebe in der Struktur der Verbandkompetenz keine Defizite, sondern lediglich Transparenzmängel, berechtigt ist, erscheint zweifelhaft. 319 Dazu insb. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 43 ff. 320 Vgl. nur Ronge, Legitimität durch Subsidiarität. Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation einer überstaatlichen politischen Ordnung in Europa, 1998; Everling, Kompetenzordnung und Subsidiarität, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der europäischen Union, 1995, S. 166 ff.; Constantinesco, „Subsidiarität“ – Magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union?, EuZW 1991, S. 561-563; Sarcevic, Das Subsidiaritätsprinzip im positiven Verfassungsrecht und seine Relevanz für die Gesetzgebungspraxis im Bundesstaat, ZG 2000, S. 328-344; Heinze, Europäische Einflüsse auf das nationale Arbeitsrecht, RdA 1994, S. 1, 5; Zuleeg, Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 185 ff.; Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht – Zu den Forderungen der deutschen Bundesländer im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, DVBl. 1995, S. 1265; von Borries, EuR 1994, S. 263 ff.; Müller-Graff, ZHR 1995, S. 34 ff; Berichte des XVI. FIDEKongresses, Band I, Das Subsidiaritätsprinzip, Rom 1994; Leitermann, Vorschläge an den europäischen Konvent – Das Subsidiaritätsprinzip besser anwenden, StädteT 2002, S. 26 f.; Pernice, Der Parlamentarische Subsidiaritätsausschuß, WHI-Paper 11/02; Blanke, Normativität und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, in: Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

zung mit den einzelnen Subsidiaritätskonzepten kann deshalb im vorliegenden Rahmen nicht geleistet werden. Die vorliegende Untersuchung entwickelt das mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundene Restrukturierungs- und Verwirklichungsprofil in vier Schritten. An erster Stelle steht die Einordnung des Subsidiaritätsprinzips in den unionsverfassungsrechtlichen Bezugsrahmen. Auf der Grundlage der oben321 vorgenommenen Bestandsaufnahme geht es hier um eine Vergewisserung über seinen Status als Prinzip und die mit ihm einhergehende paradigmatische Ausrichtung der Europäischen Union (1.). Auf dieser Grundlage schließt sich eine Evaluation der vertretenen Restrukturierungsvorschläge mit dem Ziel einer Einordnung an, welche der Vorschläge dem hier vertretenen Prinzipienstatus am nächsten kommen (2.). Hier geht es primär um eine Kennzeichnung der dem Subsidiaritätsprinzip am ehesten angemessenen Kompetenzstrukturierungsmethodik. Gewissermaßen als eine hierauf aufbauende Feinsteuerung wird anschließend thematisiert, wie das Subsidiaritätsprinzip fortentwickelt werden kann und welche Vorstellungen denkbar sind, die seine Konturen schärfen und seine Bedeutung als Verfassungsprinzip praktisch machen (3.). Dieser Zuordnung kommt möglicherweise das größte Gewicht für die Gesamtfragestellung zu, unter welchen Umständen das Subsidiaritätsprinzip die ihm ausgewählte Politikbereiche, S. 95 ff.; Bruha, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaft, in: Riklin/Batlinger (Hrsg.), Subsidiarität. S. 373 ff.; Brunner, Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip, in: Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage, 1994, S. 9-22; Calliess, Der Schlüsselbegriff der „ausschließlichen Zuständigkeit“ im Subsidiaritätsprinzip des Art 3b II EGV, EuZW 1995, S. 693-700; Grimm, Effektivität und Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1994, S. 6-12; ders., Subsidiarität ist nur ein Wort, FAZ vom 17. 9. 1992, S. 38; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip: Normativität und Legitimation als Elemente des Europäischen Verfassungsrechts, 1999; Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Knörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, S. 49 ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft; Jarass, EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, EuGRZ 1994, S. 209 ff.; Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 3b EG-Vertrag, AöR 118 (1993), S. 414 ff.; Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrages, NJW 1998, S. 2871 ff.; ders., Das Subsidiaritätsprinzip als Beweislastumkehrregel, ZRP 1995, S. 367-369; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998; Lambers, Subsidiarität in Europa – Allheilmittel oder juristische Leerformel? EuR 1993, S. 229-242; Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer Europäischen Union, 1993; Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Studie, 2001; Nicolaysen, Funktionalität und Kontrolle der Subsidiarität, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, S. 156 ff.; Schima, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Österreichische Rechtswissenschaftliche Studien, Band 22, 1994. 321

Kap. 5, II. 2. b) aa).

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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inhärenten normativen Aussagegehalte und die mit ihm verbundene Ordnungsvorstellung am ehesten einer supranationalen Verfassungswirklichkeit praktisch aufzuprägen in der Lage ist. Abschließend erfolgt ein Abgleich mit den Verfassungsvorschlägen des Konventsprozesses (4.). Daß die Auseinandersetzung mit dem Verfassungskonvent separat und nicht im Rahmen der übrigen Restrukturierungsvorschläge erfolgt, ist von der Erwartung getragen, daß die Konventsvorschläge – ungeachtet aller Unsicherheiten seiner Ratifikation nach dem Scheitern der neuen Verfassung unter der italienischen Ratspräsidentschaft – im Gegensatz zu den übrigen Diskussionsbeiträgen die konkreteste Verwirklichungschance haben. Die Eigentümlichkeit der Konventsmethode, die bereits mit der Grundrechtecharta ihre „Feuertaufe“ erfahren hat, besteht in ihrer Zwischenstellung zwischen unverbindlichem Expertengremium mit vorbereitender Funktion und dem Normalfall eines sich unmittelbar verwirklichenden pouvoir constituant322. Ihre auf die konstitutionelle Übernahme durch eine Regierungskonferenz gerichtete Finalität charakterisiert den Konvent indes als Vorstufe eines Gesetzgebungsprozesses im weitesten Sinne und rechtfertigt es, seine Vorschläge im Lichte ihrer Tragfähigkeit als mögliches zukünftig geltendes Recht zu evaluieren.

1. Verfassungsparadigmatische Implikationen des Subsidiaritätsprinzips

a) Ideengeschichtliche Einordnung und konzeptionelle Konsequenzen Subsidiarität als Ordnungsprinzip läßt sich seiner Herkunft nach in zwei Hauptrichtungen verorten: zum einen in der katholischen Soziallehre, die das

322 Ausführlich zur Konventsmethode Göler, Die neue europäische Verfassungsdebatte: Entwicklungsstand und Optionen für den Konvent, 2002, S. 70 ff.; ders., Der Gipfel von Laeken: Erste Etappe auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung?, Integration 2000, S. 99; Lindner, Der Konvent zur Zukunft Europas – Ein Überblick über die aktuelle europäische Reformagenda, BayVBl. 2002, S. 513; Marhold, Der Konvent zwischen Konsens und Kontroversen: Zwischenbilanz nach der ersten Phase, Integration 2002, S. 251, 254 ff.; Andreas Maurer, Die Methode des Konvents – ein Modell deliberativer Demokratie?, Integration 2003, S. 130 ff.; Jürgen Meyer/Hölscheidt, Die Verfassung der Föderation der europäischen Nationalstaaten, Integration 2002, S. 195; Oppermann, DVBl. 2003, S. 1; Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 193; Wuermeling, Europa neu verfassen – zum Stand der Arbeiten des Verfassungskonvents, BayVBl. 2003, S. 193 ff.; Wolfgang Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, Integration 2002, S. 83 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Subsidiaritätsprinzip in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno323 von 1931 zum fundamentalen Gebot der Gerechtigkeit erhoben hat324. Zum anderen in der liberalen Staatstheorie, die eine Rückbindung der Notwendigkeit staatlichen Tätigwerdens – im Unterschied zu gesellschaftlich-privater Selbstbewältigung von Problemen – an der personalen Freiheit des Einzelnen fordert und damit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der Eigenverantwortlichkeit im Subsidiaritätsgedanken umsetzt325. Dem entspricht es, daß die Gemeinschaftsorgane die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips regelmäßig unter dem Aspekt der Bürgernähe thematisieren326. Beide ideengeschichtlichen Referenzen verbinden mit dem Gedanken subsidiaritätsorientierter Herrschaftsorganisation ein Gerechtigkeitspostulat. In diesem schwingen vielfältige Konnotationen mit wie etwa der Gedanke größerer Sachnähe der unteren Ebene oder der hiermit verbundene individualistische Freiheitsbezug. Dies mag dazu beigetragen haben, daß dem Subsidiaritätsprinzip nicht allein in der europarechtlichen und -politischen Diskussion, sondern auch als immanentem Prinzip des bundesdeutschen Verfassungsrechts Bedeutung zukommt327, deren systemprägender Gehalt zunehmend das wissenschaftliche Bewußtsein bestimmt328.

323 „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und ihrer Natur nach […] subsidiär.“ Nachzulesen bei Helmut Schnatz (Hrsg.), Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft. Originaldokumente mit deutscher Übersetzung, 1973, S. 401-417. 324 Ausführlich dazu Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, S. 51 ff. Höffe weist nach, daß die Geschichte der Subsidiarität ihrerseits bis auf die aristotelische Soziallehre zurückgeht und hier der sozialphilosophischen Bestimmung von Individualität und Gemeinschaft dient; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, sieht Thomas von Aquin als theoriegeschichtlichen Ahnherrn. Vgl. auch Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968. 325 Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 240; dazu auch Zuleeg, Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, 1997, S. 197: das Subsidiaritätsprinzip habe eine freiheitliche Wurzel. 326 Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Subsidiaritätsprinzip „Für eine echte Subsidiaritätskultur! Ein Appell des Ausschusses der Regionen“, Abl. Nr. C 198 vom 14/07/1999, S. 73: „Das Subsidiaritätsprinzip im Sinne der Bürgernähe, dem zufolge Entscheidungen auf der untersten Ebene getroffen werden, wodurch gleichzeitig eine optimale Kapazität für die Durchführung der Aufgaben gewährleistet ist, ist ein für diesen Reformprozeß wegweisender politischer Grundsatz.[…] Als inhaltliche Norm beinhaltet das Subsidiaritätsprinzip den Wunsch, daß Beschlüsse so bürgernah wie möglich getroffen werden.“ 327 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 106 ff., und Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 245, sehen verschiedene Bestimmungen des GG als Ausweis verfassungsrechtlichen Bekenntnisses zur Subsidiarität. Mit dem Subsidiaritätsprinzip werde der Zielkonflikt staatlicher Herrschaft zwischen Bürgernähe und Effizienz zugunsten der Bürgernähe aufgelöst; skep-

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

529

Mit der Rekonstruktion der ideengeschichtlichen Herkunft des Subsidiaritätsprinzips ist indes für die Bestimmung rechtlichen Prinzipiengehalts noch nicht viel gewonnen. Zum einen erklärt sich dies daraus, daß aus der Herleitung des Subsidiaritätsprinzips sich „keine ideologische Vereinnahmung“329 ergeben darf, soll nicht die weltanschauliche Neutralität staatlicher oder suprastaatlicher Systeme durch die Infiltration sozialwissenschaftlicher Prinzipienreferenzen in Gefahr gebracht werden330. Auch erweist sich die der Sozialenzyklika entnommene Grundlagenformulierung des Subsidiaritätsprinzips rechtlich letztlich unergiebig331. Sie suggeriert als evident, daß die Präponderanz der sachunmittelbareren Ebene ein Gerechtigkeitsgebot sei332, ohne daß diese Gerechtigkeitsimplikation begründet würde333. Ohne eine entsprechende Selbstvergewisserung über den damit verbundenen Hintergrund kommt die rechtliche Bestimmung dieses Prinzips jedoch nicht aus. Andererseits erscheint es als zu weitgehend, als Resultat dieses Umstandes die Einordnung des Subsidiaritätsprinzips in einen bestimmten ideengeschichtlichen Kontext für die gemeinschaftsrechtliche Funktionenbestimmung als weitgehend unergiebig, ja bedeutungslos zu qualifizieren334. Für die Tauglichkeit des Subsidiaritätsprinzips als verfassungsrechtliches Strukturprinzip eines Mehrebenensystems kommt es – unter Ausblendung aller übrigen Bedeutungstisch demgegenüber Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Studie, 2001. 328 Nach Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 2 ff., handelt es sich bei dem Prinzip der Subsidiarität um ein nur scheinbar überholtes, in Wirklichkeit aber fortdauernd prägendes Rechtsprinzip auch für das bundesdeutsche Staatsrecht, ders., S. 418, bezeichnet deshalb auch etwa die föderale Bedarfsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG als „Subsidiaritätsklausel“. 329 Herzog, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2591-2597. 330 Gegen eine konfessionelle Engführung auch Höffe, Subsidiarität als staatsphilosphisches Prinzip, S. 52 f. 331 A.A. hingegen Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 185: legitimatorisches Grundprinzip. 332 Vgl. zu diesem Aussagegehalt auch Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 28. 333 Dies wird überwiegend anders beurteilt: So hält Höffe, Subsidiarität als staatsphilosphisches Prinzip, S. 53, die Passage für „argumentationslogisch überzeugend“; auch Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 185, meint, das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre würde in seinem Legitimationspotential von der rechtlichen Umsetzung nicht ausgeschöpft. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß die hier zugrunde gelegte Beurteilung das Resultat einer methodisch gebotenen rechtlichen Betrachtungsweise ist, die keine allgemeine Beurteilung sozialethischer Bedeutungsgehalte impliziert, sondern der Evaluation der vom Subsidiaritätsprinzip ausgehenden Bedeutung für die praktische Verwirklichung der Komplementärverfassung dient. 334 Vgl. von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b EGV, Rdnr. 19 ff.

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

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referenzen (als sozialethisches Gerechtigkeitsprinzip, als Abgrenzungsprinzip zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Individuum und Staat, zwischen Individuum und Gemeinschaft etc.) – darauf an, ob und mit welchem praktischen Effekt sich aus ihm ein Hierarchieverhältnis zwischen den einzelnen Herrschaftsebenen angeben läßt, das mit dem Repräsentationsgehalt der den jeweiligen Ebenen zur Verfügung stehenden Handlungsformen konvergiert. Das weicht von den im übrigen mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundenen Ordnungsvorstellungen nicht unerheblich ab.

b) Spezifische Interpretationen, insbesondere: Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip der Regionenautonomie Weit verbreitet ist die Auffassung, das Subsidiaritätsprinzip sicherte insbesondere die Bedeutung und den Einfluß der Regionen in Europa; teilweise wird sogar das Subsidiaritätsprinzip „als Prinzip der Verwirklichung größtmöglicher Regionenautonomie“335 apostrophiert. Diese Einordnung betont die besondere politische Bedeutung, die – maßgebend mitbeeinflußt durch die Forderungen der deutschen Bundesländer nach einer Stärkung ihrer Rolle im europäischen Willensbildungsprozeß336 – der Schaffung regionaler Gegengewichte zu einer teilzentralisierten supranationalen Hoheitsebene zuerkannt wird; dies dokumentiert sich auch in der Schaffung eines Ausschusses der Regionen als institutioneller Verwirklichungsform des Regionalismus337. Eine starke Regionenbedeutung findet im Konzept der Mehrebenenarchitektur einen sinnvollen Veror335

So etwa Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art 3b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, AöR 121 (1996), S. 509-543; Heberlein, Der Ausschuß der Regionen, BWGZ 1994, S. 307-310. 336

Entschließung des Bundesrates zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996, BR-Drs. 169/95 sowie BR-Drs. 667/95 („Forderungen der Länder zur Regierungskonferenz 1996“). 337 Dazu etwa Häberle, Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, in: Die Verwaltung 25 (1992), S. 1 ff.; ders., Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S. 1 ff.; Leinen, Regionalismus und Subsidiarität, in: Welche Verfassung für Europa?, S. 187, 191; Dauses, Die Rolle der Regionen in Direktklagen vor dem EuGH, BayVBl. 1996, S. 582-586; Glombik, Aus dem ABC der EU – Der Ausschuß der Regionen (AdR), VR 2000, S. 405-406. Dieses Subsidiaritätsverständnis nimmt im Schrifttum und in der öffentlichen Meinung erhebliche Bedeutung ein; Optionen der Fortentwicklung einer in diesem Sinne als subsidiär gekennzeichneten EU diskutieren Brecht, Das Klagerecht der Regionen nach Art. 230 EGV. Derzeitige Rechtsprechung und Perspektiven für den Verfassungskonvent, ZEuS 2003, S. 135-152; Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art 3b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, AöR 121 (1996), S. 509-543; Gensler, Mit dem Ausschuß der Regionen ins Europa der Regionen? BWGZ 1994, S. 311-312.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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tungsrahmen, und es liegt deswegen durchaus in der Konstruktionslogik der Integrationsidee, die supranationale Rechtsetzung durch eine unterhalb der Mitgliedstaaten angelegte Rechtsetzungsdiversifikation zu ergänzen. Sofern man diese Auffassung nicht als rechtspolitisches Plädoyer für eine subsidiaritätsgemäße Stärkung der Regionen de lege ferenda auffaßt, deckt sich die regionalismusfinale Interpretation des Subsidiaritätsprinzip jedoch kaum mit einer verfassungsprinzipiellen, an unionsverfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkten orientierten Einordnung338. Nach Calliess ist die Regionalbedeutung über die in 6 Abs. 3 EU niedergelegten Grundsätze der Rücksichtnahme auf die nationalen Identitäten und die mit ihnen verbundenen Verfassungsstrukturen verankert339. Gegen die Interpretation dieser Artikel als konstitutionellen Ausprägungsformen einer regionalistisch induzierten Unionssubsidiarität spricht jedoch, daß das Gebot zur Rücksichtnahme auf nationale Identitäten gerade nicht zur Implementation der in bezug genommenen Bestandteile mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität in den acquis des Unionsverfassungsrechts führt. Das Gebot macht demnach der Union selbst nicht die Rücksichtnahme auf die Regionen zueigen, sondern gebietet lediglich ein „unangetastet-Lassen“ der regionenschonenden Bestandteile der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen, soweit diese solche enthalten340. Primärrechtlich gleichverankert – über das Subsidiaritätsprinzip als einheitliches Rechtsprinzip – ist der einheitliche Regionenbezug infolge dieser Mediatisierung durch die Besonderheiten mitgliedstaatlicher Verfassungsbesonderheiten gerade nicht. Es fehlt auch ein für diese regionenbezogene Operationalisierung des Subsidiaritätsprinzips voraus338

Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, daß ja auch die vorliegende Untersuchung keine rein deskriptive Konzeption der europäischen Verfassungsstruktur, sondern ihre Reformulierung de lege ferenda zum Gegenstand hat. Die Einordnung des Subsidiaritätsprinzips nimmt ihren Ausgang vom genuin supranationalen Status quo einer komplementären Ordnung – mit allen im dritten und vierten Kap. dargelegten Implikationen der Verhältnisbestimmung zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten – und bezieht das Subsidiaritätsprinzip auf diese Verfassungsstruktur. Reformulierungen zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips auf dieser Grundlage haben einen anderen Bezug zum geltenden Verfassungsparadigma als eine Instrumentalisierung des Subsidiaritätsprinzips für die Stärkung von Zurechnungseinheiten, die im geltenden Recht noch nicht einmal den Status von Verfassungssubjekten aufweisen. 339 Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art 3b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, AöR 121 (1996), S. 509-543. Für eine Stärkung auch Glombik, Aus dem ABC der EU – Der Ausschuß der Regionen (AdR), VR 2000, S. 405-406. 340

Ebenso Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 501: Das Subsidiaritätsprinzip sei nur mittelbar ein Prinzip zugunsten der Länder; so auch Pernice, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, DVBl. 1993, S. 909 ff., 915; T. Stein, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz? VVDStRL 53 (1994), S. 27 f.

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

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zusetzender gemeinschaftsverfassungsrechtlicher Regionenbegriff341. Der rechtliche Status der Regionen vermittelt sich nur als fortbestehend nach Maßgabe der Staatsverfassungen, das Subsidiaritätsprinzip vermittelt allenfalls einen Schutz gegen zu starke integrationsbedingte Mitwirkungseinbußen, nicht aber – positiv – größtmögliche Einbeziehung. In Ermangelung verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkte haben die Regionen auch unabhängig von der Unbestimmtheit dieses Begriffs als Rechtsbegriff keinen Status der Verfassungssubjektivität. Die parlamentarische Praxis schätzt den Einfluß des Ausschusses der Regionen ohnehin als vernachlässigbar ein. Ein Subsidiaritätsverständnis jedoch, das sich innerhalb der ohnehin komplexen Wechselbezüge des supranationalen Mehrebenensystems von der Notwendigkeit klarer Definition der Zurechnungssubjekte löst, dürfte indes weder praktisch handhabbar sein noch einen bestimmbaren Beitrag zur Einordnung des Subsidiaritätsprinzips in ihrer die Komplementärordnung verwirklichenden Bedeutung leisten. Es wäre damit schon wegen der fehlenden Bestimmbarkeit seines Subjektsbezugs einer justitiablen Stellung im Verfassungsgefüge enthoben. Das verweist auf die Notwendigkeit, den verfassungsprinzipiellen Gehalt des Subsidiaritätsprinzip anderweitig, nämlich im Bezugsrahmen zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten, zu bestimmen.

c) Das Subsidiaritätsprinzip als legitimatorisches Fundamentalprinzip? Verschiedene neuere Beiträge der gemeinschaftsrechtlichen Literatur erheben die Subsidiaritätsformulierung in Art. 5 EG zum Fundamentalprinzip gemeinschaftsrechtlicher Institutionenlegitimität überhaupt, wobei im einzelnen die Analyse des Aussagegehalts von Subsidiaritätsprinzip nach geltendem Recht und die allgemeine prinzipienkonzeptionelle Einordnung sich nicht immer auseinanderhalten lassen. Die am stärksten ausgeprägte subsidiaritätsoptimistische Betrachtung läßt sich solchen Beiträgen entnehmen, die dieses Prinzip als eigenständiges, legitimatorisch fundamentales Verfassungsprinzip der Europäischen Union erkennen (de lege lata) bzw. erheben wollen (de lege ferenda) und in ihm eine eigene, originäre Legitimationsquelle für den supranationalen Verfassungsverband insgesamt sehen. Diese Position wird in unterschiedlichen Abstufungen vertreten. Meinhard Heinze sieht in dem Subsidiaritätsprinzip ein „generelle[s] Kompetenz- und Legitimitätskriterium der Normensetzung seitens der Europäischen

341

Pernice (Fn. 340), S. 909 ff., 915; T. Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 27.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Gemeinschaft einerseits, der Mitgliedstaaten andererseits“342. Infolgedessen qualifiziert er europäische Sekundärrechtsetzung nach Maßgabe der Hauptermächtigungsnormen der Art. 95, 308 EG bereits nach dem gegenwärtigen Gehalt des Art. 5 Abs. 2 EG dort als unzulässig, wo die ausdrückliche Normsetzungskompetenz der Verträge den Rechtsakt nicht hinreichend determiniere. In anderer Form kommt ein solcherart fundamentaler Ansatz auch bei Ronge zum Ausdruck, der Subsidiarität generell als ein Legitimitätsprinzip kategorisiert343. Auf der Grundlage der Begriffsbestimmung, daß ein Legitimitätsprinzip die Unterscheidung zwischen legitim und illegitim im Hinblick auf eine rechtfertigungsbedürftige politische Ordnung ermöglichen müsse344, legt er dar, daß das Subsidiaritätsprinzip zwei Dimensionen habe: Einer negativen, bestehend in der Abwehr nicht erforderlicher Einmengung der höheren Ebene in die Selbstorganisation der unteren Ebene, stellt er gleichberechtigt eine zweite, positive Dimension zur Seite, die den Eigengehalt der Unterstützungsleistung durch die höhere Ebene hinsichtlich solcher Aufgabenfelder herausstreiche, in denen die untere Ebene zur angemessenen Problembewältigung autonom nicht in der Lage sei345. Letztlich betont Ronge damit die Rückgebundenheit der Subsidiarität an die Ermöglichungsbedingungen von Freiheit; er betont auch zutreffend die Ergänzungsbedürftigkeit des Subsidiaritätsprinzips durch externe Prinzipien346, die er insbesondere in den Menschenrechten sowie in der Etablierung demokratischer Verantwortungszusammenhänge – in der hier verwendeten Diktion: repräsentativer Inklusionsmechanismen – besteht. Andererseits hindert ihn dies nicht, dem Subsidiaritätsprinzip fundamentalen Gehalt als Legitimationsprinzip und damit einen weitgehend entkoppelten, autonomen Gehalt zuzuerkennen.

d) Das Subsidiaritätsprinzip als Prozeduralisierungsprinzip der Komplementärverfassung Vorgenannte Einschätzungen bedürfen auf der Grundlage der zuvor entwikkelten Legitimitätserwägungen der Relativierung. Ein legitimatorischer Fundamentalgehalt des Subsidiaritätsprinzips als Verfassungsprinzip der Europäischen Union – im Sinne einer eigenständigen, von weiteren Bedingungen un342

Meinhard Heinze, Europäische Einflüsse auf das nationale Arbeitsrecht, RdA 1994, S. 4. 343 Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 12. 344 Ronge (Fn. 343), S. 135. 345 Ronge (Fn. 343), S. 179. 346 Ronge (Fn. 343), S. 180.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

abhängigen Prinzipienbedeutung, die die Durchsetzung der Forderung subsidiärer Gliederung um ihrer selbst willen notwendig machte – setzte voraus, daß die Sach- oder Bürgernähe der hierarchisch rangniederen Ebene ein eigenständiger Legitimationstitel ist, dessen Verwirklichung selbst schon dem durch diese Ebene gesetzten Recht ein Legitimitätsprädikat verliehe. Ein solcherart legitimatorisch selbständiges Subsidiaritätsverständnis entspricht indes nicht den repräsentationstheoretischen Grundlagenerwägungen des zweiten Kapitels, denen zufolge die fundamentale Orientierung der Rechtslegitimität (Ausweis des Selbstbestimmungsgehaltes durch Repräsentationsstrukturen) nicht dispensierbar und auch nicht durch andere Prinzipien relativierbar ist. Die Eigenständigkeit des Subsidiaritätsprinzips neben den demokratisch-repräsentativen Legitimitätsgrundlagen bleibt unklar347, wird nicht die Prämisse mitgedacht, daß in dem unterstützenden Charakter der Unionskompetenzen der weniger ausgeprägten Inklusionsunmittelbarkeit der supranationalen Legislativstrukturen Rechnung getragen wird. Nicht der bloße Umstand, daß die Handlungsformen der Europäischen Union nur unterstützend zum staatlichen Selbstbestimmungsprimat zum Einsatz kommt, wirkt als solcher schon legitimierend. Notwendig ist vielmehr die Einordnung des Subsidiaritätsprinzips in den Kontext einer von unterschiedlichen Repräsentationsstrukturen gekennzeichneten Mehrebenenordnung348 und seine Hinbeziehung auf die Funktion der Verwirklichung des Komplementärgedankens. Repräsentativität ist nicht per se auf der sachnäheren, unteren Ebene in stärkerem Maße verwirklicht als auf der übergeordneten. Das im supranationalen Verbund integrierte Mehrebenensystem349 zeichnet sich, legt man das von dieser Untersuchung vorgeschlagene Institutionenverständnis zugrunde, durch einen staatlichen, parlamentarisch organisierten Repräsentationskern und durch subsidiäre, zusätzliche rechtsetzende Herrschaftsebenen sowohl nach oben als auch nach unten aus. Eine Interpretation des Subsidiaritätsprinzips als Primat der sachnächsten, untersten Ebene würde durch die Implikation der rechtskategorialen Selbständigkeit des Prinzips der Sachnähe in einen Prinzipienkonflikt mit den Grundbedingungen eines auf den Willensbildungsprozeß hin akzentuierten – repräsentationstheoretischen – Legitimitätsbegriffs treten und wäre 347

So auch die Kritik von Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, 1997, S. 189, an Heinze: Die „Bedeutung des Erfordernisses einer Legitimation aus dem Subsidiaritätsprinzip [bleibe] im Dunkeln.“ 348

Ähnlich auch Zuleeg (Fn. 347), S. 191, freilich in Verwendung der gängigen Verwendung der Gleichsetzung von Demokratie und Legitimation: „die Bewahrung der nationalen Identität, die der Europäische Rat mit dem Subsidiaritätsprinzip [verbinde]“ …sei „auf die demokratische Willensbildung abgestellt“. 349 Für den Staatsaufbau der Bundesrepublik ergeben sich die Ebenen: Europäische Union – Bund – Länder – unterstaatliche Körperschaften des öffentlichen Rechts.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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deshalb mit den Konstruktions- und Legitimationsprämissen föderaler staatlicher Institutionengefüge nur begrenzt in Übereinstimmung zu bringen. Parlamentarische Repräsentation im deutschen Bundesstaat etwa ist nicht auf kommunaler, vermeintlich sachnächster Ebene am ausgeprägtesten entwickelt. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips würde in Widerspruch treten zu der stark parlamentszentrierten Konstruktionslogik, weil die in ihm implizierte Vermutung besonderer Freiheitsadäquanz der unteren Ebene dem tatsächlich ausgeprägten, freiheitssichernden institutionellen Gehalt der unterschiedlichen Ebenen zuwiderliefe. Nimmt man die Interpretation der legitimatorischen Fundamentalbedeutung des Subsidiaritätsprinzips ernst, so beansprucht das Subsidiaritätsprinzip damit Konkurrenz zu dem institutionalistischen, an den Willensbildungsbedingungen orientierten Legitimitätsbegriff von Recht. Ob die beanspruchten Kategorien der Sach- und Bürgernähe letztlich die von der katholischen Soziallehre postulierten Gerechtigkeitsimplikationen in einer mit dem freiheitsradizierten Rechtsbegriff gleichwertigenrechtsprinzipiellen Tragfähigkeit einzulösen vermögen, muß zumindest bezweifelt werden. Will man diese konzeptionellen Konsequenzen vermeiden, so ist die Bestimmung des Subsidiaritätsprinzips abhängig von einer außerhalb seiner selbst vorzunehmenden Bestimmung des Bezugsgegenstandes. Es hat derivative Bedeutung. Nicht der Aufweis von Subsidiarität als solcher legitimiert die Europäische Union und ihre Herrschaftsmechanismen, sondern erst nach Bestimmung von Repräsentationsverhältnissen trägt es der Selbstbestimmungsdimension des Rechts dadurch Rechnung, daß die weniger repräsentationsunmittelbare Ebene nur subsidiär legislativ tätig wird. Das Subsidiaritätsprinzip hat in diesem paradigmatischen Bezugsrahmen Scharnierqualität, indem es ein System differenzierter Bezogenheit von unterschiedlichen Rechtssetzungsformen auf ihnen zugrunde liegenden Willensbildungsprozesse in unterschiedlichen Verbänden voraussetzt und auf dieser Grundlage ein Regel-AusnahmeVerhältnis zwischen diesen Verbänden formuliert. Es übersetzt das Postulat institutioneller Gewährleistung von Freiheit auf die Rechtswirklichkeit funktional unterschiedlicher Repräsentationsebenen, indem es ein Hierarchieverhältnis statuiert. Die solcherart subsidiaritätsbezogen konstituierte Hierarchie ist durchaus flexibel, weil die ihm als Bestimmungsgrund zugrunde liegenden Repräsentationsprämissen im Zuge der integrativen Fortentwicklung des institutionellen Rahmens ihrerseits Wandlungen unterworfen sind und damit das Verhältnis zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten auch legitimationstheoretisch dynamisch aufzufassen ist. Von der repräsentationsakzessorischen Bedeutung ist die Unterordnung des Subsidiaritätsprinzips unter die Freiheitsbedingungen des Rechts jedoch nicht abzulösen. Die größte Selbstbestimmungsunmittelbarkeit liegt nach den Bestimmungen der vorangegangenen Kapitel infolge der Spezifika parlamentarischer Willens-

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

bildung bei der legislativen Handlungsform des parlamentarischen Gesetzes. Die Funktion des Subsidiaritätsprinzips im vorliegenden Kontext bringt diesen mit Notwendigkeit beim Staat verbleibenden, gesetzesförmigen legislativen Nukleus selbstbestimmungsartikulierender Handlungsformen in seinem Vorrang zur Geltung, indem es eine Zweifelsregelung zugunsten der Zuständigkeit derjenigen Herrschaftsebene artikuliert, die gesetzesförmige Selbstbestimmung institutionell gewährleistet. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, daß Subtraktionen von Herrschaftsmacht von staatlich-parlamentarischen Ebene anhand des Selbstbestimmungsgehaltes, also an der freiheitlichen Erweiterungsleistung der Integration, als unverzichtbar legitimiert werden. Ausgeschlossen sind danach Hoheitstransfers um ihrer selbst willen und in der rechtskategorial verfehlten Annahme, daß diese per se integrationsfördernd wirkten. Grundsätzlich ist die gesetzesbedürftige Regelungsleistung Sache staatlich-parlamentarischer Regelung, es sei denn, der Regelungsgegenstand als solcher ist auf die übergeordnet-gemeinschaftliche Regelungsperspektive angewiesen und nur als supranational verselbständigtes legislatives Resultat der Koordinationsleistung der europäischen Staaten vorstellbar. Diese Priorität des Staates bei der Rechtsetzung entspricht dem abgeleiteten Geltungsgrund der Union, dem Verfassungsprinzip der Mitgliedstaatlichkeit (also dem Fortbestehen der Staatlichkeit der Unionskonstituenten) und trägt dem rechtsprinzipiellen Umstand Rechnung, daß auch in föderalen Mehrebenenstrukturen die Frage nach Letztinstanzlichkeit beantwortungsbedürftig bleibt, also die Frage, von welcher Ebene die in allen legislativen Teilbereichen sich manifestierende Selbstbestimmungsleistung führend bestimmt wird. In seiner zu dem Repräsentationsprinzip akzessorischen Bedeutung erschöpft sich das Subsidiaritätsprinzip andererseits nicht darin, als negative Direktive die Zuordnung „von oben nach unten“ vorzugeben und hiermit einer einseitige Richtungspriorität verfassungsprinzipiell zu verankern. Subsidiarität impliziert vielmehr ein affirmatives Moment auch gegenüber der relativen Eigenbedeutung der subsidiären Herrschaftsebene. Indem es die Mehrebenenkonstruktion logisch voraussetzt und die Unterstützungsfunktion der höheren Ebene dort als legitim und notwendig ausweist, wo die untergeordnete Ebene normativ überfordert ist, bringt das Subsidiaritätsprinzip den freiheitsverwirklichenden Gehalt einer selbständig regelsetzenden Europäischen Union zur Geltung. In der Bestimmung von Grenzen des supranationalen Rechtsregimes befestigt und anerkennt es dessen Autarkie innerhalb dieser Grenzen in seiner Legitimität.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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2. Ein bloßer Programmsatz? Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips

a) Die konstruktive Bedeutung des Justitiabilitätsproblems In der Einordnung der möglichen verfassungsprinzipiellen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips stellt in gewisser Weise die Auseinandersetzung mit seiner Justitiabilität den entscheidenden Gesichtspunkt dar: Der Maßstab für die dem Subsidiaritätsprinzip zuzuweisende Bedeutung folgt aus dem Anspruch an die Verfaßtheit der Europäischen Union insgesamt, in deren Kontext sich das Subsidiaritätsprinzip einfügen soll. Als kompetenzstrukturierendes Verfassungsprinzip einer Komplementärordnung kann es nur dann angesehen werden, wenn es auf dem Bereich normativ einlösbar erscheint, auf den sich sein Aussagegehalt erstreckt. Die Entwicklung abstrakter Grundsätze subsidiaritätsbasierender Ordnungsvorstellungen wäre für eine von Legitimitätserwägungen ausgehende legislative Kompetenzordnung fruchtlos, wenn das Prinzip selbst unter einer praktischen normativen Insuffizienz litte und für die Rechtsanwendung untauglich erschiene. Kritische Positionen zum normativen Gehalt des Subsidiaritätsprinzips kommen insbesondere aus der deutschen Staatsrechtslehre und sind hier namentlich Mitte der neunziger Jahre besonders stark vertreten worden. Grimm bezeichnet „Subsidiarität als bloßes Wort“350. Er geht davon aus, „daß es sich bei dem Subsidiaritätsprinzip um eine nicht justitiable Norm handelt“351. Der EuGH stehe nur zwischen den Alternativen, entweder das Subsidiaritätsprinzip nicht selbst anzuwenden und die ihm zukommende Aufgabe nicht zu erfüllen oder Rechtspolitik zu betreiben. Er beanstandet einerseits, daß das Subsidiaritätsprinzip mit der Notwendigkeit rechtlicher Abgrenzungen schon aufgrund der Finalität der Kompetenzstrukturen in der Europäischen Union überfordert sei. Darüber hinaus bezweifelt er überhaupt den rechtlichen Gehalt des Subsidiaritätsprinzips aufgrund der Herleitung aus der katholischen Sozialenzyklika. Ähnliche Kritik wird erhoben von Blanke, der die Möglichkeit infrage stellt, aus einem gesellschaftstheoretischen Ordnungsprinzip Kriterien für das Verhältnis rechtlicher Teilordnungen gewinnen zu können. Nach beiden Ansichten bildet Subsidiarität zwar integrationspolitische Intentionen ab, vermag aber 350

Grimm, FAZ vom 17. 9. 1992, S. 38. Grimm, Effektivität und Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips, KritV 1994, S. 6, 8. 351

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nicht als justitiables Kompetenzprinzip zu fungieren. Die von Art. 5 Abs. 2 EG statuierte Bindung an das Subsidiaritätsprinzip wäre im Lichte dieser Auffassungen als Ausdruck politischer Selbstbeschränkung des supranationalen Verbunds aufzufassen. Der Entwicklungsprozeß der Europäischen Union seit Mitte der neunziger Jahre mag dazu beigetragen haben, daß die Kritik der neueren Literatur nicht mehr ebenso schroff ausfällt wie im zeitlichen Umfeld des Maastricht-Vertrages; insoweit haben die Post-Maastricht-Reformkonferenzen unter Umständen bereits einen rechtsprinzipiellen Fortschritt bewirkt, der die Auseinandersetzung mit Kritik erleichtert. Andererseits wird die Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips auch schon als selbstverständlich vorausgesetzt352. Diese Feststellung dispensiert nicht von der Notwendigkeit, das Subsidiaritätsprinzip zwischen politischer Selbstbindung und rechtlicher Kompetenzrestriktion kategorial einzuordnen – insbesondere auch deswegen, weil auch alle abgeleiteten Verbesserungsoptionen zur Verbesserung seiner Handhabbarkeit mittelbar auf die Frage zurückverweisen, ob mit ihnen bloße politische Selbstbindung effektiviert oder das Erscheinungsbild einer verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung konkretisiert wird. Die bloße Festschreibung als politische Absichtserklärung bedarf angesichts ihrer Kodifikation in Art. 5 Abs. 2 EG keiner normativen Fortentwicklung. Nicht die Positivierbarkeit oder positivrechtliche Existenz, sondern die Tauglichkeit zur Umsetzung der zuvor entwickelten Legitimitätsprämissen in eine schlüssige kompetenzielle Ordnungsvorstellung ist für die Eignung des Subsidiaritätsprinzips als konstitutionelles Fundamentalprinzip der Verteilung von Legislativkompetenzen ausschlaggebend. Diese Vorgabe akzentuiert auch der Europäische Rat für den Post-Nizza-Prozeß, der nicht nur der subsidiaritätsgegründeten Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten Beachtung schenkt, sondern entscheidende Bedeutung der Frage zuerkennt, wie „ihre Einhaltung überwacht werden kann“353. Soll das Subsidiaritätsprinzip nicht ein „zahnloser Tiger“354 bleiben, muß es sich im Konfliktfall als von der Dritten Gewalt anwendbare Konfliktlösungsnorm bewähren; andernfalls ist seine Einhaltung – als Aspekt der Selbstbindung der 352 Bury, Entwicklung und Kernpunkte der Europäischen Verfassung aus Sicher der Bundesregierung, Vortrag vor dem Jean-Monnet-Haus für Europäische Politik Berlin vom 12. Mai 2003. 353 Europäischer Rat, Erklärung zur Zukunft der Union (Erklärung Nr. 23 zur Schlußakte), abgedruckt in T. Fischer, Der Vertrag von Nizza, Kommentar, 1. Aufl., 2001, S. 254. 354

Hans Georg Fischer, Öffentliche Anhörung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum „Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union“ am 8. Mai 1996 in Bonn, DVBl. 1996, S. 1041; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 237.

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gemeinschaftlichen Rechtsetzungsakteure – dem Gutdünken der Rechtsetzung selbst überantwortet und damit als Rechtsprinzip weitgehend ausgehöhlt. Diese Fragestellung verweist insgesamt auf eine für föderale Mehrebenensysteme kennzeichnende Ordnungsaufgabe und weist der Allokation von Letztentscheidungsmacht zwischen Gesetzgeber und Verfassungsjudikative das entscheidende Problemgewicht zu. Die mit dem Justitiabilitätsproblem verbundenen Fragestellungen eröffnen ein weites rechtskategoriales Verortungsfeld. Sie erfordern die Auseinandersetzung mit Argumenten, die das Subsidiaritätsprinzip als grundsätzlich auf die Dimension politischer Selbstbindung beschränkt betrachten; gleichzeitig setzen sie die rechtskategoriale Einordnung von Alternativvorschlägen zum Kriterium justitiabler Überprüfbarkeit – wie etwa die Überprüfung seiner Einhaltung durch den Ausschuß der Regionen, durch einen nationalparlamentarischen Kontrollausschuß oder die Einrichtung eines subsidiaritätsbezogenen „Frühwarnsystems“355 – voraus, die einerseits als institutionelle Unterstützung eines justitiablen Subsidiaritätskerns und damit seine sinnvolle Ergänzung, andererseits auch als Ersatz für den justitiablilitätsbezogenen Ansatz diskutiert werden. Allen diesen Aspekten ist nicht gerecht zu werden, ohne daß mitthematisiert wird, von welchen impliziten Prämissen die in die Diskussion eingebrachten Vorstellungen ausgehen. Die Frage nach Justitiabilität oder nichtjustitiellen Praktikabilitätsalternativen erweist sich damit letztlich als Grundlagenfrage nach der angemessenen Systemreferenz für das Subsidiaritätsprinzip an der Schnittstelle von Politik und Recht. Das Subsidiaritätsprinzip ist keine genuin gemeinschaftsrechtliche Erfindung. Als Prinzip der Kompetenzrestriktion in einem legislativen Mehrebenensystem weist es mehrere strukturelle Parallelen zu bundesstaatlichen Föderativsystemen auf356. Namentlich drängt sich aus deutscher staatsrechtlicher Sicht die Strukturanalogie zur Klausel des Art. 72 Abs. 2 GG auf357. Auch wenn

355 Vgl. die Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“ vom 23. September 2002, Dok. CONV 286/02, II. a, S. 4. 356 Dazu ausführlich Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998 (vgl. insb. S. 565 ff.); strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Föderalismus betont auch Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, 1997, S. 59 ff. 357 Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip als Beweislastumkehrregel, Überlegungen zur Neufassung von Art. 72 II GG und zur Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, ZRP 1995, S. 367-369; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998; Oeter (Fn. 356), S. 418, bezeichnet Art. 72 Abs. 2 GG sogar ausdrücklich als „Subsidiaritätsklausel“. Zu subsidiaritätsverwirklichenden Verfassungsprinzipien im Grundgesetz bereits Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968.

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solche Parallelen nicht zu einer direkten Gleichsetzung beider Herrschaftssysteme führen dürfen, legen sie doch nahe, die entwickelte bundesdeutsche Judikatur als argumentativen Ansatzpunkt dafür heranzuziehen, ob föderative Prinzipien der Kompetenzrestriktion ihrer Natur nach Justitiabilitätsdefizite haben oder eine judikative Zurückhaltung rechtskategorial fragwürdig erscheint. Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit den Einwänden gegen die Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips in mehreren Schritten auseinander. Einerseits plausibilisiert sie den Anspruch justitieller Verbindlichkeit in der Auseinandersetzung mit Alternativen durch den Rekurs auf verfassungsprinzipielle Grundlagenerwägungen (b)). Andererseits analysiert sie exkursartig die umfassende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Justitiabilität bundesstaatlicher Kompetenzprinzipien (c)). Dieser Exkurs veranschlagt die strukturellen Parallelen subsidiaritätsbezogener Verfassungsjudikatur358 und die im Werden begriffene Funktion des EuGH als Kompetenzgericht: Eine Prognose der praktischen Bewährung des Subsidiaritätsprinzips im supranationalen Mehrebenenverbund kann daher am ehesten auf die Judikativerfahrung in strukturverwandten Kompetenzordnungen zurückgreifen. Justitiabilität ist ein Eignungskriterium von legitimatorischen Kompetenzprinzipien für die Rechtspraxis. Nicht vertieft werden soll demgegenüber die Frage nach der Tauglichkeit des EuGH als gemeinschaftsrechtliches Kompetenzgericht359. Die dafür erforderliche Verbandsneutralität des EuGH ist mit Blick auf seine Stellung als Gemeinschaftsorgan, mehr noch aber im Hinblick auf seine Rolle und sein Selbstverständnis als „Motor der Integration“, teilweise in Abrede gestellt worden. Diskutiert werden deshalb seit einiger Zeit Konstruktionsoptionen, die mit der Errichtung eines zusätzlichen eigenständigen Kompetenzschlichtungsgericht verbunden sein könnten360. Da es sich bei der 358

Diese werden u. a. auch von Oeter (Fn. 356), S. 565 ff. hervorgehoben. Vgl. dazu Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, S. 225. 360 Vgl. etwa Schwartze, Kompetenzverteilung und Entscheidungsverfahren in einer europäischen Verfassung, in: M. E. Steit/S. Voigt (Hrsg.), Europa reformieren, 1996, S. 136 f., mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Hilf, Ungeschriebene Kompetenzen im Außenwirtschaftsrecht, ZfV 1997, S. 295 ff.; Di Fabio, Ist die Staatswerdung unausweichlich, FAZ, S. 8; Friedrich, Bundesfinanzhof contra Europäischen Gerichtshof, RIW 1985, S. 794; kritisch Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 603, ebenfalls m.w.N.; vgl. dazu auch die Diskussion von Magiera und Kirchhof in: Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung, 1990, S. 127; Weiler, The European Union Belongs To Its Citizens: Three immodest Proposals, 22 ELRev. 150, 155 (1997); P. Lindseth, Democratic legiti359

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Frage des „quis judicabit“ aber um ein normexternes Problem, bei der Justitiabilitätsproblematik hingegen um eine der Norm selbst immanente Fragestellung handelt und nur die normative Problematik für die Tauglichkeit der Kompetenzordnung als solcher relevant ist, kann dieser Punkt hier unvertieft bleiben. Im übrigen ist nicht nur die Frage der Nützlichkeit einer jenseits des EuGH angesiedelten Prüfungskompetenz, sondern auch Art und Besetzung eines solchen Gremiums stark umstritten361. Die Frage der Letztentscheidungsbefugnis im Hinblick auf die verbindliche Auslegung vorhandener und justitiabler Kompetenzprinzipien bedarf deshalb eigenständiger Abhandlungen362.

b) Justitiabilität von Kompetenzprinzipien als Postulat der Verfassungsstaatlichkeit Das Bindungsvermögen der normhierarchisch höchsten Verfassungsebene gegenüber den nachrangigen legislativen Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers hat einen starken Bezug zur verfassungsstaatlichen Tradition der Staatslehre363. „Verfassungsstaatlichkeit … [hat] begrifflich den Vorrang der Verfassung vor einfachem Gesetzesrecht zum Inhalt …“364. Eine Ausprägung äquivalenter Verfassungsstrukturprinzipien ist der Europäischen Union kraft ihres dem staatsrechtlichen Verfaßtheitszusammenhang äquivalenten Rationalitätsanspruchs einerseits und ihrer staatenintegrierenden Rechtsnatur andererseits aufgegeben365. Die freiheitsgesetzliche Dimension des europäischen Inte-

macy and the administrative character of supranationalism: The example of the European Community, 99 Colum. L. Rev. 628, 731 ff. (1999). 361 Vgl. die umfangreiche Darstellung bei Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 603, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 362 Die systematisch umfassendste Untersuchung dieses Themas liefert derzeit Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über ultra-vires-Akte in Mehrebenensystemen, 2000. 363 Prägend als Präzedenzfall nicht nur des angelsächsischen Konstitutionalismusverständnisses die Entscheidung des Supreme Courts im Fall Marbury vs. Madison 2 Law Ed. U. S. 60, 73 (1803); vgl. dazu auch Chr. Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht,2001, S. 1 ff, 2. 364 Starck (Fn. 363), S. 1. 365 Hauptbeispiel bisher, in der Entwicklung eines Anerkennungsverhältnisses durch das Bundesverfassungsgericht manifestiert: Die Gleichwertigkeit des Grundrechtsstandards, vgl. zu diesem Problemkreis die die Entwicklung der Rechtsprechung in BVerfGE 37, 271 – Solange I; BVerfGE 73, 339 – Solange II; BVerfGE 89, 155 – Maastricht.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

grationsprozesses beruht auf der Konstruktionsprämisse, daß in ihm die Errungenschaften staatlicher Konstitutionalisierungstradition aufgehoben sind. Die Verwirklichung dieses konstruktiven Anspruch ist in verschiedenen Sachgebieten unterschiedlich weit vorangeschritten. Die individualrechtliche Dimension des Legitimitätsverständnisses wird bereits seit langem von der Europäischen Union eingelöst; im Bereich der Freiheitsrechte hat deshalb das grundrechtssensible Bundesverfassungsgericht seit „Solange II“ infolge eines entwickelten europäischen Grundrechtestandards keine Veranlassung zu einer eigenständigen Prüfung am Maßstab nationalen Verfassungsrechts mehr gesehen366. Die freiheitsverbürgende Wirkung des Primärrechts wird von bedeutenden Stimmen der gemeinschaftsrechtlichen Literatur sogar als die tragende Legitimationsquelle des Gemeinschaftsrechts angesehen367. Eine solche Äquivalenz konstitutioneller Standards ist deshalb auch für die praktische Wirksamkeit von Kompetenzprinzipien zu fordern. Daß die Europäische Union bereits in der gegenwärtigen Systematik ihrer legislativen Handlungsformen ein Hierarchieverhältnis zwischen konstitutioneller und einfachrechtlicher Ebene ausgeprägt hat, wurde in den Kapiteln 3 und 4 entwickelt368. Die entscheidende Aufgabe der materialen Umsetzung vorhandener normenhierarchischer Differenzierungsoptionen für die legitimitätsorientierte Kompetenzstruktur besteht darin, den vorhandenen Differenzierungsgehalt für die rechtliche Bindung normsetzenden Gestaltungsvermögens nutzbar zu machen, also seine herrschaftsbeschränkende Funktion369 auszuschöpfen. Um materielles Verfassungsrecht zu verkörpern, müssen die Prinzipien der Europäischen Kompetenzverfassung verbindlich und justitiabel sein. Löst das Subsidiaritätsprinzip diese Vorgaben nicht ein, disqualifiziert es sich als Kompetenzprinzip. Die Problematik läßt sich anhand eines Vergleichs mit entwickelter staatsrechtlicher Kompetenzjudikatur nachvollziehen. Im folgenden ist dies am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts zu zeigen.

366

BVerfGE 37, 271 – Solange I. Mestmäcker, On The Legitimacy of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 615 ff. 368 Kap. 5, III. 1. b). 369 Zu dieser Starck (Fn. 363), S. 1. 367

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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c) Exkurs: Die Justitiabilität von Kompetenzausübungsregeln in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

aa) Grundlinien der Rechtsprechung Kompetenzrechtsprechung ist – neben der Grundrechtsinterpretation – der Hauptanwendungsfall, mit dem der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber zur Geltung gebracht wird370. Sowohl in bezug auf Art. 72 Abs. 2 GG a. F.371 als auch hinsichtlich Art. 28 GG existiert eine beträchtliche Anzahl von Entscheidungen, die freilich nicht immer von einer einheitlichen Anschauung getragen sind. Das Bundesverfassungsgericht betont einerseits, daß – ungeachtet der Dominanz der Bundesgesetzgebung in der Verfassungswirklichkeit372 – die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung restriktiv zu interpretieren sein373. Folgen für eine normative Gebundenheit des Bundesgesetzgebers sind damit jedoch kaum impliziert; das Bundesverfassungsgericht zeigt sich vielmehr in seiner Rechtsprechung grundsätzlich justitiabilitätsskeptisch. Als eine Schlüsselformulierung der Zurückhaltung in der Justitiabilität von Kompetenzprinzipien kann die vom Bundesverfassungsgericht artikulierte Wertung angesehen werden, daß die Beurteilung, ob ein gesamtstaatliches Regelungsbedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 a. F. GG vorliege, eine „Frage des pflichtgemäßen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen“374 sei. Anderes gelte nur, wenn ein Verstoß „eindeutig und evident“375 erkennbar sei. Die Prüfung sei damit beschränkt auf die Feststellung eines etwaigen „Ermessensmißbrauchs“376.

370

Vgl. Starck (Fn. 363), S. 3. Vgl. BVerfGE 2, 213, 224; 4, 115, 127; 10, 234, 245; 33, 224, 229. 372 Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FG 25 Jahre Bundesverfassungsgericht 1976, S. 253: „entgegengesetztes Bild der Verfassungswirklichkeit“. 373 BVerfGE 7, 29, 44; 12, 228 f.; 26, 246, 254; 33, 125, 152; 36, 203. Dazu auch Scholz (Fn. 372), S. 257. 374 BVerfGE 2, 213, 224. 375 Die Evidenzschwelle bildet in st. Rspr. auch das normative Rückgrat der Auslegung zum Gleichheitssatz, der sich auf diese Weise als bloßes Willkürverbot auslegt, vgl. BVerfGE 1, 14, 52; 1, 208, 247; 18, 38, 46; 23, 135, 143; 48, 281, 290; 61, 138, 147; 68, 237, 250; 83, 89, 107 f.; 85, 176, 187. 376 BVerfGE 2, 213, 224. 371

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Das Gericht hält die Zuordnung der Justitiabilitätsproblematik zum gesetzgeberischen Ermessen nicht einheitlich durch. Seit dem Urteil zum Ladenschlußgesetz bezeichnet es die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 nicht als Ermessensermächtigung, sondern – auf Tatbestandsebene – als Beurteilungsermächtigung, deren Ergebnis über die Erforderlichkeit der Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG entscheide377: „Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat.“378 Ungeachtet solcher Unterschiede im Detail fügt sich dieses Verständnis in ein verfassungsjudikatives Gesamtbild zur Kontrolldichte der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber ein. Seit dem Mitbestimmungsurteil379 wird erwogen, die Rechtsprechung zum Kontrollumfang gegenüber der Legislative durch eine Drei-Stufen-Lehre in Fallgruppen zu kategorisieren, die von einer bloßen Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zur vollumfänglichen materiellen Nachprüfung von Rechtsbegriffen reicht380. Freilich kann es sich bei einer solchen Einteilung allenfalls um „Markierungen in einer gleitenden Skala der Kontrolldichten“381 handeln. Das Bundesverfassungsgericht hat verschiedentlich betont, daß „der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums […] eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung“382 entspreche. Dem entspricht es, daß die umfangreiche Kasuistik zu dem weiten Problemfeld der Kontrolldichte der Verfassungsauslegung gegenüber dem Gesetzgeber sich einer einheitlichen, über den Einzelfallbezug hinausweisenden Systematisierung weitgehend entzieht. Kritisch wird deshalb zum Teil angemerkt, es handle sich um eine „leicht chaotisch anmutende Anhäufung von Formeln“383, die von keiner prinzipiellen Orientierung geprägt sei. Andererseits wird dem Bundesverfassungsgericht von Teilen des Schrifttums zugute gehalten, daß der Umfang verfassungsrichterlicher Legislationskontrolle sich ohnehin nur einzelfallbezogen handhaben lasse384. 377

Vgl. dazu auch Neumeyer, Geschichte eines Irrläufers – Anmerkungen zur Reform des Art. 72 Abs. 2 GG, FS Kriele 1997, S. 555. 378 BVerfGE 13, 233 f. 379 BVerfGE 50, 1. 380 Hierfür etwa Scholz (Fn. 372). 381 Schlaich, Bundesverfassungsgericht, 1997, S. 500. 382 BVerfGE 88, 87, 96 f.; 91, 389, 401. 383 Schlaich (Fn. 381), S. 502. 384 Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 53.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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bb) Kritik Die genannte Rezeption der Judikatur im Schrifttum läßt sich kaum unter einen Begriff fassen, sondern dokumentiert vorwiegend ein Bild der Uneinheitlichkeit zwischen Zustimmung und ihrerseits unterschiedlich begründeter Kritik. Als Ausgangspunkt einer kritischen Revision mit Verallgemeinerungspotential für die Justitiabilitätsproblematik eignet sich dieses Meinungsbild nur begrenzt. Versucht man die Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 a. F. GG auf eine allgemeinere Dimension hinzuordnen, so lassen sich zwei Hauptelemente als ihre argumentative Grundlage ausmachen: Die mangelnde Bestimmtheit des zu prüfenden Rechtsprinzips als Schranke seiner Justitiabilität und die gewaltenteilungsbedingte Notwendigkeit der Zurückhaltung der Judikative in politischen Fragen385. In beiden Gesichtspunkten dokumentiert sich eine grundsätzliche Skepsis, den Gesetzgeber durch die dritte Gewalt an Prinzipien zu binden, die dadurch seiner souveränen Disposition entzogen sind. Beide Argumentationsansätze lassen bei genauerer Betrachtung bezweifeln, ob mit ihnen mangelnde Justiziabilität von Kompetenzverteilungsregeln in einer für den hier untersuchten Kontext maßgebenden Weise begründbar ist. Diese Kritik läßt sich im wesentlichen – abgesehen von dogmatischen Details386 – in vier Hauptgesichtspunkten bündeln: Richterliche Selbstbeschränkung und Durchsetzung des Wesens verfassungsstaatlicher Bindung sind Konfliktkategorien, die in einem einseitigen judicial self-restraint nicht angemessen aufgelöst sind (1.). Das Bundesverfassungsgericht hat an anderer Stelle kompetenzlenkende Funktionen durchaus wahrgenommen und läßt damit eine prinzipielle Begründung für die mangelnde Justitiabilität ausgerechnet föderaler Kompetenzrestriktionsnormen vermissen (2.). Die Kompetenzrechtsprechung überträgt die in bezug 385 Dies dürfte das Argument sein, auf dem in der Diskussion der Justitiabilität von Kompetenzprinzipien der größte Akzent liegt, vgl. etwa Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 418 f.; kritisch demgegenüber Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 605. 386 Verschiedentlich der Kritik ausgesetzt gewesen ist der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensermächtigungen nicht sauber getrennt habe (Vgl. Maunz, in: MDHS, GG, Art. 72, Rdnr. 18, 19: Die Begriffe des Art. 72 II GG seien unbestimmte Rechtsbegriffe, würden aber vom Bundesverfassungsgericht behandelt wie eine Ermessensermächtigung; ebenso Bethge, BayVBl. 1985, S. 257 ff.; ähnlich Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 87). Moniert wird namentlich und daß zwar in Entscheidungen wie BVerfGE 13, 233 f. eine zutreffende Einordnung geleistet werde, die Rechtsbegriffe aber gleichwohl wie Ermessensregeln behandelt würden, da gerade die gesetzgeberisch gewählte Rechtsfolge von der gerichtlichen Überprüfung ausgenommen werde.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

auf die Auslegung materieller Verfassungsbegriffe entwickelten self-restraintGrundsätze auf die Auslegung von Kompetenzprinzipien und verkennt darin die spezifische mehrpolige Struktur dieser Problematik (3.). Der richterlichen Prüfungszurückhaltung liegt insgesamt eine unangemessene Verhältnisbestimmung der Systemreferenzen von Recht und Politik zugrunde (4.).

(1) Richterliche Selbstbeschränkung und Verfassungsvorrang als Konfliktkategorien Eine kritische Würdigung der vom Bundesverfassungsgericht postulierten Selbstrestriktion im Umgang mit föderalen Kompetenzverteilungsnormen bezieht sich zunächst auf die Frage nach der materiellen Berechtigung, dem Gesetzgeber überhaupt Entscheidungsspielräume in dem vom Bundesverfassungsgericht zugebilligten Umfang einzuräumen. Die Überantwortung der Beurteilung des gesamtstaatlichen Regelungsbedürfnisses zu einem behaupteten gesetzgeberischen Gestaltungsermessen ist nicht näher begründet. Einzelne Stimmen im Schrifttum haben sich in der Auseinandersetzung mit der genannten Judikatur um eine Konkretisierung bemüht, die gleichwohl in keiner überzeugenden Darlegung des rechtsprinzipiellen Grundes richterlicher Prüfungszurückhaltung mündet387. Um rechtskategorial zu überzeugen, müßten sich Justitiabilitätsdefizite anhand einer prinzipiellen Verhältnisbestimmung der Konfliktkategorien des Verfassungsvorrangs und der gesetzgeberischen Gestaltungsprärogative ausweisen lassen. Mit der Einordnung des judicial self restraints als Konfliktbewältigungsargumentation ist aber im Grunde bereits impliziert, daß die gänzliche Versagung einer inhaltlichen Überprüfung eine Vereinseitigung des Prärogativaspekts gegenüber dem Prinzip der Verfassungsstaatlichkeit beinhaltet.

387 Scholz (Fn. 372), S. 260, etwa meint – trotz im übrigen erheblicher Kritik am Leerlaufen des Art. 72 Abs. 2 GG –, es sei wenig dagegen einzuwenden, „da die demokratisch legitimierte, gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit sicherlich auch über eigene Voraussetzungen von derart hoher Konkretisierungsbedürftigkeit entscheiden darf“ (Hervorhebung von mir). Scholz plädiert im Sinne der von ihm sog. „funktionalen Evidenzkontrolle“ (S. 275) im Ergebnis dafür, Bedürfnisklauseln wie Art. 72 Abs. 2 GG wie gesetzgeberische Prognoseentscheidungen zu behandeln, die diesbezügliche „politische Vorentscheidung“ des Gesetzgebers zu berücksichtigen und nur bei „offenkundiger Fehlsamkeit“ einen Verstoß anzunehmen (S. 264). Was daran indes als gesicherter Bestand angesehen werden kann, bleibt ebenso offen wie die vom Bundesverfassungsgericht behauptete Natur der Sache. Im Gegenteil sprechen rechtsstaatliche Gewaltenteilungserwägungen sprechen ebenso wie die Erwägungen zum systematischen Grund des Verfassungsvorrangs demgegenüber dafür, daß keine Gewalt über Voraussetzungen der eigenen Ermächtigung entscheiden darf (so Maunz, in: MDHS, Art. 72, Rdnr. 18).

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Der mit der Betonung der weiten Reichweite der Legislativprärogative einhergehende judicial self-restraint kann nicht als Ausdruck frei gewählter verfassungspolitischer388 Selbstbeschränkung verstanden werden389, sondern steht seinerseits unter der Anforderung, ein rechtsstaatsimmanentes Konkordanzverhältnis von Prüfungskompetenz und gebotener Prüfungszurückhaltung390 zum Ausdruck zu bringen. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers muß sich im Spannungsfeld verfassungsrechtlicher Kompetenzvorgaben für beide Gewalten bewegen, objektives Gewicht und Bedeutung der beteiligten Legislativ- und Judikativaufgaben zur Geltung bringen. Hiermit ist weder ein allgemeines „Zuhöchstsein“ des verfassungsexegetischen Zugriffs der Verfassungsrechtsprechung gegenüber dem der Rechtsetzungsorgane noch eine notwendige Kontroverse zwischen beiden Organen im Anspruch der Verfassungskonkretisierung impliziert391.

(2) Justitiable Kompetenzverteilungsprinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Selbstbeschränkung des Verfassungsgerichts aus der Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Aufgabenspektrums im Verfassungsgefüge verliert aber auch durch die Betrachtung anderer Entscheidungen an Überzeugungskraft. Diese dokumentieren mangelnde Kohärenz und Kontinuität des behaupteten judicial self-restraints und erweisen die Referenz an die Sphäre der Politik als 388 Ki-Cheol Lee, Schonung des Gesetzgebers bei Normenkontrollentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 161, m. ausführlichen weiteren Nachweisen; Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Eine funktionell-rechtliche Kompetenzabgrenzung, 1999, S. 58. 389 So aber Menger, Aus der Praxis der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das verfassungsgerichtliche Urteil zu § 218 StGB – Gesetzgebung durch das BVerfG?, VerwArch 1975, S. 397, 398 f.; dagegen Schuppert, Die verfassungsrechtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 219. Zum judicial self-restraint und seiner rechtlichen Qualifikation vgl. Siedler (Fn. 388), S. 57 ff., m.w.N. Ki-Cheol Lee (Fn. 388), S. 155 ff., 157, m.w.N., betont zutreffend, die Kompetenzgrenzen folgten nicht aus dem Grundsatz des judicial self-restraint selbst, sondern aus den Organisationsnormen der Verfassung, vgl. auch Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ 1976, S. 696, 700; Gerontas, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zugleich ein Beitrag zum Grundsatz des „Judicial Self-Restraint“, 1981. 390 Alexy, Theorie der Grundrechte; Ki-Cheol Lee (Fn. 388), S. 155 ff. 391 Kritisch gegen eine Gleichsetzung des Spannungsverhältnisses von Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung mit der Souveränitätsfrage Ossenbühl (Fn. 384), S. 35 m.w.N.; zur Eigenständigkeit der verfassungsinterpretatorischen Funktion des Gesetzgebers auch angesichts dieses Letztentscheidungsrechts Kirchhof, in Festschrift Lerche 1998, S. 9, 15: „Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen der Erstinterpret, die Rechtsprechung ihr Zweitinterpret.“

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

eine eher einzelfallabhängige Opportunitätsentscheidung denn eine prinzipielle Konkordanzbemühung. Der grundgesetzlichen Dogmatik sind schließlich auch im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts justitiable Kompetenzverfassungsprinzipien nicht fremd. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat Grundsätze und Grenzen gesetzgeberischer Prärogative in exemplarischer Form hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Legislative und Exekutive herausgearbeitet392. Deutlicher noch zeigt sich anhand der Rechtsprechung zu Art. 28 GG, daß das Bundesverfassungsgericht durchaus und gerade im spezifischen Kontext staatlicher Mehrebenenkompetenzverteilung in der Lage ist, Kompetenzfragestellungen durch Auslegung von Verfassungsprinzipien zu lösen und subsidiaritätsähnliche393 Verfassungsprinzipien justitiabel aufzufassen. Im Rastede-Beschluß etwa hat das Bundesverfassungsgericht einen ganz weitreichenden Schutz der in Art. 28 Abs. 2 GG verankerten Selbstverwaltungsautonomie der Kommunalebene als justitiabel postuliert und eine aus dem legislativen Ermessen des parlamentarischen Gesetzgebers fließende „Hochzonung“ eines Regelungsgegenstandes in die staatliche Kompetenz erst dann für erforderlich gehalten, wenn die Mittel kommunaler Selbstverwaltung hierfür ungenügend seien. Mit der pauschalen Formulierung, der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungsspielraum, wird dagegen die an sich berechtigte, im rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzip verankerte Beurteilungsfreiheit des Gesetzgebers zum Vorwand für eine Prüfungszurückhaltung, die die an sich gebotene verfassungsrechtliche Konfliktlösung durch einen weitreichenden Prärogativmonismus des Gesetzgebers ersetzt und sich damit der Verantwortung, die Verfassung gegenüber beiden anderen Gewalten zu Geltung zu bringen, nicht hinreichend stellt.

392 Dies ist umso erstaunlicher, als das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung von Gesetzgeber und Exekutive mit ausführlicher und zustimmungswürdiger Argumentation die Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen Prärogative des Gesetzgebers im Verhältnis zur Exekutive aufgezeigt hat, vgl. BVerfGE 68, 1 ff. Diese Argumentation wäre auf den hier betrachteten Kontext ebenso gut anwendbar. Eine der Natur der Sache geschuldete Differenzierung zwischen Exekutive und Judikative im Hinblick auf ihre Kompetenzen gegenüber der Legislative ist an keiner Stelle ersichtlich. 393 Dazu Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 229 ff.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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(3) Verfassungsgerichtliche Kompetenzjudikatur als Problem verfassungsorganisatorischer Multipolarität Gegen das Prinzip des judicial self-restraints bei der Überwachung kompetenzrestringierender Prinzipien sprechen aber auch föderalismusprinzipielle, aus dem Wesen der Mehrebenendiversifikation von Herrschaft folgende Erwägungen. In den Judikaten zu Art. 72 Abs. 2 GG – zumindest vor der Reform der Vorschrift – klingt eine der Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG394 entliehene Vorstellung an, derzufolge die gesetzgeberische Prärogative sich wesentlich in der Reduktion des gerichtlichen Nachprüfungsumfangs auf formale Beurteilungskriterien realisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich in ständiger Rechtsprechung durch seine Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz weitgehend von einem materialen Aussagegehalt suspendiert und mißt die Vereinbarkeit von gesetzgeberischen Normentscheidungen mit Art. 3 Abs. 1 GG lediglich daran, ob diese sich als willkürlich darstellen. Diese Form des Umgangs mit dem materialen Regelungsgehalt von Verfassungsprinzipien ist bereits in diesem auf Art. 3 GG bezogenen Kontext problematisch395, wird jedoch in der Bezugnahme auf Prinzipien der Kompetenzverteilung zusätzlich in spezifischer Weise fragwürdig. Bei der Verhältnisbestimmung einer dem Mehrebenensystem gemäßen Legislativbalance überlagern sich kompetentielle Abgrenzungsprobleme, die das mit der Kompetenzrechtsprechung befaßte Gericht als Streitgegenstand zu entscheiden hat, mit der Selbsteinordnung des Gerichts in das Organgefüge des Verbandes, dem es angehört. Bei der Auslegung von Kompetenznormen sind zwei polare Verhältnisse thematisch: Zum einen das nach dem Subsidiaritätsprinzip zu beurteilende Verhältnis der Legislativakteure unterschiedlicher Ebenen zueinander, zum anderen Bestimmung einer angemessenen Organbalance zwischen Gericht und Gesetzgeber. Die erste Dimension betrifft ein „vertikales“ Verbandsverhältnis,

394 Art. 3 I GG kommt hinsichtlich der Bindung des Gesetzgebers nur in der reduzierten Bedeutung als Willkürverbot zum Tragen; hiermit wird eine ständige (vgl. etwa BVerfGE 1, 14, 52; 1, 208, 247; 18, 38, 46; 23, 135, 143; 48, 281, 290; 61, 138, 147; 68, 237, 250; 83, 89, 107 f.; 85, 176, 187), wenn auch nicht einheitliche („Neue Formel“ in BVerfGE 55, 72, 88; 57, 107, 115; 58, 369, 373 f.; 60, 123, 134; 60, 329, 346; 62, 256, 274; 78, 232, 247; 79, 87, 98; 88, 5, 13.; zu den Differenzierungen bereits in der alten Formel vgl. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 21) Rechtsprechung zum Aussagegehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes fortgesetzt. 395 Berechtigte Kritik an der Willkürformel namentlich von Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 22 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

während in der zweiten Frage die bereits erörterte „horizontale“ Organbalance zwischen Gesetzgebung und Judikative thematisch ist. Durch die Thematisierung des Kompetenzkonflikts unter dem Aspekt einer Verhältnisbestimmung von Justiz und Politik stellt das Gericht den Aspekt der organkompetentiellen Selbsteinordnung gegenüber dem Gesetzgeber in den Vordergrund; das ist im Normalfall der Auslegung der Bindungswirkung materieller Verfassungsprinzipien gegenüber dem Gesetzgeber (wie beispielsweise Art. 3 GG) unproblematisch, weil die Auslegung des materiellen Gehalts des Verfassungsprinzips dem implizierten kompetentiellen Teilgehalt der Fragestellung nachfolgt. Bei der Auslegung von föderativen Kompetenzprinzipien ist eine solche Konstruktion jedoch nicht ohne eine unmittelbare Wechselwirkung mit dem Streitgegenstand möglich; indem das Kompetenzgericht seine eigene Funktion gegenüber dem Gesetzgeber restringiert, dejustitiabilisiert es die ihm vorgelegte Konfliktfrage und unterbestimmt damit den Streitgegenstand. Denn durch die verfassungsgerichtliche Prüfungszurückhaltung tritt an seine Stelle der Selbstbefund des politischen Gesetzgebungsorgans, dessen Inanspruchnahme einer Regelsetzungsbefugnis sich so als konkludente Entscheidung über die Befugnisfrage präsentiert396. Der Rationalitätsgehalt dieser „Entscheidung in eigener Sache“ aber bleibt hinter den Prinzipienforderungen verfassungsstaatlicher und gewaltengeteilter Herrschaftsorganisation, die sich in der verfassungsgerichtlichen Letztentscheidungsbefugnis manifestieren, zurück.

(4) Justitiabilität von Rechtsprinzipien im Spannungsverhältnis von Recht und Politik Der entscheidende, weil grundsätzlichste Kritikpunkt gegenüber diesem Verständnis des Spannungsverhältnisses von Verfassungssuprematie und legislativer Souveränität bezieht sich auf die implizierte Verhältnisbestimmung von Recht und Politik397. Die diesbezügliche argumentative Fundierung der Kompetenzjudikatur werden in weiten Teilen vom Schrifttum zustimmend rezipiert. So geht etwa Oeter in seiner Abhandlung zum Bundesstaatsrecht davon aus, daß die Funktion der Letztentscheidung in Kompetenzfragen stets einem im Kern politischen Organ zustehen müsse, da mit ihr ein starkes genuin politi-

396 So auch zutreffend Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 605. 397 Vgl. nur das Mitbestimmungsurteil, BVerfGE 50, 1: Die richterliche Prüfungszurückhaltung „zielt darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten“.

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sches Opportunitätselement untrennbar verbunden sei398. Bei näherem Hinsehen ist die Validität dieser Erwägungen jedoch in Zweifel zu ziehen. Schon die Abgrenzung der Sphären von Rechtsprechung und Legislative mittels des Kriteriums der Rechtspolitik, welche – im Unterschied zur bloßen Rechtsanwendung – genuines Betätigungsfeld der Legislative sei, erscheint bei näherer Betrachtung fragwürdig. Mag es auch einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, gerade in Fragen der Verhältnisbestimmung zwischen Parlament und Bundesverfassungsgericht den eigenen „judicial self-restraint“ mit der eminent politischen Natur entsprechender Fragestellungen zu begründen399, so bildet diese Kategoriendifferenzierung (einerseits Recht als Anwendungsgegenstand der dritten Gewalt – andererseits politisch souveräne Entscheidung als Aufgabe der Gesetzgebung) die Problemstellung nicht treffend ab. Erstens ist festzustellen, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Bestimmung des politisch bedingten Spielraums der Gesetzgebung keineswegs konsequent verfährt, sondern einerseits in dezidiert politischen Fragen dem Gesetzgeber durchaus konkrete Vorgaben gemacht, andererseits auch in Fragen von erkennbar geringem politischem Bezug die Prärogative der Gesetzgebung sehr stark akzentuiert hat400. Zweitens liegt ihr eine einseitige Zuordnung der Legislative zur Politik zugrunde, die in dieser Form auf einer unangemessenen Verhältnisbestimmung der Systemreferenzen Politik und Recht beruht. Die Verhältnisbestimmung von Justiz und Politik kann aus mehreren Gründen nicht einseitig durch den Primat der Politik aufgelöst werden. Zum einen entspricht es der Dialektik dieses Verhältnisses, daß sowohl die „Juridifizierung der Politik“ als auch eine mögliche „Politisierung der Justiz“401 als ordnungsprinzipiell inadäquate Extreme auszuscheiden haben, was gleichzeitig eine einseitige Überantwortung aller Fallgruppen mit Überschneidungsgehalt zu beiden Systemreferenzen an den politischen Souverän verbietet. Zum anderen setzt die vermeintliche Präponderanz der Politik ein Legitimationsverständnis voraus, das die eigenständige Legitimationsgrundlage des Verfassungsge-

398 Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 418 f.: die Antwort auf die Kompetenzfrage sei „nie und nimmer im Wege der reinen Norminterpretation“ zu entnehmen. 399 Siedler (Fn. 388), S. 58. 400 Dazu Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 238 ff. m.w.N. 401 So die treffende Begrifflichkeit von Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 20; vgl. dazu auch Ossenbühl (Fn. 384), S. 37.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

richts aus der im Grundgesetz manifestierten „Logik des Verfassungsstaates“402 als gegenläufigen Faktor nicht angemessen anerkennt und das sich in der – insoweit verfehlten – Verhältnisbestimmung von Recht und Politik niederschlägt. Der parlamentarischen Gesetzgebung kommt durch die ihr zufallende Aufgabe, aus dem politischen Willensbildungsprozeß heraus Recht zu generieren, eine Schnittstellenfunktion zwischen zwei unterschiedlichen Systemen zu, die in ihrer doppelten Eigenschaft als Träger gesellschaftlicher und normativer Funktionen nur durch die Vermeidung einer vereinseitigenden Zuordnung angemessen auffaßbar ist. Luhmann verdankt sich die Einsicht, daß es sich bei Recht und Politik um unterschiedliche, gegeneinander verselbständigte („autonome“) Systemreferenzen handle, die aber „strukturell gekoppelt“ sind403. Eine politiklastige Vereinseitigung der gesetzgeberischen Prärogative annulliert die Funktion verfassungsrechtlicher Gebundenheit aller Hoheitsgewalt und erweist sich durch die fehlende prozedurale Gewährleistung der Ausrichtung des gesetzgeberischen Willens an materialer Allgemeinheit auch als für das Repräsentationsprinzip fragwürdig. Weder ist die dem Systembereich der Politik überantwortete Aufgabe der Realisation von Zweckprogrammen im Rechtsstaat aus der Unmittelbarkeit politischen Wollens heraus realisierbar, noch kann Gesetzgebung als unmittelbare rechtliche Manifestation von Politik begriffen werden. Beide Auffassungen führten zur „Entdifferenzierung“ von Recht und Politik und würden hierdurch das Eigengewicht der Aufgabe des Rechts verfehlen, mittels rechtsstaatlicher Instrumente wie dem Gesetzesvorbehalt maßstabsprägend auch gegenüber dem politischen Souverän zu wirken, ihn in der Realisation seines Willens an prozedurale wie an materielle Vorgaben zu binden und dadurch die Rationalitätspräsumtion seiner Willensbildung in der Vorgabe solcher Rahmenbedingungen zu stärken. Der Weg zur Realisation politischen Willens in rechtlicher Form führt über die verfassungsrechtlich fixierten Willensbildungsprozesse. Damit aber ordnet sich diese Realisation in die vorgefundene Verfassungsbalance auch im Hinblick auf Gewaltenteilung ein – bzw. unter, soweit nach Maßgabe des Verfassungsrechts die Dritte Gewalt zur Aufzeigung von Maßstäben auch gegenüber der Legislative berufen ist. Der Verfassungsstaat ordnet das Recht der Politik vor404. cc) Zwischenergebnis Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich keine Anhaltspunkte für eine zurückhaltende Beurteilung der Justitiabilität von 402

Ossenbühl (Fn. 384), S. 34.

403

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 407 ff., 440.

404

Vgl. Ossenbühl (Fn. 384), S. 34.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Kompetenzverteilungsprinzipien herleiten. Sofern der Aussagegehalt eines Rechtsprinzips auslegungsweise hinreichend bestimmbar erscheint, ist die Frage, mit welchem Bindungsgehalt das verfassungsauslegende Gericht den Gesetzgeber in der Wahrnehmung seiner Regelungsmacht auf das Vorliegen von autonom zu überprüfenden Voraussetzungen verpflichten darf, kein dem jeweiligen Rechtsprinzip selbst anhaftendes Problem, sondern die Frage einer externen Verhältnisbestimmung von Verfassungsorganen. Ein de lege ferenda gestärktes Subsidiaritätsprinzip ist deshalb ohne weiteres durch den EuGH überprüfbar, sofern nur entsprechende Vertragsrevisionen Kriterien zur Verbesserung der praktischen Handhabbarkeit des Subsidiaritätsprinzips schaffen.

3. Methoden der Herstellung eines subsidiaritätskonformen Kompetenzbalancegefüges: Zwischen Kompetenzkatalog, dual federalism und Stärkung der kompetenzrestringierenden Ausübungsregeln Die Auseinandersetzung um die anstehende kompetentielle Neustrukturierung der Europäischen Union hat verschiedene Kompetenzverteilungsvorschläge hervorgebracht; die Vielzahl der ersichtlichen Stellungnahmen legt eine Kategorisierung dieser Auffassungen nach dem verfolgten Kompetenzregelungsparadigma nahe. In der Diskussion um die subsidiaritätsfördernde Fortentwicklung des europäischen Kompetenzgefüges nimmt in gewisser Weise die Frage nach der Notwendigkeit einer Kodifikation eines Kompetenzkatalogs den Charakter eines experimentum crucis an. Allerdings ist die bloße Katalogisierung kein Selbstzweck. Vielmehr kommt es stärker darauf an, welche regelungstechnischen Erwartungen und welche Ausgestaltungsmodalitäten im einzelnen mit einem Kompetenzkatalog verbunden sind. Erforderlich ist hier zum einen die Einordnung, ob die Forderung mit einer Abkehr vom bisherigen Finalermächtigungsprogramm der Gemeinschaftskompetenzen verbunden ist oder nicht. Andererseits kann ein Kompetenzkatalog entweder nach dem Vorbild des amerikanischen dual federalism405 auf eine vollständige Enumeration zweier korrespondierender Teilkataloge ausgerichtet sein, oder aber – dem bundesrepublikanischen Konstruktionsvorbild folgend – eine enumerative Zuweisung in bezug auf eine Ebene und eine korrespondierende Generalklausel für die andere Ebene vorsehen. 405

Hierzu Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, 2000, S. 198; Scharpf, Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenenpolitik, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, S. 81; Hertel, Formen des Föderalismus. Das Beispiel der USA, Deutschlands und Europas, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 33.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Rechtswissenschaftliche Systematisierungen stellen oftmals materiellrechtliche Lösungsansätze, denen Kompetenzkataloge im weiten Sinne zugerechnet werden, prozeduralen Lösungsansätzen gegenüber, die in der Justitiabilisierung oder Präventivkontrolle des Subsidiaritätsprinzips oder anderer allgemeiner Kompetenzrestriktionsprinzipien bestehen406. Diese Polarität der bisherigen Diskussion vermag als Ausgangspunkt künftiger kompetentieller Strukturen nicht zu überzeugen. Maßgebend für eine tragfähige Kompetenzstruktur ist nicht, in wechen regelungstechnischen Einkleidungen sie sich vollieht, sondern, ob sie zur praktischen Realisation der aus rechtsprinzipiellen Gründen erstrebten konzeptionellen Balance in der Lage ist. Ein Kompetenzkatalog steht hierzu in keinem Verhältnis der Alternativität. Nur wenn die Katalogisierung ihrerseits einen Beitrag zur Effektivierung der praktischen Balancebestimmung einer bipolaren Ordnungsvorstellung leistet, markiert sie einen Fortschritt. Entscheidend ist danach das Vermögen eines Kompetenzkatalogs, Anwendung und Ausrichtung des Subsidiaritätsprinzips am Verhältnis von Staaten und supranationalem Verbund zu fördern. Kraft dieses instrumentellen Verhältnisses von Kompetenzkatalogen zur Prozeduralisierung von Balanceverhältnissen ist nach der vorliegenden Untersuchung eine integrierte Lösung von materiellrechtlicher und prozeduraler Betrachtung legitimationsprinzipiell vorzugswürdig.

a) Vier Hauptalternativen der Resystematisierung von Unionskompetenzen Eingedenk solcher Unterdifferenzierungen lassen sich ohne zu starke Verallgemeinerung407 vier unterschiedliche Kompetenzparadigmen typisieren, die 406

So Jennert, Die zukünftige Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, NVwZ 2003, S. 939; Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S.650 f.; Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 188; ähnlich Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 219: „Einzelzuständigkeiten“ oder „Kompetenzausübungsregeln“; vgl. auch Dok. KONV 40/02 zum Verlauf der Diskussionen in den Arbeitsgruppen des Konvents. 407 Die vorliegende Untersuchung zielt auf die Explikation allgemeiner legitimitätsvermittelter Strukturen und verzichtet deshalb auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit Optimierungsvorschläge, die detailbezogene Verbesserungen vorschlagen, ohne damit eine kompetentielle Systemvorstellung zu verbinden. Namentlich sind hier beispielsweise zu erwähnen: Die Reduktion des Art. 95 EG auf unmittelbar binnenmarktdienliche Maßnahmen (so Bundesrat, Entschließung vom 20.12.2001, A.III. 4.c.) oder die Differenzierung zwischen spezifischen und nichtspezifischen Zielen der Europäischen Union (so das EP, Entschließung vom 16.05.2002, Ziff. 9). Ausführlich zu detailbezogenen Modifikationsvorschlägen auch Jennert (Fn. 406), S. 938 ff.; Wuermeling,

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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alle von einem Kompetenzkatalog jeweils unterschiedlicher Gestalt ausgehen, wenn auch mit fließendem Übergang und erheblichen Überschneidungen. Erstens wird eine gänzliche Reformulierung eines Kompetenzkataloges gefordert, der mit einer Abkehr vom gemeinschaftsrechtstypischen Prinzip der Finalermächtigung einhergehen soll408. Eine solche Normierung eines – mehr oder weniger – abgeschlossenen Kompetenzkatalogs bundesstaatlichen Konstruktionsvorbilds ist eine namentlich von den deutschen Bundesländern ausgehende Forderung409. Allgemein verbindet sich mit der Forderung nach einem Übergang zu enumerativen Kompetenznormierungstechniken die Erwartung eines Gewinns an Transparenz, Justitiabilität und Bestimmtheit der Befugnisbalance410. Ein zweiter Vorschlag bezieht sich auf die Normierung von nationalen Residualkompetenzen, die dem gemeinschaftlichen Regelungszugriff gänzlich entzogen sein und damit ein extensives Ausgreifen auf solche nationalen Bereiche unterbinden sollen, in denen sich gemeinschaftliche Politik nicht notwendigerweise realisieren muß. Diese Konstruktionsalternative wird allgemein unter dem Begriff des „negativen Kompetenzkatalogs“ gefaßt411. Die dritte Konstruktionsoption besteht in einem dualen Kompetenzgefüge. Danach wäre das Subsidiaritätsprinzip von seiner derzeitigen Bedeutung als Kompetenzausübungsregel in den Rang eines Kompetenzverteilungsprinzips umzuwidmen, aus dem heraus ein Kriterienraster zur Evaluation und Neuordnung der Verteilung zwischen mitgliedstaatlichen und Gemeinschaftskompetenzen herauszuentwickeln sei und das in einen konkreten, subsidiaritätsinstruierten dualen Kompetenzkatalog einmündet412. Im einzelnen dürfte die AbgrenKalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 219. 408 In diese Richtung T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999; Clement, Europa gestalten – nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach Nizza, Rede an der Humboldt Universität Berlin v. 12. 02. 2001, www.whiberlin.de/clement.htm. 409 Vgl. dazu Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, 2000, S. 248; Teufel in Dok. CONV 23/03, 24/02; T. Fischer/Schley (Fn. 408), S. 74; Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1996, S. 25; BR-Drs. 667/95 vom 15. 11. 1995; Magiera, Zur Kompetenzneuordnung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, Integration 2002, S. 272. 410 T. Fischer/Schley (Fn. 408). Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8 ff. 411 Vgl. Herchenhan (Fn. 406), S. 652; Jennert (Fn. 406), S. 938 ff.; von Bogandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union. Rechtsdogmatischer Bestand und verfassungspolitische Reformperspektiven, EuGRZ 2001, S. 441 ff. 412 T. Fischer/Schley (Fn. 408), insb. S. 81 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

zung zur ersten Konstruktionsalternative schwierig sein; hauptsächliches Unterscheidungskriterium ist die Ausprägung zweier detaillierter Kataloge anstelle einer generalklauselartigen Gesamtzuständigkeit für etwaige Lücken, die mit der erstgenannten Auffassung verbunden sein dürfte. Die vierte Ordnungsvorstellung basiert auf der Typisierung von Kompetenzen und zielt damit auf eine eher evolutionäre Effektivierung und Restrukturierung bestehender Prinzipien ohne einen gänzlichen paradigmatischen Wechsel. Die Auseinandersetzung mit den genannten Vorschlägen zielt auf die Bestimmung von Differenzierungsnuancen innerhalb der Kompetenznormierungstechnik „Katalog“ und bedarf deshalb jeweils getrennter Auseinandersetzung mit dem als Kompetenzkatalogisierung referierten Konzept.

b) Kritik bloßer redaktioneller Reformen Ein Kompetenzkatalog, der lediglich darauf abzielte, bestehende Ermächtigungsnormen unter Beibehaltung der bisherigen Ermächtigungsmodalität in einem Verfassungsartikel zu bündeln, hätte in erster Linie redaktionellen Charakter, ohne eine substantielle Veränderung der Kompetenzstruktur zu bewirken. Hiermit mögen – zu einem gewissen Maße – Transparenzgewinne verbunden sein, wenngleich sich bezweifeln läßt, ob die bisherigen Gemeinschaftsverträge wirklich konzeptionell so intransparent sind, wie dies teilweise behauptet wird, und nicht Intransparenzen eher als das Resultat einer zu starken Differenzierung der Verfahren, Beteiligungsformen und Quoren innerhalb des jeweiligen Ermächtigungszusammenhangs darstellen. Um einen kompetenzmodifizierenden Vorschlag engeren Sinnes handelt es sich bei diesem redaktionell orientierten Vorgehen jedenfalls nicht.

c) Nachteile einer Preisgabe der unionstypischen Finalstruktur Die zweite Möglichkeit, bestehend in einer Modifikation des Systems zu einer Kompetenzordnung nach bundesdeutschem Vorbild, beinhaltete in gewissem Maß eine Abkehr von der bisherigen Regelungsstruktur. Aufgegeben würde hiernach die auf politische Zielverwirklichung bezogene Ermächtigung; beibehalten würde das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die zugunsten der Mitgliedstaaten streitende Zweifelsregelung in nicht ausdrücklich normierten Kompetenzbereichen. Bereits der auf einen starren, aufgabenbezogenen Katalog nach deutschem föderalem Vorbild bezogene Restrukturierungsaspekt wäre jedoch eine erhebliche paradigmatische Veränderung, die Bedenken ausgesetzt ist.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Das bisherige Kompetenzzuweisungssystem ist trotz seiner divergenten, nämlich finalen Querschnittsstruktur413 regelungstechnisch differenziert und in seiner Grundkonzeption effektiv414. Mit der Typisierung von Kompetenzen in sachgebietsbezogener statt querschnittsartig-finaler Form geht nicht per se ein Zugewinn an kompetentieller Klarheit und Beschränkung einher. Die Ausweitungstendenzen der Europäischen Union, die Anlaß zur Kritik gegeben haben, sind nicht supranationalitätstypisch, sondern können als Zentralisierungserscheinung auch in bundesstaatlichen Ordnungen wie der Bundesrepublik beobachtet werden415. Die katalogartige Explikation von Kompetenzen ist weder schon als solche ein Vorteil noch geht von ihr notwendig eine schärfere Kompetenzabgrenzung aus. Die Finaltypisierung ist charakteristisch und prinzipienangemessen für den Zweck und Verwirklichungsgehalt der Europäischen Union. Das Konstruktionsparadigma einer die Staaten in ihrem fortbestehenden Selbstbestimmungsprimat ergänzenden Komplementärordnung ist von bundesstaatlichen Vergleichskonstellationen in einem Punkt erheblich unterschieden. Charakteristisch hierfür erscheint der mit dem Projekt der europäischen Integration verbundene Ansatz, bestimmte gemeinsame, den nationalen Betrachtungswinkeln jeweils übergeordnete Regelungsgesichtspunkte unabhängig von ihren Auswirkungen auf die entgegenstehenden nationalen Regelungen zur Geltung zu bringen. Anders als im föderalen Nebeneinander staatlicher Hoheitsebenen, die kompetentiell weitgehend parallel ausgestaltet sind, ist der querschnittsartige Regelungszugriff des Gemeinschaftsrechts ein Spezifikum der integrativen Perspektive; die gemeinschaftsrechtliche Integration zielt nach ihrer Rechtfertigung aus der Selbsterweiterungsdimension der sich in ihr koordinativ zusammenschließenden Staaten für die Erschließung eines bestimmten Regelungszugriffs auf die Verwirklichung einer finalen Regelungsperspektive. Diese Finalität impliziert keine extensive Kompetenzform; sie hat vielmehr in der Beschränkung auf die Zweckverwirklichungskompetenz auch eine dezidiert partikulare, autoreduktive Seite, verzichtet nämlich auf die normative Determination von bestimmten Rechtsgebieten insgesamt und beschränkt sich demgegenüber auf die aspektorientierte Einziehung von perspektivisch differenten 413

s.o., Kap. 5, II. 1. a).

414

So auch Magiera, Zur Kompetenzneuordnung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, Integration 2002, S. 274: geringere Leistungsfähigkeit des Finalkonzepts zweifelhaft; Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866: sogar leistungsfähiger; ebenso wohl Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 583. 415 Dazu Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 10 f., 253 ff.; ebenso wie hier auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 191 m.w.N.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Gemeinschaftsstandards in unterschiedliche betroffene Staatsrechtsbereiche. Das europäische Gemeinschaftsrecht wäre auf der Grundlage eines starren bundesstaatlichen Kompetenzkatalogs in bestimmten Bereichen kaum realisierbar; zentrale Bestandteile der Kompetenz wie die Verwirklichung des freien Binnenmarktes und der Abbau von Schranken für die Grundfreiheiten sind nicht sinnvoll sachgebietsbezogen katalogisierbar, weil der genuine Anspruch der Binnenmarktverwirklichung die Vorfindlichkeit einzelner nationaler Regelungen, in bezug auf die er deregulierend oder harmonisierend wirken kann, konstruktionslogisch impliziert und seiner Zielsetzung nach darauf ausgelegt ist, diese vorfindlichen mitgliedstaatlichen Normen gleichzubehandeln und ggf. zu derogieren, soweit die gemeinschaftliche Regelung dies erlaubt und erfordert. Für die Auswechslung dieses Ermächtigungsmechanismus spricht auch kein aus der Notwendigkeit einer bipolaren, symmetrischen Kompetenzkonzeption herleitbares Bedürfnis: Rechtsprinzipiell geboten ist es lediglich, die Finalperspektive des komplementären Regelungszugriffs gegen eine aus der Integrationsdynamik erwachsende Verselbständigung zu imprägnieren. Die Reformulierung der Verbandskompetenzen muß damit ihren entscheidenden Schwerpunkt in der Effektivierung der allgemeinen, sektoral übergreifend kompetenzrestringierenden Prinzipien finden; sachgebietsbezogene Reformulierungen des Katalogs sind nur dort sinnvoll, wo sie hierauf instrumentell bezogen sind.

d) Nachteile eines dualen Kompetenzsystems Wird die Forderung nach einer Kompetenzkodifikation mit der Herausprägung eines dualen Kompetenzgefüges eingelöst, so orientiert dies die Europäische Union am Kompetenzparadigma nach dem Vorbild des amerikanischen dual federalism416. Kennzeichnend hierfür ist ein „doppelter“ Kompetenzkatalog, der beiden Kompetenzebenen enumerativ Zuständigkeiten zuweist und dadurch idealtypisch die Bildung von Lücken oder Zweifelsfällen ausschließen soll. Der Versuch einer dualen Kompetenzordnungskonzeption stellt sicherlich einen der ambitioniertesten und aufwendigsten Restrukturierungsvorschläge dar und kann für sich zumindest beanspruchen, zumindest zu einer rechtstheoretischen Klärung der Kompetenzstrukturen nicht unerheblich beigetragen zu haben417. Gegen eine solche Konstruktionsoption sprechen jedoch gleichwohl mehrere recht verschiedene Argumente. Im Interesse einer Konzentration auf 416 417

So vertreten von T. Fischer/Schley (Fn. 408), S. 18 ff.

So auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 452 unter Bezugnahme auf T. Fischer/Schley (Fn. 408).

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

559

die genuin gemeinschaftsrechtlichen Fortentwicklungsspezifika kann hier auf die Rekapitulation der allgemeinen föderalismustheoretischen bzw. rechtsvergleichenden Argumente418 verzichtet und statt dessen das besondere Augenmerk auf spezifische Probleme gelegt werden. Generell läßt sich feststellen – ohne daß hiermit bereits eine Aussage über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit einer solchen Konstruktionsoption verbunden wäre –, daß eine duale Kompetenzstruktur dem finalen Charakter der Komplementärordnung in verschiedener Hinsicht zuwiderläuft. Sie widerstreitet einmal einer bisherigen europäischen Kompetenzstruktur querschnittsartiger Verdrängung staatsrechtlicher Normen. Das duale Kompetenzschema widerspricht mit seinen Symmetrieimplikationen auch den geltungslogischen und konstruktionsbezogenen Erwägungen, denen zufolge die Europäische Union wesentlich als abgeleitetes Resultat staatsradizierter Vergemeinschaftungsstrategie zu begreifen ist. Mit der Nichtstaatlichkeit und der komplementären Bezogenheit der Europäischen Union auf die Mitgliedstaaten wäre es nur schwer in Übereinstimmung zu bringen, Gemeinschafts- und Mitgliedstaatskompetenzen als symmetrische Bestandteile einer Gesamtordnung zu katalogisieren, da dies weder dem Selbstverständnis der Europäischen Union als subsidiärer Ordnung noch ihrem konstruktionslogischen Hervorgehen aus den Mitgliedstaaten entspräche. Es ist nicht erforderlich, den querschnittsartige Übergriff der Union in alle hiervon betroffenen Regelungsgegenstände nationalen Rechts zu verhindern oder für die Zukunft auszuschließen. Es muß lediglich sichergestellt sein, daß die Wahrnehmung dieser Kompetenzen eine zur legislativen Zielerreichung erforderliche (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) und dem Kriterium der Subsidiarität genügende Gestaltung verkörpert.

e) Folgerungen Will man der bisherigen Finalorientierung der Gemeinschaft in der Restrukturierung Rechnung tragen, so legt dies für die zu verwendende Kompetenznormierungstechnik einen Fortbestand bisheriger Typisierung ohne Abkehr vom bisherigen Paradigma nahe. Dieser Konstruktionsvorschlag ist mit verschiedenen Vorteilen verbunden. Bestehende Kompetenzen bleiben in ihrer bisherigen Form erhalten; das Leistungsprofil der Europäischen Union, das mit der eigentümlichen finalen Ausrichtung der Gemeinschaftskompetenzen verbunden ist und sich im Grundsatz bewährt hat, würde nicht überformt; schema418 Kritisiert worden ist namentlich, daß das System des dual federalism zu keiner zweifelsfreieren Abgrenzung führt als etwa das bundesdeutsche und insbesondere ebenfalls ohne entsprechende Zweifelsregeln in der Praxis nicht auskommt.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tische Lösungen würden vermieden. Gleichzeitig erweist sich diese Form der Neustrukturierung als ein nicht unerheblicher Beitrag zur konstitutionalisierten Vergewisserung über Grund und Grenzen der für die europäische Integration erforderlichen Kompetenzabstufungen und erleichtert insofern mittelbar auch die Verwirklichung der auf diese „reflektierte“ Kompetenzordnung zu beziehenden Kompetenzrestriktionsprinzipien wie Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sie erweist sich dementsprechend als Grundlage eines Kompetenzverständnisses, dessen Kompetenzbegriffe insgesamt auf das Prinzip der komplementären Ordnung bezogen sind, und verstärken darin die Einsicht, Kompetenztypisierungen akzessorisch zum Zweck der Komplementärorientierung aufzufassen. Dieser Ansatz läuft darauf hinaus, das gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgefüge primär durch sog. Kompetenzausübungsregeln zu restringieren, und die Typisierung und Katalogisierung von Kompetenzen als eine hierauf bezogene, der praktischen Handhabbarkeit der Kompetenzausübungsregeln dienende und untergeordnete Prästrukturierungsleistung zu begreifen, ohne daß die Typisierung als solche schon den Anspruch erheben könnte, ganzheitlich konfliktlösend in bezug auf die Mehrebenenordnung zu wirken.

4. Resystematisierung des sekundärrechtlichen Handlungsformspektrums als Grundlage einer Optimierung des Wirkungsfeldes des Subsidiaritätsprinzips Der Konventsprozeß des Jahres 2003 hat eine Diskussion angestoßen, die verschiedene, auch auf die Erneuerung des Handlungsformsystems der Europäischen Union bezogene Reformvorschläge hervorgebracht haben, die hier im einzelnen nicht alle diskutiert werden können419. Gleichwohl erscheint es zweckmäßig, einige Hauptelemente aufzugreifen und darauf zu untersuchen, ob ihre Verwirklichung einen Beitrag zu einer verbesserten Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips leisten kann. Ansätze für eine klarere Fassung des Subsidiaritätsprinzips, die seinen praktischen Anteil an der Strukturierung des Mehrebenengefüges erhöhen, müssen demnach von der Notwendigkeit ausgehen, die Prozeduralisierbarkeit zu verbessern. Das kann auf zwei verschiedene Arten geschehen. Einerseits, indem die Handhabung des Subsidiaritätsprinzips selbst, die für seine Einhaltung zu beachtenden Kriterien typisiert werden, so daß die hierauf bezogene Rechtsan419 Christlich-demokratische Vorstellungen reflektiert etwa Scholz, EVP-Diskussionsentwurf zur „Verfassung der Europäischen Union“ vom 29.08.2002, ZG Sonderheft 2002.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

561

wendung berechenbarer und besser einschätzbar wird. Mit diesem Kriterium wird sozusagen die prinzipienimmanente Konkretisierung verbessert und gestärkt. Modellbild hierfür ist eine verstärkt konkretisierte Legaldefinition des Subsidiaritätsprinzips oder seine Prozeduralisierung nach Art einer konkreten Checkliste, anhand derer die Voraussetzungen für die regelsetzende Inanspruchnahme von Gemeinschaftslegislativkompetenzen abzugleichen wäre. Andererseits kann aber auch der Bezugsgegenstand des Subsidiaritätsprinzips, sozusagen sein externes Bezugsfeld, verbessert werden. Diese zweite Alternative wirft die Frage nach Möglichkeiten der Typisierung von Kompetenzkategorien auf, die die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips hierauf erleichtern.

a) Systematische Differenzierung von Verordnung und Richtlinie als subsidiaritätsfördernder Ansatz Zunächst sind Ansätze zu einer Instrumentalisierung des zwischen Verordnung und Richtlinie angelegten Differenzierungspotentials für das Subsidiaritätsprinzip zu erwägen. Die Erstreckung der Subsidiaritätsprüfung auf die Frage, ob die geringstmögliche Determination des verbleibenden mitgliedstaatlichen Regelungsspielraums gewählt worden ist, könnte seine praktische Bedeutung erheblich effektivieren. Dies setzt allerdings eine vorangehende legislative Definition der mit dem Begriff der Richtlinie verbundenen Regelungsdichte voraus; es ermöglicht jedoch unter dieser Voraussetzung eine Restriktion der verfolgten Gemeinschaftsziele auf die zu ihrer Erreichung erforderlichen legislativen Bindungen. Hierin manifestiert sich ein Kernanliegen des Komplementärprinzips, bestehend in der Rückbindung der der europäischen Integration zugrunde liegenden staatlichen Selbsterweiterung auf die mit ihr unabdingbar einhergehende Beeinträchtigung mitgliedstaatlicher Handlungsfreiheit. aa) Richtlinie und Verordnung als sekundärrechtliche Hauptformen sind in Art. 249 Abs. 2 und 3 EG legaldefiniert; beide eint der mit der Rechtsetzungsfunktion einhergehende generell-abstrakte Charakter420 und ihre Verbindlichkeit in Abgrenzung zu Stellungnahmen und Empfehlungen421; als solche nehmen die beiden Handlungsformen am gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang teil. Nach der gegenwärtigen Konzeption erfolgt die legislative Auswahl beider Handlungsformen in Abhängigkeit vom jeweils verfolgten Recht420

Vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 66; Schwarze, Funktionen des Recht in der Europäischen Gemeinschaft, in: Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft, 1985, S. 16 f. 421

Dazu nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 574.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

setzungszweck422. Die bisherige Rechtsetzungspraxis nach Maßgabe der primärrechtlichen Vorgaben entbehrt aber bislang einer Konzeption der unterschiedlichen legislativen Qualität von Richtlinie und Verordnung und einer Funktionalisierbarkeit dieser Unterschiedlichkeit für das komplementärverwirklichende Prinzip der Subsidiarität. Die rechtswissenschaftlich Beurteilung der Rechtsetzungspraxis hinsichtlich der Handlungsformauswahl ist uneinheitlich. Teilweise wird konstatiert, daß die Organe zu einer generellen Bevorzugung der Verordnung neigten423, anderenteils wird hervorgehoben, daß die Gemeinschaftsorgane gehalten sind, die weniger weitgehende Maßnahme zu ergreifen424. Uneinig wird auch die Auslegung des richtlinientypischen Tatbestandsmerkmals der Zielverbindlichkeit interpretiert425. Die Ursachen für vorhandene organisatorische Unzulänglichkeiten sind vielfältig. Die große Mehrzahl der legislativen Kompetenztitel im EG-Vertrag426 ermächtigt die zuständigen Organen pauschal zu „Maßnahmen“ und eröffnet damit legislatives Ermessen in der Wahl der geeigneten Handlungsform, ohne daß dieses Ermessen prinzipiell und systematisch beschränkt wäre. Die Ermächtigung zu „Maßnahmen“ differenziert weder zwischen verbindlichen und unverbindlichen Handlungsformen, noch unterscheidet sie zwischen einzelfallbezogener und generell-abstrakter Maßnahme. Insbesondere existiert auch keine primärrechtsimmanente, auf die Alternativität von Verordnung und Richtlinie bezogene Relationsnorm mit Vorgaben, an welchen Gesichtspunkten die Ausübung legislativen Auswahlermessens in der Wahl zwischen Richtlinie und Verordnung auszurichten wäre. Die Legaldefinition der Richtlinie enthält zudem auch keine konzeptionelle Typisierung der Regelungsdichte, die richtlinienförmige Rechtsakte aufweisen müssen. Infolgedessen haben die Gemeinschaftsrechtsorgane teilweise auch diese Handlungsform für legislative Gestaltungen mit außerordentlicher Verdichtung der Regelungsdichte instrumentalisiert, so daß sich für die sog. „perfektionierte Richtlinie“ ein eigenständiger 422

Magiera, Die Rechtsakte der EG-Organe, Jura 1989, S. 595 ff. Oppermann (Fn. 421), Rdnr. 548. 424 Vgl. Art. 6 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag; dazu auch M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, S. 2871 ff.; H. Timmermann (Hrsg.), Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, 1998. 425 H. P. Ipsen, FS Ophüls, S. 67 ff. deutet die primärrechtlich in Art. 249 Abs. 3 EG niedergelegte Zielverbindlichkeit der Richtlinie als Ergebnisverbindlichkeit. 426 Nur in wenigen Fällen engt die Ermächtigung ausdrücklich das legislative Ermessen auf die „zweckdienlichen Verordnungen und Richtlinien“ (Art. 83 EG), auf die „zweckdienlichen Durchführungenverordnungen“ (Art. 89 EG) oder auf den Erlaß von „Richtlinien“ (vgl. etwa Art. 44, 46 Abs. 2, 47 EG) hin ein. 423

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

563

Terminus ausgebildet hat427. Eine dem Art. 75 GG vergleichbare, die Regelungsdichte generell-abstrakt limitierende Gemeinschaftsrechtsnorm existiert gegenwärtig nicht. Vorgaben, mit denen die Rechtsetzungsauswahl zwischen Richtlinie und Verordnung gebunden würde, beschränken sich auf wenige, inhaltlich reduzierte und zudem ihrem normhierarchischen Status nach unterprimärrechtliche bzw. protokollförmige Normierungen. So ist im Erwägungsgrund Nr. 3 der Interinstitutionellen Vereinbarung zur redaktionellen Qualität von Rechtsakten vom 22. Dezember 1998 vorgesehen: „Bei der Abfassung der Akte wird berücksichtigt, auf welche Personen sie Anwendung finden sollen, um diesen die eindeutige Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten zu ermöglichen, und von wem sie durchgeführt werden sollen.“428. Dieser Grundsatz findet sich aufgegriffen in Nr. 6 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag, der im übrigen hinzufügt, daß „unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung und eine Rahmenrichtlinie einer detaillierteren Maßnahme vorzuziehen“ sei. Damit ist einerseits der kategoriale Bezug zwischen dem Aufgreifen der in den Verträgen angelegten Handlungsformdifferenzierungen und dem Subsidiaritätsprinzip zumindest als Ansatz hergestellt, andererseits die Problematik thematisiert, daß die Richtlinie ihrerseits einen eher vagen Gattungsbegriff zur Zusammenfassung recht unterschiedlicher legislativer Maßnahmen darstellt und diese Binnendifferenzierung für eine systemorientierte Gesamtbetrachtung mitbedacht sein muß. Bewertet man die Leistung des Subsidiaritätsprotokolls nach ihrem Beitrag zur Verbesserung der praktischen Handhabbarkeit des Subsidiaritätsprinzips, erschöpft sie sich im wesentlichen in der Problematisierung des Restrukturierungsziels, gibt aber keine Konkretisierungskriterien an die Hand. Mit diesem defizitären Status der legislativen Verhältnisgestaltung von Richtlinie und Verordnung liegt eine der vielversprechendsten und für die Praktikabilisierung des Subsidiaritätsprinzips substanzreichsten Differenzierungsmöglichkeiten in den bereits vorhandenen Handlungsformstrukturen weitgehend brach. Ein auf die Überwindung dieses Defizits gerichteter kompetentieller Restrukturierungsansatz müßte demgegenüber die rechtskategoriale Grundlage der Differenzierung bestimmen (aa)) und in eine Vorbehaltsregel umsetzen, die das legislative Auswahlermessen der normsetzungsbefaßten Organe subsidiaritätsbezogen reduziert und lenkt (bb)). Anders als eine den 427 428

Vgl. nur Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 551.

Interinstitutionelle Vereinbarung vom 22. Dezember 1998 über gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, ABl. Nr. C 73 vom 17.3.1999, aufbauend auf Erklärung Nr. 39 zur redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zur Schlußakte zum Vertrag von Amsterdam.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

kategorialen Gehalten der Wesentlichkeitstheorie Rechnung tragende Vorbehaltsregel handelt es sich dabei um eine föderale Handlungsformdifferenzierung, die nicht dem horizontalen, sondern dem vertikalen Kompetenzproblem Rechnung zu tragen bestimmt ist429. Blendet man die hier für vorschnell gehaltenen Analogien zu bundesstaatlich abgestuften Regelungsinstrumentarien ab und bemüht sich statt dessen um eine originär gemeinschaftsrechtliche Charakterisierung, so erscheint die Richtlinie als „zweistufiger Rechtsakt“430 bzw. – genauer – als Rechtsakt erster Stufe innerhalb eines von der Richtlinie determinierten zweistufigen Legislativprogramms: Die Richtlinie gibt als supranationales Regelungsinstrument die Zielsetzung vor, setzt die Ausfüllung und Umsetzung durch einen nationalen Rechtsakt aber voraus431. Der Normalfall richtlinienbasierter Regelsetzung ist gekennzeichnet durch das Hindurchwirken des richtlinienförmig verbindlich artikulierten Gemeinschaftsziels unter Anerkennung des unmittelbaren Gestaltungsprimats der Mitgliedstaaten. Auch wenn dieser im Einzelfall – gerade beim Erlaß sog. „perfektionierter Richtlinien“432 – auf ein Minimum reduziert sein kann, ist die von der Richtlinie ausgehende innerstaatliche Gestaltungswirkung durch die eigenständige Geltung des richtlinienvollziehenden mitgliedstaatlichen Rechts mediatisiert. Die Konzeption der Richtlinie als Teildetermination fortbestehender nationaler Rechtsetzungskompetenz im Hinblick auf Legislativziele qualifiziert diese – im Unterschied zur Verordnung – als ein Instrument der Harmonisierung433: Anders als der mit einem unmittelbar die innerstaatliche Rechtswirklichkeit gestaltenden und durchbestimmenden, verordnungsförmigen Regelungsregime 429 Die Parallele zum föderativen Differenzierungsinstrumentarium der Rahmengesetze ist gleichwohl begrenzt, vgl. dazu Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung in föderativen Systemen im Vergleich, 1997, S. 39; zum Problemkreis der Rahmengesetzgebung insgesamt auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 423. 430 Allgemeine Auffassung, vgl. Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 555; Rambow, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, Rs. 25/70, DVBl. 1971, S. 44 ff., 355 ff.; Schwarze, EU-Kommentar, Art. 249 EG, Rdnr. 23; EuGH Rs. C-298/89, Slg. 1993, S. I-3605, Rdnr. 16; Rs. C-10/95, Slg. 1995, S. I-4149, Rdnr. 29 – Asocarne. 431 Die gesamte Entwicklung einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie, vgl. dazu insbesondere EuGH, ist demgegenüber ein wesentlich durch den effet-utileGedanken geprägter Ansatz des geltungslogischen Auffangens einer ungenügenden Gemeinschaftstreue in der Umsetzung des zweistufigen Normverwirklichungsprogramms und demnach – als Manifestation von Vollzugsdefiziten – nicht der Normalfall, von dem die handlungsformprinzipielle Verhältnisbestimmung von Verordnung und Richtlinie ihren Ausgang nehmen muß. 432 Vgl. oben, Fn. 1324. 433 Schwarze, EU-Kommentar, Art. 249 EG, Rdnr. 27.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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einhergehende zentralistische Regelsetzungsanspruch hat das Überlassen partieller Ausgestaltungsverantwortung auf einzelstaatlicher Ebene einen genuin föderativen zentripetalen Charakter und stärkt damit ihrer Konstruktionslogik nach die dem Komplementärstatus gemäße Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten. Der praktische Vorzug hiervon – auch wenn dies mit der Inanspruchnahme der staatlichen Legislativressourcen als Implementationsinstitution einhergeht434 – besteht im Verbleiben handlungsformbezogener Auswahlmöglichkeit innerhalb der von der Richtlinie gelassener Regelungslücken zur eigenständigen nationalen Gestaltung: Die Mitgliedstaaten können den Richtlinienvollzug eigenverantwortlich dem nationalen Rechtsregime einpassen. (2) Wenn der Nachvollzug des legislativen Auswahlermessens zwischen Verordnung und Richtlinie justitiabilisiert werden soll, müssen die den Gesetzgeber leitenden Zielvorstellungen im ansonsten weitgehend „unsichtbaren“ Auswahlprozeß und die hierauf gegründete Auswahlentscheidung greifbar gemacht werden: Es muß gegenüber einer nachvollziehenden judikativen Beurteilung erkennbar sein, ob das verfolgte Regelungsziel eine kompetentielle Verankerung in den einschlägigen Gemeinschaftspolitiken findet und ob die legislative Vorstellung der Handlungsformadäquanz von Verordnung oder Richtlinie eine zutreffende Verhältniswürdigung beider Handlungsformen für die gegebene Regelungssituation erkennen läßt. Methodisch handelt es sich bei dieser Konstruktionsoption um eine Konzeption, die mit der deutschen, unter dem Stichwort des Maßnahmegesetzes geführten Verfassungsdiskussion um legislative Selbstbindung eng verbunden ist435. Ihr gewichtigster Vorteil liegt darin, das gesetzgeberische Ermessen zu beschränken, ohne die Beschränkung mit der Einmischung der Rechtsprechung in legislative Grundentscheidungen und damit Ansätzen einer Politisierung der Judikative zu erkaufen. Ihr Konstruktionsprinzip ist das der legislativen Selbstbindung. Die von der Judikative angewandten, ermessensleitenden Maßstäbe sind weitgehend solche der legislativen Selbstkonzeption der Gemeinschaftsrechtsorgane, wie diese in den Erwägungsgründen Ausdruck gefunden haben. 434 Teilweise wird hierin ein Argument gesehen, um den souveränitätsschonenderen Charakter der Richtlinie gegenüber der Verordnung in Frage zu stellen. 435 Zum deutschen Maßnahmegesetz vgl. Konrad Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz – eine Studie zum rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, 1963; eine allgemeine dogmatische Auseinandersetzung mit dieser Thematik liefert Zeidler, Maßnahmegesetz und „klassisches“ Gesetz, 1961, S. 77 ff.; vgl. auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 141, der Institutionenbezug und konkreten Zweckbezug einander entgegensetzt, sowie zur Problematik des Einzefallbezugs und der konstitutiven Bedeutung des generellen Charakters von Gesetzen auch Schneider, Über Einzelfallgesetze, FS Schmitt 1959, S.159, 160; gänzlich indifferent gegenüber diesen Unterscheidungen demgegenüber Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, § 37 I 4 d, S. 577.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Eine hierauf gegründete Verbesserung des Subsidiaritätsprofils kann sich zum Teil auf bereits de lege lata vorhandene Formkennzeichen gemeinschaftlicher Rechtsetzung beziehen und als deren Fortentwicklung begreifen: Die mit den Sekundärrechtsakten verfolgten Zielvorstellungen sind bereits gegenwärtig in den Erwägungsgründen regelmäßig detailliert und nachvollziehbar ausgedrückt; anhand dessen läßt sich bereits nach gegenwärtiger Rechtslage in der Regel recht präzise nachvollziehen, zu welchem Regelungszweck der legislative Verwirklichungsprozeß von den einschlägigen Kompetenznormen Gebrauch macht. Die Nutzung der sekundärrechtstypischen Erwägungsgründe für eine Justitiabilisierung hätte deshalb den Vorteil, typische gemeinschaftsrechtliche Spezifika geltenden Rechts aufzugreifen und in eine evolutionäre Fortentwicklung einzubeziehen. Eine obligatorische Hinzunahme von subsidiaritätsbezogenen Erwägungsgründen in die Präambel des jeweiligen Rechtsaktes würde die Nachprüfbarkeit erleichtern, ob die legislative Umsetzung dem selbstgesetzten Anspruch und der mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundenen objektiven Ordnungsvorstellung gerecht wird. Diese Erweiterung dürfte vom legislativen Zusatzaufwand gering und damit auch unter Effektivitätsgesichtspunkten hinnehmbar erscheinen, wenn man berücksichtigt, daß die dem Sekundärrecht eigentümliche Strukturbesonderheit eines vorangestellten nichtverfügenden Teils hiermit aufgegriffen und lediglich subsidiaritätsbezogen verfeinert wird. Diese Modifikation wäre zugleich ein nicht unerheblicher Transparenzbeitrag gegenüber der europäischen Öffentlichkeit und allen übrigen Rechtsetzungsakteuren, denen ein gestärktes Subsidiaritätskonzept mittelbar zugute käme436. Der potentiellen Justitiabilität der Subsidiaritätserwägungen wäre damit zugleich ein Mechanismus legislativer Selbstvergewisserung und geleiteter Selbstkontrolle vorgeschaltet, der als solcher bereits nicht unerhebliche Praktikabilitätsgewinne für das Subsidiaritätsprinzip mit sich bringen dürfte. Auch der mit dieser legislativen Selbstreflexion als solcher einhergehende Zusatzaufwand wäre mutmaßlich nicht zu hoch, da dem Gemeinschaftsgesetzgeber lediglich aufgegeben wäre, die Notwendigkeit direkter Gestaltung innerstaatlichen Rechts der Möglichkeit einer Beschränkung auf harmonisierende Mindeststandards abwägend gegenüberzusetzen.

436 Namentlich sind dies – trotz der oben dargestellten kritischen Beurteilung eines regionalismusbezogen interpretierten Subsidiaritätskonzepts – die deutschen Bundesländer.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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b) Typisierung von Kompetenzen als subsidiaritätsverstärkender Ansatz? Im Kompetenzgefüge der Gemeinschaftsrechtsordnung sind finale, sektoral gegliederte Kompetenzzuweisungen und allgemeine kompetenzrestringierende Grundprinzipien wie das Subsidiaritätsprinzip Teilelemente eines damit als zweistufig gekennzeichneten Kompetenznormierungssystems437. Die praktische Verwirklichungsfähigkeit des Subsidiaritätsprinzips als kompetenzrestringierendes Prinzip kann davon profitieren, wenn die jeweiligen Ermächtigungsnormen der Gemeinschaftspolitiken ihrerseits bereits eine Aussage darüber treffen, wie der Umfang der Gemeinschaftskompetenzen im Verhältnis zum Staatsrecht konzipiert ist. Einerseits kann die an den Sachgegenständen oder Politiken orientierte Typisierung als solche schon eine bestimmte, subsidiaritätsentsprechende Bedeutung reflektieren und insofern Ausdruck einer bestimmten Auffassung von der Integrationsidee mit einem spezifischen politischen, gegenüber der Staatsebene restringierten Aufgabenprofil sein. Eine entsprechende Diskussionsanregung findet sich etwa bei Maihofer, der eine Typisierung der europäischen Kompetenzbereiche auf einer Skala differenzierter Souveränitätssensibilität vorschlägt438. Danach sind – bereits nach geltender Rechtslage – die wirtschaftspolitischen Kompetenzgebiete am ehesten ein Gegenstand ausschließlicher Unionskompetenz, während Maihofer auf der anderen Seite Fragen der Ausbildung, Kultuswesen und Gesundheit am ehesten der nationalen domaine réservé zurechnen will439. Die Zuordnung bleibt im einzelnen sicherlich wesentlich der Prärogative der Herren der Verträge vorbehalten; als Grundprinzip könnte dieses Konzept einer primärrechtlichen Klassifizierung von Kompetenzfeldern nach ihrem Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht jedoch eine nicht unerhebliche Ergänzung des oben unter b) vorgeschlagenen Ansatzes einer Justitiabilisierung der gesetzgeberischen Selbstreflexion darstellen. Diese Klassifizierung könnte namentlich in einer Explikation der rechtswissenschaftlich schon jetzt vorhandenen Systematisierungsansätze durch die Einteilung vorhandener Kompetenzen in ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen bestehen. Eine solche Kompetenztypisierung ist nicht kongruent mit der Aufstellung eines Kompetenzkatalogs engeren Sinnes nach bundesstaatlichem Vorbild, der oben als inadäquater Umgang mit den Konstruktionsspezifika des Gemeinschaftsrechts abgelehnt worden ist. Sie zielt auf Kategorisierung und Systema437

s.o., Kap. 5, II. 2. a).

438

Maihofer, Föderativverfassung und Kompetenzverteilung einer Europäischen Union, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union: Materialien zur Revision des Maastrichter Vertrages 1996, 1995, S. 61 ff. 439

Maihofer (Fn. 438), S. 67.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tisierung, erfordert aber jedenfalls keine starre, dualistische Kompetenzenumeration, bei der die beiden Ebenen jeweils einen numerus clausus an sachgebietsbezogenen Kompetenzen zugewiesen bekämen. Die Nachteile eines solchen Systems – auch in bezug auf die praktische Handhabbarkeit – sind bereits oben440 umrissen und im übrigen auch an anderer Stelle umfassend beschrieben worden. Hinzu kommt, daß die hier geforderte, subsidiaritätsunterstützende Kompetenztypisierung in Abgrenzung zu Kompetenzkatalogen in erster Linie als kodifizierte Reflexion des institutionellen Selbstverständnisses der supranationalen Ebene dient und erst hierdurch vermittelt eine bipolare, nämlich der Symmetrie der Regelsetzungsansprüche beider Legislativebenen dienliche Komponente erweist: Die gegenwärtigen Politikkompetenzen lassen sich nach der Intensität des beanspruchten supranationalen Regelungsregimes differenzieren. Den Endpunkt auf einer Skala gleitender Abstufung gemeinschaftlicher Regelungsdichte markieren etwa die zum Kernbereich der Integration zählenden Ausgestaltungsansprüche der Handelspolitik, der allgemeinen Binnenmarktverwirklichung und ihrer besonderen Ausprägung in den Grundfreiheiten, aber auch solche Gegenstände, bezogen auf die – wie im Agrarsektor – die planwirtschaftliche Zentralisierung mit einer weitgehend gemeinschaftsausschließlichen Rechtsetzung einhergegangen ist. Dazwischen befindet sich eine ganze Reihe höchst unterschiedlicher Zwischenformen, innerhalb derer die genaue Zuordnung im einzelnen noch bestimmungsbedürftig sein kann. Modellhaft könnte eine hieraus folgende – sehr allgemeine und im einzelnen der Ausgestaltungsprärogative des europäischen Verfassunggebers vorbehaltene – Kompetenzverteilungsskizze etwa folgende Konturen haben. Bestimmte Kompetenzbereiche stehen der Europäischen Union als ausschließliche Kompetenzen zu; der mitgliedstaatliche Regelungszugriff ist hier im Grundsatz ausgeschlossen. Aus der Finalstruktur der Kompetenzen und ihrem resultierenden Querschnittscharakter folgt, daß auch mit dem Typus der ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz keine vollkommene Determination des jeweils betroffenen Rechtsgebiets verbunden ist. Dort, wo die Union ausschließlich regelungsbefugt ist – etwa in der gemeinsamen Handelspolitik – ergibt sich der Regelungsstandard für das Ziel der Gemeinschaftspolitik ausschließlich aus den Rechtsakten der Europäischen Union, ohne daß jedoch konkrete lebensweltliche Auswirkungsbereiche dieses Ausschließlichkeitsanspruchs – etwa konkrete Handelsbeziehungen von Individualsubjekten im grenzüberschreitenden Verkehr – ausschließlich von Gemeinschaftsrecht durchbestimmt wäre.

440

s.o., Kap. 5, IV. 3.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip als Verbandskompetenzprinzip

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Der Typus der konkurrierenden Kompetenzen ist in mancher Hinsicht problematischer. Möglicherweise ist in solchen Bereich weiterhin eine Abwägung im konkreten Einzelfall unumgänglich, ob die erstrebte Regelung Subsidiaritätsgesichtspunkten genügt. Denn bei konkurrierenden Kompetenzen ist nicht im voraus generell-abstrakt bestimmbar, zu Lasten welcher nationalen Kompetenzen sich die wahrgenommenen konkurrierenden Kompetenzen auswirken. Diese können thematisch relativ benachbarte Bereiche erfassen. So verdrängen etwa die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien 2407/92/EG, 2027/97/EG und 889/02/EG die Regelungsbefugnis des deutschen Reisevertragshaftungsrechts des § 651 h BGB, aber auch einzelne Vorschriften des LuftVG und der LuftHaftVO, damit also thematisch verwandte Konkurrenzbereiche des staatlichen Regelungsregimes. Hierbei handelt es sich um Konkurrenzverhältnisse struktureller Vergleichbarkeit zu bundesstaatlichen Konstellationen (hinsichtlich des Kompetenzkatalogs des Art. 74 GG): Solche Rechtsakte konkurrieren nicht nur geltungslogisch, sondern auch ihrem sachlichen Gestaltungsanspruch nach mit einem thematisch äquivalenten staatlichen Normenregime. Die Gemeinschaftskompetenzen können aber auch derogierend gegenüber sachgebietsfremden, thematisch nicht mit dem Gemeinschaftsrechtsakt konkurrierenden nationalen Regelungen wirken. Dies gilt für solche allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Standards, die sich sachgebietsübergreifend auf alle nationalen Regelungsmaterien auswirken, in denen diese Fragestellung relevant wird. In bezug auf konkurrierende Kompetenzen läßt sich nicht abstrakt, also unabhängig vom konkreten thematischen Bezug der ergriffenen Gemeinschaftsmaßnahme, angeben, ob ein Gebrauchmachen von vorhandenen einschlägigen Ermächtigungen nach Subsidiaritätsgrundsätzen erforderlich ist. Allgemeine Erwägungen zur Regelungsbefugnis von Binnenmarktfragen beinhalten kaum Problemlösungspotential für die Frage, ob eine Vereinheitlichung der Haftungsstandards im europäischen Luftverkehrsrecht eine unter Subsidiaritätsgesichtspunkten von der Europäischen Union wahrzunehmende Regelungsaufgabe darstellt. Maßgebend ist vielmehr, das konkrete Regelungsziel einerseits auf die abstrakte Ermächtigung hin rückzubeziehen und andererseits zu klären, ob die mit der gemeinschaftlichen Regelung einhergehende Vereinheitlichung den aus den vertraglichen Ermächtigungen ablesbaren Gestalt des gemeineuropäischen Rechtsregimes entspricht. Für diese vom Subsidiaritätsprinzip diktierte Überprüfung liefert die Typisierung oder Legaldefinition der konkurrierenden Kompetenzen einen nur sehr begrenzten Beitrag. Innerhalb der parallelen Kompetenzen – Hauptbeispiel hierfür dürfte etwa die unterstützende Gesundheitskompetenz der Europäischen Union nach Art. 154 Abs. IV lit a-c, V EG sein – wird das typische subsidiaritätskonforme Koordinationsverhältnis beider Regelungszugriffe darin bestehen, die Gemeinschaftsrechtsakte auf die Harmonisierung von Mindeststandards zu beschrän-

570

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

ken und die Ausfüllung von Grundsatzfragen und Einzelaspekten, die sich die Mitgliedstaaten gem. Art. 154 V EG weitgehend vorbehalten haben, im mitgliedstaatlichen Regelungszugriff zu belassen. Regelmäßig dürfte in solchen Bereichen die Plausibilität für die Wahl der Handlungsform einer Verordnung weniger naheliegen und erhöhten Begründungsaufwand erfordern, wenngleich hierin kein Automatismus liegt.

V. Die Vorschläge des Konventsprozesses im Lichte einer repräsentationstheoretischen Bewertung

Setzt man die vorgestellten Ordnungsvorstellungen in Beziehung zu den derzeitigen Konventsvorschlägen, so ergibt sich zunächst eine Hauptunterscheidung der Verwirklichungsgehalte, die sich auf die mit der vorliegenden Untersuchung aufgeworfenen Legitimationsgesichtspunkte beziehen, in zwei Bereiche. Einerseits restrukturiert der Verfassungsentwurf in Teil 1 Titel III das Kompetenzsystem; andererseits enthält Titel V eine Resystematisierung des Handlungsformsystems. Bezeichnend – und als eine die Zusammenhänge verdeutlichende terminologische Klarstellung zu begrüßen – ist der Umstand, daß die beiden Titel als „Zuständigkeiten“ und „Ausübung der Zuständigkeiten“ überschrieben sind. Darüber hinaus wird der Zentralbedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die Kompetenzordnung in einem Subsidiaritätsprotokoll Rechnung getragen, das verschiedene Fortentwicklungen enthält. Mit diesem Protokoll wird Art. I-9 Abs. 3 konkretisiert.

1. Die Reformvorschläge der Konventsverfassung in Teil I Titel III und Teil III

a) Hauptaspekte der Reform

Der Verfassungsvorschlag folgt in seinem kompetenzbezogenen Teil der auch bislang gemeinschaftsinhärenten Konzeption einer Differenzierung zwischen Kompetenzermächtigungsnormen und allgemeinen, gemeinhin aus Kompetenzausübungsregeln bezeichneten Prinzipien, deren Bezeichnung er in

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

571

Art. I-9 Abs. 1 S. 2 expliziert441; er sieht insoweit keinen Paradigmenwechsel vor442. Das beibehaltene System wird in Teilen differenzierter gestaltet. Die Grundprinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, des Subsidiaritätsprinzips, der Verhältnismäßigkeit und der loyalen Zusammenarbeit werden in Art. I-9 den Kompetenzbestimmungen des Titels III der künftigen Verfassung insgesamt vorangestellt und jeweils legaldefiniert443. Die Verfassung ist dabei so aufgebaut, daß sie die einzelnen Zuständigkeiten zunächst kategorisiert (Art. I-11) und die vorhandenen Gemeinschaftskompetenzen der jeweiligen Kategorien in Teil III der Verfassung in Übereinstimmung mit den in Teil I Titel III erfolgten Typisierungen sachgebietsbezogen katalogisiert. Es fällt zunächst auf, daß der Europäische Konvent sich mit dieser Strukturierung zu keiner grundlegenden Systemreform entschieden, sondern anstelle einer paradigmatischen Neubestimmung eine Methode der Fortschreibung und Klarstellung favorisiert hat444. Der Konventsentwurf sieht eine originär gemeinschaftsrechtliche Typisierung der Kompetenzarten nach den drei Kategorien der ausschließlichen, geteilten und unterstützenden Kompetenzen vor445. Diese gemeinschaftsverfassungsrechtliche Eigendefinition setzt bislang im Schrifttum verwendeten staatsverfassungsrechtlichen Behelfsterminologien und Analogien ein Ende446. Ausschließliche Kompetenzen sind in Art. I-11 Abs. 1 definiert und in Art. 11 zugeordnet; eine Koordinations-, Ergänzungs- und Unterstützungsbefugnis sieht Art. I-11 Abs. 5 in Verbindung mit dem Katalog in Art. I-16 vor447. Die geteilten Zuständigkeiten ergeben sich regelungstechnisch – dies ist ausdrückliche gesetzgeberische Intention gem. Art. I-13 Abs. 1 441

ABl. Nr. C 169 vom 18. Juli 2003. Ebenso Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 189; Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8 ff.; unklar Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 650 anders wohl Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 223: „völlige Neukonzeption“. 443 Dok. CONV 797/1/03 Rev. 1, S. 10 f. 444 Ruffert (Fn. 442), S. 189. 445 Art. I-11 definiert die einzelnen Formen; Art. I-12 ff. beinhalten eine Zuordnung von Aufgabenbereichen zu diesen Gruppen. 446 Ruffert (Fn. 442), S. 190; Fn. 147. 447 Der Vorentwurf sah hier noch vor, diese Kompetenzen als „unterstützende Zuständigkeiten“ zu bezeichen, vgl. Art. 10 Abs. 5 in Verbindung mit dem Katalog in Art. 15 in Dok. CONV 724/03. Offenbar erschien dies terminologisch zu weitgehend. Inhaltlich hat diese Anpassung keine kompetentielle Veränderung bewirkt. 442

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

– „subtraktiv“ aus der expliziten Definition der beiden anderen Zuständigkeitsformen. Sie sind in Art. I-11 Abs. 2 definiert und in Form eines – nicht abschließenden – Katalogs der „Hauptbereiche“ in Art. I-13 Abs. 2 typisiert. Ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeiten gehen mit einem gänzlichen Ausschluß der mitgliedstaatlichen Regelungszuständigkeit einher, sofern nicht eine ausdrückliche Ermächtigung durch die Union erfolgt. Geteilte Zuständigkeiten sehen vor, daß das mitgliedstaatliche Regelungsregime aufrechterhalten bleibt, „sofern und soweit“ die Europäische Union von ihrer Zuständigkeit keinen abschließenden Gebrauch gemacht hat. Unterstützende Zuständigkeiten befähigen die Europäische Union, regelsetzend tätig zu werden, ohne daß hierdurch der mitgliedstaatliche Regelungszugriff verdrängt wird. Insbesondere besteht hier explizit keine Harmonisierungskompetenz448. Bestandteile der ausschließlichen Kompetenzen sind die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten der Eurozone; die gemeinsame Handelspolitik, die nach Stimmen der Literatur bereits bislang Bestandteil der ausschließlichen Kompetenzen war449; die Zollpolitik; die Fischereipolitik; sowie schließlich die europäische Außenpolitik. Die Kompetenzregelung der geteilten Zuständigkeiten erwähnt neben dem Katalog des Art. I-13 Abs. 2 in Abs. 3, 4 zusätzlich Bereiche, in denen die Europäische Union zur Durchführung von Maßnahmen befugt und zur Gestaltung einer gemeinsamen Politik zuständig sein soll, ohne daß die mitgliedstaatliche Zuständigkeit hierdurch verdrängt würde. Weshalb diese Zuständigkeiten nicht systematisch zutreffend den unterstützenden Zuständigkeiten zugeschlagen worden sind, bleibt unklar; die Legaldefinition des Art. I-11 Abs. 2 paßt offenkundig auf diese Bereiche nicht. Mit der Verfassungsneufassung ist kaum ein substantieller Kompetenzzuwachs für die Europäische Union verbunden450. Der Energiesektor sowie die Bereiche Entwicklungszusammenarbeit sowie Forschung und technologische Entwicklung (ergänzt um Raumfahrt) kommen als besondere Formen geteilter Zuständigkeit hinzu; die unterstützende Zuständigkeit wird um die Bereiche des Sports und des Katastrophenschutzes ergänzt. Die Kompetenzrevision hat systematisierenden, nicht verstärkenden Charakter und trägt damit der allgemein anerkannten Analyse eines bestehenden institutionellen Reformdefizits Rechnung. 448

Art. I-16 Abs. 3; vgl Ruffert (Fn. 442), S. 189. So Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, 1997, S. 194; Heinze, Europäische Einflüsse auf das nationale Arbeitsrecht, RdA 1994, S. 1, 5. 450 Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 223. 449

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

573

b) Bewertung Auffällig ist zunächst, daß die Legaldefinition des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Bestandteil der Kompetenzordnung in Art. I-9 Abs. 3 zu einer Überantwortung nicht unerheblicher Aussagebestandteile, die hier dem Subsidiaritätsprinzip zugerechnet werden, auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip führt. Das affirmiert die ohnehin von Teilen der Literatur vertretene Auffassung einer engen Verwandtschaft zwischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Subsidiaritätsprinzip451; gleichwohl erscheint fragwürdig, ob Erwägungen der Verhältnismäßigkeit in der Kompetenzordnung kategorial überzeugend verortet und nicht eher in das Staat-Bürger-Verhältnis einzuordnen sind. Dem praktischen Regelungsgehalt tut die Terminologie und die rechtssystematische Zuordnung indes keinen Abbruch. Die in Art. I-11 ff. erfolgende Typisierung folgt weitgehend den entsprechenden Vorschlägen der Literatur452. Die Dichotomie von Kompetenztypisierungskatalog und kompetenzrestringierenden Kompetenznormen (Kompetenzausübungsregeln) erscheint zweckmäßig und deckt sich weitgehend mit den legitimationsprinzipiellen Forderungen der hier vertretenen Auffassung. Die oben dargestellten Nachteile eines starren Kompetenzkatalogs in seiner dem bisherigen supranationalen Ordnungsprinzip zuwiderlaufenden Qualität werden hierdurch vermieden. Die Neuregelung macht das bisherige System nicht überflüssig und redupliziert es auch nicht unnötig, erschöpft sich also nicht in bloßer normredundanter Neufassung. Das Wesen der Kompetenztypisierung in Art. I-11 der Verfassung liegt in der Einordnung nach dem mit ihnen verbundenen Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Regelsetzungsbefugnis, also nach ihrer Stellung innerhalb einer bipolaren Mehrebenenstruktur. Die vorhandenen Kompetenzzuweisungen in den bisherigen Verträgen werden in ihrem wesentlichen kompetenzzuweisenden Gehalt in Teil III der Verfassung fortgeschrieben. Das erscheint sachgerecht; die Befürchtung einer andernfalls drohenden Entflechtung und damit verbundenen Infragestellung des bisherigen Verantwortungsgefüges wurde zu Recht gegenüber einer radikalen Neuordnung gel-

451

Remmers, Europäische Gemeinschaften und Kompetenzverluste der deutschen Länder, 1992. 452 Etwa von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 458 die allerdings eine Differenzierung von vier Kompetenztypen (ausschließlich, konkurrierend, parallel, nicht-regulativ) vorgeschlagen hatten; sowie Clement, Europa gestalten – nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach Nizza; T. Fischer/Schley, Europa föderal organisieren, 1999, S. 30 ff., deren Vorschläge eines Negativkompetenzkataloges bzw. eines abgeschlossenen dualen Kompetenzkatalogs nicht aufgenommen worden sind.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tend gemacht453. Diese Verfassungsvorschriften nehmen Vorschläge des europäischen Hochschulinstituts sowie des Bundesrates454 auf, ohne hiermit bisweilen verbundene Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die Normierung von mitgliedstaatlichen Residualkompetenzen, bezogen auf die der Europäischen Union ein Regelungszugriff generell verwehrt wäre, ist begrüßenswerter Weise nicht eingeführt worden. Die Kodifikation eines solchen „negativen Kompetenzkatalogs“ hätte sich gegenüber dem Querschnittsanspruch des Gemeinschaftsregimes aus den dargelegten Gründen nicht als sinnvolle Regelungstechnik erwiesen. Explizite negative Kompetenznormen des Typs eines kategorischen Ausschlusses entsprechen nicht dem Verwiesenheitsverhältnis der verschiedenen Ebenen eines Mehrebenenverbunds; eine Kompetenzrestriktion des supranationalen Regelungsanspruchs läßt sich zufriedenstellend nur über Mechanismen der Selbstrestriktion im Rahmen eines hierfür in seiner Grundberechtigung vorausgesetzten Regelungszugriffs, nicht aber über die a priori erfolgende Definition einer nationalstaatlichen domaine réservé erreichen, in der sich eine konstruktiv unangemessene Abgeschlossenheitsaussage manifestierte. Die konstitutionelle Behandlung des Bereichs der geteilten Zuständigkeiten erscheint konzeptionell noch unausgereift, namentlich in zwei Bezügen. Einerseits sind Ansätze einer Subdifferenzierung vorhanden, die durchaus im Sinne der oben vertretenen Unterscheidung zwischen konkurrierenden und parallelen Kompetenzen instrumentalisiert werden könnten, so insbesondere im Hinblick auf die in Art. I-11 Abs. 3-5 vorgesehenen, nicht-verdrängenden Zusatzkompetenzen der Europäischen Union. Die diesen Kompetenzregelungen inhärenten Differenzierungsansätze ergeben sich jedoch lediglich implizit und ohne die regelungstechnisch überzeugende Kategorisierung und Definition der Kompetenzobertypen im übrigen; diese Implikation erfüllt nicht die an die Restrukturierung gerichtete Transparenz- und Bestimmtheitserwartung. Sie scheint auch ausweislich der Begründung insoweit eher von einzelfallbezogenen Erwägungen im Hinblick auf die jeweiligen Sektoren, nicht hingegen von allgemeinen kompetenzstrukturierenden Leitmotiven getragen zu sein. Ein solcher einzelfallbezogener Regelungspragmatismus ist dem Konstitutionalisierungsanliegen unangemessen.

453 454

Sehr nachdrücklich von Bogdandy/Bast (Fn. 452), S. 441, 458.

Europäisches Hochschulinstitut, Ein Basisvertrag für die Europäische Union. Studie zur Beuordnung der Verträge, Abschlußbericht 2000; Entschließung des Bundesrates zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996, BR-Drs. 169/95 sowie BR-Drs. 667/95 („Forderungen der Länder zur Regierungskonferenz 1996“); vgl. von Bogdandy/Bast (Fn. 452), S. 441, 457 f.

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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Ein zweiter Kritikpunkt ist damit eng verbunden: Die Verhältnisbestimmung von den besonderen Unterformen geteilter Kompetenzen zu den unterstützenden Kompetenzen ist unklar. Zu fordern wäre hier eine Vereinheitlichung, durch die die in Art. I-13 Abs. 3, 4 genannten Unterformen klar einzuordnen wären. Erste Stellungnahmen in der Literatur sind in der Rezeption des Verfassungsentwurfs uneinheitlich. Dies gilt sowohl für die Einordnung der Kompetenzparadigmatik, die die neue Ordnung reflektiert, als auch für die Bewertung der neuen Gestalt. Schon in der Frage, ob die künftige Verfassung einen Kompetenzkatalog realisiert, herrscht Uneinigkeit455. In diesem disparaten Befund perpetuieren sich die höchst unterschiedlichen Konnotationen, die mit dem Katalogbegriff im Verlauf der gesamten Verfassungsdebatte verbunden worden waren. Versteht man unter einem Kompetenzkatalog die Kategorisierung von Ermächtigungsgehalten nach ihrem Verhältnis zu anderen (mitgliedstaatlichen) Verbänden, so dürfte kaum zweifelhaft bleiben, daß die von der Konventsverfassung vorgeschlagene Restrukturierung Katalogzüge trägt456. Kontrastiert man hingegen die an bundesstaatlichen Konstruktionsvorbildern ausgerichteten Katalogvorschläge, namentlich der deutschen Bundesländer457, mit einer bloßen Resystematisierung der im geltenden Gemeinschaftsrecht schon latent vorhandenen Kompetenztypen, so ist erkennbar, daß der evolutionäre Charakter der Konventsverfassung den bundesstaatlich inspirierten Modellvorstellungen in der Beibehaltung der Finalstruktur der Unionskompetenzen nicht folgt458. Die Einführung eines europäischen Kompetenzkatalogs im abgeschwächten Sinne der erstgenannten Lesart ist zustimmungswürdig459. Ein bipolares kompetentielles System, das das Balanceverhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten reflektiert, entspricht dem dargelegten legitimationsprinzipiel455 Bejahend Herchenhan, Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten, BayVBl. 2003, S. 649 f.; wohl auch Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 9; ablehnend demgegenüber Jennert, Die zukünftige Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, NVwZ 2003, S. 938: ein solcher stehe „nicht mehr zur Debatte“; vermittelnd Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 190: „Kombinationslösung“. 456 Zutreffend in diesem Sinne Meinhard Schröder (Fn. 455), S. 9; unklar Herchenhan (Fn. 455), S. 649 f. 457 Vgl. BR-Dr. 169/95, S. 2; BR-Dr. 667/95, S. 3; BR-Dr. 784/97, S. 2 f.; relativierend BR-Dr. 1081/01, S. 4. 458 So Jennert (Fn. 455), S. 938. 459 So auch Meinhard Schröder (Fn. 455), S. 9; ebenso Ruffert (Fn. 455), S. 190: „überzeugend“.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

len Bedarf einer Abgrenzung politischer Teilsysteme in einem Mehrebenenverbund. Dies realisiert die Abkehr vom defizitären „eindimensionalen Kompetenzsystem“460. Die organisch-dynamische Qualität der Gemeinschaftspolitiken und die Zukunftsoffenheit der Integrationsfinalität stellen gegenüber diesem Fortschritt keine rechtsprinzipiell eigenberechtigten Kategorien dar; im übrigen wird die europäische Integrationsfinalität durch das neue Komeptenzsystem richtiger Lesart zufolge überhaupt nicht determiniert oder sonst angetastet461. Die mit einem positiven Kompetenzkatalog im schwächeren Sinne verbundene Abgeschlossenheitsimplikation ist den Unionskompetenzen auch unter dem bisherigen Rechtsregime durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aufgegeben. Kritik an der Katalogisierung der Kompetenzen aufgrund einer befürchteten „Zementierung“ von Kompetenzstrukturen462 bleibt daher schon in der Erfassung des geltenden Gemeinschaftsrechts unzulänglich, weil sie die geforderte Kompetenzflexibilität nicht verfassungsparadigmatisch verortet. Die von Gegnern eines Kompetenzkatalogs ins Feld geführten Vorbehalte dürften im evolutionären Konzept des Katalogs in Teil III der Verfassung keinen Anwendungsgegenstand finden; die Vereinheitlichung transportiert, wie gezeigt, keine Infragestellung supranationaler Systemspezifika. Hieran zeigt sich, daß die Bedeutung positiver oder negativer Kompetenzkataloge als Maßstab einer Neuordnung463 überschätzt worden sein dürfte. Größeren Zweifeln ausgesetzt ist die Frage, ob die neue Kompetenzordnung, wie teilweise behauptet464, ein duales Kompetenzkonzept verwirklicht. Zwar dürfte feststellbar sein, daß das bislang eindimensionale, von einer reinen Ermächtigungsperspektive getragene Kompetenzkonzept zugunsten einer bipolaren Ordnungsvorstellung überwunden wird. Ein Schritt zugunsten eines dualen Kompetenzkonzepts im Sinne eines dual federalism ist damit indes nicht verbunden. Denn dies erfordert eine symmetrische Kompetenzverteilung auf zwei strukturell gleichberechtigte, typischerweise staatliche Ebenen, während vorliegend allein – insoweit nicht anders als bisher – Umfang und Konzept der Unionsermächtigungen unter dem Aspekt einer bipolaren Balance reformuliert, 460

Meinhard Schröder (Fn. 455), S. 9. So Ruffert (Fn. 455), S. 192. 462 Herchenhan (Fn. 455), S. 650 f.; skeptisch gegenüber einer Überwindung der bisherigen Struktur auch Magiera, Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, in: Sommermann (Hrsg.), Aktuelle Fragen zur Verfassung und Verwaltung im Europäischen Mehrebenensystem, Seyerer Forschungsberichte 230 (2003), S. 74, 80 f.; R. Scholz, Die Verfassung der Europäischen Union, ZG Sonderheft 2002, Einführung S. 5. 463 Ausführlich zu den Einzelheiten der vertretenen Konzeptionen Ruffert (Fn. 455), S. 187; Jennert (Fn. 455), S. 937 ff. 464 So Meinhard Schröder (Fn. 455), S. 9. 461

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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restrukturiert und kategorisiert werden, ohne eine neue Qualität der am Kompetenzgefüge beteiligten Ebenen zu eröffnen.

2. Die Reformvorschläge der Konventsverfassung in Titel V Im Mittelpunkt der Konventsverschläge zu Titel V steht die Ausdifferenzierung des europäischen Handlungsformsystems zu einer gemeineuropäischen Gesetzgebungssystematik. Dies greift verschiedene Vorschläge aus dem Schrifttum auf, die eine an die bundesdeutsche Gesetzgebungslehre angelehnte Typisierung eines „europäischen Gesetzes“, „europäischen Rahmengesetzes“ und einer „europäischen Verordnung“ vorgesehen haben465. Die neuen Handlungsformen des Titels V der Verfassung verdanken ihre Existenz einer normativen „Hochstufung“ der vorhandenen Formen EG-Verordnung, Richtlinie und Durchführungsrechtsakt; teilweise, allerdings überwiegend in bloß deklaratorischer Hinsicht, geht diese Neudeklaration der Legislativhandlungsformen auch mit revidierten Bestimmungen des Willensbildungsprofils einher. Diese neue Begrifflichkeit enthält eine doppelte innovative Stoßrichtung gegenüber dem bisherigen Handlungsformprofil, die einer separaten Bewertung bedarf, weil sie auf unterschiedliche Aspekte der kompetenziellen Neugestaltung bezogen ist.

a) Ansätze zu einem gemeineuropäischen Vorbehaltssystem

aa) Grundprinizpien des neuen Vorbehalts Einerseits manifestiert sich in ihr ein Ansatz zu einer genuin gemeinschaftsrechtlichen Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Rechtsetzungsformen, der möglicherweise auch als Ausgangspunkt einer bislang allenfalls fragmentarischen Vorbehaltsdogmatik fungieren könnte und damit einen tragfähigen Aspekt enthält. In der Tat existieren Vorstellungen zu einer Weiterentwicklung der vorhandenen sekundärrechtlichen Handlungsformen, etwa zu einem europäischen Rahmengesetz bereits seit dem Maastrichtvertrag sowohl in der Poli-

465

Rechtswissenschaftlich insbesondere vertreten von Pernice, Verfassung der Europäischen Union. Bemerkungen zu den Artikel-Entwürfen des Präsidiums des Verfassungskonvents, WHI-Paper 3/03, www.whi-berlin.de/verfassung-1.htm; vgl. Dok. CONV 797/1/03 REV 1, S. 27 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

tik466 als auch in der Rechtswissenschaft467. Der Europäische Verfassungskonvent hat sich diese Vorschläge zu eigen gemacht468. Zunächst ist Art. I-35 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 eine zentrale Vorschrift im Entwurf der Konventsverfassung, die Ansätze zur Ausprägung einer Vorbehaltsdogmatik aufweist. Danach ist für wesentliche Vorschriften die Übertragung von europäischem Gesetz oder Rahmengesetz auf delegierte Verordnungen ausgeschlossen. Dieser Punkt stellt sich im wesentlichen als eine Fortentwicklung des bisherigen gemeinschaftsrechtsimmanenten Vorbehalts einer sekundärrechtsunmittelbaren Regelung im dargestellten Sinne dar. Auf der Grundlage einer Betrachtung, die von der o.g. Analyse des status quo und den eher fragmentarischen Vorbehaltsansätzen im Gemeinschaftsrecht ihren Ausgang nimmt, scheint es zunächst, als würde hiermit lediglich kodifiziert, was ohnehin bereits richterrechtlich gilt. Daß die von der EuGH-Judikatur ausgehende Ausprägung einer Vorbehaltsdogmatik zwischen unmittelbarem Sekundärrecht und den delegierten Rechtsakten die vorausgesetzte Analogie zum Staatsrecht wegen des subdelegierten Charakters der Durchführungsbefugnisse nicht einzulösen vermag, wurde bereits dargestellt469. Legt man insofern zugrunde, daß mit der Reform des Handlungsformsystems lediglich eine Neubezeichnung einhergeht, so ist diese bloß terminologisch verstandene Restrukturierung – wegen der fehlenden, auf den Willensbildungshintergrund bezogenen Differenzierung – für die Herausprägung einer Vorbehaltsdogmatik überflüssig. Hierfür spricht auch, daß die zugrunde liegenden Vorschläge der Arbeitsgruppe „Vereinfachung“ des Verfassungskonvents stark von einer Betonung der strukturellen Gleichartigkeit der neuen Rechtsakte gegenüber dem bisherigen Handlungsformsystem nach Art. 249 EG geprägt sind470. Ohne entsprechende inhaltliche Anpassungen erweist sich eine bloß begriffliche Angleichung an das Staatsrecht nicht nur als unnütz, sondern auch als kontraproduktiv. Sie suggeriert durch die Übernahme staatsrechtlich konnotierter Handlungsformbezeichnungen ein legitimatorisch determiniertes institutionelles Hervorbringungsprofil,

466 Entschließungen des EP vom 12. 12. 1990 (ABl. Nr. C 19 vom 18. 1. 1991, S. 65, 71 f.), vom 18. 4. 1991 (ABl. Nr. C 129 vom 20. 05. 1991, S. 136, 138), vom 17. 5. 1995 (ABl. Nr. C 151 vom 19. 06. 1995, S. 56, 64 f.). 467 Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, S. 1 ff. 468 Vorschlag zur Reform der Handlungsformen: Dok. CONV 571/03, Art. 24 ff. VerfE.; vgl. auch den „endgültigen“ Verfassungsvorschlag Dok. CONV 724/03 und nunmehr zu den Rechtsakten Art. I-32 ff. des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung Europas. 469 Oben, Kap. 5, V. 2. a). 470 Vgl. Schlußbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29. November 2002, Dok. CONV 424/02, S. 3 f.

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

579

das so nicht existiert471 und, sofern es mit einer staatsrechtsähnlichen Vollparlamentarisierung notwendig verbunden wäre, unter dem Regime des Prinzips der Komplementärverfaßtheit auch nur sehr begrenzt überhaupt verwirklichungsfähig erscheint. Werden die staatsrechtlichen Legislativkategorien hingegen als bloße Formhülse instrumentalisiert, um dem Gemeinschaftsrecht eine dem öffentlichen Verständnis nachvollziehbarer erscheinende Terminologie zur Verfügung zu stellen, so widerspricht das auch dem Transparenzgebot als einem zentralen Anliegen der institutionellen Reformen. Allerdings verleiht der Kontext der resystematisierten Handlungsformen diesem Systembezug einen neuen, weiterreichenden Aussagegehalt, indem er sich nicht auf die Neubezeichnung beschränkt, sondern teilweise sehr bedeutsame Modifikationen vorsieht, die die Vereinfachungsvorschläge der Arbeitsgruppe IX überschreiten. Für die Handlungsformen des Europäischen Gesetzes und des Europäischen Rahmengesetzes ist gem. Art. I-33 Abs. 1 S. 1 das Mitentscheidungsverfahren im Sinne des bisherigen Art. 251 EG obligatorisch; S. 2 dieser Vorschrift stellt deklaratorisch klar, daß die bereits bisher geltende Besonderheit dieses Verfahrens einer symmetrischen Verantwortung von Rat und Parlament für das Zustandekommen des Rechtsaktes472 auch zukünftig kennzeichnend bleibt. Mit dieser Innovation setzt der Konvent in bemerkenswert unmittelbarer Weise legitimationsprinzipiell dasjenige um, was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als Vorbehalt des Mitentscheidungsverfahrens473 gekennzeichnet worden ist. Die Gesetzgebungsbegrifflichkeit, die als solche nach hier vertretener Auffassung eine eher kritisch zu bewertende Assoziation mit staatsrechtsbegrifflichen Unverfügbarkeiten darstellt, erscheint unter diesen Voraussetzungen sogar als hinnehmbare terminologische Verdeutlichung dieses Fortschritts. Im Lichte dieser legitimationsprinzipiellen Aufwertung der europäischen Rechtsakte erhält die Vorbehaltsformulierung einen neuen Sinn; sie schließt es aus, daß wesentliche Vorschriften in einem Bereich, der Europäischem Gesetz oder Rahmengesetz vorbehalten ist, ohne substantielle Verantwortlichkeit beider Rechtsetzungsorgane, also außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens, zustande kommen, und vereinnahmt damit auch die legitimationsprinzipiellen Gehalte des hier als „sekundärrechtsimmanenten“ Vorbehalts vorgeschlagenen Aussagekerns. Unklar erscheint jedoch in Teilen, wie die Verhältnisbestim-

471 Allgemein zu einem unreflektierten Gesetzesverständnis auch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 73: Begriff der Legislative gaukele Gewaltenteilung vor. 472

Dazu oben, Kap. 5, II. 3. b) dd).

473

Vgl. dazu oben, Kap. 5, III. 3. b) cc).

580

Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

mung des Vorbehaltsartikels zu der Vorschrift des Art. I-37 Abs. 1 auszulegen ist, nach der die Wahl der passenden Rechtsaktform den beteiligten Rechtsetzungsorganen überantwortet wird. Da das Initiativrecht nach wie vor gem. Art. I-25 Abs. 2 der Kommission zugeordnet ist, liegt hier die entscheidende Erstverantwortung dafür, daß ein geplanter Rechtsakt in der richtigen Form erlassen wird. Welche Rolle die bisherigen übrigen Verfahrensformen der Anhörung und Zusammenarbeit spielen, bleibt gegenwärtig noch unklar und hängt mit der Einordnung der Handlungsform der „neuen Verordnung“ gem. Art. I32 Abs. 1 UAbs. 4, Art. I-35 zusammen. Im gegenwärtigen Verfassungsgefüge nach Titel V scheinen diese Verfahren überhaupt keinen Platz mehr zu haben474. Dafür spricht auch der interimistische Charakter des Verfahrens der Zusammenarbeit475. Wenn das zutrifft, kommt ein legislativer Erstzugriff durch andere als im Mitentscheidungsverfahren erlassene Rechtsakte entsprechend der neuen Vorbehaltsformulierung nur für Durchführungsakte nach Art. I-36 in Betracht, die ihrerseits gem. Art. I-36 Abs. 3 durch ein Europäisches Gesetz in ihren legislativen Grundzügen prädeterminiert sind; in diesem Fall verbleiben keine Lücken, die einer legitimatorisch befriedigenden Ausrichtung des Rechtsetzungssystems an repräsentationstheoretischen Forderungen entgegenstünden. Anders wäre es, wenn die bisherigen Rechtsetzungsverfahren fortbestehend neben den – durch das obligatorische Mitentscheidungsverfahren zu Gesetzen sublimierten – neuen Rechtsakten existierten. In diesem Falle könnte systemwidrig durch die Ausübung des legislativen Auswahlermessens auf Rechtsformen ausgewichen werden, die für die substantielle Mitverantwortung des EP keine Gewähr böten. Es ist aber anzunehmen, daß diese konzeptionell nicht überzeugende Variante im geplanten, auf Vereinfachung angelegten Handlungsformsystem keinen Platz finden wird, wenngleich die Arbeitsgruppe IX davon ausgegangen ist, daß die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens als Standardmethode der Beschlußfassung nicht lückenlos erfolgen wird476. Im übrigen läßt sich den Vorschlägen der Arbeitsgruppe IX entnehmen, daß das Verfahren der Zusammenarbeit abgeschafft und die ihm zugewiesenen Bereiche dem Mitentscheidungsverfahren zugeschlagen werden sollen, sowie, daß die Verfahren der Anhörung und Zustimmung auf enumerative Ausnahmefälle 474

Schlußbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29. November 2002, Dok. CONV 424/02, S. 10: „Gesetzgebungsakte sollen generell nach dem Mitentscheidungsverfahren angenommen werden.“ 475 Vgl. auch Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 180. 476 Schlußbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29. November 2002, Dok. CONV 424/02, S. 15: „Ausnahmen von dieser Regel gäbe es weiterhin in Bereichen, in denen wegen der besonderen Beschaffenheit der Union autonome Beschlußfassungsverfahren erforderlich sind, oder in Bereichen, die für die Mitgliedstaaten politisch besonders heikel sind.“

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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begrenzt werden sollten. Unter Vereinheitlichungsgesichtspunkten wäre es hier möglicherweise zielführender, wenn man – etwa für besonders souveränitätssensible Bereiche – eine Binnendifferenzierung der Willensbildungsformen im Rat innerhalb des Mitentscheidungsverfahrens vorsähe477. bb) Weiterreichende Alternativen: Europäisches Organgesetz? Alternativen zu den skizzierten diesbezüglichen Konventsvorschlägen haben sich im Schrifttum insbesondere auf eine Reaktivierung des bereits seit geraumer Zeit vorgeschlagenen europäischen Organgesetzes nach dem Vorbild der Französischen Verfassung bezogen478. So hat Pernice den Vorschlag wiederaufgegriffen, einen besonderen Normtypus in seinem Zustandekommen an besondere Willensbildungsbedingungen, insbesondere Majoritätsquoren, zu binden und zur Konkretisierung von Grundsätzen zu instrumentalisieren479, die im künftigen Verfassungsvertrag angelegt, aber nicht determiniert sind. Abgesehen davon, daß der legeshierarchische Status dieses neuen Organgesetzes recht ungeklärt ist – erkennen läßt sich lediglich, daß es zwischen Vertragsverfassung und Sekundärrechtsnormen eine normenhierarchische Zwischenposition einnimmt480 – geht mit dieser Erweiterung des Handlungsformenkanons jedenfalls keine Vereinfachung einher, sondern im Gegenteil eine Zunahme an Komplexität, die zu den Konventszielsetzungen im erklärten Widerspruch steht. Überdies ist das in dieser Ordnungsvorstellung implizierte Vorbehaltsverständnis gemessen an der hier vorgeschlagenen sekundärrechtsimmanenten Handlungsformdifferenzierung defizitär. Es suggeriert nämlich, daß – lediglich – grundsätzliche Organisationsfragen der Europäischen Union einer qualifizierten Organbeteiligung bedürften, während der an der Wesentlichkeitstheorie orientierte Ansatz zur Entwicklung einer Vorbehaltsdogmatik diesen Gedanken generell auf Regelungsgehalte grundsätzlicher Dimension erweitert. Die Differenzierung nach Wichtigkeit am Maßstab, ob es sich um „Funktionsrecht“481 477

Zur Bedeutung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens und seinen Grenzen im staatenrepräsentativen Kontext vgl. unten, Kap. 5, VI. 478 Ausführlich zur Verfassungsreferenz und zur Herkunft des Vorschlags Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 344 f., m.w.N. 479 Pernice, Verfassung der Europäischen Union. Bemerkungen zu den ArtikelEntwürfen des Präsidiums des Verfassungskonvents, WHI-Paper 3/03, www.whiberlin.de/verfassung-1.htm, S. 6; vgl. zur Option einer „loi organique“ auch Schlußbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29. November 2002, Dok. CONV 424/02, S. 27. 480 Ähnlich Peters (Fn. 478), S. 344: Zwischenstellung zwischen Primär- und Sekundärrecht. 481 Dazu Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 40; Herwig Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999, S. 24.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

handelt, macht gemessen an den Bezugspunkten der staatsrechtlichen Vorbehaltsdomatik rechtsprinzipiell auf halber Strecke halt; die Wichtigkeit von Normen sollte nicht unabgeschlossen typisiert werden482, sondern ihr muß insgesamt und lückenlos durch einen unbestimmten Rechtsbegriff Rechnung getragen werden; andernfalls droht eine kasuistische Aufweichung der Kriterien, die die Sonderstellung des Organgesetzes begründen. Die Privilegierung von Organgesetzen gegenüber einfachem Sekundärrecht führt zu einer letztlich nicht überzeugenden Sonderstellung von Verfahrensrecht gegenüber anderen, gleichfalls grundsätzliches Gewicht beanspruchenden Regelungsgegenständen. Die Anforderungen an den Inhalt von Organgesetzen sind auch nicht hinreichend bestimmt. Die verfahrensrechtlichen Sondererfordernisse des Organgesetzes in der Vorstellung von Pernice spiegeln den legitimationsprinzipiellen Grund einer normenhierarchischen Differenzierung und der Bezogenheit von Vorbehaltsmechanismen hierauf nicht angemessen wider.

b) Ansätze zu einer konsistenten Differenzierung von Richtlinie und Verordnung? Der zweite Ansatzpunkt, den man sich von dem neuorientierten Handlungsformsystem nach Titel V des Verfassungsentwurfs erhoffen könnte, besteht in der Einführung einer konsistenten Differenzierung der Anwendungsbereiche von bisheriger Richtlinie und Verordnung und damit in der Aufarbeitung eines Bereichs, der in seinem rechtsprinzipiellen Differenzierungspotential hoch veranschlagt worden ist. Es läßt sich nicht verkennen, daß die Unterscheidung von Gesetz und Rahmengesetz deutliche rechtsbegriffliche Anleihen in föderalen Staatsstrukturen macht, die von über mehrere staatliche Ebenen verteilten Regelungsbefugnissen geprägt sind. Besonderen Modellcharakter dürfte hier das deutsche Staatsrecht aufweisen. Auf der Grundlage einer bislang fehlenden Ausschöpfung des unterschiedlichen normativen Profils von Verordnung und Richtlinie im Gemeinschaftsrecht483 hängt die Überzeugungskraft einer auch diesen Problemkomplex mitbehandelnden Reform indes davon ab, ob die terminologischen Föderalismusreferenzen in den neuen Handlungsformen auch inhaltlichen Niederschlag finden, ob mit anderen Worten hiermit eine Konzeption verbunden ist, deren Differenzierungsgehalt dem entspricht, was staats482

Vgl. dazu Herwig Hofmann (Fn. 481), S. 102: primär, aber nicht ausschließlich funktionales Recht der Europäischen Union; ders. mit weiteren Hinweisen auf die verfassungstheoretischen Anknüpfungspunkte eines solchen Modells im spanischen und französischen Verfassungsrecht; S. 104: Nachteil seien erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten und eine Zunahme der Komplexität des Rechtssystems. 483

s.o., Kap. 5, III. 1. b) bb).

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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rechtlich in der Unterscheidung von Gesetzen und Rahmengesetzen aufgehoben ist. Eine erste Analyse läßt das bezweifeln. Eine über terminologische Modalitäten hinausgehende Erweiterung der Handlungsformdifferenzierung setzte voraus, daß die Wahl der Handlungsform durch das jeweilige Gesetzgebungsorgan analog zu Bestimmungen wie Art. 75 GG obligatorisch mit einer bestimmten, abgestuften Form der Regelungsdichten justitiabel verknüpft ist. Das entspricht nicht dem geltenden Recht484. So kann die Regelungsdichte von Gemeinschaftsrichtlinien – anders als das deutsche Rahmengesetz – durchaus zu einer der Verordnung äquivalenten Qualität anwachsen485, was im übrigen auch der Praxis entsprochen hat. Eine hierauf bezogene Umgestaltung und Neuordnung wäre zwar de lege ferenda nicht ausgeschlossen, ist jedoch in den gegenwärtigen Verfassungsentwürfen als solchen nicht angelegt, wenngleich das Subsidiaritätsprotokoll bestimmte Ergänzungen beinhaltet, die dem hier angemahnten Differenzierungsgedanken in Teilen Rechnung trägt486. Die für eine Ausschöpfung des Unterschiedes von Verordnung und Richtlinie notwendige Differenzierung ihres Anwendungsbereichs wird aber auch im übrigen durch den Verfassungsentwurf nicht fortentwickelt. Einerseits kommt den Rechtsetzungsorganen – wie bisher – gem. Art. I-37 ein legislatives Auswahlermessen in der Wahl der geeigneten Handlungsform zu, die wie bisher injustitiabel läßt, ob die Verordnung oder die Richtlinie gewählt wird. Zum anderen wird – unterhalb der neuen Ebene der „Unionsgesetzgebung“ – mit der europäischen Verordnung eine Rechtsetzung sowohl mit dem Inhalt einer bisherigen Richtlinie als auch einer bisherigen Verordnung ermöglicht. Wenn auch unterhalb der hauptsächlichen Sekundärrechtsakte, bezeichnet damit die Verordnung gem. Art. I-43 Abs. 1 UAbs. 4 in bislang unbekannter terminologischer Indifferenz sowohl rahmenartige als auch vollumfängliche Rechtsakte „untergesetzlicher“ Art. In dieser Indifferenz dokumentiert sich ein fehlendes Differenzierungskonzept der neuen Handlungsformen im Hinblick auf die föderalen Unterscheidungsnotwendigkeiten des Mehrebenensystems. Die Widersprüchlichkeit und mangelnde Konsequenz dokumentiert sich aber auch darin, daß zwar einerseits konzediert wird, daß die europäische Verordnung (nur) ein Gesetz im materiellen Sinne487 sei, gleichzeitig jedoch für die Diffe484

Vgl. von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 ff. 485 Oppermann, Europarecht, 1999, Rdnr. 548, zieht den Vergleich mit der französischen „loi uniforme“. 486 Dazu sogleich unten, 3. 487 Im Sinne der herrschenden Terminologie verwandt, d. h. als generell-abstrakte Regel entsprechend der oben kritisierten Begrifflichkeit.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

renzierung nach Gesetz, Rahmengesetz und Verordnung unbekümmert ein dem allgemeinen Sprachgebrauch der Öffentlichkeit entlehntes Gesetzesverständnis zugrunde gelegt wird488, das das gesamte Vollbild einer die formellen und materiellen Aspekte umgreifenden Gesetzesdifferenziertheit489 zu reflektieren scheint. Daß diese Konstruktionsauffassung den institutionellen Hintergrund des europäischen Gesetzgebungsgefüges jedenfalls in seinem gegenwärtigen Erscheinungsbild überfordern dürfte, entspricht dem im dritten Kapitel entwikkelten Konstitutionsverständnis. Legt man diesen Befund zugrunde, so erscheint die terminologische Neuordnung, insbesondere die Einführung eines Rahmengesetzes, gemessen an den hiermit verbundenen institutionellen Neuordnungen als verfrüht.

3. Die Beiträge des Subsidiaritätsprotokolls zur Reformierung des Subsidiaritätsprinzips

a) Hauptaussagen Die systematisierte Kompetenztypisierung wird wie schon bisher flankiert durch das Subsidiaritätsprinzip, das in Verfassungsrang hochgestuft wird, ohne sich seiner materiellen Regelungsaussage nach grundsätzlich verändert zu haben. Die in der Verfassung selbst genannte Subsidiaritätsklausel dient zunächst nur der Affirmation des Subsidiaritätsprinzips als grundlegendem Verfassungsprinzip der europäischen Komplementärordnung, bleibt jedoch ihrerseits offen für unterverfassungsrechtlich primärrechtliche Konkretisierungen. Angesichts der durch das Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll 1997 erst modifizierten Regelungsaussage dieses Prinzips ist ein Verharren beim bisherigen Konkretisierungsgehalt dieses für die Komplementärverfassung zentralen Leitprinzips teilweise für hinnehmbar gehalten worden490. Bemerkenswert ist deshalb, daß der Verfassungskonvent seinem Entwurf ein neues Subsidiaritätsprotokoll 488 Wenn Pernice gleichzeitig argumentiert, in der Öffentlichkeit bestünde kein Verständnis dafür, wenn man dem Gemeinschaftsrecht den Gesetzesbegriff sogar verfassungsexplizit vorenthalte, so läßt sich hiergegen einwenden, daß die öffentliche Auffassung vom Wesen des europäischen Gesetzgebungsprozesses ohnehin eher metaphorisch geprägt und demnach kaum geeignet sein dürfte, eine rechtsprinzipielle Herausarbeitung europäischer Gesetzgebungsstrukturen kategorial zu instruieren. 489 Dazu ausführlich oben, Kap. 2, III. 3. 490 So auch von Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, 451: trotz fehlenden Niederschlags in der Rechtsprechung habe sich das Subsidiaritätsprotokoll positiv auf die Rechtsetzungkultur ausgewirkt.

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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angefügt hat, mit dem teilweise beachtliche Schritte in Richtung einer Justitiabilisierung des Subsidiaritätsprinzips verbunden sind; die Würdigung der mit dem Verfassungsentwurf verbundenen Rechtsfortschritte kann deshalb nur in einer Zusammenschau von Titel III und V mit dem Subsidiaritätsprotokoll sinnvoll erfolgen. Entscheidend sind innerhalb des Subsidiaritätsprotokolls – abgesehen von verschiedenen Anhörungsimplementationen, mit denen der Austausch auch zu den Nationalparlamenten sichergestellt werden soll, in Nr. 2 und 3 des Protokolls – einerseits obligatorische Begründungsanforderungen an die Subsidiaritätskonformität des jeweils vorgeschlagenen Rechtsaktes in Nr. 4 des Protokolls. Gleichzeitig ist mit dem Protokoll in Nr. 7 die justitielle Überprüfbarkeit der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips durch die – nach wie vor privilegiert klagebefugten – Mitgliedstaaten vorgesehen. Nationale Parlamente können gem. Nr. 5, 6 bei Erreichen bestimmter Quoren eine Überprüfung der Subsidiaritätskonformität durch die Kommission erwirken; ein direktes Klagerecht kommt ihnen nicht zu.

b) Bewertung Eine Bewertung der mit dem Subsidiaritätsprotokoll einhergehenden rechtsprinzipiellen Fortschritte kommt zunächst nicht umhin festzustellen, daß die protokollarische Anfügung regelungstechnisch mißlungen erscheint491. Dies mag darauf zurückzuführen sein, daß die Neufassung vom bisherigen Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag evolutionär ausgeht492. In der Protokollform manifestiert sich jedoch eine unangemessene Handlungsformreferenz an das konventionelle Völkerrecht493 – unangemessen, da die Europäische Union gerade in diesem Bereich, der die Konstitutionalisierung ihrer selbständigen Regelungsbefugnisse betrifft, spezifisch völkerrechtsdifferente und staatsähnliche Züge trägt. Die Protokollform dürfte auch weitere, fortentwikkelte Prozeduralisierungsvorschläge kaum erleichtern: Da das Protokoll die Rechtsnatur des Vertrags teilt, dem es hinzugefügt ist494, und daher den gleichen Änderungsvorschriften unterliegt, ist die Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips durch bloße Protokolländerung nicht leichter möglich als eine

491

Ähnlich Pernice, Verfassung der Europäischen Union. Bemerkungen zu den Artikel-Entwürfen des Präsidiums des Verfassungskonvents, WHI-Paper 3/03, www.whiberlin.de/verfassung-1.htm, S. 6. 492 Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Dok. CONV 286/02, S. 4. 493 Ebenso Pernice (Fn. 491), S. 6. 494 Pechstein, Die Bedeutung von Protokollerklärungen zu Rechtsakten der EG, EuR 1990, S. 249 ff.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Verfassungsänderung selbst. Zu fordern wäre hier statt dessen eine unmittelbare Eingliederung in den Verfassungstext. Abgesehen von diesem Punkt sind viele der enthaltenen Vorschläge geeignet, zu einer Verbesserung des subsidiären Regelungscharakters der Unionsrechtsakte beizutragen. Das Subsidiaritätsprotokoll zielt insgesamt auf eine verbesserte Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips495 und wirkt damit auf eine Stärkung seiner Bedeutung für die Rechtsetzungspraxis hin. Die Anhörungsrechte sichern informell eine zweckmäßige Abstimmung der divergenten Organvorstellungen auf nationaler und supranationaler Ebene und dürften einen gewissen Beitrag zur Verbesserung des Organgefüges leisten. Nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ sind sie Bestandteil eines „Frühwarnsystems“ und gewährleisten eine Vergewisserung über die mit dem geplanten Rechtsakt verbundenen Auswirkungen in einem möglichst frühen Stadium496. Zweckmäßig und prinzipiengerecht erscheint weiterhin, daß die Position der nationalen Organe, insbesondere der Nationalparlamente, auf konsultative Rechte beschränkt bleibt, und lediglich gem. Nr. 6 des Protokolls die Möglichkeit besteht, mit qualifizierten Mehrheiten eine erneute Überprüfung durch die Kommission ohne Bindungswirkung herbeizuführen. Weitergehende Vorschläge, etwa zur Einsetzung eines Parlamentarischen Subsidiaritätsausschusses497 oder direkte Klagerechte der Nationalparlamente, haben sich damit nicht durchsetzen können. Das entspricht der oben artikulierten Skepsis gegenüber unmittelbarer Gestaltungsbefugnis der Nationalparlamente im supranationalen Kontext. Die im Subsidiaritätsprotokoll kodifizierten Regelungen haben den Charakter eines angemessenen und ausgewogenen Kompromisses zwischen den gegenläufigen Interessen. Der Stellung des Parlaments als Organ der Mitgliedstaaten und als Funktionsträger ohne eigenständige Rechtssubjektivität wird durch ein Klagerecht besser Rechnung getragen, das die Mitgliedstaaten – wenn auch im Innenverhältnis durch eine Initiative der Nationalparlamente 495

Vgl. die Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Dok. CONV 286/02, S. 2: „…hält die Gruppe weitere Verbesserungen sowohl in bezug auf die Anwendung als auch in bezug auf die Überwachung des Prinzips für möglich.“ [Hervorhebung von mir]; auch Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 225. 496 Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Dok. CONV 286/02, S. 4: „Nach Auffassung der Gruppe kann das Subsidiaritätsprinzip umso besser angewendet werden, je früher ihm im Verlauf des Rechtsetzungsprozesses Rechnung getragen wird.“ 497 Gefordert etwa von Pernice, Der Parlamentarische Subsidiaritätsausschuß, WHIPaper 11/02, www.whi-berlin.de/pernice-psa.htm.

V. Bewertung der Verfassungsvorschläge des Konvents

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motiviert – wahrzunehmen haben. Eine eigenständige Postulationsfähigkeit vor dem EuGH ginge demgegenüber mit weiterer Intransparenz einher, weil hierdurch Abgrenzungsprobleme hinsichtlich der Klagebefugnis von Nationalparlamenten und Mitgliedstaaten vorgezeichnet wären. Die eingeräumten Mitwirkungsrechte unter gleichzeitiger Festschreibung ihrer Grenzen sind insofern gelungener Ausdruck eines Kompromisses. Die Klarstellung der Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips vor dem EuGH nach Nr. 7 macht sicherlich den Kerngehalt des Protokolls aus498. Sie ist im engen Zusammenhang mit der Begründungspflicht nach Nr. 4 zu sehen. In dieser Begründungspflicht zusätzlich eine Formalisierung der subsidiaritätsbezogenen Darlegungsverpflichtung in Form eines „Subsidiaritätsbogens“ enthalten. Dieses checklistenähnliche Verfahren verpflichtet die Kommission gleichzeitig im Falle der Wahl eines Rahmengesetzes zur Darlegung der erwartbaren Auswirkungen auf die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Rechtsvorschriften. Im Verhältnis zu den bisherigen Begründungen, die sich häufig auf lapidare Erforderlichkeitsfeststellungen beschränken499, läßt dies einen subsidiaritätsbezogenen Transparenzgewinn erwarten. Dies erleichtert nicht nur die Überprüfbarkeit in einem pragmatischen Sinne, sondern es sichert rechtskonstruktiv den methodischen Status des Subsidiaritätsprinzips als unbestimmtem Rechtsbegriff (unter Einschluß insbesondere der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit seiner Einhaltung). Hiernach läßt sich festhalten: Subsidiarität ist unzweifelhaft nicht länger ein Instrument der politischen Selbstverpflichtung im außerrechtlichen Rahmen, sondern ein Verfassungsgebot, über dessen Einhaltung der EuGH wacht. Gleichwohl bleiben Mängel. Die bereits zu Titel V kritisierte Vorgabenlosigkeit in der Ausübung des legislativen Auswahlermessens zwischen Europäischem Gesetz und Europäischem Rahmengesetz wird auch durch das Subsidiaritätsprotokoll nicht korrigiert. Wenn die künftige Verfassung schon keine verbindliche handlungsformdifferenzierende Typisierung vorschreibt, wann die Wahl der Richtlinie, wann die Wahl der Verordnung unter Subsidiaritätsgesichtspunkten geboten erscheint, wäre zumindest die Normierung einer ausdrücklichen Begründungspflicht, weshalb statt des Rahmengesetzes ein Gesetz

498 Schlußfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Dok. CONV 286/02, I. 7), S. 3: „Hingegen sollte die nachträgliche Überwachung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips […] gerichtlicher Art sein.“ 499 Exemplarisch für eine ungenügende Erfüllung der Begründungspflicht etwa der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten vom 4. 5. 1999, Dok. KOM 1999, 220 endg., S. 6.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

gewählt worden ist, ein zweckmäßiger Beitrag, um die möglichst zügige Ausprägung praktischer Grundsätze – und damit mittelbar eine verbesserte Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips auch in diesem Bezug – zu befördern. Hier wäre ein entscheidender Ergänzungsschwerpunkt zu erschließen. Eine weitere wünschenswerte Ergänzung, die unterblieben ist, besteht in der Ausweitung der vorgenannten expliziten Begründungspflicht auch auf Verhältnismäßigkeitserwägungen im Bereich der ausschließlichen Gemeinschaftskompetenzen. Nach den rechtsprinzipiellen Darlegungen zum Subsidiaritätsprinzip erfordert der komplementäre Charakter der supranationalen Union auch in den Kompetenzbereichen, die dieser zur ausschließlichen Wahrnehmung überlassen sind, eine Rechtfertigung ihres konkreten legislativen Tätigwerdens anhand von Balanceerwägungen; andernfalls gerieten die Einzelermächtigungen im Bereich ausschließlicher Kompetenz in die Gefahr, als Blankoermächtigung ohne Rückkopplung an das Verfassungsparadigma instrumentalisiert und fehlgedeutet zu werden. Restriktionsüberlegungen solcher Art sind infolge der Beschränkung des Subsidiaritätsprinzips auf nichtausschließliche Kompetenzen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zuzurechnen; an ihrer rechtsprinzipiellen Notwendigkeit unter dem Gesichtspunkt der Komplementärverfassung ändert diese Einordnung nichts. Positive Erfahrungen mit der Begründungspflicht des Subsidiaritätsprotokolls könnten diesbezüglich möglicherweise mittelfristig eine Ausweitung inspirieren.

VI. Repräsentationstheoretische Vorgaben für den supranationalen Willensbildungsprozeß: Grund und Grenze von Mehrheitsentscheidungen des Rates im Normsetzungsprozeß

1. Unterscheidung von Einzel- und Gesamtrepräsentation als majoritätsprinzipielle Problematik Nach den Ergebnissen des vierten Kapitels stellt sich das Repräsentationsprofil der beiden den Rechtsetzungszusammenhang tragenden Organe Rat und Parlament seinen organisationsinternen Voraussetzungen nach deutlich unterschiedlich dar. Diese bislang entfalteten Strukturprinzipien eines konsequent repräsentativ durchstrukturierten Verfassungszusammenhanges ziehen notwendig auch die Thematisierung nach sich, ob die institutionellen Determinationswirkungen des Repräsentationsprinzips, die bisher dargelegt wurden in bezug auf das Prinzip der Komplementärverfassung (Kapitel 3) sowie auf das hieraus folgende dualistische Organigramm einer komplementär verfaßten Union (Ka-

VI. Repräsentationstheoretische Grenzen für Mehrheitsentscheidungen

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pitel 4), sich auch auf die Willensbildungsregeln innerhalb der dem Repräsentationsprinzip gemäßen Organstruktur auswirken. Konkret steht in Frage, in welchem Verhältnis die Vergegenwärtigungsnotwendigkeit der Normsetzungsadressaten im Normsetzungsprozeß zu der Möglichkeit des Mehrheitsentscheidungsverfahrens steht. Dieses Problem stellt sich grundsätzlich bezogen auf beide Zweige des dualen Repräsentationsgefüges, das bürgerrepräsentierende Parlament und den staatenrepräsentierenden Rat. Während die Problematik in bezug auf die Bürgerrepräsentation jedoch eine unspezifische ist, die sich resultierend aus der strukturellen Vergleichbarkeit von EP und Staatsparlamenten mit der entsprechenden Anwendung der diesbezüglich geltenden staatstheoretischen Prinzipien beantworten läßt500, ist die Möglichkeit, bei der Verabschiedung von Normsetzungsentscheidungen Überstimmungen von Ratsmitgliedern im Willensbildungsprozeß zuzulassen, in spezifischer, gewissermaßen originär supranationaler Weise problematisch. Der staatenrepräsentierende Rat ist ein Kollegialorgan, dem kein gesamtrepräsentatives Konzept zugrunde liegt, sondern in dem die distributive Einzelrepräsentation der Mitgliedstaaten durch ihre jeweiligen Regierungsvertreter, bildlich gesprochen „am Verhandlungstisch“, stattfindet501. Die das Mehrheitsprinzip legitimierenden Erwägungen sind jedoch an einer parlamentarischen Willensbildungssituation orientiert und auf sie zugeschnitten. Dieser Befund steht in Kontrast zu der vorherrschenden europarechtlichen und -politischen Betrachtung, die in der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen zwingende Notwendigkeiten, integrationspolitischen Fortschritt oder zumindest einen der Erweiterung des Kreises der Mitgliedstaaten geschuldeten institutionellen Reformbestandteil erkennen will502 und bereits in dieser – in Teilen berechtigten – Reformanalyse die Legitimation erweiterter Mehrheitsentscheidung erblickt. Er ist daher in besonderem Maße erläuterungsbedürftig. 500 Vgl. zum Verhältnis des Mehrheitsentscheidungsverfahrens zum Demokratieprinzip einerseits sowie zum Repräsentationsprinzip andererseits Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 ff. 501 502

Dazu sogleich unten, 3.

So für die Bundesregierung etwa Bury, Entwicklung und Kernpunkte der Europäischen Verfassung aus Sicher der Bundesregierung, Vortrag vor dem Jean-Monnet-Haus für Europäische Politik Berlin vom 12. Mai 2003; vgl. auch Bull. BReg. 49/1999, S. 509 ff., Rdnr. 53. Für eine generelle Einführung des Mehrheitsprinzips auch Bieber, Demokratie und Entscheidungsfähigkeit in der künftigen Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Systemwandel in Europa: Demokratie, Subsidiarität, Differenzierung, S. 11 ff., 25: Einstimmigkeit sollte in allen Institutionen aufgegeben werden, da sie effizienzwidrig sei; vgl. auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 683, m.w.N. Kritisch hingegen Hecker, Souveränitätswahrung durch Einstimmigkeit im Rat – Der Conseil Constitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, JZ 1998, S. 938-943.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Die mögliche Reichweite der Mehrheitsregel im Rat steht mit im Zentrum der gegenwärtigen Verfassungsfragen. Ihre rechtsprinzipiell überzeugende Grund- und Grenzbestimmung ist ein Probierstein des gesamten Komplementärparadigmas des europäischen Verfassungsgefüges. Mit besonderer Deutlichkeit haben in der Vergangenheit die Kompromisse von Luxemburg und Ioannina, die die Eckpunkte zwischen faktischer Dispensierung einer an sich primärrechtlich verankerten Entscheidungsregel und Adaption bestimmter Quoren an ein praktisches Bedürfnis des Minoritätenschutzes markieren, das Ringen der Europäischen Union um die dauerhafte Etablierung des Mehrheitsprinzips als Entscheidungsregel im Rat illustriert. Gleichzeitig ist die Organisation einer spezifisch auf das europäische Institutionengefüge bezogenen Quorenbildung anhand einer sog. „doppelten Mehrheit“ ein Kernanliegen der Verfassungsreform503. Unter der vorherrschenden Intepretation des Rates als Träger indirekter demokratischer Legitimation ist das als folgerichtige Konstruktionsoption begrüßt worden504; unter dem Blickwinkel des hier zugrunde gelegten rein staatenrepräsentativen Verständnisses seiner Organfunktion dürfte fraglich sein, ob die doppelten Mehrheiten nicht eher als pragmatisch motivierter Kompromiß eines Übergangszustandes zwischen internationalem Recht und Staatlichkeit anzusehen sind. Unzweifelhaft ist jedoch der Grundsatzcharakter der mit konkreten, bevölkerungs- wie staatenbezogenen Gewichtungsoptionen verbundenen Verhältnisbestimmung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten für die Machtbalance im künftigen Europa. Das Scheitern der zunächst unter der italienischen Ratspräsidentschaft vorgesehenen Verabschiedung der neuen Verfassung aufgrund mangelnden Konsenses in dieser Frage dokumentiert die Bedeutung dieser Quorenbildung, aber auch des Mehrheitsprinzips insgesamt mit Nachdruck. Im folgenden ist zu rekapitulieren, daß das Mehrheitsentscheidungsverfahren generell – bereits im individualsubjektiven parlamentarischen Bezug des Repräsentationsprinzips – eine rechtfertigungsbedürftige Entscheidungsmodalität darstellt (2.), zu der sich spezifische Probleme im Zusammenhang mit der Subjektsqualität der zu repräsentierenden Staaten hinzugesellen (3.). Dies führt zu der zu belegenden These, daß das Repräsentationsprinzip der Möglichkeit von Majoritätsvoten im Ministerrat unverfügbare Grenzen setzt, in denen sich die Konstitutionsbedingungen einer von souveränen Staaten getragenen Komplementärordnung wiederum manifestieren. Auf der anderen Seite ist der Evidenz, daß ein ausschließlich auf konsensuales Entscheiden verwiesenes Organ der 503 Vgl. dazu bereits die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Bull. BReg. 49/1999, S. 509, Rdnr. 53; Art. 1 des Amsterdamer Protokolls über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Union, ABl. 1997, Nr. C 340, S. 111. 504

Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 684.

VI. Repräsentationstheoretische Grenzen für Mehrheitsentscheidungen

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Staatenrepräsentation notwendigerweise an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit gelangte505, dadurch Rechnung zu tragen, daß nach Möglichkeiten eines Abgleichs gesucht wird, welcher in Abhängigkeit von einer Abschichtung der Bedeutung der zu regelnden Entscheidungsgegenstände dem Mehrheitsprinzip ausschnittsweise Spielräume eröffnet (4.).

2. Legitimationsstrategien in bezug auf das Mehrheitsprinzip a) Normsetzungsentscheidungen, die ihrem Selbstverständnis nach Manifestationen von Selbstbestimmung sein sollen, entfalten diese Wirkung durch die Rückführung auf den Willen der Adressaten. Maßgebender Gegenstand des Repräsentationsprinzips sind, wie gezeigt, nicht primär pragmatisch motivierte Erleichterungen in der Findung von Willensbildungsresultaten, sondern sein Vermögen zur Herstellung der legitimationstheoretisch gebotenen konstruktiven Identität von Autor und Adressat. Mit diesem Konstruktionsunterfangen geht durch Kür von Repräsentanten ein Moment notwendiger Mediatisierung einher506. Der vorauszusetzende Rückführungszusammenhang ist nach Maßgabe der repräsentationstheoretischen Erwägungen des zweiten Kapitels aus der Unmittelbarkeit des Beschließens von Regeln über sich selbst herausgehoben; der supranationale Verbund mediatisiert den repräsentationstypischen Vermittlungszusammenhang zusätzlich aufgrund seines komplementären Bezugs auf die verfaßte Staatlichkeit. Gleichwohl ist der konstruktive Prototyp von Willensbildungsformen, die Rechtsinstitutionalisierung und individuellen Autonomieanspruch zusammenstimmen lassen, der Konsens. In ihm manifestiert sich die Willentlichkeit der Eingehung von Rechtsbindungen: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt [...] Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller [...] gesetzgebend sein“507.

505 Zur Bedeutung des Problemlösungsvermögens staatlicher Organe als einer dem Demokratieprinzip gegenläufigen Notwendigkeit auch B.-O. Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, 1999, S. 223, 224. 506 Dies ist sogar der Herausbildung eines nicht in Partikularität umschlagenden Allgemeinwillens zuträglich, s.o., Kap. 2, II. 2. c) aa). 507 Kant, MdS, RL, §46, IV, S. 432.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Bereits im Kontext von Demokratie- und Repräsentationsprinzip stellt sich demgegenüber das Mehrheitsprinzip nur begrenzt – entsprechend häufig vorfindlicher Identifikation508 – als ein prinzipienimmanent notwendiger Mitbestandteil des Demokratieprinzips dar509. Im Vordergrund steht vielmehr, daß das Mehrheitsprinzip als bloßes „formales Mittel“ der Ergebnisproduktion510 einen rechtfertigungsbedürftigen Kompromißcharakter511 in bezug auf diejenigen Prinzipienanforderungen offenbart, die eine Konsensorientierung fordern und denen gegenüber sich mit ihm die Notwendigkeit praktischer Entscheidungsfindung durchsetzt. Dies gilt trotz einer scheinbar notwendigen Verbundenheit von Repräsentationsprinzip und Mehrheitsentscheidung – kommt doch dem Repräsentationsprinzip demokratietheoretisch auch der Status einer Alternative zu identitär-direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten zu, die kontrastierend zu direkter individueller Einbringung in den Willensbildungsprozeß512 geradezu zwangsläufig die Mediatisierung des individuellen Willens durch kollektive Zurechnungseinheiten zu implizieren scheint. Dies bedeutet jedoch nicht, daß gegenüber der Alternative der Konsensentscheidung mit dem Mehrheitsprinzip ein repräsentationstheoretischer Vorzug verbunden wäre. Scheinen dem Mehrheitsprinzip prima facie repräsentationsaffirmative Elemente inhärent zu sein513, so wird in Wahrheit vom Mehrheitsprinzip eine repräsentative Zurechnungsstruktur vorausgesetzt, die subjektstheoretisch Gewähr dafür bietet, daß sich in der Durchsetzung des Mehrheitsvotums nicht schlichte Dominanz zahlenmäßiger Übermacht514, sondern Freiheitsherrschaft affirmiert: Es ist insofern nicht das Mehrheitsprinzip, das der Repräsentativität von Willensbildungsprozessen dient, sondern es ist umgekehrt die rechtsprinzipielle 508

Kritisch dagegen etwa Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 13: keiner bestimmten Staatsform zugeordnetes „formales Mittel“. 509 Str.; a. A. Böckenförde, HdBStR Bd. 1, § 22, Rdnr. 52: „immanentes Strukturprinzip“; treffende Kritik hieran von Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 f., m.w.N. 510 So treffend Scheuner (Fn. 508), S. 19, 47. 511 s.u.; dazu insbesondere auch Scheuner (Fn. 508); Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 f.; auch Madison/Hamilton, The Federalist, Ed. Jacob E. Cooke, Middletown 1961, S. 351, Brief v. 6. 2. 1788: „wenn eine Mehrheit sich zu einem gemeinsamen Interesse verbündet, dann werden die Rechte der Minderheit unsicher“. 512 So Scheuner (Fn. 508), S. 12, unter Verweis auf die Gegenposition von Rousseau; zum kritischen Verhältnis der Demokratietheorie gegenüber Repräsentativsystemen ders., S. 7. 513 Vgl. Scheuner (Fn. 508), S. 8. 514 Die überkommenen, legitimationstheoretisch weder überzeugenden noch auch nur suggestiven Rechtfertigungsfiguren, die auf der Gleichsetzung von „maior et sanior pars“ beruhen, können deshalb im Rahmen einer freiheitsorientierten Grundlegung repräsentationskonformer Mehrheitsherrschaft außer Betracht bleiben.

VI. Repräsentationstheoretische Grenzen für Mehrheitsentscheidungen

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Rückführung des Mehrheitsprinzips auf einen repräsentationstheoretischen Ansatzpunkt, von dem seine Rechtfertigung abhängt. Das Mehrheitsentscheidungsverfahren ist mit den eine Rechtsordnung konstituierenden Strukturprinzipien, auf die es sich bezieht, nicht gleichursprünglich; es „setzt eine vorbestehende Ordnung voraus“515. Das vorgängige Prinzipiengefüge, auf das das Mehrheitsprinzip sich bezieht, ist die unter den Rechtsadressaten vorauszusetzende gemeinsame Verbundenheit zu einer Rechtsordnung: sich unter Bedingungen gleicher Rechtssubjektivität und reziproker Gültigkeit des distributiven Institutionalisierungsinteresses einer gemeinsamen Verrechtlichungsstrategie zu überantworten516 und aus deren immanenten Notwendigkeiten heraus auf Vereinfachungen gegenüber dem Konsensprinzip angewiesen zu sein517. Das ist weithin anerkannt: Nach Habermas verkörpert der „Notbehelf“ Mehrheitsentscheidung einen Kompromiß zwischen Entscheidungsnotwendigkeit und anzustrebendem Konsens angesichts der notwendigen Endlichkeit der der Normsetzungsentscheidung vorausgehenden Diskurse518. Alle neueren Abhandlungen zum Prinzip des Mehrheitsentscheides heben den Kompromißcharakter mit mehr oder weniger deutlichen Akzentabweichungen im einzelnen, im Ergebnis jedoch vergleichbar, hervor519. Die aus diesem Zusammenhang resultierenden unverfügbaren Vorgaben gegenüber dem Mehrheitsprinzip sind erheblich: Sie erfordern eine Entscheidungssituation, bei der die unverfügbare Gleichheit der Entscheidungskonstituenten in ihrer individuellen Freiheit in der Änderbarkeit der Mehrheitsverhält-

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Scheuner (Fn. 508), S. 54. Das ist der rechtsprinzipielle Kontext, in dem das Mehrheitsprinzip bei allen Grundlegungen steht, vgl. Kant, Locke, Rousseau, Habermas. Besonders klar bringt diesen von ihm sog. prozeduralen Aspekt des Mehrheitsprinzips auch Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 87 f., zur Geltung: Grundlage des Mehrheitsprinzips sei die einerseits die Einsicht in die Notwendigkeit der Entscheidung in der Zeit, andererseits die Anerkennung sowohl von Mehrheit als auch Minderheit, daß die Konsentierung in das Mehrheitsentscheidungsverfahrens die Bedingung der Möglichkeit zur Durchsetzung des eigenen Rechtsstandpunktes darstelle. 517 Daß Verrechtlichung, verstanden als normatives Entscheidungsfindungsprogramm, nicht konsensual erfolgen kann, ist offenkundig, vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 85: fließende Gesellschaftsordnung, wenn nicht überhaupt keine. 518 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2. Aufl., 1990, S. 42; ders., Faktizität und Geltung, 1992, S. 220 f., 254 f., 369, 613 f. ebenso Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 f. 519 Jörg P. Müller, Demokratische Gerechtgkeit, 1993, S. 149 ff.; Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, S. 9 ff., 15 ff.; Scheuner (Fn. 508), S. 46 ff. 516

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nisse eine Entsprechung findet520, die beteiligten legitim divergenten Interessen also eine gleiche Chance auf Manifestation im Normsetzungsergebnis haben. Außerdem steht die Anwendung des Mehrheitsprinzips unter der Voraussetzung, daß die abstrakten zurechnungstheoretischen Erwägungen, die das Mehrheitsprinzip tragen, sich auch in concreto wiederfinden. Der Bezug des Mehrheitsprinzips auf den Repräsentationsgedanken impliziert, daß das Mehrheitsvotum als notwendig unvollkommene Annäherung an den Allgemeinwillen akzeptiert werden könne, und setzt deshalb voraus, daß sich diese Konstruktionshypothese auch in Form einer aktuellen Akzeptabilität konkreter Mehrheitsentscheidungen für die dissentierende Minderheit einlöst521. Nur dann ist es gerechtfertigt, die Gesamtheit der Entscheidungsbeteiligten als Autor der getroffenen Entscheidung anzusehen. Erweist sich demgegenüber, daß die Mehrheitsentscheidung den gesellschaftlichen Grundkonsens nicht abbildet, so stellt dies Legitimation einer die Allgemeinheit repräsentierenden Mehrheit in Frage. Dieser Repräsentationsbezug kann es auch latent erforderlich machen, für fundamentalere Entscheidungen auf eine breitere, tendenziell konsensangenäherte Willensbildungsform bis hin zur tatsächlichen Einstimmigkeit zurückzugreifen522. Damit die Herrschaft der Mehrheit aus diesen Bezügen nicht ausbricht und sich als despotische Vereinseitigung partikularer Interessen erweist, ist die korrespondierende Sicherung von Minderheiteninteressen erforderlich. Schließlich ist das Mehrheitsprinzip aber auch insofern subsidiär, als es abhängt von einem Grundkonsens über die Anwendung von Mehrheitsentscheidungen als solchem523: Ohne die Rückführung der Geltung von Mehrheitsentscheidungen auf den freien Willen auch der dissentierenden Minderheit wäre Mehrheitsherrschaft bloße Heteronomie, nicht aber eine Willensbildungsform in einem freiheitsorientierten Kontext. Bereits aus diesen Voraussetzungen wird deutlich: Nicht für sich genommen, sondern nur repräsentationstheoretisch angereichert im Kontext einer freiheitsgegründeten Rechtsprinzipienordnung hat das Mehrheitsprinzip einen repräsentationsbekräftigenden Inhalt. Danach sind all jene Begründungansätze als legi520 Scheuner (Fn. 508), S. 58 und Böckenförde, HdBStR Band 1, §22, Rdnr. 52 sehen diese Aspekte sogar als zentrales Element der Legitimationsbegründung des Mehrheitsprinzips an. 521 Jörg P. Müller (Fn. 519), S. 150 f. 522 Grundlegend dazu bereits Rousseau, Contrat Social, S. 117 (zitiert nach Jörg P. Müller), 4. Buch, 2. Kap., Von den Abstimmungen; vgl. hierzu auch Jörg P. Müller (Fn. 519), S. 150. 523 Dazu sogl. unten, in bezug auf Locke; legitimationstheoretisch grundlegend hierfür Kant: „Das Interesse vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen“.

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timationstheoretisch ungenügend zurückzuweisen, die eine rechtsprinzipielle Verknüpfung von Repräsentation und Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung nicht auszuweisen vermögen, sondern sich mit Effektivitäts- oder bloß faktischen Machtargumentationen begnügen. b) Abseits von staatstheoretischen Betrachtungen, die sich aus dem Bewußtsein der Selbstverständlichkeit, mit der das Mehrheitsprinzip zu den überkommenen Formkategorien des Demokratieprinzips zählt, auf seine Darstellung als Ausfluß dieses Staatsstrukturprinzips beschränken524, lassen sich in der demokratie- wie staatstheoretischen Diskussion im wesentlichen drei wiederkehrende unterschiedliche Rechtfertigungsmodelle des Mehrheitsprinzips unterscheiden. aa) Gemeinsames Kennzeichen eines dieser Modelle ist die Überzeugung, daß das Mehrheitsprinzip als Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit zu treffender Entscheidungen gelten könne. Eine eher faktisch orientierte Spielart dieses Argumentationsansatzes läßt sich Lockes Zweiter Abhandlung über die Regierung entnehmen525, der an dieser Stelle526 auf die faktische Überlegenheit der größeren Zahl abstellt und eine quasi empirische Notwendigkeit zu unterstellen scheint, das Gemeinwesen müsse sich dem Druck der größeren Zahl in seinen Normsetzungsentscheidungen beugen. Verbunden mit der Annahme, die Mehrheit habe aufgrund dieser Überlegenheit Recht, ergibt sich aus der faktischen zahlenmäßigen Präponderanz auch die normative Implikation von Mehrheitsrationalität527. Eine abgeschwächte, jedoch wiederum normativ orientierte Lesart des Rationalitätsarguments basiert auf der Annahme, daß mit Mehrheitsentscheidungen zumindest eine erhöhte Vermeidewahrscheinlichkeit gegenüber Fehlentscheidungen einhergehe528: In der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen dokumentiere sich die Vermutung, daß die überwiegende Zahl der Rechtsunterworfenen im statistischen Mittel eher Recht denn Unrecht habe.

524 Etwa Böckenförde, HdBStR, § 22, Rdnr. 52: Das Mehrheitsprinzip sei dem Demokratieprinzip gegenüber nicht bloß ein Notbehelf, sondern strukturangemessen. Auch Böckenförde thematisiert jedoch die Rechtfertigungsmodelle des Mehrheitsentscheidungsprinzips implizit unter dem Aspekt seiner „inneren Grenzen“. 525 Locke, Second Treatise Of Government, § 96. 526 Anders – normativ weiterführender – seine Rückführung auf das Prinzip des Grundkonsenses, vgl. dazu sogleich. 527 Hiergegen zu Recht kritisch Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S. 329 ff., 338 ff. 528 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 175 ff., rückbezieht auch diesen argumentativen Teilaspekt auf den Grundkonsens als Bedingung für Mehrheitsentscheidung.

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bb) Die maßgeblich ebenfalls von Locke geprägte konsenstheoretische Rechtfertigung von Mehrheitsentscheidungen knüpft deren Legitimität an den ihr notwendig zugrunde liegenden Grundkonsens darüber, daß mehrheitlich soll entschieden werden können. Der normative Gehalt dieses Rechtfertigungsmodells geht über eine Instrumentalisierung des bekannten vertragstheoretischen Grundsatzes volenti non fit iniuria hinaus. Mit ihm geht die Einordnung von Mehrheitsprinzip und Grundkonsens in den allgemeineren Kontext von Verrechtlichung überhaupt einher: In der Übereinstimmung über die Institutionalisierung einer gemeinsamen neutralen Rechtsherrschaftsinstanz ist der Konsens über die Notwendigkeit einer kollektiven Entscheidung, in dieser aber auch das Einvernehmen darüber enthalten529, daß die praktische Konkordanz zwischen der Anforderung autonomiekonformer Rechtsinstitutionalisierung einerseits und praktischer Konsensunmöglichkeit andererseits nur in der – zeitlich begrenzten und reversiblen – Mandatierung der Repräsentanten durch die Mehrheit erfolgen könne. Negativ klingt diese Notwendigkeit in der neuzeitlich weit zurückverfolgbaren Ablehnung einer Minderheitsdespotie an, die dieser bei fehlender Mehrheitseinigung durch ein faktisches Universalveto zufiele530. Dadurch erweist sich das Mehrheitsprinzip als gleichsam immanenter Mitbestandteil des Grundkonsenses über die Notwendigkeit von Recht überhaupt. Schließlich kann auch aus der Alternativlosigkeit531 bzw. praktischen Unausweichlichkeit der Mehrheitsentscheidung als solcher für ein funktionierendes republikanisches Gemeinwesen die maßgebende Legitimierungswirkung hergeleitet werden. In einer vergleichsweise unbekümmerten, vorverständnisorientierten Lesart artikuliert dies die Frage „was sonst?“532; während in einer fortentwickelteren Version derselben methodischen Einordung hiermit der apagogische Nachweis der Unausweichlichkeit von Mehrheitsentscheidungen verbunden ist, soll nicht die rechtsprinzipielle Notwendigkeit monopolisierter Rechtsherrschaft scheitern und das Gemeinwesen entweder der Anarchie (bei gänzlich fehlender Willensbildung) oder der Despotie (bei Herrschaft einer wie immer legitimierten Minderheit) anheimfallen533.

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Jörg P. Müller (Fn. 519), S. 150. Franziskus De Vitoria, Relectio de potestate civili, Nr. 14; vgl. dazu auch Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 89. 531 Hierzu insbesondere Heinz Josef Varain, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1984), S. 239 ff.; Adolph Trendelenburg, Über die Methode bei Abstimmungen, Leipzig 1871, S. 24 ff. 532 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 175 ff. 533 Hasso Hofmann (Fn. 530), S. 88; auch Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, S. 12 ff. 530

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c) Keiner der Argumentationsansätze ist auf der Grundlage einer freiheitlichen, repräsentationsorientierten Lesart in der Weise tragfähig, daß er dem Mehrheitsprinzip zu einem eigenständigen, kontextunabhängigien Legitimationsprofil verhülfe. Das Ungenügen empiristischer oder pragmatischer Ansätze angesichts der nicht überwindbaren Utilitarismuskritik wurde bereits zuvor artikuliert. Auch gegen ein dezidiert rationalitätsorientiertes Mehrheitsverständnis liegen Kritikpunkte auf der Hand: Entgegen der mittelalterlichen Gleichsetzung der maior pars mit der sanior pars534 erweist sich das Mehrheitsprinzip in seiner modernen demokratieprinzipiellen Einordnung nicht nur wertmäßig indifferent gegenüber dem materialen Gehalt derjenigen Normsetzungsentscheidungen, denen durch seine Geltung zur Annahme verholfen wird535. Es ist auch mit den von ihm vorausgesetzten Prämissen von Gleichheit und Freiheitsreziprozität antiexpertokratisch; in seinen pluralistischen Prämissen manifestiert sich relativierende Mäßigung gegenüber einem an die zu treffende Entscheidung herangetragenen Wahrheitsanspruch536. Der Determinismus einer einzig richtigen Normsetzungsentscheidung verträgt sich weder mit der Komplexität zu berücksichtigender, entscheidungsrelevanter Faktoren in einem demokratischen Gemeinwesen noch mit dem Anliegen eines durch plurale Offenheit verbürgten Interessenausgleichs537. Nicht die Richtigkeit mehrheitlich getroffener Entscheidungen, sondern der aus dem äquivalenten Ausgangsinteresse motivierte Konsens über die Unterordnung unter eine ggf. dem eigenen Willen in concreto zuwiderlaufende Mehrheitsauffassung erweist sich danach als normative Quelle der Anerkennungswürdigkeit von Mehrheitsentscheidungen. Nicht Wahrheit, sondern Willentlichkeit ist die Kategorie, der die zentrale Bedeutung zukommt. Diese Voraussetzung läßt als unzweifelhaft vorangestellt, daß mit der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen, mit der Unterordnung der zukünftigen Minderheit unter den Willen einer potentiellen Mehrheit, eine Preisgabe ursprünglicher individuell-selbstbestimmender Entscheidungsmacht einhergeht538. Sowohl die Delegation individueller Selbstbestimmung an ein Reprä534

Kritisch dazu Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 88. Deutlich Jörg P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, S. 152: Das Mehrheitsprinzip lasse sich aus Praktikabilitätsgründen rechtfertigen, bürge aber nicht für das Richtige. 536 Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 55 ff.; Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, S. 9 ff. 537 Scheuner (Fn. 536), S. 58. 538 Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, S. 12. Das kantische Diktum (Kant, MdS, RL, § 47, IV, S. 434) die unter einem contractus originarius sich der objektiven Letztverbindlichkeit einer Rechtsinstanz überantwortenden Individuen seien ebenso frei wie zuvor (Alle geben „ihre äußere Freiheit auf[...], um sie 535

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sentativorgan als auch die Einwilligung in die Geltung von Mehrheitsregeln haben darin den Charakter von Tauschvorgängen, durch die die Unmittelbarkeit der Selbstbestimmung, die in den sich überschneidenden Interessen anderer ihre faktische Grenze finden, gegen die institutionalisierte, mittelbare, jedoch allgemeingültige Selbstbestimmung in organisierter und institutionalisierter Form eingetauscht wird. Auch die konsenstheoretische Rechtfertigung kann das Prinzip der Mehrheitsentscheidung zwar in einen legitimatorisch bedeutenderen Kontext stellen, ohne ihm jedoch dadurch zu einer Eigenständigkeit zu verhelfen, die es aus der Abhängigkeit von Konsens und Willentlichkeit befreit. Aus vorgenanntem folgt deshalb: Mehrheitsentscheidungen sind bereits in individualsubjektiver Perspektive mit einer konsensgegründeten Entscheidung nicht gleichwertig, sondern gegenüber erzielbaren Konsensen legitimationstheoretisch subsidiär. Sie sind als „Notbehelfe“539 in apagogischer Unausweichlichkeit legitim, wo sie sich auf einen Ausgangskonsens über die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel gründen können und condicio sine qua non für die unverzichtbare Aufgabe der Rechtsetzung sind.

3. Spezifische Unterschiedlichkeit von individueller und staatlicher Selbstbestimmung Während sich die individualsubjektiven Aussagegehalte von Repräsentationsprinzip und Republikanismus in bezug auf Grenzen der Mehrheitsherrschaft tendenziell in einem Optimierungsgebot erschöpfen (soviel Einstimmigkeit wie möglich, soviel Mehrheitsentscheidung wie nötig540), geht die staatenbezogene Ausprägung des Repräsentationsgedankens in ihren Aussagegehalten darüber hinaus und weist damit die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung weiter ausgreifend in ihre Schranken. Hiergegen lassen sich die intergrationsfinalen Erwägungen zugunsten der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf-

als Glieder des gemeinen Wesens [...] sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: [...] der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen Freiheit einem Zwecke aufgeopfert...“), kann deshalb nur als Resultat der transzendental-idealistischen Ich-Verdoppelung (Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 240 f.; vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 28) Gültigkeit beanspruchen, läßt aber den Umstand unangetastet, daß es sich hierbei um einen Tausch (und damit gerade um keine identische Freiheit) handelt. 539 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2000, S. 42; ders., Faktizität und Geltung, 1992, S. 220 ff., 254 f, 369, 613 f. 540 Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HdB VerfR, § 12, Rdnr. 75 f. m.w.N.

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grund ihrer abgestuften argumentationshierarchischen Bedeutung bloß instrumentaler Natur nicht einwenden: Ist es repräsentationstheoretisch fragwürdig, mit Mehrheit zu entscheiden, so besagt der Einwand der Zweckmäßigkeit solcher Entscheidungsfindungsregeln für einen vorauszusetzenden wünschenswerten Integrationsverlauf hiergegen nichts. Die postulierte genuin supranationale Legitimitätsproblematik des Mehrheitsprinzips hängt mit mehreren Aspekten zusammen, die ihren gemeinsamen Bestimmungsgrund letztlich im Wesen staatlicher Rechtssubjektivität gegenüber individualsubjektiven Kontexten finden. Sie führen dazu, daß die den Mehrheitsentscheid rechtfertigenden, oben dargestellten Prämissen auf zu repräsentierende Staaten nur eingeschränkt anwendbar sind. Es ist einerseits für den Staat nicht in gleicher Weise wie für ein Individuum konsensfähig, unter Bedingungen der Universalität und Reziprozität durch das Fremdvotum anderer gattungsgleicher Subjekte eingeschränkt zu werden. Diese Abweichung zum Individuum findet ihre Grundlage in einem von der unterschiedlichen Subjektsqualität ausgehenden ungleichartigen Rationalitätsprofil von Staaten gegenüber der individuellen Rechtsperson. Die auf einem freiheitsgesetzlichen Rechtsbegriff basierende Prämisse unveräußerlicher angeborener Selbstzweckhaftigkeit des Individuums gilt nicht für Staaten als Rechtssubjekte. Staaten sind kein Selbstzweck, sondern institutionelle Zweckschöpfungen zur interpersonalen, im kantischen Sinne peremtorischen Verrechtlichung541. Sie befinden sich damit zu den staatenkonstituierenden Individuen in einem instrumentellen Verhältnis. Die Notwendigkeit der Institutionalisierung von allgemeiner Rechtsherrschaft unter Staaten ist deshalb, wenn auch als Gebot praktischer Vernunft ausweisbar, so doch nicht mit gleicher Unmittelbarkeit wie im individual-intersubjektiven Verhältnis auf Gründe der Freiheit rückführbar. Hinzu kommt, daß auch die motivationale Plausibilität, die den Eintausch „wilder, ungesetzlicher Freiheit“ gegen den Zustand distributiver Rechtesicherung und kollektivierter Selbstherrschaft rechtfertigt, sich auf das internationale Rechtsverhältnis nicht direkt übertragen läßt. Der Staat profitiert zumindest nicht mit gleicher Unmittelbarkeit wie ein Individualsubjekt davon, sich mit anderen unter ein gemeinsames universelles Rechtsregime zu setzen, weil ein solches ihm nicht erst die Bedingungen für ein rationales Dasein gewährleistet (analog dem bürgerlichen Zustand), sondern mit ihm einer abgestuften Notwendigkeit, sich mit anderen Staaten in ein Verrechtlichungsverhältnis zu begeben542, Rechnung getragen wird. Ein zwi541 Kant, MdS, RL, § 45, VI, 313: „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“. 542 Grundlegend hierzu Kant, MdS, RL, § 54, VI, 344: „Die Elemente des Völkerrechts sind: 1) daß Staaten, im äußeren Verhältniß gegen einander betrachtet (wie ge-

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schen Staaten zu schaffendes Rechtsverhältnis steht insofern unter der Voraussetzung (und relativiert dadurch die Notwendigkeit zur zwischenstaatlichen Schaffung eines peremtorischen Rechtsverhältnisses), daß die zwischenstaatlichen Rechtssetzungs- und Willensbildungsformen die den Staat erst konstituierenden Grundprämissen unangetastet lassen543. Insofern setzen alle Formen zwischenstaatlicher Rechtsinstitutionalisierung begrifflich voraus, daß die bestehende, nationalstaatliche Binnenverfaßtheit in den zwischenstaatlichen Verrechtlichungsstrategien aufgehoben ist. Ein in direkter Entsprechung zum individualsubjektiven Rechtsverhältnis angelegter Staaten-Staat internationalen Rechts scheidet namentlich deswegen aus, weil das von diesem beanspruchte superstaatliche Gewaltmonopol in einen unauflöslichen Grundwiderspruch treten müßte zu der Souveränität, die seine „Mitgliedstaaten“ zum Vollzug ihrer Staatlichkeit im Innenverhältnis begriffsnotwendig beanspruchen müssen. Im Widerspruch hierzu konstruierte zwischenstaatliche Rechtszustände führten zu der paradoxen konstruktiven Situation, daß um der zwischenstaatlichen Verrechtlichung willen die Vorteile staatlicher Verfaßtheit im Innenverhältnis, also für die Staatsbürger, preisgegeben würden. Alle supra- oder metastaatlichen Integrationsformen, die von dieser Prämisse abweichen, lösen die vorhandene Staatlichkeit, von der sie ihren Ausgang nehmen und auf der sie vermeintlich aufbauen, auf; sie können – unabhängig von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher staatstranszendierender Verrechtlichungsstrategien – nicht für sich beanspruchen, zwischen- oder überstaatliches Recht in einer mit dem Begriff der Komplementärverfassung vereinbaren Weise zu repräsentieren. Diese Erwägungen greifen jedoch als kritischer Einwand nicht erst gegenüber solchen internationalrechtlichen Organisationsformen, die mit der Etabliesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) daß dieser Zustand […] doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind“. 543 Kant, EF, VIII, 355, 356: Da „aber von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ‚aus diesem Zustande herausgehen zu sollen‘ (weil sie als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind), indessen daß doch die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann: – so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann“. Zur Aktualisierung der kantischen Völkerrechtstheorie auf aktuelle gegenwärtige Rechtsfragen namentlich Höffe, Königliche Völker, 2001, S. 163 ff.; ders., Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 249 ff.; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 212; ders., Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 67 ff.

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rung einer quasistaatlichen Institutionenstruktur in ein offenes Konkurrenzverhältnis zu den Konstituenten eines solchen Integrationsverbundes treten. Vielmehr ist das prinzipielle Spannungsverhältnis von unverfügbarer nationaler Souveränität und hinzunehmender Relativierung derselben in supranationalen Integrationszusammenhängen bereits überall dort latent thematisch, wo den Mitgliedstaaten Willensbildungsformen „zugemutet“ werden, die die von diesen gegenüber ihren Staatsbürgern beanspruchte institutionelle Letztverbindlichkeit in Frage stellen. Diese Grundproblematik wird daher bereits dort aktuell, wo sich Staaten durch die Unterwerfung unter das Fremdvotum einer Staatengemeinschaft der Möglichkeit umfassender Selbstentscheidung latent begeben. Dies ist beim Mehrheitsprinzip im Ministerrat der Fall. Die grundsätzlichen vorgenannten Kategoriedifferenzen zwischen der juridischen Zweckschöpfung des Staates und der normativ-apriorischen Selbstzweckhaftigkeit natürlicher Personen haben Folgeauswirkungen auch auf alle übrigen das Mehrheitsprinzip tragenden Argumentationsaspekte. Die enge Verknüpfung, die zwischen Demokratie und Mehrheitsentscheidungsprinzip besteht544, macht den Transfer des Mehrheitsprinzips auf ein zwischen- oder überstaatliches Gremium zusätzlich problematisch: Die pluralistischen Dimension des Mehrheitsprinzips545 ist gegenüber dem individualsubjektiven Interpersonalitätsverhältnis angemessen, weil sie die Prämisse universeller reziproker Rechtsgleichheit umsetzt in ein Entscheidungsfindungsprogramm, das den individuell je unterschiedlichen Interessenkontexten einen dieser Gleichheit korrespondierenden Erfolgswert in Wahlen und Abstimmungen garantiert. Die individualintersubjektive Rechtsgleichheit unterscheidet sich von der internationalrechtlichen Rechtsgleichheit beteiligter Staaten jedoch fundamental dadurch, daß die Gleichheit von Staaten wesentlich aus ihrer Souveränität, ihrer Unabhängigkeit von externer Willensbeeinflussung, geprägt ist546. Souveränität und Mehrheitsentscheidung sind jedoch nicht in gleicher Weise vereinbar wie individualsubjektive Freiheit und externe Rechtsobligation. Die Kategorien von Demokratie und Pluralismus sind in bezug auf das zwischenstaatliche Rechtsverhältnis nicht nur ungebräuchlich547, sondern auch 544 Auch wenn das Mehrheitsprinzip, wie oben gegen Böckenförde gezeigt worden ist, nicht dem Demokratieprinzip strukturimmanent ist. 545 Dazu – kritisch abgrenzend gegen die Gegenposition Rousseaus – Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 10. 546 So auch grundlegend bereits Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 50. 547 Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 482: „Demokratie hat sich historisch-genetisch im Nationalstaat verwirklicht“. Kritisch dazu Bieber, Demokratie und Entscheidungsfähigkeit in der künftigen Europäischen Union, 1999, S. 13: „außerordentliche Verkürzung des demokratischen Prinzips“.

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offenkundig verfehlt, weil sie zugeschnitten sind auf ein parlamentarischrepräsentatives Institutionengefüge, das sich auf Staaten (und das supranationale Anliegen der Staatenrepräsentation) nicht applizieren läßt. Schließlich aber führen die subjektsbegrifflichen Unterschiede von Staat und Individuum auch dazu, daß sich alle evidenzbezogenen Argumentationsansätze für zwischen- oder überstaatliche Mehrheitsentscheidungen als unanwendbar erweisen. Die Evidenz des „was sonst“-Arguments, die sich aus der Unannehmbarkeit einer aus Verzicht auf Mehrheitsvoten notwendig resultierenden anarchischen oder despotischen Situation speist, beruht auf dem notwendigen Junktim, das zwischen Herrschaftsinstallation und Mehrheitserfordernis im Kontext eines individualsubjektiven Gemeinwesens besteht. Dies gilt nicht für Entscheidungsfindungen zwischen- oder suprastaatlicher Gremien. Bei ihnen geht es nicht um die originäre Installation von Rechtsherrschaft, sondern um die integrative Kollektivierung von Entscheidungen zwischen souveränen Rechtssubjekten innerhalb eines schon vorhandenen Rechtszustandes. Alles, was mit gewisser Zwangsläufigkeit aus der Notwendigkeit hergeleitet werden könnte, dem Demokratieprinzip zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen, mit anderen Worten: Alle vorgenannten apagogischen Erwägungen zum Mehrheitsprinzip, laufen in bezug auf die Rechtfertigung supranationaler Mehrheitsentscheidungen leer. Die von Heun in legitimatorischer Absicht aufgeworfene Frage „Was sonst?“, gemeint zur Veranschaulichung der Evidenz, daß nicht mehrheitsbasierende Willensbildung im individualintersubjektiven Verhältnis entweder zur Tyrannei der Minderheit oder zur Lähmung von Entscheidungen durch ein nicht praktikables Konsensideal führt, greift in bezug auf das im supranationalen Verbund sich ansiedelnde Gremium der Mitgliedstaaten nicht. Die Frage nach Alternativen zur Etablierung von Mehrheitsentscheidungen im zwischenstaatlichen Verhältnis bewirkt nämlich hier nicht ein zwangsläufiges Zusteuern auf anarchische oder despotische Zustände, sondern verweist lediglich auf mögliches Grenzen des supranationalen Integrationsprozesses. Infolgedessen muß der Konkordanzcharakter, der sich in dem Diktum von Habermas vom „Notbehelf“ der Mehrheitsentscheidungen manifestiert, für die Reichweite zwischenstaatlicher Mehrheitsentscheide ein abweichendes Gepräge annehmen: Da die rechtsprinzipielle Gebotenheit der zwischenstaatlichen Verrechtlichungsnotwendigkeit hinter den kategorialen Gründen für das Bestehen von Staaten ohnehin zurückbleibt548, reicht das für das Mehrheitsprinzip streitende apagogische ad-absurdum-Führen verbleibender Alternativen

548 Grundlegend wiederum Kant, EF, VIII, 355, wonach „von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt“.

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nicht hin, um das Überstimmtwerden von Staaten in supranationalen Gremien auch in Fragen zu rechtfertigen, die die Substanz ihrer staatlichen Selbstbestimmung betreffen. Lediglich läßt sich annehmen, daß dort, wo einerseits die staatliche Betroffenheit durch ein überstimmendes Mehrheitsvotum keine substantiellen Gegenstände betrifft, andererseits aber durch den Verzicht auf ein Mehrheitsquorum die Handlungsfähigkeit des supranationalen Integrationsverbunds insgesamt in Frage gestellt würde, vereinzelte Mehrheitsentscheidungen zulässig sein können. Abermals stellt sich damit die unter das Verdikt einer repräsentationsadäquaten Organisations- und Willensbildungsstruktur gestellte Rechtfertigung von Entscheidungsfindungsprozessen als das Resultat einer Konkordanz von Prinzipien dar. Andererseits sind die Auswirkungen einer eventuellen Überstimmung fundamentaler als beim Individuum (in grundlegenden Fragen überstimmt zu werden, stellt die Bedingungen der Verfaßtheit, nämlich die letztgültige Schaffung eines Rechtszustandes für die Staatsbürger als Konstituenten, in Frage). Es ist ein allgemeines Wesensmerkmal der neuzeitlichen Staatsrechtslehre, daß der – kategorische – Zweck staatlichen Daseins, bestehend in der Schaffung eines allgemeinen, reziproken und universalen Rechtszustandes für seine Bürger, mit der Monopolisierung von Letztinstanzlichkeit in der Verantwortung für legislative, exekutive und judikative Entscheidungen beim Staat notwendig einhergeht. Jede Form der Dezentralisierung von originär dem Staat vorbehaltenen Entscheidungsgegenständen – hierunter fällt auch die Delegation auf ein gemeinsames, supranationales Kollegialorgan wie den Rat – impliziert demgegenüber eine Einbuße. Die Bildung doppelter Mehrheiten im oben angesprochenen Sinne erweist sich im Lichte des hier zugrunde gelegten Verfassungs- und Repräsentationsverständnisses als keine über Pragmatismus hinausweisende Konstruktionsoption zur Ausräumung angesprochener Einwände. Die Einbeziehung von Bevölkerungszahlen als Gewichtungskriterium in die Mehrheitsbildung setzt logisch die vorgängige Entscheidung über das „ob“ von Mehrheitsvoten voraus. Bereiche, die dem Mehrheitsprinzip nach dem hier entwickelten Verständnis entzogen sind, werden durch die Abmilderung des von diesem bewirkten Heteronomieeffektes nach Maßgabe kontingenter Bevölkerungsgewichtungen nicht kompensiert. Zudem verwischt das Abstellen auf Bevölkerungszahlen im Kontext der Staatenrepräsentation das jeweils maßgebliche Repräsentationssubjekt in erweist sich darin als paradigmatisch unausgereifte Vermengung von staatenrepräsentativen und individualrepräsentativen Konstruktionsreferenzen. Die Bevölkerungszahlen haben ihren adäquaten Bezugsgegenstand in der Bestimmung des Sitzschlüssels des Europäischen Parlaments, nicht in der Definition von Ratsmehrheiten. Ungeachtet aller Konkretisierungsbedürftigkeit der damit aufgeworfenen Prinzipiendimension läßt sich damit festhalten, daß die Begründung der Zuläs-

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

sigkeit von Mehrheitsvoten in staatenrepräsentierenden Organen anfälliger für Einwände ist als im individualrepräsentierenden Kontext. Konstruktionsansätze, die diese repräsentationstheoretischen Ansätze ernst nehmen, dem Mehrheitsprinzip aber gleichwohl Spielräume einzuräumen bestrebt sind, müssen sich insofern als Ausdruck eines Abgleich zwischen den Notwendigkeiten subjektsadäquater Staatenrepräsentation einerseits und Erlangung notwendiger Handlungsspielräume andererseits begreifen lassen können.

4. Lösungsmöglichkeiten in der Einschränkung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens Die Lösungsmöglichkeiten, die sich für eine dem Repräsentationsbegriff angemessene Umsetzung von Willensbildungsregeln anbieten, können im vorliegenden Rahmen nicht vollständig entwickelt werden. Die Ausweitung des Prinzips der Mehrheitsentscheidung, seine Einführung als Standardmethode ratsinterner Willensbildung bei allen Legislativentscheidungen gehört jedoch zu den zentralen Reformanliegen des derzeit tagenden Verfassungskonvents. Die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungsverfahren reagiert auf essentielle, unbestreitbar mit der Gemeinschaftserweiterung einhergehende Praktikabilitätsprobleme. Daß sie sich versteht als Beitrag zur Bewahrung einer ansonsten in ihrem Kern bedrohten Handlungslungsfähigkeit der Europäischen Union, liegt mit einem Teilnehmerkreis von 25 und ggf. mehr Unionsmitgliedstaaten auf der Hand. Die Konsensnotwendigkeit nimmt indes in ihrer dargelegten rechtsprinzipiellen Erforderlichkeit durch das Entstehen essentieller konstruktiver Konsenserzielungsschwierigkeiten nicht ab: Der Repräsentationsbezug und die legitimatorischen Implikationen des Mehrheitsprinzips verhalten sich gleichwohl kritisch zu den bestehenden Ausweitungstendenzen und erfordern de lege ferenda eine Einschränkung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens für grundlegende Gegenstände, die für die betroffenen Staaten substantielle Fragestellungen enthalten. Die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Entscheidungsfähigkeit einer erweiterten Union ohne Rücksicht auf die repräsentationstheoretischen Implikationen hätte jedenfalls eine weitaus weiterreichende Modifikation des Verfassungsgefüges der Europäischen Union zur Folge, als sie auf den ersten Blick darzustellen scheint. Sie würde bei Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen in grundlegenden Fragen die repräsentativen Implikationen der Ratswillensbildung in Frage stellen und damit die auf eine Rückbindung an den Willen der Mitgliedstaaten angewiesene komplementäre Verfassungsstruktur der Europäischen Union aushöhlen, ohne eine faßbare alternative Ordnungsvorstellung an die Stelle zu setzen, und käme damit einer vordergründig den Sachzwängen geschuldeten Aufgabe der gegenwärtigen konkreten europäi-

VI. Repräsentationstheoretische Grenzen für Mehrheitsentscheidungen

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schen Verfassungsidentität gleich. Hierauf kann in einer rechtsprinzipiell angemessenen und überzeugenden Weise nur dadurch reagiert werden, daß die sich stellende kategoriale Problematik, auch mit einem Mitgliederkreis von 25 und mehr beteiligten Rechtssubjekten ernst genommen und als Konkordanzproblem formuliert wird. Erforderlich hierfür erscheint ein sorgfältiges Ausloten von Spielräumen, innerhalb derer die substantielle Einbezogenheit des distributiven Staatenvotums in seiner entwickelten (konsensualen) Form angesichts eines überwiegenden Entscheidungsfindungs- und Problemlösungsdrucks entbehrlich erscheint; für Regelungsgegenstände, die mit einer grundsätzlichen Bedeutung für den staatlichen Selbstbestimmungszusammenhang verbunden sind, wird dies regelmäßig ausgeschlossen sein. Dieser Befund ist im übrigen kein lediglich losgelöst theoretisierender Einwand, sondern dokumentiert sich bereits bislang in der Willensbildungspraxis einer zahlenmäßig kleineren Union: Die Rechtswirklichkeit des supranationalen Willensbildungssystems hat in diesem Punkt die rechtsprinzipiellen Notwendigkeiten eines nicht-majoritären Willensbildungsmodells bisher mit gewisser Berechtigung in der Form manifestiert, daß übergreifende Korrekturmechanismen gegenüber qualifizierten Mehrheitsentscheidungen auch dort vorgesehen waren, wo zwar abstrakt die Mehrheitsentscheidung institutionalisiert, im konkreten Anwendungszusammenhang jedoch eine Konfliktimplikation mit ihrer Anwendung verbunden war. Dieser prinzipielle Hintergrund bildet sich in den außerprimärrechtlichen Kompromissen von der Luxemburger Vereinbarung549 bis über den Kompromiß von Ioannina550 in Reaktion auf eine fortschreitend komplexere Quorenbildung ab. Die praktische Notwendigkeit nichtmajoritärer Entscheidungsformen verweist auf das Ungenügen einer Betrachtung, die Mehrheitsentscheidungen nur in der Perspektive einer Überwindung nationalstaatlicher Empfindlichkeiten auffaßt.

549

Dazu etwa Schweitzer, Die Stellung der Luxemburger Vereinbarung im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Festschrift Armbruster, S. 75 ff.; allgemeiner zur Bedeutung des Mehrheitsverfahrens Dewost, Le vote majoritaire: simple modalité de gestion ou enjeu politique essentiel? In: Capotorti (Hrsg.), Liber Amicorum Pierre Pescatore 1987, S. 167 ff. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 1973, S. 52, betont, daß die Mehrheitsentscheidung ein „hohes Maß an innerer Integration voraussetzt“, dessen Vorliegen in repräsentationstheoretischer Perspektive zumindest zu bezweifeln ist. 550

Trotz Erhöhung der Zahlensätze durch Erweiterung der EU zum 1.1.1995 blieb es diesem Kompromiß zufolge im Rahmen des Art. 205 Abs. 2 EG bei der bisherigen Sperrminorität von 23 Stimmen, falls Mitglieder mit einem Gesamtstimmanteil von 2325 vor der Abstimmung ausdrücklich erklären, sie würden sich dem Ergebnis einer gegen sie gerichteten qualifizierten Mehrheit widersetzen, vgl. ABl. 1994 Nr. C 105, S. 1.

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Kap. 5: Ansätze einer legitimitätsorientierten Kompetenzstruktur

Die pauschale Einführung von Mehrheitsentscheidungen als Regelverfahren reflektiert diese prinzipielle Dimension nicht hinreichend, sondern steht in der Gefahr, auf die mit der politischen Entscheidung zur Erweiterung des Mitgliederkreises einhergehenden grundlegenden konstitutionellen Fragestellungen auf einer Ebene zu reagieren, die als Bewältigungsform vorgängig getroffener politisch konstruktiver Weichenstellungen überfordert erscheint. Dadurch, daß die Europäische Union sich selbst im Wege von Mitgliedererweiterungen an die Grenze der Handlungsfähigkeit bringt, werden die seine Verfassungsidentität tragenden Legitimationsprämissen jedoch nicht zu Dispositionstiteln der politischen Prärogative. Sollte sich erweisen, daß das Integrationsprojekt in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform auf die Majorisierung des Willensbildungsprozesses auch in solchen Feldern zur Aufrechterhaltung seiner Handlungsfähigkeit notwendig angewiesen ist, die nach den hier ausgebreiteten Grundparametern eines rechtsprinzipiellen Konkordanzverhältnisses für Mehrheitsentscheidungen versagt bleiben, so ist es nach der Argumentationsvalidität der in Abgleich zu bringenden Prinzipien nicht zulässig, aus der andernfalls drohenden Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union die resignative Hinnahme der Mehrheitsentscheidung in solchen Feldern zu postulieren. Vielmehr zeigte sich dann, daß das Verfassungsparadigma einer komplementären supranationalen Ordnung mit seiner auf dem gehaltvollen Fortbestand staatlichen Selbstandes aufruhenden Binnenstruktur an seine konstruktiven Grenzen gelangt. Die konstruktionslogisch zwingend aufgeworfene Frage wäre dann, ob alternativ der Weg einer genuinen, Verfassungneugebung eines europäischen Bundesstaates – mit allen seinen konstruktiven Problemimplikationen – gangbar wäre oder – was gegenwärtig wahrscheinlicher erscheint – hierfür die gemeinsamen Kohärenzbedingungen und Identitätsvoraussetzungen noch zu schwach erscheinen. Tertium non datur.

VII. Zusammenfassung 1. Eine zukünftiges Kompetenzverteilungsprofil zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten ist auf Prinzipien angewiesen, die eine Balance reflektieren, anstatt eine einseitige Ermächtigungsperspektive zur Geltung zu bringen. Eine Kompetenzordnung, die das handlungsformabhängige Legitimationsprofil unterschiedlicher Willensbildungsformen für das Gemeinschaftsrecht zur Geltung bringen soll, läßt sich hauptsächlich auf Wesentlichkeitstheorie und Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzipien einer europäischen Komplementärordnung gründen. Voraussetzung hierfür ist ihre justitiable Ausgestaltung in einer Form, die den gemeineuropäischen Gesetzgeber an die Einhaltung von Kompetenzgrenzen bindet, denn hiervon hängt sowohl die konstitutionelle Qualität des Ge-

VII. Zusammenfassung

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meinschaftsrechts als eine an Prinzipien gebundene Komplementärordnung als auch die Umsetzung des Selbstverständnisses als verfassungsstaatsentsprechende Organisationsform rechtspraktisch entscheidend ab. Die Kompetenzfrage ist damit einer Frage der Freiheitlichkeit der Ordnung. Beiden Prinzipien läßt sich ein sowohl hinreichend bestimmter als auch hinreichend justitiabler Gehalt abgewinnen, wobei diese Untersuchung die Frage offenläßt, ob der EuGH das zur Kompetenzjudikatur taugliche Organ darstellt oder de lege ferenda Organalternativen miterwogen werden müssen. 2. Die Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf den gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang beruht auf ihrer verallgemeinerbaren Aussage, daß materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände einer bestimmten Befassungsunmittelbarkeit parlamentarischer bzw. parlamentsentsprechender Willensbildung bedürfen. a) Während dieser Kerngehalt der Wesentlichkeitstheorie im Staatsrecht auf einen Gesetzesvorbehalt hinausläuft, muß sich der supranationale Anwendungsgegenstand auf die dargestellten Unterschiede des unionsspezifischen Handlungsformsystems zum staatsorganisationsrechtlichen Normensystem beziehen und kann deshalb keine unmittelbare Entsprechung zum innerstaatlichen Gesetzesvorbehalt artikulieren. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung artikuliert bereits nach geltendem Recht der EU, daß kein Sekundärrechtsakt ohne primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage auskommt, so daß die Rückführbarkeitsdimension des Vorbehaltes auch ohne Rückgriff auf die konstruktiven Elemente der Wesentlichkeitstheorie auskommt. Einen Vertragsvorbehalt in diesem Begriffsverständnis gibt es bereits. b) Entscheidend ist aber die Frage nach Umfang und Gegenstand eines aus der Wesentlichkeitstheorie abzuleitenden Unmittelbarkeitsvorbehaltes. aa) Als konstruktive Möglichkeit ihrer gemeinschaftsrechtlichen Anwendbarkeit scheidet ein spezifischer Vorbehalt vertragsunmittelbarer Regelung wegen der fehlenden Handhabbarkeit und wegen der eine Überfrachtung verbietenden konstitutionellen Dimension des Vertrages aus. Außerdem würden mit einer solchen Konstruktionsoption bestehende legitime Verselbständigungselemente des supranationalen Willensbildungsprozesses restringiert und die Europäische Union damit ohne Not den konventionellen völkerrechtlichen Erscheinungsformen rückangenähert. bb) Ein Unmittelbarkeitsvorbehalt ist somit auf eine Differenzierung innerhalb des Sekundärrechts angewiesen und muß sich hier auf die Frage beziehen, welchen Umfang an Normsetzungsverantwortlichkeit das Europäische Parlament in den einzelnen zur Verfügung stehenden Willensbildungsformen bekleidet.

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(1) Die Etablierung einer neuen sekundärrechtlichen Willensbildungsform, die das Europäische Parlament de lege ferenda zum alleinigen Rechtsetzungsorgan für bestimmte Regelungsgegenstände machte, würde zwar eine hinreichende Entsprechung von Repräsentation der gemeineuropäischen Identität und Verantwortlichkeit für die Normsetzung begründen, liefe jedoch auf eine vollkommene Entkopplung vom durch den Rat vermittelten Rückbindungszusammenhang an den mitgliedstaatlichen Willen hinaus und widerspräche deshalb dem Wesen der Komplementärverfassung. (2) Eine Differenzierung muß deshalb auch de lege ferenda jedenfalls in der Verfassungsgestalt der Europäischen Union nach gegenwärtigem Zustand zugrunde legen, daß eine substantielle Mitverantwortlichkeit des Rates bei der Normsetzung erhalten bleibt. Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung der sekundärrechtlichen Handlungsformen, die dem Aussagegehalt der Wesentlichkeitstheorie Rechnung tragen, ergeben sich weniger aus der Gegenüberstellung von Richtlinie und Verordnung, sondern aus den einzelnen Willensbildungsformen der zum Erlaß von Richtlinie und Verordnung führenden Verfahren. Hierfür kommt es darauf an, ob dem Parlament gemeinsam mit dem Rat eine koordinative Letztentscheidungsbefugnis zukommt, die es zuläßt, die durch das EP repräsentierten Bürger Europas als (Mit-)Autoren der Sekundärrechtsetzung zu gewinnen. Weil dies allein im Mitentscheidungsverfahren gewährleistet ist, führt die Wesentlichkeitstheorie auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene zu einem Vorbehalt der parlamentarischen Mitentscheidung über materiell gesetzesbedürftige Regelungsgegenstände, und zwar in Gestalt eines Unmittelbarkeitsvorbehaltes, der verbürgt, daß die wesentlichen Entscheidungen durch Rat und Parlament selbst getroffen werden. 3. Während die Hauptfunktion der Wesentlichkeitstheorie darin liegt, die gemeinschaftsrechtsinterne Normenhierarchie an Legitimitätsprinzipien auszurichten, liegt der kategoriale Gehalt des Subsidiaritätsprinzips darin, einem Erstarken des supranationalen Verbundes um seiner selbst willen eine stärkere Rückbindung von Kompetenzausübung an den Zweck seiner Ermächtigung entgegenzusetzen. Das Subsidiaritätsprinzip hat weniger eine auf das innerverbandliche Anforderungsprofil an die Modalitäten der Rechtsetzung zugeschnittene Bedeutung, trägt aber mittelbar dem substantiellen Gehalt des Komplementärprinzips entscheidend Rechnung: Durch eine justitiable Handhabung des Subsidiaritätsprinzips wird eine Verselbständigung des europäischen Willensbildungsprozesses wie eine Delegation von Hoheitsgewalt auf die europäische Ebene um ihrer selbst willen unterbunden. Damit wird der Umstand affirmiert, daß die europäische Ordnung als Ausdruck der Selbsterweiterung fortbestehender Staaten von deren Willen nicht nur genetisch abhängig ist, sondern auf den in ihnen institutionalisierten Zweck der Selbstbestimmung final rückbezo-

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gen ist. Eine nicht subsidiäre Europäische Union würde dafür keine Gewähr bieten. Das Subsidiaritätsprinzip ist aber de lege lata zur Gewährleistung dieses Bestimmungsgrundes nur unvollkommen ausgeprägt. a) Einerseits gilt es nur für ausschließliche Kompetenzen der Europäischen Union und bezieht sich damit auf kategoriale Differenzierungen, die dem Gemeinschaftsrecht nicht immanent ist. Eine entsprechende Typisierung, in welchen Feldern das Konkurrenzverhältnis zwischen staatlichem und gemeinschaftlichem Regelungsanspruch wie aufgelöst wird, könnte neben der selbstreflexiven Klärung des zugrunde liegenden politischen Wollens auch die Gewähr dafür bieten, das Subsidiaritätsprinzip zu effektivieren; hierin hat die Forderung nach einem Kompetenzkatalog, deren Bedeutung im übrigen überschätzt erscheint, eine substantielle Berechtigung. b) Andererseits ist das Anforderungsprofil, wann eine dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Erforderlichkeit gemeineuropäischen Regelungszugriffs gegeben ist, durch die Formulierung in Art. 5 Abs. 2 EG nur unzureichend thematisiert. Sinnvoll zur Behebung dieses Defizits scheint deshalb eine normenhierarchische Differenzierung, die folgendermaßen aussehen könnte: Unionsverfassungsrechtliche Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips (wie bereits im geltenden Recht vorhanden) und bestimmten basalen Grundanforderungen sowie bereichsbezogene Konkretisierungsformeln nach Art von Subsidiaritätschecklisten, durch die justitiabel und für den Rechtsetzungsapparat handhabbar die Kriterien festgeschrieben würden, die erfüllt sein müssen, um dem Subsidiaritätsprinzip Genüge zu tun.

Gesamtzusammenfassung (in Thesen) I. Die Kompetenzstrukturen des supranationalen Mehrebenengefüges im Funktionsbereich der Rechtsetzung sind nur dann angemessen zu erfassen und zu optimieren, wenn man sie strikt auf ein kategorial tragfähiges, in seinen Implikationen und Grenzen bestimmtes Legitimationsverständnis hin rückbezieht und von diesem Begriffsverständnis ausgehend Unverfügbarkeiten der Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten aufzeigt. Das gilt sowohl für die horizontale Kompetenzstruktur, die organisatorische Balance innerhalb der supranationalen Rechtsetzungsebene, als auch für die vertikale Kompetenzverteilung, die das Verhältnis zwischen den beiden Verbänden Staat und Union thematisiert. Trotz der Verflechtung beider Teilmomente steht die Restrukturierung des letzteren Gesichtspunkts im Vordergrund der Überlegungen, die mit der institutionellen Reform des gegenwärtigen Konstitutionalisierungsprozesses verbunden sind. Die Legitimitätsorientierung der vorliegenden Arbeit wird methodisch umgesetzt durch eine handlungsformorientierte Betrachtungsweise. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß die jeweiligen Legislativhandlungsformen des staatsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Kontexts – unter Einschluß der Rechtsform des Vertrags als einer schnittstellenbezogenen Handlungsform – in bezug auf das sie hervorbringende Institutionengefüge und dessen legitimationstheoretisches Profil untersucht und miteinander verglichen werden. Die Legislativhandlungsformen begreifen sich darin als rechtsatzförmige Manifestation eines prozeduralen Legitimationsverständnisses. II. Der Legitimitätsbegriff des Rechts setzt eine Abstraktion von der herrschenden Demokratiefixierung voraus und beruht im Kern darauf, die mit der Etablierung von Recht notwendig verbundene Heteronomie einer Verpflichtungsunterworfenheit der Rechtsadressaten unter ein externes Normgebot mit dem menschenrechtlichen Apriori fortbestehender Freiheit unter dem Rechtsregime argumentativ in Übereinstimmung bringen zu können. Recht ist als Manifestationsform kollektiver und institutionalisierter Selbstbestimmung aufzufassen; dieses Selbstbestimmungspostulat verwirklicht sich in der Ausgestaltung des rechtsetzenden Willensbildungsprozesses. Das Demokratieprinzip artikuliert das im Zentrum der Strukturprinzipien stehende staatsverfassungsrechtliche Teilmoment dieses Legitimitätsverständnisses. Die Bezugnahme der Kompetenzfragestellung auf die Legitimation von Legislativherrschaft geht

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allerdings mit einer Akzentverschiebung vom Demokratieprinzip zum Repräsentationsprinzip einher, die im wesentlichen daraus resultiert, daß das Demokratieprinzip unspezifisch auf die Ableitung aller Ausübung von Staatsgewalt vom Volk bezogen ist. Wesentlich für einen durchgängigen Selbstbestimmungszusammenhang des Rechts, in dem sich sein Freiheitsbezug artikuliert, ist der Aufweis der Normautorisation durch ein Organ, daß die Normadressaten in ihrer – durch die gemeinsame Rechtsunterworfenheit gekennzeichneten – kollektiven Verbundenheit repräsentiert. Mit der für das Repräsentationsprinzip kennzeichnenden Mediatisierung unmittelbarer Willensartikulation durch ein Repräsentationsgremium geht ein Moment der Deempirisierung des Willensbildungsprozesses einher, das die konstruktive Annahme einer Orientierung repräsentativer Willensbildung am Allgemeinwohl erleichtert. Für alle an den Bedingungen der Willensbildung orientierten Legitimitätsverständnisse beansprucht die Prämisse zentrales Gewicht, daß aus der freiheitskonformen Institutionenausgestaltung eine Orientierung der von diesen Institutionen hervorgebrachten Rechtsetzung am Kriterium der rechtsgebietsbezogenen Artikulation des Allgemeinwohls, also der Bedingungen praktischer Freiheit bezogen ist. Der Entsprechungszusammenhang findet seine typische staatsrechtliche Ausgestaltung im Wechselbezug der repräsentativen Organisationsform Parlament mit der Handlungsform des Gesetzes. Untergesetzliche Normen des staatsrechtlichen Zusammenhangs gewährleisten durch die exekutivisch geprägte Institutionenstruktur, aus denen sie hervorgehen, nicht mit gleicher Unmittelbarkeit eine organisatorisch bedingte Autorisation durch die Rechtsadressaten. Allerdings geht mit dem Modell parlamentarischer Willensbildung als Ausgangspunkt und Gravitationszentrum des legitimitätsorientierten Rechtsetzungsverständnisses kein Parlamentsmonismus einher, sondern ein Konzept vernunftschlüssig geteilter Aufgabenwahrnehmung auf dem Gebiet der Rechtsetzung, in dem die Legitimität eigenständiger exekutivischer Rechtsetzungstätigkeit, namentlich in Bereichen technisch-instrumenteller und von Sachverstandsbedürftigkeit geprägter Regelungsanforderungen, einen eigenständigen Verortungsplatz findet und sich die Prärogative der Exekutive für bestimmte Bereiche kraft überlegener Steuerungsfähigkeit einordnen läßt. Kritische Gegenkonzeptionen, die im Modell parlamentarisch-republikanischer Verfaßtheit eine überholte Konzeption aufklärerischen Staats- und Gesetzesverständnisses sehen und statt dessen einen Primat exekutivischer Normsetzungstätigkeit postulieren, beruhen im Kern auf Prämissen, die ein funktionales Rechtsverständnis voraussetzen und damit keine kategorial gleichrangige Prinzipienverankerung des Legitimitätsbegriffs für sich beanspruchen können. III. Zu diesem vorfindlichen Handlungsformsystem der überkommenen Staatsrechtslehre setzt sich das Gemeinschaftsrecht weniger durch eine allgemeine Verhältnisbestimmung in seiner Verbandsqualität als durch eine abge-

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stufte, vom Vertrag ausgehende und sodann die sekundärrechtlichen Handlungsformen als nachrangige Systemelemente in Bezug nehmende Vorgehensweise in Relation. Systemprägende Bedeutung entfaltet der Vertrag als eine an der Schnittstelle zwischen Staatsrecht und zwischenstaatlichem Recht stehende Handlungsform wesentlich über eine Analyse seiner Geltungsbegründung und der hiervon abgeleiteten Bestimmung seiner Funktion im Handlungsformsystem der Europäischen Union. Die beiden herkömmlichen Betrachtungsweisen des Wesens der Vertragsgeltung unterscheiden sich fundamental. Einerseits wird der Geltungsgrund im staatlichen Zustimmungsgesetz verortet und die Gemeinschaftsrechtsordnung konsequent als insgesamt geltungslogisch abhängig vom innerstaatlichen Anwendungsbefehl qualifiziert. Andererseits wird aber die vollkommene geltungslogische Loslösung des Gemeinschaftsrechts von den staatsrechtlichen Wurzeln postuliert und ihre Autonomie behauptet. Beide Elemente bergen ein Moment der Vereinseitigung. Die Autonomiethese vermengt die Kategorien des gemeinschaftsrechtlichen Geltungsvorrangs mit der Frage der Geltungsbegründung; die These der Loslösung hat letztlich bloß axiomatischen Charakter ohne weiteren Begründungsgehalt. Die Rückführung der Vertragsgeltung auf innerstaatliche Zustimmungsgesetze unterbestimmt demgegenüber das normative Wesen des Vertragskonsenses und rekurriert auf ein vom Inkorporationsbegriff instruiertes Geltungsverständnis, mit dem die geltungslogische Pointe allgemeiner, übergeordneter Vertragsgeltung in allen Mitgliedstaaten nicht erklärbar ist. Das Wesen gemeinschaftsrechtlicher Vertragsgeltung ist Staatswillensselbstbindung. Diese Konsensnormativität vollzieht sich im Innenverhältnis nach Maßgabe des staatsverfassungsrechtlich festgeschriebenen Willensbildungsprozesses und in der konstitutiven Mitbeteiligung der nationalen Parlamente in Form des Zustimmungsgesetzes, aber ohne hierauf reduziert zu sein. Das Wesen des Gemeinschaftsrechtsvorrangs – ein Spezifikum der Rechtsordnung als supranationaler – ist letztlich ebenfalls nichts anderes als ein bestimmter, impliziter und vom EuGH auslegungsweise ermittelter Konsensinhalt: Die Vertragsparteien sind durch Konstituierung der Gemeinschaftsrechtsordnung übereingekommen, mit ihrer Etablierung als einheitlich geltender ihr einen Vorrang einzuräumen gegenüber staatlichen Normen. Der so geltungslogisch bestimmte Unionsvertrag stellt sich normhierarchisch wesentlich als besondere, den internationalen Konstitutionsbedingungen angepaßte Verfassungsform dar. Verfassungsparadigma ist die fehlende Staatlichkeit der Europäischen Union de lege lata. Wesentlich für diese Zuordnung ist ein Verfassungsbegriff, der sich weder aus der Reduktion auf funktionale Begriffsgehalte noch aus einer staatsrechtlichen Kontextverengung ergibt, sondern institutionenakzessorisch bezogen ist auf den Ordnungscharakter der

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durch ihn verfaßten Ebene. Er trägt als solcher den Begriff der Komplementärverfassung. Wesentlich für den Begriff der Komplementärverfassung ist der Fortbestand der Mitgliedstaatlichkeit im supranationalen Verbund als primärer Identitätsund Selbstbestimmungszusammenhang. Dieser Fortbestand dokumentiert sich in zwei Ordnungsprinzipien. Einerseits sind für die Komplementärverfassung weder die Bürger noch die Völker Europas direkte Träger des pouvoir constituant, sondern die Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Zurechnungssubjekte der Vertraglichkeit. Sie dominieren damit die Verfassungsebene der Europäischen Union. Die Bürger Europas sind hinsichtlich der verfassunggebenden Gewalt gänzlich durch die Mitgliedstaatlichkeit mediatisiert; durch dieses Konstruktionsverständnis grenzt sich das Verfassungsparadigma der Komplementarität von der Vorstellung eines europäischen Gesellschaftsvertrags ab. Gleichzeitig ist die vertragsförmig erfolgende Ermächtigung zur Sekundärsetzung als Konstitution einer teilselbständigen Ordnung darauf angewiesen, nicht als vertragsförmige Delegation staatlicher Selbstbestimmung und damit letztlich als bloße Selbstentäußerung aufzufassen zu sein. Sie setzt deshalb voraus, daß die sekundärrechtliche Willensbildung durch einen Repräsentationsmechanismus an den Willen der Mitgliedstaaten rückgebunden ist. Die gleiche Rückbindungsnotwendigkeit und damit die Schaffung einer genuin europäischen Repräsentationsinstanz gegenüber den Bürgern Europas als Adressaten ergibt sich aus der direkten Anwendbarkeit der europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung ihnen gegenüber. Indem das Gemeinschaftsrecht die typische formkategoriale Trennung von Staatsrecht und internationalem Recht durch eine supranationale Doppelbezüglichkeit transzendiert, eröffnet es die legitimationsprinzipielle Notwendigkeit einer dualen Legitimationsstruktur. Komplementärverfaßtheit und Repräsentationsdualismus gehen miteinander einher. IV. Die den Legitimationsprämissen der so charakterisierten Ordnungsvorstellung gemäße organisatorische Umsetzung eines dualen Repräsentationsgefüges dient der Schaffung einer adäquaten Institutionenstruktur zur Autorisation des „autonom“ erlassenen Gemeinschaftssekundärrechts. Die Umsetzung dieses rechtsprinzipiellen Anspruchs ist jedoch mit diversen Konstruktionsschwierigkeiten behaftet und geht insbesondere mit einer Modifikation des herkömmlichen Legitimationsverständnisses einher. Auch in dieser Modifikation manifestiert sich zum Teil die Akzentverschiebung von einer demokratieprinzipiellen zu einer repräsentationsprinzipiellen Betrachtung. Die herrschende Auffassung thematisiert sowohl Rat als auch EP unter dem Aspekt der Vermittlung demokratischer Legitimation und differenziert beide nach dem Kriterium der Mittelbarkeit, statt – wie hier zugrunde gelegt – sie aufzufassen als durch einen divergenten Subjektsbezug voneinander unabhängige und unter-

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einander nicht verrechenbare Repräsentationsformen. Diese Auffassung ist demokratietheoretisch unbefriedigend, weil sie kein Relationskriterium angeben kann, wie mittelbare ratsvermittelte und eigenständig unmittelbare supranational-parlamentarische demokratische Legitimation in ein Verhältnis zu setzen sind und worin beide Legitimationsstränge ihre jeweiligen Vorzüge haben. Sie ist aber auch föderalismustheoretisch zumindest erklärungsbedürftig, weil die These einer ratvermittelten demokratischen Legitimation zu dem bundesstaatlichen Konstruktionsverständnis des deutschen Staatsrecht in Kontrast steht. Schließlich ist sie problematisch, weil mit ihr ein Dispens des Gewaltenteilungsprinzips für die supranationale Willensbildung einhergeht und sie zu einer Exekutivlastigkeit ratsvermittelter Legitimation führt. Das vorliegende Verständnis vermeidet diese Widersprüche, indem der Rat als ausschließlich staatenrepräsentierendes Organ bestimmt und insofern als genuine Manifestation komplementärer Verfaßtheit begriffen wird. Kennzeichnend für Staatenrepräsentation ist ein vom Leitbild parlamentarischer Repräsentation wesensverschiedenes Konzept der distributiven Selbstrepräsentation der Staatenvertreter in einem Kollegialzusammenhang. Die Möglichkeit originär-europäischer Individualrepräsentation durch das EP ist konstruktionslogisch noch problematischer. Als reaktive, kompensatorische Form der Individualrepräsentation implziert sie keine Paradigmenverschiebung zu einer europäischen Bundesstaatlichkeit. Das Europäische Parlament fügt sich vielmehr schlüssig in einen Organisationszusammenhang ein, den die offenen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten in ihrer Integrationsfreundlichkeit erlauben; Preisgabe- und Modifikationseffekte gegenüber dem herkömmlich staatsbezogenen Demokratieverständnis schließen die Parlamentarisierung nicht aus. Auch souveränitätstheoretische Bedenken gegenüber der supranationalen Parlamentarisierung greifen hiergegen nicht durch. Sie erweisen sich wesentlich als Resultat eines unterbestimmten, auf Negativität reduzierten Souveränitätsparadigmas und sind nicht in der Lage, das Wesen der vertragsförmig konstituierten Gemeinschaftsrechtsordnung als Ausdruck souveräner staatlicher Selbsterweiterung im Erschließen von regulativen Koordinationsstrategien begrifflich angemessen zu erfassen. Die größte Konstruktionsproblematik liegt schließlich jedoch in der Frage nach der durch ein Europäisches Parlament zu repräsentierenden Teilidentität. Trotz der Relativierung staatsrechtsfixierter und dadurch an einem Volksbegriff festhaltender Positionen aus dem Wesen der supranationalen freiheitlichen Selbsterweiterung ist die Frage nach den vorrechtlichen Kohärenzbedingungen, auf die sich ein Europäisches Parlament als Kollektividentität beziehen kann, unvermeidlich. Die vorliegende Konzeption versucht, auf der Grundlage der implizierten Relativität des Begriffs der Identität eine Vorstellung multipler und interferierender Identitäten zu entwickeln, die sich in verschiedenen Teil-

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loyalitäten gegenüber der staatlichen und der supranationalen Teilrechtsordnung manifestiert und auf der Grundlage eines gemeinsamen Wertebestandes, gemeinsamer Rechts- und Freiheitsüberzeugungen, gemeinsamer kultureller Wurzeln und einer europäischen Geschichte die Schicksalsgemeinschaft des europäischen Kontinents dokumentiert. Dieser Identitätsbestand ist nicht auf Konkurrenz, sondern auf Ergänzung der mitgliedstaatlichen Identität angelegt; das europäische Identitätskonzept korrespondiert damit dem Ausmaß und der Qualität des (komplementären) europäischen Rechtsetzungsanspruchs. Auch die organisatorischen Binnenbedingungen europäischen Parlamentarismus – eine je mitgliedstaatlich kontingentierte Abgeordnetenzahl und damit einhergehende Abstriche vom parlamentarismustypischen Erscheinungsbild der Gesamtrepräsentation – dokumentieren ein solches Korrespondenzverhältnis zum Verfassungsparadigma der Komplementarität. Die Grenze einer so konzipierten europäischen Identität als Repräsentationssubstrat wäre – angesichts insbesondere des Vielsprachenregimes als hauptsächlichem zentripetalem Aspekt – allerdings erreicht, wenn das EP als Gesamtrepräsentant einer europäischen Staatsidentität fungieren sollte. Angesichts der Dynamik des Integrationsprozesses ist der Identitätsaspekt jedoch wie kein anderer Rechtsbegriff wandlungsunterworfen, so daß mit der Beschreibung des status quo keine verfassungsprinzipielle Festlegung in die Zukunft verbunden ist. In der dualen Repräsentationsarchitektur des hier zugrunde gelegten Verfassungsverständnisses ist für die vielfach erwogenen Optionen direkter nationalparlamentarischer Partizipation auf europäischer Ebene kein konzeptioneller Raum. Das erscheint allerdings auch rechtsprinzipiell konsequent. Abgesehen davon, daß die Schaffung neuer institutioneller Interaktionsmechanismen in schwer erträglicher Weise transparenzhindernd wären, besteht keine Notwendigkeit, den nationalparlamentarischen Repräsentationszusammenhang in die abweichende Verfassungsidentität des europäischen Komplementärverbundes einzubeziehen; der Willensbildungsprozeß ist auf die Repräsentation der Bürger Europas in ihrer europäischen, nicht aber ihrer nationalen Identität hin angelegt. Nationalparlamentarische Repräsentation im supranationalen Kontext wäre deshalb verfassungsparadigmatisch systemfremd. V. Ob die Legitimationsprämissen, die der komplementär verfaßten Europäischen Union mit ihrer dualen Repräsentationsarchitektur prädiziert wurden, in concreto tragfähig sind, hängt nicht allein von der Institutionenstruktur, sondern wesentlich von der konkreten Organbalance im supranationalen Willensbildungsprozeß und damit von der Kompetenzstruktur zwischen allen Verbands- und Organakteuren ab. Die Konstitution von resultierenden Grundprinzipien eines europäischen Kompetenzkonzepts ist demnach durch diesen Rückbezug ein konkreter konstruktiver Beitrag zum Vermögen des Rechts, als Manifestation organisierter Freiheit begriffen werden zu können.

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Die bisherige Kompetenzstruktur der Europäischen Union zeichnet sich wesentlich durch ein System finaler, an bestimmten Integrationszielen orientierter Querschnittsermächtigungen aus, die von der sachgebietsbezogenen Kompetenztypisierung herkömmlicher bundesstaatlicher Ordnungen konzeptionell unterschieden sind. Trotz der Existenz restringierender, sektoral übergreifender Prinzipien, wie insbesondere dem Subsidiaritätsprinzip, ist die europäische Ordnung noch von keiner bipolaren Konzeption getragen, die auf eine Kompetenzbalance zwischen Union und Mitgliedstaaten abzielte. Organkompetenziell dominiert ein System institutioneller Komplexität und Verflochtenheit von Kommission, Rat und Parlament als Rechtsetzungsakteuren, das die Zuordnung von Verantwortlichkeiten erschwert und die Restrukturierung vor konstruktive Herausforderungen stellt. Überdies sind die Rechtsetzungsverfahren ihrerseits binnendifferenziert in Unterformen, die nach dem Grad der Einbezogenheit des Parlaments abgestuft sind. Eine Restrukturierung setzt eine klarere Interpolation der Verantwortlichkeitsverhältnisse der Repräsentationsorgane und eine legitimatorisch konsistente Zuordnung der Verfahrensformen hierauf hin voraus. Das erfordert keine grundsätzliche Neuformulierung, etwa in Form starrer Kompetenzkataloge bundesstaatlicher Vorbilder, sondern setzt wesentlich die Ausrichtung von Organkompetenz an zwei Verfassungsleitprinzipien voraus. Das die Organkompetenzverteilung ordnende Verfassungsprinzip besteht in einer an der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts als Konstruktionsvorbild orientierten Etablierung einer Vorbehaltsdogmatik. In Ermangelung vorfindlicher Vorbehaltsstrukturen im geltenden Gemeinschaftsrecht, die als Ausgangspunkt einer solchen Hierarchisierung von Sekundärrechtsquellen dienen könnten, besteht eine Konstruktionsmöglichkeit für eine strukturadäquate Applikation der Wesentlichkeitstheorie auf den supranationalen Rechtsetzungszusammenhang nur in der Formulierung eines sekundärrechtsimmanenten Vorbehalts. Grundsätzliche Regelungsgegenstände sind danach unter verantwortlicher Einbeziehung beider Repräsentationsorgane legislativ zu behandeln. Gegenwärtig bietet nur das Verfahren der Mitentscheidung gem. Art. 251 EG für eine solche symmetrische Verantwortlichkeit beider Organe Gewähr. Regelungsgegenstände grundsätzlichen Bedeutungsgehalts setzen demnach eine Zuordnung zum Mitentscheidungsverfahren voraus. Das Kompetenzgleichgewicht zwischen der staatlichen und der supranationalen Ebene ist bereits gegenwärtig durch das Subsidiaritätsprinzip strukturell ausgestaltet, allerdings noch in keiner zureichenden Form. Der kategoriale Verortungspunkt des Subsidiaritätsprinzips ist die rechtspraktische Gewährleistung der mit dem Verfassungsprinzip der Komplementarität einhergehenden Selbstrestriktion der subsidiären Ordnung. Hierdurch grenzt sich seine Verwendung von anderen ideengeschichtlichen Bezügen des Subsidiaritätsprinzips, aber auch pragmatischen Unterbestimmungen ab. Entscheidendster An-

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satzpunkt einer Verbesserung subsidaritätsvermittelter Selbstrestriktion der supranationalen Ebene ist eine Verbesserung des Justitiabilitätsniveaus. Subsidiarität als Verfassungsprinzip ist kein Kriterium politischer Selbstrestriktion; hierauf abzielende konstruktive Vorschläge gehen fälschlich davon aus, daß das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip zur Disposition der an der supranationalen Rechtsetzung beteiligten Organe stünde und ignorieren damit die vorhandene Kategoriendifferenzierung zwischen verfassungsgebender Gewalt und einfachgesetzlicher Rechtsmacht. Abzulehnen sind deshalb alle nichtjuridischen Kontroll- und Einbindungskategorien, solange diese an die Stelle der Überprüfung der Einhaltung durch den EuGH treten. Insbesondere die Einrichtung eines von den nationalen Parlamenten oder dem Ausschuß der Regionen getragenen Subsidiaritätsausschusses ist eine pragmatische, aber nicht kategorial befriedigende Lösungsmöglichkeit, da diesen Organen ebenfalls die Dispositionsbefugnis über das Primärrecht fehlt. Die Frage nach der Eignung des EuGH, als Kompetenzgericht zu fungieren, ist demgegenüber eine nachrangige Fragestellung, zu der – gerade angesichts der neueren Rechtsprechung des EuGH – kein besonderer Anlaß besteht. Ein Vergleich mit der Dogmatik des deutschen Staatsrechts zu föderalen Kompetenzverteilungsprinzipien dokumentiert, daß die Justitiabilität solcher Prinzipien zwar auch hier teilweise in Frage gestellt wird, es letztlich aber einer angemessenen Differenzierung der Systemreferenzen von Politik und Recht entspricht, die kompetentielle Selbstrestriktion in Mehrebenensystemen als Rechtsproblem zu fassen und zu operationalisieren. Die Effektivierung des Subsidiaritätsgedankens im geltenden Mehrebenensystem kann sich im wesentlichen auf zwei Gesichtspunkte stützen. Einerseits kann die Prozeduralisierbarkeit der Justitiabilität von Subsidiarität dadurch verbessert werden, daß die Kriterien für die Einhaltung selbst austypisiert werden. Eine Kriterienpräzisierung in der Subsidiaritätsvorschrift wäre hierfür hilfreich. Zweitens kann die Zuordnung der Kompetenzen in ausschließliche und bestimmte Formen nicht-ausschließlicher Kompetenzen zu einer Kategorisierung von Kompetenzgruppen führen, hinsichtlich derer die Subsidiaritätsanforderungen abgestuft normiert würden. Diese Kompetenztypisierung hätte insofern keinen eigenständigen, selbst kompetenzregelnden Charakter und würde damit – im Unterschied zu einem starren, justitiablen Kompetenzkatalog nach bundesstaatlichem Vorbild – das bisherige Kompetenzsystem unangetastet lassen. Statt dessen würde es als Grundlage für eine differenzierte Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips dienen und sich hierauf instrumentell beziehen. Diese Kompetenztypisierung hat gleichzeitig einen zweckmäßigen Nebeneffekt der Vergewisserung über den Bezug einzelner Kompetenztitel auf die Gesamtgestalt der europäischen Rechtsetzungsgemeinschaft.

Gesamtzusammenfassung

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Drittens kann das bislang in seinen Voraussetzungen unterschiedslose Handlungsformsystem des Sekundärrechts dem Subsidiaritätsregime unterworfen werden. So könnte zum Gegenstand der Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips gemacht werden, ob eine Regelung in Form einer Verordnung oder Richtlinie ergeht. Dies setzte allerdings de lege ferenda voraus, daß die beiden Handlungsformen in tatbestandlich gefaßter Weise hinsichtlich ihrer Regelungsdichte unterschieden würden. Ein Schritt auf diesem Weg könnte die Fortentwicklung der Richtlinie zu einem europäischen Rahmengesetz werden. Die angestrebte Konvergenz von Legitimationsprofil und Kompetenzverteilung ist nicht allein vom Umstand der Beteiligung der beiden Repräsentationsorgane Rat und Parlament bestimmt, sondern greift auch auf die innerorganisatorischen Willensbildungsbedingungen aus. Namentlich die Möglichkeit des Mehrheitsentscheidungsverfahrens im Rat, die in der gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen und -politischen Situation ein Hauptanliegen zur Bewältigung von Problemen der Handlungsfähigkeit darstellt, ist fundamentalen repräsentationstheoretischen Einwänden ausgesetzt, die eine erhebliche Einschränkung dieses Willensbildungsprinzips fordern. Die für den Parlamentarismus kennzeichnenden Strukturvoraussetzungen für eine durchgängig zugrundezulegende Legitimität der Mehrheitsentscheidung finden sich auf der Ebene der Staatenrepräsentation allenfalls in Ansätzen verwirklicht. Die verfassungsprinzipielle Ambivalenz der Europäischen Union zwischen staatenbündischem und staatlichem Konstitutionsparadigma findet in ihr das eigentliche Dilemma. Die Auflösung dieses Dilemmas durch eine Ausweitung der Majoritätsvoten im Rat zu Lasten der rechtsprinzipiellen Konstruktionsprämissen, die den supranationalen Verbund tragen, allein aufgrund der zunehmenden Problematik der Entscheidungsfindung innerhalb eines erweiterten Mitgliederkreises ist legitimationsprinzipiell versagt. Betrachtet man gemessen an diesen äußeren Kompetenzprinzipien die vom Verfassungskonvent gegenwärtig geplanten Reformschritte, so lassen sich verschiedene Schritte erkennen, die als substantieller Rechtsfortschritt aufgefaßt werden können. Ein Aspekt ist die Konstitutionalisierung des Subsidiaritätsprinzips; die Typisierung der Kompetenzen nach dem Kriterium ihres Verhältnisses zu den mitgliedstaatlichen Kompetenzen verdient ebenfalls Zustimmung. Die Kompetenzzuordnung zu einzelnen Typen en detail ist eine politische Frage. Reformbedürftig bleibt auch nach dem Konventsprozeß und der Ratifikation seines Verfassungsentwurfs eine stärkere sekundärrechtsimmanente Ausdifferenzierung und Hierarchisierung, um den Repräsentationsanforderungen des supranationalen Mehrebenenverbunds besser Rechnung tragen zu können.

Abstract I. An improvement of the current system of competencies in the European Union (EU) depends on a coherent understanding of accountability and legitimacy in the EU. The question of legitimacy is closely linked to the constitutional paradigm of the EU. While the EU is neither a state nor supposed to develop into a state, it has become a political union with a distinctive legislative decision-making process, complex interaction of diverse constitutional entities and an autonomously executed system of judicial review. In light of that background, the legitimacy issue cannot be reduced to a so-called “democratic deficit” of the European Union but has to be assessed on a broader basis. Functionalist theories are no longer able to provide for a satisfactory justification of supranational execution of powers. An alternative can be found on the basis of the legal theory of Kant who, in sharp contrast to most contemporary scholars, does not view law as serving certain functions. Instead, he interprets legal categories as expressions of the capacity of human agents to exercise free will. Shaping the paradigm for a universal theory of legislative decisionmaking, Kantian understanding of law is not limited to state-referred contexts, but also applies to new supra-state forms of execution of powers. Understanding the legitimacy profile of the European constitution requires comparison to institutions and legal sources of nation state constitutions. One key aspect of comparison concerns the question how legal sources are conditioned by the institutions they derive from. The legislative decision-making process of most EU member states substantially builds on institutional mechanisms of political representation in parliaments. Consequently, their legal systems center parliamentary acts. Nation state conceptions of political representation such as the German are characterized by the principles of parliamentarianism, division of powers, and the dominance of parliamentary acts in the hierarchy of legal sources. The sources of law the European level of governance features significantly differ from these member states’ legal systems. The European Union, though rudimentarily shaping a hierarchical normative structure, provides no legal act directly corresponding to the legal source of parliamentary acts. Instead, primary contractual law (EC/EU Treaty) and the secondary legal acts (EC Regulations and Directives) autonomously enacted by the EU organs determine the European Union’s normative structure.

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Abstract

As to its function in the normative hierarchy of EU law, the EC/EU Treaty mainly acts as a supranational constitution. The legal authority of the EC/EU Treaty is firmly rooted in the principle of state consent. On the one hand, it thus conforms to the conventional architecture of international law, following the role model of the Kantian confederation of free republic nations. On the other hand, the EC/EU Treaty renders tribute to the supranational system as a political union beyond international law since it determines the rationale of secondary legislation and thus constitutes an autonomous legislative order. In enhancing and integrating the member states’ constitutions, the EC/EU Treaty serves as a complementary constitution. The complementary paradigm in this context exceeds the predominant metaphorical understanding of complementation in EU law and mainly encompasses four major principles: (1) the conceptual non-statehood of the complementary supranational governance; (2) the persistent, structurally integrated statehood of the member states as constituents of the supranational organization; (3) recognition of the member states as the exclusive source of the European pouvoir constituant; (4) European citizens’ recognition as subjects of law and legitimation resp. representation. II. The norms of secondary legislation rest on a dual structure of representation that directly corresponds to the complementary quality of the EU constitution. 1. The Council of Ministers and the EP jointly contribute to the democratic legitimacy of European governance and form the profile of political representation. The Council of Ministers features an indirect form of democratic legitimacy, building on the ministers’ responsibility to their National Parliaments. The European Parliament rests on a direct mechanism of representation, but in terms of the subject of representation provides a shift of perspective from the separate nation state “demoi” towards a European “demos”. According to the conventional understanding in EU law literature, there is no definition as to how both forms of democratic representation relate. Both mediate and immediate democratic legitimation are largely considered as somehow acting together. This thesis, however, attempts to emphasize the independent and incommensurable nature of both the state representation executed by the Council of Ministers and the European citizen’s representation executed by the European Parliament. As the EC/EU Treaty simultaneously recognizes the member states as well as the European citizens as subjects of law, participation of both subject

Abstract

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groups in the legislative decision-making process is required. That is why each form of representation appears essential for the institutional design of the European Union on its own and independently from one another. Representation of states ensures the prevailing quality of the member states as states and thus confirms the complementary status of the EU constitution. Representation of the European citizens, in contrast, provides an alternative form of participation and thus compensates for the loss of influence of nation state parliaments. 2. The paradigms of both organ’s representative functions substantially differ. Representation of states, as executed by the Council of Ministers, does not follow the model of representation related to a consistent collective identity, which can be considered typical for parliamentary systems. Instead it features an institutionally bundled, yet individual representation of each Member State on its own. The European Parliament, in contrast, follows the model of nation state parliaments related to a homogeneous collective identity and resembles the conventional model of parliamentarianism. However, its empowerment is subject to at least two major objections which, under closer scrutiny, in fact appear as an overstatement of the principle of sovereignty of the member states. (a) First, installing the EP as a coequal factor in the political decision-making process shifts the institutional balance both within the EU itself and between the EU and its member states. National parliaments and the EP compete; supranational parliaments in general tend to act to the detriment of nation state sovereignty. However, involving the EP into EU legislation does not imply a paradigm shift towards a European state. Neither do the structural defaults set by the democratic principle and the mutual interference between state-related and supranational concepts of democracy form an obstacle. Involving the European Parliament into the process of legislative decision-making reacts to and compensates for a loss of influence of nation state parliaments, but does not promote such a loss. Furthermore, decision-making is not exclusively assigned to the EP but shared between the EP and the Council of Ministers. (b) Second, it has been doubted whether the EP refers to a sufficiently homogeneous body of representation. While the present EU apparently does not rest on a European “demos” in a strict sense, European citizenship already builds on a considerable amount of common interests, common values and cultural similarities. On the basis of a relational idea of identity, which allows for multiple interactions and polycentric loyalties to the national and supranational levels of governance, this permits collective representation of European citizenship in a parliamentary organ. The pre-law conditions for an homogeneous collective identity of the European citizens are therefore satisfied.

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Abstract

III. The structural analysis of the EU’s profile of representation leads to a double conception in restructuring the division of competencies. 1. First, this thesis suggests to install the “Wesentlichkeitstheorie” developed in German constitutional law as the paradigm-guiding principle governing the allocation of competencies of the EU organs. The Wesentlichkeitstheorie demands that policy areas substantially relevant for the self-determination be directly and exclusively assigned to those organs representing the will of the addressees of law. Given the dual structure of representation in the EU’s complementary constitution, this principle is to be applied to both state representation and citizens’ representation. As to the existing decision-making processes in present EU law, only the codecision procedure according to article 251 EC ensures symmetric involvement and equal responsibility of both the Council of Ministers and the European Parliament. Consequently, the codecision procedure should be appointed the standard method for addressing substantially relevant issues in the respective policy areas. Such a rule of codecision (“Mitentscheidungsvorbehalt”) most adequately reflects the dual structure of representation. Furthermore, the Wesentlichkeitstheorie has a critical impact against majority decisions of the Council of Ministers in matters substantially relevant to self-determination, thus opposing a predominant reform consideration in the present process of constitutionalization. 2. Second, restructuring the balance of competencies between the EU and its member states crucially demands that the practical effect of the subsidiarity principle be enhanced. The present competency structure is shaped by a twotiered program of sector-specific norms of empowerment and general rules of competency restriction. In particular, the subsidiarity principle balances competencies of both levels of governance (member states and the EU) in the complementary constitutional system by restricting execution of EU competencies to certain requirements of necessity. Yet the interplay between both layers substantially differs from comparable, nation state-based types of federal orders, such as the U.S. dual federalism or the German federal order. Unlike federal legal systems of states, complementary EU law is conceptualized to be implemented by the member states’ legal orders. Resulting from the EU’s initial quality of an association under international law, the Treaty norms of empowerment do not specifically structure the whole supranational entity as a bipolar legal system. Given these differences, the very purpose of the principle of subsidiarity can be regarded as a procedural compensation of a lack of a determined catalog of competencies. In the ongoing process of constitution-building, mainly four options for practically enhancing subsidiarity are discussed:

Abstract

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(a) The creation of a dual competency structure through codifying a competency catalog altering its present purpose-guided structure. (b) An elaboration of the system of EC Regulations and EC Directives leading to a practical improvement of the subsidiarity concept (c) A general enhancement of judicial review of the subsidiarity principle. (d) A simple classification of forms of competency without a dual competency catalog. With regard to restructuring, many scholars favor the necessity of a competency catalog, which is a general reform of the norms of empowerment in the EC/EU Treaty. The present work pleads for a shift of focus in this matter and promotes the idea that competency catalogs do not end in themselves, but are a means of achieving an instrumental relation to strenghening the practical effect of the principle of subsidiarity. Competency catalogs known from federal states run the risk of diametrically opposing the cross-sectional character of community law and to fall short of the dynamic process inherent in the European demand for integration. Furthermore, a competency catalog would entail disentanglement of the presently interwoven EU organ responsibilities and run the risk of overstraining its capability for reforms. As a result, emphasis should be put on opening the subsidiarity principle to effective judicial review. Additionally, a decisively subsidiarity-oriented distinction between EC regulation and EC directive appears to present a promising option. Both suggestions share a careful, evolutionary method which leaves untouched the existing competency system in its fundamental structure and solely aims at its enhancement. 3. Assessing the proposal for a constitution worked out by the European Convention in light of these conclusions, it can be stated that the restructuring of legal acts constitutes a considerable progress with respect to the concept of political representation and largely fulfills the codecision requirement. In becoming the standard method of legislative decision-making in the EU, the codecision procedure guarantees that the dual structure of the supranational complementary order is continuously reflected in the current responsibility scheme of the law-making entities. However, the European Convention’s does not tap the full potential of the principle of subsidiarity. In particular, it lacks a conclusive distinction between EC Regulations and Directives. Due to a more pragmatic strategy of enhancement, the European Convention’s constitution does not exhaust the structural analogy to the federal republican model of framework laws. The protocol on the application of the principles of subsidiarity and proportionality to the future constitution, however, will substantially facilitate and promote its practical application. This will put the subsidiarity principle beyond controversy through largely facilitating its practical manageability.

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Sachregister Ableitungskette, legitimatorische 117, 328, 370, 430 Acquis communautaire 249, 442 Akzeptabilität 66, 67, 75, 116, 145, 218, 594 Akzeptanz 34, 66, 75, 186, 205, 232, 407, 421, 425, 429, 595, 597 í Verhältnis zur Akzeptabilität 66 Allgemeines Gesetz siehe Gesetzesallgemeinheit Allgemeinheit von Gesetzen siehe Gesetzesallgemeinheit Allgemeinwille 96, 103, 112, 115, 123, 125, 131, 134, 139, 144, 152, 161, 169, 210, 415, 509, 591, 594 Allgemeinwohl 112, 145, 146, 428, 612 Anarchie 596 Anhörungsverfahren 18, 476, 477, 520 Anwendungsunmittelbarkeit 43 Anwendungsvorrang 13, 27, 44, 55, 62, 234, 236, 248, 249, 251, 256, 300, 346, 454, 561 apriorische Legitimitätsstrukturen 74 apriorisches Freiheitspostulat 68 ausschließliche Kompetenz siehe Kompetenz, ausschließliche Autonomie 10, 13, 58, 70, 74, 75, 91, 94, 103, 128, 202, 226, 227, 230, 234, 236-241, 244, 248, 252, 253, 258, 268, 273, 276, 350, 354, 380, 474, 613, 660 – der Vernunft 85 – des Gemeinschaftsrechts 227, 228, 234, 238, 244, 613

– des Vertrages 242 – geltungslogische 234, 236, 239, 241, 253 – individuelle siehe personale – personale 74, 91, 94, 103, 128, 234, 273, 276, 350, 354 – staatliche 380 – und Recht 75, 82, 86 Autonomiebegriff, 10, 72, 103, 234, 235 Autonomiebezug des Rechts 87, 89, 114, 188 Autorenschaft 48, 91, 282, 293, 299, 304, 309, 353, 370, 376, 472, 475, 519 Autorisation 87, 110, 112, 118, 144, 264, 309, 334, 422, 423, 426, 612, 614 Bestimmtheitsgebot 491, 502, 503, 505 Biopatentrichtlinie 513 bipolare Ordnung 449, 451, 466, 483, 554, 568, 573, 575, 576, 617 bipolares Konzept 449 bipolares System siehe bipolare Ordnung bonum commune 67, 85 Brückenhäuschentheorie 58, 235 Bundesstaat 39, 77, 80, 100, 185, 282, 285, 330, 335, 336, 345, 353, 367, 399, 441, 525, 535, 628, 629, 641, 648, 650, 654, 655, 659, 660, 663, 665 – als Integrationsziel 77 – europäischer 353

676

Sachregister

– und Kompetenzverteilung 441 – und Staatenbund, 345 Bundesstaatlichkeit, europäische 39, 77, 180, 188, 190, 238, 322, 351, 362, 378, 398, 615 Bundesstaatsprinzip 39, 296, 335, 385, 398 Bundesverfassungsgericht – als Ersatzgesetzgeber 507 – Entäußerungsgrenzen 288 – Geltungsbegriff, 231 – Gemeinschaftsrechtsverständnis 58, 200, 252, 254, 324, 328 – Gewaltenteilungsbegriff, 127 – Grundrechtsverständnis 542 – Kompetenzrechtsprechung 147, 496, 540, 543-545, 552 – und Art. 3 GG 549 – und Bundesstaatsprinzip 398 – und Demokratieprinzip 289, 327 – und EuGH 230, 232, 235, 253, 254, 325 – und Geltungsverständnis 262 – und judicial self-restraint 544, 546, 551 – und Wesentlichkeitstheorie 291, 496, 498, 503, 507 – Verhältnis zur Legislative 503, 543, 548 – Verständnis der Supranationalität 253 Bürger Europas 14, 52, 91, 198, 218, 240, 246, 247, 279, 280, 282, 283, 293, 299, 305, 307, 314, 318, 335, 377, 386, 401, 411, 412, 414, 421, 428, 429, 431, 483, 516, 521, 523, 608, 614, 616 – als Rechtsadressaten 52, 280, 299, 305, 516 – als Rechtsautoren 91, 246, 280, 293 – als Verfassungssubjekte 198 – Identität der 401, 414, 428

– Mediatisierung durch Mitgliedstaaten 247 – Repräsentation der 307, 318, 377, 414, 421, 523 – und pouvoir constituant 198, 246, 279 Bürgeridentität, europäische 408, 418 – als Repräsentationsvoraussetzung siehe Bürger Europas – Verhältnis zum Volksbegriff siehe Identität Bürgerstatus, europäischer 54, 282284, 312, 414 BVerfG siehe Bundesverfassungsgericht checks and balances 344 Compétence d’attribution. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung contrat social – europäischer 198, 240, 246, 247, 277 Costa/ENEL 43, 55, 235, 237, 241, 249, 250, 254, 255, 263 Demokratie – direkte 100, 102, 103, 114, 592 – föderalismustheoretische Einwände gegen indirekte 335, 615 – indirekte 590 – paradoxe Effekte im Mehrebenensystem 360, 377 – parlamentarische 48, 141, 303, 309, 311, 314, 323, 331, 359, 361, 422, 641, 653 – supranationale 358 – und Identität siehe Identitätsbedingungen – unitarisch 366, 372 – Volksbezug siehe Volksbegriff Demokratiedefizit 78, 94, 95, 316, 326, 332, 422, 649, 653

Sachregister Demokratieprinzip – als Gewaltmonismus 498 – als ungeschriebener Rechtsgrundsatz 324 – Doppelbezug 321 – europäisches siehe gemeinschaftsrechtliches – gemeinschaftsrechtliches 47, 313, 324, 325, 358 – Staatsbezug 321, 365, 372 – staatsrechtliches 90, 98, 322, 323, 358, 376, 612 – subjektivrechtlicher Gehalt 329 – und Art. 79 Abs. 3 GG 293 – und Institutionalisierung 79 – und Legitimität 78, 90, 95, 318 – und Parlamentarismus siehe Parlamentarismus – und Repräsentationsprinzip siehe dort – und Steuerungsfähigkeit 289 – und Volksbegriff siehe dort – und Wahlrechtsgrundsätze 289 – und Wesentlichkeitstheorie 497 – Verfassungsbezug 99 – vorrechtliche Bedingungen 96 Demokratisierung, internationalrechtliche 357 Demokratisierung, originär-europäische 47, 78, 319, 326, 359, 360 demos, europäischer 421, 622 Despotie 596 – der Minderheit 596 – Verhältnis zur Republik 130, 166 Despotiebegriff, 131 Determinismus 597 Dialektik – der Repräsentation 105 – der Vertragsform 287 – des Rechtsprinzips 75, 124 – staatlicher und zwischenstaatlicher Verfaßtheit 271, 275

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– von Justiz und Politik 551 Diskurs, gesellschaftlicher 368 Diskurstheorie 593 Dispositionsbefugnis 618 Dissens – von BVerfG und EuGH 231 dual federalism 20, 553, 558, 559, 576, 624 Duplizität der Rechtsadressaten 228 Durchführungsrechtsakte 19, 178, 489, 490, 491, 518, 519 Durchführungsverordnung 518 Effektivität 81, 83, 84, 87, 147, 152, 153, 154, 251, 526, 537, 638 effet utile-Gedanke 18, 55, 58, 243, 244, 251, 300, 457, 461, 464, 670 – methodologische Kritik 243, 464 Effizienz – als Legitimitätsprinzip 80, 82 – und Recht 151 – Verhältnis zur Legitimität 148, 153, 161 Effizienzprinzip 26, 80 EG-Richtlinie 18, 19, 20, 21, 28, 56, 57, 166, 447, 453, 454, 482, 491, 492, 493, 513, 514, 517, 518, 561, 562-565, 577, 578, 582, 583, 587, 608, 619, 641, 650 – perfektionierte 562 – und europäisches Rahmengesetz 491, 518, 519 – Verhältnis zur EG-Verordnung 517, 518, 561, 562 EG-Verordnung 28, 57, 119, 447, 453, 520, 577, 582 – Verhältnis zur EG-Richtlinie siehe dort Einstimmigkeit 417, 476, 477, 516, 589, 594, 598, 640 Einzelfallgesetz 149 Entelechie 67

678

Sachregister

Ermächtigungsnorm 29, 470, 556, 567 EuGH – als Kompetenzgericht 540, 607, 618 – als Motor der Integration 32, 250, 540 – Demokratieverständnis 324 – Geltungsverständnis 237, 242, 244, 251 – Institutionenverständnis 344 – Kompetenzrechtsprechung 308, 451, 454, 461, 463-465, 467, 469, 470, 489, 540, 578 – Rechtsprechung 55, 250, 460 – Verhältnis zum BVerfG 59, 230, 235, 253, 254 europäische Bundesstaatlichkeit siehe Bundesstaatlichkeit, europäische europäische Bürger siehe Bürger Europas Europäische Kommission siehe Kommission, Europäische europäische Parlamentarisierung siehe Parlamentarisierung, europäische europäische Verfassung siehe Verfassung, europäische europäische Verfassungsparadigmen siehe Verfassungsparadigma Europäischer Gerichtshof siehe EuGH Europäischer Konvent siehe Konvent, europäischer Exekutivzentrierung der EU 15, 340 Föderalismus – als Verfassungsparadigma 77 – Begriff, 60, 93, 397 – freier Republiken 182, 225, 275 – rechtsprinzipielle Bedeutung 92, 392, 397 – supranationaler 12, 26, 28, 40, 41, 51, 78, 182, 191, 196, 197, 204, 233, 306, 347, 382, 398, 400, 441, 455, 525, 630

– Verhältnis zur Bundesstaatlichkeit 398 – Verhältnis zur Gewaltenteilung 398 Föderalismusprinzip 16, 39, 61, 77, 196, 397, 398, 400, 401, 404, 405, 508 Freiheitsbegriff – autonomiebezogener 111 – hobbesscher 71 – kantischer 111, 223, 224, 273 – rousseauischer 73 – selbstbestimmt-normativer 114 Funktion von Repräsentation 112 Funktionalismus 10, 26, 50, 79, 80, 83, 85, 86, 153, 154 – als Verfassungsparadigma 77 – gemeinschaftsrechtlicher 83 – grundrechtsbezogener 10, 81 – Paradigma 79, 81 – und Teleologie 85 – Verhältnis zum Effizienzdenken 154 Funktionalismuskritik 86 Geltung – als Sollen 206 – der Verfassung 136 – des Gemeinschaftsrechts 56, 165 – hierarchische 53 – und Akzeptanz 205 – und Grundnorm 199, 201 – und Legitimität 46, 52, 98 – und Zwang 204 – von Rechtsnormen allgemein 125 Geltung des Vertrages siehe Vertragsgeltung Geltungsanalyse 56, 58, 240 Geltungsautonomie 13, 77, 202, 228, 234, 239, 242, 248, 252 Geltungsbegriff, 12, 193, 203, 204, 206

Sachregister Geltungsbegründung 13, 200, 206, 209, 214-217, 226, 227, 231, 243, 245, 248, 253, 613 Geltungsebene 56 Geltungsgrund, 13, 44, 46, 59, 163, 169, 178, 184, 201, 203, 204, 207, 209, 210, 213-217, 225-227, 230, 231, 236, 239, 256, 258, 262-264, 276, 536, 613 Geltungslogik 46 Geltungstheorien 12, 207, 213, 214 – internationalrechtliche 213 – legitimitätsorientierte 207 Geltungsverständnis 190, 203, 211, 212, 242, 613 Geltungsvorrang 9, 43, 44, 58, 236, 255, 613 Gerichtshof, Europäischer siehe EuGH Gesamtrepräsentation, parlamentarische 16, 21, 352, 353, 414-416, 418, 588, 616 Gesellschaftsvertrag 14, 50, 63, 67, 73, 103, 198, 214, 218, 219, 240, 246, 247, 277, 279, 284, 647, 662 Gesellschaftsvertragstheorie 71, 108, 109, 204, 210, 218, 256, 261, 272, 629 Gesetz – Begriff, 11, 28, 97, 120-125, 129133, 146, 149, 150, 157, 207, 208, 250, 268, 271, 423, 484, 498, 511, 565, 584, 629, 669 – parlamentarisches 121, 137, 488, 507 – Problemlösungsvermögen siehe Problemlösungsvermögen, legislatives – Steuerungsfähigkeit siehe dort – und Verordnung 28, 38, 116, 146, 147, 149, 151, 153, 155, 159, 312, 346, 364, 489, 494, 501, 517, 522, 658

679

Gesetzesallgemeinheit 11, 120, 122, 123, 124, 125, 132, 149, 224 Gesetzesvorbehalt 18, 34, 135, 136, 157, 159, 168, 361, 458, 484-490, 495-502, 504-506, 509-511, 516, 520, 523, 552, 607, 629, 637, 639, 649, 650, 652, 671, 673 Gesetzesvorrang 18, 129, 208, 484 Gesetzgebung – konkurrierende 543 Gesetzgebungslehre 9, 49, 50, 51, 70, 120, 166, 475, 494, 502, 505, 506, 577, 646, 669 – europäische 51, 70 Gewaltenteilung 11, 35, 39, 126-129, 131, 132, 139, 141, 146, 148, 153, 158, 159, 161, 339, 342-346, 356, 385, 398, 430, 496, 515, 552, 579, 665, 666, 668 – als checks and balances 344 – Begriff, 126, 128, 129, 138, 139, 342, 344, 346 – und institutionelles Gleichgewicht 344 Globalisierung 29, 81, 88, 312, 317, 330, 627, 642 – EU als Phänomen der 29 Grundkonsens 44, 109, 111, 145, 594, 595, 596 Grundnorm 12, 77, 174, 194, 199, 202, 210, 215, 234, 236, 239, 277, 639 – Gemeinschaftsverträge als 174, 194, 200, 234 – Verfassung als 109, 199 Gubernative Rechtsetzung 34, 35, 80, 81, 85, 87, 109, 118, 120, 132, 133, 143, 147, 291, 341, 367, 373, 389, 471, 474, 485, 487, 488, 498, 500, 501, 630 Handlungsformen – der EU 32, 119, 308, 341, 419, 534

680

Sachregister

Handlungsformhierarchie 229, 493 Handlungsformsystem 95, 133, 174, 211, 229, 455, 487, 488, 491, 492, 560, 570, 577, 578, 580, 582, 607, 612, 619 – europäisches 51 – staatsrechtliches 50 – supranationales 47 Handlungsformsystematik 28, 38, 119, 178, 343, 491 Hegemonie der Exekutive 132, 134, 139, 141 Herrschaftssouveränität 97 Heteronomie der Rechtsverbindlichkeit 10, 75, 94, 160, 226, 350, 386, 413, 594, 611 Homogenität siehe Identitätsbedingungen Homogenitätsbedingungen 356, 390, 397 Homogenitätsklausel (Art. 28 GG), 368 hypothetischer Imperativ 221 Idealismus, transzendentaler 13, 89, 114, 222, 373 Identifikation – als Repräsentationselement 106 – Verhältnis zur Identität 107 Identität – als Repräsentationsbedingung 60 – des Volkes 388, 392, 395 – europäische 16, 195, 387, 407, 408, 411-414, 431, 515, 616, 630, 654, 660 – kollektive 257 – mitgliedstaatliche 384, 385, 616 – nationale 107, 297, 389, 413, 414, 534, 616 – politische 311 – repräsentierbare 356, 387, 391, 393 – staatsbürgerliche 54

– – – –

Unbestimmtheit 406 und Demokratie 107 und Repräsentation 106, 107 von Autor und Adressat des Rechts 87, 101, 363, 370 – von Gesetz und Volkswillen 95 – vorrechtliche 393 – vorstaatliche 393 Identität, repräsentierbare 367, 402, 408 Identitätsbedingungen 396 – als Loyalitätsverhältnisse 407 – nicht-volksbezogene 409 – vorrechtliche 387, 396, 403, 407, 408, 428 Identitätskonzeptionen 16, 396, 397, 402 in dubio pro communitate-Schluß, 458 Initiativrecht 18, 143, 473, 474, 480, 580 – „hinkendes“ 475 – der Kommission 474, 580 – der Regierung 143 – fehlendes des EP 473 – fehlendes des Rates 473 – parlamentarisches 473 – repräsentationstheoretische Bedeutung 474 Input-Legitimation 82 institutionelles Gleichgewicht 60, 251, 288, 344, 473, 515 Institutionenarchitektur der EU 42, 303, 344 Integrationsermächtigungsnorm (Art. 23 GG), 323, 348 Integrationsfortschritt 15, 294, 309, 369, 449 – reaktiver 369 – schrittweiser 56 Integrationsoffenheit 29, 187, 405, 455 – der Mitgliedstaaten allgemein 29 – des Grundgesetzes 187, 455

Sachregister – repräsentationstheoretische 405 Integrationszielbestimmung 265 Interdependenz – von europäischem und nationalem Verfassungsrecht 193 – von europäischen und nationalen Rechtssystemen 432 – von Organ- und Verbandskompetenz 443 – von Repräsentation und Kompetenzverteilung 442, 444 intergouvernementale Bestandteile der EU 40-42, 399, 401 Ioannina, Kompromiß von 590, 605 judicial self-restraint 507, 545, 547, 549, 551 Justitiabilität 19, 20, 269, 510, 525, 528, 537-541, 543, 545, 550, 552, 555, 566, 587, 588, 618, 619, 629, 647, 649 – als Konkordanzproblem 547 – des Subsidiaritätsprinzips 537, 538, 539 – und Verfassungsstaatlichkeit 541, 546 – von Art. 3 GG 549 – von Art. 72 GG 543-545 – von Kompetenzprinzipien 540 kategorischer Imperativ 74, 129, 223, 224 Kein-Demos-These 405 Kohärenz – von Demokratiebegriff und Staatsbezug 368 – von Einzelidentitäten 393 – von Identitätsbedingungen 390, 407, 413 Kollegialitätsprinzip 15, 354 Komitologieebene 489

681

Komitologieverfahren 18, 178, 426, 427, 447, 473, 489, 490, 512, 519 Kommission, Europäische 18, 32, 42, 178, 238, 250, 345, 370, 417, 464, 470-475, 477, 479, 480, 489, 490, 513, 515, 519, 580, 585-587, 617, 628, 643, 656 – als Hüterin der Verträge 250, 474 – als Motor der Integration 32 – und EP 475 – und Initiativmonopol 473, 474 – und Legislativwillensbildung 471 Kompetenz – ausschließliche 18, 457, 465, 466469, 567, 568, 571, 572, 634 – geteilte 571, 575 – konkurrierende 448, 468, 470, 567, 569, 574 – mitgliedstaatliche 347, 461, 466, 467, 619 – nationale 470, 569 – parallele 567, 569, 574 – und Finalstruktur 568 – unterstützende 569, 571, 575 Kompetenzausübung 306, 435, 608 Kompetenzausübungsregeln 20, 457, 543, 554, 555, 560, 570, 573 Kompetenzbalance 19, 23, 38, 58, 229, 308, 370, 433, 436, 440, 524, 611, 617 Kompetenzermächtigungsnormen 570 Kompetenzgefüge 18, 39, 51, 456, 484, 487, 508, 553, 555, 558, 560, 567, 577 Kompetenzgericht 462, 540, 550, 618, 632, 638, 661 Kompetenzkatalog 20, 24, 27, 34, 44, 444, 553-556, 558, 567, 569, 573576, 609, 618, 630, 631 – negativer 574, 576 – positiver 576

682

Sachregister

Kompetenz-Kompetenz 201, 459, 461, 466, 481 Kompetenzkonzept 9, 23, 34, 467, 470, 576, 616 – bipolares 558, 576 – duales 576 – europäisches 616 – fehlendes 467 – handlungsformorientiertes 23, 34 – konkurrierendes 470 – symmetrisches 558 – und Strukturprädestination 434 Kompetenzordnung 17, 24, 27, 31, 34, 36, 37, 43, 44, 47, 49, 52, 53, 64, 70, 81, 166, 171, 173, 174, 205, 308, 344, 347, 359, 434, 435, 437, 439, 440, 443, 447, 453, 456, 459, 461, 462, 466, 468-470, 474, 484, 489, 492, 495, 501, 505, 524, 525, 537, 538, 541, 555, 556, 558, 560, 570, 573, 576, 583, 584, 606, 630, 632, 636, 643, 656, 658 – als Freiheitsordnung 437 Kompetenzprinzipien 175 – Auslegung von 546 – äußere 619 – bundesstaatliche 540 – der Mehrebenenordnung 444 – des geltenden Gemeinschaftsrechts 456, 483 – ebenentranszendente 451 – föderative 540, 550 – Justitiabilität von 541, 543 – Kategorien gemeinschaftsrechtlicher 456 – legitimationstheoretische Bedeutung 433 – negative 451 – und Wesentlichkeitstheorie 445

Kompetenzstruktur 9, 17, 23, 31, 48, 413, 433, 436, 437, 444, 450, 451, 456, 461, 542, 554, 556, 559, 611, 616, 617, 630 Kompetenzsystem – eindimensionales 576 Kompetenzverteilung 23, 24, 26, 30, 32, 37, 38, 40, 42, 45, 47, 55, 128, 134, 228, 308, 315, 342, 344, 345, 434, 439-443, 447, 450, 454, 457, 461-464, 466, 469, 524, 525, 540, 549, 555, 567, 571, 575, 576, 611, 619, 643, 645, 653, 666-668, 671 Kompetenzverteilungsprinzipien 20, 433, 434, 441, 449, 547, 553, 618 Kompetenzzuweisung 308, 458, 463, 567, 573 Kompetenzzuweisungsprinzipien 32, 456 Kompetenzzuweisungsstruktur – dichotomische 42 Kompetenzzuweisungssystem – europäisches 557 komplementäre Ordnung, EU als 14, 177, 193, 195, 201, 202, 233, 277, 284, 285, 293, 294, 299, 433, 459, 531, 532, 537, 557, 559, 560, 584, 590, 606, 607 Komplementärverfassung 12-14, 19, 175, 189-191, 193-195, 265-267, 275-277, 284, 285, 289, 293-295, 297-299 – als Konkordanzkategorie 275 – als Verfassungsparadigma 265, 277, 376 – Begriff 191, 193, 195, 267, 285, 297, 588, 614 – Charakteristika 175, 193, 194 – Gegenbegriff 194 – legitimationstheoretische Bedeutung 194, 265 – materialer Gehalt 284, 297

Sachregister – Staatsbezug 266 – und konzeptionelle Nichtstaatlichkeit siehe dort – und offene Verfassungsstaatlichkeit 294 – und pouvoir constituant 195, 276, 427 – und Repräsentationsprinzip 298 – und Selbsterweiterung 299 – und Subsidiaritätsprinzip 533, 588 – Wesen 265, 608 konkurrierende Kompetenz siehe Kompetenz, konkurrierende Konsens – der Verfassung 76, 99, 109-112, 136, 270 – und Mehrheitsprinzip 101 – und Vertrag 71 Konsensnormativität 216-218, 237, 256, 300, 301, 613 Konsensprinzip 195, 214, 216, 217, 242, 255, 285, 287, 300, 353, 354, 593 Konsequentialismus 341 Kontraktualismus 67, 218, 285 Konvent, europäischer 23, 49, 54, 170, 171, 172, 176, 180, 240, 246, 267, 297, 312, 326, 355, 360, 361, 402, 417, 420, 422, 426, 432, 449, 473, 492, 518, 525, 527, 530, 571, 577, 578, 579, 581, 584, 585, 604, 619, 630, 638, 642, 648, 652, 653, 657, 670, 673, 674 Konventsmethode 527 Kooperationsoffenheit staatlicher Verfassungen 295, 377 Kooperationsverhältnis 59, 134, 156, 159, 231, 667 Legalität 63, 68, 95, 103, 115, 140, 204, 208, 224, 274, 643, 652, 665

683

Legislativwillensbildung 49, 66, 105, 109, 141, 163, 166, 286, 329, 340, 435, 471 – Einfluß der Exekutive 143 – europäische 342, 356, 435 – parlamentarische 340 – parteienstaatliche 141 – repräsentative 108, 109, 163, 329, 332 – supranationale 49, 105, 166 – und Staatenrepräsentation 472 Legitimation – durch Bewährung 10, 82, 86 Legitimationsarchitektur 126, 132, 262, 318, 328, 329 – des Mehrebenensystems 328 – europäische 262, 318, 329 – staatliche 126, 132 Legitimationskette 159, 287, 308, 327, 487 – Kritik 285, 308, 327 Legitimationsquelle 81, 83, 310, 357, 532, 542 Legitimationsstrang siehe Legitimationskette Legitimationsstruktur 25, 36, 46, 196, 229, 247, 321, 330, 614 – duale 614 – europäische 46, 196 – legislative 321 – repräsentative 330 – supranationale 321 Legitimationsverständnis 15, 87, 117, 161, 191, 318, 326, 327, 329, 334, 349, 491, 551, 611, 614 – demokratieorientiertes 326 – herkömmliches 614 – herrschendes 334 – prozedurales 611 – staatsrechtliches 349

684

Sachregister

Legitimität – des Rechts 23, 33, 65-68, 79, 82, 83, 89, 93, 94, 99, 307, 367, 534 – staatsrechtlicher Institutionen 532 Lehre von der juristischen Person 258261, 300 Letztverbindlichkeit 12, 185, 199, 200, 202, 235, 236, 271, 296, 597, 601 Liberalismus 388 Loyalitäten 330, 409 – Teil-, 616 Loyalitäten, multiple 615, 623 Luxemburg, Kompromiß von 590, 605 Maastricht-Urteil 14, 58, 76, 163, 186, 190, 191, 235, 253, 280, 281, 288293, 345, 384, 391, 404, 541, 635, 637, 648 Majoritätsprinzip siehe Mehrheitsprinzip Maßnahmegesetz 565 Mehrebenenarchitektur 14, 432, 530 Mehrebenenstruktur 12, 17, 39, 177, 190, 191, 229, 330, 398, 436, 438, 536, 573 Mehrebenensystem 9, 17, 38, 39, 40, 52, 61, 90, 191, 197, 229, 323, 328, 339, 343, 356, 377, 406, 409, 422, 437, 440, 500, 507, 514, 529, 532, 534, 539, 541, 549, 576, 583, 618, 649, 654 – Bestandteile 38 – Kompetenzgefüge 39 – Kompetenzstrukturen 618 – legislatives 40, 343, 437, 539 – Organ- und Verbanskompetenzen im 440 – Repräsentation im 406 – soziologisches 61 – staatlich-föderales 402 – und Demokratieprinzip 356 – und Legislativbalance 549

– und Souveränitätsprinzip 377 – und Subsidiarität 529, 618 – Verantwortungsstrukturen im 422, 437 – Verfassungsparadigma 339 Mehrebenenverbund, 33, 51, 60, 296, 339, 419, 427, 455, 467, 540, 574, 576, 619 Mehrheitsentscheidung 80, 102, 354, 479, 483, 589, 592-596, 598, 601, 604-606, 619 Mehrheitsprinzip 21, 101, 104, 115, 589, 591-597, 601-605, 639, 664 Ministerrat siehe Rat der EU Mitentscheidungsverfahren 477-481, 483, 520-523, 579-581, 608, 617 Mitentscheidungsvorbehalt 19, 520, 624 Mitgliedstaaten – als Herren der Verträge 58, 200, 202, 227, 235, 244, 254, 255, 266, 267, 277, 282, 315, 382, 442, 467, 567 Moralität 74, 103, 115, 204, 224, 274 multilevel constitutionalism 192, 198, 199, 233 Nationalstaat 29, 54, 60, 88, 177, 184, 252, 308, 314, 337, 365, 366, 368, 392, 396, 422, 601, 651, 656, 666 – des 19. Jhdts., 88 – Grenzen 366 – selbstgenügsamer 54 – und EU 60, 184, 201 Nationalstaatlichkeit 29, 298, 388 – integrierte 298 nichtausschließliche Kompetenzen siehe Kompetenz, nichtausschließliche Nichtstaatlichkeit 77, 177, 185, 188, 195, 245, 356, 399, 431, 441, 559 – konzeptionelle 12, 190, 192

Sachregister Normen, untergesetzliche 9, 38, 46, 53, 56, 57, 59, 136, 150, 156, 162, 168, 186, 229, 291, 340, 343, 364, 370, 485, 498, 511, 512, 519 Normenhierarchie 53, 119, 178, 263, 484, 506, 507, 608 Normlogismus 209 offene Staatlichkeit 373, 377 Offenheit – der Gesellschaft 365 – des Integrationsprozesses 450, 576 – plurale 597 – strukturelle 372 – territoriale 365 Öffentlichkeit – diskursive 96 ökonomische Analyse des Rechts 25, 26, 84, 243, 635 Ordnung – föderative 276, 354, 402, 508, 565 Organkompetenz 47, 443, 524, 617 Organlehre 259 Output-Legitimation 82, 86, 87, 116 parallele Kompetenz siehe Kompetenz, parallele Parlament, Europäisches 15, 16, 316, 331, 343, 355, 400, 405, 414, 416, 417, 419, 454, 473, 482, 483, 513, 514, 607, 608, 615, 631, 643, 648, 649, 656 Parlamentarisierung 15, 16, 57, 293, 305, 317, 338, 343, 355, 356, 357, 362, 369, 372, 376, 378, 379, 385, 386, 405, 419, 428, 431, 435, 615, 649 – Demokratisierung durch 362 – europäische 293, 338, 355, 356, 369, 372, 376, 378, 405 – gegenläufige Effekte 305 – kompensatorische 372

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– staatsanaloge 317 – Staatswerdung durch 372, 431 – und Souveränität 378 – und Staatswerdung 363 Parlamentarismus 15, 16, 60, 95, 107, 112, 113, 116, 118, 121, 126, 131133, 135, 137, 138, 140, 142, 144, 145, 149, 151, 161, 314, 317, 331, 341, 350, 351, 353, 354, 364, 368, 376, 387, 388, 416, 419, 422, 423, 427, 429, 431, 616, 619, 665 – als Gesamtrepräsentation 351, 416 – als Repräsentationsform 126, 132, 350, 422 – bundesdeutscher 112, 331 – europäischer 314, 376, 388, 616 – Ideal des 144, 341 – Niedergang 142 – staatlicher 314, 317, 364 – und Diskurs 368 – und Gesetzesherrschaft 118, 135, 145 – und Politik 145 – und Volksbegriff siehe dort Parlamentarismuskritik 106, 107, 116, 133, 140, 142, 144, 147 Parlamentsgesetz 121 Pluralismus – allgemein 366 – als Verfassungsparadigma 77, 233 – der Demokratiekonzeption 364 – der Verantwortlichkeit 31 Politik 20, 24, 26-29, 32, 33, 72, 80, 81, 101, 108, 135, 136, 141, 146, 191, 317, 328, 339, 342, 345, 354, 435, 441, 457, 470, 506, 538, 539, 546, 547, 550, 551, 555, 572, 578, 589, 618, 628, 629, 638, 639, 643, 644, 648, 663, 665, 667, 673 Positivismus 68, 629 – Kritik 68, 69 postnationale Konstellation 12, 182

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pouvoir constituant 13, 14, 172, 177, 194, 195, 198, 200, 202, 210, 218, 227, 233, 236, 237, 240, 245-247, 267, 276, 277, 279, 280, 282, 283, 299, 304, 323, 390, 427, 466, 527, 614, 622, 656 – Auswechslung 323, 324 – Mitgliedstaaten als Träger des 177, 194 – mixte 246, 247 Prärogative 11, 17, 133, 136, 142, 153, 157, 343, 440, 442, 443, 474, 507, 510, 548, 549, 551, 552, 567, 606, 612 – der Exekutive 133, 140, 142, 343, 474, 612 – der Legislative 136, 153, 507, 548 – der Mitgliedstaaten 567 – der Politik 442 – politische 606 – technische 440 Primärrecht, europäisches 18, 56, 172, 173, 174, 176, 181, 203, 235, 236, 244, 263, 279, 299, 300, 306, 325, 343, 402, 436, 443, 458, 459, 542, 618, 630, 641, 674 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 18, 50, 174, 297, 359, 447, 453, 454, 456-459, 461-463, 489, 556, 576, 607, 661 Problemlösungsvermögen, legislatives 11, 79, 84, 146, 152, 312 Querschnittskompetenzen 18, 452, 470 Rahmengesetz 18, 491, 492, 517, 518, 577-579, 582-584, 587, 619 – europäisches 491, 517-519, 577, 579, 587, 619 – staatliches 499, 518, 583 Rat der EU 25, 47, 63, 84, 326, 337, 401, 426, 454, 590, 601, 673

– als Hauptrechtsetzungsorgan 156, 319, 340, 363, 472, 481, 511 Ratifikation 56, 168, 170, 265, 283, 293, 516, 527, 619 – parlamentarische 516 Ratifikationsgesetz 56, 163, 204, 263, 264 Rechtsadressaten 13, 66, 82, 87, 91, 108, 166, 228, 229, 309, 371, 381, 387, 413, 419, 451, 593, 611, 612 Rechtsakte europäische siehe EGVerordnung, EG-Richtlinie rechtsapriorische Bedingungen 167, 341, 430 Rechtsetzungsgemeinschaft 29, 30, 188, 447, 618 Rechtsgemeinschaft 30, 31, 32, 65, 80, 173, 176, 188, 250, 251, 267, 325, 361, 363, 390, 393, 395, 412, 413, 447, 639, 640 – EU als 30 – europäische 31-33, 80, 267, 325 – Identität der 413 – staatliche 390 Rechtslehre 74, 114, 128, 138, 145, 181, 209, 219, 222, 224, 225 – kantische 74, 75, 114, 128, 138, 145, 181, 219, 224, 225 – Reine (Kelsen) 209 Rechtsprinzip 26, 66, 80, 84, 97, 101, 117, 145, 338, 352, 442, 529, 531, 539, 553, 635, 651, 655, 669 – allgemeines 112, 128, 145, 332 – der Repräsentation 97 – kantisches 101 – kategorisches 26 – legitimatorisches 65, 117 – und Autonomie 79, 268 – und praktische Vernunft 167 – und Reziprozität 123

Sachregister Rechtsquelle 34, 35, 42, 46, 199, 203, 228, 230, 235, 237, 241, 249, 253, 254, 263, 486, 634 Rechtsquellenlehre, europäische siehe Gesetzgebungslehre Rechtsstaatsprinzip 130, 164, 187, 296, 348, 485, 496, 497, 498, 502, 505 Rechtssubjekt 40, 66, 118, 124, 128, 165, 195, 211, 229, 230, 265, 273, 274, 283, 284, 298-300, 360, 373, 386, 399, 413, 415, 437, 438, 599, 602, 605 Rechtssystem deduktives 128 Rechtsverordnung 53, 147, 502, 651 Repräsentation – Begriff der 97, 415 Repräsentationsbegriff, 95, 96, 97, 118, 285, 287, 290, 415, 604 Repräsentationsdualismus siehe Repräsentationsstruktur, duale Repräsentationsfunktion 14, 106, 117, 138, 259, 317, 318, 328, 342, 350, 353, 354, 388, 391, 431 Repräsentationskonzept – duales 14, 286, 316, 329, 333, 348, 472, 478, 518 Repräsentationsorgan – föderatives 337, 338 Repräsentationsprinzip 9, 11, 15, 63, 90, 91, 95, 101, 105-107, 112-114, 117, 119, 131, 159, 161, 164, 298, 300, 303, 306, 307, 309, 315, 329, 352, 358, 359, 392, 397, 406, 408, 424, 427, 430, 436, 476, 497, 536, 552, 589, 590, 592, 598, 612 Repräsentationsstruktur 14, 102, 104, 280, 303, 306, 359 – duale 14, 195, 284, 433 – föderative 335, 336 Republik 99, 126, 130, 131, 164, 165, 350, 638, 639

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Republikanismus 11, 60, 126, 130, 131, 161, 166, 422, 423, 598 – als Gesetzesherrschaft 126, 130, 423 – als Verfassungsprinzip 60 – und Gewaltenteilung 126, 131, 161 – und Repräsentationsprinzip 422, 598 – Verhältnis zur Despotie 166 richterliche Selbstbeschränkung siehe judicial self-restraint Richtlinien – Geltung 243 Satzung 147, 150 Sekundärrecht, europäisches 14, 19, 36, 42, 46, 54, 57, 84, 286, 300, 303, 304, 305, 315, 325, 343, 351, 358, 386, 433, 443, 489-491, 519, 522, 523, 566, 578, 581, 582 Selbstbestimmung 21, 29, 79, 86, 103, 108, 114, 117, 122, 128, 138, 169, 194, 215, 224, 264, 270, 273, 274, 278, 292, 297, 298, 318, 350, 356, 363, 372, 373, 376, 378, 380, 383, 385, 386, 390, 391, 394, 395, 409, 436, 439, 487, 508, 536, 591, 597, 598, 603, 608, 611, 614 – gesetzesförmige 536 – individuelle 273, 597 – institutionalisierte 394, 508, 611 – institutionelle 29 – kollektive 292, 350, 363, 395 – rechtliche 394, 439 – staatliche 264, 297, 298, 356, 385, 391, 603, 614 – volkssouveräne 392 Selbstbestimmungsleistung, staatliche 357, 391, 536 Selbstbestimmungsunmittelbarkeit 301, 374, 488, 535, 598 Selbstbindung 202, 203, 211, 217, 223, 261, 278, 287, 299, 304, 379, 386, 467, 538, 539, 565, 647

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Sachregister

– konsensförmige 287 – koordinative 261 – legislative 565 – politische 278, 538, 539 – rechtlich-politische 278 – staatliche 386 – vertragliche 202, 211, 217, 304 Selbstentäußerung 14, 285, 286, 287, 289, 298, 614 – europäische Integration als 295 – Kompensation staatlicher 288 – staatliche 298 – und Art. 79 Abs. 3 GG 293 – und Repräsentation 285, 287 – vertragliche 285, 289, 614 Selbsterweiterung 29, 163, 215, 223, 224, 226, 318, 383, 386, 561, 608, 615 – europäische Integration als 386, 431, 608 – freiheitliche 615 – individuelle 383 – institutionelle 29 – intersubjektive 224 – koordinative 163, 226, 557 – Souveränität und, 384 – staatliche 215, 318, 386, 433, 561, 615 – Subjektsvermögen zur 223 Selbsterweiterungsleistung – europäische Integration als 88, 301 Selbsterweiterungsmechanismen – Komplementärverfassung als 299 Selbsterweiterungsvermögen, staatliches 383, 384 Selbstrepräsentation 15, 351, 352, 615 – distributive 351, 615 – koordinative 352 – staatliche 352 Selbstverwaltung 507, 548, 653, 661 Souveränität – als Abwesenheit externer

Intervention 377, 379, 381, 396, 601 als Höchstinstanzlichkeit 106 als Impermeabilität 382, 383 als Selbsterweiterung 163 als Staatsprinzip 60 äußere 274, 390 fehlende europäische 459 geteilte 177, 378 innere 274, 380 kooperative 393 legislative 550 nationale 59, 601 Relativierung durch Integration 374, 382, 384, 385, 431 – staatliche 200, 262, 277, 378, 381 – und Geltungsgrund, 209 – und Gewaltmonopol 264 – und Letztentscheidung 270, 446 – und Letztverbindlichkeit 271 – und Mehrheitsprinzip 601 – und Repräsentation 107 – und Selbstveräußerungsverbot 356, 600 – und supranationale Parlamentarisierung 378, 615 – Unveräußerlichkeit 293 – Verlust durch Selbstbindung 277 – Verwirklichung durch Selbstbindung 384 – Wiedergewinnung durch Partizipation 296 Souveränitätsbegriff, 16, 29, 270, 271, 363, 377-381, 383-386 – Bodins 381 – Grenzen der Modifizierbarkeit 386 – herkömmlicher 29, 363, 377, 383 – Modifikation 377 – Relativierung 270, 380 – selbstbestimmungsbezogener 379 – und suprema potestas 378 Souveränitätsprinzip 270, 385 – – – – – – – – – – – –

Sachregister Souveränitätsverständnis 16, 93, 241, 271, 379, 381, 384-386, 397, 661 Staat – als Herrschaftsinstitution 95 – als Institutionalisierungsform des Rechtsprinzips 115, 187, 268, 394 – als juristische Person 256-258, 261, 300, 431 – als Nation 394 – als Normalform rechtlicher Institutionalisierung 61 – als Normalperson des Völkerrechts 229 – als supranationales Verfassungssubjekt 283 – als Zurechnungssubjekt 261 – als Zurechnungssubstrat 41 – demokratisch-repräsentativer 119 – integrationsoffener 323, 374 – kooperationsoffener 382 – monarchischer 381 – Primat des 85 – rousseauischer 115 – und Bürger 260, 333, 430 – und Demokratie 364 – und EU 41, 58, 94, 166, 439, 441, 448, 455 – und Gesellschaft 530 – und Gesetzesbegriff 264 – und Identität 54 – und Individuum 72, 530 – und Letztinstanzlichkeit 603 – und Naturzustand 131, 274 – und Recht 268, 332, 372 – und Rechtsprinzip 94, 96 – und Selbstbestimmung 373 – und Souveränität 380, 381, 383 – und Staatenbund, 189 – und Verfassung 178, 179, 185, 201 – und Verrechtlichung 599 – und Vertrag 288 – und Volk 107, 369, 388, 391, 395

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– und vorrechtliche Identität 396 – und zwischenstaatliche Rechtsverhältnisse 271, 295, 379 – vorrechtliche Bedingungen 60 – Willensbildung 256, 257 Staatenrepräsentation 15, 37, 47, 317, 345, 348-353, 416, 430, 472, 591, 602-604, 615, 619 – als Selbstrepräsentation 352 – durch den Rat 317, 350, 353, 430 – exekutivische 345 – Funktion der 350 – im Völkerrecht 345 – kompensatorische 348 – Verhältnis zur Individualrepräsentation 351 – Wesen der 47, 349, 350 Staatenverschmelzung 270 Staatlichkeit – unitarische 61, 177, 323, 383, 393 Staatsbegriff 13, 60, 257, 265, 268, 376-380, 384, 389, 446 – Autonomiebezug 376 – freiheitlicher 389 – hegelianischer 75 – und Befugnisreichweite 446 – und Letztentscheidung 378 – und Souveränität 377, 379 Staatstheorie 106, 158, 269, 335, 336, 528, 627, 664 Staatstheorien 165 Staatsverfassung 28, 194, 200, 203, 267, 322, 358, 372, 406, 496 Staatswerdung 25, 77, 164, 178, 232, 266, 267, 282, 283, 290, 314, 315, 323, 337, 363, 371, 372, 376, 389, 410, 422, 431, 451, 540, 629, 633, 651, 663, 666 Staatswerdung Europas 25, 77, 164, 178, 266, 283, 314, 323, 337, 422, 451, 629, 633, 651, 663, 666

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Sachregister

Steuerungsfähigkeit 11, 146, 147, 149, 150, 151, 158, 367, 500, 517, 522, 612 – der Exekutive 612 – des Gesetzes 146, 149, 150 – des Vertrages 517 – Grenzen gesetzlicher 150 – Grenzen parlamentarischer 500 – nichtrechtlicher Normen 151, 367 – und parlamentarische Willensbildung 158 – und Repräsentation 147 Steuerungsmacht 15, 289, 298, 312, 316, 329, 349, 350, 501, 509 – Erhalt staatlicher 289 – Grenzen parlamentarischer 501 – Kompensation verlorener 298, 329, 349, 350 – Überlegenheit exekutivischer 509 – Verlust staatlicher 298, 316 Strukturprinzip – föderatives 430 Subjektsbegriff, 70, 110, 114, 217, 220-224, 226, 383 Subordination – Recht als 209, 273 – unter einen vereinigten Rechtswillen 272 Subordinationsverhältnis 94 subpolitische Entscheidungsgegenstände 311 Subsidiaritätsprotokoll 21, 526, 562, 563, 584-588, 647 – des Verfassungsentwurfs 563, 570, 583, 585 – des Vertrags von Amsterdam 563, 584, 585 sui generis-Ordnung 25, 165, 176, 182, 241, 328, 367, 645 Supranationalität 41, 54, 60, 62, 76, 88, 89, 93, 187, 196, 236, 241, 248, 249, 253, 298, 343, 344, 354

Systembegriff, 51, 54 Systembildung 33, 51, 54 Systemreferenz 165, 168, 282, 435, 503, 515, 539, 546, 551, 552, 618 Systemtheorie 68, 80, 651 Tabakproduktrichtlinie 454, 465 Tabakwerberichtlinie 454, 465 Teilrechtsordnung – supranationale 37, 52, 54, 55, 166, 178, 194, 202, 203, 227, 234, 252, 277, 301, 469, 616 Teilrechtsordnungen des europäischen Gesamtrechtssystems 27, 28, 37, 54, 58, 119, 185, 186, 267, 346, 454 Teleologie 54, 85 Übernahmerichtlinie 513 ultra vires- Akte 264 Unionskompetenz 457, 465, 467-469, 471, 567 Unionskompetenzen 18, 20, 30, 449, 450, 452, 458, 464, 465, 469-471, 534, 554, 575, 576 unterstützende Kompetenz siehe Kompetenz, unterstützende Van Gend & Loos 27, 55, 201, 234, 248, 250 Verbandskompetenz 47, 440, 443, 462, 524 Verfassung – durch Bewährung 183 – europäische 24, 38, 45, 171, 176, 178, 179, 185, 278, 282, 305, 314, 361, 402, 417, 450, 457, 464, 524, 527, 540, 555, 571, 575, 629, 630, 637, 661, 662, 666-668, 672, 674

Sachregister Verfassunggebung 13, 59, 77, 80, 120, 136, 145, 172, 177, 188, 199, 200, 210, 232, 239-241, 244, 246, 277, 278, 280, 283, 284, 296, 642, 647, 657 – permanente 246, 279 Verfassungsänderung 586 Verfassungsarchitektur 218, 286 – supranationale 218, 286 Verfassungsauslegung 507, 544 Verfassungsbegriff, 12, 71, 93, 171176, 178-181, 183-189, 227, 231, 265, 271, 301, 307, 321, 358, 372, 613 – einheitlicher 189 – explizit staatsbezogener 178 – freiheitlicher 189 – implizit staatsbezogener 179 – institutionenakzessorischer 184, 188, 613 – offener 189 – philosophiegeschichtlicher 184 – politischer 172 – postnationaler 187 – staatsrechtlicher 301 Verfassungsdiskussion, europäische 24, 44, 45, 172, 176, 184, 185, 193, 565, 651, 659 Verfassungsgeltung 12, 210 Verfassungskonvent siehe Konvent, europäischer Verfassungsparadigma 29, 189, 212, 233, 245, 265, 441, 519, 531, 588, 606, 613, 614, 616 – des EuGH 200, 276 – etatistisches 185 – komplementäres 351, 376, 441 – multilevel constitutionalism als 191, 197 – pluralistisches 233 – supranationaler Föderalismus als 196

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– und Verfassungsbegriff, 189 – unitarisches 233 Verfassungsprinzipien 43, 44, 155, 172, 174, 175, 267, 269, 295, 324, 348, 368, 457, 463, 505, 507, 539, 548, 549, 550, 606, 628 – Auslegung von 548, 550 – Bestimmtheit von 505 – der EU 175, 267, 463 – gegenläufige 368 – Interpretation von 369 – judikative 457 – justitiable 269 – staatliche 43, 295, 348 – Wesentlichkeitstheorie und Subsidiaritätsprinzip als 606 Verfassungsstaat 29, 76, 78, 113, 152, 164, 181, 185, 187, 245, 283, 295, 296, 297, 309, 336, 365, 377, 379, 380, 382, 384, 391, 455, 468, 530, 552, 633, 638, 639, 642, 644, 646, 648, 650, 651, 658, 665, 669, 670 – kooperationsoffener 295, 296 Verfassungsstaatlichkeit 14, 20, 136, 144, 183, 208, 232, 294, 295, 297, 348, 438, 446, 541, 639, 645 Verfassungssubjekt, Status als 247, 532 Verfassungssystem 37, 45, 437 Verfassungsvertrag 222, 272, 297, 420, 581, 632 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 60, 91, 457, 559, 560, 573, 588 Verordnung – staatsrechtliche siehe Rechtsverordnung Verordnung, europäische siehe EGVerordnung Verrechtlichung 13, 73, 96, 270, 271, 272, 275, 285, 341, 353, 593, 596, 599 Verrechtlichungsformen 167, 269, 285

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Sachregister

Verrechtlichungsstrategie 71, 383, 593, 600 Vertrag von Amsterdam 28, 41, 48, 50, 77, 192, 198, 218, 233, 235, 304, 315, 345, 399, 402, 450, 455, 477, 482, 563, 589, 630, 640, 659, 661, 668, 674 Vertrag von Maastricht 31, 41, 282, 288, 296, 322, 467, 477, 517, 525, 538, 628, 642 Vertrag von Nizza 24, 25, 27, 28, 33, 41, 81, 170, 171, 235, 308, 315, 345, 389, 417, 482, 483, 538, 555, 573, 628, 632, 634, 657, 658, 667, 673 Vertragsgeltung 12, 13, 45, 57, 169, 202-204, 206, 211, 213, 215, 216, 220, 227, 228, 254-258, 263-265, 281, 299, 613 – und Rechtsanwendungsbefehl 200 Vertragsnormativität 13, 58, 217, 220, 222, 226, 255, 261, 262, 264, 287 Vertragstheorie 13, 110, 212, 213, 218, 220, 300, 641, 666, 668 Vertragsverfassung 175, 176, 198, 203, 244, 519, 581 Vertragsvorbehalt 18, 84, 458, 489, 515, 516, 607 Volksbegriff, 16, 60, 260, 352, 370, 380, 381, 387-390, 392-397, 401, 402, 406, 408, 409, 412, 421, 431, 615, 670 Volkssouveränität 79, 94, 97, 99, 100, 105, 128, 314, 324, 330, 389, 391, 400, 647, 653 volonté générale 118, 135, 137 Voluntarismus 10, 71, 75, 219 Vorbehalt – des Gesetzes siehe Gesetzesvorbehalt – vertraglicher Regelung siehe Vertragsvorbehalt

Vorbehaltssystem 20, 485, 489, 490, 493, 577 Vorrang des Gesetzes siehe Gesetzesvorrang Wesentlichkeitstheorie 48, 291 – als europäisches Verfassungsprinzip 444 – als gemeinschaftsrechtliches Verfassungsprinzip 510 – als Konkordanzkategorie 501 – als Prinzip der vertikalen Kompetenzgliederung 483 – als Verfassungsprinzip 488 – Aussagegehalte 498 – gemeinschaftsrechtliche Anwendbarkeit 292 – Konkretisierung 508 – Kritik 499, 505 – Mängel 503 – staatsrechtliche 494, 496 – Unbestimmtheit 502 – und Gesetzesvorbehalt 496, 501, 581 – und Mitentscheidungsvorbehalt 517, 521 – und Parlamentsmonismus 507 – und Parlamentsvorbehalt 371, 499 – und Vertragsvorbehalt 515 – Verallgemeinerungsfähigkeit 445, 500 – verfassungsrechtliche Ableitung 497 Willensautonomie 9, 70, 116, 256 Willensbildung – diskursiv-parlamentarische 137, 140, 145, 155 – Prozeß der 17, 21, 48, 99, 108, 113, 114, 158, 195, 196, 202, 234, 239, 259, 262, 269, 281, 283, 284, 289, 294, 297, 301, 306, 307, 317, 328, 350, 355, 357, 386, 391, 418, 420, 421, 423, 424, 426-429, 432, 435,

Sachregister 439, 471, 475, 476, 484, 487, 488, 521, 523, 530, 534, 552, 588, 589, 592, 616 Willkürfreiheit 111, 224 Wollen – als Grundlage der Vertragstheorie 220 – des Individuums 67, 256 – politisches 29, 552, 609 – staatliches 256 Zurechnung 48, 142

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Zurechnungsstruktur 99, 592 Zurechnungssubjekt 35, 247, 258, 260, 319, 323, 337, 338, 439, 450 Zustimmungsgesetz 57, 163, 164, 168, 231, 258, 261-264, 281, 300, 516, 613 Zustimmungsverordnung 522 Zwangsbefugnis 94, 204, 208, 274, 276 Zweckverband funktioneller Integration 30, 80, 188, 311