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German Pages 218 [220] Year 2019
Kanonistische Studien und Texte Band 69
Religiöse Vielfalt Herausforderungen für das Recht
Herausgegeben von
Wilhelm Rees, Ludger Müller, Christoph Ohly und Stephan Haering
Duncker & Humblot · Berlin
REES/MÜLLER/OHLY/HAERING (Hrsg.)
Religiöse Vielfalt
Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn sowie von Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz und Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz herausgegeben von Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Dr. C h r i s t o p h O h l y Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier
Band 69 REES/MÜLLER/OHLY/HAERING (Hrsg.)
Religiöse Vielfalt
Religiöse Vielfalt Herausforderungen für das Recht
Herausgegeben von
Wilhelm Rees, Ludger Müller, Christoph Ohly und Stephan Haering
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-15392-3 (Print) ISBN 978-3-428-55392-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85392-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort
I
Vorwort In den Ländern Europas hat – unter anderem durch eine wachsende Mobilität – die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen zugenommen. Eine religiös homogene Gesellschaft gibt es weniger denn je. Aufgrund dieser Tatsache fand vom 15. bis 17. Februar 2016 in der Katholischen Akademie Berlin eine kirchenrechtliche Tagung mit dem Thema „Religiöse Vielfalt – Herausforderungen für das Recht“ mit zehn Vorträgen, drei Arbeitsgruppen und einer Podiumsdiskussion statt, deren wissenschaftliche Planung und Durchführung federführend in den Händen von Prof. Dr. Ludger Müller, Institut für Kirchenrecht an der Universität Wien, zusammen mit Prof. Dr. Stephan Haering OSB, Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof. Dr. Christoph Ohly, Theologische Fakultät Trier, und Prof. Dr. Wilhelm Rees, Lehrstuhl für Kirchenrecht am Institut für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, lagen. Die Tagung wandte sich den Herausforderungen zu, die sich für das Recht der Staaten wie auch der Kirchen und Religionsgemeinschaften aus dem Umstand religiöser Vielfalt ergeben. So zeigte sich, dass sich das bislang weithin auf die Katholische und Evangelische Kirche zugeschnittene System des deutschen Staatskirchenrechts in Richtung weiterer Kirchen und Religionsgemeinschaften öffnen muss. Ausdrücklich wurden vier rechtlich relevante Themenbereiche, nämlich Blasphemie, Ehe und Familie, Bildung und Erziehung sowie Religionswechsel, in Vorträgen bzw. Arbeitskreisen aus der Sicht des Judentums, des Christentums und des Islams beleuchtet. Der vorliegende Tagungsband beinhaltet einzelne Tagungsbeiträge, die um weitere Beiträge ergänzt wurden. Die Herausgeber danken der Autorin und den Autoren, die ihren Beitrag für den Abdruck zur Verfügung gestellt haben, Herrn Mag. Dr. iur. can. Klaus Zeller, LL.M., Vorstand des Instituts für Kirchenrecht an der Universität Wien, für die redaktionelle Bearbeitung und Korrektur, ferner denjenigen Institutionen und Einrichtungen, die durch finanzielle Unterstützung sowohl die Tagung als auch die Drucklegung dieses Bandes ermöglicht haben. Dank gebührt auch dem Verleger, Herrn Dr. Florian Simon, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, für die Aufnahme des Bandes in die im Verlag erscheinende Reihe „Kanonistische Studien und Texte“. Möge der Band einen Beitrag zur Stärkung eines vergleichenden Religionsrechts leisten. Innsbruck/Wien/Trier/München, 19. November 2018
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis Heinrich de Wall Religiöse Vielfalt in Deutschland – Konsequenzen für das staatliche Recht . . . .
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Ludger Müller Religiöse Vielfalt – Herausforderungen aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Kowatsch Kirchen- oder Religionsfreiheit – Eine zulässige Alternative? . . . . . . . . . . . . . .
37
Ulrich Weinbrenner Der Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik: Innenpolitische Perspektiven
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Mohammed Khallouk Religiöses Potential und Bürgerinitiativen von Muslimen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Stefan Mückl Blasphemie aus der Sicht des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Stephan Haering OSB Kirche und Bildung. Hinweise zum kirchlichen Bildungsauftrag in der geltenden kanonischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Christoph Ohly Ehe und Familie. Kennzeichen eines katholischen Profils in religiös pluraler Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Angelika Günzel Religionswechsel im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Hanns Engelhardt Zwischenkirchliche Beziehungen, Kirchenzugehörigkeit, Religionswechsel. Eine anglikanische Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Wilhelm Rees Beitritt, Austritt, Wechsel des Religionsbekenntnisses und Wiedereintritt. Theologische und kanonistische Anmerkungen aus römisch-katholischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
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Inhaltsverzeichnis
Burkhard Josef Berkmann Verkündigung des Evangeliums in pluralistischem Kontext. Zusammenspiel verschiedener normativer Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Religiöse Vielfalt in Deutschland – Konsequenzen für das staatliche Recht Von Heinrich de Wall
1. Einleitung Die weltweite Flüchtlingswelle und ihre Bedeutung für Deutschland unterstreichen die Aktualität des Themas. Menschen unterschiedlicher Religion suchen Zuflucht in der Bundesrepublik und Staat und Rechtsordnung sehen sich vor die Aufgabe gestellt, diesen Zustrom zu bewältigen und die Flüchtlinge zu integrieren. Die Herausforderungen, vor denen die Rechtsordnung steht und die Verbindung des Flüchtlingsthemas mit der Religion werden auch an den Gegenreaktionen deutlich. In den USA hat der Präsidentschaftskandidat Trump ein Einreiseverbot für Muslime nicht nur gefordert, er hat es auch kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident – jedenfalls teilweise – zu verwirklichen versucht. In Deutschland hat eine Zeit lang eine Bewegung erhebliches Aufsehen erregt, die sich gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes wendet. Das Echo, das sie gefunden hat, unterstreicht die Aktualität des Themas. Aber nicht nur die jüngste Flüchtlingswelle, auch längst etablierte Gemeinschaften stellen die deutsche Rechtsordnung im religiösen Bereich vor Herausforderungen. So wird nach wie vor in Frage gestellt, ob und welche islamischen Vereinigungen in Deutschland als Religionsgemeinschaften zu qualifizieren sind. Diese Beispiele sind Indizien für die aktuelle Bedeutung des Themas. Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat sich in seinem lesenswerten Jahresgutachten 2016 unter dem Titel: „Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland“1 damit beschäftigt. Sowohl die aktuellen Geschehnisse als auch ältere Diskussionen, die sich im Zusammenhang mit den Problemen religiöser Pluralisierung ergeben haben, zeigen, dass es dabei nicht allein um Religion geht, sondern um eine Gemengelage kultureller und religiöser Aspekte. Die Silvesterereignisse 2015/16 in Köln hat man mit den Wirkungen einer „muslimischen Männerkultur“ zu erklären versucht. Ob, weniger spektakulär, das Schächten, das Kopftuchtragen oder die Beschneidung von Knaben 1 Im Internet veröffentlicht unter der Adresse: https://www.svr-migration.de/wp-content/up loads/2016/04/SVR_JG_2016-mit-Integrationsbarometer_WEB.pdf. Siehe zum Thema neuerdings auch Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat, Frankfurt a.M. 2016.
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religiöse oder kulturelle Gründe haben, ist ebenfalls diskutiert worden. Beim Thema Integration stellt sich in der Tat die Frage, inwiefern bestimmte Verhaltensmuster, die in der aufnehmenden Gesellschaft fremd sind, religiös fundiert oder „nur“ kulturell bedingt sind2. Für die Rechtsordnung ist das deshalb von Bedeutung, weil nur religiös bedingtes Verhalten den Schutz der Religionsfreiheit mit ihrer großzügigen Schrankenregelung genießt. Ich werde darauf zurückkommen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die religiösen Aspekte des Themas und behandeln damit nur einen Teilaspekt eines vielschichtigen Problems – und auch nicht den drängendsten Fragenkreis. Es ist allerdings für das Recht und seine Anwendung nichts Ungewöhnliches, nur die Teilaspekte eines Sachverhalts in den Blick zu nehmen. Es ist vielmehr geradezu ein Kennzeichen des Rechts und Voraussetzung für das Funktionieren der Rechtsordnung, dass die Komplexität eines Lebenssachverhalts im Hinblick auf einzelne, rechtlich relevante Aspekte reduziert wird.
2. Zahlen und Entwicklungen Als Grundlage für die folgenden Ausführungen darüber, wie die Rechtsordnung auf die religiöse Vielfalt reagiert oder reagieren sollte, ist ein kurzer Blick auf die zugrundeliegende Entwicklung und auf den historischen Hintergrund unserer Rechtsordnung hilfreich. Was die Statistiken der Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit in Deutschland angeht, fällt zunächst auf, dass es im Wesentlichen drei gleich große und eine Reihe kleinerer Gruppen gibt. An Kopfzahl ungefähr gleich groß sind neben den Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Landeskirchen die Konfessionslosen. Diese drei Gruppen machen zusammen rund 90 % der Bevölkerung aus. Entsprechend fallen die übrigen Religionen und Weltanschauungen deutlich zurück. An größeren Gruppen sind hier allerdings Anhänger des sunnitischen Islam mit vorsichtig geschätzt gut 212 Millionen, also über 3 % der Bevölkerung, sowie der verschiedenen orthodoxen Christen mit zusammen gut 1,2 bis 1,5 Millionen Mitgliedern zu nennen, also etwa zwischen 1,5 und 1,8 %3. Die Zahlen sind hier nur sehr grob und ungenau, aber auf genaue Prozentzahlen kommt es in unserem Zusammenhang nicht an. Neben diesen drei großen und zwei größeren kleinen Gruppen existieren eine große Fülle kleinerer religiöser Gemeinschaften mit Mitgliederzahlen
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Siehe zum Thema allgemein Thomas Fritsche, Der Kulturbegriff im Religionsverfassungsrecht, Berlin 2015; dazu meine Besprechung, in: Die Öffentliche Verwaltung 2016, S. 914 – 915. Leider geht diese Arbeit nur sehr knapp auf diese ganz praktischen Probleme ein. 3 Detailliertere Zahlen bei Wikipedia (dort mit näherer Angabe der Quellen) https://de.wi kipedia.org/wiki/Religionen_in_Deutschland; s.a. die Zahlen im Gutachten des Sachverständigenrats (o. Anm. 1), S. 90 f.
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zwischen immerhin etwa 350.000 für die Neuapostolische Kirche und kleinen Gemeinschaften mit unter 10.000 Mitgliedern bundesweit. Für unser Thema ist das insofern interessant, als für eine der großen Gruppen, die Konfessionslosen, sich viele Probleme der rechtlichen Bewältigung der religiösen Pluralität nicht bzw. nicht so stellen wie für andere Gruppen. Die Gruppe der Konfessionslosen ist nur schwach organisiert. Daher stellen sich viele Fragen des Religionsrechts, die an die organisierte Religiosität anknüpfen für sie nicht. Auch andere typische Probleme der Reaktion der Rechtsordnung auf religiöse Phänomene sind für diese Gruppe nicht einschlägig. Religiöse Bekleidung, der Schutz religiöser Zeremonien vor Dritten, religiös bedingte Speisevorschriften, die mit dem Tierschutz- oder Lebensmittelrecht kollidieren, dergleichen kommt hier nicht vor. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Konfessionslosen im Religionsrecht keine Beachtung verdienen. Allerdings tauchen manche der Probleme bei der Bewältigung religiöser Pluralität für die mittlerweile wohl größte Gruppe nicht in gleicher Weise auf wie bei den Religionen. Bei den Konfessionslosen geht es vor allem um die Verwirklichung der „negativen“ Aspekte der Religionsfreiheit, nicht um die positive Religionsausübung. Dessen ungeachtet ist die religiöse Vielfalt in Deutschland nach wie vor eine solche von zwei großen und mehreren kleineren Gruppen. Wenn man die Konfessionslosen außer Betracht lässt und nur die religiösen Gruppierungen einbezieht, dann fällt im historischen Längsschnitt auf, dass die Konstellation zweier großer und einer Vielzahl kleinerer Gruppierungen in der deutschen Geschichte nicht ganz so neu ist. Vielmehr hat die deutsche Rechtsordnung mit dieser Konstellation weiter zurückreichende Erfahrungen. So ist für die Bewertung des religionsrechtlichen Systems des 19. Jahrhunderts der Begriff der „gestuften Parität“ bekannt, der mit einer gewissen inneren Paradoxie beschreibt, dass neben den großen öffentlich korporierten Religionsgemeinschaften eine gewisse Anzahl ebenso korporierter, aber kleiner Religionsgemeinschaften und darüber hinaus eine Fülle an privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften bestand. Der Organisationsform entsprachen gestufte rechtliche Privilegierungen4. Im Vergleich zu heute waren im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die beiden Großkirchen allerdings noch erheblich stärker. Noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gehörten mehr als 90 % der damaligen westdeutschen Bevölkerung einer der beiden Kirchen an. Seither ist vor allem der Anteil der Konfessionslosen in die Höhe geschossen, daneben hat sich auch der Anteil von Mitgliedern anderer Religionen erhöht. Dies geht vor allem zugunsten des Islams und der Orthodoxie. Die religionsverfassungsrechtlichen Problemfälle und Diskussionen betrafen freilich ganz überwiegend den Islam und seine Einbeziehung in das Religionsrecht5. Für die zweite große unter den kleinen Gruppierungen, die orthodoxen Kirchen, gibt es keine vergleichbaren Kontroversen. Rechtliche Proble4
Siehe dazu Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 3. Aufl., München 2017, § 20; Heinrich de Wall/Stefan Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., München 2017, § 6 Rdnr. 3. 5 Eine Zusammenfassung der kulturellen, religiösen und rechtlichen Aspekte des Islams in Deutschland bietet Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland, München 2016.
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me und Entwicklungen haben sich also insbesondere im Zusammenhang mit der Integration des muslimischen Bevölkerungsanteils und der islamischen religiösen Organisationen ergeben.
3. Die Unterscheidung von Kultur und Religion im Religionsrecht Was waren bzw. sind die Konsequenzen dieser differenziert gewachsenen religiösen Vielfalt in Deutschland für das staatliche Religionsrecht, das Gegenstand dieser Betrachtungen ist? Naturgemäß sind auch viele andere Rechtsbereiche von den durch die Zuwanderung muslimischer und orthodoxer Bevölkerungsanteile verursachten Problemen, wenn man sie so nennen will, betroffen. Es gibt migrations- und ausländerrechtliche Fragen, Probleme der Abschottung Eingewanderter in Milieus, die der deutschen Rechtspflege zum Teil nicht mehr uneingeschränkt zugänglich sind, Probleme der inneren Sicherheit. Der Zusammenhang solcher Erscheinungen mit der Religion scheint aber ein eher mittelbarer zu sein. Insofern sind die Reaktionen des Rechts darauf weniger Konsequenzen der religiösen Vielfalt als vielmehr von sozialen und kulturellen Spannungen. Damit ist wiederum die eingangs schon aufgeworfene Frage des Zusammenhangs zwischen kulturellen und religiösen Aspekten und ihrer Unterscheidbarkeit aufgeworfen. Insofern ist die Frage zu stellen, ob man bestimmte Verhaltensweisen, die typischerweise mit einer bestimmten Religion verbunden werden, deshalb aus dem Zusammenhang des Religionsrechts ausschließen kann, weil sie in Wirklichkeit nicht einen religiösen, sondern einen kulturellen Hintergrund haben. An dieser Formulierung wird bereits die Problematik einer solchen Argumentation deutlich. Es ist nämlich unter anderem die Frage, wer darüber entscheidet, ob eine bestimmte Verhaltensweise sich zu Recht auf eine Religion beruft oder nicht. Was dem einen selbstverständlicher Ausdruck seiner Religiosität ist, erscheint dem anderen als kulturell bedingt: Kopftücher, Verbot des Genusses von Schweinefleisch oder die Beschneidung von Knaben mögen Beispiele dafür sein. Überdies ist zu bedenken, dass Religion und Kultur sehr eng zusammenhängen und zum Teil auch kaum unterscheidbar sind. Nicht umsonst wird von christlich-abendländischer Kultur oder auch von muslimischer Kultur gesprochen. Insofern erscheint die Frage, ob etwa das Verbot des Verzehrs von nicht geschächtetem Fleisch einen religiösen oder einen kulturellen Hintergrund hat, einigermaßen künstlich. Für die Rechtsordnung taucht die Frage, ob ein Verhalten religiös oder „nur“ kulturell begründet ist, vor allem dann auf, wenn zu entscheiden ist, ob es den Schutz der Religionsfreiheit des Art. 4 I und II GG genießt. Da die Religionsfreiheit nach dem Verständnis, das die durch das Bundesverfassungsgericht geleitete Rechtsanwendungspraxis und auch die ganz überwiegende Mehrheit in der Literatur zugrunde legt, weit auszulegen ist und nicht nur kultische Handlungen umfasst, sondern
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dem Gläubigen das Recht einräumt, sein gesamtes Verhalten an den Geboten seiner Religion auszurichten6, können eine große Zahl von Verhaltensweisen den Schutz dieses Grundrechts in Anspruch nehmen. So sind das Glockenläuten7, das Tragen eines Kopftuchs8 oder die karitative Tätigkeit mit Einschluss der Beratungstätigkeit für Schwangerschaftsfragen9 der Religionsfreiheit zugeordnet worden10. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss man für die Frage, ob ein Verhalten als Ausdruck der Religion zu bewerten ist, das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers entscheidend einbeziehen11. Anderenfalls würde der Staat sich zum Richter über die Religionen aufschwingen, obwohl dem Grundgesetz doch zu entnehmen ist, dass die Religion gerade gegenüber diesem Staat frei ist und dass in Bezug auf die Religionen der Staat eine neutrale Haltung einzunehmen hat. Eine uneingeschränkte Definitionskompetenz der Gerichte und Behörden über die Frage, was legitime Religionsausübung ist, steht dem entgegen. Der Freiheit der Religion entspricht es vielmehr, beim Selbstverständnis des Grundrechtsträgers schon für die Bestimmung des Religiösen anzusetzen. Freilich bedeutet dies keine uneingeschränkte und willkürliche Definitionskompetenz für die Religion beim Grundrechtsträger, denn dies würde bedeuten, dass allein die Erklärung eines Individuums, dieses oder jenes Verhalten sei religiös begründet, ausreichen würde, ihm den Schutz der Religionsfreiheit angedeihen zu lassen. Daher muss man Plausibilitätsgrenzen ziehen. Ein Verhalten kann nur dann dem Schutz der Religionsfreiheit genießen, wenn der Grundrechtsträger anderen, insbesondere den staatlichen Gerichten und Behörden gegenüber, plausibel darzulegen vermag, dass und weshalb sein Verhalten von seiner Religion gefordert wird12. Dabei ist im Interesse der Religionsfreiheit eine religionsfreundliche Perspektive einzunehmen. Nicht die Verwunderung darüber, was man alles religiös begründen kann, wie sie bei manchen Religionsfernen anzutreffen ist, ist der richtige Blickwinkel. Vielmehr ist durch die Gewährleistung der Religionsfreiheit auch durch die Rechtsordnung anerkannt, dass der Mensch sich in überweltliche Zusammenhänge eingebettet sieht, die Anforderungen an sein Verhalten stellen. Das ist als Ausdruck menschlicher Freiheit in freundlicher Neutralität zu würdigen. Auch bei Anlegung eines solchen Maßstabes lassen sich aber bestimmte Verhaltensweisen aus dem Schutz der Religionsfreiheit ausschließen. So ist es noch nicht gelungen, darzulegen, weshalb die Religion die Trunksucht oder das Rauchen oder die Hehlerei gebietet. 6 BVerfGE 24, 236 (246 ff.); 32, 98 (106 f.), str. Rspr., s.a. BVerfGE 138, 296 (329 Rdnr. 85). 7 BVerwGE 68, 62 (67 f.). 8 BVerfGE 138, 296 (330 Rdnr. 87). 9 BayVerfGHE 59, 1 (16). 10 Übersicht bei Michael Germann, in: Volker Epping/Christian Hillgruber, Grundgesetz, 2. Aufl., München 2009, Art. 4 Rdnr. 24.4. 11 BVerfGE 138, 296 (329 Rdnr. 86). 12 BVerfGE 138, 296 (330 Rdnr. 87 ff.).
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Dies bedeutet aber auch, dass der Hinweis darauf, dass ein bestimmtes Verhalten nicht religiös, sondern kulturell begründet sei, häufig rechtlich nicht verfängt. Der Grundrechtsberechtigte muss nur verständlich machen, weshalb er sein Verhalten von der Religion gefordert ansieht. Ob dies so richtig ist, oder ob aus der Sicht eines anderen möglicherweise andere Gründe überwiegen, ist insofern nicht bedeutend. Denn dem Rechtsanwender kommt nicht die Befugnis zu, darüber zu entscheiden, ob religiöse Ableitungen richtig sind, sie müssen nur nachvollzogen werden können – und das, wie gesagt, aus der Sicht eines dem Religiösen grundsätzlich aufgeschlossenen Rechtsanwenders. Das alles sind natürlich sehr abstrakte Kriterien, deren Bewährungsprobe bei der Anwendung auf den konkreten Einzelfall ansteht. Für den hier zu betrachtenden Zusammenhang ist zu konstatieren, dass die Rechtsordnung bisher in Bezug auf die Bestimmung des Religiösen gerade im Interesse der Religionsfreiheit und der religiösen Neutralität des Staates großzügig war. Umso wichtiger ist die Aussage, dass die Religionsfreiheit durch das Grundgesetz nicht schrankenlos gewährt wird, sondern dass der Gesetzgeber ihr zum Schutz anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang und unter Einhaltung der übrigen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen wirksam Grenzen zu ziehen vermag13. Das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Würde und die persönliche Freiheit anderer, der Tierschutz, all dies kann Beschränkungen der Religionsfreiheit rechtfertigen. Insofern ist nicht ersichtlich, dass unüberwindliche verfassungsrechtliche Hürden für die erforderlichen Einschränkungen der Religionsfreiheit im Interesse und zum Schutz der Rechtsgüter anderer bestünden. Der Staat hat die Mittel in der Hand, religiösen Verhaltensweisen, die die Rechtsgüter anderer und die Einrichtungen des Staates gefährden, Einhalt zu gebieten. Gerade vor dem Hintergrund religiöser Pluralität ist diese Grundsystematik des Art. 4 in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts richtig. Sie kann folgendermaßen in die nichtjuristische Alltagssprache übersetzt werden: Es ist gegenüber Menschen, die sich für ihr Verhalten auf die Gebote einer Religion berufen, weniger überzeugend und der Integration weniger förderlich, wenn ihnen ihre Religion abgesprochen und gesagt wird, dass das, was sie tun wollen, in Wirklichkeit nicht religiös begründet ist. Erfolgversprechender und überzeugender ist es, darauf hinzuweisen, dass das entsprechende Verhalten im Interesse und zum Schutze der Rechte anderer eingeschränkt werden muss und dass dies unabhängig davon gilt, ob das Verhalten religiös begründet ist oder nicht. Damit wird umso mehr verdeutlicht, dass die Ordnung des Grundgesetzes nicht gegen eine bestimmte Religion oder gegen religiöses Verhalten überhaupt gerichtet ist, sondern dass bestimmte Verhaltensweisen wegen ihrer Auswirkungen auf die Grundrechte anderer oder auf andere Rechtsgüter von Verfassungsrang nicht toleriert werden können, auf welcher Religion sie auch beruhen mögen oder ob sie überhaupt keinen religiösen Hintergrund haben.
13 BVerfGE 28, 243 (260 f.); 32, 98 (107 f.); 44, 37 (49 f.), st. Rspr., s.a. BVerfGE 138, 296 (333 Rdnr. 98).
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4. Entwicklungen im Religionsrecht Was konkretere Folgen der religiösen Vielfalt für die Rechtsordnung angeht, so ist zunächst zu bemerken, dass diese Vielfalt keine ganz neue Erscheinung ist. Daher kann man doch auf eine ganz erhebliche Anzahl an Entwicklungen im Religionsrecht zurückblicken, die auf die religiöse Pluralisierung zurückzuführen sind. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist zum Beispiel der Religionsunterricht an staatlichen Schulen auf eine stattliche Zahl von Religionen bzw. Religionsgemeinschaften ausgedehnt worden und bei der Einrichtung eines Art. 7 III GG entsprechenden Religionsunterrichts für den Islam ist man ein gutes Stück vorangekommen14. Religionsunterricht wird beispielsweise in Bayern nicht nur für die beiden großen Konfessionen erteilt, sondern auch als orthodoxer, als altkatholischer, als jüdischer und als alevitischer Religionsunterricht. Der islamische Religionsunterricht ist in Bayern noch im Stadium eines verstetigten Modellversuches. Im Schuljahr 2016/17 erhielten von den etwa 60.000 muslimischen Schülern in Bayern 11.500 einen solchen Unterricht, der an 260 Schulen angeboten wurde15. Ein zweiter Bereich mit ähnlichen Weiterentwicklungen der staatlichen Institutionen ist der der theologischen Hochschuleinrichtungen. Neben evangelischen und katholischen theologischen Fakultäten und Instituten existieren Hochschuleinrichtungen für orthodoxe Theologie, für jüdische Theologie und an mittlerweile 5 Standorten solche für islamische Theologie16. Auch die Institution von vertraglichen Vereinbarungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ist nicht auf die evangelischen Landeskirchen und den Heiligen Stuhl beschränkt. Vielmehr existieren mittlerweile vertragliche Vereinbarungen mit jüdischen Gemeinschaften, mit kleineren christlichen Kirchen und in Hamburg und Bremen auch solche mit muslimischen Gemeinschaften17. Aufgrund der Irritationen der jüngsten Zeit ist allerdings das Projekt eines solchen Vertrages für Niedersachsen gestoppt worden18. Im Zusammenhang mit solchen Vereinbarungen scheint es zweitrangig, ob sie als Staatsverträge oder als bloß verwaltungsrechtliche Vereinbarungen abgeschlossen werden. Entscheidend ist der hier zum Ausdruck kommende Wille des Staates und der Religionsgemeinschaften, Fragen von gemeinsamem Interesse auch gemeinsam lösen zu wollen – natürlich immer unter Einhaltung der verfassungs-
14
Siehe Sachverständigenrat (Anm. 1), S. 105 ff. Https://www.km.bayern.de/allgemein/meldung/4238/bayern-weitet-islamischen-unter richt-an-den-schulen-aus.html (aufgerufen am 03. 05. 2017). 16 Siehe Sachverständigenrat (Anm. 1), S. 111 ff. 17 Siehe Sachverständigenrat (Anm. 1), S. 104 f.; allgemein neuerdings Julia Lutz-Bachmann, Mater rixarum?, Tübingen 2015, insbes. S. 215 ff. 18 Http://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/vertragsverhandlungen-mit-ditibund-schura-sowie-der-alevitischen-gemeinde-139428.html, dort auch der vorher ausgehandelte Entwurf (aufgerufen am 03. 05. 2017). 15
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rechtlichen Grundsätze der Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, des Selbstbestimmungsrechts letzterer und der Gleichheit der Religionen. Der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts, diese Besonderheit des deutschen Religionsrechts, ist schon seit Jahr und Tag nicht auf die christlichen Großkirchen beschränkt. Vielmehr hatten bereits im 19. Jahrhundert zum Teil andere christliche Gemeinschaften und die jüdischen Gemeinden diesen Status bzw. einen vergleichbaren Vorgängerstatus. Wiederum in Bayern haben 19 Gemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, wobei darauf hingewiesen werden kann, dass darunter auch Weltanschauungsgemeinschaften sind. In jüngerer Zeit haben die Zeugen Jehovas und die Bahai in verschiedenen Ländern diesen Status erstritten19. In Hessen hat mit der Ahmadiiya Gemeinschaft erstmals eine muslimische Vereinigung den Körperschaftsstatus erlangt.
5. Grundsatz des Religionsrechts: Integration statt Distanzierung oder Exklusion Diese Beispiele für Konsequenzen der religiösen Pluralisierung für die staatliche Rechtsordnung zeigen eine deutliche Tendenz. In den genannten Fällen sind die Institutionen des Religionsrechts auf neu hinzugekommene Religionen bzw. Religionsgemeinschaften ausgedehnt worden. Umgekehrt sind diese in das System des Religionsrechts integriert worden. Dies entspricht dem religionsfreundlichen, nicht nur die individuelle, sondern auch organisierte Religionsausübung gewährleistenden und die Religion auch in der Öffentlichkeit und in öffentlichen Einrichtungen integrierenden und auf der religiösen Gleichheit aufbauenden deutschen Religionsrecht am besten. Dementsprechend haben Reaktionen bzw. vorläufige Reaktionen der Rechtsordnung, die einer anderen Tendenz folgen, bisher keinen nachhaltigen Erfolg gehabt. Dazu ist die erste Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu zählen. Hier hielt das Gericht es für zulässig, dass der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein könne. Dabei ließen sich, wie das BVerfG ausführt, „Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen“, es könne aber auch gute Gründe dafür geben, „der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen“20. Danach hätte es der Gesetzgeber in der Hand, in den Schulen generell eine distanzierende Neutralität des Staates vorzusehen. Von diesem Konzept, das, wie gesagt, dem Trend der anderen Reaktionen der Rechtsordnung auf den religiösen Pluralismus widerspricht, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Kopftuchentscheidung wieder deutlich in Richtung 19 20
Siehe Sachverständigenrat (Anm. 1), S. 100. BVerfGE 108, 282 (310).
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des Konzepts der offenen Neutralität Abstand genommen. Es verlangt als Voraussetzung für ein Verbot des Kopftuches bei einer Lehrkraft nunmehr eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden, die es als der Ausübung der Religionsfreiheit widerstreitende Schutzgüter ansieht. Anders als nach der ersten Kopftuchentscheidung soll also nicht mehr die bloße abstrakte Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule durch den Gesetzgeber ausreichen. Vielmehr muss eine konkrete Gefahr für solche Rechtsgüter bestehen, die Einschränkungen der Religionsfreiheit rechtfertigen können21. Man mag sich darüber streiten, ob die Übertragung des sicherheits- und polizeirechtlichen Begriffs der konkreten Gefahr auf die Formulierung von gesetzlichen Voraussetzungen für ein Kopftuchverbot glücklich ist. Deutlich ist jedenfalls, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nicht mehr die volle Freiheit zubilligt, aufgrund eines neuen Verständnisses der Neutralität religiöse Bekundungen an der Schule zu unterbinden. Auch im Übrigen unterstreicht das Gericht in der Begründung das Konzept einer offenen, religionsfreundlichen Neutralität des Staates. Manche Bundesländer haben auf die erste Kopftuchentscheidung in einer Weise reagiert, die noch eine dritte Grundhaltung neben der integrativen und der distanzierenden Neutralität deutlich werden lässt. Dort sollte zwar grundsätzlich das Tragen religiöser Bekleidung durch Lehrkräfte an den staatlichen Schulen eingeschränkt werden; die Gesetze sahen dabei aber Ausnahmen für solche religiöse Bekundungen vor, die christlichen und abendländischen Bildungs- und Kulturwerten oder Traditionen entsprechen22. Hier versuchte der Gesetzgeber also entgegen der integrativen Konzeption, alle Religionsgemeinschaften in die überkommenden religionsrechtlichen Bestimmungen einzubeziehen, eine Privilegierung bestimmter Äußerungen der Religion, nämlich der christlichen. Dies entspricht in der Tendenz einer auch bisweilen in der Literatur vorgebrachten Ansicht, wonach die Regelungen des Religionsverfassungsrechts für die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinschaften konzipiert sind und daher nicht ohne weiteres auf „Kulturimporte“ übertragbar sind, gemeint sind damit insbesondere der Islam und islamische Gemeinschaften23. Der Privilegierung christlich geprägter religiöser Bekleidung hat das Bundesverfassungsgericht in der jüngsten Kopftuchentscheidung zu Recht widersprochen24. Mit dem Grundgesetz ist sie nicht zu vereinbaren. Zwar ist es richtig, dass die Institutionen des Religionsverfassungsrechts im Blick auf die christlichen Kirchen konzipiert sind. Der Verfassungsgeber der Weimarer Reichsverfassung sah sich vor die Aufgabe gestellt, nach dem Entfall der vorherigen verfassungsrechtlichen und religionsrechtlichen Grundlagen eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und 21
BVerfGE 138, 296 (341 f., Rdnr. 113, 115). Überblick, auch zu den Reaktionen auf das jüngste Kopftuchurteil bei Markus Schulten, Die Reaktionen der Landesgesetzgeber auf den Kopftuchbeschluss des Bundesverfassungsgerichts, KuR 2/2015, S. 168 – 178. Siehe auch Sachverständigenrat (Anm. 1), 152 f. 23 Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: Juristenzeitung (JZ) 1999, S. 538 – 547. 24 BVerfGE 138, 296 (346 ff., Rdnr. 123 ff.). 22
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Kirche zu finden und zwar gerade vor dem Hintergrund der beinahe vollständigen Erfassung der Bevölkerung durch die Kirchen. Dieser historische und verfassungspolitische Hintergrund ist aber nicht Inhalt der Regelung und ihrer Tatbestandsmerkmale geworden. Vielmehr sprechen die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz bewusst nicht von Kirchen, sondern in neutralisierender und ausdehnender Tendenz von Religionsgesellschaften oder -gemeinschaften. Die Garantie des Religionsunterrichts ist nicht auf christlichen und jüdischen Religionsunterricht beschränkt. Vielmehr ist das Gebot der Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft neutral formuliert. Die Religionsgesellschaften, nicht die Kirchen, ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten selbstständig, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können Körperschaften des öffentlichen Rechts sein usw. Überdies wird an mehreren Stellen der Verfassung die religiöse Gleichheit, wieder ohne privilegierende Tendenz zugunsten des Christentums, hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund ist der Versuch, die Institution des Staatskirchenrechts christlichen Gemeinschaften vorzubehalten, ebenso abzulehnen wie die Privilegierung bestimmter religiöser Äußerungsformen. Dabei war und ist für Gesetzgebung und Rechtsanwendung auch manche überkommene Auslegung religionsverfassungsrechtlicher Begriffe zu überdenken. Dies ist insbesondere für den Begriff der Religionsgemeinschaft zu beobachten gewesen. Weshalb beispielsweise eine Dachverbandsorganisation nicht Religionsgemeinschaft sein können soll, war und ist verfassungsrechtlich vor dem Hintergrund des auch die eigene Organisation umfassenden Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften nur schwer erklärbar. Das Bundesverwaltungsgericht hat es demgemäß völlig zu Recht für möglich gehalten, dass auch Dachverbände Religionsgemeinschaften im Sinne des Art. 7 III S. 2 GG sind25. Zu Recht hat auch die Rechtsprechung die allein auf Absprachen der Ministerialverwaltung begründeten überkommenen Kriterien für die Verleihung des Körperschaftsstatus‘, etwa das Erfordernis eines Mindest-Bevölkerungsanteils von einem Promille als Voraussetzung für die in der Verfassung geforderte „Gewähr der Dauer“, negiert26. Auch das üblicherweise genannte Kriterium einer mindestens 30-jährigen Existenz ist nicht haltbar. Da die dem Grundgesetz vorausgehende Bayerische Verfassung von 1946 als Voraussetzung für den Körperschaftsstatus lediglich eine Bestandszeit von 5 Jahren verlangt (Art. 143 II S. 2 BV), ist es schwer plausibel zu machen, dass das Grundgesetz von einer Mindestexistenz von 30 Jahren als Voraussetzung für die Verleihung des Körperschaftsstatus’ ausgeht. Religionsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht und religiöse Gleichheit legen keine künstlich einengende Auslegung der neutralen Tatbestandsmerkmale des Religionsverfassungsrechts nahe, sondern eine Auslegung, die die Konsequenzen aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und der Religionsfreiheit zieht. Insgesamt entspricht also die in-
25 26
BVerwGE 123, 49. BVerwG NVwZ 2013, S. 943.
Konsequenzen für das staatliche Recht
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tegrative Tendenz der bisherigen Reaktionen der Rechtsordnung auf die religiöse Pluralisierung den Grundsätzen des Religionsverfassungsrechts.
6. Trends und Tendenzen Abschließend soll mit Blick auf die Zukunft auf einige wahrscheinliche Trends der Reaktion der Rechtsordnung auf die religiöse Pluralisierung eingegangen werden. Es erscheint – trotz aktueller Irritationen und auch in Zukunft nicht auszuschließender retardierender Momente aus aktuellen Anlässen – wahrscheinlich, dass die bisherige integrative Tendenz fortgesetzt wird. Abzusehen ist, dass etwa muslimische Gemeinschaften bei der Besetzung der Kontrollgremien des öffentlich-rechtlichen und des privaten Rundfunks als Repräsentanten der gesellschaftlich relevanten Kräfte vermehrt berücksichtigt werden. Ansätze dazu hat es schon gegeben. Im Friedhofs- und Bestattungsrecht sind Bestimmungen zugunsten islamischer Bestattungsriten und Gewohnheiten getroffen worden27, ein weiterer Beleg für die integrative Tendenz des Religionsrechts, die sich voraussichtlich verfestigen wird. Der islamische Religionsunterricht wird sich weiter etablieren. Im Feiertagsrecht wird voraussichtlich vermehrt über die Einführung islamischer Feiertage diskutiert werden. Als allgemeiner Trend wird die Pluralisierung und Integration weiterer Religionsgemeinschaften in das Religionsrecht vermutlich dazu führen, dass Sonderinstitutionen des Staatskirchenrechts, die zugunsten der christlichen Kirchen wirken, an Plausibilität abnehmen werden. Für die Konkordatsprofessuren wurden ja bereits die Konsequenzen gezogen – durch die betroffene römisch-katholische Kirche selbst28. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass eine allgemeine Ablösung der Staatsleistungen, wie sie seit nunmehr 98 Jahren verfassungsrechtlich gefordert ist, noch nicht angegangen wurde. Die abzulösenden Staatsleistungen, von denen die neu in Deutschland hinzugekommenen Religionsgemeinschaften nicht profitieren, werden immer schwieriger zu verteidigen sein. Bei der Integration insbesondere des Islams in die religionsrechtlichen Institutionen hat der Staat zum Teil eine helfende und unterstützende Rolle übernommen. Dies ist eine neue Form einer „cura religionis“. Beispiele dafür sind die Regelungen über die Beiräte für islamisch-theologische Einrichtungen, bei denen der Staat der aus der Sicht des Religionsverfassungsrechts noch defizitären Organisation der Muslime durch zur Verfügungstellung eines institutionellen Rahmens abhilft. Die Islamkonferenz ist ein anderes Beispiel für eine solche helfende und unterstützende Rolle des Staates. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange der Staat sich dabei der Interventionen in die selbst zu bestimmenden Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften enthält. Die religiöse Pluralisierung wird es auch nahelegen, dass die grundrechtliche 27
Siehe dazu Rohe, Der Islam in Deutschland (Anm. 5), S. 189 f. Heinrich de Wall, in: Max-Emanuel Geis (Hrsg.), Hochschulrecht im Freistaat Bayern, 2. Aufl., Heidelberg 2017, Abschnitt I Rdnr. 121. 28
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Fundierung des Religionsrechts auch weiterhin betont wird. Entsprechendes gilt für den Grundsatz der Gleichheit der Religionen. Mit der die Religionsfreiheit, die religiöse Gleichheit und das Selbstbestimmungsrecht betonenden und integrativen Fortentwicklung des Religionsrechts haben Gesetzgebung und Gesetzesanwendung einen richtigen und dem Geiste der Verfassung entsprechenden Weg zum Umgang mit religiöser Pluralität eingeschlagen. Demgegenüber ist sowohl in der gesellschaftlichen als auch in der wissenschaftlichen Diskussion zum Teil eine andere Haltung deutlich geworden, die als Konsequenz der religiösen Pluralisierung eher auf eine Zurückdrängung der Religion und religiöser Verhaltensweisen zielt. Ansätze dazu sind etwa in der Diskussion um die Beschneidung von Knaben deutlich geworden. Aber auch in den Kopftuchdebatten sind entsprechende Haltungen verbreitet. Die jüngste Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht demgegenüber, dass es nicht darauf ankommen kann, religiöse Verhaltensweisen pauschal zu unterbinden und dementsprechend sozusagen das religiöse Kind mit dem säkularen Bade auszuschütten. Vielmehr verdeutlicht das Gericht die Aufgabe, Kriterien dafür zu finden, wann die Religionsausübung toleriert und wann sie zugunsten anderer Rechtsgüter zurückzustehen hat. Wenn solche Kriterien überzeugend aufgezeigt und durchgesetzt werden, dann ist die Chance für die Wahrung des öffentlichen Friedens bei gleichzeitiger höchstmöglicher Gewährung bürgerlicher Freiheit auch im Bereich des Religiösen am größten. Nicht das Unterdrücken der Religion bietet die beste Integrationschance, sondern der in der Freiheit gegründete Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen, denen dann, aber auch nur dann, Schranken zu setzen sind, wenn dies zum Schutz anderer, durch die Verfassung geschützter Rechtsgüter erforderlich ist.
Religiöse Vielfalt – Herausforderungen aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts Von Ludger Müller Die katholische Kirche in Europa befindet sich immer mehr in einer Situation der zunehmenden Konkurrenz mit anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Bislang als „katholisch“ angesehene Staaten sind es faktisch schon lange nicht mehr, und selbst die Charakterisierung des Abendlandes als „christlich“ kann im Blick auf die derzeitigen Verhältnisse nicht mehr mit gutem Gewissen beibehalten werden. Das „christliche Europa“ wird mehr und mehr zum Missionsland.1 Auch Papst Benedikt XVI. stellt in seinem Motu Proprio zur Errichtung des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung fest, daß die Sendung der Kirche sich je nach Ort und Zeit unterscheidet, und analysiert nüchtern: „In unserer Zeit ist das Einzigartige die Auseinandersetzung mit dem Glaubensverlust, der sich im Laufe der Zeit bei Gesellschaften und Kulturen manifestiert hat, die seit Jahrhunderten vom Evangelium getränkt schienen.“2 Die Tätigkeit des von Papst Benedikt XVI. begründeten Rates zur Förderung der Neuevangelisierung soll daher vor allem den Teilkirchen „in jenen Territorien christlicher Tradition“ zugute kommen, „wo das Phänomen der Säkularisierung deutlicher zutage tritt“ (MP Ubicumque et semper, Art. 2).3 Diese neue Situation einer Entchristlichung stellt eine Herausforderung nicht nur für die katholische Kirche und jeden Katholiken dar,4 sondern auch speziell für die Rechtsordnung der katholischen Kirche und für alle, die mit ihrer Verwirklichung und Umsetzung zu tun haben. So stellt sich die Frage: Welche Herausforderungen ergeben sich aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts im Zusammenhang mit der zunehmenden religiösen Vielfalt, vor allem in traditionell katholischen Ländern? Zur Behandlung dieser Frage erscheinen zunächst einige kurze Beobachtungen rechtssprachlicher Art notwendig, denn in der Art und Weise, wie über Anders1 Vgl. hierzu: Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand, hrsg. von Peter Krämer u. a., Berlin 2007 (Kirchenrechtliche Bibliothek 10), hieraus bes. Joachim Wanke, Missionarische Kirche in einer entchristlichten Umwelt, S. 11 – 22. 2 Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Motu Proprio „Ubicumque et Semper“ vom 21. September 2010, in: AAS 102 (2010), S. 788 – 792, hier 788. 3 Ebd., S. 791. 4 Ähnliches dürfte auch für die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gelten, was hier aber nicht zu behandeln ist.
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gläubige gesprochen wird, zeigt sich, wie mit anderen Religionen und ihren Anhängern umgegangen wird. Als die zentrale Frage erscheint sodann die Religionsfreiheit – dies insbesondere im Blick auf die innere Situation der Kirche selbst. Fragen der Religionsfreiheit stellen sich aber auch immer wieder im Blick auf die öffentliche Ordnung: Wie müssen der weltliche Gesetzgeber und die vollziehenden Organe des Staates mit dem Faktum zunehmender religiöser Vielfalt umgehen, wenn sie dem Recht auf religiöse Freiheit entsprechen wollen? Wichtige praktische Themen im Leben der Kirche ergeben sich aus der Abwendung von Katholiken von ihrer Kirche (Apostasie, Häresie und Schisma) und aus der Zuwendung von Menschen zur katholischen Kirche, insbesondere hinsichtlich der Taufe von Asylbewerbern; schließlich sind auch Fragen von Ehe und Familie in einem Spannungsfeld religiöser Durchmischung in den Blick zu nehmen.
1. Rechtssprachliche Beobachtungen Das Gesetzbuch der Lateinischen Kirche, also der katholischen Kirche des Westens,5 verwendet verschiedene Vokabeln, um die Beziehungen der katholischen Kirche und der Katholiken einerseits mit anderen Religionsgemeinschaften und Andersgläubigen andererseits anzusprechen. Zu nennen sind die Vokabeln „religio“, „non catholicus“ bzw. „acatholicus“, „non christianus“, „non baptizatus“ und „non credentes“. Bis auf die an erster Stelle genannte „religio“ sind diese Ausdrücke jeweils mit einer Verneinung versehen. Sagt das vielleicht schon etwas über eine grundsätzlich ablehnende Haltung der katholischen Kirche zu Andersgläubigen aus?
a) Religio Das Gesetzbuch von 1983 verwendet die Wortfamilie „religio“ im Regelfall im Sinn von „Ausrichtung an Gott“ und „Verehrung Gottes“.6 In c. 364 n. 6 CIC7 jedoch wird ausdrücklich von den nichtchristlichen Religionen gesprochen; hiernach ist es eine Aufgabe des Päpstlichen Gesandten, „mit den Bischöfen zusammenzuarbeiten, damit günstige Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, aber auch den nichtchristlichen 5 Die Rechtssprache des CCEO wird nur gelegentlich vergleichsweise herangezogen, nämlich da, wo es möglich ist und sinnvoll erscheint. 6 Zur Geschichte des Begriffs der „religio“ vgl. das umfangreiche Werk von Ernst Feil, Religio, 4 Bde., Göttingen 1986; 1997; 2001; 2007 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 36; 70; 79; 91); Streitfall „Religion“. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, hrsg. von Ernst Feil, Münster 2000 (Studien zur systematischen Theologie und Ethik 21). 7 Ohne Entsprechung im CCEO.
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Religionen unterstützt werden“. In c. 1366 CIC (ebenso in c. 1439 CCEO) geht es ebenfalls um eine nichtkatholische Religion, also ebenso um eine nichtkatholische christliche Konfession wie um eine nichtchristliche Religion. Dieser Canon untersagt es den katholischen Erziehungsberechtigten, „die Taufe oder Erziehung ihrer Kinder in einer nichtkatholischen Religion zu veranlassen“, und bedroht eine solche (vorsätzliche) Handlungsweise mit einer kirchlichen Sanktion. Von diesen beiden Canones abgesehen ist mit „religio“ die katholische Religion gemeint, gelegentlich auch speziell die Gottesverehrung (cc. 1191 § 1; 1200; 1210 CIC; vgl. auch c. 889 § 1 CCEO). C. 364 n. 6 CIC spricht mit dem Wort „religio“ die Religionsgemeinschaft an, und das dürfte die einzige Stelle in den geltenden Gesetzbüchern der katholischen Kirche sein, an der nichtchristliche Religionsgemeinschaften als solche in den Blick genommen werden. Sonst nennt der CIC nur Pflichten der kirchlichen Amtsträger gegenüber den einzelnen Nichtchristen. Diese werden als Adressaten der christlichen Verkündigung angesehen, die vor allem die Amtsaufgabe von Bischof (c. 383 § 4 CIC; c. 192 § 3 CCEO) und Pfarrer (c. 528 § 1 CIC) ist, während die Bemühung um die nichtchristlichen Religionsgemeinschaften eher als eine Aufgabe diplomatischer Art verstanden wird, die folglich vor allem dem Päpstlichen Gesandten zufällt.
b) Non christianus, non catholicus, acatholicus Schon in dem eben besprochenen c. 364 n. 6 CIC trat zu dem Substantiv „religio“ das verneinende Adjektiv „non christianus“ hinzu; es geht um Religionsgemeinschaften, die nichtchristlich sind. Diese Formulierung findet sich ein einziges Mal im CIC. Daneben begegnet, wiederum ein einziges Mal, nämlich in c. 1366 CIC, ebenso aber auch in dem diesem entsprechenden c. 1439 CCEO, die Wendung „religio acatholica“, und im CIC wird ebenso wie das Adjektiv „acatholicus“ wiederholt die Formulierung „non catholicus“ verwendet; im CCEO dagegen begegnet nur das Adjektiv „acatholicus“. Mit den Wendungen „acatholicus“ und „non catholicus“ sind aber – anders als mit „non christianus“ neben Nichtchristen auch Christen nichtkatholischer Konfession gemeint.8 Die bei diesen Vokabeln verwendete Verneinung ist einfach nur erforderlich zur Abgrenzung katholischer Gläubiger von nichtkatholischen Christen und zur Unterscheidung zwischen Christen und Nichtchristen. Eine grundsätzlich negative 8 In der Rechtssprache des CIC/1917 war eine ablehnende Haltung zu nichtkatholischen christlichen Konfessionen deutlicher zu erkennen, insofern diese als „sectae haereticae, schismaticae“ bzw. acatholicae“ bezeichnet wurden; vgl. hierzu Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München 1927, S. 323; Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici. Eine kritische Untersuchung, Paderborn 1937 (Nachdruck 1967) (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 74), S. 133 f., 136 f.
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Einstellung gegenüber Andersgläubigen läßt sich hieraus nicht ablesen. Das scheint bei den folgenden Ausdrücken auf den ersten Blick anders zu sein.
c) Non credentes „Non credentes“, „nicht Glaubende, Ungläubige“ (c. 256 § 1 CIC entsprechend c. 352 § 2 CCEO; c. 771 § 2 CIC ohne wörtliche Entsprechung im CCEO) sind genauer gesagt solche Menschen, die nicht an Jesus Christus glauben. Exakt formuliert dies c. 787 § 1 CIC, der ausdrücklich von den „nicht an Christus Glaubenden“ spricht, mit denen die Missionare „durch das Zeugnis ihres Lebens und ihres Wortes … einen ehrlichen Dialog zu führen“ haben. Die Formulierung „nicht an Christus Glaubende“ entspricht besser als die Sprechweise „nicht Glaubende“ oder gar „Ungläubige“ dem Faktum, daß auch Nichtchristen einen eigenen Glauben haben können, der aber eben nicht der christliche Glaube ist. Manchmal ist es besonders aufschlußreich, welche Wörter und Redewendungen nicht mehr verwendet werden. Schon im CIC von 1917 begegneten einige eher abschätzig klingende Formulierungen früherer kirchlicher Gesetze nicht mehr wie „gentiles“ oder „pagani“, zu deutsch: „Heiden“. Weiterhin, und zwar wiederholt, fand sich im CIC von 1917 jedoch der Ausdruck „infideles“, „Ungläubige“ (vgl. z. B. cann. 750 § 1; 1123; 1124; 1175 CIC/1917). Gemeint waren jeweils ungetaufte Personen,9 unabhängig davon, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehörten oder nicht. Die katholische Kirche sollte aber – ebenso wie jede andere Religionsgemeinschaft auch – davon Abstand nehmen, solche Personen, die einen anderen Glauben haben als den eigenen, als „Ungläubige“ zu bezeichnen. Das ist im CIC von 1983 zum Teil verwirklicht worden, insofern das Wort „infideles“ nicht mehr begegnet. Wo aber jetzt noch die Formulierung „non credentes“ verwendet wird, nämlich in den cc. 256 § 1, 771 § 2 CIC und in c. 352 § 2 CCEO, sollte sie entweder – wie dies in c. 787 § 1 CIC bereits geschehen ist – präzisiert werden im Sinne von „non credentes in Christum“ oder durch eine andere Formulierung ersetzt werden. Das fordert der Respekt vor den anderen Religionen und den Menschen, die ihnen angehören, mit denen das Gespräch gesucht und das Zusammenleben ermöglicht bzw. erleichtert werden soll.
2. Religionsfreiheit und Sendung der Kirche Die katholische Kirche hat bekanntlich keineswegs immer der Idee der Religionsfreiheit zugestimmt. Im Gegenteil: Insbesondere im 19. und zu Beginn des 9
Vgl. Mörsdorf, Rechtssprache, ebd., S. 132.
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20. Jahrhunderts wurde diese in der Lehre der Kirche deutlich abgelehnt, ja als „Wahnsinn“ bezeichnet.10 Eine „kopernikanische Wende“11 in den Äußerungen der Kirche zur Religionsfreiheit hat jedoch das Zweite Vatikanische Konzil vollzogen mit den Worten: „Das Zweite Vatikanische Konzil erklärt, daß die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muß in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, daß es zum bürgerlichen Recht wird“ (VatII, DH 2). Hiernach ist das Recht auf religiöse Freiheit nicht irgendein Recht, das vom staatlichen oder kirchlichen Gesetzgeber zugestanden werden könnte oder auch nicht. Es muß in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft anerkannt werden, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt (lateinisch: „est agnoscendum“); dasselbe gilt aber auch für die Ordnung der Kirche12 und jeder Religionsgemeinschaft, denn die Religionsfreiheit ist in der Würde der menschlichen Person begründet, die in jeder Rechtsordnung dieselbe sein muß. Deshalb ist die Religionsfreiheit dem Zugriff jeder menschlichen Gewalt im letzten entzogen, denn in diesem Recht zeigt sich der Wille Gottes, der über jeder menschlichen Autorität steht. 10
Vgl. v. a. Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ vom 15. 8. 1832, abgedruckt in: Heinrich Denzinger/Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen [DenzH], Freiburg/Basel/Rom/Wien 371991, Nr. 2730. Vgl. zum Ganzen Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderborn 1987 (Abhandlungen zur Sozialethik 26); Peter Krämer, Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, in: Recht nach Gottes Wort. Menschenrechte und Grundrechte in Gesellschaft und Kirche, im Auftrag der Synode der Evangelisch-reformierten Kirchen in Nordwestdeutschland hrsg. vom Landeskirchenvorstand, Neukirchen-Vluyn 1989, S. 50 – 62. 11 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Anerkennung der Religionsfreiheit – eine kopernikanische Wende. Vorbemerkung, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2006, Berlin 2007, S. 193 – 196, hier 195 mit einem Zitat von Josef Isensee. 12 Hierauf hat v. a. Peter Krämer hingewiesen, vgl.: Religionsfreiheit in der Kirche. Das Recht auf religiöse Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung, Trier 1981 (Canonistica. Beiträge zum Kirchenrecht 5), S. 11: „Insofern die Würde der menschlichen Person ihrem ganzen Umfang nach in der christlichen Offenbarung ans Licht rückt und als solche für die Kirche unantastbar ist, kann die Feststellung des Konzils wie folgt abgewandelt werden: Das Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muß in der rechtlichen Ordnung der Kirche so anerkannt werden, daß es zum kirchlichen Recht wird.“
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Jene Äußerungen, in denen sich Päpste gegen die religiöse Freiheit ausgesprochen haben, können also nur als historisch bedingt verstanden werden.13 Zudem wendeten sie sich nicht gegen die Religionsfreiheit schlechthin. Sie lehnten vielmehr solche Vorstellungen ab, in denen der Gedanke der Freiheit in religiösen Dingen verknüpft war mit antikirchlichen und religionsfeindlichen Tendenzen – Tendenzen, die zwar mit dem Gedanken der Religionsfreiheit keineswegs begriffsnotwendig, wohl aber historisch-faktisch zusammenhingen. Dieser Zusammenhang von Religionsfreiheit und antikirchlicher Einstellung machte es der Kirche in der historischen Situation des 19. Jahrhunderts unmöglich, im Recht auf religiöse Freiheit ein legitimes Anliegen zu erkennen. Heutzutage werden dagegen nicht nur der Gedanke der religiösen Freiheit, sondern die von religionsfeindlichen Elementen gereinigten zentralen Gedanken der Aufklärung insgesamt, ja sogar die Schlagworte der Französischen Revolution als mit der christlichen Botschaft vereinbar anerkannt. So hatte Papst Paul VI. in einer Ansprache aus dem Jahr 1963 die Ansicht vertreten, daß die Französische Revolution nichts anderes getan hatte, „als sich gewisse christliche Ideen anzueignen: Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Fortschritt und den Wunsch, die niederen Klassen emporzuheben. Insofern war all dies eigentlich christlich und hatte nur ein antichristliches, weltliches, unreligiöses Aussehen angenommen.“14 Mit diesen Worten wird auch das Recht auf religiöse Freiheit sozusagen im nachhinein als legitimes Kind der christlichen Lehre anerkannt. Religionsfreiheit bedeutet jedoch keineswegs das Aufgeben des Wahrheitsanspruchs der christlichen Lehre.15 Das Recht auf religiöse Freiheit bringt aber mit sich, daß der christliche Glaube nicht mit Zwang durchgesetzt werden kann, also mit Mitteln, die dem Geist des Evangeliums widersprechen. Das Wort Gottes will sich vielmehr durchsetzen durch die Vollmacht, die ihm innerlich zu eigen ist, oder – um es mit den Worten der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ zu sagen – durch die „Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“ (VatII, DH 1, 3).
13 Zur Klarheit sei darauf hingewiesen, daß keine der päpstlichen Äußerungen gegen die Idee der Religionsfreiheit den Anspruch unfehlbarer Lehre erhoben hat. Nur so konnte das Konzil seine Erklärung über die Religionsfreiheit vorlegen, die im übrigen auf einer zeitweise aus dem Blick geratenen Lehrtradition aufbauen kann; die ältesten diesbezüglichen Lehrdokumente finden sich schon im „Decretum Gratiani“ und führen in die ersten Jahrhunderte der Kirche: c. 3 D. XLV (= Gregor der Große an Bischof Paschasius von Neapel, November 602: DenzH, Nr. 480) und c. 5 D. XLV (= can. 56 des IV. Konzils von Toledo, 633). 14 Paul VI., Allocution en la cathédrale de Frascati: L’âge adulte du laïcat vom 1. 9. 1963, in: La Documentation catholique 60 (1963), S. 1371 – 1374, hier 1372; zitiert bei Peter Krämer, Menschenrechte in der Kirche, in: Fragen in der Kirche und an die Kirche, hrsg. von Michael Seybold, Eichstätt/Wien 1988 (Extemporalia 6), S. 109 – 124, hier 109. 15 So auch Peter Krämer, Religionsfreiheit und Ökumenismus in traditionalistischer Kritik, in: Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre, hrsg. von Reinhild Ahlers/Peter Krämer, Paderborn 1990, S. 35 – 50, hier bes. 38, 42 f., 49 f.
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Für das Verhältnis zwischen Kirche und politischer Gemeinschaft ist die Lehre von der Religionsfreiheit von höchster Bedeutung.16 Und so erkennt das Zweite Vatikanische Konzil die Notwendigkeit an, daß auch die Freiheit in religiösen Dingen „gewissen umgrenzenden Normen“ (VatII, DH 7, 1) seitens des Staates unterliegen muß, dem es auch in besonderer Weise zukommt, Schutz vor dem Mißbrauch der Religionsfreiheit zu gewähren. Doch darf es hierbei nicht zu Willkür oder zur ungerechten Begünstigung einer einzelnen Gruppierung kommen. Als Grundsatz einer staatlichen Regelung im religiösen Bereich formuliert das Konzil aufgrund des Gedankens der Religionsfreiheit: „Im übrigen soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muß, und sie darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist“ (VatII, DH 7, 2). Der Grundsatz der Religionsfreiheit erlangt außerdem gerade in einer Situation zunehmender religiöser Vielfalt in derselben Gesellschaft eine erhöhte Bedeutung. Das Recht auf religiöse Freiheit stellt eine notwendige Rahmenbedingung für das staatliche Religionsrecht17 wie auch für den Umgang der katholischen Kirche mit anderen Religionen und mit Andersgläubigen dar. Als Menschenrecht gilt die Freiheit in religiösen Dingen innerhalb der weltlichen ebenso wie innerhalb der kirchlichen Ordnung, ja auch innerhalb der Ordnung anderer Religionen. Andererseits muß man aber auch festhalten: Aus dem Recht auf Religionsfreiheit ergibt sich keineswegs die Notwendigkeit, den eigenen Glauben gegenüber Andersglaubenden zu verschweigen. Die Kirche würde sich vielmehr selbst aufgeben, wenn sie nicht das Evangelium verkündigte. Die Verkündigung des Wortes Gottes gehört zum Wesen der Kirche, sie ist ein Wesensvollzug der Kirche. Das ergibt sich aus der fundamentalen Aussage, die das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche getroffen hat: „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ,missionarisch‘, da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters. Dieser Plan entspringt der ,quellhaften Liebe‘, dem Liebeswollen Gottes des Vaters“ (VatII, AG 2, 1). 16
Vgl. hierzu Ludger Müller, Politik ohne Religion? Zur Einführung, in: Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, hrsg. von Libero Gerosa/Ludger Müller, Paderborn 2014, S. 9 – 17. 17 Vgl. hierzu Ludger Müller, Freiheit, Kooperation, Vielfalt. Prinzipien des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: Berechtigte Hoffnung. Über die Möglichkeit, vernünftig und zugleich Christ zu sein, hrsg. von Perry Schmidt-Leukel, Paderborn 1995, S. 275 – 290, bes. 277 – 284; besonders aus der Sicht der Rechtsordnungen der katholischen Kirche und der EKD vgl.: Arnd Uhle, Das Verhältnis von Kirche und Staat im Spiegel des vergleichenden Religionsrechts, in: Geist – Kirche – Recht. Festschrift fu¨ r Libero Gerosa zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. von Ludger Müller/Wilhelm Rees, Berlin 2014 (KStuT 62), S. 411 – 449, bes. 421 – 425, 435 f.
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Denselben Anspruch auf Verkündigung erheben aber auch andere Religionen, so daß eine Situation der Konkurrenz zwischen den Religionen entsteht. Christen haben die Pflicht, jederzeit Rechenschaft über die Hoffnung zu geben, die in ihnen lebt (vgl. 1 Petr 3, 15). Wenn sie dieser Aufgabe entsprechen wollen, treffen sie auf andere religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Durch die Verkündigung des Wortes Gottes, vor allem durch ein überzeugendes Leben, müssen die Christen die christliche Botschaft glaubhaft machen. Da der Verkündigungsauftrag der Kirche unaufgebbar ist, ist eine Auseinandersetzung mit anderen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen unumgänglich. Bei aller Hochachtung für die nichtchristlichen Religionen hat auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ daran festgehalten: „Unablässig aber verkündigt sie [die Kirche] und muß sie verkündigen Christus, der ist ,der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14, 6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat“ (VatII, NA 2, 2).
Es stellt also keinen Verstoß gegen das Gebot der Religionsfreiheit und der Toleranz dar, wenn Christen ihre eigene religiöse Überzeugung weitergeben und insofern in Konkurrenz zu einer anderen Religionsgemeinschaft treten. Auseinandersetzung setzt aber das Ernstnehmen des Anderen voraus, Respekt vor fremden Religionen und Kulturen. Und die ernsthafte Befassung mit anderen Religionen zeigt, daß sich auch in diesen wertvolle religiöse Traditionen finden. Deshalb lehrt das Zweite Vatikanum in derselben Erklärung: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selbst für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet … Deshalb mahnt sie ihre Söhne, daß sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern“ (VatII, NA 2, 2–3).
Es ist also Aufgabe des christlichen Verkündigers, auch das ernstzunehmen und sich von dem bereichern zu lassen, was ihm in der religiösen Überzeugung seines Gegenübers entgegentritt. Ein echter Dialog setzt voraus, daß der Gesprächspartner ernstgenommen wird, und nur ein solcher Dialog kann auch überzeugend wirken. Zugleich aber setzt der Dialog mit den anderen Religionen voraus, daß der christliche Glaube unverkürzt und ohne falsche Zurückhaltung zum Ausdruck gebracht wird; anderenfalls könnte die Kirche den Menschen nichts, zumindest nichts Neues sagen. Der Münchener Fundamentaltheologe Heinrich Fries hat darauf hingewiesen, „daß die Koordination: Evangelisation und Dialog darauf bedacht sein muß, daß das Evangelium nicht ausgehöhlt und verraten wird zugunsten einer Nachricht und Botschaft, die man auch ohne Evangelium haben und hören kann und
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die die Dialogführenden so beläßt, wie sie sind, daß andererseits der Dialog als Weise, wie das Evangelium ankommen, wie es verstanden und vermittelt werden kann, bewahrt bleibt“. Hier tritt nach den Worten von Fries „ein Gesetz zutage, unter dem das Evangelium von Anfang an angetreten war und unter dem die Geschichte der Evangelisation stand: es ist die Polarität von Anknüpfung und Widerspruch … Immer, wo diese Spannung von Evangelisation und Dialog nicht ausgehalten, sondern zugunsten eines Poles aufgehoben wurde, kam es zu falschen, weil einseitigen Lösungen, wo entweder das Evangelium sein Salz, seine Kraft, sein Feuer verlor … oder in der Form eines gnadenlosen, bilderstürmerischen, tempelzerstörenden Rigorismus, der glaubt, nur auf den Trümmern, Trichtern und Ruinen des Menschen und seiner Religionen das Evangelium unter Blitz und Donner verkündigen zu können. Inwiefern aber dies eine gute Nachricht sein sollte, konnte nie recht einsichtig gemacht werden“.18 Ernstnehmen des Gesprächspartners einerseits und des eigenen Verkündigungsauftrags andererseits sind zwei unabdingbare Voraussetzungen dafür, daß die Verkündigung des Evangeliums und der Dialog mit Andersgläubigen gelingen können. Im Blick auf die heutige Situation der zunehmenden Konfrontation mit Andersgläubigen und anderen Religionen steht also auf der einen Seite die Forderung nach Religionsfreiheit und Toleranz, die sich aus der Menschenwürde ergibt und eine Forderung der Nächstenliebe ist, auf der anderen Seite aber auch die Forderung nach Bewahrung des eigenen Glaubensgutes und der eigenen Glaubenspraxis, die aus dem Sendungsauftrag der Kirche hervorgeht und eine Forderung der Ehrlichkeit darstellt. Ehrlichkeit in Liebe – das ist die Einstellung, in der eine friedliche und fruchtbringende Begegnung zwischen den Religionen möglich ist.
3. Konkrete Anwendungsbereiche Grundsätze sind wichtig; entscheidend aber ist, wie sie umgesetzt werden. Was ist unter Religionsfreiheit konkret zu verstehen und wie kann sie in Staat und Kirche unter Berücksichtigung einer zunehmenden religiösen Vielfalt verwirklicht werden?
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Heinrich Fries, Evangelisation und Dialog, in: ders., Glaube und Kirche als Angebot, Graz/Wien/Köln 1976, S. 136 – 153, hier 140 f. In ähnlicher Weise spricht Jürgen Moltmann vom „identity-involvement-Dilemma“ und beschreibt einerseits eine Relevanzkrise des christlichen Lebens und andererseits eine Identitätskrise des christlichen Glaubens: „Je mehr Theologie und Kirche in den Problemen der Gegenwart relevant zu werden versuchen, um so tiefer werden sie in eine Krise ihrer eigenen christlichen Identität hineingezogen. Je mehr sie ihre Identität in traditionellen Dogmen, Riten und Moralvorstellungen zu behaupten versuchen, um so irrelevanter und unglaubwürdiger werden sie“ (Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 21972, S. 12; vgl. auch ebd. 12 – 33).
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a) Fragen des staatlichen Religionsrechts Wie Libero Gerosa festgestellt hat, ist „nach den Ereignissen des 11. September 2001 und vor dem Hintergrund der stetig steigenden Zahl terroristischer Akte in verschiedenen europäischen Städten, die in irgendeiner Weise in Zusammenhang mit religiösen Fundamentalismen von islamistischem Muster stehen,“ sogar die Tendenz unübersehbar, „ohne Hinterfragen dem Beispiel der radikalsten Laizisten zu folgen und die strikte Trennung von Politik und Religion zu fordern, um das Gemeinwohl der Gesellschaft zu sichern und einen langanhaltenden Frieden zwischen den Völkern sowohl in Europa als auch in der restlichen Welt zu gewährleisten.“19 Im Bemühen, Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften zu vermeiden, ist hierbei seitens der staatlichen Verwaltung oftmals die Tendenz zu beobachten, Unterschiede zwischen den Religionen zu nivellieren oder Religionen überhaupt aus dem öffentlichen Bereich zu verdrängen. So wird aus Rücksicht auf nichtchristliche Kinder das Martinsfest in Kindergarten und Schule zum „Lichterfest“, wodurch es seinen religiösen Gehalt verliert. Und der „Raum der Stille“ in einer staatlichen Hochschule, der allen Angehörigen zur Verfügung stehen sollte, wird kurzerhand geschlossen, wenn es diesbezüglich zu Auseinandersetzungen kommt. Entwicklungen dieser Art führen im letzten dazu, eine Zivilreligion des sozusagen kleinsten gemeinsamen Nenners zu schaffen, die für alle akzeptabel sein soll.20 Eine solche „Zivilreligion“ hat aber natürlich jeden religiösen Gehalt verloren. Es handelt sich um Grundwerte, „die nicht religiöser Natur sind, sondern ihr Fundament in einer okzidentalen Vision haben, die gekennzeichnet ist von christlicher Erfahrung, wenn auch geformt in lebhafter Dialektik mit anderen weltlichen Erfahrungen“.21 Diese Tendenz scheint übrigens auch durch die Situation in der Europäischen Union verstärkt zu werden, in der die verschiedensten Staat-KircheVerhältnisse nebeneinander bestehen: Neben einer Staatskirche wie in England22 gibt es ein System der Nichtidentifikation bei gleichzeitiger guter Zusammenarbeit von Kirche und Staat einerseits, das in Deutschland und ähnlich auch in Österreich verwirklicht ist, und schließlich das strikte System einer Trennung von Kirche und
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Libero Gerosa, L’identità laica dei cittadini europei: inconciliabile con il monismo islamico? Implicazioni giuridico-istituzionali del dialogo interreligioso, Soveria Mannelli 2009, S. 9 f. 20 Zum Konzept einer „Zivilreligion“ im europäischen Kontext vgl. Richard Puza, Sind wir auf dem Weg zu einem europäischen Religionsrecht? Mit einem Hinweis zur Zivilreligion, in: Kirchen und Religionsgemeinschaften als „Motoren Europas“. Bausteine zu einem Europäischen Religionsrecht, hrsg. von Richard Puza/Stefan Ihli, Berlin 2007 (Tübinger Kirchenrechtliche Studien 1), S. 251 – 286, hier 282 – 284. 21 Puza, ebd., S. 283 f. 22 Der Abschlußvortrag der Tagung in Berlin wurde übrigens noch vor der Entscheidung Großbritanniens gehalten, aus der Europäischen Union auszutreten.
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Staat, das in Frankreich herrscht – abgesehen von Elsaß und Lothringen.23 Auch wenn die Schlußakte des Vertrags von Amsterdam in Nr. 11 ausdrücklich die Achtung und Wahrung des Status der Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften nach der Rechtslage der einzelnen Mitgliedsstaaten deklariert,24 tendiert die politische Praxis des öfteren doch zu Entscheidungen, in denen die Besonderheiten von Religionen faktisch übersehen werden. Ebenso wie die Tendenz zu einer Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Bereich ist aber auch eine staatliche Einflußnahme in Richtung einer Nivellierung der typischen religiösen Gehalte als Eingriff in die Religionsfreiheit zu werten. Gerade das Menschenrecht der Religionsfreiheit muß immer wieder vor Mißverständnissen und einer einseitigen Inanspruchnahme geschützt werden. Dieses Grundrecht dient nicht in erster Linie oder gar ausschließlich der Abwehr gegen die Inanspruchnahme des Individuums durch Religionen und gegen ihre Präsenz in der Öffentlichkeit. Es ist ebenso, wenn nicht in erster Linie, das Recht des Einzelnen auf Verwirklichung seiner religiösen Überzeugungen und das Recht religiöser Gemeinschaften auf Freiraum bei der Wahrnehmung ihrer Sendung im weitesten Sinn – für die christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaftendas Recht auf Kirchenfreiheit.25 Dazu kommt die historische Erfahrung: Wenn die auf einer göttlichen Offenbarung beruhende Religion aus dem öffentlichen Bereich der Gesellschaft ausgeschlossen wird, besteht die Gefahr, daß sich – vielleicht auch gefährliche, totalitaristische – Ideologien an ihre Stelle setzen. Nach Hans Maier steht fest, „daß sich
23 Vgl. hierzu Burkhard Josef Berkmann, Das Verhältnis Kirche – Europäische Union. Rechtlich-philosophische Zugänge, Münster 2004 (Kultur und Religion in Europa 3); ders., Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen. Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht, Berlin 2008 (KStuT 54); Heinrich Neisser, Säkularisierung im Lichte der europäischen Integration, in: In mandatis meditari. Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Stephan Haering u. a., Berlin 2012 (KStuT 58), S. 1017 – 1033; Peter M. Huber, Konkordate und Kirchenverträge unter Europäisierungsdruck?, in: AfkKR 177 (2008), S. 411 – 446. Zum nochmals anderen und eigengeprägten religionsrechtlichen System in der Schweiz vgl. v. a. Katholische Kirche und Staat in der Schweiz, hrsg. von Libero Gerosa/Ludger Müller, Wien/Zürich/Berlin 2010 (Kirchenrechtliche Bibliothek 14). 24 Vgl. Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte samt Schlußakte, in: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich III, Nr. 83/1999 (S. 517 – 614, hier 606). Vgl. hierzu das Heft 1 des öarr 46 (1999) mit der Dokumentation der Fachtagung „Europas Seele? Kirchen und religiöse Gemeinschaften im europäischen Einigungsprozess“. 25 Vgl. hierzu Andreas Kowatsch, Freiheit in Gemeinschaft – Freiheit der Gemeinschaft. Das geltende Kirchenrecht und die alte Lehre von der „libertas Ecclesiae“. Zugleich ein Beitrag zur Einordung der Institutionalität der Kirche in die Communio-Ekklesiologie, Berlin 2015 (Kirchenrechtliche Bibliothek 17).
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Religion nicht beliebig aus der Gesellschaft vertreiben läßt, daß sie, wo es versucht wird, in oft unberechenbaren, pervertierten Gestalten zurückkommt.“26 Der vermeintlich einfachste Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners kann ohne Verstoß gegen die Religionsfreiheit nicht gegangen werden. Gerade aufgrund seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität ist es dem Staat und seinen Organen verwehrt, einen solchen „gemeinsamen Nenner“ festzustellen, denn das würde eine wertende Stellungnahme zu Glaubensfragen mit sich bringen, die nicht dem Staat, sondern allein den Kirchen und Religionsgemeinschaften zukommt. Die Nichtidentifikation des Staates mit einer bestimmten Religion ist sicher notwendig. Der Staat darf sich aber ebensowenig mit einer nicht-religiösen oder gar atheistischen Weltanschauung verbinden; auch das wäre ein Verstoß gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Der Staat und die öffentliche Gewalt müssen nicht nur in religiöser, sondern grundsätzlich in weltanschaulicher Hinsicht „farbenblind“27 sein. Welche Möglichkeit verbleibt also der staatlichen Verwaltung? Der mehr und mehr pluralen religiösen Situation in Mitteleuropa entspricht am ehesten eine Politik, die der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen eine Plattform bietet – und das ggf. unter Beachtung der unterschiedlichen Bedeutung dieser Gemeinschaften für das Leben in der Gesellschaft, was auch an der Zahl ihrer Mitglieder abzulesen ist. Nicht jedes Mittel des klassischen Staatskirchenrechts kann jeder kleinen Religionsgemeinschaft zur Verfügung gestellt werden. So gibt es für die Durchführung des staatlich finanzierten Religionsunterrichts in Österreich eine Mindestzahl (§ 7a Abs. 4 Religionsunterrichtsgesetz), und die Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland setzt voraus, daß „sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV). Die Anknüpfung an die Größe der Religionsgemeinschaft hinsichtlich der Zurverfügungstellung bestimmter Instrumente des staatlichen Religionsrechts ist nicht von vornherein illegitim. Die Forderung nach Religionsfreiheit und Nichtidentifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung muß mit dem Grundsatz verbunden werden, daß Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Wenn daher beispielsweise eine Religionsgemeinschaft die Voraussetzungen für die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland bzw. als aner26 Hans Maier, Politische Religionen – ein Begriff und seine Gegenwart, in: Festakt zur Übergabe einer Festschrift an Ernst Feil am 30. Mai 1997 in Benediktbeuern, hrsg. von Karl Homann/Ilona Riedel-Spangenberger, Privatdruck München 1997, S. 14 – 36, hier 36. 27 Vgl. die Formulierung von Hans Barion, wonach das weltliche Recht „ekklesiologisch notwendig farbenblind“ ist; Hans Barion, Ordnung und Ortung im kanonischen Recht, in: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Barion u. a., Berlin 1959, S. 1 – 34, hier 30, abgedruckt in: ders., Kirche und Kirchenrecht. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Werner Böckenförde, Paderborn/München/Wien/Zürich 1984, S. 181 – 214, hier 210.
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kannte Religionsgemeinschaft in Österreich erfüllt, darf ihr dies nicht verweigert werden – aus welchem Grund auch immer; wenn sie diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt, ist ist diese Anerkennung zu verweigern. Einzuräumen ist allerdings, daß es diesbezüglich einen Ermessensspielraum geben kann. Über die fehlerfreie Ausübung des Ermessens müssen ggf. die Gerichte urteilen.
b) Innerkirchliche Problemfelder Aus der Begegnung mit anderen Religionen und Weltanschauungen können sich für die Kirche verschiedene Problemfelder ergeben, die zum Teil neue Herausforderungen darstellen. Einzelne Beispiele sollen angesprochen werden: Die Situation religiös-weltanschaulicher Konkurrenz kann dazu führen, daß sich katholische Gläubige von ihrem bisherigen Glauben und ihrer Kirche abwenden. Das kanonische Recht der Lateinischen Kirche sieht für solche Fälle eines Glaubensdeliktes, also von Apostasie, Häresie und Schisma, die von selbst eintretende Exkommunikation vor (c. 1364 § 1 CIC).28 Ist das nicht ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit des betreffenden (bisherigen) Katholiken? Zur Beantwortung dieser Frage muß zunächst geklärt werden, was überhaupt die Exkommunikation ist. Sicher handelt es sich hierbei um eine Zwangsmaßnahme. Die Exkommunikation ist eine Maßnahme, zu der es auch gegen den Willen des Betreffenden kommt.29 Aber es handelt sich nicht um eine Willkürmaßnahme der kirchlichen Autorität. Das wird schon daran deutlich, daß sie nach der Rechtsordnung der Lateinischen Kirche bei Glaubensdelikten mit Begehen der Tat von selbst eintritt. Die Aufgabe der kirchlichen Autorität besteht in diesem Fall nur mehr darin, nötigenfalls das Eintreten dieser Sanktion nach außen hin festzustellen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß die Exkommunikation keine Strafe im Sinn des weltlichen Rechts darstellt.30 Sie ist eine Sanktion eigener Art, kanonistisch wird sie eine Zensur genannt. Der Unterschied zwischen Zensur und Strafe aber muß klar festgehalten werden, wenn man Mißverständnisse vermeiden will.31 28 Das Recht der katholischen Ostkirchen sieht für Häresie, Apostasie und Schisma die zu verhängende große Exkommunikation vor; vgl. cc. 1436 § 1; 1437 CCEO. 29 Vgl. hierzu v. a. das „Streitgespräch“ zwischen Libero Gerosa und Heinrich J. F. Reinhardt bei der kirchenrechtlichen Tagung in Bamberg im Jahr 2004: Libero Gerosa, „Communio“ und „Excommunicatio“. Ein Streitgespräch, in: „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch?, hrsg. von Ludger Müller u. a., Berlin 2006 (Kirchenrechtliche Bibliothek 9), S. 97 – 110; Heinrich J. F. Reinhardt, Communio und Excommunicatio. Ein Streitgespräch. Anfragen an Libero Gerosa, ebd., S. 111 – 116. 30 Zum Wesen der Exkommunikation vgl. v. a. Libero Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit der kanonischen Sanktionen, Paderborn 1995. 31 Vgl. zum Ganzen Ludger Müller, Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes der Lateinischen Kirche, in: Geist – Kirche –
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Worin nun liegt der Sinn der Exkommunikation im Falle eines Glaubensdeliktes? Sie soll den Täter vom Verharren in seiner Handlungsweise abbringen, die mit dem Glauben der Kirche und der Pflicht zur Wahrung der kirchlichen Gemeinschaft im klaren Widerspruch steht. Die Exkommunikation muß daher aufrechterhalten werden, solange die Widersetzlichkeit des Täters andauert (c. 1358 § 1 CIC; c. 1424 § 1 CCEO). Sie muß beendet werden, wenn dieser seine Tat wirklich bereut hat und von seinem glaubenswidrigen Verhalten abgelassen hat (c. 1347 § 2 CIC; c. 1424 § 2 CCEO).32 Die Exkommunikation bezieht sich nur auf den innerkirchlichen Bereich. Daß die Exkommunikation, wie es seit dem hohen Mittelalter der Fall war, auch Konsequenzen im weltlichen Bereich nach sich zog,33 ist heute zum Glück nicht mehr der Fall. Eine kirchliche Sanktion kann nach geltendem Recht nur eine Person treffen, die ihre Rechte in der Kirche wahrnehmen will. Wer sich von seinem Glauben abwendet und insofern an seiner Stellung innerhalb der Kirche nicht mehr interessiert ist, erfährt also durch die Exkommunikation als rein innerkirchliche Sanktion keine Einschränkung seiner religiösen Freiheit. Etwas anders ist es freilich, wenn eine solche Person z. B. beruflich von der Kirche abhängt. In einem solchen Fall muß das Recht des Apostaten, Häretikers bzw. Schismatikers mit dem Recht der Kirche in einen Ausgleich gebracht werden. Das kann zur Folge haben, daß eine Beendigung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses geboten ist – jedenfalls dann, wenn das Verhalten des Dienst- bzw. Arbeitnehmers für die Außenwirkung der Kirche, für die kirchliche Sendung, von Bedeutung ist. Im Blick auf Glaubensdelikte muß seitens der Kirche die Rechtslage nicht verändert werden. Erforderlich ist aber das klare Bewußtsein, daß es sich bei der Exkommunikation um eine Sanktion eigener Art handelt, die sich lediglich auf die innerkirchliche Situation des Betreffenden bezieht. Ein weiteres Beispiel: Es kann dazu kommen, daß nicht-christliche Flüchtlinge die Taufe anstreben.34 Der Verdacht, daß es sich dabei um „Scheinkonversionen“ handelt, wird des öfteren geäußert und deshalb sind in Deutschland auch schon Gerichte bis hin zum Bundesverwaltungsgericht angegangen worden.35 Für Fälle des Taufbegehrens von Asylsuchenden hat die Evangelische Kirche in Deutschland Recht. Festschrift fu¨ r Libero Gerosa zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. von Ludger Müller/Wilhelm Rees, Berlin 2014 (KStuT 62), S. 267 – 284. 32 Vgl. ebd. S. 269 f. 33 Vgl. z. B. Herbert Kalb, Exkommunikation I. Gesch[ichtlich], in: Lexikon für Kirchenund Staatskirchenrecht, Bd. 1, hrsg. von Axel Frhr. v. Campenhausen/Ilona Riedel-Spangenberger, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 656 f. 34 Vgl. zum Ganzen Angela Borgstedt, Asylgrund Religion. Wenn Behörden Glauben und Gewissen prüfen, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 51 (2012), S. 123 – 129. 35 Vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 9. 12. 2010, 10 C 13/09, abgedruckt in: DVBl 126 (2011), S. 366 – 370; BVerwG, Beschluss vom 25. 8. 2015, 1 B 40/15; BVerwG, Urteil vom 20. 2. 2013, 10 C 23/12, abgedruckt in: NVwZ 32 (2013), S. 936 – 943.
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gemeinsam mit der Vereinigung Evangelischer Freikirchen eine Handreichung herausgegeben.36 Auch in der katholischen Kirche gibt es ein hohes Problembewußtsein in dieser Frage. So sagen die Richtlinien der Österreichischen Bischofskonferenz zum Katechumenat von Asylbewerbern vom 3.–6. November 2014 u. a. aus: „Grundsätzlich gilt für Asylwerber dasselbe wie für alle Erwachsenen, die getauft werden wollen. Allerdings verdient ihre Situation besondere Aufmerksamkeit und Begleitung … Nach der österreichischen Rechtslage ist der Wunsch nach einer Konversion zum Christentum bzw. eine schon erfolgte Eingliederung in die Kirche dann im Asylverfahren zu berücksichtigen, wenn der Religionswechsel als Ursache der Flucht oder wegen einer aufgrund einer späteren Konversion nunmehr gegebenen Verfolgung im Herkunftsland als Asylgrund geltend gemacht wird.“37 Zur Dauer des Katechumenats regelt die Österreichische Bischofskonferenz konkret: „Die gesamte Vorbereitungszeit (inklusive Erstverkündigung = Vorkatechumenat) dauert nach Möglichkeit mindestens ein Jahr. Allerdings ist die Vorbereitung individuell zu gestalten und kann daher auch längere Zeit in Anspruch nehmen.“38 Und der Text der Richtlinien erwähnt wiederholt die Besorgnis, es könne zu Scheinkonversionen „mangels anderer relevanter Asylgründe“ kommen. „Deshalb“ – so fahren die Richtlinien der Österreichischen Bischofskonferenz fort – „ist es für die Kirche besonders wichtig, die Echtheit der Motive für den Taufwunsch genau zu prüfen und auf eine sorgfältige Durchführung des Katechumenats und eine ausreichende Dauer zu achten.“39 Unzulässig wäre selbstverständlich der Versuch, Asylbewerber mit der Aussicht auf einen – sonst möglicherweise nicht vorliegenden – („nachgeschobenen“) Asylgrund zur Taufe zu bewegen. Im übrigen kann die Kirche auch kein Interesse daran haben, wenn sich jemand ohne wirkliche innere Bejahung des christlichen Glaubens taufen lassen will. Eine solche Entscheidung wird nicht tragfähig sein. Deshalb verlangen die christlichen Konfessionen in solchen Fällen mit vollem Recht eine genaue Überprüfung der Motive für den Wunsch eines Asylbewerbers auf Taufempfang und eine gründliche Taufvorbereitung. Ein anderer Bereich, in dem es zu Kontakten, manchmal auch zu Konflikten zwischen verschiedenen Religionen kommen kann, ist das Eherecht. Verglichen mit der kirchenrechtlichen Tradition bis zur Nachkonzilszeit ist die geltende Rechtslage zwar von einer größeren Liberalität gekennzeichnet. Sie hält aber daran fest, daß die Ehe zwischen Katholiken und Ungetauften nicht gültig zustandekommen kann, wenn nicht vom Ehehindernis der Religionsverschiedenheit aus einem hinreichenden Grund dispensiert wird (c. 1086 CIC; c. 803 CCEO). Im Unterschied dazu stellt 36 Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden. Eine Handreichung für Kirchengemeinden, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche (EKD) und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), Hannover 2013. 37 ABl ÖBK Nr. 64 vom 1. Februar 2015, S. 9 – 14, hier 9. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 10. Vgl. auch die Ausführungen am Ende der Richtlinien unter der Überschrift „Zusammenfassung und Ausblick“, ebd. S. 14.
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die Konfessionsverschiedenheit, die im Falle der beabsichtigten Ehe zwischen einem Katholiken und einem nichtkatholischen Christen vorliegt, kein Ehehindernis, sondern nur eine erlaubnisgebundene Handlung dar (c. 1124 CIC; c. 813 CCEO); eine solche Ehe käme also auch dann gültig – allerdings unerlaubt – zustande, wenn diese Erlaubnis nicht erteilt würde. Ähnliche Hemmnisse kennen auch andere religiöse Rechtsordnungen,40 wobei die Erziehung der Kinder aus einer solchen Ehe oftmals von beiden beteiligten Religionsgemeinschaften manchmal auch unnachgiebig für sich selbst reklamiert wird. Die katholische Kirche verlangt allerdings nach geltendem Recht nur noch, daß der katholische Partner einer solchen Ehe das aufrichtige Versprechen abgibt, „nach Kräften alles zu tun, daß alle seine Kinder in der katholischen Kirche getauft und erzogen werden“ (c. 1125 n. 1 CIC; c. 814 n. 1 CCEO). Die katholische Kirche verweist also die Entscheidung über die religiöse Kindererziehung in die moralische Verantwortung der Eltern selbst.41 Es wäre gut, wenn auch andere Religionsgemeinschaften dies täten. Eine weitergehende Liberalisierung seitens der katholischen Kirche in diesem Zusammenhang dürfte jedoch nicht möglich sein. Ist es nicht vielmehr ein Gebot der Ehrlichkeit, die Gefahr des Abfalls vom bisherigen Glauben, zumindest aber einer – ggf. als Toleranz (miß-)verstandenen – religiösen Indifferenz ernsthaft ins Auge zu nehmen, die in einer religiös gemischten Ehe besteht?42 Kann die enge Lebensgemeinschaft in der Familie ohne weiteres zulassen, daß im tragenden Grund, nämlich im Glauben, ein Dissens besteht? Diese Frage würde sicher von vielen Vertretern der verschiedenen Religionsgemeinschaften – natürlich jeweils aus der Sicht ihrer eigenen Religion – verneint werden. Was in einer Situation religiös-weltanschaulicher Konkurrenz jedenfalls unzulässig zu sein scheint, ist der Mißbrauch der religionsverschiedenen Ehe zum Zweck einer Proselytenmacherei.
*** Es ließen sich ohne weiteres noch andere konkrete Bereiche von möglichen und z. T. auch tatsächlich bestehenden Konflikten zwischen den Religionen nennen – Konflikte, zu deren Lösung auch das Recht der katholischen Kirche beitragen kann. Hinter solchen Konflikten stehen oftmals Menschen, die Angst vor dem Unbe40 Vgl. hierzu v. a. Elke Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslimen. Eine religionsrechtliche Vergleichsstudie, Wien/Berlin 2007, bes. S. 142 – 159 (zum Islam) und 160 – 163 (zum Judentum). 41 Eine solche Entscheidung setzt allerdings ein aufgrund der kirchlichen Lehre gebildetes Gewissen voraus. 42 Im Blick auf die Ehen von katholischen Frauen mit Moslems vgl. besonders die warnenden Hinweise von Joseph Prader, Das islamische Eherecht und die pastoralen Probleme der Ehe zwischen Katholiken und Muslimen, in: AfkKR 162 (1993), S. 65 – 102, bes. 98 – 102.
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kannten haben, das im fremden oder auch im eigenen Land auf sie zukommt. Eine Lösung solcher Probleme ist die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Bereich jedenfalls nicht. Erforderlich ist vielmehr eine auch für Religionen offene Gesellschaft. Das ist vor allem von der staatlichen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung zu fordern. Katholische Christen sind verpflichtet, von ihrem Glauben Zeugnis zu geben – vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens (vgl. VatII, LG 10, 2), das gelegentlich durch das Zeugnis des Wortes zu ergänzen ist (vgl. VatII, GE 13). Nur wenn es gelingt, andersgläubigen Menschen in einer Haltung von Ehrlichkeit in Liebe zu begegnen, können Katholiken auch gegenüber nichtkatholischen Christen, Anhängern nichtchristlicher Religionen, nicht-religiöser Weltanschauungen und auch gegenüber religiös-weltanschaulich nicht gebundenen Mitmenschen überzeugend wirken. Nur in dieser Haltung können Christen jenen Gott erfahrbar machen, der selbst die Liebe ist; nur so können sie die Begegnung mit jener Person ermöglichen, „die unserem Leben ein neues Ziel und gleichzeitig einen sicheren Fortschritt gibt“,43 Jesus Christus.
43 Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“ vom 25. Dezember 2005, in: AAS 98 (2006), S. 217 – 252, hier 217.
Kirchen- oder Religionsfreiheit – Eine zulässige Alternative?1 Von Andreas Kowatsch
Vorbemerkungen Nachdem am 7. Dezember 1965, einen Tag vor Abschluss des bislang letzten Ökumenischen Konzils, die katholische Kirche ihren Standpunkt zur Frage der Religionsfreiheit mit der Erklärung „Dignitatis Humanae“2 vertieft und auch neu definiert hatte, verschwand der Begriff der „libertas Ecclesiae“, der „Kirchenfreiheit“ rasch aus dem Wortschatz der nachkonziliaren (zumal deutschsprachigen) Kirchenrechtswissenschaft. Nicht wenige Fachvertreter3 waren davon überzeugt, mit der nun auch kirchlich anerkannten Religionsfreiheit ein besseres Instrumentarium zur Hand zu haben, um jene Ansprüche der Kirche beschreiben und begründen zu können, die diese den Staaten und sonstigen politischen Gemeinwesen gegenüber erhebt, um ihren Sendungsauftrag in Freiheit erfüllen zu können. Der Begriff der Kirchenfreiheit war, so die verbreitete Meinung, zu sehr von seiner eigenen Geschichte durchtränkt. Zu rasch verführte er, an die Wirren des Investiturstreites und die Ansprüche der hochmittelalterlichen Päpste nach Gregor VII. auf eine potestas der Kirche in bzw. sogar über die zeitlichen Dinge zu denken. Zu sehr schien er mit der durch die konziliare Communio-Ekklesiologie überwundenen Sicht der Kirche als societas (iuridice) perfecta verknüpft. Die in ihrem Bereich souveräne Kirche pocht im Anspruch auf Kirchenfreiheit dem Saat gegenüber als der anderen souveränen menschlichen Gesellschaftsform auf einen ihr exklusiv zustehenden Bereich. Angesichts der seit dem Zerfall der einen (abendländischen) Christenheit, innerhalb welcher sich die Differenzierung von Staat und Kirche in einer kultur- und sozialgeschichtlich einmaligen Weise langsam ausgebildet hatte, entstandenen souve1 Diesem Beitrag liegt mein bei der Kirchenrechtlichen Tagung „Religiöse Vielfalt – Herausforderungen für das Recht“, 15. bis 17. Februar 2015 in Berlin, gehaltener Vortrag „Kirchenfreiheit“ zugrunde. Für die Publikation wurde dieser um die aktuelle Rsp. des EGMR ergänzt. 2 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis Humanae“ vom 7. Dezember 1965, AAS 58 (1966), S. 929 – 946. 3 Vgl. u. a. Josef Königsmann, „Vollkommene Gesellschaft“ oder „Religionsfreiheit“ als Zentralbegriff einer Lehre über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: ÖAKR 19 (1968), S. 232 – 247.
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ränen Staaten hatte das Ius Publicum Ecclesiasticum (IPE) die Freiheit der Kirche kraftvoll zu verteidigen versucht. Einem Staat gegenüber, der seine Souveränität absolut setzte und „Recht“ mit staatlichem Recht gleichsetzte, konnte der kirchliche Freiheitsanspruch praktisch wenig entgegensetzen. Das Bewusstsein allerdings, dass staatliche Souveränität letztlich doch nicht grenzenlos ist, wurde durch die katholische Staatslehre wach gehalten. Dies erklärt – im Bewusstsein, wie gefährlich grobe Vereinfachungen sein können – das historisch unterschiedliche Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den Staaten und der katholischen Kirche einerseits und den aus der reformatorischen Tradition hervorgegangenen Kirchen andererseits. Konnte die katholische Lehre von der freien Kirche und ihren im göttlichen Recht wurzelnden Ansprüchen aber in den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – und noch einmal kulturell verstärkt nach dem Jahr 1968 – entstandenen pluralistischen Gesellschaften Bestand haben? Die Stille, die sich um den Begriff der Kirchenfreiheit gelegt hatte, hatte gewiss auch etwas mit der berechtigten Sorge, anachronistisch zu wirken, zu tun. Wie sollte die Kirche – und in ihrer Mitte die Kanonistik – in einer zunehmend säkularen Welt noch von einer Kirchen-Freiheit reden. Anders formuliert: Ist nicht allein schon die Rede von einer der katholischen Kirche eigenen Freiheit nicht nur ökumenisch unsensibel, sondern auch verfassungsrechtlich illusorisch, weil dem Verfassungsgrundsatz auf Gleichbehandlung widersprechend?4 All diese Fragen und Sorgen führten in den letzten Jahrzehnten dazu, kaum mehr von der Kirchenfreiheit zu sprechen. Den Platz, den im IPE die libertas Ecclesiae eingenommen hatte, nimmt nunmehr die Religionsfreiheit ein. Dabei bleiben allerdings zwei wichtige Fragen offen: Erstens: Übersieht der Rekurs auf die Religionsfreiheit nicht allzu schnell, dass diese in ihrem Kern ein weltlicher Verfassungsbegriff ist, dessen Tragweite von den staatlichen Verfassungsgesetzgebern definiert und vom einfachen Gesetzgeber wie vor allem von der Judikatur ausgefüllt und weiterentwickelt wird? Gewiss gibt es auch ein seit Dignitatis Humanae vertieftes innerkirchliches Verständnis dessen, was Religionsfreiheit bedeutet und wie weit sie gerade im Hinblick auf das verfasste Christentum auszulegen ist. Die Gleichsetzung der kirchlichen Lehre und der jeweils weltlichen Verständnisse ist aber ein methodischer Kurzschluss.5 Zweitens: Wie kann die Kanonistik all jene Bestimmungen des geltenden Kirchenrechts deuten und entfalten, die inhaltlich nichts anderes wiedergeben, als die alte Lehre von der libertas Ecclesiae, die sich aufbauend auf dem Münzlogion 4 Dies ist auch theologisch von hoher Relevanz, verkündet doch das Zweite Vatikanische Konzil gerade in der Schlüsselbestimmung für das Verhältnis von Kirche und Staat, GS 76, auf alle „Privilegien“ verzichten zu wollen. 5 Nicht ohne Grund beginnen zeitgenössische Konkordate mit einem beiderseitigen Grundsatzbekenntnis zur Religionsfreiheit. Im folgenden Konkordatstext wird diese aber gerade im Hinblick auf die katholische Kirche näher bestimmt. Vgl. z. B. Art. 1 und 2 des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg, AAS 98 (2006) S. 825 – 847, hier 827.
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Jesu6 entwickelt hatte? Sind die auch im Codex Iuris Canonici7 zahlreich vorhandenen „iura nativa“8 lediglich ein Residuum einer an sich überwundenen Ekklesiologie? Die angedeuteten Fragen können in diesem kurzen Beitrag nur angerissen werden. Aus der Art und Weise, wie sie gestellt wurden, sollte bislang aber die These Konturen angenommen haben, dass weder die katholische Kirche als solche noch die Kanonistik als Wissenschaft des kirchlichen Rechts auf eine eigenständige Formulierung und Begründung jener Freiheitsansprüche verzichten können, die die Kirche notwendig braucht, um in einem gegebenen historischen Kontext als Kirche leben zu können. Um diese These zu verdeutlichen, gliedert sich der vorliegende Beitrag in folgende zwei Punkte: 1. Kirchenfreiheit und Religionsfreiheit – ein und dasselbe? 2. Die Grenzen der Religionsfreiheit Die Besprechung zweier aktueller Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) soll am Schluss verdeutlichen, ob und wie weit im gegenwärtigen System der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) das in der Kirchenfreiheit zum Ausdruck kommende kirchliche Selbstverständnis und das Konventionsgrundrecht auf (korporative) Religionsfreiheit harmonieren.
1. Kirchenfreiheit und Religionsfreiheit – ein und dasselbe? a) Die Unterscheidung zweier Freiheiten in Dignitatis Humanae Der Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen ist das schon angedeutete geänderte Verhältnis der katholischen Kirche zur Religionsfreiheit, wie es in der Erklä6
Mk 12,17 et par. Viele dieser Ansprüche tauchen auch im CCEO dem Inhalt nach auf. Aufgrund der gerade im Hinblick auf das Kirche-Staat-Verhältnis gänzlich anders gelagerten Situation in den Kerngebieten des östlichen Christentums verwendet das Gesetzbuch für die katholischen Ostkirchen aber häufig eine bilderreiche Sprache und setzt vieles voraus, was im CIC explizit normiert wird. Bestes Beispiel ist c. 113 § 1 CIC, der im CCEO keine Entsprechung hat. Die im CIC normierte ursprüngliche Rechtspersönlichkeit der katholischen Kirche und des Heiligen Stuhles (erg.: wohl auch des Bischofskollegiums) ist aber eine rechtlich-ekklesiologische Qualität der Kirche als solcher. 8 Zu den „iura nativa“ als Ausdruck der Kirchenfreiheit siehe Andreas Kowatsch, Freiheit in Gemeinschaft – Freiheit der Gemeinschaft. Das geltende Kirchenrecht und die alte Lehre von der libertas Ecclesiae. Zugleich ein kanonistischer Beitrag zur Einordnung der Institutionalität der Kirche in die Communio-Ekklesiologie (= Kirchenrechtliche Bibliothek 17), Berlin u. a. 2015, S. 263 – 291. 7
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rung Dignitatis Humanae und im nachfolgenden päpstlichen Lehramt formuliert wurde. Dieser methodische Ansatz ist insofern begründet, als die allermeisten neueren Konkordate und sonstigen Kirchenverträge explizit auf die Religionsfreiheit Bezug nehmen. Es muss also einen Grundbestand an common sense geben, wenn zwei Rechtsordnungen, die staatliche und die kirchliche, auf die Sicherung der Religionsfreiheit als Kernanliegen der Konkordate verweisen und diese damit selbst zu einem Rechtsbegriff machen, der beide Rechtsordnungen transzendiert. Mit der Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis Humanae vom 7. 12. 1965 machte sich die katholische Kirche eine historisch außerhalb ihrer Mauern und teilweise auch in schroffem Gegensatz gegen sie entwickelte Lehre zu eigen.9 Gründe für diese Neuorientierung hatte es viele gegeben. Am wichtigsten war aber wohl neben der vertieften Sicht der Menschenwürde nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts die für die Kirche neue Erfahrung, dass sie sich einem religiös-weltanschaulich neutralen Staat gegenüber sah. Dieser ist die Voraussetzung einer auf Gleichheit und Freiheit beruhenden Gesellschaft. Ein auf den Grundrechten basierender Staat konnte die überkommenen Aufsichtsrechte über die Religionsgemeinschaften nicht mehr beanspruchen. Der antiklerikale, ja antichristliche Beigeschmack, der mit dem Ruf nach Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert verbunden gewesen war, war damit (zumindest in der Staatstheorie) nicht mehr vorhanden. Heute zählen die christlichen Kirchen und unter ihnen unverwechselbar die weltumspannende katholische Kirche zu den ersten Verteidigern der Grund- und Menschenrechte. Freilich nehmen gerade die christlichen Kirchen in ihrem Einstehen für die Menschenwürde auch wahr, dass in so mancher Grundsatzfrage die Menschenrechte in Gefahr sind, uminterpretiert und zu Herrschaftsinstrumenten einer säkularen Art einer globalen „Zivilreligion“ zu werden. Die Forderung beispielsweise, Abtreibung als Menschenrecht anzusehen, wird bei weitem nicht mehr nur von einer radikalen Minderheit erhoben. Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit bekennt sich in Art. 13 zur überkommenen Lehre der libertas Ecclesiae und unterscheidet damit die Kirchenfreiheit begrifflich von der Religionsfreiheit: „Im Rahmen alles dessen, was zum Wohl der Kirche, ja auch zum Wohl der irdischen Gesellschaft selbst gehört und was immer und überall gewahrt und gegen alles Unrecht zu verteidigen ist, steht sicherlich mit an erster Stelle, dass die Kirche eine so große Handlungsfreiheit genießt, wie sie die Sorge für das Heil der Menschen erfordert. In der Tat ist sie etwas Heiliges, diese Freiheit, mit der der eingeborene Sohn Gottes die Kirche beschenkt hat, die er sich in seinem Blute erwarb. Sie gehört in Wahrheit der Kirche so sehr zu eigen, dass, wer immer gegen sie streitet, gegen den Willen Gottes handelt. Die Freiheit der Kirche ist das grundlegende Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten sowie der gesamten bürgerlichen Ordnung.
9 Vgl. John Courtney Murray, Zum Verständnis der Entwicklung der Lehre der Kirche über die Religionsfreiheit, in: Jerome Hamer/Yves Congar (Hrsg.), Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, Paderborn 1967, S. 125 – 165.
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In der menschlichen Gesellschaft und angesichts einer jeden öffentlichen Gewalt erhebt die Kirche Anspruch auf Freiheit als geistliche, von Christus dem Herrn gestiftete Autorität, die kraft göttlichen Auftrags die Pflicht hat, in die ganze Welt zu gehen, um das Evangelium allen Geschöpfen zu verkündigen […].“
Bereits in Art. 4 bekannte sich die Erklärung DH zur korporativen Dimension der Religionsfreiheit. Die volle Verwirklichung des religiösen Lebens setzt voraus, dass die einzelnen Gläubigen sich nach den Traditionen und Normen ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft ausrichten können. Dies bedingt, dass überall dort, wo eine Religion institutionell verfasst ist, die Institution selbst über die nötige Handlungsfreiheit verfügen muss. Die gesellschaftlich-korporative Form der Religionsfreiheit steckt den Freiheitsraum ab, innerhalb dessen eine Religionsgemeinschaft sich nach den eigenen Regeln organisieren und verwalten kann. Diese Freiheit ist rechtlich gesehen ein grundrechtlicher Anspruch gegen den Staat. Sie richtet sich im Konfliktfall aber unter Umständen indirekt auch gegen eigene Mitglieder und verhindert so, dass Einzelne allein oder in Gruppen unter Berufung auf die individuelle Religionsfreiheit der Gemeinschaft abweichende Standpunkte und Interpretationen des jeweiligen Bekenntnisses aufoktroyieren können. Es ist daher verfehlt, die korporative Freiheit lediglich als Ausfluss der Individualfreiheiten zu interpretieren. Aufgrund des Gemeinschaftscharakters jeder organisierten Form von Religion gibt es zwischen den Einzelnen und den Gemeinschaften immer auch ein Verhältnis der Spannung, das gerade zum Schutz der Religionsausübung jener, die nach den überkommenen Normen ihrer jeweiligen Religion leben wollen, nicht auflösbar ist. Im Kollisionsfall von individueller und korporativer Freiheit ist daher staatlicherseits stets eine behutsame Güterabwägung vorzunehmen. Wenn nun mit Art. 4 DH bereits ein vollumfängliches Bekenntnis zur korporativen Religionsfreiheit geleistet ist,10 warum führt Art. 13 DH dann eine gesonderte Beschreibung der Kirchenfreiheit ein? Ist diese Unterscheidung bloß ein Beispiel für den oft bemängelten und doch unvermeidlichen Kompromisscharakter vieler Passagen der konziliaren Lehre? Oder ist diese Unterscheidung, so die These, nicht vielmehr bewusst gesetzt und auch notwendig?
b) Die Notwendigkeit der Unterscheidung von Religionsund Kirchenfreiheit Im Wesentlichen ist die Unterscheidung von Religions- und Kirchenfreiheit aus zwei Gründen notwendig: der erste Grund ist empirischer Natur, der zweite ist ein theologischer. 10
Dieses Bekenntnis gilt – nota bene – nicht nur für die Freiheit der katholischen Kirche, sondern für alle Religionsgemeinschaften. Im Kampf für die religiöse Freiheit legte sich die Kirche die Selbstverpflichtung auf, nie nur für sich selbst zu sprechen, sondern im Rahmen des politisch Möglichen immer auch Sprachrohr für andere Gemeinschaften zu sein, sofern deren Freiheit bedroht sein sollte.
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aa) Unterschiede des Schutzbereiches der korporativen Religionsfreiheit Ein Blick auf die Verfassungen jener Staaten, von denen man guten Gewissens behaupten kann, sie garantieren die Religionsfreiheit, macht deutlich, dass ein und dasselbe Grundrecht sehr unterschiedlich formuliert und noch unterschiedlicher in der Rechtspraxis gelebt und garantiert wird. Es entspricht der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des EGMR, aber auch der Ansicht des Menschenrechtskommitees der Vereinten Nationen, der KSZE sowie der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten der EU, dass das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht nur sowohl negativ als auch positiv verstanden werden muss, sondern auch individuell, kollektiv und korporativ. Die kollektive und die korporative Seite der Religionsfreiheit sind nicht identisch. Kollektiv wird die Freiheit gelebt, indem Menschen ihre individuelle Freiheit in Gemeinschaft ausüben, z. B. indem sie miteinander Gottesdienst feiern, Prozessionen oder Wallfahrten abhalten etc. Bereits diese kollektive Seite wirkt in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein. Sie erreicht aber noch nicht die korporative Seite der Religionsfreiheit. Diese ist mehr als nur das Bündel der individuellen Freiheiten. Sie ist die institutionelle Seite der individuellen wie der gemeinschaftlichen Religionsausübung. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die volle Entfaltung der individuellen wie der kollektiven Freiheit, kann aber nicht mit diesen identifiziert werden. Die korporative Freiheit der Religionsgemeinschaften ist mehr als ein bloßer Reflex und eine Ermöglichungsbedingung der individuellen Religionsfreiheit. Religion, zumal in ihrer christlichen und noch einmal mehr in ihrer katholischen Variante, kann ohne die Gemeinschaft, in der sie sich verwirklicht, gar nicht gedacht werden. Die Gemeinschaft ist rein logisch, aber auch soziologisch betrachtet, dem Glaubensakt des Einzelnen insofern vorgeordnet, als dieser erst in und durch die Gemeinschaft vor seine eigene individuelle Freiheitsentscheidung gestellt wird. Erst im Gegenüber zur Gemeinschaft und im Hören auf das in ihr vermittelte Wort vermag sich die individuelle Freiheit zu entfalten. Die korporative Religionsfreiheit und die individuelle Freiheit harmonieren im Idealfall. Sie können aber auch in Konflikt geraten. Ein prinzipieller Vorrang der Individualfreiheit darf dabei nicht angenommen werden. Ein solcher Vorrang entspricht auch keineswegs der Rechtsprechung des EGMR, wie wir anhand zweier beispielshaft gewählter Fälle am Schluss dieses Beitrags noch sehen werden. Während nun die Garantie der Individualfreiheit und auch jene der kollektiven Religionsausübung in ihrem Umfang in den westlichen Staaten ähnlich weitgehend gewährleistet werden, bestehen bei der korporativen Freiheit auffallende Unterschiede.
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Das auffälligste westeuropäische Beispiel11 für einen – zumindest in der Theorie – eher marginaleren korporativen Freiheitsbereich der Kirche ist nach wie vor Frankreich. Die Realverfassung hat sich seit dem kirchenfeindlichen Trennungsgesetz aus dem Jahr 1905 insbesondere durch die Rechtsprechung der obersten Gerichte zwar deutlich in Richtung freiheitlicher Standards für die Religionsgemeinschaften verschoben. Das Staatsdogma der laicité bleibt aber mit der katholischen Auffassung über die Religionsfreiheit nur schwer vereinbar. Dabei ist es gut, den Begriff laicité bewusst unübersetzt zu lassen, da er etwas anderes ausdrückt als eine sana laicitá, die gesunde Laizität des Staates, zu der sich die Päpste seit Pius XII. zunehmend bekannt hatten und die heute einer der Kernbegriffe der katholischen Staatslehre darstellt.12 Die französische laicité bedeutet keine paritätische Gleichbehandlung der zivilgesellschaftlichen Akteure, sondern eine bewusste Ausgrenzung der Religion aus dem Bereich der Öffentlichkeit. In das so entstandene Vakuum freilich schlüpfte mit der Zeit niemand anderes als das Konzept der laicité selbst. Dieses Konzept entwirft einen Bürger, der sich völlig losgelöst von seinem kulturellen Hintergrund, seiner ethnischen Herkunft oder seiner religiösen Bindung zuerst als citoyen zu begreifen hat. „La République“ nimmt konsequenterweise einen beinahe sakralen Platz ein.13 Die mit dem kanonischen Recht vertraute Pariser Professorin Brigitte GaudemetBasdevant fasste die radikale Trennungspolitik Frankreichs anlässlich der XI. Tagung der Europäischen Verfassungsgerichte folgendermaßen zusammen: „Der Staat ignoriert im Allgemeinen das innere Recht der Religionsgemeinschaften. Er wendet dieses nicht an. Die Entscheidungen der Organe der Religionsgemeinschaften entfalten vor den staatlichen Behörden keinerlei Wirkung.“14 11 Ein zweites Beispiel ist das an sich äußerst diffizile, weil je nach Kanton unterschiedliche, religionsrechtliche System der Schweiz. Wo dort neben der katholischen Hierarchie, die aus theologischen wie kanonistischen Gründen die einzige legitime Inhaberin des kirchlichen Leitungsamtes ist, von dieser gänzlich unabhängige staatliche Steuerverbände in Form von sog. „Kirchgemeinden“ bestehen, die Pfarrer wählen, im Namen der Kirche und sogar als Kirche auftreten, ist zumindest für all jene, die nicht über in der eidgenossenschaftlichen Tradition geschulte Augen verfügen, das zuträgliche Maß an Einschränkung der korporativen Religionsfreiheit überschritten. 12 Vgl. dazu Andreas Kowatsch, „Initium Libertatis … et christianis et omnibus…“ – Die katholische Kirche und die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates, in: Christian Wagnsonner/Karl-Reinhart Trauner/Alexander Lapin (Hrsg.), Kirchen und Staat am Scheideweg? 1700 Jahre Mailänder Vereinbarung. Beiträge zu einer Veranstaltung der Evangelischen, Katholischen und Orthodoxen Militärseelsorge am 19. November 2013, Wien 2015, S. 31 – 55. 13 Eine ausgewogene und leicht verständliche Darstellung des französischen Trennungssystems, die sich in erster Linie an Nicht-Franzosen wendet, bietet: John Bowen, Why the French Don’t Like Headscarves: Islam, the State, and Public Space, Princeton (USA) 2006. 14 XIème Conférence des Cours constitutionnelles européennes, La jurisprudence constitutionnelle en matière de liberté confessionnelle et le régime juridique des cultes et de la liberté confessionnelle en France, Rapport du Conseil constitutionnel français. Eléments rassemblés par Madame le Professeur Brigitte Gaudemet-Basdevant, Université Paris Sud, Jean Monnet, S. 32. Fundort: http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/
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Auf den ersten Blick mag das eine Aussage sein, die auch in Deutschland und Österreich, also in Staaten, die ein religionsrechtliches System institutioneller Trennung im Rahmen umfassender Kooperation zwischen dem Staat einerseits und den (in Österreich: anerkannten) Religionsgemeinschaften andererseits leben, auf einen breiten Konsens stoßen würde. Man denke nur an die Diskussion über die Nebeneinandergeltung von Scharia und innerstaatlichem Recht.15 Auf den zweiten Blick ist allerdings die Koordination, oder sagen wir es vielleicht besser mit einem staatskirchenrechtlich weniger vor-geprägten Begriff, die Regelung des Zueinanders der kirchlichen und der staatlichen Rechtsordnung nichts anderes als der in einem Staat je konkret gewährte Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit. Selbstverständlich macht sich der Staat das Recht der Religionsgemeinschaften in der Anwendung nicht zu eigen, „etatitisert“ es gewissermaßen. Es ist eben Recht der Religionsgemeinschaften und nicht – wie zu Hochzeiten des Staatskirchentums – öffentliches Recht des Staates. Aber dass die kirchlichen Entscheidungen im staatlichen Bereich keinerlei Wirkung entfalten, setzt voraus, dass der Staat sich selbst berufen sieht, für seinen Bereich Entscheidungen zu fällen, die an sich in die Zuständigkeit der jeweiligen Religionsgemeinschaft fielen. Die Bandbreite der konkret gewährten korporativen Freiheit ist von Staat zu Staat unterschiedlich. Selbst zwischen den auf den ersten Blick im Prinzipiellen sehr ähnlichen Systemen in Deutschland und Österreich bestehen nicht vernachlässigbare Unterschiede. Auf der äußerst anderen Seite der europäischen Staaten, Frankreich gewissermaßen gegenüber, finden wir Reste von Staatskirchlichkeit in manchen protestantisch geprägten Staaten Nordeuropas bzw. in anderer Spielart in Griechenland und zumindest faktisch auch in Rumänien.16
bb) Die Kirchenfreiheit als Ausdruck des kirchlichen „Selbstverständnisses“ Damit der religiös neutrale Staat den Begriff „Religion“ juristisch anwenden kann, um den Schutzbereich der „Religions“-Freiheit definieren zu können, muss bank_mm/bilan_99/libreg.pdf [Abfragedatum aller Online-Quellen: 05. 01. 2017; eigene Über setzung]. 15 Vgl. zur Diskussion infolge einer Aussage des anglikanischen Primas: http://www.spie gel.de/politik/ausland/grossbritannien-oberhaupt-der-anglikaner-raet-zur-einfuehrung-der-scha ria-a-533877.html. 16 Angesichts der empirisch festzustellenden gravierenden Unterschiede, wie weit die korporative Religionsfreiheit in den verschiedenen Staaten (und hier dachten wir nur an die europäischen Demokratien!) garantiert wird, stellt sich die Frage, ob der eigentliche Gehalt des Grundrechts im Wege der Rechtsvergleichung gewonnen werden kann. Dies muss aber verneint werden, weil in einem solchen induktiven Verfahren extreme Positionen ein ungleich größeres Gewicht bekommen würden. Das Sprichwort „Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied“ drängt sich hier auf. Der Effekt wäre unvermeidlich ein levelling down, sodass auf internationaler Ebene nur mehr eine Freiheit auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners garantiert wäre.
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„Religion“ von einem theologischen Begriff in einen Rechtsbegriff transponiert werden. Eine rein rechtliche Definition von Religion ist aber logisch nicht möglich. Diese wird immer auch einen Aspekt der inhaltlichen Bewertung enthalten. Gerade diese ist aber dem „neutralen“ Staat an sich verwehrt, will er nicht gleichzeitig seine säkulare Natur überschreiten. Die unterschiedlichen Versuche, die die Rechtsprechung und die staatskirchenrechtliche Lehre im Laufe der Zeit unternommen haben, die eigenen bzw. inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften abzugrenzen,17 zeugen von dieser Schwierigkeit. Trotz aller Bedenken in Einzelfragen scheint es in Österreich und Deutschland nach wie vor die herrschende Lehre und Rechtsprechung zu sein, diese Aporie, vor der die staatlichen Organe bei der Beurteilung religiöser Fragen stehen, durch eine besondere Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften in den Griff zu bekommen.18 Wer sonst als die Religionsgemeinschaft selbst sollte denn in der Lage sein, verbindlich zu erklären, welche Lehre und welches Verhalten eine Äußerung gerade ihrer Religion darstellt. Eine Einschränkung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit von vornherein auf durch den Staat bestimmte oder im Hinblick auf bestimmte Gemeinschaften, seien es auch die beiden großen Kirchen, getroffene Umschreibungen drängte den Staat unweigerlich in die Schiedsrichterrolle über inhaltliche Fragen der Religion. So muss die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der einzelnen Grundrechtsträger der Ausgangspunkt sein und bleiben, um den Schutzbereich zu definieren. Es widerspricht hier nicht dem Gleichheitsgebot, sondern ist im Gegenteil erst seine Erfüllung, wenn dann ein und dasselbe Grundrecht im Hinblick auf verschiedene Gemeinschaften auch eine zumindest in Teilen modifizierte Reichweite hat. An dieser Stelle setzt die Unterscheidung von Religionsfreiheit und Kirchenfreiheit juristisch an. Die Kirchenfreiheit, wie sie DH 13 beschreibt, ist dann nichts anderes als das für die Religionsgemeinschaft „Katholische Kirche“ aus ihrer eigenen Sicht umschriebene Selbstverständnis. Diese Umschreibung hat freilich eine zweifach intendierte Wirkrichtung. Zuerst wendet sie sich nach innen, in die Kirche selbst. Der Anspruch auf Kirchenfreiheit ist der ekklesiologische Ort, theologisch zu begründen, warum die katholische Kirche überhaupt legitimerweise den Anspruch erhebt, sich frei und selbstbestimmt innerhalb der staatlichen Rechtsordnun17 Vgl. dazu den Kernleitsatz der Judikatur des österr. OGH: Zu den „inneren Angelegenheiten“ zählen jene, welche den inneren Kern der kirchlichen Betätigung betreffen und in denen ohne Autonomie die Religionsgesellschaften in der Verkündung der von ihnen gelehrten Heilswahrheiten und der praktischen Ausübung ihrer Glaubenssätze eingeschränkt wären, wobei den Kirchen allerdings im interkonfessionellen Bereich ebenso wie durch einzelne Verfassungsbestimmungen Einschränkungen auferlegt sind. Der sich daraus ergebende Bereich der inneren Angelegenheiten kann naturgemäß nicht erschöpfend aufgezählt werden: OGH 1974/11/26 4 Ob 41/74 (= SZ 47/135). 18 Vgl. Richard Potz, Die inneren Angelegenheiten der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften als Problem der Grundrechtsinterpretation, in: Peter Leisching/Franz Pototschnig/Richard Potz (Hrsg.), Ex aequo et bono, Willibald M. Plöchl zum 70. Geburtstag, Innsbruck 1977, S. 409 – 422, hier 421. So auch die Judikatur des österr. VfGH. Vgl. VfSlg 11.597.
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gen zu bewegen, um so ihre Sendung erfüllen zu können. Der Anspruch auf Kirchenfreiheit wirkt aber auch nach außen als der dem säkularen, in religiösen Fragen neutralen Staat vorgegebene Appell, das durch seine Verfassungsordnung geschützte Grundrecht auf Religionsfreiheit im Hinblick auf die katholische Kirche in eben diesem Umfang zu gewährleisten.
c) Die theologische Notwendigkeit einer selbständigen Kirchenfreiheit Der Ausgangspunkt einer theologischen Begründung, sieht man von den unverzichtbaren Vorfragen der biblischen Theologie und der Fundamentaltheologie ab, die an dieser Stelle nicht geleistet werden können, ist Art. 76 der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes. Dieser Artikel hat notwendig die vertiefte Lehre über die Kirche, wie sie v. a. die Konstitution Lumen Gentium, aber im Grunde auch alle anderen Dokumente des Konzils, entwickelt hatte, zur Voraussetzung. Vor diesem Hintergrund ist GS 76 die zentrale Norm für das Verhältnis von Kirche und Staat.19 Die alte Einseitigkeit, die Machtbereiche zweier in je ihrem Bereich souveräner Institutionen gegeneinander abzugrenzen, wurde überwunden. Kirche und Staat sind beide nicht um ihrer selbst willen da, sondern stehen inmitten der Gesellschaft und dienen dieser. Der Staat als „Heimstatt aller Bürger“, um das bekannte Wort des Bundesverfassungsgerichts zu zitieren,20 ist dabei in seinen Zwecken auf alle Bürger, ja auf alle Menschen in seinem Gebiet ausgerichtet. Die Kirche wiederum beansprucht gegenüber allen Bürgern bzw. Menschen die Freiheit, das Evangelium zu verkündigen, freilich im Respekt vor deren religiöser Freiheit. In den Gläubigen, rechtlich: in den Mitgliedern, schließlich liegt der eigentliche Ort der Begegnung von Staat und Kirche. Idem civis et christianus21 beansprucht auch der einzelne Gläubige gegenüber dem Staat den Raum gesellschaftlicher Freiheit, seinen Glauben in Übereinstimmung mit seiner Glaubensgemeinschaft leben zu können. Dass die Autonomie des Subjekts freilich auch mit der Taufe nicht an den Nagel gehängt wird, und es teilweise auch zu Konflikten zwischen individueller und korporativer Religionsfreiheit kommen kann, wurde bereits angedeutet. GS 76 adaptiert die Kernaussage der alten Societas-perfecta-Doktrin vor dem Hintergrund der erneuerten Sicht der Kirche als Communio. Das Kernanliegen des 19 Die einschlägige Passage lautet: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen“ (GS 76,3). 20 BVerfGE 19, 206, 216. 21 Vgl. Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, (= SKRA 7), Berlin 1978, S. 229.
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alten Ius publicum Ecclesiasticum wird aber vollumfänglich bestätigt, obwohl dessen Zentralbegriff societas perfecta in den Dokumenten des Konzils (wie im Übrigen bereits auch im CIC/1917) kein einziges Mal vorkommt: Die Kirche erhebt den Anspruch auf die ungehinderte und freie Verwirklichung ihrer Sendung in den einzelnen Staaten. Sie bekennt sich aber auch unmissverständlich zur Autonomie des Staates in den zeitlichen Dingen. Beides ist untrennbar miteinander verknüpft, eine Überordnung des Religiösen über das Zeitliche lässt sich zumindest außerhalb der Logik des Glaubens nicht mehr begründen. In GS 76,6 erklärt sich die Kirche auch ausdrücklich bereit, zur Erreichung ihrer Ziele auf alle Mittel zu verzichten, die im Gegensatz zum Evangelium und zum Wohl aller je nach den Zeitverhältnissen stehen. Mit dem Bekenntnis zur Autonomie von Kirche und Staat im jeweils eigenen Bereich hängt die programmatische Erklärung des Konzils zusammen, für die Ausübung ihrer Sendung die Hoffnung nicht auf Privilegien zu setzen, die der Kirche von den staatlichen Rechtsordnungen angeboten werden.22 Es stellt sich die Frage, was in diesem Zusammenhang mit „Privilegien“ gemeint ist. Ist das Aufrechterhalten der Lehre über die Kirchenfreiheit, ja ist nicht bereits die Verwendung des Begriffes selbst, eine Verletzung dieser Selbstverpflichtung? „Privilegien“ im rechtlichen Sinn sind im Bereich der staatlichen Rechtsordnung streng von sachlich begründeten Unterschieden in der Behandlung ähnlicher Situationen zu unterscheiden, andernfalls verliert der Begriff „Privileg“ seinen rechtlichen Sinn und verkommt zum politischen Kampfbegriff. Wenn die Rechtsprechung des EGMR zur korporativen Religionsfreiheit manche Normen des institutionellen Staatskirchenrechts als „substantive privileges“23 bezeichnet,24 dann unterstreicht dies die Notwendigkeit, für jede einzelne Begünstigung adäquate und verhältnismäßige Begründungen anführen zu können. Nicht alles, was auf den ersten Blick als Privilegierung der katholischen Kirche oder auch einer anderen Religionsgemeinschaft erscheinen mag, ist tatsächlich ein Privileg. In Wirklichkeit handelt es sich meistens „um die Formulierung, Konkretisierung und Abgrenzung kirchlicher Aufgaben, die Abgrenzung zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung und nicht zuletzt auch um die Regelung einer im In22 „Das Irdische und das, was am konkreten Menschen diese Welt übersteigt, sind miteinander eng verbunden, und die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern.“ 23 Dies erfolgte durchaus auch im Hinblick auf das österreichische Staatskirchenrecht. Vgl. zum Urteil des EGMR vom 31. Juli 2008, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas and Others v. Austria, Rs. 40825/98: Council of Europe, Research Division, Overview of the Court’s Case Law on freedom of religion, Straßburg 20132, S. 15. 24 Vgl. den deutschen Begriff „Privilegienbündel“ als Ausdruck für die Summe der staatskirchenrechtlichen Begünstigungen für korporativ verfasste Religionsgemeinschaften.
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teresse des Staates und der Kirchen stehenden gemeinwohlorientierten Kooperation.“25 Nicht selten liegt der Grund für die missverständliche Deutung staatskirchenrechtlicher Regelungen als „Privileg“ in einem unzutreffenden Verständnis des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots. Dieses verpflichtet die staatlichen Organe – und unter den engen Umständen eines verfassungsmäßigen Antidiskriminierungsrechtes fallweise auch Private – Gleiches gleich zu behandeln. Ungleiches gleich zu behandeln, ist nicht geboten und kann sogar eine Verletzung dieses verfassungsrechtlichen Grundsatzes bedeuten. Die Kirche kann und darf auf den Kernbestand jener Freiheit, die mit ihrer Sendung selbst gegeben ist, nicht verzichten. So formuliert GS 76: „Immer und überall nimmt sie das Recht (fas) in Anspruch, mit wahrer Freiheit (cum vera libertate) den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und die politischen Angelegenheiten […] einer sittlichen Beurteilung zu unterziehen“ (GS 76,7).
Kehren wir zurück zur Frage, warum DH zwischen der korporativen Religionsfreiheit (Art. 4) und der Kirchenfreiheit (Art. 13) differenziert. Worin liegt der Unterschied zwischen beiden Freiheitsansprüchen? Der Unterschied zwischen der Religions- und der Kirchenfreiheit liegt jedenfalls nicht darin, dass DH die Religionsfreiheit eher als negatives Abwehrrecht, als Frei-Sein von Zwang definierte, der Kirchenfreiheit hingegen ein positives, inhaltlich gefülltes Gerüst zugrunde legen würde. Dem widerspricht nicht nur, dass DH selbst gerade den korporativen Aspekt der Religionsfreiheit sehr präzise auch inhaltlich umschreibt.26 Dem widerspricht vor allem auch die moderne staatliche Grundrechtsdogmatik, die die Konzeption der Freiheitsrechte als reine Abwehrrechte schon lange zugunsten einer mehr positiven, den Staat auch zu differenziertem, aktivem Tun verpflichtenden Sicht weiterentwickelt hat. Trotz der (idealerweise) inhaltlichen Übereinstimmung der Kirchenfreiheit mit der für alle Religionsgemeinschaften geforderten korporativen Religionsfreiheit, ist es sinnvoll, nach wie vor beide Freiheiten systematisch zu unterscheiden. Dies liegt an der Art und Weise, wie in DH die Freiheit begründet wird: DH ist gegliedert 25
Heiner B. Lendermann, Zum Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Susanna Schmidt/Michael Wedell (Hrsg.), „Um der Freiheit willen…“ – Kirche und Staat im 21. Jahrhundert. Festschrift für Burkhard Reichert, Freiburg 2002, S. 40 – 47, hier 44. 26 Sieht man sich die in DH 4 umschriebenen inhaltlichen Gesichtspunkte an, so kommt man unweigerlich zur Feststellung, dass diese einem klassischen Katalog von Konkordatsmaterien nicht unähnlich sind: Leitung nach eigenen Normen, öffentlicher Kult, Unterricht, religiöse Einrichtungen und Vereine, unabhängige Erziehung, Auswahl, Ernennung und Versetzung der Amtsträger, Verkehr mit religiösen Autoritäten und Gemeinschaften in anderen Teilen der Erde, Errichtung religiöser Gebäude, Erwerb und Gebrauch zweckentsprechender Güter, öffentliche Lehre und Bezeugung des Glaubens in Wort und Schrift.
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in zwei große Abschnitte.27 Diese sind in sich konsequent aufgebaut und versuchen in ihrer Abgrenzung und Zuordnung, den jeweils unterschiedlichen Zugangsweisen und ihrer wechselseitigen Kohärenz zu entsprechen.28 Der erste Abschnitt behandelt die Religionsfreiheit auf der Grundlage der alle Menschen verbindenden Personenwürde. Der zweite Teil vertieft und verwurzelt die Religionsfreiheit im Licht der christlichen Offenbarung. Diese Gliederung entspricht der Absicht des Konzils, die Religionsfreiheit zweistufig zu begründen.29 Der erste Schritt ist eher philosophisch-anthropologisch konzipiert und setzt bei der Würde der menschlichen Person an. Einerseits ist der Begriff der Personenwürde spätestens seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 194830 internationales Gemeingut, andererseits ist er ohne die speziell europäische, jüdisch-christliche, durch die Aufklärung gegangene Tradition nicht denkbar.31 Entsprechend den Grundüberzeugungen der biblischen Anthropologie bringt die Kirche daher in einem zweiten Begründungsschritt ihr Proprium ein, indem sie die Religionsfreiheit in der biblischen Offenbarung und in der verbindlichen Tradition „verwurzelt“. Übertragen auf das Verhältnis zwischen korporativer Religionsfreiheit und Kirchenfreiheit bedeutet dies, dass die Kirchenfreiheit die theologische, in Schrift und Tradition wurzelnde, der Kirche unverwechselbar eigene Freiheit ist.32 27
Artt. 1 – 8 und 9 – 15. Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit, Dignitatis Humanae, in: Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 152 – 165, hier 166. 29 Zum zweistufigen Begründungsverfahren der Menschenrechte durch das Zweite Vatikanische Konzil und Papst Paul VI. vgl. Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderborn u. a. 1987, S. 226 – 233. 30 Generalversammlung der Vereinten Nationen, 10. 12. 1948, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN Doc. 217/A-(III). Die Präambel des ersten großen internationalen Menschenrechtsdokumentes sieht in der Anerkennung der angeborenen Menschenwürde die Grundlage für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Artikel 1 hebt programmatisch an: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren.“ 31 Vgl. Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 – 218. 32 Alfred Albrecht äußerte die Ansicht, dass die Kirchenfreiheit im freiheitlich-demokratischen Staat zwar nicht unmittelbar als „Staatsrecht“ gilt. Sie verpflichte aber „als ius divinum“ den einzelnen Katholiken bei der demokratischen Willensbildung über die Ordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat zu einer Entscheidung, die der kirchlichen Unabhängigkeit entspricht: Alfred Albrecht, Koordination von Staat und Kirche in der Demokratie. Eine juristische Untersuchung über die allgemeinen Rechtsprobleme der Konkordate zwischen der katholischen Kirche und einem freiheitlich-demokratischen Staat, Freiburg/Basel/Wien 1965, S. 139. Auch wenn die pauschale Gleichsetzung von Kirchenfreiheit und ius divinum überzogen ist, entspricht diese Auffassung doch der Lehre über die Erstverantwortlichtkeit der Laienchristen (GS 43) im politischen Leben, die einen Ausgleich zwischen Eigenverantwortung und Gewissensbindung im politischen Handeln herzustellen versucht. 28
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d) Das Verhältnis beider Freiheiten Dem säkularen Staat gegenüber drückt sich in der Lehre über die Kirchenfreiheit das Selbstverständnis der Kirche als Trägerin des Grundrechts auf korporative Religionsfreiheit aus, wodurch diese auf diesem – juristischen – Weg Bedeutung für das staatliche Recht erlangt. Aus der Perspektive des Religionsverfassungsrechts dient die korporative Freiheit letztlich der Verwirklichung der individuellen Freiheiten.33 Jene ist in diesem Sinn der individuellen Freiheit nachgeordnet. Da aber die Identität der kirchlichen Communio nicht allein vom Glauben des Einzelnen abhängt, ja nicht einmal vom Glauben aller Lebenden, lässt sich zumindest für die katholische Kirche die Reichweite der korporativen Freiheit nicht allein aus den individuellen Freiheiten herleiten. Es bleibt – vorsichtig formuliert – ein „ekklesiologischer Rest“, durch den der einzelne Gläubige gerade erst durch sein Mit-Sein in der Communio zum Glied der Kirche mit allen Rechten und Pflichten wird. Diesen „Rest“ zu definieren, liegt nicht in der Kompetenz des staatlichen Verfassungsgesetzgebers. Er ist Ausdruck des Selbstverständnisses der Kirche selbst, die damit notwendig selbst zum originären Grundrechtsträger wird. Die Kirchenfreiheit betrifft damit in erster Linie das Verhältnis zwischen der Kirche als Institution und dem Staat. DH 13 setzt die religiöse Freiheit und die Sendung der Kirche miteinander in Beziehung. Das in DH 4 von und für alle religiösen Gemeinschaften grundsätzlich Gesagte über die korporative Religionsfreiheit muss als bürgerliches Recht vollumfänglich auch für die katholische Kirche gelten. Die Verwirklichung der individuellen Religionsfreiheit bedarf religiöser Institutionen, welche die Frage nach der religiösen Wahrheit im Gegensatz zum modernen Staat nicht offenlassen. Die Kirchenfreiheit ist jedoch nicht nur die auf die Kirche angewendete und umbenannte Verbandsfreiheit: Sie ist, so DH 13, „etwas Heiliges, diese Freiheit, mit der der eingeborene Sohn Gottes die Kirche beschenkt hat, die er sich in seinem Blute erwarb. Sie gehört in Wahrheit der Kirche so sehr zu eigen, dass, wer immer gegen sie streitet, gegen den Willen Gottes handelt. Die Freiheit der Kirche ist das grundlegende Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten sowie der gesamten bürgerlichen Ordnung.“ Sie ist nach DH 13 „etwas Heiliges“, d. h. eine theologische Wahrheit, die sich auf dieser Ebene nicht mit philosophischen oder rein juristischen Methoden begründen lässt. Mit dieser Freiheit hat „der eingeborene Sohn Gottes die Kirche beschenkt […], die er sich in seinem Blute erwarb.“ Gegen jeden Versuch, im Ruf nach Kirchenfreiheit einen Ruf nach Privilegien zu sehen, wie auch gegen jede auch innerkirchliche Meinung, die im Topos der Kirchenfreiheit ein Relikt aus der konstantinischen Epo-
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Zum bleibenden Spannungsverhältnis beider Freiheiten siehe bereits oben, a) am Ende.
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che sieht, das mit der Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils nichts mehr gemeinsam hat, formuliert DH in ungewöhnlich deutlicher Sprache: „Sie [die Kirchenfreiheit], gehört in Wahrheit der Kirche so sehr zu eigen, dass, wer immer gegen sie streitet, gegen den Willen Gottes handelt.“
Im Idealfall konvergieren beide Freiheiten. Im Idealfall ist die verfassungsrechtliche Freiheit, die der Kirche zusteht, um ihrer Sendung nachzukommen (Art. 4 DH), inhaltlich mit ihrem ekklesiologischen Freiheitsanspruch (Art. 13 DH) zumindest annäherungsweise deckungsgleich. Um diese Annäherung in rechtlicher wie auch faktischer Weise herzustellen und abzusichern, werden aus der Sicht der Kirche Konkordate abgeschlossen. Die Berufung auf die korporative Religionsfreiheit erreicht nicht die Tiefenschichten des Geheimnisses „Kirche“. Sie bleibt für die Kirche aber unaufgebbar, da sie das auch für den säkularen Staat akzeptierbare Scharnier für die Übernahme der einzelnen Ansprüche der Kirchenfreiheit in das durch ihn gewährte Grundrecht darstellt. Eine direkte Berufung auf einen Topos „Kirchenfreiheit“ kommt daher dem Staat gegenüber nicht in Betracht. Innerkirchlich ist sie aber der verbindliche Ausdruck, welchen Umfang der korporativen Freiheit die Kirche für ihre Sendung benötigt. Dass die reale Gewährung und der erhobene Anspruch zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten sind, dass der Anspruch sogar ungehört verpuffen kann und in Situationen der Unterdrückung und Verfolgung, aber auch in Situationen der Staatskirchlichkeit aus ganz unterschiedlichen Gründen nur ein theoretischer bleibt, vermag dessen grundsätzliche Berechtigung nicht zu widerlegen. (Rechts-)Theologisch ist die Kirchenfreiheit der Raum, der ein unbehindertes Verhalten im Einklang mit dem kirchlichen Recht ermöglicht. Sie ist „das Recht der Kirche, Kirche zu sein und auf ihre eigene Weise zu leben,“34 das „Recht auf die eigene Identität“35. Diesem Recht kommt dabei freilich keine Selbstzweckhaftigkeit zu. Vielmehr soll durch das Zusammenspiel der innerkirchlichen Rechtsordnung mit der vom Staat respektierten Kirchenfreiheit die Heilssendung der Kirche verwirklicht werden können. Während für den in religiösen Fragen inkompetenten Staat die Frage nach der Kirchenfreiheit nicht anders zu lösen ist als über das Grundrecht auf Religionsfreiheit in allen Dimensionen, kann sich die Kanonistik, die sich auch als theologische Wissenschaft versteht, damit nicht einfach begnügen. Die Berufung auf die Religionsfreiheit allein würde gewissermaßen „durch die Hintertür“ die naturrechtliche und sozialphi34
Joseph Ratzinger, Freiheit und Bindung in der Kirche, in: Gerhard Ludwig Müller in Verbindung mit dem Institut Papst Benedikt XVI. (Hrsg.), Joseph Ratzinger. Gesammelte Schriften, Bd. 8/1: Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene, Freiburg/Basel/Wien 2010, S. 428 – 447, hier 447. 35 Giuseppe dalla Torre, La città sul monte. Contributo ad una teoria canonistica sulle relazioni fra Chiesa e comunità politica, seconda edizione, Roma 2002, S. 121.
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losophische Argumentation des IPE fortsetzen. Darüber hinaus handelt es sich bei der Religionsfreiheit zuerst um ein staatliches Grundrecht. Die Artikel DH 4 und 13 handeln daher nicht von ein und derselben Freiheit. Die Kirchenfreiheit ist mehr als lediglich die Anwendung der Religionsfreiheit an sich auf den Einzelfall „communitas religiosa“ katholische Kirche. Gleichwohl, und das ist die Aussageabsicht in DH 13, bilden Religions- und Kirchenfreiheit verschiedene Wirklichkeiten, die inhaltlich aufs Engste korrespondieren sollen.
2. Die Grenzen der Religionsfreiheit In der Anerkennung der Autonomie des staatlichen Wirkens liegt ein Bekenntnis zur Aufgabe und Pflicht des Staates, den Frieden zu sichern, notfalls auch in Ausübung seines Gewaltmonopols. Der Anspruch der Kirche, die korporative Religionsfreiheit im Licht der Kirchenfreiheit zu interpretieren, bedeutet keineswegs einen Anspruch auf Herausnahme aus dem Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnung. Die Betonung der Bedeutung des Selbstverständnisses des Grundrechtsträgers für die Konkretisierung des Grundrechts auf Religionsfreiheit kann nicht bedeuten, dass der Staat keine Kompetenz besäße, regulierend einzugreifen. Im Ergebnis würde dies nichts anderes als die Entmachtung des Staates in einem Kernbereich der öffentlichen Ordnung sein. Eine solche verbietet sich nicht erst aufgrund der aktuellen religions- und sicherheitspolitischen Lage, sondern schon aufgrund der Souveränität des Staates. Der Staat, d. h. letztlich die Gerichte bis hinauf zu den nationalen, supranationalen und internationalen Höchstgerichten, muss die Kompetenz behalten, die Plausibilität der Einstufung eines Verhaltens als Religionsausübung durch die einzelnen Gemeinschaften zu überprüfen. Bloß als Religion getarntes wirtschaftliches Gewinnstreben oder gar religiös verbrämte Unterwanderung der Verfassungsstrukturen des Staates muss dieser nicht unwidersprochen hinnehmen. Erst recht besteht ein Verteidigungsrecht und auch eine dementsprechende -pflicht gegenüber allen Formen strafrechtlich relevanter Gewalt, die sich in ihren Motiven auf eine bestimmte Lesart einer Religion beziehen. Für den Staat ist es dabei gleichgültig, ob diese Lesart der orthodoxen Deutung der betreffenden Religion entspricht oder nicht, da er nicht deren „Wahrheitsgehalt“ überprüft, sondern auf deren bedrohliche Auswirkungen für den öffentlichen Frieden reagiert. Kein Grundrecht ist grenzenlos gewährt. Selbst die nach Art. 4 des deutschen GG auf den ersten Blick ohne Schrankenvorbehalt normierte Religionsfreiheit unterliegt selbstverständlich den Schranken, die sich durch zumindest gleichwertige andere Verfassungsgüter ergeben. Der Schutzbereich der Religionsfreiheit – auch der korporativen – ist aber weit zu fassen. Diese ist eines der basalsten Grundrechte überhaupt, da sie unmittelbar in der Menschenwürde wurzelt.
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Als korporatives Grundrecht ist sie mehr als nur ein staatlich gewährter Freiheitsraum. In ihrem Kernbereich umschreibt dieses nämlich auch die Grenzen der Souveränität eines sich als säkular definierenden Staatswesens.36 Die österreichische Pionierin im Staatskirchenrecht Inge Gampl nannte rein religiöse Angelegenheiten daher zutreffend staatsfrei, „off limits für alle Staatsorgane“,37 weil jede staatliche Regelung in diesem Bereich eine Grenzüberschreitung bedeuten würde. (Umgekehrt muss man freilich auch sagen, dass es konsequenterweise auch „kirchenfreie“ Angelegenheiten gibt. Nicht jede politische Äußerung im Namen der Kirche ist so besehen ganz unproblematisch). Vor dem Hintergrund des weiten Schutzbereiches unterliegt die Religionsfreiheit natürlichen Schranken. Bereits Dignitatis Humanae sieht diese als notwendigen Bestandteil des Grundrechts an. Der Leitbegriff ist dabei der iustus ordo publicus, die gerechte öffentliche Ordnung. DH 7 präzisiert diesen moralisch aufgeladenen und rechtlich höchst unbestimmten Begriff durch folgende Umschreibungen: Einschränkungen der Religionsfreiheit müssen jeweils erforderlich sein: 1. für einen wirksamen Rechtsschutz und das friedliche Zusammenleben der Bürger 2. für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens und 3. für die Wahrung der „öffentlichen Sittlichkeit“ Sieht man sich diese Kriterien an, drängt sich angesichts ihrer Weite und Unbestimmtheit eine gewisse Ratlosigkeit auf. Allerdings ist eine gewisse Nähe zur Schrankenregelung des Art. 9 Abs. 2 EMRK38 unverkennbar. Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK führte zu einer Klärung der auch dort vorhandenen unbestimmten Gesetzesbegriffe, die in ihren wesentlichen Inhalten durchaus mit der Aussageabsicht von DH 7 übereinstimmen.
36 Dies wird im Ergebnis auch von der Judikatur des österr. VfGH vertreten. Vgl. VfSlg 3.657, 19.540, 16.395. 37 Inge Gampl, Rechtliche Begegnung und rechtliche Begrenzung von Kirchen- und Staatsgewalt in Österreich, in: Audomar Scheuermann/Georg May (Hrsg.), Ius Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, München/Paderborn/Wien 1969, S. 837 – 852. 38 „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
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Statt eines Schlusses: Die Kirchenfreiheit in zwei aktuelleren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Der Blick auf zwei grundsätzliche Entscheidungen des EGMR zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften kann aufzeigen, dass für die Kirche zurzeit kein großer Grund zur Sorge bestehen dürfte, dass sich in absehbarer Zukunft die Kluft zwischen theoretischer Kirchenfreiheit und tatsächlich geschützter korporativer Religionsfreiheit massiv vergrößern wird. Der Rechtssache Fernández-Martinéz v. Spanien39 liegt – grob gekürzt – folgender Sachverhalt zugrunde: Ein katholischer Priester, der zivil geheiratet hatte, war als Religionslehrer an einer staatlichen Schule angestellt. Der Vertrag war, dem Konkordat entsprechend, jeweils auf ein Jahr begrenzt, sollte aber immer wieder erneuert werden, sofern seitens des Bischofs die missio canonica nicht widerrufen würde. Nachdem der Priester, selber Mitglied in einem Verein, der sich für die Aufhebung der Zölibatsverpflichtung für die Priester der Lateinischen Kirche einsetzt, anlässlich eines Treffens verheirateter Priester in einer regionalen Tageszeitung mit seiner Familie abgebildet war, erneuerte der Bischof die missio nicht, woraufhin auch die staatliche Schulbehörde das Lehrverhältnis beendete. Nachdem die entsprechenden spanischen Instanzen durchlaufen waren, urteilte am 15. Mai 2012 die Dritte Kammer des EGMR, dass der Kläger in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK nicht verletzt wurde, da der Bischof den Widerruf aus ausschließlich religiös motivierten Gründen ausgesprochen hatte. Dieser hätte angesichts der Vorschriften des kanonischen Rechts auch widerrufen müssen. Ob tatsächlich das kirchenrechtlich (im Reskript zur Erteilung der Dispens von der Zölibatsverpflichtung) normierte Ärgernis vorlag, kann der Gerichtshof nicht selbst entscheiden, da es sich hierbei um die Beurteilung einer rein religiösen Frage handelt. In Nr. 84 sprach der EGMR eines der bislang deutlichsten Bekenntnisse der internationalen Gerichtsbarkeit zum Selbstbestimmungsrecht der Kirche aus:40 „…Die Prinzipien der Religionsfreiheit und der Neutralität versperren die Möglichkeit einer weitergehenden Überprüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Entscheidung, den Vertrag nicht zu erneuern. Die Rolle des Gerichtshofes beschränkt sich darauf, sicherzustellen, dass weder fundamentale Prinzipien des nationalen Rechts noch die Würde des Klägers verletzt worden sind.“
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Rs 56030/07. In the Court’s opinion, the requirements of the principles of religious freedom and neutrality preclude it from carrying out any further examination of the necessity and proportionality of the non-renewal decision, its role being confined to verifying that neither the fundamental principles of domestic law nor the applicant’s dignity have been compromised. 40
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Im Ergebnis bedeutete dies im Bereich des Dienstrechts gegenüber den eigenen Amtsträgern einen vollständigen Einklang von korporativer Religionsfreiheit und Kirchenfreiheit im oben beschriebenen Sinn.41 Die Entscheidung wurde in weiterer Folge aber durch die Große Kammer des EGMR in einem entscheidenden Punkt modifiziert. Bislang war der EGMR in ähnlich gelagerten Fällen von der grundsätzlichen Notwendigkeit einer einzelfallbezogenen Abwägung ausgegangen. Nach der Entscheidung vom 15. Mai 2012 sollte sich dies aber nur mehr auf die Verletzung fundamentaler Rechtsprinzipien und die Menschenwürde beziehen. Ganz in Übereinstimmung mit der kirchlichen Auffassung42 ging der Gerichtshof offenbar davon aus, dass der Kläger, auch wenn er mittlerweile verheiratet war, als Priester und – in diesem Fall: vor allem – als Religionslehrer so nah am Verkündigungsauftrag der Kirche steht, dass ein Ergebnis ausgeschlossen werden muss, das im Endeffekt der Kirche einen nicht gewollten Amtsträger aufoktroyiert. Die Große Kammer des EGMR hat die betreffende Entscheidung am 12. Juni 2014 im Ergebnis mit einer Mehrheit von 9 zu 8 Stimmen bestätigt, kehrte dabei aber wieder zu einer verstärkten Berücksichtigung des Einzelfalls zurück. Der korporativen Religionsfreiheit wurde dabei ein starkes, letztlich durchschlagendes Gewicht beigemessen,43 ohne aber gleichzeitig jede richterliche Kontrolle mit der Berufung auf eine religiöse Entscheidung abzulehnen. Damit besteht zwischen der Kirchenfreiheit, nach welcher die Kirche selbst entscheidet, wer in ihrem Namen am Verkündigungsauftrag teilhat und wie diese Teilhabe auszuüben ist, und der Religionsfreiheit in der verbindlichen Auslegung des EGMR wieder eine kleine Divergenz, welche die Kontrolle einer religiösen Entscheidung durch die dazu an sich nicht kompetente weltliche Gerichtsbarkeit ermöglicht.
41 Vgl. die noch weiter gehende Rsp. des US Supreme Court, der im Fall Hosanna-Tabor [565 U. S. (2012)] die „ministerial exception“ entwickelte, welche de facto die Anwendung des staatlichen Antidiskriminierungsrechts auf Dienstnehmer von Religionsgemeinschaften ausschließt. 42 Vgl. die Stellungnahme der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls beim Europarat, Note on the Catholic Church’s freedom and institutional autonomy, on the occasion of the examination by the European Court of Human Rights of the Sindacatul „Pastorul cel Bun“ versus Romania (No. 2330/09) and Fernandez Martinez versus Spain (No. 56030/07) cases; Fundstelle: http://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/2013/documents/rc_seg-st_ 20130116_liberta-autonomia_en.html. 43 In einem obiter dictum wurde die korporative Religionsfreiheit sogar noch verstärkt. Dissidenten könnten sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen, sondern müssten ihre Gemeinschaft verlassen: Concerning more specifically the internal autonomy of religious groups, Article 9 of the Convention does not enshrine a right of dissent within a religious community; in the event of any doctrinal or organisational disagreement between a religious community and one of its members, the individual’s freedom of religion is exercised by the option of freely leaving the community (Pkt. c. 2.).
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In der Rechtssache „Travasˇ v. Kroatien“44 festigte der Gerichtshof seine Judikatur. Diesem Fall lag die Klage eines Theologieprofessors bzw. Religionslehrers an einer staatlichen Schule aus Rijeka gegen den Entzug der missio canonica durch die zuständige kirchliche Autorität zugrunde. Dieser Entzug war erfolgt, weil der Kläger, der seit 2002 in einer kirchlich geschlossenen Ehe lebte, diese staatlich scheiden ließ und 2006 zivil wieder heiratete.45 Der Gerichtshof entschied gegen eine Verletzung von Art. 8 EMRK und verlieh damit im Ergebnis der kirchlichen Entscheidung Geltungskraft im staatlichen Bereich. Ohne auf den Fall hier näher einzugehen, waren folgende Überlegungen leitend für die Entscheidung: Die korporative Religionsfreiheit der Kirche nach Art. 9 Abs. 1 EMRK gilt als Freiheit anderer, deren Schutz nach Art. 8 Abs. 2 EMRK den Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben zu rechtfertigen vermag (Nr. 86). Dass der Kläger im Gegensatz zur Rs Fernández-Martinéz Laie war, begründete trotz der ansonsten ähnlichen äußeren Umstände keinen Grund für eine andere Beurteilung des Sachverhalts. Der Gerichtshof zitiert die cc. 804 § 2 und 805 CIC, die keinen Unterschied nach dem kirchlichen Stand machen. Von einem Theologieprofessor erwartet der EGMR, dass er die ihn betreffenden Normen des Kirchenrechts auch kenne. Der dort geforderten gesteigerten Loyalität dem Glauben und der kirchlichen Disziplin gegenüber habe sich der Kläger in Freiheit unterworfen (Nr. 91 – 92). Dass ein Lehrer der Theologie besonders nahe am Kernauftrag der Kirche steht, wird vom EGMR ohne Einschränkungen zur Kenntnis genommen und akzeptiert: „His status of a teacher of religious education was related to one of the essential functions of the Church and its religious doctrine“ (Nr. 93).46 Auch ein weiterer Unterschied zur Rs. Fernández-Martinéz führte für den EGMR nicht zu einer unterschiedlichen Beurteilung. Die Tatsache, dass im Gegensatz zum spanischen Priester hier keine breitere Öffentlichkeit von der Sachlage Kenntnis erlangen konnte, vermochte den Verstoß gegen die Loyalitätsobliegenheiten nicht zu schmälern (Nr. 98). Auf der Linie der 2014 durch die Große Kammer revidierten Rechtsprechung führt der Gerichtshof aus, dass ein Verstoß gegen das kirchlich-religiöse Eheversprechen („vows“) für sich allein genommen noch nicht die Entfernung von einem Posten als Religionslehrer im staatlichen Schulsystem rechtfertigen könne. Dem Kläger komme vielmehr das ebenfalls durch die EMRK geschützte Menschenrecht auf Ehe (im staatlichen Sinn) zu. Im Hinblick auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht formuliert der Gerichtshof: „It should be remembered that such an autonomy is not absolute and cannot be exercises in a manner affecting the substance of the right to 44
Rs 75581/13. Bedeutsam für den Fall war auch, dass der Kläger sich weigerte, ein kanonisches Ehenichtigkeitsverfahren anzustreben und so seine Lebensumstände auch kirchlich zu ordnen. 46 Der Gerichtshof vergleicht dies mit der – seiner Meinung nach – anders zu beurteilenden Lage eines Organisten. Vgl. Urteil vom 23. 09. 2010, Schüth v. Deutschland, Rs 1620/03. 45
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private and family life.“ In die so geforderte Abwägung bezog der Gerichtshof im konkreten Fall ein, dass die staatliche Behörde alles unternommen hatte, um die Möglichkeit einer adäquaten Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu gewähren, was allerdings scheiterte. Der Kläger war darüber hinaus in sozialrechtlicher Hinsicht abgesichert, insbesondere hatte er Anspruch auf Bezug einer Arbeitslosenunterstützung. Auch wenn er als Religionslehrer keine weiteren Berufsaussichten habe, erfülle er die Voraussetzungen für die Lehre im Fach „Ethik und Kultur“, das in keiner Weise mit der katholischen Kirche in einer institutionellen Verbindung steht. Im Ergebnis sah der Gerichtshof daher in der Kündigung aufgrund des Entzugs der missio keinen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 EMRK. Wenn man diese Entscheidung konsequent zu Ende denkt, sind im Gegensatz zu diesem konkreten Fall Sachverhaltskonstellationen denkbar, die zu einem anderen Ergebnis geführt und damit die Kirche verpflichtet hätten, im Bereich der amtlichen Verkündigung jemanden gegen den erklärten und kanonisch begründeten Willen der Autorität zu dulden. Auch hier bleibt daher im Ergebnis eine Lücke zwischen der theoretisch seitens der Kirche erforderlichen Freiheit und dem Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit. Allerdings scheint die gefestigte Rechtsprechung die geforderte Abwägung sehr behutsam vorzunehmen. In keiner Weise ist erkennbar, dass die korporative Religionsfreiheit, die nach dem System und der Geschichte der EMRK erst aus der individuellen Freiheit nach Art. 9 Abs. 1 destilliert werden musste,47 inhaltlich sich so weit von der Kirchenfreiheit nach Art. 13 DH entfernen würde, dass letztere tatsächlich Gefahr liefe, keinen Schutz mehr durch den EGMR zu erfahren. Die Sicherung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen des Klägers, insbesondere des Rechts auf ein Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) in eine Einzelfallabwägung einzubeziehen, ist eine Forderung der Gerechtigkeit und daher auch aus kirchenrechtlicher Sicht kein Störfaktor, sondern geboten. Das Ergebnis kann aber nicht lauten, dass einer bestimmten Religionsgemeinschaft, auch nicht der katholischen Kirche, aus ihrer Sicht unliebsame Amtsträger aufs Auge gedrückt werden, sondern muss sich im Bereich der sozialen Absicherung bewegen. Dort freilich ist die Kirche auch um ihrer Glaubwürdigkeit willen berufen, im Zweifel großzügig zu sein.
47 Vgl. Albert Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen – Ansätze zu einem „Europäischen Staatskirchenrecht“, Köln 1995.
Der Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik: Innenpolitische Perspektiven Von Ulrich Weinbrenner1
1. Religion in Deutschland: Dynamischer Prozess der Pluralisierung Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten einen dynamischen Prozess der religiösen Pluralisierung erlebt. Während in Deutschland im Jahr 1950 rund 95 Prozent der Einwohner der katholischen oder der evangelischen Kirche angehörten, ist deren Anteil in Gesamtdeutschland heute auf unter 60 Prozent gesunken. Der Anteil der Konfessionslosen beträgt heute rund ein Drittel und der der Muslime über fünf Prozent. Die hohe Zahl an Asylbewerbern und Flüchtlingen, die seit über einem Jahr nach Deutschland kommt und überwiegend muslimischen Glaubens ist, hat dazu geführt, dass die Öffentlichkeit sich in hohem Maße für diese Veränderungsprozesse in unserer Gesellschaft interessiert. Es geht dabei um neue gesellschaftspolitische, aber auch um neue rechtliche Fragestellungen. Ich begrüße es daher sehr, dass das Institut für Kirchenrecht der Universität Wien in Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie Berlin zu dieser Fachtagung „Religiöse Vielfalt – Herausforderungen für das Recht“ eingeladen hat. Wenn Politik gefragt ist, wie die Perspektiven für den Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik aussehen, hat sie allen Grund – zumal bei einer Veranstaltung mit Kirchenrechtlern – zunächst einmal an die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen anzuknüpfen.
2. Rechtliche Rahmenbedingungen für den Umgang mit religiöser Vielfalt Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Beziehung zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1
Leiter Stab Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Bundesministerium des Innern.
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Ulrich Weinbrenner
ergeben sich aus Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) sowie aus den durch Artikel 140 GG inkorporierten Artikeln 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Sie stammen mithin aus einer Zeit, als die Gesellschaft zu über 95 Prozent aus Mitgliedern der beiden christlichen Kirchen bestand. Ungeachtet dessen garantieren diese Verfassungsnormen die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit für jedermann und für jede religiöse und weltanschauliche Gemeinschaft. Darüber hinaus regeln diese Normen die Trennung von Staat und Kirche sowie das Gebot staatlicher Neutralität gegenüber Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Die religiöse Vereinigungsfreiheit ist als Kernstück der Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und zusätzlich durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 WRV gewährleistet. Garantiert ist die Freiheit, sich aus gemeinsamer religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung heraus zusammenzuschließen und zu organisieren. Ein Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform ist damit nicht gemeint; gewährleistet ist lediglich die Möglichkeit einer irgendwie gearteten rechtlichen Existenz einschließlich der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr.2 Das Verfassungsrecht stellt für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den besonderen Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zur Verfügung (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV). Mit diesem Status gewährt der Staat besondere Rechte, die die Ausstattung mit öffentlicher Gewalt eigener Art beinhalten. Zu den besonderen Rechten, die den Gemeinschaften verliehen werden, zählen beispielsweise das Recht zum Steuereinzug bei ihren Mitgliedern (Art. 137 Abs. 6 WRV), die Dienstherrenfähigkeit, die Befugnis, eigenes Recht zu setzen und kirchliche öffentliche Sachen durch Widmung zu schaffen. Der Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft ist jedoch nicht Voraussetzung dafür, dass eine Gemeinschaft überhaupt als Religionsgemeinschaft in Erscheinung treten oder die den Religionsgemeinschaften allgemein gewährten Rechte in Anspruch nehmen darf. Die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist vielmehr bereits durch die allgemeinen verfassungsrechtlichen Bestimmungen gesichert.
3. Auswirkungen der religiösen Vielfalt auf das Normverständnis? Die zunehmende religiöse Vielfalt gibt Anlass darüber nachzudenken, ob und inwieweit die sich verändernden Lebenssachverhalte auch das Normverständnis verändern.
2 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 05. 02. 1991 – 2 BvR 263/86, BVerfGE 83, 341 ff.
Der Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik
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a) So könnte die zunehmende religiöse Vielfalt beispielsweise das Verhältnis zwischen Staat und Religion verändern, das – wie skizziert – durch das Religionsverfassungsrecht geregelt ist. Danach ist das Verhältnis zwischen Staat und Religion rechtlich einerseits durch eine organisatorische Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften und andererseits durch eine konstruktiv-kooperative Zusammenarbeit gekennzeichnet. Die zunehmende religiöse Vielfalt, aber auch die zunehmende Konfessionslosigkeit in der Gesellschaft wirft die politisch praktische Frage auf: Wieviel Nähe oder Distanz ist bei dem wachsenden Gewicht einer zunehmenden Zahl von Religionsgemeinschaften zwischen Staat und Religionsgemeinschaften praktisch möglich und welches Maß an Nähe und Kooperation wird dauerhaft von der Gesellschaft akzeptiert? Wie kann die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass der Staat die Heimstatt aller Bürger sein soll und sein will, in religiöser Hinsicht in die Praxis umgesetzt werden? b) Die Frage, ob und inwieweit eine zunehmende religiöse Vielfalt zu einem veränderten Verständnis von Rechtsbegriffen führen wird, könnte etwa auch bei der Auslegung eines Schlüsselbegriffs unserer Verfassung, dem Begriff der Menschenwürde in Art. 1 GG, relevant werden. Dort heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Was der Staat in der Praxis konkret zu schützen hat, was die Würde des Menschen konkret ausmacht, wird letztlich über das in der Gesellschaft verankerte Menschenbild bestimmt. Uns ist als Juristen sehr wohl bewusst, dass die Entwicklung dieses Begriffsverständnisses von den Entwicklungen und Veränderungen des Werteverständnisses in der Gesellschaft abhängt, das meistens unterschwellig-schleichend daherkommt, ohne dass der freiheitliche Staat dies beeinflussen könnte. Dies hat der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem berühmten Diktum wie folgt formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Warum hat das Menschenbild eine so große Bedeutung für unsere Gesellschaftsund Rechtsordnung? Weil die Rolle und die Bedeutung, die dem Menschen in der Gesellschaft beigemessen wird, von Kultur zu Kultur und von Religion zu Religion unterschiedlich beantwortet und gewichtet wird. Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, den naturrechtlichen Charakter des Menschen zu betonen, wonach ihm Würde und Gleichheit allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spezies Mensch zukommen.3 Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Aufklärer mit ihrer Berufung auf die Vernunft als universeller Urteilsinstanz, der 3
Vgl. Lukas Wick, Islam und Verfassungsstaat, Würzburg 2009, S. 128 f.
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Hinwendung zu den Naturwissenschaften, dem Plädoyer für religiöse Toleranz und der Orientierung am Naturrecht sich gegen bis dahin gültige religiöse Dogmen stellten. Auch die Legitimation staatlicher Gewalt sollte nach Vorstellung der Aufklärer nicht mehr durch das Gottesgnadentum erfolgen, sondern auf einem Gesellschaftsvertrag beruhen, der auf Vernunftprinzipien hergeleitet werden sollte. Zu dem westlichen Menschenbild gehört es seit der Aufklärung, dass jeder Mensch als Individuum Träger von Individualrechten ist. Dementsprechend rangieren das Individuum und seine Rechte vor der Gemeinschaft, die Gesellschaft wird also vom Individuum her gedacht und für sein Wohlergehen politisch gestaltet. Die Frage ist, warum die aufklärerischen Denker, die es in der islamischen Welt in der Vergangenheit durchaus gab, sich nicht ebenso durchsetzen konnten wie im Westen. Es gibt darauf keine einfache Antwort und einige Islamwissenschaftler wie die Berliner Professorin Angelika Neuwirth sehen in der Behauptung, dass es dem Islam an Aufklärung mangele, ein uraltes Klischee, mit dem der westlichen Kultur gegenüber der islamischen Welt ein erheblicher Vorsprung zugesprochen wird. Fakt ist jedoch, dass aufklärerische islamische Gelehrte heute oft nur in gemäßigten islamischen Ländern überleben können – oder im Exil. Auch kommen viele Flüchtlinge und Zuwanderer aus autoritären Staaten. Die Voraussetzungen unseres Rechts- und Begriffsverständnisses werden daher neu erklärt und begründet werden müssen, wenn eine große Zahl von Menschen mit einem anderen Religions- und Menschenbild Teil unserer Gesellschaft wird. Dies gilt insbesondere für die Frage, von welchem Menschenbild wir als Grundlage unsere Gesellschafts- und Rechtsordnung ausgehen. c) Die zunehmende religiöse Vielfalt wirft auch neue Fragen auf, welches konkrete Handeln und Wirken durch den Schutzbereich des Art. 4 GG (Religionsfreiheit) geschützt ist. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art. 4 GG ein einheitliches und umfassendes Grundrecht auf Religionsfreiheit ab, das dem Einzelnen das Recht gibt, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Das gilt nicht nur für verbindliche Glaubenssätze, sondern auch für solche religiöse Überzeugungen, die vorgeben, wie konkrete alltägliche Lebenslagen richtig zu bewältigen sind. Die Rechtsprechung knüpft für die Frage, ob ein Verhalten vom Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfasst ist, an das Selbstverständnis desjenigen an, der sich auf das Grundrecht beruft. Dafür reicht es bisher aus, wenn die in Deutschland traditionell vertretenen Religionsgemeinschaften und ihre Angehörigen – vor allem also die christlichen Kirchen, einzelne Christen, aber auch das Judentum – für ein bestimmtes Verhalten ihr Selbstverständnis plausibel darlegen können. Da die Regelungen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keinen Schrankenvorbehalt in der Form eines Gesetzesvorbehaltes vorsehen, versteht das Bundesverfassungsgericht
Der Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik
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die Religionsfreiheit als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Für ein solches Grundrecht können sich Schranken nur „aus der Verfassung selbst“ ergeben, sog. verfassungsimmanente Schranken. Als solche gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes „mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter“. Wer daher konkret wissen will, wo mögliche Schranken für die Religionsfreiheit bestehen könnten, müsste nach einer entsprechenden konkreten Verfassungsnorm suchen. Diese religionsfreundlichen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die durch eine religionsfreundliche Rechtsprechung konkretisiert wurden, gingen von einer gesellschaftlichen Realität aus, in der es eine hohe Übereinstimmung zwischen den grundlegenden Wertvorstellungen in der Gesellschaft einerseits und den Wertvorstellungen der Kirchen als den dominierenden Religionsgemeinschaften anderseits gab. Es sollte daher nicht überraschen, dass die weitgehende Pluralisierung sowie auch Individualisierung des religiösen Lebens in Deutschland zu Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit und ihren Grenzen führt. Staat und Gesellschaft stehen daher angesichts der vielfältigen und individuell sehr unterschiedlichen religiösen Vorstellungen vor der Herausforderung, den Schutzbereich der Religionsfreiheit für viele neue Konfliktlagen zu bestimmen, die zuvor praktisch nicht relevant waren. Aber: Konflikte gehören zum Prozess der Integration. Es gilt daher, in Staat und Gesellschaft konstruktive Konfliktlösungsmechanismen zu finden, die die Konfliktlagen nicht nur benennen, sondern helfen, sie in einem konstruktiven Dialog zu bewältigen.
4. Konkrete Fragen zu Schutzbereich und Grenzen der Religionsfreiheit Lassen Sie mich beispielhaft dafür einige Fragen benennen: (1) Wie kann das Entstehen einer Paralleljustiz religiöser Provenienz verhindert werden, die über Fragen entscheidet, die nach unserer verfassungsmäßigen Ordnung von Bundes- und Landesgerichten zu entscheiden sind? (2) Wie kann darauf hingewirkt werden, dass die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit von Mann und Frau, die Kennzeichen unserer modernen Gesellschaft sind, nicht durch religiöse Vorstellungen oder Traditionen – etwa aus bestimmten muslimisch geprägten Ländern – in Frage gestellt werden? (3) Inwieweit kann eine freiheitlich verfasste Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass eigenverantwortliches Verhalten zurechenbar ist, es hinnehmen, dass Frauen durch das Tragen einer Burka sich anonym im öffentlichen Raum bewegen?
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5. Gesellschaftlicher Zusammenhalt – zwischen Integration und Parallelgesellschaft Zunehmende religiöse Vielfalt verändert nicht nur den juristischen Diskurs, sondern ist vor allem eine Herausforderung für den Zusammenhalt und die Stabilität unserer Gesellschaft. Wir müssen uns daher die Frage stellen: Wie kann angesichts schrumpfender Gemeinsamkeiten der Zusammenhalt der Gesellschaft bewahrt und ihr Auseinanderfallen in Parallelgesellschaften verhindert werden?
a) Respekt vor der Religionsfreiheit Andersgläubiger Diese Frage stellt sich nicht allein wegen der wachsenden religiösen Vielfalt. Sie ist auch bedingt durch die mit der religiösen Vielfalt häufig einhergehenden unterschiedlichen kulturellen Prägungen. Aber dem Verhältnis der verschiedenen Religionen untereinander wie auch deren Verhältnis zu den Konfessionslosen kommt eine besondere Bedeutung zu, da Gemeinschaften mit gemeinsamen Wertüberzeugungen in einer offenen Gesellschaft besonders wirkmächtig sind. Deswegen ist es außerordentlich wichtig, dass die Gläubigen und ihre unterschiedlichen Religionsgemeinschaften das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht nur für sich selbst in Anspruch nehmen, sondern es im Alltag auch für andere Religionen und Nichtgläubige einfordern und verteidigen. In Deutschland haben die in der Deutschen Islamkonferenz vertretenen Verbände folgende Erklärung zur Religionsfreiheit abgegeben: „Für ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben im Alltag ist Gesetzestreue nicht allein ausschlaggebend; hierzu bedarf es eines Konsenses aller Menschen über Verhaltensregeln im Alltag, die jenseits gesetzlicher Verankerung einen moralischen Imperativ bilden, wie z. B.: – Toleranz und Respekt gegenüber Andersgläubigen (einschließlich derer, die sich an keine religiösen oder spirituellen Überzeugungen gebunden fühlen), – Toleranz und Respekt gegenüber Menschen mit einer anderen Weltanschauung oder Lebensgestaltung, – sowie Toleranz und Respekt der Muslime untereinander angesichts unterschiedlich ausgelegter und gelebter Formen des Islams, sofern sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen.“ Über diese wichtige Erklärung hinaus wäre es für die Muslime in Deutschland und den öffentlichen Diskurs über die Religionsfreiheit wünschenswert, wenn auch religiöse Autoritäten der muslimischen Welt sich zu den Aussagen dieser Erklärung bekennen würden. Das sollte das Bekenntnis zur negativen Religionsfreiheit einschließen, wonach jeder Mensch auch das Recht hat, seine religiösen Überzeugungen zu ändern und sich einer anderen Religionsgemeinschaft anzuschließen.
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b) Integration und Zusammenhalt Dass Menschen mit anderem religiösen und kulturellen Hintergrund toleriert werden, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser setzt vielmehr voraus, dass man gemeinsam zusammenleben und zusammenarbeiten will, um möglichst allen eine Chance auf ein geglücktes Leben in unserer Gesellschaft zu eröffnen. Dafür hat die Aufnahmegesellschaft die Standards vorzugeben. Denn der Erfolg und die Attraktivität der Aufnahmegesellschaft beruht auf bestimmten kulturell geprägten Wertemustern, die die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität einer Gesellschaft erst ermöglichen. Sie gilt es zu erhalten und weiterzuentwickeln, gerade auch im Interesse der Zuwanderer. Denn für sie gilt: Eine Integration in die Aufnahmegesellschaft ist nur möglich, wenn greifbar ist, was die Kultur der Aufnahmegesellschaft ausmacht. Dafür bedarf es jedoch eines Grundkonsenses in der Gesellschaft, wie man gemeinsam zusammen leben und arbeiten will. Die zunehmenden Spannungen in der Gesellschaft zeigen, dass dieser Konsens brüchig geworden ist. Umso mehr bedarf es heute einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion darüber. Sie muss darauf ausgerichtet sein, gemeinsame Interessen zu erkennen und zu definieren, sowie sich auf ihrer Grundlage auf gesellschaftliche und politische Ziele zu verständigen, die den gemeinsamen Wertvorstellungen gerecht werden. Wir brauchen eine Erneuerung dieses gesamtgesellschaftlichen Grundkonsenses, um eine Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verhindern. Wir brauchen diesen Grundkonsens aber auch dafür, um Menschen wieder für unsere Gesellschaft und unsere Kultur begeistern zu können, damit sie nicht nur für den persönlichen ökonomischen Erfolg arbeiten, sondern für eine bessere Lebensqualität für alle in unserer Gesellschaft. Wir sollten daher darüber diskutieren: – Was macht unser Land lebenswert und wie soll dies in Zukunft gewährleistet werden? – Welche anspruchsvollen kulturellen Leistungen und Werte machen unser Land für Menschen – auch aus anderen Ländern – attraktiv, die sich an hohen geistigen und geistlichen Standards orientieren? – Von welchem Menschenbild gehen wir aus? – Was bedeutet uns Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und wie können wir sie gewährleisten und schützen? – Was können wir aus unserer Geschichte, der Abfolge einer langen Kette von Generationen mit ihren spezifischen Erfahrungen in einem bestimmten geografischen und geopolitischen Umfeld, lernen, um Freiheit, Frieden und Wohlstand auch in Zukunft bewahren zu können?
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Wir sollten auch darüber diskutieren, welche Erwartungen wir an Zuwanderer haben, damit wir ihnen auch insoweit Orientierung geben können. Zu diesen Erwartungen könnte gehören, dass sie sich – in unsere Gesellschaft integrieren und nicht in Parallelgesellschaften zurückziehen, – unsere freiheitliche Rechts- und Verfassungsordnung respektieren und beachten und sich darum bemühen, sie zu verstehen, – bemühen, die Grundlage ihres Lebensstandards selbst zu erwirtschaften, – darum bemühen, einen Beitrag zum Erfolg und Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu leisten, – darum bemühen, unsere Gesellschaft und Kultur als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung mit spezifischen Erfahrungen zu verstehen, die mit der geographischen und geopolitischen Lage verbunden sind.
6. Schlussworte Sie haben mich darum gebeten, darzulegen, was aus innenpolitischer Sicht Umgang mit religiöser Vielfalt in der Politik bedeutet. Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen, dass die zunehmende Dynamik des Prozesses der religiösen Pluralisierung für Politik und Gesellschaft Anlass gibt, sich der eigenen Grundlagen neu zu vergewissern, gesellschaftliche Veränderungsprozesse aufmerksam zu beobachten und sie im Sinne der Interessen und Werte der Gesellschaft klug zu gestalten. Das schließt die Herausforderungen für das Recht ein. Ich freue mich, dass Sie diese Herausforderung annehmen wollen und wünsche Ihrer wissenschaftlichen Tagung „Religiöse Vielfalt – Herausforderung für das Recht“ viel Erfolg.
Religiöses Potential und Bürgerinitiativen von Muslimen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Deutschland Von Mohammed Khallouk*
Die Bedeutung von Flucht und Migration in der islamischen Terminologie Wie im Juden- und Christentum nimmt Flucht, Migration und Exilierung auch im Islam eine bedeutende Stellung im historisch-theologischen Selbstverständnis ein. Ebenso wie in der Thora wird im Koran dem Exodus des Volkes Israel aus Ägypten in sein Ursprungsland Palästina unter Führung Moses‘ ein Beleg für die prophetische Stellung des Musa (Mose) beigemessen. Dieses aus dem jüdischen Narrativ stammende Charakteristikum des von Gott eingesetzten Führers, der sein Volk bzw. seine Gemeinde durch Migration aus menschenunwürdigen Lebensbedingungen herausführt, ist auch im Islam existent. Geht dieser Gedanke in der christlichen Eschatologie mit einer Befreiung von der Knechtschaft der Sünden durch Jesu Kreuzestod weitgehend auf die spirituelle Ebene über, bleibt im Islam das Augenmerk auf dem Verlassen einer irdischen Lokalität vorrangig diesseitsbezogen. Wie Mose mit den Israeliten Ägypten, musste auch der Gesandte und letzte Prophet Mohammed mit seinen Getreuen die Stadt Mekka, in der er in der dort herrschenden Schicht, der Quraich aufgewachsen war, verlassen, um erst nach dieser Hidschra das Gesetz Allahs in Medina zur Gültigkeit bringen zu können. Flucht und selbstgewählte Emigration werden daher im Islam in ähnlichem Maße wie im Judentum als bewusst erstrebenswerte Suche nach Ausweg aus einer nicht selbst herbeigeführten Misere gewürdigt. Wenn Muslime vor Tyrannei, Krieg oder Naturkatastrophen ihre angestammte Heimat verlassen, kann ihnen mit dem Verweis auf die Religion von Glaubensgenossen kaum Schwäche und mangelndes Ausharrungsvermögen vorgehalten werden. Vielmehr wird die Emigration unter bestimmten Bedingungen für den Muslim * Stellv. Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD). Von 2014 bis 2015 Associated Professor für Islamische Theologie am College of Sharia and Islamic Studies der Qatar University in Doha. Von 2008 bis 2012 lehrte er Politische Theorien und Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg sowie von 2010 bis 2012 an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München.
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sogar zur Pflicht, dann nämlich, wenn sich nur auf diese Weise ein Leben nach den religiösen Geboten fortführen lässt. In diesem Fall werden sogar diejenigen, die aus Bequemlichkeit oder Sorge um materiellen Besitz, die Möglichkeit auszuwandern, nicht wahrnehmen, mit der Hölle bestraft. Sie müssen sich von den Engeln hinterher die Frage gefallen lassen: „Ist nicht Allahs Land weit genug, so dass ihr hättet auswandern können?“1 Schließlich hatten Moses wie Mohammed das göttliche Gesetz erst verkündet, als die Peiniger ihrer Gemeinschaft bereits außer Sichtweite waren. Die im Islam gebotene Hidschra bedeutet demnach nicht einfach nur eine angestammte Lokalität zu verlassen, sondern zugleich von Sünden abzulassen und ein gottgefälliges Leben zu führen. Ohne die gleichzeitige Abkehr von Frevel bleibt diese Auswanderung zwecklos. In einem Hadith von Buhari wird der Auswanderer (Mudhadschir) sogar explizit beschrieben als „jemand, der davon ablässt, was Allah verboten hat.“2 Gottgefällige Migration ist demnach im Islam eine Kombination aus dem in der jüdischen Terminologie dominierenden Exodus, bestehend in einem Verlassen unwürdiger Lebensumstände bedingt durch Tyrannei oder Sklaverei und dem im Christentum dominierenden Verlassen der eigenen Sündhaftigkeit. In stärkerem Maße als im Christentum sieht sich der Muslim jedoch für die erstrebte Belohnung im Jenseits in der Pflicht, sich an die göttlich auferlegten Regeln zu halten. Dies nimmt ihm kein „ans Kreuz genagelter Jesus“ ab. Der Prophet Isa wie alle anderen Propheten und nicht zuletzt der Gesandte Mohammed haben ihm lediglich vorgezeichnet, wie eine solche gottgewollte Auswanderung vollzogen werden sollte und dienen ihm dafür als Vorbilder. Mohammed forderte seine Gefährten angesichts einer stetig unerträglicher werdenden Lage sogar unmittelbar auf, Mekka zu verlassen. Diese Aufforderung erging bereits zu einem Zeitpunkt als er selbst noch dort verweilte. Dabei kundschaftete er aus, in welchem Land ihnen Schutz geboten werden könnte und wurde im damals christlich beherrschten Äthiopien (Abessinien) fündig. Der Bericht hierzu aus Sira 7 lässt erkennen, dass die explizite Auswahl eines christlichen Ziellandes mit einer besonderen Wertschätzung für die anderen Schriftgläubigen einherging. So sollen die damaligen Herrscher Mekkas (Koraisch) im Verweis auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschiede zwischen Islam und Christentum vergeblich versucht haben, den abessinischen König zur Abschiebung der in seinem Land eingetroffenen muslimischen Asylanten zu motivieren. Nachdem er sich selbst vom Offenbarungsglauben der Muslime überzeugt hatte, entschied der christliche Herrscher jedoch, das Begehren der Koraisch zurückzuweisen: „Als er ihre [der Muslime] hörte, wurde ihm ihre Unschuld und Redlichkeit klar. Aber
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Koran, Sure 4:97. Buhari, Iman 4.
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auch die Nähe zwischen seinem und ihrem Glauben scheint ihn zutiefst berührt zu haben. Er garantierte ihnen das Asyl seines Landes und unbehelligten Aufenthalt.“3 Das Bewusstsein, sogar Nichtmuslime wie die äthiopischen Christen, zeigten sich in der Historie bereit, muslimischen Flüchtlingen Asyl zu bieten, legt deshalb nicht nur eigene Migrationsbereitschaft an Muslime nahe. Verbunden damit ist außerdem Menschen, die Schutz vor Verfolgung suchen, unabhängig von deren Religion, Gastfreundschaft entgegenzubringen. Sowohl die Flucht vor Verfolgung auch die Beherbergung des Geflohenen und seine Unterstützung im neuen Lebensumfeld lassen daher aus dem Islam Legitimation herausziehen. Gleichzeitig verlangt der Islam in noch stärkerem Maße als das Christentum Engagement zu Veränderung des als unbefriedigend erkannten status quo. Wie der Prophet Mohammed, als sich die Gelegenheit bot, mit seinen Getreuen nach Mekka zurückgekehrt ist, sehen sich auch heutige Muslime aufgefordert, einen Beitrag zur Überwindung jener Bedingungen zu leisten, die ein menschenwürdiges Leben unmöglich erscheinen lassen. Eine Rückkehr in das Ursprungsland ist damit ebensowenig notwendigerweise verbunden, wie die Suche nach einem Ort, in dem Muslime die Staatsgewalt besitzen. Im Falle Mekkas waren diese Bedingungen dadurch gegeben, dass die heidnischen Herrscher dort im Kriege besiegt und anschließend zur Übernahme des Islams bzw. zur Akzeptanz der Scharia, der islamischen Gesellschafts- und Rechtsordnung motiviert wurden. Die Muslime konnten infolgedessen wieder dort leben und ihre Religion in vorgeschriebener Weise praktizieren. Entsprechend der Definition der frühen Islamgelehrten (Ulemas) gehörte die Stadt nun zum „dar al-islam“ (Haus des Islams) und nicht mehr zum „dar al-harb“ (Haus des Krieges), in dem Ungläubige herrschten und die Muslime zu vernichten drohten. Diese Einteilung der Welt in „dar al-islam“ und „dar al-harb“ entstammt einer dualistischen Sichtweise mit zwei feindlichen gegenüberstehenden Blöcken. Heutzutage wird dieser Gedanke sowohl von radikalen Islamisten als auch von islamfeindlichen Westlern als Beleg für eine vermeintliche prinzipielle Unvereinbarkeit von Islam und westlich säkularer Gesellschaftsordnung herangezogen. Den nach Europa immigrierenden Muslimen – und somit auch den Flüchtlingen – wird von letzteren demnach unterstellt, dort langfristig die Mehrheit und danach die Herrschaftsübernahme anzustreben. Ein sich arrangieren mit einem nichtislamisch verfassten Gemeinwesen scheint dieser Interpretation nach ausgeschlossen. So schreibt die islamfeindliche Splitterpartei Christliche Mitte: „Nach islamischer Staatstheorie ist die Welt geteilt in: ,dar al-islam‘ (das islamische Territorium) und in das unbefriedete, dem Islam feindlich gesinnte Ausland, manchmal auch kurz als ,Kriegsgebiet‘ bezeichnete ,dar al-harb‘, in dem nicht entsprechend der islamischen Ordnung regiert wird und das Gesetz des Islam keine Gültigkeit besitzt. Prinzipiell herrscht Kriegs-
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Sira Teil 7, Die Flucht nach Abessinien, http://muhammad.islam.de/7440.php.
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zustand, es sei denn, der ,dar al-islam‘ ist durch einen Vertrag oder ein Übereinkommen an den ,dar al-harb‘ gebunden.“4 Weisen Islamwissenschaftler wie auch progressive Islamgelehrte ohnehin darauf hin, dass die Gegenüberstellung von „dar al-islam“ und „dar al-harb“ ein mittelalterliches Konzept darstelle, das heutzutage angesichts der fehlenden religiösen Rechtfertigungslogik der Gemeinwesen im außerislamischen Westen keine Bedeutung mehr besitze. Bereits in mittelalterlicher Zeit wurden nicht explizit islamisch verfasste Staaten nicht pauschal dem „dar al-harb“ zugeordnet. Anderenfalls wären die ersten Muslime nicht auch ins christlich beherrschte Abessinien geflüchtet, sondern ausschließlich nach Medina der Prophetenherrschaft. Der islamische Rechtsgelehrte des 12. Jahrhunderts Al-Kasani zählte nichtislamische Gemeinwesen mit der Akzeptanz islamischer Praxis sogar explizit dem „dar alislam“ hinzu. Für ihn war nicht die nominelle Konstitution des Staates, sondern die freie Praktizierung der Religion ausschlaggebend. So betonte Al-Kasani: „Wenn ein Muslim in einem nicht-islamischen Land lebt und dort Rechtssicherheit genießt und seinen Glauben frei bekennen kann, dann ist das Land, in dem er lebt, islamisch. Wenn er aber in einem Land lebt, in dem er von Rechtsunsicherheit bedroht ist und seinen Glauben nicht frei bekennen kann, so ist das betreffende Land islamfeindlich.“ Hieraus gelangt er zu dem Schluss: „Wo einem Muslim die Rechtssicherheit nicht versagt wird, handelt es sich nicht um ein Gebiet des ,dar al-harb‘, im Gegenteil, es handelt sich hierbei um ein Land des dar al-islam.“5 Dieser Definition nach wäre die heutige Bundesrepublik Deutschland mit der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit ein Teil des „dar al-islam“. Einer muslimischen Majorität oder gar der Regierungsübernahme durch Muslime bedürfte es demnach nicht. Etliche heutige Staaten mit dem Islam als Staatsreligion gehörten demnach hingegen zum „dar al-harb“, weil ein Muslim zwar seine religiösen Rituale ordnungsgemäß praktizieren kann, die fehlende Rechtsstaatlichkeit jedoch mit fehlender Rechtssicherheit für das Individuum – Muslim wie Nichtmuslim – einhergeht. Auch ohne den Anspruch auf Dominanz der eigenen Religion im Zielland, stellt die Flucht aus Teilen der Islamischen Welt nach Deutschland somit eine vom Islam als vorbildhaft zu bewertende Handlung dar. Das Grundverständnis des Islams für eine Flucht als momentaner, zeitweiliger Ausweg in bestimmten Situationen entbindet den Muslimen nicht von Verantwortung für sein gesellschaftliches Lebensumfeld. Wie dieser Verantwortung im Konkreten nachgekommen werden kann, dafür existiert kein Patentrezept. Es lässt sich allenfalls aus Schlussfolgerungen aus vergleichbaren in den heiligen Schriften beschriebenen Situationen eine akzeptable Verhaltensweise ableiten. 4
Adelgunde Mertensacker, Muslime erobern Deutschland. Eine Dokumentation, Lippstadt 1998, S. 66. 5 Shaik Muhammad Abu Zahra, Begriff des Krieges im Islam, Oberster Rat für Islamische Angelegenheiten (Hrsg.): Ansiklopedisi, Bd. 6, Kairo 1952, S. 374.
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Auf die heutige Flüchtlingssituation in Deutschland bezogen könnte dies beispielsweise bedeuten, sich die für eine erfolgreiche Teilnahme am deutschen Gesellschaftsleben notwendigen Kenntnisse wie Sprache, Umgangsformen und landesüblichen Spielregeln anzueignen. Ebenso könnte damit ein offensives Eintreten für bessere gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen zur Praktizierung der hierzulande minoritären Religion einhergehen. Im Einzelfall könnte es aber auch bedeuten, politische Kräfte in den Herkunftsländern zu unterstützen, die in der Lage sind, die dortigen Verhältnisse wieder lebenswert zu gestalten. Bei geänderten Rahmenbedingungen wäre dies durchaus mit einer Rückkehr dorthin verbunden. So lange die elementaren Menschenrechte einschließlich der freien Religionsausübung in Deutschland garantiert sind, bestünde hierzu allerdings keine Notwendigkeit.
Muslimische Wahrnehmungen der aktuellen Flüchtlingskrise Dieser theologische Impetus zur Hilfe für vor Not und Elend geflohene Menschen bestimmt dementsprechend auch aktuelle Freitagspredigten in den Moscheen in Deutschland. Zumindest die organisierten Muslime unterstützen deshalb fast ausnahmslos die prinzipielle Aufnahmebereitschaft der Regierung Merkel und versuchen ihre Mitglieder zu eigenständigem Engagement für die Flüchtlinge zu animieren. Verstärkt wird das Verpflichtungsgefühl gegenüber den Flüchtlingen durch die Tatsache, dass es sich bei der jüngsten Flüchtlingswelle in der überwältigenden Majorität um Muslime handelt. Die meisten von ihnen kommen zudem aus Ländern wie Syrien oder Irak, aus denen ein nicht unbeachtlicher Teil der bereits in Deutschland lebenden Muslime entstammt. Viele Flüchtlinge, die es nach Deutschland zieht, besitzen dort bereits Familienangehörige. Letzteres ist neben der im innereuropäischen Vergleich den Flüchtlingen gegenüber relativ aufgeschlossenen Regierungspolitik in Berlin einer der wesentlichen Pull-Faktoren für die Immigration nach Deutschland. Dessen ungeachtet stellen die Muslime – mit und ohne die Flüchtlinge – in Deutschland eine Minorität dar und besitzen in der ganz überwiegenden Majorität einen Migrationshintergrund. Wenngleich die erste größere Anzahl an Muslimen nicht als Flüchtlinge, sondern als Arbeitsmigranten in den 1950er und 1960er Jahren nach Deutschland gekommen ist, bestimmt das Bewusstsein, selbst auch in gewisser Weise Immigrant zu sein, durchaus den Diskurs zur Flüchtlingsfrage innerhalb der Muslime in Deutschland. Mancher erhofft sich sicherlich auch insgeheim, durch den Zuzug von Muslimen werde sich das Verhältnis zwischen ihnen und den Nichtmuslimen entscheidend zugunsten ersterer verschieben. Ihren religiösen Ansprüchen an Staat und Gesellschaft ließe sich dementsprechend mehr Nachdruck verleihen. Der tendenziell dem Islam gegenüber skeptische Mediendiskurs fördert allerdings auch Ängste bei den Muslimen mit der Flüchtlingsdebatte zutage. Diese Befürchtungen sind mannigfaltiger Natur. Seit den Terroranschlägen von Paris, Brüssel und zu-
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letzt auch Berlin steht in der deutschen Öffentlichkeit vielfach die Assoziation von Flüchtling mit Muslime und dies wiederum mit Gewalt und Terror. Die hier seit langem ansässigen Muslime fühlen sich daher teilweise ohnehin schon unter Generalverdacht gestellt. Damit einher geht nun aber die Angst, tatsächliche Extremisten unter den Flüchtlingen würden zu ihrem Nachteil das Muslimbild der Mehrheitsgesellschaft weiter verdunkeln. Einige sich selbst als „liberal“ oder „säkular“ definierende Muslime hegen zudem die Befürchtung, durch die Flüchtlinge, werde eine „konservativere“ oder gar „fundamentalistische“ Islaminterpretation in Deutschland mehrheitsfähig. Als Beispiel für diese Ressentiments führt Yasemin Ergin den türkischstämmigen Krefelder Arzt Gürol Salk an. Salk war vor vielen Jahren eigenen Angaben zufolge selbst nicht in erster Linie aus ökonomischen Gründen aus der Türkei nach Deutschland emigriert, sondern „weil er die fortschreitende Islamisierung des Landes unter der AKP Regierung nicht mehr ertragen habe. Nun befürchte er, dass sich das mit der Islamisierung in Deutschland wiederholen könnte. Gerade weil er die Hälfte seines Lebens in der Türkei verbracht habe, kenne er die Unterschiede zwischen den Kulturen, sagt Salk. So gebe es selbst innerhalb der Türkei kulturelle Spannungen: So manch frauenfeindliche Traditionen etwa, die in den ländlichen Gebieten der Türkei gepflegt werden, seien in einer säkularen Großstadt wie Izmir nur schwer zu akzeptieren – ,wie fremd muss das dann erst für Deutsche sein, wenn jetzt Kulturen aus Syrien oder Nordafrika hier reinkommen?‘“6 Zwar ignoriert diese Befürchtung die Tatsache, dass ein großer Teil jener Flüchtlinge sich nicht zuletzt wegen eines intolerant verstandenen politisch instrumentalisierten Islam zur Emigration genötigt sah. Allgemein verbreitete Vorurteile zu den Flüchtlingen haben jedoch auch in der muslimischen Minorität in Deutschland ihre Spuren hinterlassen. Andere in der Mehrheitsgesellschaft bestehenden Ressentiments, wie jene vom „arbeitsunwilligen Analphabeten“, den es der Sozialleistungen halber nach Deutschland ziehe, existieren bei seit Jahren hier lebenden Muslimen ebenfalls. Davon abgesehen bedeutet die Erfahrung eigener Migrationsgeschichte nicht grundsätzlich eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Immigranten. Vielmehr kann damit die Befürchtung einhergehen, den Status, den man sich selbst in der Aufnahmegesellschaft mühsam erarbeitet hat, durch die Konkurrenz neuer Einwanderer wieder zu verlieren. So berichtete Freia Peters aus dem Jahr 2015 von einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Welt am Sonntag, wonach 40 % der Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte, der Auffassung waren, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen – kaum weniger als Deutsche ohne Migrationshintergrund (45 %), und sogar fast in gleichem Umfang (24 %) wie sogenannte „Bio-Deutsche“ (25 %) die Ansicht vertraten, es sollten überhaupt 6 Yasemin Ergin, Zuwanderung. Warum viele Migranten in Deutschland gegen Flüchtlinge sind, in: FAZ vom 10. 02. 2016: http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/warumdeutsche-muslime-abneigung-gegen-fluechtlinge-haben-14059221-p3.html.
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keine Flüchtlinge mehr hineingelassen werden. Auf diese Umfrageergebnisse bezogen zitiert Peters den Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung Wolfgang Kaschuba mit den Worten: „Alle Einwanderer wissen natürlich, dass die Ressourcen knapp sind. Sie sind glücklich, wenn sie teilhaben können, und neigen wie die biodeutschen Einheimischen dazu zu fragen: Wird das nicht zu viel? Müssen wir teilen?“7 Im divergenten Bildungsniveau zwischen der Majorität in Deutschland bereits seit Jahren ansässiger Muslime und wesentlichen Teilen dieser Neuankömmlinge besteht ebenfalls Konfliktpotential. Teilweise kann sich das als Hindernis für die Bildung einer großen muslimischen Gemeinschaft, in der die Flüchtlinge integriert sind, erweisen. So gehört die Mehrheit der Muslime in Deutschland der unteren Mittelschicht an. Während die sogenannte „Gastarbeitergeneration“ weitgehend das Rentenalter erreicht hat, wird das erwerbsfähige Alter von der zweiten und dritten Einwanderergeneration dominiert, die zumeist einen deutschen Schul- und Berufsabschluss erworben hat. Unter den Flüchtlingen divergieren die Bildungshintergründe hingegen stark. Während ein Teil aus ihren Herkunftsländern überhaupt keinen schulischen Abschluss vorzuweisen hat, kommt ein anderer Teil als Akademiker nach Deutschland bzw. zielt von Anfang an darauf hinaus, in Deutschland seine bereits begonnene akademische Laufbahn zu vollenden. Hier bestehen durchaus Voraussetzungen für eine Neid- und Missgunstdebatte unter in Deutschland lebenden Muslimen. Nichtsdestotrotz ist insbesondere das ehrenamtliche Engagement für die Flüchtlinge unter Muslimen in Deutschland beachtlich. Sind schon überdurchschnittlich viele Muslime in der einen oder anderen Weise individuell in der Flüchtlingsunterstützung aktiv, ist auch die Anzahl neuer muslimisch intendierter Gemeinschaftsinitiativen mit der Flüchtlingskrise signifikant gestiegen. In dieser Hinsicht sind die Muslime in Deutschland in ähnlicher Weise gespalten wie die Mehrheitsgesellschaft, wo die Flüchtlingskrise bei der einen Hälfte ebenfalls das ehrenamtliche Engagement belebt, bei der anderen Hälfte jedoch Überfremdungsgefühle und Abwehrreflexe befördert hat. Die Sichtweise deutscher Muslime auf die aktuelle Flüchtlingskrise speist sich deshalb sowohl aus dem religiösen Verbundenheitsgefühl heraus als auch aus der Frage, wie man sich selber als Teil dieser Gesellschaft wahrnimmt. Die Ansichten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen sind zwar durchaus verschieden, die Unterschiede jedoch kaum größer als innerhalb beider Gruppen nach anderen Gesichtspunkten wie Einkommen und Bildungsstand. Die Religion, insbesondere das im Islam wie Christentum angelegte Egalitätsprinzip können sich allerdings als Stimulus erweisen, mit äußeren Kriterien wie Beruf und Bildungsstand verbundene Überheblichkeits- und Minderwertigkeitsgefühle in den Hintergrund zu drängen. Das Bewusstsein für die Verbundenheit in 7 Freia Peters, Migranten wollen weniger Flüchtlinge in Deutschland, in: Die Welt vom 29. 11. 2015, https://www.welt.de/politik/deutschland/article149391575/Migranten-wollen-we niger-Fluechtlinge-in-Deutschland.html.
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der weltweiten islamischen Gemeinschaft, der Umma wirkt hier integrationsförderlich. Der große islamische Denker des 14. Jahrhunderts Ibn Khaldun sah bereits den religiösen Stimulus für eine derartige Gruppensolidarität. Demzufolge basiere religiöse Gemeinschaft nicht zuletzt auf solidarischem Verhalten füreinander. Farid Hafez stellt Ibn Khalduns religiös legitimiertes Verständnis von Gruppensolidarität als reziproken Prozess heraus, wenn er hervorhebt: „Ibn Khaldun betont gleichzeitig die Kraft, welche er der Religion beimisst. Er bemerkt, dass die religiöse Färbung die Rivalität und den Neid, die bei den durch Gruppensolidarität verbundenen Menschen vorhanden sind, zum Verschwinden bringt […] Die Religion bedarf aber umgekehrt der Gruppensolidarität, da auch die Religion nur in vergemeinschaftlichter Form gedacht existieren könne, womit er Mawardis Theorie, wonach die Religion per se als stärkste Bindungskraft für den Gruppenzusammenhalt wird, widerspricht.“8 Ausgehend von diesem Religionsverständnis ist es nicht verwunderlich, dass die religiös engagierten Muslime sich auch gegenüber den Flüchtlingen engagierter zeigen als ihre eher säkular orientierten Glaubensgenossen. Ebenso wenig erstaunt die Tatsache, dass die überwiegende Majorität von Muslimen ausgehender Initiativen zur Flüchtlingsbetreuung religiös intendiert oder zumindest religiös gerechtfertigt sind. Dass Deutschland derzeit für Flüchtlinge vor allem aus muslimisch dominierten Herkunftsgesellschaften attraktiv zu sein scheint, dürfte somit nicht nur in einer aufnahmefreundlichen Politik begründet sein. Ebenso erlangt die Existenz einer muslimischen Infrastruktur, die ihren Teil zur Bewältigung der Flüchtlingsintegration wahrzunehmen bereit ist, auch jenseits der deutschen Grenzen mehr und mehr Bekanntheitsgrad. Zwar steht die körperschaftsrechtliche Anerkennung des Islams in Deutschland noch weitgehend aus. Muslimische Verbände und Gemeinden sind deshalb bei der Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben gegenüber Kirchen aber auch gegenüber islamischen Institutionen in einigen westeuropäischen Nachbarstaaten benachteiligt. Sie setzen die vorhandenen Ressourcen durchaus im Sinne der Flüchtlinge ein. Das öffentliche Bekanntwerden des Einsatzes in der Flüchtlingskrise sieht man vielmehr als Mittel an, staatliche Institutionen von der Förderwürdigkeit der eigenen Arbeit zu überzeugen. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt ist den muslimischen Initiativen in der Flüchtlingshilfe sehr daran gelegen, zu demonstrieren, dass der Einsatz nicht nur anderen Muslimen, sondern ebenso Flüchtlingen anderer Konfessionen zugutekommt.
8 Farid Hafez, Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische Ideengeschichte, 2., überarb. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 84.
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Quantitativer und qualitativer Anteil der Islamverbände an der Flüchtlingshilfe Die Flüchtlingswelle zeigt sich in besonderer Weise als Antrieb für Moscheevereine und Islamverbände, ehrenamtliches gesellschaftliches Engagement zu demonstrieren. Hierbei wirkt sich offenbar nicht nur die Tatsache als aktivitätsfördernd aus, dass es sich bei der Majorität der in Deutschland eintreffenden Flüchtlinge um Muslime handelt, sondern darüber hinaus um Menschen, die aus einem Sprach- und Kulturraum stammen, aus dem ein bedeutender Anteil der bereits langjährig in Deutschland lebenden Muslime ebenfalls familiäre Wurzeln besitzt. Die arabischstämmigen Immigranten haben die Krisen und Kriege im Vorderen Orient zudem in überdurchschnittlichem Maße aus den arabischen Medien im Bewusstsein. Dementsprechend sind sie auch für die Notlage der Flüchtlinge stärker sensibilisiert als die Mehrheitsbevölkerung. Die türkischstämmigen Immigranten haben über ihre Angehörigen aus der Türkei, einem Nachbarstaat des syrisch-irakischen Kriegsgebiets, von der hohen Opferbereitschaft für dort eingetroffene Flüchtlinge erfahren. Vor diesem Hintergrund fühlen sie sich motiviert, in Deutschland eine ähnliche Hilfsbereitschaft für die hier eintreffenden Flüchtlinge zu demonstrieren. Vor allem waren es jedoch die Islamverbände und ihre Moscheegemeinden, die immer wieder auf die Notwendigkeit von Hilfsprogrammen für die Flüchtlinge hingewiesen haben. Hierbei wurde stets auch auf die religiöse Verpflichtung zur Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Not leidenden Mitmenschen verwiesen und darauf aufbauend eigenständige Initiativen begründet. Die Flüchtlingsarbeit der verbandsmäßig organisierten Muslime in Deutschland läuft auf den unterschiedlichsten Ebenen ab. Es begann bereits damit, dass Moscheegemeinden aus dem gesamten Bundesgebiet Flüchtlingen und Asylbewerbern nach deren Ankunft in Deutschland Räume zur Übernachtung geboten haben und hörte mit Wegweisern zur Orientierung in diesem Land noch längst nicht auf. Es existieren Patenschaftsprogramme, in denen die Gemeinden als Integrationslotsen dienen und die verschiedensten Wohlfahrtsprogramme organisieren, die speziell auf Flüchtlinge ausgerichtet sind. Besonders die islamischen Feier- und Festtage wurden genutzt, um die Solidarität mit den aus Notlagen heraus nach Deutschland geflüchteten Menschen zu demonstrieren. In den Predigten während des Ramadans und zum Opferfest dominierte in den letzten beiden Jahren, vielfach mit Verweis auf die Hedschra, das Flüchtlingsthema. So organisierten beispielsweise zum Opferfest 2015 150 Mitgliedsgemeinden des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD)9, eines der vier bedeutendsten muslimischen Dachverbände in Deutschland, dem bundesweit über 300 Moscheegemeinden angeschlossen sind, Aktionen zur Beschenkung von Flüchtlingskindern. 9
ZMD, Flüchtlinge – wie kannst du helfen?, http://islam.de/fluechtlinge.
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Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan 2015 und 2016 führte der ZMD die Aktion „Deutschland sorgt für Flüchtlinge“ durch. Zahlreiche Mitgliedsgemeinden aus dem gesamten Bundesgebiet organisierten dabei öffentliche Fastenbrechen (Iftar), zu denen neben Vertretern der lokalen Politik und anderer Religionen vor Ort untergebrachte Flüchtlinge eingeladen waren. Die Flüchtlinge fanden nicht nur einen reichlich gedeckten Tisch vor, sondern erlebten islamisches Gemeinschaftsbewusstsein in der Praxis in ihrem Aufnahmeland. Die Tatsache, dass allein für den Ramadan 2015 auf der Internetseite des ZMD 20 Mitgliedsgemeinden mit eigens organisierten Iftaraktionen für Flüchtlinge aufgelistet sind, lässt erahnen, welche Initiativkraft die jüngste Flüchtlingskrise bei den in diesem Land lebenden, verbandsmäßig organisierten Muslimen ausgelöst hat.10 Insgesamt sind im Jahr 2015 in etwa 50 Städten Iftar-Veranstaltungen im Rahmen dieser ZMD-Aktion organisiert worden, an denen allein an einem Abend bis zu 1000 Flüchtlinge teilnahmen.11 Außerdem werden in zahlreichen muslimischen Gemeinden Spendenaktionen für die Flüchtlingshilfe durchgeführt und die dabei eingegangenen Beträge für den Aufbau spezieller, den Flüchtlingen dienender Wohlfahrtsprojekte eingesetzt. Hierzu zählt beispielsweise das vom ZMD geplante Trauma-Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Die Islamverbände stellen einen bedeutsamen Teil der allgemeinen Infrastruktur zur Flüchtlingsintegration in Deutschland dar. Staatliche Verantwortungsträger wandten sich bereits an muslimische Verbände, um sich nach weiteren Potentialen zur Kooperation in Flüchtlingsarbeit zu erkundigen. Die Bedeutung, die man der Flüchtlingsarbeit sowohl aus religiösem Verantwortungsgefühl heraus als auch im Bewusstsein des eigenen öffentlichen Erscheinungsbildes beimisst, demonstrierte der ZMD durch die Abhaltung der ersten eigens durchgeführten Flüchtlingskonferenz Anfang 2016 in Darmstadt. Die Tatsache, dass neben den Verbandsfunktionären, einem im Rhein-Main-Gebiet tätigen Imam auch 70 Moscheevorstände, sowie Flüchtlingshelfer aus Gemeinden des gesamten Bundesgebiets sich zu dieser Konferenz einfanden, belegt, auf welche Resonanz die Flüchtlingsarbeit in den Gemeinden getroffen ist.12 Mit der Teilnahme und dem Grußwort von lokalen politischen Verantwortungsträgern aus den Bereichen Ehrenamt und Flüchtlinge wurde offensichtlich, dass auch die Politik sich der wertvollen Aufgaben organisierter Muslime bei der Bewältigung dieser gesellschaftlichen Herausforderung mehr und mehr bewusst wird. Die Islamverbände wissen die zunehmende politische Unterstützung ihrer Arbeit und ihre offizielle Einstufung als „Integrationslotsen“ zu würdigen. Gleichzeitig weisen sie die staatlichen Verantwortungsträger darauf hin, wo diese der gewünschten Inte10
ZMD, ZMD startet mit Radaman-Aktion „Deutschland sorgt für Flüchtlinge“, 26. 05. 2015, http://zentralrat.de/26525.php. 11 ZMD, Flüchtlinge – wie kannst du helfen? 12 ZMD, Flüchtlingskonferenz des ZMD in Darmstadt war ein voller Erfolg, 03. 02. 2016, http://islam.de/27164_print.php.
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gration der Flüchtlinge mit politischen Entscheidungen Hindernisse in den Weg legen. So kritisierte der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek auf der Darmstädter Flüchtlingskonferenz die seinerzeit von der Bundesregierung geplante Erschwernis des Familiennachwuchses und nicht ausreichende staatliche Sicherheitsmaßnahmen insbesondere für Frauen und Kinder. Der muslimische Einsatz im Sinne der Flüchtlinge in Deutschland beschränkt sich somit nicht auf eigene Initiativen, sondern bezieht eine aktive Einmischung in die Flüchtlingspolitik, bei der Humanitätsgesichtspunkte im Vordergrund stehen sollten, mit ein.13 Ebenso wie die christlichen Kirchen verstehen sich die Islamverbände als Fürsprecher gesellschaftlich benachteiligter Menschen, als welche die aus Notlagen heraus nach Deutschland Geflüchteten wahrgenommen werden. Zusammen mit Vertretern anderer Religionen gelten die Islamverbände somit als Garanten dafür, dass die Flüchtlingsdebatte in Deutschland nicht von Populismus und Sozialneid bestimmt wird. Wenngleich hierzu auch Aufklärungsarbeit in den eigenen Reihen gehört, haben es die muslimischen Verbandsvertreter in der Regel einfacher, bei ihren Mitgliedern auf Resonanz treffen als die christlichen Kirchen. Die Majorität der Muslime in Deutschland besitzt einen Migrationshintergrund in Regionen, aus denen auch in den letzten Monaten überdurchschnittlich viele Flüchtlinge und Immigranten nach Deutschland gekommen sind. Zudem finden die Flüchtlinge in gesellschaftlich aktiven Muslimen nicht nur Glaubensgeschwister vor, sondern auch Verantwortungsträger, vertraut mit ihren sprachlichen und kulturellen Hintergründen, welche die Erwartungen und Erfordernisse der deutschen Gesellschaft kennen und einschätzen können. Sie sind in der Lage, den Flüchtlingen ein realistisches Bild von Deutschland zu vermitteln. Bremsen sie einerseits eine möglicherweise vorhandene Anfangseuphorie, zeigen sie andererseits Wege auf, wie sich mutmaßlich auftretende Probleme und Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft bewältigen und der Entfaltungsspielraum unseres demokratischen Gesellschaftssystems maximal ausschöpfen lässt. Einige Verantwortliche für Flüchtlingsprogramme in den Islamverbänden können auf eine eigene Fluchtgeschichte zurückweisen, derer und ihrer minoritären Religion zum Trotz sie die angestrebten Ziele hierzulande erreicht haben. Damit schaffen sie nicht nur Vertrauen bei den Flüchtlingen, die sich „auf Augenhöhe“ angesprochen fühlen, sondern auch Ermutigung, sich von auftretenden Schwierigkeiten nicht von Aktivität und Eigenengagement abbringen zu lassen. Das Erfahren von Muslimen, die sich als Multiplikatoren in der Flüchtlingsarbeit gesamtgesellschaftlich engagieren und ehrenamtlich aktiv zeigen, motiviert darüber hinaus die Flüchtlinge selbst – zumal als Muslime – zu gemeinschaftsdienlicher Aktivität. Der Einsatz der Islamverbände in der Flüchtlingsarbeit stellt somit auch einen Beitrag dar, die Neuimmigranten vor dem Rückzug in Parallelgesellschaften zu bewahren. In gewisser Weise dient diese muslimisch intendierte Flüchtlingsarbeit dem13
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nach als Präventionsarbeit vor dem Abrutschen in kriminelle oder ideologisch radikalisierte Milieus. Den traumatisierten, entwurzelten Menschen wird eine Gemeinschaft geboten, die bei ihnen auch tausende Kilometer von ihrem Herkunftsort entfernt so etwas wie „Heimatgefühl“ entstehen lässt. Sie entwickeln das Vertrauen, trotz eines fremden Umfeldes mit neuer Sprache und unbekannten Sitten auf Institutionen und Fürsprecher zurückgreifen zu können, die sich als Ratgeber und Orientierungsstützen erweisen und die eigene Integration aktiv unterstützen. Der ZMD hat beispielsweise einen eigenen Flüchtlingsguide herausgebracht. Auf der Darmstädter Flüchtlingskonferenz wurde er vorgestellt und soll demnächst in großer Auflage an Flüchtlinge und Integrationslotsen ausgegeben werden.14 Darin werden den muslimischen Flüchtlingen nicht nur die Institutionen in Deutschland vom Kindergarten bis zur Gesundheitsvorsorge erläutert. Darüber hinaus werden Perspektiven aufgezeigt, am deutschen Gesellschaftsleben so weit wie möglich teilzuhaben, ohne sich von ihren islamischen Normvorstellungen distanzieren zu müssen. In dieser Hinsicht besitzen die Islamverbände ein Potential, das staatliche oder weltanschaulich neutrale Institutionen aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht bieten können. Indem beachtenswerte gesellschaftliche Spielregeln in Deutschland sowohl mit dem demokratischen Grundgerüst dieses Staates als auch mit islamischer Ethik gerechtfertigt werden, tragen die Islamverbände zugleich dazu bei, die freiheitlich demokratische Grundordnung von den Flüchtlingen aus eigenem Interesse als verteidigungswürdig anzuerkennen. Den Flüchtlingen wird dadurch elementar vor Augen geführt, dass sie nicht zuletzt deshalb in Deutschland Schutz vor Verfolgung und die Respektierung ihrer gesellschaftlichen wie religiösen Ansprüche genießen, weil das deutsche Grundgesetz auf Prinzipien fußt, die auch in der islamischen Ethik ihren Niederschlag finden. Die Suche nach einem explizit islamischen Gemeinwesen wird damit irrelevant. Darüber hinaus wird ihnen anhand von Beispielen in diesem Flüchtlingsguide demonstriert, dass sich gegen existierende Diskriminierungserfahrungen, nicht nur mit dem Verweis auf den Islam, sondern ebenso auf originär „deutsche Grundprinzipien“ zur Wehr setzen lässt. In der Erweckung eines „deutschen Verfassungspatriotismus“ mit gleichzeitiger muslimischer und deutscher Identität nehmen die Islamverbände eine gesellschaftspolitisch bedeutsame Aufgabe wahr. Mit dem Verweis auf den islamischen Grundsatz, unabhängig von äußeren Kriterien den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, legen die muslimischen Integrationslotsen ihren Klienten die Basis für eine Identifikation mit Deutschland als muslimische Mitbürger. Die Islamverbände sind zunehmend darum bemüht, der muslimischen Flüchtlingshilfe in Deutschland eine übersichtliche Struktur zu geben und sie unter gemeinsamem Dach miteinander zu vereinen. Im März 2016 gründeten mit dem Islamrat für 14
Ebd.
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die Bundesrepublik Deutschland, der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden und dem Zentralrat der Muslime (ZMD) drei Islamverbände den Verband muslimischer Flüchtlingshilfe e. V. (VmF), um die muslimische Flüchtlingshilfe weiter auszubauen, gemeinsam zu koordinieren und zu institutionalisieren. Der VmF hat seinen Sitz in Köln und wird von der stellvertretenden ZMD-Vorsitzenden Nurhan Soykan geleitet. Sie definiert den Zweck dieses Verbandes darin, dazu beizutragen, „dass unsere aktiven Gemeinden und Landesverbände einen besseren Zugang in die Strukturen der etablierten Flüchtlingshilfe und zu den Kommunen erhalten. Unser Ziel ist es, die Arbeit unserer Gemeinden effektiver und professioneller zu gestalten.“15 Da der Weltflüchtlingstag 2016 in den Ramadan fiel, konnte der VmF dieses Datum öffentlichkeitswirksam für eine bundesweite Aktion „Zuhause bei Freunden“ nutzen, an der sich mit Iftaraktionen u. ä. Gemeinden aus allen drei Islamverbänden beteiligten.16 Mögen die Kapazitäten der Islamverbände in der Flüchtlingshilfe angesichts des Minoritätenstatus der Muslime in Deutschland und der weitgehenden Beschränkung auf ehrenamtliches Engagement quantitativ bereits nahezu ausgeschöpft sein, qualitativ lässt sich ihre Arbeit nicht hoch genug einschätzen. Die Flüchtlingsarbeit dient dabei gar nicht einmal ausschließlich den Flüchtlingen, sondern in identitätsstiftender Weise auch den in der Flüchtlingshilfe engagierten Muslimen. Sie stärkt ebenso ihr Bewusstsein, sich nicht nur als eine Minorität zu begreifen, die sich gegen Ausschließung und Diskriminierung erwehren muss, sondern zugleich als eine Elite, die gefragte Fähigkeiten besitzt und diese im Sinne der Gesamtgesellschaft einsetzt. Das öffentliche Wahrnehmen einer gesellschaftlich relevanten Aufgabe erweckt zudem die Aufmerksamkeit bei politischen Verantwortungsträgern. Staatliche Stellen erkennen die Projekte, ausgehend von Islamverbänden in der Flüchtlingsarbeit als unmittelbare Unterstützung der kaum allein zu bewältigenden Aufgabe der Flüchtlingsintegration an. Sie suchen die Verbände durch Kooperationsverträge zu unterstützen. Das vom ZMD organisierte Projekt „Wir sind Paten“, in dem Flüchtlinge mit Mentoren aus der deutschen Zivilgesellschaft zusammengebracht werden, wird vom Bundesfamilienministerium als Unterstützer seines eigenen, ins Leben gerufenen Programms „Menschen stärken Menschen“ geschätzt. Das Programm wird organisiert von der Soziale Dienste und Jugendhilfe gGmbH, einem von ZMD Funktionären gegründeten Unternehmen, das von der Verbandszentrale in Köln aus zahlreiche lokale Projekte im gesamten Bundesgebiet koordiniert und miteinander vernetzt. Hierbei steht die Förderung von ehrenamtlichen Aktivitäten mit und für
15
ZMD, Flüchtlingskonferenz und Gründung „Verband muslimischer Flüchtlingshilfe“, 19. 05. 2016, http://islam.de/27481. 16 ZMD, Zwischen Hüpfburgen, Indoorspielplätzen und dem Fastenbrechen, 23. 06. 2016, http://islam.de/27661.
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Geflüchtete im Vordergrund, aber auch, je nach lokalem Bedarf, Beratung bei Berufswahl, Wohnungssuche oder Asyl- und Aufenthaltsrecht.17 Die Bildungsprogramme wenden sich aber nicht nur an die Flüchtlinge selbst, sondern auch diejenigen, die als Pate oder Mentor sich für andere Flüchtlinge engagieren wollen sowie als Lehrer oder Arbeitgeber in ihrem Verantwortungsbereich mit Flüchtlingen konfrontiert sind. Ihnen werden in Seminaren Konzepte und Kenntnisse vermittelt, die sie in ihrer eigenen beruflichen wie ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit einsetzen können.18 Die Arbeit der verschiedenen lokalen Initiativen von „Wir sind Paten“ ist stets auf die Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die als Multiplikatoren dienen sollen, ausgerichtet. Sie zielt darauf hinaus, öffentliche Institutionen wie Schulen, Berufsschulen, Jugendhilfezentren, aber auch Moscheegemeinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind, besser auf die Situation der Neuankömmlinge vorzubereiten. Diese politische Resonanz der verbandseigenen Flüchtlingsarbeit lässt sich einsetzen, um Forderungen an Staat und Institutionen der Mehrheitsgesellschaft zu stellen. Durch ihre öffentlichkeitswirksame Aktivität in der Flüchtlingsunterstützung erreichten einige muslimische Gemeinden und Wohlfahrtsvereine an staatliche Fördergelder für andere, weitgehend auf ihre eigene Community bezogenen Projekte zu gelangen. Der Zugang zu öffentlichen Fördermitteln lässt sich wiederum für eine Professionalisierung der muslimischen Flüchtlingshilfe verwenden. Zwar besitzen die Gemeinden und ihre Mitglieder das ethische Bewusstsein und die Empathie zum Engagement aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus. Mitarbeiter mit den entsprechenden Sprachkenntnissen und kulturell-religiöser Sensibilität sind auch in überdurchschnittlichem Maße vorhanden. Um traumatisierte, vielfach familiär entwurzelte Menschen in für diese fremder Umgebung betreuen und begleiten zu können, bedarf es jedoch auch besonderer pädagogischer und psychologischer Qualifikationen, die vielfach erst durch speziell durchgeführte Schulungen erworben werden müssen. Die Aufnahme in staatliche Förderprogramme ermöglicht den Gemeinden zunehmend auch das hierfür notwendige Fachpersonal einzustellen beziehungsweise eigens auszubilden. Je mehr das Potential der Islamverbände bei der Bewältigung der Flüchtlingsintegration in die deutsche Gesellschaft erkannt wird, desto qualitativ höherwertige Aufgaben sind die Verbände hierbei zu übernehmen bereit. Da unter langjährig in Deutschland ansässigen Muslimen ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft Voreingenommenheiten gegenüber den Flüchtlingen existieren, sehen sich die Verantwortungsträger auf Verbandsebene aber nicht nur verpflichtet, Staat und Öffentlichkeit 17
Soziale Dienste Jugendhilfe gGmbH, Beratung, in: Wir bringen zusammen, was zusammengehört – Menschen!, http://www.wirsindpaten.com/de/betreuung-beratung/. 18 Soziale Dienste Jugendhilfe gGmbH, Bildung, in: Wir bringen zusammen, was zusammengehört – Menschen!, http://www.wirsindpaten.com/de/bildung/.
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von der gesellschaftlichen Notwendigkeit ihrer Initiativen zu überzeugen, sondern in gleichem Maße ihre Mitglieder. Durch möglichst viele Gelegenheiten der Zusammenkunft und der unmittelbaren Konfrontation der Gemeindeglieder mit Flüchtlingen tragen sie zum Abbau dieser Ressentiments bei. Zugleich motivieren sie ursprünglich der Flüchtlingsarbeit gegenüber kritisch eingestellte Mitglieder, sich zu aktiv daran zu beteiligen. Die Islamverbände stehen in dieser Hinsicht vor einer ähnlichen Herausforderung wie christliche Kirchen und jüdische Gemeinden. Aus ihrer religiösen Ethik heraus fühlen sie sich zwar den Flüchtlingen und ihren Ansprüchen verpflichtet, können sich gegen die medial erzeugten Ressentiments gegenüber diesen Flüchtlingen jedoch nur durch persönliche Begegnungen und Erfahrungen entgegenstellen. Bei den Muslimen kommt vielfach noch die Furcht hinzu, durch die Flüchtlingsarbeit von der Mehrheitsgesellschaft mit den in die Flüchtlinge hineinprojizierten Gefahren assoziiert zu werden. Die Angst vor einem Ansehensverlust in der Mehrheitsgesellschaft und damit einhergehenden Nachteilen für die eigene Community kann eine Verbandsleitung nur begrenzt ausräumen. Da die Muslime in Deutschland sich insgesamt vielfach als stigmatisierte Minorität empfinden, ist man hierfür ebenso wie bei der fachlichen Professionalisierung der Flüchtlingsarbeit auf Unterstützung der Politik angewiesen. Die Würdigung der eigenen Leistungen in der Flüchtlingsarbeit hat zugleich allerdings auch das Selbstbewusstsein gestärkt, mit dem man Staat, Medien und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren gegenübertritt. Dadurch nimmt die Hemmschwelle immer mehr ab, sich mit seinen Initiativen und Projektvorschlägen an die zuständigen Förderinstitutionen und mutmaßlichen Kooperationspartner zu wenden. Je mehr der quantitative wie qualitative Anteil des organisierten Islams an der Flüchtlingsarbeit in Deutschland öffentlich bekannt wird, desto schwerer haben es den Islamverbänden gegenüber skeptisch eingestellte Propagandisten, die Verbandsarbeit in ein zweifelhaftes Licht zu rücken.
Einfluss der Flüchtlingskrise auf das Islambild der Aufnahmegesellschaft Angesichts der Tatsache, dass mit der aktuellen Flüchtlingswelle im Wesentlichen Muslime an den Pforten Europas eintreffen, betrifft die Flüchtlingsthematik zumindest indirekt auch den Islam – versus Muslimdiskurs in Deutschland. Andere europäische Staaten, insbesondere in Mittelosteuropa, die sich national wie international weitgehend gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stellen, suchen dies schließlich neben ihrer ökonomischen Situation in erster Linie mit der mutmaßlichen islamischen Religion der Flüchtlinge zu rechtfertigen. Von daher stellt sich die Frage, ob die Deutschen insgesamt dem Islam und Muslimen gegenüber aufgeschlossener sind als die Gesellschaften ihrer östlichen Nach-
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barländer. Inwieweit hat die Tatsache, dass bereits über eine Million Flüchtlinge aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in Deutschland leben, das Islambild der Deutschen nachhaltig verändert? Inwieweit haben die in Deutschland aufgewachsenen oder bereits Jahrzehnte in Deutschland lebenden Muslime Einfluss auf die Aufnahmebereitschaft des Landes gegenüber den Flüchtlingen? Die auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu beobachtenden regional divergierenden Einstellungen sowohl gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen als auch bezogen auf Muslime und den Islam als Religion scheinen die These zu stützen, dass eine verstärkte und langjährige Konfrontation mit Muslimen wie auch Menschen mit Migrationshintergrund zum Abbau von Ressentiments und somit zu größerer Aufgeschlossenheit ihnen gegenüber beiträgt. So bestehen in Deutschland insgesamt gegenüber Muslimen in der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung Skrupel, die in den letzten Jahren teilweise sogar noch zugenommen haben. In NordrheinWestfalen, wo ein Drittel aller Muslime Deutschlands lebt und laut einer Statistik aus dem Jahre 2011 8 % der dortigen Gesamtbevölkerung stellen19, fühlen sich einer 2015 veröffentlichten Erhebung der Bertelsmann-Stiftung zufolge 46 % der Bürger durch den Islam bedroht20. In Thüringen und Sachsen, wo die Muslime einen verschwindend geringen Anteil darstellen und in besagter Religionsstatistik von 2011 nicht einmal mit einem eigenen Prozentanteil aufgeführt sind21, geben über 70 % an, sich vom Islam bedroht zu fühlen22. Dieses verbreitete Negativimage des Islams und der Muslime in Deutschland wie in Resteuropa stützt sich somit weniger auf eigene negative Erfahrungen mit Muslimen als mehr auf konstruierte Bilder aus der Wahrnehmung über Dritte und Medien. Yasemin El Menouar, eine der Autorinnen der Bertelsmann-Studie, kommentiert dementsprechend: „Es gibt vieles in Deutschland, was Muslime und Nicht-Muslime verbindet. Daraus kann ein Wir-Gefühl wachsen. Aber dafür bedarf es einer stärkeren Anerkennung und Wertschätzung der Muslime und ihrer Religion.“23 Die seit Sommer 2015 erfolgten massenhaft aufgenommenen Flüchtlinge in Deutschland, von denen die überwiegende Majorität muslimischen Glaubens ist, sollen nach politischen Vorgaben entsprechend des Königssteiner Verteilungsschlüssels auf das gesamte Bundesgebiet verteilt werden. Hiermit besteht die Chance, dass auch in denjenigen Regionen, in denen die Mehrheitsbevölkerung bislang so gut wie nie mit Muslimen konfrontiert war, durch unmittelbare Begegnung bestehende Skrupel 19
Statista 2017, Religionszugehörigkeit der Deutschen nach Bundesländern im Jahre 2011, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/201622/umfrage/religionszugehoerigkeit-der-deut schen-nach-bundeslaendern/. 20 Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor – Muslime mit Staat und Gesellschaft eng verbunden, 08. 01. 2015, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/ 2015/januar/religionsmonitor/. 21 Statista 2017, Religionszugehörigkeit der Deutschen nach Bundesländern im Jahre 2011. 22 Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor. Muslime mit Staat und Gesellschaft eng verbunden, 08. 01. 2015. 23 Ebd.
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abgebaut werden. Dieser Kontakt wird zunächst allerdings dadurch erschwert, dass die Flüchtlinge in speziellen Flüchtlingsunterkünften untergebracht werden mussten, zu denen die lokale Bevölkerung kaum Zugang besitzt. Widerstände gegen jene Neuankömmlinge, die sich erwartungsgemäß auf jene Gebiete mit unterdurchschnittlichem Anteil an Muslimen wie auch Menschen mit Migrationshintergrund konzentrierten, mögen durch diese „Ghettoisierung“ begünstigt worden sein. Gerade in jenen Regionen gelang es zuletzt, islamfeindlich gesinnten politischen Kräften die Flüchtlingskrise in Zustimmungsgewinne in der Bevölkerung umzumünzen. So hat der Partei Alternative für Deutschland (AFD) die Entwicklung von einer rechtsbürgerlichen euroskeptischen Programmatik hin zu einer dezidierten Islamfeindlichkeit besonders in den neuen Bundesländern einen ungeahnten Aufstieg ermöglicht. Sie ist seither nicht nur in allen ostdeutschen Landtagen vertreten, sondern stellt in Bundesländern wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern mit einem verschwindend geringen Anteil muslimischer Einwohnerschaft sogar die zweitgrößte Landtagsfraktion. Die Tatsache, dass ihre Erfolge in den alten Bundesländern mit signifikant höherem Muslimanteil bisher nicht in vergleichbarem Niveau ausgefallen sind, stützt die These, dass insgesamt geringer vorhandene Skrupel gegenüber Muslimen allgemein auch eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber mutmaßlich muslimischen Flüchtlingen bedingt. Mag die sogenannte Flüchtlingskrise das Islambild der Deutschen im Einzelfall durchaus negativ beeinflusst haben, in mindestens gleichem Maße hat sich offenbar umgekehrt die Grundeinstellung zum Islam und Muslimen auf die Einstellungen gegenüber den Flüchtlingen ausgewirkt. Bereits seit längerem existiert in der deutschen Medienöffentlichkeit ein Negativdiskurs gegenüber dem Islam, dem insgesamt attestiert wird, „fortschrittsfeindlich“ und mit „westlichen Werten unvereinbar“ zu sein. Dieser Negativdiskurs hat in den letzten Jahren die Debatte um die Integration von Muslimen in europäischen Gesellschaften bestimmt. Vor dem Hintergrund, dass es sich vorwiegend um Muslime handelt, prägt sie auch die Sichtweise in der aktuellen Flüchtlingskrise. Muslime werden darin als „integrationsbedürftig“ und nicht selten sogar als „integrationsunwillig“ dargestellt. In diesem Kontext kursieren oft mit ihnen assoziierte Stichworte wie Kopftuch, Genitalverstümmelung oder Ehrenmord. Dieser Integrationsbegriff legt nahe, dass Muslime sich erst von ihrer als „dekadent“ dargestellten Religion zu distanzieren hätten, bevor sie „vollwertige Mitglieder“ ihrer deutschen Aufnahmegesellschaft werden könnten. Diese öffentlichen Negativassoziationen verleiten leicht dazu, dass negative Erfahrungen der muslimischen Flüchtlinge wie Flüchtlingshelfer mit deutschen bürokratischen Institutionen auf die eigene Religion zurückgeführt werden. Zudem werden Abwehrreflexe in der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen und Flüchtlingen verstärkt, besonders, wo ein persönlicher Kontakt zu Muslimen und ihr reales Erleben vorher kaum möglich ist. Diese Abwehrreflexe gegenüber Flüchtlingen gehen demnach mit einem mediengestützten, ressentimentgeladenen Islambild einher. Umgekehrt bringt eine
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durch die von Islamverbänden mitbetriebene Aufklärung stärkere Aufgeschlossenheit gegenüber Muslimen und ihren Ansprüchen zugleich eine höhere Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen mit sich. Wenn es zur zeitweiligen Verstärkung eines Bedrohungsempfindens gegenüber Muslimen in Deutschland gekommen ist, dürften hierfür weniger die Flüchtlinge als mehr die im Namen des Islams begangenen Terroranschläge in Paris, Brüssel und Berlin, einhergehend mit der anschließend auf die Sicherheit fokussierten öffentlichen Debatte verantwortlich sein. Dieses Bedrohungsempfinden hat auch die Offenheit der deutschen Mehrheitsbevölkerung gegenüber neu ankommenden Flüchtlingen verringert, zumal die nachfolgende „Sicherheitsdebatte“ in Politik und Medien mit Diskussionen um schnellere Abschiebungsmöglichkeiten für abgelehnte Asylbewerber einherging. Die Tatsache, dass zumindest die Attentäter von Paris und Brüssel mehrheitlich in Europa geboren und aufgewachsen oder seit Jahren ansässig sind, demonstriert die Irrationalität dieses Diskurses. Die Wahrnehmung, die Flüchtlingswelle hätte das Islambild der Deutschen entscheidend negativ beeinflusst, entbehrt jedenfalls einer statistisch nachvollziehbaren Grundlage. Eher schon haben bereits vorhandene Ängste mit den Flüchtlingen einen Anhaltspunkt gefunden, um sich daran festklammern zu können. Die Schlussfolgerung, eine Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen hätte den Aufstieg der Rechtspopulisten und erklärten Islamfeinde verhindert, scheint demnach wenig plausibel. Ressentiments halten sich stattdessen am stärksten dort, wo sie nicht durch unmittelbare Begegnung bestätigt – oder eben auch widerlegt werden können. Die Islamverbände sind sich dieses Zusammenhangs bewusst und haben ihre Flüchtlingsarbeit von Anfang an derart konzipiert, dass sie in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften durchgeführt wird und nicht ausschließlich auf Muslime fokussiert ist. Vielmehr erfolgten die auf Flüchtlinge ausgerichteten Aktionen stets in einem Rahmen, an dem auch die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung daran Anteil haben konnte. Die Iftar-Aktionen im Ramadan 2015 und 2016 im Rahmen der ZMD-Initiative „Deutschland sorgt für Flüchtlinge“ sind größtenteils in Veranstaltungen eingebettet gewesen, die in deutschen Innenstädten stattfanden und der Gesamtbevölkerung offenstanden. Den zahlreichen nichtmuslimischen Gästen wurde es dadurch ermöglicht, nicht nur unmittelbar mit Muslimen, sondern auch mit geflüchteten Menschen in Kontakt zu treten oder zumindest unmittelbarer über sie zu erfahren als in den Massenmedien. Die Kooperation zwischen Islamverbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren besteht nicht erst seit der jüngsten großen Flüchtlingswelle. In der Flüchtlingsarbeit wird die Kompetenz der organisierten Muslime jedoch in besonderer Weise öffentlich wahrgenommen. Das Interesse der anderen Aktivgruppen an einer Zusammenarbeit mit den Moscheegemeinden ist demzufolge gewachsen. Man erkennt, dass die seit Jahren in Deutschland ansässigen Muslime einen wertvol-
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len Bestandteil dieser Gesellschaft darstellen, dessen Erfahrungen für die Bewältigung gemeinschaftsdienlicher Aufgaben unverzichtbar sind. Über die bewusst gesuchte Kooperation in der Flüchtlingsarbeit verschaffen sich die Islamverbände nicht nur gesellschaftliche Anerkennung, sie können auch Kompetenzen demonstrieren, die für andere kollektive Aufgaben dienlich sind. Hierzu zählt beispielsweise die Radikalisierungsprävention bei jugendlichen Muslimen, denen durch Imame und Moscheegemeinden als Multiplikatoren demonstriert wird, dass sich auf Gewalt stützende Konzepte radikaler Islamisten nicht berechtigterweise auf den Islam als Religion berufen können. Die „Soziale Dienste und Jugendhilfe gGmbH“ kann durchaus als Beispiel dafür herhalten, wie eine von Islamverbänden gesteuerte Flüchtlingsarbeit sich auch für die Gewinnung von Kooperationspartnern und Unterstützern in anderen gesellschaftlichen Bereichen förderlich erwiesen hat. Zwar nimmt darin das speziell auf geflüchtete Menschen ausgerichtete Projekt „Wir sind Paten“ eine dominierende Stellung ein, andere an die Gesamtgesellschaft gerichtete Initiativen sind jedoch hiermit unter einem Dach vereint. Hierzu zählt z. B. das vom Bundesfamilienministerium über das Bundesprogramm „Demokratie leben“ geförderte Projekt „Safer Spaces“, mit dem muslimische Jugendliche durch Partizipation und die Entwicklung des korrekten Verständnisses für die Ethik ihrer eigenen Religion von dem Weg zu religiösem Extremismus abgehalten werden und zu im Sinne des Gemeinwohls engagierten mündigen Bürgern geformt werden sollen. In diesem Rahmen werden Seminare und Workshops in Moscheegemeinden durchgeführt, die sich sowohl an die Jugendlichen selbst, an deren Eltern, als auch an Kooperationspartner und Multiplikatoren richten.24 Im Rahmen dieses Safer Spaces Projekts lief beispielsweise zusammen mit dem von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Projekt „Hass im Netz“ im Dezember 2016 in Berlin ein Workshop an Jugendliche. Darin galt es, sie zu der Erkenntnis zu bringen, wie eine auf Radikalisierung abzielende Propaganda im Internet aussieht, welche Auswirkung diese auf ihre Altersgruppe besitzt und wie sie sich angemessen dieser Verführungsstrategie erwehren können.25 Diese vielfältige Unterstützung und Kooperation der Islamverbände mit Verantwortungsträgern aus Staat und Zivilgesellschaft ist nicht zuletzt durch die Flüchtlingsarbeit ermöglicht worden. Zwar hatte man die Flüchtlinge in besonderer Weise als Gruppe, in deren Sinne es aktiv zu werden gilt, entdeckt. Bei Projekten wie „Wir sind Paten“ stand die Flüchtlingsarbeit im Mittelpunkt und sie sind von Anfang an so angelegt gewesen, dass möglichst viele Aktive aus der Zivilgesellschaft sich daran beteiligen konnten. Eine Verengung auf das Thema „Flüchtlingsintegration“ wurde allerdings von vornherein vermieden. 24
Safer Spaces, Respekt und Teilhabe, http://www.saferspaces.de/programm/. Safer Spaces, Seminar Anasheed. Was tun, wenn Musik für Extremismus missbraucht wird, http://www.saferspaces.de/event/. 25
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Mit der Einbeziehung der Radikalisierungsprävention in diese Kooperation ließen sich Politik und Zivilgesellschaft davon überzeugen, dass die Muslime selbst den Schlüssel besitzen, eine befürchtete Zunahme von islamistisch motivierter Gewalt und politisch-religiöser Radikalität durch die Hereinnahme von muslimischen Flüchtlingen zu verhindern. Auf diese Weise wird auch den Kollektivängsten vor weiterer Flüchtlingsaufnahme entgegengewirkt.
Der Islam als Identitätsstifter in der Flüchtlingskrise Der Einsatz von Muslimen allgemein und Islamverbänden im Besonderen für die Flüchtlinge dient fraglos dazu, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und speziell bei staatlichen Behörden Anerkennung zu finden. Zugleich stärkt die Arbeit mit hilfsbedürftigen Menschen, von denen die Majorität muslimischen Glaubens ist, die eigene islamische Identität. Mit Flüchtling und Flüchtlingshelfer treffen „Brüder und Schwestern“ aufeinander, die inmitten eines mehrheitlich nichtmuslimischen Umfeldes islamische Werte zur Geltung bringen. Durch aktiven Einsatz für die Integration anderer Muslime in die deutsche Gesellschaft lässt sich das Verbundenheitsgefühl im Rahmen der Umma zum Ausdruck bringen. Die muslimischen Paten sprechen die Geflüchteten als Glaubensgeschwister an, denen sie vermitteln, wie sie trotz ihres Minoritätenstatus den Vorgaben der eigenen Religion treu bleiben können. Für die Flüchtlinge stellen ihre muslimischen Unterstützer lebende Exempel dar, dass eine Vertrautheit mit den Grundregeln ihres Aufnahmelandes ebenso wenig mit einer Distanzierung von islamischen Normen wie einer unreflektierten Nachahmung von Verhaltensweisen der Mehrheitsgesellschaft einhergehen muss. Vielmehr stellen sie den Beleg dafür dar, dass eine feste Verwurzelung in der islamischen Religion die Integration in den demokratischen Wertekonsens der deutschen Gesellschaft erleichtert und dieser Konsens so breit angelegt ist, dass er verschiedenen Lebensmodellen darin Raum lässt. Zweifellos werden auch die anfangs teils euphorisch von den Einheimischen im Rahmen der sogenannten „Willkommenskultur“ begrüßten Flüchtlinge früher oder später von dem nach wie vor existierenden Negativdiskurs zum Islam in Deutschland erfahren. Ihre eigenen Paten und Flüchtlingshelfer, von denen nicht wenige trotz ihrer minoritären Religion neben ihrem geschätzten ehrenamtlichen Engagement auch beruflich in Deutschland zu Erfolg und Anerkennung gelangt sind, demonstrieren ihnen, dass jene in Politik und Medien teilweise auftauchenden populistischen Forderungen keine tatsächlichen Notwendigkeiten darstellen. In dieser Hinsicht haben es von muslimischer Infrastruktur in Deutschland profitierende Flüchtlinge sogar einfacher, als einige hierzulande aufwachsenden muslimischen Jugendliche, die zumindest subjektiv durchaus aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit gesellschaftliche und institutionelle Diskriminierung erfahren. Sofern sie mit Behörden oder Arbeitgebern auf Schwierigkeiten und Konflikte treffen, wissen
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die Geflüchteten stets jemanden auf ihrer Seite, der mutmaßlich auf vergleichbare Erfahrungen zurückschauen konnte und diese erfolgreich durchgestanden hat. Die von organisierten Muslimen in Kooperation mit Nichtmuslimen durchgeführte Flüchtlingsunterstützung wirkt dementsprechend zugleich als eine Art „Präventionsprogramm“ gegen den Verlust der muslimischen Identität wie auch gegen religiös gerechtfertigte Radikalisierung. Die erfolgreiche Unterstützung anderer Muslime bei ihrer Integration in das deutsche Gesellschaftsleben bestärkt zugleich das Selbstwertgefühl der muslimischen Flüchtlingspaten. Sie finden die Bestätigung vor, als Muslime in Deutschland gesamtgesellschaftlich wertvolle Aufgaben wahrzunehmen. Mit der Demonstration von islamischem Gemeinsinn in der Praxis dienen sie zugleich dem Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen innerhalb des pluralistischen Gemeinwesens in Deutschland. Den muslimischen Neuankömmlingen werden Räume aufgezeigt, wie sie ohne Assimilation oder gar Adaptation von Verhaltensweisen der Mehrheit vollwertiges Mitglied in der deutschen Gesellschaft werden können. Durch das selbstbewusste Eintreten für ihre religiösen Eigenansprüche lernen sie den deutschen Pluralismus als Chance zu begreifen. Rohe sieht die Religion – auch wenn sie in der Aufnahmegesellschaft minoritär ist, ohnehin nicht als Hindernis für eine Integration an, im Falle religiös motivierter unterstützender Institutionen könne sie sogar integrationsbeschleunigend wirken und „im Kontext von Migration an Bedeutung gewinnen, soweit sie ,in vertrauter Form und Sprache […] als vertraute Welt gesucht und erfahren‘ wird und soweit religiöse Organisationen auch Hilfestellungen bei der Deckung wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse leisten.“ Bezogen auf den Islam in Deutschland sei ohnehin ein derartig verstandener „Ansatz bei der ,Integration‘ unsinnig bei Angehörigen einer Religion, die längst auch zu einem Inlandsphänomen geworden“26 sei. Obwohl nominell zumeist islamischen Gemeinwesen entstammend, haben die Geflüchteten in ihren Herkunftsländern vielfach auf wesentliche Teile ihrer politischen ebenso wie religiösen Ansprüche verzichten müssen. Hierin lag nicht zuletzt eine Motivationsgrundlage für ihre Flucht nach Deutschland. Durch ihre muslimischen Mentoren bekommen sie nun demonstriert, wie in diesem majoritär nichtmuslimischen, jedoch pluralistisch verfassten Gemeinwesen diese Ansprüche erhoben und eingelöst werden können. Dies bestärkt zugleich ihre Identifikation mit Deutschland. Gerade das Erlebnis, in nominell islamischen Gemeinwesen die religiösen Ansprüche nicht in gewünschtem Maße befriedigen zu können, bestärkt die Identifikation mit den Grundsätzen der Demokratie, wie sie im außerislamischen Westen besteht. Anhand des ägyptischstämmigen Islamgelehrten Yusuf al Qaradawi zeigt Farid 26 Matthias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016, S. 100.
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Hafez wie hieraus sogar ein als „islamisch“ gerechtfertigtes Verlangen erwachsen kann, jene Normen in der Islamischen Welt zur Gültigkeit zu erheben. Dementsprechend zitiert er Qaradawi: „Wir können nicht ignorieren, dass die Demokratie mithilfe verfassungsrechtlicher Garantien, der Freiheit der Presse, dem Mehrparteiensystem und der Aufklärung der Menschen, ihre Rechte von Angesicht zu Angesicht gegenüber den Regierenden einzufordern, es geschafft hat, die Unterdrücker zu kontrollieren und die Unterdrückten zu unterstützen. Dadurch hat sie es mithilfe von Parlamenten, Gewerkschaften, der Freiheit der Presse und anderen Institutionen geschafft, die Säulen der Freiheit aufrechtzuerhalten. Es ist eine Verpflichtung des Islamischen Staates, von diesen Erfahrungen zu profitieren.“ Hierzu merkt Hafez an: „Hier ist der Hintergrund der negativen Erfahrungen in den muslimischen Kernländern wie Ägypten ebenso wie der historischen Bürden verschiedener islamischer Dynastien zu bedenken, was Qaradawi so positiv über westliche Demokratien sprechen lässt […] Und so meint er: ,die Essenz der Demokratie steht definitiv in Harmonie mit dem Islam.‘“27 Das Beispiel Qaradawis, der zwar aus Ägypten fliehen musste, seinen Lebensmittelpunkt aber mit Katar dennoch in einem Islamischen Staat suchte, zeigt aber auch, dass diese Identifikation mit der Demokratie westlicher Prägung nicht unbedingt eine vollständige und dauerhafte Identifikation mit dem Westen – im Falle der vor Kurzem geflüchteten Muslime, vielfach Deutschland – beinhalten muss. Stattdessen könnte man eher von einem „Verfassungspatriotismus“ im Sinne von Habermas sprechen. Die bewusste Suche nach religiös Gleichgesinnten würde diese These stützen. Veränderte Bedingungen im islamischen Herkunftsland mit der Etablierung demokratischer Strukturen dort würden den einen oder anderen sogar mutmaßlich animieren, dorthin zurückzuziehen und basierend auf den in Deutschland gewonnenen Kenntnissen zum Aufbau einer dortigen demokratischen Zivilgesellschaft beizutragen. Davon unabhängig ist er jedoch bereit, in der deutschen Gesellschaft sich aktiv zivilgesellschaftlich im Sinne demokratischer Werte zu engagieren. Die Majorität muslimischer Flüchtlinge findet also einerseits eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten vor, in der sie ihre in Deutschland minoritäre Religion gemeinsam praktizieren und mit denen sie ihre mitgebrachten Wertvorstellungen teilen kann. Andererseits bekommen sie ein differenziertes Deutschlandbild vermittelt, was sie ebenso vor Blauäugigkeit wie vor einer pauschalen Übertragung einzelner Negativerfahrungen auf die Gesamtheit bewahrt. Der Islam wirkt sich in diesem Kontext nicht nur als integrationsförderlich aus, er erleichtert auch gemeinschaftliche Aktivität einhergehend mit der Annahme eines „deutschen“ demokratischen Identitätsbewusstseins.
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Farid Hafez, Islamisch-politische Denker, S. 245.
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Literatur Adelgunde Mertensacker: Muslime erobern Deutschland. Eine Dokumentation, Lippstadt 1998. Bertelsmann-Stiftung: Religionsmonitor. Muslime mit Staat und Gesellschaft eng verbunden, 08. 01. 2015, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/janu ar/religionsmonitor/. Farid Hafez: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische Ideengeschichte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2015. Freia Peters: Migranten wollen weniger Flüchtlinge in Deutschland, in: Die Welt vom 29. 11. 2015, https://www.welt.de/politik/deutschland/article149391575/Migranten-wollen-wenigerFluechtlinge-in-Deutschland.html. Matthias Rohe: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016. Safer Spaces: Respekt und Teilhabe, http://www.saferspaces.de/programm/. Safer Spaces: Seminar Anasheed. Was tun, wenn Musik für Extremismus missbraucht wird, http://www.saferspaces.de/event/. Shaik Muhammad Abu Zahra: Begriff des Krieges im Islam, in: Oberster Rat für Islamische Angelegenheiten (Hrsg.): Ansiklopedisi, Bd. 6, Kairo 1952. Soziale Dienste Jugendhilfe gGmbH: Beratung, in: Wir bringen zusammen, was zusammengehört – Menschen!, http://www.wirsindpaten.com/de/betreuung-beratung/. Soziale Dienste Jugendhilfe gGmbH: Bildung, in: Wir bringen zusammen, was zusammengehört – Menschen!, http://www.wirsindpaten.com/de/bildung/. Statista 2017: Religionszugehörigkeit der Deutschen nach Bundesländern im Jahre 2011, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/201622/umfrage/religionszugehoerigkeit-derdeutschen-nach-bundeslaendern/. Yasemin Ergin: Zuwanderung. Warum viele Migranten in Deutschland gegen Flüchtlinge sind, in: FAZ vom 10. 02. 2016, http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/warum-deut sche-muslime-abneigung-gegen-fluechtlinge-haben-14059221-p3.html. ZMD: Flüchtlinge – wie kannst du helfen?, http://islam.de/fluechtlinge. ZMD: Flüchtlingskonferenz des ZMD in Darmstadt war ein voller Erfolg, 03. 02. 2016, http://is lam.de/27164_print.php. ZMD: Flüchtlingskonferenz und Gründung „Verband muslimischer Flüchtlingshilfe“, 19. 05. 2016, http://islam.de/27481. ZMD: Zwischen Hüpfburgen, Indoorspielplätzen und dem Fastenbrechen, 23. 06. 2016, http://is lam.de/27661. ZMD: ZMD startet mit Radaman-Aktion „Deutschland sorgt für Flüchtlinge“, 26. 05. 2015.
Blasphemie aus der Sicht des Christentums Von Stefan Mückl
1. Grundlagen a) Begriff Etymologisch meint Blasphemie die bewußte Schädigung (bk\pteim) des Rufes (v^lg). Erfaßt das Profangriechisch damit jedwede Schmährede, bezieht das im christlichen Latein gebildete Lehnwort „blasphemare“ bzw. „blasphemia“ die Schmähung ausschließlich auf Gott: gemeint ist die Schmährede mit dem Ziel der Schädigung der Ehre Gottes. Nach dem Katechismus der Katholischen Kirche besteht die Gotteslästerung darin, „daß man – innerlich oder äußerlich – gegen Gott Worte des Hasses, des Vorwurfs, der Herausforderung äußert, schlecht über Gott redet, es in Worten an Ehrfurcht vor ihm fehlen läßt und den Namen Gottes mißbraucht … Das Verbot der Gotteslästerung erstreckt sich auch auf Worte gegen die Kirche Christi, die Heiligen oder heilige Dinge.“ Als direkter Verstoß gegen das zweite Gebot ist die Blasphemie in sich eine schwere Sünde1.
b) Biblische Aussagen Im AT wie im NT erscheint „Blasphemie“ ganz überwiegend, wenngleich nicht exklusiv2, als die Lästerung Gottes durch Herabsetzung der allein ihm zustehenden Ehre: durch direkte Schmähung, durch Unterlassung des gebotenen Opfers oder umgekehrt durch Darbringung eines Opfers für fremde Götter, aber auch durch moralische Verfehlungen, die anderen Anlaß zur Schmähung Gottes geben3. Die Schmähung des Namens Gottes verdient den Tod und ist von den Ohrenzeugen, nach Zerreißen ihrer Gewänder4, durch die Steinigung zu vollziehen5. Im NT trifft
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Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, Nr. 2148. Tit 3,2 – die deutsche Einheitsübersetzung gibt an dieser Stelle „blasphemare“ mit „schmähen“ wieder. 3 So 2 Sam 12,13 – 14. 4 2 Kön 18,37 – 19,1. 5 Lev 24,11.14 – 16.23; vgl. 1 Kön 21,10.13. 2
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den Anspruch Jesu Christi, Sohn Gottes zu sein, der Vorwurf der Gotteslästerung6 („Er lästert Gott“); das feierliche Bekenntnis seiner Gottessohnschaft vor dem Hohen Rat führt zum Todesurteil7 („Er hat Gott gelästert!“, zuvor hat der Hohepriester sein Gewand zerrissen!). In gleicher Weise führt der Vorwurf der Lästerung Gottes und Moses’ zur Steinigung des Stephanus, nachdem er die Gottessohnschaft Christi bekannt hat8 (auch hier haben die Ohrenzeugen ihre Kleider abgelegt!). Nach der Lehre Christi entspringt die Blasphemie dem Herzen des Menschen9, die Schmähung der Heiligen Geistes vermag keine Vergebung zu finden10. Anders als im AT findet sich aber kein Strafgebot für den Fall der Gotteslästerung, unter Heranziehung des Weizen/Unkraut-Gleichnisses wurde der „Gotteszorn […] eschatologisiert: Die Bestrafung vollzieht sich am Ende der Tage durch Gott selbst, nicht mehr durch Exekution seitens der Menschen auf Erden“11.
c) Historische Genese In der Urkirche wie in der Väterzeit steht außer Streit, daß die Blasphemie eine schwere Sünde ist, welche vom Heil ausschließt (für Tertullian ist sie gar eine der sieben Hauptsünden12). Erfaßt wird nicht nur die Leugnung Gottes durch die Heiden und die Lästerung Gottes durch die Christen selbst (sei es direkt oder indirekt, durch böse Taten), sondern auch die falsche Rede über Gott: Im Anschluß an die Gleichsetzung von Irrlehre und Gotteslästerung im Judasbrief13 gilt auch die Häresie als Gotteslästerung, ihrer klagt sich Augustinus ob seiner manichäischen Vergangenheit ebenso an14 wie zuvor Paulus ob seiner früheren Verfolgung der Kirche15. Innerkirchlich wurde die Blasphemie mit geistlichen Mitteln geahndet (Zurechtweisung, bei Amtsträgern Absetzung, ab dem späten 5. Jahrhundert auch Exkommunikation). Einen rechtlich relevanten Quantensprung bringt erst die Spätantike, als Kaiser Justinian – und damit die staatliche Gesetzgebung – in der Novelle 77 (um 538) die Blasphemie als todeswürdiges Verbrechen kodifiziert („qui ipsum Deum blasphemat dignus est supplicia sustinere“). Denn, so die Be-
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Mt 9,3 par.; Joh 10,33.36. Mt 26,65 f. 8 Apg 6,11; 7,55 – 59. 9 Mt 15,19 par. 10 Mt 12,31 par. 11 Arnold Angenendt, Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben, in: Josef Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, Berlin 2007, S. 9 (11). 12 Adversus Marcionem IV,9,6. 13 Jud 10. 14 Confessiones 3,11,19: 4,16,31. 15 Apg 26,11. 7
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gründung, von der Gemeinschaft müssen Unheil durch Hungersnöte, Erdbeben und Pestilenz ferngehalten werden. Entscheidende Fortentwicklungen erfolgen in Hochmittelalter, nahezu zeitgleich (um 1230) wird das Wesen der Blasphemie in dogmatischer Hinsicht näher konturiert wie rechtlich sanktioniert: Die einflußreiche „Summa Theologica“ des Alexander von Hales versteht die Blasphemie als Schmähung Gottes mit dem Ziel seiner Entehrung als Schöpfer („blasphemare est contumeliam vel aliquod convitium inferre in iniuriam Creatoris“), welche auf dreierlei Weise begangen werden kann: Gott etwas zuzuschreiben, was ihm nicht zusteht, ihm etwas zu entziehen, was ihm zusteht, und schließlich, einem Geschöpf etwas zuzuschreiben, was allein Gott eigen ist16. Die Summe Alexanders ist von vergleichbarer Wirkungskraft wie die „Summa de virtutibus et vitiis“ des Pariser Dominikaners Guillaume Peyraut († 1273), speziell auf Autoren wie Johannes Wycliff, Johannes Gerson und Bernhardin von Siena, die jeweils gesonderte Abhandlungen über die Blasphemie verfaßten17. Strafrechtliche Bestimmungen finden sich zuerst auf der Ebene der kommunalen Statuten, die regelmäßig den Verlust der Zunge vorsehen (meist verbunden mit weiteren Strafen der sozialen wie räumlichen Exklusion: Pranger und Stadtverweis), so für das Reich pionierhaft das Wiener Stadtrecht Herzog Leopolds VI. von 122118. Wenig später ergehen auch universale Gesetze, so die Dekretale „De maleficis“ von Papst Gregor IX. (1227/34) sowie die von Kaiser Friedrich II. für das Königreich Sizilien erlassenen Konstitutionen von Melfi (1231). Bewegen sich letztere auf dem Sanktionsniveau der städtischen Gesetzgebung (Abschneiden der „Lästerzunge“)19, sieht erstere Geldbußen, öffentliche Schand- und Ehrenstrafen sowie wiedergutmachende Bußakte vor. Eine normative Zentralisierung wie Systematisierung erfolgt erst in der frühen Neuzeit, seitens des weltlichen Rechts, im Nachgang zum Reichsabschied des Wormser Reichstags von 1495, durch die Reichspolizeiordnung (1530) sowie die Peinliche Gerichtsordnung („Carolina“, 1532)20, kirchlicherseits in der Bulle Su-
16 Pars II, liber II, inq. III, tract. III, sect. II, quaest. XI: De Blasphemia, cap. 1: „De tribus differentiis blasphemiae: una est, cum attribuitur Deo quod ei non convenit; secunda est, cum ab eo removetur quod ei convenit; tertia, cum attribuitur creaturae quod Deo appropriatur.“ 17 Johannes Wycliff, Tractatus de blasphemia; Johannes Gerson, Adversus Blasphemiae Crimen; Bernhardin von Siena, De orrendo peccato blasphemiae. 18 Peter Csendes (Hrsg.), Die Rechtsquellen der Stadt Wien, Wien 1986, Nr. 4, S. 36. – Der einschlägige Art. 15 lautet: „Qui Dominum Deum et sanctos suos vituperaverit, abscindatur ei lingua et non liceat sibi redimere an ullo pretio“. 19 Lib. III, tit. XCI: „De blasphemantibus Deum et virginem Mariam“. 20 Art. 106: „Item so eyner Gott zumist, das gott nit bequem ist oder mit seinen Worten gott, das jm zusteht abschneidet, der almechtigkeyt gottes, sein heylige mutter die jungkfraw Maria schendet, sollen durch die amptleut oder Richter von ampts wegen angenommen, eingelegt vnd darumb an leib, leben oder glidern nach gelegenheyt vnd gestalt der person und laesterung gestrafft werden“.
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pernae dispositionis des 5. Laterankonzils (1514)21. So findet die institutionelle Bekämpfung der Blasphemie ihren institutionellen Höhepunkt im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in zunehmendem Maß als Aufgabe der weltlichen Justiz: Die Bestrafung der Gotteslästerer gerät zur Herrscherpflicht der (alt- wie neugläubigen) Obrigkeit. Gerade die Reformation hatte zur einer signifikanten Ausweitung des Begriffs der Gotteslästerung geführt: Zunächst lag der Schwerpunkt pönalisierten Verhaltens auf unziemlichen Schwüren (z. B.: bei Körperteilen Christi wie seinem Haupt, seinem Herzen, seinen Eingeweiden etc.). Erst gegen Mitte des 15. Jahrhunderts trat die „unzimlich gots laesterung“22 hinzu, wofür die Begriffe „gotschmehen“23 und „Gott schelten“ üblich wurden, was später auf die Muttergottes und andere Heilige erstreckt wurde. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Formen fehlgeleiteter Religiosität, sei es aus Enttäuschung über das Ausbleiben von Gebetserhörungen, sei es aus abergläubisch-magischer Intention (etwa: Verfluchen, Beschimpfen und Schlagen von Statuen und Bildern; Bewerfen mit Messern und Abgabe von Schüssen auf sie) einerseits und Religionskritik andererseits (Parodien auf Predigten und Prozessionen). Der Wormser Reichsabschied hatte zudem zwischen Schmähungen „aus bewegter hitz des zorns, aus trunkenheit oder dergleichen zufall“ sowie den „freventlichen“ Gotteslästerungen differenziert. Nun mutierte, wie Gerd Schwerhoff resümiert, speziell bei Luther der Terminus „Gotteslästerung“ zu einem „geradezu inflationär benutzten Etikett […], das (er) fast jedem seiner Gegner und Feinde anheftete“24 : „Die ohne Scheu Gottes Namen schänden“, also: „die Lästermäuler“, so heißt es bei ihm, gehörten in „des Henkers Schule“25, seien sie „Papisten“ (ihnen seien die Zungen herauszureißen, um sie an den Galgen zu nageln26), Spiritualisten oder Täufer27. Dementsprechend liegt die primäre Stoßrichtung der Baseler Reformationsordnung von 1529 gegen die Glaubensabweichler und Sektierer, weniger die „traditionellen“ Schwörer und Lästerer28, in Nürnberg werden 1525 unter Verweis auf Gotteslästerung als überflüssig erachtete Feiertage 21 Abdruck bei Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der Ökumenischen Konzilien, Bd. 2, Paderborn 2000, S. 621 f. 22 Joseph Baader (Hrsg.), Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII bis XV Jahrhundert, Stuttgart 1861 (Nachdruck: Amsterdam 1966), S. 114. 23 Erstmals in Basel 1458, Nachw. bei Gerd Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz: Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14. – 17. Jahrhundert), in: Ius commune 25 (1998), S. 39 (46, Fn. 21). 24 Ebd., S. 76. 25 Martin Luther, Großer Katechismus (1529), in: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Bd. 30,1, Weimar 1910, S. 140. – Auf gleicher Linie ders., Der 82. Psalm, ausgelegt 1530, in: ebd., Bd. 31, Weimar 1913, S. 209: „Moses in seinem Gesetz gebietet, die Lästerer, ja alle falschen Lehrer zu steinigen. Also soll man hier nicht viel Disputierens machen, sondern auch unverhört und unverantwortet bestrafen solche öffentliche Lästerung.“ 26 Martin Luther, Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet (1545), in: ebd., Bd. 54, Weimar 1928, S. 243. 27 Ders., Daß weltliche Obrigkeit den Widertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei, Etlicher Bedenken zu Wittenberg (1536), in: ebd., Bd. 50, Weimar 1914, S. 11 ff. 28 Schwerhoff, Blasphemie (Anm. 23), S. 78 m. Nachw.
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abgeschafft29. In der Folge wurden dann auch – konfessionsübergreifend – dogmatische Differenzen mit dem rechtlichen Instrumentarium der Blasphemiegesetzgebung praktisch zu verarbeiten gesucht, wie sich am Beispiel von Eucharistie/ Abendmahl gut belegen läßt: 1527 wurde in Köln ein Student verbrannt, der sich mit aufgesetztem Hut in den Dom begeben, in der Nähe des Hochaltars sich während der Elevation des Altarsakraments mit dem Kopf abgewandt und dabei zu Boden gespuckt hatte30. Mit dem Tod durch das Schwert ahndete 1532 der Rat in Basel die Parodie des Abendmahls-Ritus im Rahmen einer Bettelhochzeit31. Beeinflußt vom Gedankengut der Spätaufklärung, tauscht die staatliche Gesetzgebung ab dem späten 18. Jahrhundert den Strafgrund des beibehaltenen Blasphemie-Delikts aus: Nun geht es nicht mehr um die Wiedergutmachung der verletzten Ehre Gottes und die Sorge um das Wohlergehen der Gemeinschaft32. Den Fortfall der tradierten Begründungsmuster des Blasphemiedelikts hat niemand präziser formuliert als der Strafrechtler Johann Anselm Feuerbach: „Dass die Gottheit injuriiert werde, ist unmöglich; dass sie wegen Injurien sich an Menschen räche, ist undenkbar; dass man sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnen müsse, ist Thorheit.“33. Damit war der Tatbestand freilich nicht abgeschafft, er diente nunmehr einem anderen Zweck, nämlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung: Der Gotteslästerer untergräbt die Grundlagen des Staates und vergeht sich an den heiligsten Überzeugungen anderer. Diese Sichtweise war bereits im England des 17. Jahrhunderts antizipiert worden, wo Blasphemie als eine nach den Grundsätzen des common law zu beurteilende Straftat galt34 : Der leading case – R. v Tylor (1676) – erblickte in der Blasphemie nicht nur eine Straftat gegen Gott und die Religion, sondern auch gegen den Staat, die Regierung und das (weltliche) Recht. Das letztere habe die christliche Religion, welche seine Grundlage bilde, zu schützen – und damit das eigene Fundament zu erhalten. Unter „christlicher Religion“ bzw. „Christentum“ wurde stets in einengendem Sinn allein die anglikanische Kirche (Church of England) ver29
Ebd., S. 86. Ebd., S. 83. 31 Ebd., S. 98. 32 Klassisches Motiv seit Justinian, fortwirkend in den spätmittelalterlichen Stadtrechten (pars pro toto die Sorge, daß „der almechtige gott uns sin barmhertzigkeit entziehet und viel ubels uber uns verhenget“, Nachw. bei Schwerhoff, Blasphemie [Anm. 23], S. 56 f., Fn. 65) sowie beim Wormser Reichsabschied 1495 („vormals aus solichem hunger, erdpiden, pestilenz und ander plagen auf erden kumen“, s. Heinz Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., V. Band, Bd. 1, Teil 1, Göttingen 1981, Nr. 458, S. 575 ff.). 33 Johann Anselm Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, Gießen 1801, S. 265. 34 Abriß der Fallpraxis in der Entscheidung des High Court in der Rechtssache um die „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie: Queen’s Bench Divisional Court, R v Chief Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Choudhury [1991] 1 All E.R. 306 (deutsche Zusammenfassung: EuGRZ 1990, S. 213); ferner bei Clive Unsworth, Blasphemy, Cultural Divergence and Legal Relativism, The Modern Law Review 1995, S. 658 – 677. 30
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standen. Zu Beginn der Herausbildung des Blasphemie-Delikts war dies folgerichtig, da der englische Staat seinerzeit das anglikanische Bekenntnis verpflichtend vorgeschrieben und andere, nicht-anglikanische christliche Bekenntnisse in die Illegalität verwiesen hatte. Spätestens mit der Emanzipationsgesetzgebung zugunsten der Katholiken und Juden im 19. Jahrhundert35 war die Legitimität eines derartigen Konnexes von Religions-, Kirchen- und Staatsschutz zweifelhaft geworden. Gleichwohl hielt die Rechtsprechung, von schon eingetretenen Veränderungen unbeeindruckt, am tradierten Verständnismuster unbeirrt fest. So heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahr 183836: „Jedermann kann, ohne sich strafbar zu machen, den jüdischen oder den islamischen Glauben oder sogar eine christliche Sekte – außer der offiziellen Religion des Landes – angreifen; der einzige Grund, warum letztere gegenüber anderen Religionen besonderen Schutz genießt, ist, daß es sich um eine durch Gesetz etablierte Staatsreligion handelt, die Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes ist.“
In Deutschland hingegen hatte das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 eine offenere Formulierung gewählt, die auch nichtchristliche Bekenntnisse einbezog, jedenfalls dann, wenn sie – wie die jüdischen Gemeinden – als öffentlich-rechtliche Körperschaften verfaßt waren37. Dies blieb nicht allein von theoretischem Interesse, sondern erlangte auch praktische Bedeutung: Selbst zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs wurden auch gegen andere Bekenntnisse gerichtete Schmähungen geahndet, der wohl bekannteste Fall sind die diversen Prozesse gegen den notorischen Antisemiten und Gründer der „Deutschen Reformpartei“ Theodor Frisch38. In der Praxis verschoben sich die Gewichte freilich immer mehr von der Gotteslästerung hin zur Beschimpfung der Religion, ihrer Inhalte, Gebräuche und Repräsentanten. In England wurde die letzte Gefängnisstrafe wegen Blasphemie im Jahr 1921 verhängt (skurrilerweise gegen einen Angeklagten namens Gott)39. Nach einer erstaunlichen Renaissance in den späten 1970er Jahren40, als das Verächtlichmachen christlicher Glaubensbezüge nochmals negative staatliche Sanktionen
35 Roman Catholic Relief Act (1829), Religious Disabilities Act (1846), Jews Relief Act (1858). 36 R v Gatherole (Lord Alderson). 37 § 166 RStGB hatte folgenden Wortlaut: „Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Aeußerungen Gott lästert, ein Aergerniß gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft.“ 38 Näher Christoph Jahr, Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879 – 1960), Frankfurt/M. 2011, S. 130 ff. 39 R v Gott (1922) 16 Cr App R 87. 40 Paul Anthony Diaper, Law and Religion in England between 1532 – 1994, 2000, S. 242 ff.; Unsworth, Blasphemy (Anm. 34), S. 658 (667 ff.).
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nach sich zog41, wurde das Delikt im Jahr 2008 abgeschafft42 – übrigens gegen das Votum muslimischer Gemeinschaften, welche für dessen Ausweitung auf den Islam eintraten. Bereits zwei Jahre zuvor war ein neues Gesetz (Racial and Religious Hatred Act) in Kraft getreten, welches die Aufstachelung zum Religionshaß (incitement to religious hatred) unter Strafe stellt, freilich nur dann, wenn dies nachgewiesenermaßen die Absicht des sich Äußernden ist (nicht betroffen sind also allgemeine lehrhafte Aussagen). Andere westliche Rechtsordnungen hatten diese Entwicklung bereits hinter sich. Die Blasphemie i. e. S. ist in Deutschland seit 1969 nicht mehr strafbar (Gustav Radbruch hatte ihre Abschaffung bereits 1922 gefordert), in Spanien seit 1988. An ihre Stelle sind durchweg Strafnormen über die Religionsbeschimpfung getreten43. Allein Italien kennt noch, freilich als Ordnungswidrigkeit, den Tatbestand der Gotteslästerung, inzwischen allerdings (nach einer Intervention des Verfassungsgerichts44) bezogen auf eine „Gottheit“ schlechthin45.
2. Rechtliche Relevanz in der Gegenwart a) Rechtliche Regelungen Wie gesehen, verhält sich das geltende deutsche (Straf-)Recht nicht mehr zur Blasphemie i. e. S. Der neugefaßte § 166 StGB pönalisiert allein die Religions(Abs. 1) wie die Kirchenbeschimpfung (Abs. 2). Die tatbestandliche Struktur ist in beiden Fällen identisch: Sie besteht in der Tathandlung des „Beschimpfens“, hinzu treten muß die Eignung, „den öffentlichen Frieden zu stören“. Komplettiert wird der strafrechtliche Schutz durch die weitere Spezialnorm des § 167 StGB („Störung der Religionsausübung“) sowie durch die allgemeinen, also nicht religionsspezifischen, Straftatbestände der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und der Beleidigung (§§ 185 ff. StGB). Die genannten Strafrechtsnormen wirken dabei über den engen Bereich des Strafrechts hinaus und strahlen auf andere Teilrechtsordnungen aus: Im Polizeirecht firmieren sie als Teil der „öffentlichen Sicherheit“, im Zivilrecht kommen sie als Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB in Betracht und erlangen so mittelbare Re41 Court of Appeal, R v Lemon (1979) 617; EGMR, in: ÖJZ 1997, S. 714 ff. – Wingrove (vorgehend EKMR, Entsch. v. 10. 1. 1995 – BNr. 17419/90). 42 Criminal Justice and Immigration Act 2008, s. 79 (1): „The offences of blasphemy and blasphemous libel under the common law of England and Wales are abolished“. 43 § 188 StGB Österreich, § 261 StGB Schweiz, Art. 525 spanischer Código penal. 44 Corte costituzionale, in: EuGRZ 2006, S. 67 m. Anm. Richard Wiedemann. 45 Art. 724 des italienischen Codice penale: „Chiunque pubblicamente bestemmia, con invettive o parole oltraggiose, contro la Divinità, è punito con la sanzione amministrativa da euro 51 a euro 309.“
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levanz im Öffentlichen Recht und im Zivilrecht. So hat das Bundesverwaltungsgericht 1997 die auf § 166 StGB gestützte ordnungsbehördliche Untersagung eines blasphemischen Theaterstücks („Rock-Comical ,Das Maria-Syndrom‘“) bestätigt46. Keinen Erfolg hingegen hatte das Begehren des Erzbistums München und Freising im Jahre 2006, im Wege einer Unterlassungsverfügung im einstweiligen Rechtsschutz die Ausstrahlung der Zeichentrickserie „Popetown“ im Musiksender MTV zu verhindern. Tröstend immerhin war die Einschätzung des LG München, die Serie sei „zu dumm, um beleidigend zu sein“47. Worin besteht nun im säkularen, freiheitlichen Rechtsstaat der Strafgrund für ein Delikt wie die Religions- und Kirchenbeschimpfung? Nach ganz überwiegender Auffassung in der strafrechtlichen Literatur ist dies der „öffentliche Friede“48, nach dem Willen des historischen Gesetzgebers49 ergänzt durch die Formel „in der Ausprägung … den er durch den Toleranzgedanken erfahren hat“. Etwas anders akzentuiert, sehen Stimmen im staatskirchenrechtlichen Schrifttum als relevantes Schutzgut „Fairneß und Anstand in der religiösen und weltanschaulichen Auseinandersetzung“50. Ob eine solche Bestimmung des Schutzguts zwingend oder wenigstens zutreffend ist, erscheint keineswegs so zweifelhaft wie es der weitgehende Konsens nahelegt: Denn mit einem so verstandenen Straftatbestand räumt die Rechtsordnung der Religion (bzw. Weltanschauung) und den sie tragenden Gemeinschaften unverändert einen Sonderstatus ein51, indem sie nur für deren Be46
BVerwG, in: NJW 1999, S. 304; zuvor OVG RP, NJW 1997, S. 1174. LG München, ZUM 2006, S. 578 (m. Anm. Liesching). Zitat im Text aus der Pressemitteilung des LG München vom 3. Mai 2006; sowie im Beschluß selbst: „(N)icht jede Veröffentlichung, mag sie auch geschmacklos oder schlicht dümmlich sein, die an den Empfindungen anderer rührt, (ist) eine Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens zu besorgen geeignet“. – Näher zum Fall Sven Heller/Nino Goldbeck, Mohammed zu Gast in Popetown – Religiöse (Bild-)Satire im Spannungsfeld von medienrechtlicher Fremdkontrolle und medienethischer Selbstregulierung, ZUM 2007, S. 628 ff. 48 Herbert Tröndle/Thomas Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, Kommentar, 65. Aufl., München 2018, § 166 Rn. 2; Theodor Lenckner/Nikolaus Bosch, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., München 2014, Vorbem §§ 166 ff. Rn. 2; Tatjana Hörnle, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl., München 2017, § 166 Rn. 1. – Zusammenstellung alternativer Schutzgutsbestimmungen bei Albin Eser, Schutz von Religion und Kirchen im Strafrecht und im Verfahrensrecht, in: Joseph Listl/ Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl., Berlin 1995, S. 1019 (1023 ff.) sowie bei Christoph Stumpf, Bekenntnisschutz im deutschen Strafrecht, GA 2004, S. 104 (106 ff.). 49 BT-Drs. V/4094, S. 29. 50 Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 2. Aufl., Heidelberg 2001, § 140 Rn. 65; Thomas Würtenberger sen., Karikatur und Satire aus strafrechtlicher Sicht, in: NJW 1982, S. 610 (615). 51 Diagnose und Kritik: Winfried Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, in: Luigi Vallauri/Gerhard Dilcher (Hrsg.), Christentum, Säkularisation und modernes Recht, Baden-Baden 1981, S. 1309 (1324); Hörnle, in: MüKo-StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 1. 47
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schimpfung – nicht aber für diejenige etwa politischer Überzeugungen – einen eigenen Straftatbestand vorsieht und die allgemeinen Straftatbestände wie Volksverhetzung sowie die Beleidigungsdelikte nicht ausreichen läßt52. Daher dürften schon de lege lata tragender und überzeugender komplementäre Ansätze sein, denen zufolge der Schutzzweck der Bestimmung in einer Kombination von Rechtsgütern liegt: Entweder in dem Schutz des religiösen Empfindens der Gläubigen in Verbindung mit der staatlichen Gewährleistungspflicht für eine ungestörte Grundrechtsausübung53 oder aber im Schutz der Religionsfreiheit insgesamt in Verbindung mit dem staatlichen Interesse am Schutz der Religion und Weltanschauung als Teil seiner Verfassungskultur54. Indes steht die Norm als solche seit Jahrzehnten unter – durchaus unterschiedlich motivierter – Kritik: Den einen ist sie ein Anachronismus, der sich aus vorsäkularer Zeit systemwidrigerweise und nur aufgrund kirchlicher Lobbyarbeit in das säkulare Strafrecht hinübergerettet habe55 und daher ersatzlos zu streichen sei56. Demgegenüber vermissen die anderen einen wirksamen strafrechtlichen Schutz des religiösen Bekenntnisses durch die geltende Fassung und verfechten die Erweiterung ihres Anwendungsbereichs, regelmäßig in Gestalt der Streichung der erwähnten Friedensschutzklausel57. Doch neutralisiert sich die rechtspolitische Kritik beider Stoßrichtungen gegenseitig – und so bleibt, als kleiner gemeinsamer Nenner, die Rechtslage unverändert. Um das Tableau der bestehenden rechtlichen Regelungen zu vervollständigen, sei vermerkt, daß das kanonische Strafrecht in c. 1369 CIC nicht nur die „Beleidigung gegen die Religion und die Kirche“, sondern unverändert auch die Gotteslästerung unter Strafe stellt. Wie schon die (zumal im Vergleich zur Vorgängernorm, 52 Tröndle/Fischer, StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 2b, weisen darauf hin, daß ohnehin der größte Teil der § 166 StGB unterfallenden praktischen Fälle auch von §§ 130, 185 ff. StGB erfaßt sein dürften. 53 Martin Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung im Sinne des § 166 Abs. 1 StGB und die Lehre vom Rechtsgut, Frankfurt/M. 1984, S. 136 ff. – Darüber hinausgehend die von Michael Pawlik, Der Strafgrund der Bekenntnisbeschimpfung, in: Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung (Anm. 11), S. 31 (46 ff.), präferierte „personalistische Legitimation“. 54 Stumpf, GA 2004, S. 104 (109 ff.). 55 Daniel Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, Heidelberg 1997, S. 360. 56 Aus der parlamentarischen Praxis: Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jahr 1995 (BT-Drs. 13/2087); aus der Literatur Hassemer, Religionsdelikte, in: Vallauri/Dilcher (Hrsg.), Christentum (Anm. 51), S. 1309 (1324 ff.). 57 BR-Drs. 367/86 sowie BR-Drs. 460/98 (Bundesrats-Initiativen der Bayerischen Staatsregierung); BT-Drs. 13/10666 (Gesetzentwurf von 93 Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) sowie BT-Drs. 14/4558 (Gesetzentwurf der gesamten CDU/CSU-Bundestagsfraktion). – Skeptisch zu den Aussichten, dergestalt den Anwendungsbereich von § 166 StGB effektiv erweitern zu können Tröndle/Fischer, StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 2b, 14a, 146; zurückhaltend ferner Christian Hillgruber, Die Religion und die Grenzen der Kunst, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 36 (2002), S. 53 (83).
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c. 2323 CIC/191758) spärliche literarische Befassung indiziert, hält sich die praktische Bedeutung der Norm in engen Grenzen59.
b) Rechtliche Praxis Was versteht nun die Praxis unter „Beschimpfen“ von Religion und Kirche, und wann sieht sie den „öffentlichen Frieden“ in Gefahr? Zu beiden Tatbestandsmerkmalen besteht eine seit langem gefestigte Rechtsprechung: Die in § 166 StGB inkriminierte Tathandlung des „Beschimpfens“ ist nicht schon mit jeder herabsetzenden Bemerkung verwirklicht. Da die (Kommunikations-)Grundrechte des sich Äußernden für eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals streiten60, bedarf es vielmehr einer besonders verletzenden oder rohen Kundgabe der Mißachtung61, wofür die Rechtsprechung überwiegend den objektivierten Maßstab „eines auf religiöse Toleranz bedachten Beurteilers“ heranzieht62. Eine erhebliche – und vom historischen Gesetzgeber so auch beabsichtigte – Einschränkung der Strafbarkeit bewirkt die sog. Friedensschutzklausel: Nur diejenige Beschimpfung erfüllt den objektiven Tatbestand des § 166 StGB, die „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Zwar bedarf es schon nach dem Wortlaut nicht einer tatsächlichen Störung des öffentlichen Friedens. Wann aber eine Äußerung zumindest objektiv geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, bemißt sich nach oftmals wenig trennscharfen Kriterien (sofern nicht auch hier auf die „Perspektive eines objektiven, nicht besonders empfindlichen Beobachters“ abgestellt werden soll63): Teilweise wird es für hinreichend erachtet, wenn berechtigte Gründe für die Befürchtung streiten, daß das Vertrauen der Betroffenen in die Respektierung ihrer religiösen Überzeugung beeinträchtigt wird und darüber hinaus 58 Franz Xaver Wernz/Pietro Vidal, Ius Canonicum, Tomus VII: Ius poenale ecclesiasticum, 2. ed., Romae 1951, S. 482 – 488, mit einer ausdifferenzierten Systematik der Gotteslästerung (verbalis – realis, haereticalis/qualificata – imprecativa/simplex, directa – indirecta). 59 Siehe nur die Bemerkung von Ludwig Schick, Blasphemie und der Glaube, in: Thomas Laubach/Konstantin Lindner (Hrsg.), Blasphemie – lächerlicher Glaube?, Ein wiederkehrendes Phänomen im Diskurs, Münster 2014, S. 11 (18). – Knappe Beschreibung bei Burkhard Josef Berkmann, Blasphemie, Diffamierung von Religionen und religiöser Friede, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heribert Hallermann, Paderborn 2016, S. 631 (632 f.). 60 OVG RP, in: NJW 1997, S. 1174 (1175); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (364). 61 OVG RP, in: NJW 1997, S. 1174 (1175); OLG Nürnberg, in: NStZ-RR 1999, S. 238 (239); Tröndle/Fischer, StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 12; Lenckner/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 9. 62 OLG Köln, in: NJW 1982, S. 657; OLG Celle, in: NJW 1986, S. 1275 (1276); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (364). 63 So etwa Hörnle, in: MüKo-StGB (Anm. 48), § 166 Rn. 22 m. w. Nachw.
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die Beschimpfung bei Dritten die Bereitschaft zu Intoleranz gegenüber den Anhängern des beschimpften Bekenntnisses fördern könnte64. Ein anderer Ansatz sieht den öffentlichen Frieden dann gestört, wenn die Gläubigen nicht mehr in einer Gesellschaft leben können, ohne befürchten zu müssen, um ihres Glaubens willen diskriminiert zu werden und Schmähungen ausgesetzt zu sein, gegen die man sich letztlich nicht wehren kann65. Zwar besteht Einigkeit darüber, daß die Schwelle der Friedensgefährdung nicht so hoch liegt, daß bereits ein Klima offener oder latenter Feindschaften entstanden sein müßte, das sich jederzeit in Gewalt und Gegengewalt entladen kann. Doch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Wunsiedel-Entscheidung von 2009 (in Bezug auf § 130 Abs. 4 StGB) ein „eingegrenztes Verständnis“ des Begriffs „öffentlicher Friede“ postuliert: „Nicht tragfähig für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen zielt. Eine Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt und allein aus dem Inhalt der Ideen und deren gedanklichen Konsequenzen folgt, ist notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit und kann für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen […] gehört zum freiheitlichen Staat. Der Schutz vor einer Beeinträchtigung des ,allgemeinen Friedensgefühls‘ oder der ,Vergiftung des geistigen Klimas‘ sind ebensowenig ein Eingriffsgrund wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewußtseins […] Die Verfassung setzt vielmehr darauf, daß auch diesbezüglich Kritik und selbst Polemik gesellschaftlich ertragen, ihr mit bürgerschaftlichem Engagement begegnet und letztlich in Freiheit die Gefolgschaft verweigert wird.“66
Vor diesem Hintergrund kann kaum verwundern, daß die praktische Bedeutung des so interpretierten und gehandhabten Straftatbestands marginal ist. Seit Jahren verharren die strafgerichtlichen Verurteilungen im untersten zweistelligen Bereich67. Nur eine überschaubare Zahl von Fällen wird überhaupt behördlich erfaßt: Die Polizeiliche Kriminalstatistik vermerkt für 2016 nur 106 Fälle von Religionsbzw. Kirchenbeschimpfung, wobei zudem die Aufklärungsrate nur knapp über 40 % liegt68. In der Konsequenz werden allenfalls die gröbsten und ordinärsten Fälle geahndet: So hat 1998 das OLG Nürnberg im Wege eines Klagerzwingungsverfahrens die einstellungsgeneigte Staatsanwaltschaft angewiesen, weitere Ermittlungen gegen die Verantwortlichen einer Firma durchzuführen, die im Internet ein sog. „Schweine-T-Shirt“ – Darstellung eines an ein Kreuz genageltes Schweins – 64 OVG RP, in: NJW 1997, S. 1174 (1176); OLG Celle, in: NJW 1986, S. 1275 (1276); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (365). 65 OLG Nürnberg, in: NStZ-RR 1999, S. 238 (240). 66 BVerfGE 124, 300 (334). 67 Letzte Statistik: BT-Drs. 16/3579, S. 2 ff. 68 Bundesministerium des Innern/Innenministerkonferenz (Hrsg.), Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2016, S. 116. – Noch geringer sind die erfaßten Straftaten gem. § 167 StGB: 69 Fälle im Jahr 2016.
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feilbot69. 2006 verurteilte das AG Lüdinghausen einen Arbeitslosen, der mit dem Aufdruck „Koran, der heilige Qur-an“ bestempelte Blätter Toilettenpapier an Moscheen, Fernsehsender und Nachrichtenmagazine versandt hatte, zu einer einjährigen Bewährungsstrafe70.
c) Verfassungsrechtliche Koordinaten für den Schutz des religiösen Bekenntnisses Die skizzierten Schwierigkeiten gerade der praktischen Handhabung mit der Strafnorm des § 166 StGB haben ihren Grund – auch – in komplexen verfassungsrechtlichen Vorgaben71. Nicht ohne Grund läßt sich bereits fragen, ob der säkulare, religiös neutrale Staat überhaupt Schutzvorkehrungen zugunsten des religiösen Bekenntnisses vorsehen darf. Auf einer zweiten Ebene wäre dann zu klären, in welcher Weise grundsätzlich statthafte Schutzmechanismen konzipiert und ausgestaltet werden können bzw. müssen. Die erste Frage – grundsätzliche Zulässigkeit von Schutzbestimmungen – läßt sich im Ergebnis ohne große Schwierigkeiten bejahen. Der säkulare, religiös neutrale Staat hat die Phänomene „Glauben“, „Religion“, „Kirche“ und allgemein „Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ nicht in die Privatsphäre verbannt, sondern räumt ihnen ausdrücklich einen Platz in der Sphäre der Öffentlichkeit ein. So ist es ihm im Ausgangspunkt nicht verwehrt, den Schutz dieser Belange auch mit rechtlichen Mitteln sicherzustellen, sofern er keinen genuin glaubens- oder bekenntnisbestimmten Anknüpfungspunkt wählt. Ein anderer, säkular radizierter und religiös-weltanschaulich neutral gefaßter Ansatz hingegen ist statthaft, wie etwa der Belang der „öffentlichen Friedens“. Hinzu kommt, daß der Schutz des religiösen Bekenntnisses auch als ein Ausfluß der grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes darstellen kann. Anknüpfungspunkt dafür ist die seit Jahrzehnten in der (deutschen, etwas später auch der europäischen) Grundrechtsdogmatik anerkannten Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht: Der Staat verbürgt 69
OLG Nürnberg, in: NStZ-RR 1999, S. 238. AG Lüdinghausen, Urt. v. 23. 2. 2006 – 7 Ls 540 Js 1309-05/31/05 – juris. Das erstaunlich hohe Strafmaß erklärt sich in diesem Fall durch das beträchtliche Vorstrafenregister des Angeklagten sowie den Umstand, daß er die Straftat während doppelt laufender Bewährungszeit begangen hatte. 71 Aus dem umfangreichen jüngeren Schrifttum s. nur Barbara Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen 2013; Bijan Fateh-Moghadam, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Strafrechts. Zur strafrechtlichen Beobachtung religiöser Pluralität, Tübingen 2015; Josef Isensee, Blasphemie: Gegenstand oder Schranke grundrechtlicher Freiheit – Grenzfragen freiheitlicher Verfassung im Widerspruch der Kulturen, in: Rainer Pitschas/Arnd Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 251 ff.; Martin Heger, Der strafrechtliche Schutz der Religion in Deutschland – Geschichte, aktuelle Herausforderungen und kriminalpolitische Überlegungen, in: ZevKR 61 (2016), S. 109 ff. 70
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die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte des einzelnen gegen hoheitliche Eingriffe, sondern ist auch gehalten, sich schützend vor die Grundrechte zu stellen, indem er den Grundrechtsträger gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter abschirmt. Ebendieser Gedanke liegt seinem Grundsatz nach den Religionsdelikten des StGB ebenfalls zugrunde: Der Staat, welcher die „ungestörte Religionsausübung“ verbürgt, hat erforderlichenfalls auch die Störungen Privater zu unterbinden72. Mit dieser Feststellung ist das Problem indes erst näher konkretisiert, aber nicht gelöst. Zunächst ist wesentlich, erneut die Stoßrichtung der staatlichen Schutzpflicht im Hinblick auf das religiöse Bekenntnis in Erinnerung zu rufen: Sie bezieht sich auf die Ausübung der Religion, nicht aber auf deren Inhalte: Die grundgesetzliche Glaubensfreiheit beinhaltet keinen Konfrontationsschutz. Der einzelne muß in der säkularen und pluralistischen Welt von heute damit leben, einer Vielfalt von Wertvorstellungen und Überzeugungen zu begegnen, die er für sich ablehnt: „Es besteht … in einer pluralistischen Gesellschaft kein Anspruch darauf, durch fremde Meinungen nicht in dem eigenen dogmatischen Schlummer gestört zu werden.“73 Die Schwierigkeiten bestehen in der Zuordnung widerstreitender grundrechtlicher Positionen. Den Staat treffen unterschiedliche, grundrechtlich abgesicherte (Handlungs-)Pflichten: Auf Seiten der Kritiker von Religion und Bekenntnis ist die Abwehrfunktion der Grundrechte angesprochen, welche staatliche Eingriffe in die einschlägigen Kommunikationsgrundrechte (Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit) unter die Last der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung stellt. Umgekehrt ist der Staat gleichzeitig durch die angesprochene Schutzpflicht des Kritisierten verpflichtet. In diesem „Dreieck“ – Staat, „Störer“, „Opfer“ – hat nun die Konfliktlösung zu erfolgen74. Die Kriterien einer solchen Konfliktlösung können hier nur angedeutet werden. Auf Seiten des „Störers“ sind Aussageinhalt und Aussageabsicht zu würdigen. Gerade in Deutschland besteht (mittlerweile) hinreichend Anlaß, die generelle Prämisse und eine aus ihr abgeleitete Folgerung in der Rechtsprechung des BVerfG auf ihre (weitere) Tragfähigkeit hin zu überprüfen: Läßt sich wirklich stets und ausnahmslos annehmen, es gehe dem sich gegenüber Religion und Kirche kritisch Äußernden ernstlich um Kommunikation, um das Anprangern oder Abstellen von „Mißständen“? Ist nicht umgekehrt das Verständnis lebensnäher, daß der vorrangige 72 Speziell für Art. 4 GG Stefan Mückl, in: Rudolf Dolzer/Christian Waldhoff/Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 (Viertbearbeitung, Stand: August 2008), Rn. 131 ff. 73 Reinhold Zippelius, in: Bonner Kommentar (Anm. 72), Art. 4 (Drittbearbeitung, Stand: Dezember 1989) Rn. 109. – Ähnlich Roman Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 4 (Stand: 1988) Rn. 74: kein Recht, „von anderen nicht durch Beispiel oder Verkündigung in seinem Glauben ,verunsichert‘ zu werden“. 74 Andreas von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung, in: Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung (Anm. 11), S. 63 (74 ff.); Isensee, ebd., S. 105 (109 ff.).
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oder sogar alleinige Zweck schlicht in der Schmähung und der gezielten Verletzung liegt75? Angesichts der rapide fortgeschrittenen Verrohung und Verwilderung der öffentlichen Kommunikation erscheint es fragwürdig, ob noch ernstlich eine Notwendigkeit besteht, durch eine salvierende benigna interpretatio von Äußerungen „Einschüchterungswirkungen“ für die Meinungsfreiheit76 zu beseitigen. Mag dies zu Zeiten der grundlegenden Entscheidung zur Meinungsfreiheit in den 1950er Jahren unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Bedingungen angebracht oder jedenfalls vertretbar gewesen sein; Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob es in der heutigen Gesellschaft noch wirklich des „Mutes“ zur Religionskritik bedarf, so daß dem sich Äußernden allein die hilfesuchende Flucht unter den breiten Schutzmantel bundesverfassungsgerichtlicher Interpretationskünste verbleiben würde. Hinsichtlich des „Opfers“ ist bei der Würdigung zu berücksichtigen, ob es die – drohende oder eingetretene – Gefährdung des öffentlichen Friedens selbst (mit) verursacht hat, konkret ob es selbst die (vorgebliche) Schmähung bewußt verbreitet und bekanntgemacht und ihr erst so überhaupt breitere Aufmerksamkeit verschafft hat. Es wird kaum zu Lasten des sich Äußernden gehen können, wenn die Gefährdung des öffentlichen Friedens durch vom „Opfer“ provozierte Gewalttätigkeiten eingetreten ist. In vielen Fällen wird ihm ohne substantiellen Verlust eigener Rechte die Alternative des schlichten Ignorierens verbleiben. Auch die rechtstatsächlichen Gegebenheiten einer religiös und kulturell pluraleren Gesellschaft könnten zunehmend Impulse setzen, die bisherigen Parameter der Zuordnung der verschiedenen Rechtspositionen neu zu justieren. Was in den vergangenen Jahrzehnten allenfalls punktuelle Aufmerksamkeit und Protest erregte, hat sich durch die verstärkte Präsenz anderer Religionen signifikant geändert. Jedenfalls Politik und Justiz scheinen in letzter Zeit zu einem stärkeren – zumal präventiven – Schutz von religiösen Überzeugungen zu tendieren, freilich in erster Linie nichtchristlicher, insbesondere muslimischer77. In der Rechtswissenschaft hingegen sind die Positionen gespalten: Will etwa der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm, von 1987 – 1999 im 1. Senat des BVerfG zuständiger Berichterstatter für das Dezernat „Meinungsfreiheit“, die von ihm maßgeblich mitgeprägte (überaus kontrovers beurteilte) Linie auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem
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In diese Richtung Heger, Der strafrechtliche Schutz (Anm. 71), S. 126. Auf die Figur des „chilling effect“ der US-Grundrechtstheorie stützt vor allem Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995, S. 1697 (1703), die Linie des BVerfG. 77 Nachw. Anm. 70; ähnlich OGH Österreich, in: ÖARR 2015, S. 156 ff. (Strafbarkeit herabwürdigender Äußerungen über religiöse Lehren – hier: Islam) m. Anmerkung Wakolbinger. Eine Demonstration von Aktivisten mit Tiermasken, welche am Karsamstag in einer Innenstadt Holzkreuze mit der Aufschrift „Nein zu Fleisch / Ja zu Vegetarismus“ trugen, hielt der VerfGH Österreich (Entsch. v. 11. März 2015, Nr. E 717/2014) hingegen für eine zulässige Form der Versammlungsfreiheit. 76
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Islam anwenden78, plädieren andere Stimmen dafür, denjenigen (straf)rechtlichen Schutz nunmehr dem Islam zubilligen, dessen Effektuierung zugunsten des Christentums sie (bisher?) nur sehr zurückhaltend annahmen79.
3. Grenzen der rechtlichen Erfassung Bei nüchterner Betrachtung ist freilich – im Grundsätzlichen wie in der konkreten Ausgestaltung – nicht ausgemacht, daß dem Phänomen der Blasphemie mit den Instrumenten des (weltlichen) Rechts wirksam beizukommen ist. Hans Michael Heinig hat die mittlerweile üblich gewordene „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ in Fällen von Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung treffend beschrieben: Die „Skandalisierung durch Verrechtlichung scheint […] einen paradoxen Effekt zu haben: Was aus der Sphäre der Öffentlichkeit mittels des Rechts ferngehalten werden soll, findet gerade durch die drohende Pönalisierung erhöhte Aufmerksamkeit. Eine Empörungsschaukel setzt sich in Gang: Kirchliche Kreise empören sich über den Inhalt, das milieu juste empört sich über die Kirche, worüber sich die kirchlichen Kreise wieder empören können […] Zu ernsthaften strafrechtlichen Sanktionen kommt es nur in den allerseltensten Fällen.“80 Nicht nur aus derartigen pragmatischen Erwägungen wird von theologischer Warte die Angemessenheit weltlich-rechtlicher Sanktionen in den Fällen von Blasphemie und Religionsbeschimpfung jedenfalls zurückhaltend eingeschätzt81: Das „gewichtigste Argument gegen eine Forderung nach weltlichen Strafen für Blasphemie“ sei „theologischer Natur: Ausweislich der heiligen Schriften aller Offenbarungsreligionen droht demjenigen, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte Gott lästert, nichts weniger als ewige Verdammnis. Angesichts dieser Erkenntnis die Forderung zu erheben, ein deutsches Amtsgericht möge auf diese ewige Ver-
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Dieter Grimm, Nach dem Karikaturenstreit: Brauchen wir eine neue Balance zwischen Pressefreiheit und Religionsschutz?, in: Theologische Literaturzeitung 133 (2008), Sp. 588 (sub III.). 79 Tatjana Hörnle, Strafbarkeit anti-islamischer Propaganda als Bekenntnisbeschimpfung, in: NJW 2012, S. 3415 ff.; s. aus ihrem früheren Schrifttum aber: Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabu, Frankfurt 2005, insbes. S. 340 ff.; Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, in: Horst Dreier/Eric Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts. Akten der IVRTagung vom 28. – 30. September 2006 in Würzburg, Stuttgart 2006, S. 315 ff. 80 Hans Michael Heinig, Muß/darf/soll das Recht vor Religionsbeschimpfung schützen?, in: Michael Moxter/Christian Polke (Hrsg.), Blasphemie – Negation des Göttlichen und Lust am Frevel, in: Baden-Baden, 2019 (im Erscheinen), s. http://docplayer.org/53235195-In-micha el-moxter-christian-polke-hrsg-blasphemie-negation-des-goettlichen-und-lust-am-frevel-muen ster-lit-2015-i-e-hans-michael-heinig.html (sub II.). 81 Etwa: Michael Moxter, Blasphemie und Religionsbeschimpfung aus theologischer Perspektive, in: ZevKR 61 (2016), S. 221 ff.
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dammnis noch einmal vierzig Tagessätze ,draufsatteln‘, ist nichts weniger als ein Zeichen von Glaubensschwäche.“82
82 Fabian Wittreck, Perspektiven der Religionsfreiheit in Deutschland, in: Katharina Ebner/ Tosan Kraneis/Martin Minkner/Yvonne Neuefeind/Daniel Wolff (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung, Tübingen 2014, S. 73 (83).
Kirche und Bildung Hinweise zum kirchlichen Bildungsauftrag in der geltenden kanonischen Ordnung Von Stephan Haering OSB Ihrem Selbstverständnis gemäß ist die katholische Kirche von Gott zu allen Menschen gesandt, um ihnen die Frohe Botschaft zu verkünden und jenes Heil zu bezeugen, welches der ganzen Welt in Jesus Christus geschenkt worden ist. Zum Verkündigungsauftrag der Kirche gehört in einem weiteren Sinn auch die umfassende Förderung der menschlichen Bildung. Die Kirche will dadurch den Menschen in der Entfaltung der Fähigkeiten, die ihm von Gott gegeben sind, unterstützen und ihm helfen, seiner geschöpflichen Bestimmung in vielfältiger Weise zu entsprechen. Denn der Mensch besitzt nach der Auffassung der Kirche ein natürliches Recht auf Bildung und Erziehung.1 Auch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Kirche ihren Auftrag, die menschliche Bildung zu fördern, stets von neuem aufgegriffen und nach Kräften umgesetzt hat. Von der Antike über das Mittelalter und bis in die Gegenwart herauf ist die Kirche 1
Aus der jüngeren Lehrtradition der Kirche sei hier nur auf die relevante Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils verwiesen: „Omnibus hominibus cuiusvis stirpis, condicionis et aetatis utpote dignitate personae pollentibus, ius est inalienabile ad educationem, proprio fini respondentem, propriae indoli, sexus differentiae, culturae patriisque traditionibus accommodatam et simul fraternae cum aliis populis consortioni apertam ad veram unitatem et pacem in terris fovendam. Vera autem educatio prosequitur formationem personae humanae in ordine ad finem eius ultimum et simul ad bonum societatum, quarum homo membrum exstat et in quarum officiis, adultus effectus, partem habebit. Pueri igitur et adolescentes, ratione habita progressus scientiae psychologicae, paedagogicae et didacticae adiuventur oportet ad dotes physicas, morales et intellectuales harmonice evolvendas, ad gradatim acquirendum perfectiorem sensum responsabilitatis in propria vita continuo nisu recte excolenda et in vera libertate prosequenda, obstaculis magno et constanti animo superatis. Positiva et prudenti educatione sexuali progrediente aetate instituantur. Praeterea ad vitam socialem participandam ita conformentur ut, instrumentis necessariis et opportunis rite instructi, in varios humanae communitatis coetus actuose sese inserere valeant, colloquio cum aliis aperiantur communique bono provehendo operam libenter navent. Similiter Sancta Synodus declarat pueris ac adolescentibus ius esse ut in valoribus moralibus recta conscientia aestimandis et adhaesione personali amplectendis necnon in Deo perfectius cognoscendo et diligendo instimulentur. Ideoque enixe rogat omnes qui vel populorum regimen tenent vel educationi praesunt, ut curent ne umquam iuventus hoc sacro iure privetur. Filios autem Ecclesiae exhortatur ut generoso animo operam praestent in universo educationis campo, praesertim hunc in finem ut congrua educationis et instructionis beneficia ad omnes ubique terrarum citius extendi possint.“ (Vat II, GE 1).
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als wichtiger Kultur- und Bildungsträger in Erscheinung getreten. Zu gewissen Zeiten und in manchen Regionen waren es allein die kirchlich getragenen Einrichtungen, die Bildung und Erziehung vermittelt und damit vielen Menschen die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und persönlicher Weiterentwicklung ermöglicht haben. Es gibt auch heute manche Länder, in denen dies noch weithin der Fall ist.
Bildungsauftrag im kirchlichen Gesetzbuch Der Codex Iuris Canonici (CIC), das Gesetzbuch für die lateinische Kirche, kommt an verschiedenen Stellen auf die Bildungsaufgabe der Kirche zu sprechen. Nicht nur in den kodikarischen Bestimmungen zum Verkündigungsdienst der Kirche, sondern auch an anderen Stellen des Gesetzbuchs wird das Thema berührt. Zum Katalog der Grundpflichten und -rechte aller Christgläubigen gehört c. 217 CIC, wo es heißt: „Da ja die Gläubigen durch die Taufe zu einem Leben nach der Lehre des Evangeliums berufen sind, haben sie das Recht auf eine christliche Erziehung, durch die sie in angemessener Weise zur Erlangung der Reife der menschlichen Person und zugleich zur Erkenntnis des Heilsgeheimnisses und zu einem Leben danach angeleitet werden.“2 Der Gesetzgeber bringt hier zum Ausdruck, dass das natürliche Recht des Menschen auf Erziehung und Bildung für den Getauften noch über den allgemeinen Bildungsanspruch hinaus spezifisch ausgeprägt ist. Das subjektive Recht der Getauften bezüglich Erziehung und Bildung richtet sich nicht nur auf die erstrebte allgemeinmenschliche Entfaltung und Reifung, sondern auch auf die Vermittlung der Fähigkeit, der christlichen Berufung tatsächlich nachkommen und als Christ leben zu können. Zunächst werden durch diese Norm all jene in die Pflicht genommen, die für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen die unmittelbare Verantwortung tragen, vor allem die Eltern. Aber auch andere, die an der Erziehung direkt oder indirekt mitwirken, sind angesprochen, bis hin zu Staat, Gesellschaft und Kirche. Mit zunehmender Reife wächst aber auch der einzelne Getaufte mehr und mehr in die Aufgabe hinein, selbst an seiner christlichen Bildung mitzuwirken und sie entsprechend zu vervollkommnen. An verschiedenen Stellen spricht das Gesetzbuch, mehr oder minder deutlich, die besondere Mitverantwortung kirchlicher Amtsträger für den Bildungsauftrag der Kirche an. So werden etwa die Diözesanbischöfe3 und die Pfarrer4 angewiesen, 2
C. 217 CIC: „Christifideles, quippe qui baptismo ad vitam doctrinae evangelicae congruentem ducendam vocentur, ius habent ad educationem christianam, qua ad maturitatem humanae personae prosequendam atque simul ad mysterium salutis cognoscendum et vivendum rite instruantur.“ 3 Vgl. c. 386 § 1 CIC: „Veritates fidei credendas et moribus applicandas Episcopus dioecesanus fidelibus proponere et illustrare tenetur, per se ipse frequenter praedicans; curet etiam
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sich namentlich um die religiöse Bildung nicht nur der Gläubigen eifrig zu kümmern. Darüber hinaus sollen alle Gläubigen darauf bedacht sein, dass auch die staatliche Gesetzgebung zum Schulwesen die Bedürfnisse einer religiösen Erziehung angemessen berücksichtigt.5 Sehr konkrete Bestimmungen zum kirchlichen Anspruch und zum kirchlichen Auftrag bezüglich Bildung und Erziehung hat der Gesetzgeber im Dritten Buch des CIC über den Verkündigungsdienst der Kirche formuliert. Sie finden sich in Titel III dieses Buches und betreffen insbesondere das kirchliche Schul- und Hochschulwesen. Ein eigener Blick ist dabei auf den schulischen Religionsunterricht zu werfen, der in Deutschland und in einigen anderen Ländern nicht nur in kirchlichen Schulen erteilt wird und eine besondere rechtliche Basis besitzt. Zuvor aber ist auf das rechtliche Grundpostulat des kirchlichen Erziehungsauftrags einzugehen.
Allgemeiner kirchlicher Bildungsanspruch Der Titel des CIC zur katholischen Erziehung wird durch drei Kanones eingeleitet, die der Untergliederung des Titels in Kapitel vorausgestellt sind (cc. 793 – 795). Nach der Betonung des elterlichen Erziehungsrechts, das auf einer natur- und menschenrechtlichen Basis gründet (c. 793), formuliert der Gesetzgeber in c. 794 § 1 den kirchlichen Anspruch auf eine aktive Beteiligung an der menschlichen Erziehung. Wörtlich heißt es: „In besonderer Weise kommt der Kirche Pflicht und Recht zur Erziehung zu; denn ihr ist es von Gott aufgetragen, den Menschen zu helfen, dass sie zur Fülle des christlichen Lebens zu gelangen vermögen.“6
ut praescripta canonum de ministerio verbi, de homilia praesertim et catechetica institutione sedulo serventur, ita ut universa doctrina christiana omnibus tradatur.“ Vgl. auch cc. 771, 773, 794 § 2 CIC. 4 C. 528 § 1 CIC: „Parochus obligatione tenetur providendi ut Dei verbum integre in paroecia degentibus annuntietur; quare curet ut christifideles laici in fidei veritatibus edoceantur, praesertim homilia diebus dominicis et festis de praecepto habenda necnon catechetica institutione tradenda, atque foveat opera quibus spiritus evangelicus, etiam ad iustitiam socialem quod attinet, promoveatur; peculiarem curam habeat de puerorum iuvenumque educatione catholica; omni ope satagat, associata etiam sibi christifidelium opera, ut nuntius evangelicus ad eos quoque perveniat, qui a religione colenda recesserint aut veram fidem non profiteantur.“ Vgl. auch cc. 771, 773, 794 § 2 CIC. 5 C. 799 CIC: „Christifideles enitantur ut in societate civili leges quae iuvenum formationem ordinant, educationi eorum religiosae et morali quoque, iuxta parentum conscientiam, in ipsis scholis prospiciant.“ 6 C. 794 § 1 CIC: „Singulari ratione officium et ius educandi spectat ad Ecclesiam, cui divinitus missio concredita est homines adiuvandi, ut ad christianae vitae plenitudinem pervenire valeant.“
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Der Gesetzgeber statuiert den Anspruch und die Verpflichtung der Kirche, Bildung und Erziehung zu betreiben; sie wurzeln im göttlichen Recht.7 Wenn die Kirche entsprechende Aktivitäten unternimmt, kommt sie im Grunde ihrem zentralen Auftrag nach, den Menschen auf den Weg des Heils zu geleiten. Die Perspektive der Kirche auf die menschliche Bildung ist dabei aber nicht etwa nur auf das jenseitige Ziel des Menschen beschränkt, sondern sie hat auch das zeitliche Wohl der menschlichen Gesellschaft im Blick. Es geht ihr um eine ganzheitliche Entwicklung des Menschen in allen Dimensionen seines Daseins, die durch jedwede Bildung gefördert und zur Reife gebracht werden sollen. Der Gesetzgeber beschreibt in c. 795 CIC sein entsprechendes Anliegen: „Wahre Erziehung muss die umfassende Bildung der menschlichen Person in Hinordnung auf ihr letztes Ziel und zugleich auf das Gemeinwohl der Gesellschaft anstreben; daher sind die Kinder und die Jugendlichen so zu bilden, dass sie ihre körperlichen, moralischen und geistigen Anlagen harmonisch zu entfalten vermögen, tieferes Verantwortungsbewusstsein und den rechten Gebrauch der Freiheit erwerben und befähigt werden, am sozialen Leben aktiv teilzunehmen.“8 Das Ziel der menschlichen Bildung besteht aus der Sicht der Kirche also darin, den einzelnen in seinen natürlichen Anlagen zur Entfaltung zu bringen und ihn dazu fähig zu machen, in der Gesellschaft an seinem spezifischen Platz gebührende Verantwortung zu übernehmen. Dabei darf nach christlicher Überzeugung nicht außer Acht gelassen werden, dass der Mensch eine transzendente Bestimmung besitzt. Auch wenn c. 795 CIC besonders auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen eingeht, ist diese Ausrichtung nicht nur im Hinblick auf junge Menschen, sondern in jeglicher kirchlichen Bildungsarbeit zu wahren.
7 Vgl. Winfried Aymans, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici. Begr. von Eduard Eichmann, fortgeführt von Klaus Mörsdorf, neu bearb. von Winfried Aymans, Bd. III: Verkündigungsdienst und Heiligungsdienst. Paderborn u. a. 2007, S. 94 – 97; Norbert Lüdecke, Das Bildungswesen, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 989 – 1017, hier 989 – 997; Ludger Müller/Christoph Ohly, Katholisches Kirchenrecht. Ein Studienbuch, Paderborn 2018, S. 106 – 107. – Zur allgemeinen Diskussion über Bildung als Grundrecht: Christoph Mandry, Bildung als Menschenrecht und als soziales Grundrecht. Einige Schlaglichter auf die ethische Diskussion, in: Hans J. Münk/Michael Durst (Hrsg.), Kirche, Theologie und Bildung, Freiburg/Schweiz 2009 (= Theologische Berichte 32), S. 102 – 148. 8 C. 795 CIC: „Cum vera educatio integram persequi debeat personae humanae formationem, spectantem ad finem eius ultimum et simul ad bonum commune societatum, pueri et iuvenes ita excolantur ut suas dotes physicas, morales et intellectuales harmonice evolvere valeant, perfectiorem responsabilitatis sensum libertatisque rectum usum acquirant et ad vitam socialem active participandam conformentur.“
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Felder der kirchlichen Bildungstätigkeit Die eigene Bildungs- und Erziehungstätigkeit der Kirche vollzieht sich in verschiedenen Formen und Bereichen. Besondere Bedeutung besitzen gemäß der kanonischen Ordnung der Religionsunterricht sowie die von der Kirche getragenen Schulund Hochschuleinrichtungen.
Religionsunterricht Die kanonische Ordnung versteht unter dem Religionsunterricht9 eine vornehmlich im Rahmen der Schule, gegebenenfalls aber auch mittels sozialer Kommunikationsmittel geleistete religiöse Unterweisung und Erziehung, die unter kirchlicher Leitung durchgeführt wird.10 Dieser Begriff des Religionsunterrichts kommt weithin jenem überein, den die deutsche staatliche Rechtsordnung voraussetzt. Die geltende deutsche Verfassung geht auf den Religionsunterricht sogar in seinen unter erhöhten Schutz gestellten Grundnormen ein und legt in Artikel 7, der das Schulwesen betrifft, im Absatz 3 fest: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“ Auf der Grundlage dieser Verfassungsbestimmung, die Religionsunterricht jeglicher Konfessionen im Blick hat und die in ergänzenden staatlichen Rechtsvorschriften entfaltet und konkretisiert wird, wird in fast allen deutschen Ländern in den meisten Schulen katholischer Religionsunterricht erteilt.11 Der Religionsunterricht ist in jenen Schulen, die in der Trägerschaft des Staates oder der Kommunen stehen, ein Regelfach für die katholischen Schüler. Die kirchliche Einflussnahme auf den katho9
Zur rechtlichen Ordnung des katholischen Religionsunterrichts in Deutschland siehe besonders die neuere monographische Studie von Thomas Meckel, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des deutschen Staatskirchenrechts, Paderborn u. a. 2011 (= KStKR 14); ferner Aymans/Mörsdorf, KanR III (Anm. 7), S. 104 – 120; Wilhelm Rees, Der Religionsunterricht, in: HdbKathKR3 (Anm. 7), S. 1018 – 1048; Müller/Ohly, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 7), S. 110 – 116; mit dem Religionsunterricht befasste sich auch das Essener Gespräch des Jahres 2014: Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft, Münster 2016 (= EssGespr. 49). 10 C. 804 § 1 CIC: „Ecclesiae auctoritati subicitur institutio et educatio religiosa catholica quae in quibuslibet scholis impertitur aut variis communicationis socialis instrumentis procuratur; Episcoporum conferentiae est de hoc actionis campo normas generales edicere, atque Episcopi dioecesani est eundem ordinare et in eum invigilare.“ 11 Gemäß Art. 141 GG, der sogenannten „Bremer Klausel“, bestehen bestimmte Ausnahmen, vor allem bezüglich der Länder Bremen und Berlin; auch im Land Brandenburg gibt es eine abweichende Regelung.
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lischen Religionsunterricht ist dadurch sichergestellt, dass die zuständigen kirchlichen Stellen sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts als auch bezüglich des Lehrpersonals ein entscheidendes Mitspracherecht besitzen. Konkret bedeutet dies, dass die Lehrpläne für den katholischen Religionsunterricht unter Beteiligung der Kirche erarbeitet und ihrerseits abschließend gebilligt werden, bevor sie in Kraft treten können. Auch die im Religionsunterricht eingesetzten Lehrmittel, insbesondere die Schulbücher und die verwendeten Bibelausgaben, müssen kirchlich zugelassen sein. Die Möglichkeit der Visitation des Religionsunterrichts durch kirchliche Beauftragte gestattet die Überprüfung des Unterrichts hinsichtlich der kirchlichen Vorgaben. Jene Lehrkräfte, die Religionsunterricht erteilen sollen, bedürfen, ungeachtet ihrer dienstrechtlichen Stellung als staatliche bzw. kommunale Beamte oder Angestellte, eines eigenen kirchlichen Auftrags dafür. Die Erteilung dieses Auftrags, der Missio canonica, erfordert seitens der Lehrkräfte neben der nötigen fachlichen und pädagogisch-didaktischen Ausbildung auch die Übereinstimmung mit der Kirche im Glauben und in der Lebensführung. Wenn Religionslehrer mit Missio canonica später die genannte Übereinstimmung mit der Kirche in Glaube und Sitten aufgeben, wird der kirchliche Auftrag wieder entzogen. Zur Vorbereitung der bischöflichen Entscheidung über einen Entzug der Missio wird in der Regel ein förmlich geordnetes Verfahren durchgeführt, das dem Betroffenen genügend Raum bietet, zu den geltend gemachten Sachverhalten eine Stellungnahme abzugeben und sich gegebenenfalls zu rechtfertigen.
Kirchliches Schulwesen In c. 794 § 1 CIC wird der Anspruch der Kirche, an der menschlichen Bildung und Erziehung mitzuwirken, bereits allgemein ausgedrückt. Der kirchliche Gesetzgeber konkretisiert dieses Postulat durch c. 800 § 1 CIC im Hinblick auf die Einrichtung und Führung von Schulen.12 Dort heißt es: „Die Kirche hat das Recht, Schulen jedweden Wissenszweiges, jedweder Art und Stufe zu gründen und zu leiten.“13
Demnach nimmt die Kirche für sich in Anspruch, sich im Schulwesen frei betätigen zu dürfen. Es geht dabei nicht nur um die Pflichtschulen, die von den Kindern und Jugendlichen besucht werden, sondern um jegliche Institutionen, in denen systematisch Unterricht erteilt und Bildung und Erziehung vermittelt werden. Auch Berufs- und Fachschulen oder spezielle Schulen für Menschen mit körperlichen oder 12
Vgl. Aymans/Mörsdorf, KanR III (Anm. 7), S. 97 – 104; Lüdecke, Bildungswesen (Anm. 7), S. 1006 – 1008; Müller/Ohly, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 7), S. 108 – 110. 13 C. 800 § 1 CIC: „Ecclesiae ius est scholas cuiusvis disciplinae, generis et gradus condendi ac moderandi.“
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geistigen Einschränkungen fallen darunter. Selbst Kindergärten, die in Deutschland häufig von kirchlichen Rechtsträgern betrieben werden, werden als Bildungs- und Erziehungseinrichtungen durch c. 800 § 1 CIC erfasst. Von kirchlichen juristischen Personen, wie Bistümern, Pfarreien oder Ordensinstituten, getragene Schulen gelten als katholische Schulen. Aber auch jene Schulen, die in anderer Trägerschaft stehen, jedoch seitens der kirchlichen Autorität förmlich als katholisch anerkannt sind, zählen dazu.14 Davon unberührt ist das Führen der offiziellen Bezeichnung als „Katholische Schule“, was einer gesonderten kirchlichen Genehmigung bedarf (c. 803 § 3 CIC). Der Diözesanbischof besitzt für sämtliche katholische Schulen, die in seinem Bistum bestehen, ungeachtet der Trägerschaft das Aufsichts- und Visitationsrecht und er kann allgemeine Bestimmungen für diese Schulen erlassen (c. 806 § 1 CIC). Das kirchliche Gesetzbuch trifft keine spezifischen Regelungen zur Finanzierung des katholischen Schulwesens. Es kommen demnach alle rechtmäßigen Quellen für die Bereitstellung und den Unterhalt der Infrastruktur (Gebäude, Ausstattung) sowie zur Bezahlung des Lehr- und sonstigen Personals der kirchlichen Schulen in Betracht (vgl. c. 1254 § 1 CIC). In den meisten Fällen wird es sich um eine Mischfinanzierung handeln, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt. Dies können etwa Pflichtbeiträge der Schüler bzw. der Schülereltern, Spenden, Stiftungserträge, eigene Mittel des Trägers und staatliche oder kommunale Betriebszuschüsse sein.
Hochschulen und Universitäten der Kirche Ähnlich wie bezüglich der Schulen beansprucht die Kirche auch hinsichtlich der Universitäten und sonstigen Hochschulen15 die freie Betätigung für sich.16 C. 807 CIC bestimmt dazu: „Die Kirche hat das Recht, Universitäten zu errichten und zu führen; denn sie tragen bei zur höheren Kultur der Menschen und zur volleren Entfaltung der menschlichen Person wie auch zur Erfüllung des Verkündigungsdienstes der Kirche.“17
14 C. 803 § 1 CIC: „Schola catholica ea intellegitur quam auctoritas ecclesiastica competens aut persona iuridica ecclesiastica publica moderatur, aut auctoritas ecclesiastica documento scripto uti talem agnoscit.“ 15 Die kodikarischen Bestimmungen über die Katholischen Universitäten gelten gemäß c. 814 CIC in gleicher Weise für andere Arten von katholischen Hochschulen. 16 Vgl. Aymans/Mörsdorf, KanR III (Anm. 7), S. 135 – 162; Ulrich Rhode, Die Hochschulen, in: HdbKathKR3 (Anm. 7), S. 1049 – 1085; Müller/Ohly, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 7), S. 116 – 121. 17 C. 807 CIC: „Ius est Ecclesiae erigendi et moderandi studiorum universitates, quae quidem ad altiorem hominum culturam et pleniorem personae humanae promotionem necnon ad ipsius Ecclesiae munus docendi implendum conferant.“ – Vgl. auch c. 815 CIC im Hinblick auf die theologischen Hochschuleinrichtungen.
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Eine besondere Verantwortung bezüglich des katholischen Hochschulwesens kommt den Bischofskonferenzen zu. Denn sie haben dafür zu sorgen, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich eine angemessene Zahl von Universitäten oder Fakultäten eingerichtet wird (c. 809 CIC). Bezüglich der Finanzierung der katholischen Hochschulen besteht dieselbe rechtliche Situation wie für die katholischen Schulen. Über die wenigen Rahmennormen des CIC zum katholischen Hochschulwesen hinaus liegt eine detaillierte kirchenrechtliche Normierung in eigenen kanonischen Spezialgesetzen vor. Für die Katholischen Universitäten, in denen grundsätzlich alle wissenschaftlichen Disziplinen gepflegt werden können, ist dies die Apostolische Konstitution „Ex corde Ecclesiae“ vom 15. August 199018. Dagegen gilt für jene katholischen Hochschuleinrichtungen, in denen Theologie oder theologieverbundene Disziplinen gelehrt und erforscht werden (universitates et facultates ecclesiasticae; vgl. cc. 815 – 821 CIC), gegenwärtig noch die Apostolische Konstitution „Sapientia christiana“ vom 15. April 197919 mit den zugehörigen Ordinationes der Kongregation für das Katholische Bildungswesen vom 29. April 1979, welche die richtige Anwendung dieses Gesetzes gewährleisten sollen.20 An die Stelle von „Sapientia christiana“ tritt mit Beginn des Studienjahres 2018/19 die Apostolische Konstitution „Veritatis gaudium“ von Papst Franziskus, die am 8. Dezember 2017 erlassen und am 31. Januar 2018 veröffentlicht worden ist.21
Erwachsenenbildung Ihrem Bildungsauftrag und -anspruch kommt die katholische Kirche auch im Bereich der Erwachsenenbildung nach.22 Dabei greift sie auf verschiedene Instrumente zurück. Durch herkömmliche Printmedien (Bücher, Zeitschriften etc.) und durch 18 Johannes Paul II., Ap. Konst. „Ex corde Ecclesiae“ über die Katholischen Universitäten, in: AAS 82 (1990), S. 1475 – 1509; dt.: VApSt 99, Bonn 2017, S. 5 – 47. Vgl. dazu Josef Ammer, Zum Recht der „katholischen Universität“. Genese und Exegese der apostolischen Konstitution „Ex corde ecclesiae“ vom 15. August 1990, Würzburg 1994 (= FzK 17). 19 Johannes Paul II., Ap. Konst. „Sapientia christiana“ über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten, in: AAS 71 (1979), S. 469 – 499; dt.: VApSt 9, Bonn 1979, S. 4 – 30; i. d. F. vom 28. 1. 2011 (lat./dt.): Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholische Theologie und Kirchliches Hochschulrecht. Einführung und Dokumentation der kirchlichen Rechtsnormen, Bonn 22011 (= Arbeitshilfen 100), S. 197 – 279. 20 Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Ordinationes zur Ausführung der Ap. Konst. „Sapientia christiana“, in: AAS 71 (1979), S. 500 – 521; dt.: VApSt 9, Bonn 1979, S. 31 – 48; i. d. F. vom 28. 1. 2011 (lat./dt.): Sekretariat der DBK (Hrsg.), Katholische Theologie und Kirchliches Hochschulrecht (Anm. 19), S. 280 – 353. 21 Die Konstitution ist bislang noch nicht im Amtsblatt des Apostolischen Stuhls veröffentlicht. Daher der Verweis auf: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_constitutions/ documents/papa-francesco_costituzione-ap_20171208_veritatis-gaudium.html [03. 04. 2018]; dt.: VApSt 211, Bonn 2018; vgl. dazu Heribert Hallermann, Die erneuerte Gesetzgebung über die kirchlichen Fakultäten und Universitäten, in: AfkKR 186 (erscheint demnächst). 22 Vgl. Lüdecke, Bildungswesen (Anm. 7), S. 1011 – 1016.
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elektronische Medien werden von kirchlichen Publizisten die Bildungsinhalte präsentiert und vermittelt. Kirchliche Bildungswerke organisieren Kurse und Veranstaltungen, die in relevante Themen einführen und Fähigkeiten entfalten helfen. Ähnliches geschieht in den kirchlich getragenen Akademien und Bildungsforen, die sich zugleich auch als Stätten für die Diskussion wichtiger Zeit- und Gesellschaftsfragen anbieten.
Abschließende Bemerkungen Bildung und Erziehung bedeuten generell, dem Menschen für sein Leben erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln und ihn bei der vollen Entfaltung der positiven Möglichkeiten zu unterstützen, die in ihm angelegt sind. Sie machen den Menschen dazu fähig, die Welt zu verstehen und zu deuten und auf dieser Grundlage auch an der weiteren Entwicklung der Gesellschaft mitzuwirken. Sie unterstützen den einzelnen dabei, sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu machen und tiefere Erkenntnisse über Gott, die Welt und den Menschen zu gewinnen. Das entspricht der Würde des Menschen, der nach christlicher Überzeugung zugleich Geschöpf und Ebenbild Gottes ist, und ist für seine immer bessere Entfaltung von Nutzen. Dabei kann die Kirche nicht abseitsstehen, wenn sie ihrer eigenen Sendung nicht untreu werden will. Sie muss alle Möglichkeiten nutzen, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Beitrag zur menschlichen Bildung und Erziehung zu leisten. Darauf war sie schon in der Vergangenheit bedacht, sie ist es heute und sie wird es auch künftig sein.
Ehe und Familie Kennzeichen eines katholischen Profils in religiös pluraler Gesellschaft* Von Christoph Ohly
1. Kontextuelle Herausforderungen Ehe und Familie stehen in ihrer Geschichte bis heute in einem beachtlichen Spannungsbogen. Sind mit ihnen auf der einen Seite grundlegend religiöse, aber auch divergierende politische und kulturelle Grunddaten verbunden, sehen sie sich im aktuellen zeitgenössischen Kontext nicht wenigen substantiellen Anfragen gegenübergestellt. Diese weisen in das Innerste dieser menschlichen Wirklichkeiten hinein, wenn nicht nur gefragt wird, was eine Ehe bezeichnet und wie sich Familie konstituiert. Vielmehr kommt es dabei zu einer zumeist politisch und ideologisch motivierten Relativierung von Ehe und Familie in dem Sinn, dass Begriffe inhaltlich neu ausgefüllt und verändert formuliert werden. Dieses Vorgehen zielt darauf ab, menschliche Realitäten und Beziehungen als „Ehe“ und „Familie“ zu definieren, denen diese Charakteristik jedoch im Licht der geltenden Überzeugungen insbesondere der christlichen Tradition nicht zukommt.1 Auf Initiative von Papst Franziskus haben sich die beiden römischen Bischofssynoden in den Jahren 2014 und 2015 mit diesem aktuellen Kontext von Ehe und Familie * Der Beitrag wurde in seiner Charakteristik als Diskussionsimpuls für die Arbeitsgruppe „Ehe und Familie“ der kirchenrechtlichen Tagung „Religiöse Vielfalt – Herausforderungen für das Recht“ beibehalten und für die Druckfassung insbesondere durch die Literatur erweitert. 1 Vgl. dazu in staatlicher Perspektive Arnd Uhle, Eheschließung und Ehescheidung im staatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: HdbKathKR3, S. 1404 – 1432. Des Weiteren u. a. Andreas Weiß, Ehe, nichteheliche Lebensgemeinschaft und eingetragene Lebenspartnerschaft im säkularen staatlichen Umfeld aus kirchlicher Sicht, in: AfkKR 183 (2014), S. 447 – 459; Norman Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse. Zur verfassungsrechtlichen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen von Partnerschaft und Familie durch grundrechtliche Tatbestände, Berlin 2016; Peter Schallenberg, Die Kirche hat kein Patent auf die Ehe. Ungleichheit und Gerechtigkeit im säkularen Staat, in: HerKorr 71 (2017), S. 31 – 33; Maria Groos/Janusz Surziliewicz (Hrsg.), Kann man so lieben? Beiträge der 3. Internationalen Tagung zur Theologie des Leibes in Eichstätt, St. Ottilien 2018. Vgl. aus Sicht der systematischen Theologie Joseph Ratzinger, Zur Theologie der Ehe, in: JRGS 4, Regensburg 2014, S. 565 – 592, bes. 583 – 587; Heiner Koch, Unverbrüchliche Treue. Zur Theologie von Ehe und Familie, in: HerKorr 72 (2018), S. 20 – 24.
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auseinandergesetzt.2 So fasst die ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode 2015 in ihrer Relatio Synodi (Schlussrelatio) diese Situation wie folgt zusammen: „Wir sind uns der starken Veränderungen bewusst, die der derzeitige anthropologisch-kulturelle Umbruch in allen Bereichen des Lebens hervorruft, und bleiben fest davon überzeugt, dass die Familie ein Geschenk Gottes ist, der Ort, an dem Er die Macht seiner heilbringenden Gnade offenbart. Auch heute beruft der Herr den Mann und die Frau zur Ehe, begleitet sie in ihrem Familienleben und bietet sich ihnen als unermessliches Geschenk an. Hier geht es um eines der Zeichen der Zeit, welche die Kirche aufgerufen ist, zu erforschen und ,im Licht des Evangeliums zu deuten‘“.3
Damit werden spürbare Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext sowie im Innenleben von Ehe und Familie diagnostiziert. Diese reichen von politisch-ökonomischen Dimensionen über spezifische familiäre Krisen- und Alltagssituationen bis hin zu anthropologischen und ideologischen Auffassungen, die Ehe und Familie in ihrem traditionellen Verständnis hinterfragen. Zugleich verbindet sich mit diesem realistischen Blick auf die Wirklichkeit das Anliegen der Kirche, die Botschaft von Ehe und Familie gemäß den Heiligen Schriften und der kirchlichen Tradition auch in das Heute zu verkünden und sie im polyphonen Konzert vielfältiger Auffassungen zu bezeugen. Papst Franziskus schreibt diese Bereitschaft in seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ allen Gliedern der Kirche sozusagen in das Stammbuch ihrer Existenz: „Als Christen dürfen wir nicht darauf verzichten, uns zugunsten der Ehe zu äußern, nur um dem heutigen Empfinden nicht zu widersprechen, um in Mode zu sein oder aus Minderwertigkeitsgefühlen angesichts des moralischen und menschlichen Niedergangs. Wir würden der Welt Werte vorenthalten, die wir beisteuern können und müssen“.4
Zu dieser Situation vielfältiger Herausforderungen kommt die Tatsache hinzu, dass sich die spezifisch christliche Lehre von Ehe und Familie einem wachsenden religiösen Pluralismus innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung gegenübersieht. Das gilt für die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für andere europäische Staaten. Die Synodenväter nehmen dafür zunächst den christlichen Glauben in den Blick und stellen fest:
2 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (= Arbeitshilfen 273), Bonn 2014; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute. Texte zur Bischofssynode 2015 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (= Arbeitshilfen 276), Bonn 2015. 3 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 145 (Nr. 5). 4 Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Amoris Laetitia“ (13. 03. 2016), Rom 2016 (dt.: VApSt 204), Nr. 35. Vgl. dazu auch ders., Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“ (24. 11. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137 (dt.: VApSt 194), hier Nr. 66 – 67.
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„Der christliche Glaube ist stark und lebendig. In einigen Gegenden der Welt ist ein erheblicher Rückgang der religiösen Prägung im gesellschaftlichen Raum zu beobachten, der sich auf das Leben der Familien auswirkt. Dieser Trend geht dahin, die Dimension des Religiösen in den Bereich des Privaten und der Familie abzuschieben, und bringt die Gefahr mit sich, dass das Zeugnis und die Sendung der christlichen Familien in der heutigen Welt behindert werden.“5
Über diesen generellen Zusammenhang hinaus blicken die Bischöfe aber auch auf die Begegnung des christlichen Ehe- und Familienverständnisses mit anderen religiösen Traditionen und dies in der konkreten Wirklichkeit der religionsverschiedenen Ehen und Familien.6 Sie sind Ausdruck jenes religiösen Pluralismus, der auch und gerade den Bereich des Rechtlichen berührt. So ist es hier in Anlehnung an die Aussage von Papst Franziskus ebenfalls notwendig, das christliche (und insbesondere katholische) Profil des Ehe- und Familienverständnisses zu bezeugen, um so Gemeinsamkeiten, aber auch erkennbare Unterschiede zu benennen, die im Fall der religionsverschiedenen Ehe eines katholischen Christen mittels der Kautelen gemäß cc. 1125 und 1129 CIC zugleich eine kirchenrechtliche Relevanz erhalten. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden charakteristische Grundlagen des katholischen Ehe- und Familienverständnisses für die religiös plurale Begegnung aufgewiesen und in den Zusammenhang mit den rechtlichen Bestimmungen zur religionsverschiedenen Ehe gestellt werden.
2. Leitlinien des christlich-katholischen Verständnisses von Ehe und Familie Der zentrale Grundgedanke des biblischen Verständnisses von Ehe und Familie liegt in der Überzeugung begründet, „dass das Evangelium der Familie mit der Schöpfung des Menschen nach dem Bild Gottes beginnt, der die Liebe ist und der Mann und Frau, ihm ähnlich zur Liebe beruft“7. Die Erschaffung des Menschen durch den Schöpfer und seine komplementäre und gleichwürdige Zuordnung als Mann und Frau zueinander bilden somit das Fundament für das Verständnis dessen, was die Ehe und die daraus entstehende Familie trotz aller Grenzen und Sünden des Menschen von ihrem Ursprung und Wesen her ist. Die Ehe von Mann und Frau ist von Gott in die Schöpfung
5
Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 146 (Nr. 6). Siehe dazu auch Franziskus, Amoris Laetitia (Anm. 4), Nr. 43. 6 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 213 – 215 (Nr. 74 – 75). 7 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 174 (Nr. 35).
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selbst eingestiftet und kennzeichnet daher die kleinste Zelle gemeinsamen menschlichen Lebens, die so zur Urzelle jeder Gesellschaft wird.8
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Dieses biblische Grunddatum formuliert zunächst ein erstes wichtiges anthropologisches Bekenntnis. Mann und Frau kommt aufgrund ihres Geschaffenseins durch Gott die gleiche Würde als individuelle Geschöpfe zu. Sie sind zugleich so aufeinander bezogen, dass sie in ihrer Komplementarität befähigt sind, die Liebe Gottes zu den Menschen auf eine quasi-sakramentale Weise auszudrücken. Die mittelalterliche Theologie spricht in diesem Zusammenhang vom „Schöpfungssakrament“ als Grundwirklichkeit des schaffenden Handelns Gottes. Der italienische Theologe Angelo Tosato hat hierfür auf ein beeindruckendes jüdisches Buchstabenspiel verwiesen, welches diese Glaubenswirklichkeit noch einmal deutlicher werden lässt.9 In den hebräischen Begriffen für „Mann“ (M1=4%; ¯ısˇ) und „Frau“ (8M4; ischâh) befinden sich jeweils die beiden Buchstaben, die zusammen das Wort „Feuer“ (M4;‘sˇ) ergeben. Beide Wörter besitzen aber zugleich einen Buchstaben, der sich im jeweils anderen nicht findet. Fügt man diese beiden zusammen, entsteht die Abkürzung für den Gottesnamen Jahwe (898=). Das heißt übersetzt: Wo Mann und Frau miteinander verbunden sind und sich gegenseitig schenken und ergänzen, da ist Gott gegenwärtig. Wo sie sich hingegen voneinander abwenden und egozentriert für sich bleiben, da ist Feuer, da ist Zerstörung. In den hebräischen Wörtern von „Mann“ und „Frau“ steckt folglich tief verborgen die Wirklichkeit des Bundes, in dem und durch den Gottes Bund mit den Menschen sichtbar wird. Deshalb spricht der katholische Glaube von der „Heiligkeit“ des ehelichen Bundes, weil er nicht allein ein Werk zweier Menschen ist, sondern Gott in ihm gegenwärtig sein will: „Wo zwei Menschen sich einander geben und miteinander Kindern das Leben schenken, ist auch das Heilige, das Mysterium des Menschseins berührt […] Deswegen ist das Miteinander von Mann und Frau auch ins Religiöse, ins Heilige, in die Verantwortung vor Gott hineingehalten“.10 Aus diesem Grund ist es gemäß katholischem Verständnis nicht möglich, eine gleichgeschlechtliche Beziehung mit dem Begriff und der Wirklichkeit „Ehe“ gleichzusetzen. Allen gesetzgeberischen Maßnahmen, die in der jüngeren Vergangenheit unter dem Schlagwort „Ehe für alle“ gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit der Ehe als dauerhafte Lebenspartnerschaft eines Mannes und einer Frau rechtlich gleichgesetzt haben, erteilt der katholische Glaube aus dem biblischen Grundverständnis der Ehe heraus eine eindeutige Absage, nicht ohne aber auf die einschlägigen Aussagen des Katechismus der Katholischen Kirche zur Homosexualität zu verweisen. Danach ist homosexuellen Menschen „mit Ach8 Vgl. dazu Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres (27. 01. 2007), in: AAS 99 (2007), S. 86 – 91, bes. 88 f. 9 Zitiert nach Joseph Kardinal Ratzinger, Wer in der Liebe bleibt. Ein Wort über die Ehe. Hirtenbrief zur Fastenzeit 1980, in: JRGS 4, Regensburg 2014, S. 650 – 659, hier 652, mit Verweis auf Angelo Tosato, Il matrimonio israelitico. Una teoria generale, Roma 1982, S. 51 – 80, hier 58. 10 Joseph Kardinal Ratzinger, Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, in: JRGS 13/2, Regensburg 2016, S. 810.
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tung, Mitleid und Takt zu begegnen“ und eine Weise des Umgangs zu vermeiden, „sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen“, da auch sie berufen sind, „in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen und, wenn sie Christen sind, die Schwierigkeiten, die ihnen aus ihrer Veranlagung erwachsen können, mit dem Kreuzesopfer des Herrn zu vereinen“.11 Mit der biblischen Sichtweise der Ehe verbindet sich noch eine zweite entscheidende Glaubenserkenntnis. Mann und Frau werden als solche und durch ihre Zuordnung zueinander in der Ehe zu Mitarbeitern an der Schöpfung Gottes autorisiert: „Seid fruchtbar und vermehret euch“ (Gen 1,28). Damit wird ihre Verbindung unter den Anspruch der Unauflöslichkeit gestellt, die Kennzeichen der liebenden Hinwendung Gottes zu seiner Schöpfung und zum Menschen als seinem Geschöpf ist und in der ehelichen und familiären Verbindung sichtbar und fruchtbar wird. So heißt es im Schöpfungsbericht der Genesis: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch“ (Gen 2,24). Die Bischofssynode 2015 betont deshalb ausdrücklich: „Diese Grundlage ehelicher Erfahrung wird in der Ausdrucksform gegenseitiger Zugehörigkeit hervorgehoben, die sich im Liebesbekenntnis findet, das die Frau im Hohenlied der Liebe spricht. Die dort gebrauchte formelartige Formulierung zeichnet die Bundesformel zwischen Gott und seinem Volk nach […]: ,Der Geliebte ist mein und ich bin sein […] Meinem Geliebten gehöre ich und mir gehört der Geliebte‘“.12
Zwar hat die Vereinigung von Mann und Frau in der „historischen Gestalt der Ehe“ verschiedene Veränderungen erfahren: „zwischen Monogamie und Polygamie, zwischen Stabilität und Ehescheidung, zwischen gegenseitiger Ergänzung und Unterordnung der Frau unter den Mann.“13 Doch insbesondere die Wiedereinsetzung in den ursprünglichen Zustand durch die Worte Jesu im Evangelium (vgl. Mk 10,2 – 9) machen die originäre Bedeutung der ehelichen Verbindung und der familiären Gemeinschaft wieder ersichtlich. Ehe und Familie sind von daher „Geschenk an die Menschen.“14 In dieser christlichen Perspektive wird erkennbar, „warum allein die Ehe der menschlich rechtmäßige Ort für diese innige Vereinigung zweier Menschen ist; zugleich wird verständlich, warum die Ehe bereits bei den Römern als res sacra gilt,
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Vgl. KKK 2357 – 2359, hier KKK 2358. Auch Franziskus, Amoris Laetitia (Anm. 4), Nr. 250 – 251. Dazu Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben Homosexualitatis problema über die Seelsorge für homosexuelle Personen (01. 10. 1986), in: AAS 79 (1987), S. 543 – 554; dies., Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften (03. 06. 2003), in: AAS 96 (2004), S. 41 – 49 (dt.: VApSt 162); Siehe auch Axel Frhr. von Campenhausen, Option gegen das Grundgesetz. Warum die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare verfassungsrechtlich problematisch ist, in: Zeitzeichen 18 (2017), S. 14 ff. 12 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 178 (Nr. 39). 13 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 179 (Nr. 40). 14 Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 180 (Nr. 40).
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die mit Gott zu tun hat“.15 Die kirchliche Dogmenentwicklung und Gesetzgebung16 hat diese biblischen Umstände sehr früh in die Auffassung von Einheit (ein Mann und eine Frau) und Unauflöslichkeit (unlösbarer, gottgegebener Bund) als Wesenseigenschaften der Ehe überführt und ihnen zugleich das Wohl der Ehegatten und die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft als deren konstitutive Ziele zugesellt.17 Durch die Inkarnation des Sohnes Gottes kommt der Ehe auch eine darüber hinausgehende Dimension in der Erlösungsordnung zu, die jedoch bereits in der Schöpfungsordnung, wenn auch verborgen, vorgegeben ist. Joseph Ratzinger bringt diese schöpfungstheologische Vorgegebenheit mit dem Blick auf die Sakramentalität der Ehe in das Bild des „Wasserzeichens“, um die Charakteristik des „von Anfang an“ und „auf Christus hin“ herauszustellen: „Gott hat von der Schöpfung her den Menschen als Wesen der Liebe gemeint. Er hat Mann und Frau füreinander geschaffen, damit sie als Liebende einander und darin sich selbst finden […] Das will also sagen: Die Gemeinschaft von Mann und Frau ist nicht bloß etwas Biologisches; sie ist auch nicht etwas bloß Rechtliches und Äußerliches, das die Menschen einmal vereinbart haben und je nach Umständen auch wieder verändern könnten. Sie ist von der Schöpfung selbst vorgezeichnet und die Schöpfung wiederum trägt gleichsam von Anfang an das Wasserzeichen Jesu Christi in sich. Die tiefsten Dinge der Schöpfung, in denen der Urwille des Schöpfers erkennbar wird, die haben auch mit Christus zu tun.“18
Warum aber hat die Ehe etwas mit Jesus Christus zu tun? Weil Christus in den Evangelien an diesen Anfang zurückkehrt und die Ehe in seiner neuen Schöpfung der Auferstehung zu ihrer endgültigen Gestalt führt. So sagt er den Pharisäern bezüglich ihrer Scheidungspraxis: „Am Anfang war das nicht so“. Vielmehr sind Frau und Mann in der Ehe eins geworden: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen!“ (vgl. Mt 19,3 – 9). Die Ehe zweier Getauften, die in der Taufe mit Christus verbunden und in seine Kirche eingegliedert wurden, spiegelt seither nicht nur den Bund Gottes mit den Menschen in der Schöpfung wider, sondern dieses „Wasserzeichen“ findet seine Erfüllung im Bund Christi mit seiner Kirche.19 Jede Ehe unter Getauften ist daher und gemäß c. 1055 § 1 CIC (anders ausgerichtet in c. 776 § 2 CCEO) „Sakrament“. In dieser Sichtweise des Glaubens stimmt die Katholische Kirche mit allen nichtkatholischen orientalischen Kirchen, nicht jedoch mit
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Nikolaus Schöch, Die Ehe in der kirchlichen Rechtsordnung, in: HdbKathKR3, S. 1243 – 1267, hier 1243 – 1244. 16 Vgl. dazu cc. 1055 – 1061 CIC und cc. 776 – 782 CCEO. 17 Vgl. Schöch, Ehe (Anm. 15), S. 1245 – 1249 (Lit.!). 18 Joseph Kardinal Ratzinger, Wer in der Liebe bleibt. Ein Wort über die Ehe. Hirtenbrief zur Fastenzeit 1980, in: JRGS 4, Regensburg 2014, S. 650 – 659, hier 651. 19 Vgl. dazu Eph 5,31 – 33, GS 48.4 und SC 5.2, ebenso Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ (22. 11. 1981), in: AAS 74 (1982), S. 81 – 191, Nr. 13 sowie Franziskus, Amoris laetitia (Anm. 4), Nr. 61 – 66 und 71 – 75, mit bes. Bezug auf die Familie siehe Nr. 67 – 70.
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den kirchlichen Gemeinschaften der Reformation überein.20 Allerdings ergeben sich an dieser Stelle zwei rechtliche Probleme, die auch den ökumenischen Bereich des kirchlichen Eherechts betreffen und in der Kanonistik regelmäßig diskutiert werden. Zum einen steht die Frage nach dem Spender des Ehesakraments im Mittelpunkt. Während in der lateinischen Tradition sich die Nupturienten aufgrund der empfangenen Taufe das Sakrament der Ehe im und durch den Konsensaustausch spenden (cc. 1055 und 1057 CIC) und der Priester bzw. Diakon in seiner assistierenden Funktion charakterisiert wird (cc. 1108 ff. CIC), kommt im orientalischen Verständnis des ritus sacer dem Priester eine heilsvermittelnde Aufgabe zu, die er in der und durch die Repräsentation Gottes und seiner Kirche wahrnimmt (c. 828 CCEO). Er ist Spender des Sakraments, das auf dem Konsens der Brautleute gründet.21 Zum anderen wird das Prinzip der realen Identität von Ehe (und Vertrag) und Sakrament durch die stärkere Beachtung der Glaubensperspektive angezweifelt: „Genügt allein die Taufe der Partner für den gültigen Empfang des Ehesakramentes oder ist auch ein lebendiger Glaube erforderlich?“22 Papst Benedikt XVI. hat auf die Problematik „Glaube und Sakrament“ des Öfteren verwiesen, dabei zugleich aber die Schwierigkeit der Bemessung eines bestimmten Grades existentiellen Glaubens benannt.23 Diese bisher nicht ins Letzte gelöste Frage wird die Kanonistik auch auf Zukunft hin beschäftigen.24 Dazu gehört auch die weitreichende Problematik um das Thema einer zivilrechtlichen Scheidung und Wiederheirat, die an dieser Stelle jedoch nur benannt, wegen der inhaltlichen Struktur des Beitrags aber nicht entfaltet werden kann. Dies muss in einem anderen Zusammenhang geschehen.25 20 Vgl. Tadeusz Kaluzny, Indissolubility of Marriage from the Lutheran Perspective, in: Ecumeny and law 1 (2013), S. 19 – 30; Traugott Koch, Das evangelische Eheverständnis nach Luther und in der Gegenwart, in: Franz Böckle/Karl-Theodor Geringer u. a. (Hrsg.), Die konfessionsverschiedene Ehe. Problem für Millionen – Herausforderung für die Ökumene, Regensburg 1988, S. 49 – 65. 21 Siehe dazu Cyril Vasil, Der ritus sacer und die priesterliche Segnung – Elemente der Form der Feier der Eheschließung gemäß c. 828 CCEO: interekklesiale und ökumenische Implikationen, in: DPM 12 (2005), S. 49 – 67; Péter Szabó, Matrimoni miste ed ecumenico. Prospettive del riconoscimento ortodosso matrimoni misti con speciale riguardo al caso della celebrazione cattolica, in: Folia Athanasia 3 (2001), S. 95 – 120. Siehe dazu auch Franziskus, Amoris laetitia (Anm. 4), Nr. 75. 22 Schöch, Ehe (Anm. 15), S. 1256. 23 Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres (26. 01. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 168 – 172 (dt.: AfkKR 182 [2013], S. 211 – 214). Ebenso Papst Franziskus, Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota zur Eröffnung des Gerichtsjahres (23. 01. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 182 – 185 (dt.: AfkKR 184 [2015], S. 159 – 162). 24 Siehe Christoph Ohly, Ehe – Sakrament – Glaube. Eine postsynodale Bestandsaufnahme, in: DPM 23 (2016), S. 179 – 199. 25 Als Verweise sollen lediglich dienen: Johannes Paul II., Familiaris consortio (Anm. 18), Nr. 84; Franziskus, Amoris laetitia (Anm. 4), Nr. 291 – 312. Dazu Schöch, Ehe (Anm. 15), S. 1258 – 1260 (Lit.); Robert Dodaro (Hrsg.), „In der Wahrheit bleiben“. Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche, Würzburg 22014; Andreas Wollbold, Pastoral mit wiederverhei-
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3. Kirchenrechtliche Einordnung der religionsverschiedenen Ehe a) Divergierende Verständnisse Durch die religiöse Pluralisierung der Gesellschaft begegnet das katholische Eheverständnis in steigendem Maße auch anderen religiösen Vorstellungen von Ehe und Familie. Religionsverschiedene Ehen werden dadurch häufiger. Die Bischofssynode 2015 ist davon überzeugt, dass diese „einen bevorzugten Ort für den interreligiösen Dialog im alltäglichen Leben“ darstellen und „ein Zeichen der Hoffnung für die Glaubensgemeinschaften sein“ können, „vor allem dort, wo es Spannungssituationen gibt“.26 Die Bischöfe sehen das darin begründet, dass die Ehepartner „die jeweiligen geistlichen Erfahrungen“ zu teilen oder „gemeinsam einen Weg der Glaubenssuche“ zu gehen vermögen. Dennoch birgt die eheliche Verbindung zwischen einem katholischen Christen und einem Nichtchristen zugleich ein unbestreitbares Konfliktpotential.27 Denn das katholische Ehe- und Familienverständnis weist zweifelsohne, wenn auch in divergierendem Maße, Unterschiede beispielsweise zur Ehe im Judentum und im Islam auf. So berühren sich das katholische und jüdische Eheverständnis insofern spürbar, als beiden die schöpfungstheologischen Aussagen des Buches Genesis zur Ehe eigen sind (z. B. Gen 1,27; 2,24), zugleich aber in ihren Reichweiten auf verschiedene Weise ausgelegt werden.28 Die Ehe gilt im Judentum als heiliges Gebot, vor allem durch entsprechende Nachkommenschaft den Fortbestand des eigenen Volkes und Glaubens zu sichern. In dieser Perspektive gewinnen die biblischen Aussagen den Charakter eines heiligen Auftrags an den Menschen, der folglich unvollkommen bleibt, wenn er der göttlichen Weisung nicht nachkommt. Die Eheschließung (Kidduschin) ist die vom Schöpfer her kommende Bestimmung des Menschen, da sich in der Ehe das Leben als Gabe und Weisung Gottes erfüllt. Die Ehe und ihr Zustandekommen rateten Geschiedenen. Gordischer Knoten oder ungeahnte Möglichkeiten?, Regensburg 2015. Als Auswahl zu „Amoris laetita“: Heiner Koch, Amoris Laetitia, in: StdZ 234 (2016), S. 363 – 373; Gerhard Ludwig Müller, Was dürfen wir von der Familie erwarten? Eine Kultur der Hoffnung für die Familie ausgehend vom Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris Laetitia, in: Die Tagespost, Nr. 54, 07. 05. 2016, S. 6 – 8; ders., Barrieren abbauen, in: HerKorr 70 (2016), S. 17 – 22; Walter Kasper, „Amoris laetitia“. Bruch oder Aufbruch? Eine Nachlese, in: StdZ 234 (2016), S. 723 – 732; Josef Seifert, „Amoris laetitia“ („Die Freude der Liebe“). Freuden, Betrübnisse und Hoffnungen, in: Theologisches 46 (2016), S. 417 – 444. Dazu die Diskussion um das Dubia-Schreiben der Kardinäle Brandmüller, Burke, Caffara und Meisner an Papst Franziskus, abgedruckt in: Die Tagespost, Nr. 137, 17. 11. 2016, S. 5; Papst Franziskus, Epistula Apostolica (05. 09. 2016), in: AAS 108 (2016), S. 1071 – 1072 als Reaktion auf das Dokument der Bischöfe der Pastoralregion Buenos Aires zur Auslegung von „Amoris laetitia“ (05. 09. 2016), in: AAS 108 (2016), S. 1072 – 1074. 26 Hier und im Folgenden Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 213 (Nr. 73). 27 Vgl. Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 214 (Nr. 74). 28 Vgl. eingehend Walter Homolka, Das Jüdische Eherecht, Berlin 2009.
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gelten dem Judentum als heiliges Ereignis, das mittels der traditionellen jüdischen Hochzeitsfeier durch die Verlobung (Erussin), den Ehevertrag (Ketubba) und die Eheschließung (Nissuin) begründet wird. Die Familie bildet daher den geschützten Raum menschlicher Begegnung zwischen den Eheleuten ebenso wie zwischen den Generationen. Zugleich kennt das jüdische Eherecht aber auch die Institution der Ehescheidung (Geruschin), auch wenn diese als Verstoß gegen den heiligen Vertrag der Ehe letztlich missbilligt wird. Sie gilt daher als Zugeständnis, wenn eine Ehe unglücklich verläuft und die Ehepartner auseinandergehen. Ihr Verfahren wird als kompliziert beschrieben. Das islamische Eherecht weist hingegen stärkere, bisweilen fundamentale Unterschiede zum katholischen Verständnis auf.29 Danach entspricht die eheliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau zwar der göttlichen Schöpfungsordnung,30 die von Liebe und Barmherzigkeit erfüllt sein soll.31 Entgegen der Vorstellung personaler Gleichheit gemäß c. 1135 CIC besitzt der Mann jedoch in Ehe, Familie und Gesellschaft einen Vorrang gegenüber der Frau, der mit seiner Vollmacht und Verantwortung begründet wird (Zahlung der Morgengabe, Sicherung des Lebensunterhalts, Schutz und Vertretung ihrer Belange, Schutz ihrer Würde)32 und sich vornehmlich in drei Bestimmungen konkretisiert, die dem katholischen Eheverständnis entgegenstehen. Danach ist es dem Muslim erlaubt, eine Frau, die dem Judentum und Christentum angehört, zu heiraten, nicht jedoch eine heidnische Frau.33 Zudem besitzt der Muslim das Recht, bis zu vier Frauen gleichzeitig zu haben (Polygynie)34, bzw. sukzessive oder simultane Mehrehen einzugehen (Polygamie), allerdings unter der Voraussetzung, die 29 Vgl. dazu ausführlich Elke Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslimen. Eine religionsrechtliche Vergleichsstudie (KB 11), Berlin/Wien 2005; Elisabeth Kandler-Mayr, Rechtliche Fragen im Zusammenhang der Eheschließung zwischen Muslimen und Katholiken – Aus der Praxis des Kirchengerichts, in: AfkKR 174 (2005), S. 50 – 74; Christoph Ohly, Die Eheschließung zwischen Katholiken und Muslimen. Kirchenrechtliche Erwägungen zu einem aktuellen Problem, in: Michael Schulz/Rudolf Voderholzer/Christian Schaller (Hrsg.), Mittler und Befreier. Zur christologischen Dimension der Theologie. FS Gerhard Ludwig Müller (60), Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 549 – 564; Martin Ötker/Stephan Leimgruber, Christlich-islamische Ehen – Ja oder Nein?, in: Ludger Müller/Wilhelm Rees (Hrsg.), Geist – Kirche – Recht. FS Libero Gerosa (65) (= KStT 62), Berlin 2014, S. 368 – 390. Für die seelsorgliche Praxis hilfreich: Erzbischöfliches Generalvikariat Köln – Hauptabteilung Seelsorge (Hrsg.), Katholisch-islamische Ehen. Eine Handreichung, Köln 32006. 30 Vgl. Sure 16,72 (gemäß Der Koran. Arabisch-Deutsch, Übers. und komm. v. A. Th. Khoury, Berlin/New York 2004): „Und Gott hat euch aus euch selbst Gattinnen gemacht und von euren Gattinnen Söhne und Enkel gemacht. Und Er hat euch (einiges) von den köstlichen Dingen beschert.“ 31 Vgl. Sure 30,21: „Und es gehört zu seinen Zeichen, dass Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet. Und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gemacht.“ 32 Vgl. Sure 4,35, auch Sure 24,31. 33 Vgl. Sure 5,6 und Sure 60,10. Der Muslimin ist eine solche Ehe ausnahmslos verboten, es sei denn, der christliche Ehemann tritt zum Islam über. 34 Vgl. Sure 4,4. In wenigen islamisch geprägten Ländern (z. B. Türkei) ist die Mehrehe jedoch gesetzlich verboten. Vgl. Kandler-Mayr, Rechtliche Fragen (Anm. 28), S. 54 – 62.
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Frauen finanziell und von der inneren Zuwendung her gleich zu behandeln. Schließlich kommt dem Muslim das Recht zu, die Scheidung aufgrund einschlägiger Tatbestände wie Glaubensabfall, aufgrund beiderseitigem Einvernehmen oder auch einseitig vorzunehmen.35 Im letzteren Fall ist die Ehe unwiderruflich geschieden, wenn der Ehemann die Entlassung innerhalb von drei Monaten dreimal ausgesprochen hat. Das damit verbundene Verständnis steht trotz der Kennzeichnung der Ehe als einer heiligen und von Gott gewollten Realität im Widerspruch zu den Wesenseigenschaften der Einheit und Unauflöslichkeit sowie zu den konstitutiven Kriterien der Freiheit und gleichen Würde von Frau und Mann in der ehelichen Verbindung.
b) Ziel des Ehehindernisses der Religionsverschiedenheit Da es zwischen den Religionen im Blick auf Ehe und Familie unterschiedliche Überzeugungen oder Schwerpunktsetzungen gibt (z. B. Stellung der Frau, Erziehung der Kinder, religiöse Identität der Familie) kennt das kirchliche Eherecht das Ehehindernis der sog. Kultus- oder Religionsverschiedenheit (disparitas cultus). Worauf zielt das Ehehindernis ab?36 Nach c. 1086 CIC (c. 803 CCEO) ist eine Ehe zwischen zwei Personen, von denen eine in der katholischen Kirche getauft oder in sie aufgenommen wurde, die andere aber ungetauft ist, ungültig. Ziel dieses das Recht zur Ehe zunächst einschränkende Hindernis ist es, den katholischen Christen an seine kraft göttlichen Rechts bestehende Pflicht zu erinnern, den einmal angenommenen Glauben gemäß c. 748 § 1 CIC zu bewahren und folglich seine Gefährdung zu vermeiden. Das betrifft nicht nur, jedoch in maßgeblicher Weise das Verständnis von Ehe und Familie. Der katholische Christ wird damit an die schöpfungs- und erlösungstheologischen Grundlinien des Ehesakraments erinnert, dessen Gnaden er in der Naturehe mit einem Nichtchristen entbehren muss, solange dieser sich nicht zum christlichen Glauben bekehrt und sich taufen lässt. Diese sakramentale Gestalt der Ehe realisiert sich nach kirchlicher Lehre nur zwischen zwei Menschen, die durch die Taufe mit Christus so verbunden wurden, dass für sie das paulinische Wort gilt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Die Christusgestaltung durch die Taufe ist daher indispensable Voraussetzung dafür, im Sakrament der Ehe die Verbindung Christi zur Kirche sakramental zu vergegenwärtigen. 35
Vgl. Sure 2,227 und 2,229. Vgl. Susanne Ganster, Religionsverschiedenheit als Ehehindernis. Eine rechtshistorische und kirchenrechtliche Untersuchung (= KStKR 16), Paderborn 2013; Alfred E. Hierold, Eheschließungen zwischen Katholiken und Ungetauften als pastorales und kirchenrechtliches Problem, in: DPM 8 (2001), S. 33 – 45; Norbert Lüdecke, Die rechtliche Ehefähigkeit und die Ehehindernisse, in: HdbKathKR3, S. 1282 – 1314, hier 1302 – 1305; Silvio Ferrari, Le mariage des autres. Le mariage entre personnes relevant des systèmes hébraïque, islamique et canonique, in: RDC 55/1 (2005), S. 7 – 35; Péter Erdo˝ , Legislazione nel diritto canonico. Un esempio per le radici ebraiche: l’impedimento della disparità di culto, in: PRC 96/3 – 4 (2007), S. 377 – 400. 36
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Mit dem Ehehindernis der Religionsverschiedenheit soll zugleich die Stabilität der ehelichen Gemeinschaft als ganzer gestützt werden. Das bedeutet: Das Hindernis appelliert an die Notwendigkeit einer gemeinsamen Gesinnung der Liebe und Treue zueinander, die hier nicht durch eine gemeinsame religiöse (spezifisch christliche) Überzeugung im Blick auf Ehe und Familie fundiert wird. Ihr vollkommenes Fehlen kann zu einer schweren Belastung des ehelichen und familiären Lebens führen. Darin begründet sich die Legitimität des Ehehindernisses, das vor seiner Aufhebung in Form der Dispens an diese Grundlinien erinnert. Das Ehehindernis dient folglich der Identitätssicherung des katholischen Christen sowie der kirchlichen Gemeinschaft in einer religiös und säkular pluralen Gesellschaft. Gemäß c. 1086 § 2 CIC (c. 803 § 3 CCEO) darf der Ortsordinarius von dem Hindernis nur dann dispensieren, wenn ein gerechter und vernünftiger Grund dafür vorliegt und gemäß c. 1129 CIC – in Analogie zur konfessionsverschiedenen Ehe nach c. 1125 CIC – die Bedingungen erfüllt sind, die für die religionsverschiedene Eheschließung vorausgesetzt werden (Kautelen). Sie bestehen darin, dass der katholische Partner sich bereit erklärt, in seiner Ehe den katholischen Glauben zu leben, und aufrichtig verspricht, das in seinen Kräften Stehende für die Taufe und Erziehung aller Kinder in der katholischen Kirche zu tun, soweit das in seiner konkreten Ehe möglich ist. Aus Achtung vor der Religionsfreiheit des nichtchristlichen Ehepartners, die gemäß Art. 4 GG zugleich Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit umgreift, ist bei den Kautelen des katholischen Partners lediglich sicherzustellen, dass er um das Versprechen und die Verpflichtung des katholischen Partners weiß.37 Liegen diese Bedingungen als erfüllt vor, kann die Dispens erteilt werden, ebenso die Dispens von der formalen Verpflichtung, gemäß katholischem Ritus zu heiraten (c. 1129 i. V. m. cc. 1127 und 1128 CIC). Eine Eheschließung ist folglich sowohl nur zivilrechtlich als auch religiös, d. h. entweder nach katholischem Ritus (eigene Trauungsform im Rituale) oder dem entsprechenden nichtchristlichen Ritus möglich. Eine religiöse Doppeltrauung verbietet der Gesetzgeber gemäß der Norm in c. 1127 § 3 CIC. In diesem Zusammenhang sind die Worte der Bischofssynode 2015 als ausgewogen zu beurteilen, gleichwohl sie die Gefahr einer religionsverschiedenen Eheschließung betonen. Dazu heißt es im Schlussdokument:
37 Die Österreichische Bischofskonferenz hat jedoch im Bewusstsein alltäglicher Schwierigkeiten dieses Erfordernis konkretisiert und zum Versprechen des katholischen Partners folgende Erklärung des ungetauften Partners hinzugefügt: „Ich werde meinem katholischen Ehepartner in seiner Religionsausübung volle Freiheit lassen. Der katholischen Taufe und der katholischen Erziehung der aus unserer Ehe hervorgehenden Kinder werde ich nichts in den Weg legen“. Unterzeichnet dieser die Erklärung nicht, so soll festgestellt werden: „Der ungetaufte Partner ist von der Gewissenspflicht und dem Versprechen des katholischen Partners unterrichtet. Er unterzeichnet das Versprechen nicht aus folgenden Gründen: …“ Siehe dazu Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über die rechtliche Ordnung religionsverschiedener Eheschließungen nach dem neuen kirchlichen Gesetzbuch (can. 1086 und can. 1129), in: Abl. ÖBK, 2/1984, S. 16 – 18, Nr. 26.
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„Religionsverschiedene Ehen bringen einige besondere Schwierigkeiten mit sich, sowohl im Hinblick auf die christliche Identität der Familie, als auch auf die religiöse Erziehung der Kinder. Die Eheleute sind berufen, das anfängliche Gefühl der Anziehung immer mehr in den aufrichtigen Wunsch nach dem Wohl des anderen zu verwandeln. Diese Öffnung verwandelt auch die unterschiedliche Religionszugehörigkeit in eine Gelegenheit, die geistliche Qualität der Beziehung zu bereichern. Die sowohl in den Missionsgebieten als auch in Ländern mit langer christlicher Tradition steigende Zahl von Familien, denen eine religionsverschiedene Ehe zu Grunde liegt, verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, für eine den verschiedenen sozialen und kulturellen Zusammenhängen entsprechende differenzierte Seelsorge zu sorgen. In einigen Ländern, in denen keine Religionsfreiheit herrscht, ist der christliche Ehepartner verpflichtet, zu einer anderen Religion überzutreten, um heiraten zu können, und kann weder mit Dispens eine kirchliche Trauung feiern, noch die Kinder taufen lassen. Wir müssen daher die Notwendigkeit bekräftigen, dass die Religionsfreiheit allen gegenüber respektiert wird“.38
4. Pastorale Erfordernisse Im Bewusstsein, dass die rechtlichen Bestimmungen zur religionsverschiedenen Ehe nur einen Teil der Problematik erfassen, verpflichten sich die Bischöfe zu einer entsprechenden Seelsorge gegenüber den Ehepartnern und Familien: „Die interkonfessionellen und religionsverschiedenen Ehen bringen Aspekte fruchtbarer Möglichkeiten und verschiedene kritische Aspekte mit sich, die nicht einfach gelöst werden können – was mehr für die pastorale als für die normative Ebene gilt -, wie die Problematik der religiösen Kindererziehung, die Teilnahme des Ehepartners am liturgischen Leben, das Teilen geistlicher Erfahrungen. Um die Verschiedenheit hinsichtlich des Glaubens konstruktiv angehen zu können, ist es daher erforderlich, den Menschen, die sich in solchen Ehen verbinden, nicht nur in der Zeit vor der Eheschließung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Besonderen Herausforderungen sehen sich die Ehepaare und Familien gegenüber, in denen ein Partner katholisch und der andere nicht gläubig ist. In solchen Fällen ist es notwendig, zu bezeugen, dass das Evangelium sich auf diese Situationen einlassen kann, um die Erziehung der Kinder zum christlichen Glauben zu ermöglichen“.39
Worin muss diese Pastoral für religionsverschiedene Ehen heute im Besonderen liegen? Neben den spezifisch kirchenrechtlichen, liturgischen und geistlichen Elementen sollen im vorliegenden Zusammenhang vor allem die folgenden Notwendigkeiten benannt werden. Die unterschiedlichen Auffassungen von Ehe und Familie sowie die Erfahrungen mit religionsverschiedenen Ehen lassen die Bedeutung einer indispensablen Ehevor-
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Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 214 (Nr. 73). Bischofssynode 2015, Berufung und Sendung der Familie (Anm. 2), S. 214 – 215 (Nr. 74). 39
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bereitung gemäß cc. 1063 – 1072 CIC (cc. 783 – 789 CCEO) deutlich werden.40 Die Mehrdimensionalität der Vorbereitung (anthropologisch, geistlich, katechetisch, kirchenrechtlich) dient in ihrer Breite einer verantwortlichen Entscheidung, die auf der Unterscheidung fußt. Zugleich stellt sie die unabdingbare Voraussetzung für die Gewährung der Dispens vom Ehehindernis der Religionsverschiedenheit bei Erfüllung der Bedingungen gemäß c. 1125 CIC (c. 814 CCEO) dar. Dazu bedarf es einer intensiven und lang- wie mittelfristigen katechetischen Unterweisung, auf die der katholische Christ generell angewiesen ist und auf die er nach c. 217 CIC (c. 20 CCEO) einen fundamentalen Rechtsanspruch besitzt. Vornehmlich kommt ihm dieses Recht jedoch in seiner Situation als künftiger katholischer Ehepartner einer religionsverschiedenen Ehe zu. Dabei sollte die Katechese zur eigenen kirchlichen Existenz als getaufter und gefirmter Christ ebenso im Mittelpunkt stehen wie die Hinführung zum katholischen Verständnis von Ehe und Familie, um so zu einer tragfähigen Entscheidung bezüglich des eigenen Bekenntnisses und der Verpflichtung zu gelangen, den Glauben durch Taufe und Erziehung an die Kinder weiterzugeben. Ebenso unersetzbar erscheint die Notwendigkeit einer gegenseitigen religiösen Kenntnis und Unterrichtung, um das jeweilige Ehe- und Familienverständnis kennenzulernen. Dabei muss der katholische Partner, vornehmlich die katholische Braut, auf die Schwierigkeiten hingewiesen werden, die sich mit Blick auf das Eheverständnis und die Religionsausübung aus einer religionsverschiedenen Ehe, insbesondere mit einem Muslim, ergeben. Dadurch soll das für die Entscheidung grundlegende erkennende Bewusstsein gefördert werden, dass das sakramentale Verständnis der Ehe als lebenslanger, ausschließlicher Beziehung eines Mannes und einer Frau anderen religiösen Konzepten teilweise oder oft gänzlich entgegensteht. Insbesondere die Katholikin wird bedenken müssen, dass eine wahre Gleichheit in der Würde der Ehepartner nach islamischem Recht nicht gegeben ist. Die Folgen davon können sich im alltäglichen Familienleben sowie in möglichen Konfliktsituationen als erschwerend erweisen. Daher ist zu empfehlen, vor der Eheschließung einen notariellen Vertrag mit Vereinbarungen zur Religionsausübung, eigenen Berufsarbeit, Beteiligung an Entscheidungen in Familienfragen und Kindererziehung zu erstellen. Insbesondere die Frage der Kindererziehung ist darin zweifelsfrei zu klären. Zugleich gilt es zu beachten, dass der Vertrag keine Einschränkungen bezüglich der Wesenseigenschaften und der Ziele der Ehe beinhalten darf, da diese die Eheschließung verungültigen würden. Genauso wichtig wie die vorausgehende Vorbereitung der Partner einer religionsverschiedenen Ehe ist deren seelsorgliche Begleitung während der Ehe. Gemäß c. 1128 CIC (c. 816 CCEO) muss dafür gesorgt werden, dass katholische Ehegatten zusammen mit ihren nichtchristlichen Ehepartnern sowie mit ihren Kindern geistliche Hilfe erfahren. Diese kann in der Unterstützung des Ehe- und Familienlebens 40 Vgl. dazu insgesamt Christoph Ohly, Die Ehevorbereitung. Anmerkungen im Anschluss an „Amoris Laetitia“, in: Matthias Pulte/Thomas A. Weitz (Hrsg.), Veritas vos liberabit. FS Günter Assenmacher (65) (= KStKR 27), Paderborn 2017, S. 525 – 544.
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ebenso wie in der Hilfestellung für die religiöse Gestaltung des gemeinsamen Lebens liegen. In diesem Zusammenhang kommt dem zuständigen Pfarrer gemäß c. 529 § 1 CIC (c. 289 § 3 CCEO) eine besondere Sorgepflicht zu.
5. Ein gemeinsamer Auftrag? Die Ehevorbereitung und -begleitung von religionsverschiedenen Ehen will sowohl der eigenen religiösen Identitätssicherung als auch dem Dialog zwischen den Religionen dienen. Denn nur wer weiß, was er glaubt, vermag auch, dieses zu bezeugen und im religiösen Dialog der eigenen Familie zu vermitteln. So lassen sich Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede erkennen, die für den Aufbau und die Führung einer religionsverschiedenen Ehe und Familie notwendigerweise einer intensiven Betrachtung unterzogen werden müssen. In diesem Dienst stehen auch die kirchenrechtlichen Bestimmungen zur religionsverschiedenen Ehe und Familie. Im Blick auf den heiligen Charakter von Ehe und Familie vermögen Religionen in der Gesellschaft ein gemeinsames Zeugnis abzulegen, um diese beiden Wirklichkeiten als tragende Säulen des gesellschaftlichen Aufbaus und Zusammenlebens zu stützen und zu stärken. Das darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Unterschiede im Verständnis von Ehe und Familie nicht selten erheblich größer sind als die Gemeinsamkeiten. Das mag einen religiösen Dialog bereichern, Schwierigkeiten des ehelichen und familiären Alltags sind damit aber für den katholischen Ehepartner nicht per se ausgeräumt. Daher bleibt das Erfordernis einer rechten Unterscheidung der Geister unabdingbar. Nur dann ist auch eine tragfähige Entscheidung möglich.
Religionswechsel im Judentum Von Angelika Günzel Obwohl das Judentum, im Unterschied zum Christentum und zum Islam, keine missionierende Religion ist, stellt sich auch im Judentum nicht nur die Frage nach dem Umgang mit Personen, die das Judentum verlassen möchten, sondern auch diejenige nach dem Umgang mit Personen, die jüdisch werden möchten.
1. Der Übertritt zum Judentum der Giur a) Statistik Statistisch gesehen, spielt der Übertritt zum Judentum in deutschen Gemeinden keine große Rolle. So sind im Jahr 2016 nach den Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle des Zentralrats der Juden in Deutschland insgesamt 98 Personen in Deutschland zum Judentum konvertiert; dabei betrug die Gesamtzahl der jüdischen Gemeindemitglieder knapp 98.600 Personen.1 Durchschnittlich lag die Zahl der Übertritte in den letzten zehn Jahren bei 67 Personen pro Jahr.2 Da die meisten Gemeinden, die sich dem Zentralrat der Juden in Deutschland angeschlossen haben, orthodox ausgerichtet sind, beinhaltet diese Zahl nur teilweise auch Übertritte nach liberalem oder konservativem Ritus. Nichtorthodoxe Übertritte in progressiven Gemeinden, die nicht dem Zentralrat der Juden angehören, sind in dieser Statistik nicht enthalten. Da die Zahl der nichtorthodoxen Konversionen diejenige der orthodoxen in der Regel um ein Mehrfaches übersteigt, ist anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl an Konversionen wesentlich über den genannten Werten liegt.3
1 Vgl. Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) (Hrsg.), Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2016, zwst.org/cms/documents/178/de_ DE/Mitgliederstatistik-2016.pdf, S. 4 (Abfrage: 18. 09. 2017). 2 Vgl. die Mitgliederstatistiken der ZWST aus den Jahren 2007 – 2016, zwst.org/de/service/ mitgliederstatistik (Abfrage: 18. 09. 2017). 3 Steiner geht für die Jahre 2009 bis 2013 von 500 Konversionen aus, wobei 95 orthodox und 405 nichtorthodox gewesen seien (vgl. Barbara Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen. Konversion von Deutschen zum Judentum nach 1945, Göttingen 2015, S. 12).
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b) Jüdische Sicht auf eine Konversion aa) Orthodoxe Sicht (1) Begründung für das Phänomen In der Orthodoxie wird das Phänomen des Giur als Rückkehr nichtjüdischer Seelen erklärt, die bereits am Berg Sinai anwesend waren und die Übergabe der Tora miterlebt haben.4 Ferner findet sich die Auffassung, dass beim Übertritt die Seele aus einer Familie mit jüdischen Wurzeln zurückkehrt. Schließlich wird eine wachsende Zahl an Übertritten teilweise als Zeichen dafür gedeutet, dass das jüdische Volk seine Aufgabe erfüllt, Licht für die Völker zu sein und deshalb das messianische Zeitalter beginne. (2) Negative Bewertung Im Babylonischen Talmud werden die Gerim, also die Konvertiten, teilweise als Last für das jüdische Volk dargestellt.5 Dem liegt ganz wesentlich die Sorge zugrunde, dass der Übertritt dadurch nicht vollständig vollzogen werden könnte, dass der Konvertit zum Beispiel nicht die ganze Tora übernimmt und nicht genügend lernt.6 Dementsprechend wird befürchtet, dass die Konvertiten im entscheidenden Moment das Judentum wieder verlassen werden. Eng mit diesen Vorbehalten verbunden ist die Sorge, dass die Konversion nicht gültig sein könnte, was besonders bei Frauen problematisch ist, da sich von ihnen das Judentum ableitet. Sollte die Konversion einer Frau nicht gültig gewesen sein, sind ihre Kinder und die Kindeskinder etc. de facto unerkannt nicht jüdisch. Eine Eheschließung mit ihnen wäre dann eine Eheschließung mit einem Nichtjuden; eine Weitergabe des Judentums würde nicht erfolgen. Da das Judentum bei einer Vielzahl kultischer Handlungen auf die Gemeinschaft, insbesondere auf das Vorhandensein von zehn jüdischen Männern (Minjan), angewiesen ist, ist auch bei Männern die Gültigkeit des Übertritts von großer Bedeutung. Aus diesem Grund ist die Vertrauenswürdigkeit des Rabbiners, bei dem der Übertrittswillige lernt, und des Beit Din (das religiöse Gericht), bei dem der Übertritt vollzogen wird, wichtig, da sie für die Aufrichtigkeit des Übertritts und die Einhaltung aller Regeln bürgen. Eine völlig andere Interpretation der Auffassung, dass Konvertiten eine Last für das jüdische Volk sind, besagt, dass diese die religiöse Praxis der geborenen Juden in Frage stellen und möglicherweise auch auf einen zu nachlässigen religiösen Vollzug hinweisen könnten. 4
Babylonischer Talmud, Schewuot 39 a; Bezug auf 5. Buch Mose 29, 13. Vgl. Rabbiner Chelbo, Babylonischer Talmud, Jewamoth 47b: „Schwer sind Gerim für Israel wie ein Aussatz“; und Jewamoth 109b „Unheil nach Unheil kommt über jene, die Gerim aufnehmen“. 6 Vgl. Babylonischer Talmud, Baba Metzia 59b. 5
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(3) Positive Bewertung Aber es existiert auch eine positive Bewertung des Giurs. Diese wird damit begründet, dass die Konvertiten sich das Judentum aus eigenem Antrieb und eigener Kraft erarbeitet und damit für dieses sich ganz anders eingesetzt haben als die geborenen Juden. Deshalb wird gesagt, dass sie ihr Judentum direkt von Awraham und Sarah, also dem ersten Stammvater und der ersten Stammmutter des Judentums, ableiten und sie aus diesem Grund sogar einen höheren Status als geborene Juden hätten.7 Für das Vorherrschen dieser positiven Sicht spricht die Erwähnung der Gerim im 18 Bittengebet, dem Schmone esre, wo es in der 13. Bitte heißt: „Über die Gerechten, über die Frommen… und über die wahren Proselyten (wörtlich: gerechten Fremden) sowie über uns bringe Dein Erbarmen, Ewiger, unser G’tt8 und gib all denen beglückenden Lohn, die Deinem Namen in Wahrheit vertrauen, und unser Anteil sei mit ihnen in Ewigkeit, dass wir nicht beschämt werden, denn auf Dich vertrauen wir. […]“.9 Ferner ist auf die Schutzvorschriften für Gerim und Nichtjuden, die die sieben noachidischen Gebote halten (Ger Toschav), zu verweisen.10 Dies sind: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“, „Hasse nicht den Bruder in Deinem Herzen!“ und „Bei Dir soll er wohnen in Deiner Mitte, an dem Orte, den er auswählt, wo es ihm wohlgefällt, Du darfst ihn nicht kränken!“ Ferner besteht die Verpflichtung, „einem solchen Speise zu reichen und gegen ihn freundlich zu sein aus wahrer Liebe und nicht aus Heuchelei, denn ein freundliches Wort kann mehr wohl thun, als Alles, was man ihm giebt.“11 bb) Progressive Sicht Im progressiven Judentum, also dem konservativen und liberalen Judentum, wird der Übertritt allgemein positiv gesehen. So wird angenommen, dass ein Rabbiner die Pflicht habe, einen Übertritt grundsätzlich zu ermöglichen und ihm positiv gegenüberzustehen.12
7 Vgl. Leo Trepp/Gunda Wöbken-Ekert, „Dein G’tt ist mein G’tt“. Wege zum Judentum und zur jüdischen Gemeinschaft, Stuttgart 2005, S. 14 – 22. 8 Anm.: Im orthodoxen Judentum wird der Name nicht ausgeschrieben, sondern stattdessen mit „G’tt“ wiedergegeben. 9 Zitiert in Übersetzung nach: Siddur Schma Kolenu, Übersetzung v. Raw Joseph Scheuer, Basel 2001, S. 155. 10 Vgl. Rabbiner Joseph Albo, Ikkarim III, 25, zitiert nach: David Hoffmann, Der SchulchAruch und die Rabbinen über das Verhältnis der Juden zu Andersgläubigen, 2. Aufl., Berlin 1894, Nachdruck Vero Verlag 2015, S. 11 f. 11 Rabbiner Raphael ben Gabriel, Sea Soleth (Venedig 1579), S. 8b, zitiert nach: Hoffmann, Der Schulchan Aruch (Anm. 10), S. 15. 12 Vgl. Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 52.
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c) Voraussetzungen für eine Konversion aa) Theoretische und theologische Voraussetzungen (1) Traditionelle Anforderungen Hinsichtlich der Anforderungen an einen Übertritt finden sich bereits im Babylonischen Talmud unterschiedliche Ansätze. So hält es Rabbiner Hillel für ausreichend, wenn der Übertretende Tora und Talmud, also die mündliche Lehre, als gleichwertig anerkennt; Rabbiner Schammai setzt hingegen generell strengere Maßstäbe an das Wissen und die Akzeptanz der Lehre.13 Insgesamt lassen sich dem Talmud und dem Schulchan Aruch folgende wesentliche Kriterien entnehmen:14 Die erste Voraussetzung ist die Prüfung der Aufrichtigkeit des Übertrittswunsches. So sind Übertritte aus eigennützigen Motiven nicht zulässig.15 Dazu gehören insbesondere Übertritte zur Ermöglichung einer Eheschließung mit einem Juden und solche aus finanziellen Gründen. Die zweite Bedingung besteht in der Unterweisung des Kandidaten. Dieser soll mit den Hauptsachen des Gesetzes vertraut gemacht werden (der Einigkeit G’ttes und dem Verbot des Aberglaubens), mit leichten und schweren Geboten und Strafen (aber nicht zu vielen, da der Kandidat die Gebote nicht aus Angst, sondern Liebe halten soll), Belohnungen und der Pflicht zu Lernen. Dabei soll das zuständige religiöse Gericht das Judentum angenehm machen.16 Die dritte Anforderung ist bei männlichen Kandidaten die Beschneidung. Als vierte und letzte für alle Kandidaten ist das Untertauchen in der Mikwe, also einem rituellen Tauchbad, zu nennen. Bei diesem letzten Schritt müssen drei Gelehrte anwesend sein. In der Mikwe soll der Kandidat ein zweites Mal neue leichte und schwere Gebote lernen. Schließlich muss er beim eigentlichen Untertauchen den dafür gebotenen Segensspruch sprechen. Das orthodoxe Judentum hält bis heute an diesen Kriterien der mündlichen Lehre fest und sieht sie als Teil g’ttlichen und damit unveränderlichen Rechts an. (2) Progressives Judentum: Historisch kein formales Aufnahmeverfahren Das progressive Judentum hingegen geht allgemein davon aus, dass nur das, was im Pentateuch ausdrücklich erwähnt ist, auch tatsächlich passiert ist. Da dort von keinem formalen Verfahren des Übertritts die Rede ist, wird angenommen, dass ein sol-
13 Vgl. Babylonischer Talmud, Schabbat 31a; vgl. zu den Unterschieden zwischen Hillel und Schammai: Menachem Finkelstein, Conversion. Halakhah and Practice, Ramat Gan 2006, S. 195 – 199. 14 Vgl. Babylonischer Talmud, Jewamoth 46a-47b; Schulchan Aruch, Joreh Deah 268 (vgl. z. B. Schulchan Aruch oder die vier jüdischen Gesetzbücher, in der Übersetzung von Heinrich Georg Fr. Löwe, Bd. 4, Hamburg 1840: Joreh Deah 268, S. 164 ff.). 15 Vgl. Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah 268, S. 166. 16 Vgl. Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah 268, S. 165.
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ches früher nicht existierte.17 Bezüglich Jithro zum Beispiel, der nach jüdischer Auffassung zum Judentum konvertierte, wird angenommen, dass er durch das in der Tora beschriebene Opfer übergetreten sei.18 Bei dem Übertritt Ruths soll hingegen das Bekenntnis zum Judentum („Dein Volk ist mein Volk und dein G’tt ist mein G’tt“)19 den Übertrittsakt darstellen.20 Damit erscheint aus progressiver Sicht bereits aufgrund dieser beiden Beispiele der Übertrittsprozess als solcher wandelbar und die beschriebenen Anforderungen aus dem Talmud und dem Schulchan Aruch als zeitgebunden. bb) Heutige orthodoxe Praxis des Übertrittsprozesses21 Aufgrund dieser grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangspunkte unterscheidet sich in der heutigen Praxis der orthodoxe Übertrittsprozess wesentlich von den nichtorthodoxen Verfahrensweisen. (1) Dreimalige, offizielle Bitte um Konversion Das orthodoxe Übertrittsverfahren beginnt mit der offiziellen Bitte des Konversionswilligen an einen Rabbiner um den Übertritt zum Judentum. Diese Bitte muss üblicherweise zweimal durch den Rabbiner abgelehnt werden, um die Ernsthaftigkeit des Wunsches zu prüfen. In den betreffenden Gesprächen sind dem Interessenten unter anderem die fortlaufende Verfolgung der Juden in der Geschichte, die Schwierigkeiten und Nachteile einer Konversion22 sowie die Möglichkeit vor Augen zu führen, als „Ben Noach“23 nur sieben noachidische Gebote24 zu halten und dennoch das Heil in der kommenden Welt zu erreichen.25 Hält der Interessent trotzdem an seinem Konversionswunsch fest, so stellt er einen entsprechenden schriftlichen Antrag an das religiöse Gericht, dem der Rabbiner angehört, und schildert seine Beweggründe.
17 Vgl. für einen historischen Überblick aus liberal-jüdischer Sicht, allerdings ohne Hinweis auf die Außerachtlassung der orthodoxen Perspektive: Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 27 – 43. 18 Vgl. 2. Buch Mose 18, 12. So Ilan Hameiri, Zum Schawuot-Fest: Die neuen Gerim, haga lil.com/judentum/feiertage/schawuoth/uebertritt.htm (Abfrage: 18. 09. 2017). 19 Buch Ruth 1, 16. 20 Vgl. Hameiri, Zum Schawuot-Fest (Anm. 18). 21 Vgl. Finkelstein, Conversion (Anm. 13), S. 23 ff. (drei konstitutive Elemente: physischer Akt, Aufsichnehmen der Mizwot, Beteiligung eines Beit Din). 22 Vgl. Babylonischer Talmud, Jewamoth 47a-47b; Schulchan Aruch, Joreh Deah 268. 23 Vgl. Basis: 1. Buch Mose, Kap. 6, 9; Kap. 9,4 ff.: u. a. das 7. Gebot, nicht lebendige Tiere zu essen; Babylonischer Talmud, Sanhedrin 56a, 56b ff.; 59a. 24 Verbot des Mordes, Diebstahls, der Götzenanbetung, der G’tteslästerung, der Unzucht, Verbot, lebendige Tiere zu essen, und Gebot, ein Gerichtssystem einzuführen. 25 Vgl. zum Ganzen: Finkelstein, Conversion (Anm. 13), S. 89 – 107.
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(2) Lernen Es folgt eine in der Regel zweijährige Zeit des Lernens. Wesentliche Inhalte sind hier folgende26 : Die Regeln zur Wahrung des Schabbats, die Speisegesetze (Kaschrut), Inhalte, religiöse Regeln und Bräuche der Feiertage, Gebete, Segenssprüche, Hebräisch, Inhalte und Regeln der Ereignisse im Lebenszyklus (Geburt, Brit Mila/ Beschneidung, Chuppa/Eheschließung, Gerushin/Ehescheidung, Lewaja/Beerdigung), Regeln des allgemeinen zwischenmenschlichen Verhaltens (Zedaka/soziale Gerechtigkeit, Gmilut Chassadim/Mildtätigkeit, Bikur Cholim/Krankenbesuch, Vertragsrecht, Regeln für die geschäftlichen Beziehungen und bezüglich der üblen Rede, Deliktsrecht etc.), jüdische Philosophie (z. B. 13 Glaubensartikel des Maimonides) und jüdische Geschichte. Die Hauptquelle für diese Inhalte ist das Buch Ruth.27 (3) Einüben einer religiösen orthodoxen Lebenspraxis Während des Lernens wird erwartet, dass der Konversionskandidat eine entsprechende orthodox-jüdische religiöse Praxis einübt. Hierbei wird er in der Regel von einer orthodoxen Familie unterstützt, die ihm im Alltag hilft und praktische Fragen beantwortet. Ferner soll der Kandidat Kontakt zur lokalen orthodoxen jüdischen Gemeinde aufnehmen, da diese am Schluss die betreffende Person aufnehmen muss: Eine Konversion erfolgt aus orthodoxer Sicht immer in eine konkrete Gemeinde hinein. (4) Prüfung vor einem religiösen Gericht (Beit Din) Im Anschluss an diese Phase erfolgt die abschließende Prüfung vor dem Beit Din in der Form eines Prüfungsgesprächs oder eines schriftlichen Wissenstests. Gegenstand sind dabei insbesondere religionspraktische Fragen, weniger die eigentliche persönliche Glaubensüberzeugung. Zum Teil werden zusätzlich Zeugen befragt oder Empfehlungsschreiben orthodoxer Rabbiner, der lokalen jüdischen Gemeinde oder anderer orthodoxer Juden hinzugezogen. Wesentlich sind insgesamt die tatsächliche religiöse Praxis des Kandidaten, sein Übertrittsmotiv und, eng damit verbunden, die Wahrscheinlichkeit, dass er dauerhaft ein religiöses Leben führen wird. Allgemein werden weitgehend solche Kandidaten abgewiesen, die nicht ausschließlich aus religiösen Motiven übertreten wollen.28 26 Vgl. für einen Überblick über die Inhalte: Yachin Nahmany, Die Zukunft des Glaubens. Beth-Din-Vorbereitung, Frankfurt a.M. 2010. 27 Vgl. Buch Ruth 1, 16 – 18. Vgl. für die Deutung: Babylonischer Talmud, Jewamoth 47b. 28 So Steiner mit Bezug auf Rabbiner Avichai Apel und Yehuda Teichtal (vgl. Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 48). Insgesamt irritiert an Steiners Darstellung die grundsätzliche Infragestellung religiöser Übertrittsmotive bei deutschen Konvertiten auf der Grundlage einer sehr geringen Fallzahl, insbesondere einer geringen Anzahl qualitativer Interviews mit Konvertiten (15 Interviews), deren genauer Wortlaut mangels Abdruck nicht
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(5) Physischer Akt Nach der bestandenen Prüfung erfolgt bei männlichen Kandidaten üblicherweise die Brit Mila, also die Beschneidung. Für alle Kandidaten ist ferner das Untertauchen in der Mikwe für einen gültigen Übertritt erforderlich. Dabei muss das Untertauchen in Anwesenheit und damit mit dem Zeugnis des Beit Din erfolgen. (6) Aufsichnehmen des himmlischen Jochs während des Untertauchens Während des Untertauchens nimmt der Kandidat das himmlische Joch (Ol Malchut Schamajim) auf sich, das heißt, er akzeptiert die gesamte schriftliche und mündliche Tora sowie die Tradition. Darüber hinaus spricht er das jüdische Glaubensbekenntnis (Schma Jisrael, Höre Israel) und erhält seinen jüdischen Namen. Bei diesen Akten wie bei dem Untertauchen handelt es sich um besonders wichtige, konstitutive Vollzüge für den Übertritt, weshalb hier das Zeugnis des Beit Din von entscheidender Bedeutung ist. (cc) Heutige Praxis bei konservativen und liberalen Konversionen Im Unterschied zur orthodoxen Praxis ist der Prozess der Konversion im konservativen und liberalen Judentum weniger formalisiert und dementsprechend unterschiedlich. Allgemein gilt, dass halachische, also religionsgesetzliche Regelungen in Bezug auf die religiöse Überzeugung des Kandidaten insgesamt als nachrangig gegenüber der sozialen Realität der jüdischen Gemeinden eingeordnet werden.29 Ein Identitätswandel, wie er bei einem orthodoxen Übertritt vorausgesetzt wird, wird in den nichtorthodoxen Strömungen nicht erwartet.30 Da man davon ausgeht, dass die Rabbiner die Pflicht haben, eine Konversion zu ermöglichen,31 werden die Anforderungen stärker individualisiert. (1) Offizielle Bitte um Konversion Bereits bei der offiziellen Bitte um Konversion erweist sich das progressive Judentum als weniger streng. So findet sich hier weniger häufig die Praxis, den Übertrittswilligen zweimal abzuweisen; doch auch hier wird ein schriftlicher Antrag unter Benennung der Beweggründe erwartet. Besonders häufig zeigt sich dabei, dass die Schoa/der Holocaust und damit verbundene Schuldgefühle des Interessenten das eigentliche Motiv für den Übertritt sind. Damit geht auch die Gefahr einer Überidennachvollziehbar ist. Anhand von 15 Interviews wird auf, nach Steiners Angaben, allein 500 Konversionen zwischen 2009 und 2013 geschlossen. 29 So Steiner mit Bezug auf Rabbiner Ernst Stein und Rabbinerin Gesa Ederberg (vgl. Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 51). 30 Vgl. Steiner, ebd., S. 77. 31 Vgl. Steiner, ebd., S. 52.
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tifikation und teilweise eine Sehnsucht nach antisemitischer Stigmatisierung einher.32 (2) Lernen und Einüben einer reduzierten religiös-jüdischen Praxis Auch im progressiven Judentum erfolgt nach der Annahme durch einen Rabbiner eine Phase des Lernens und der Einübung einer religiösen Praxis. Allerdings beträgt die Lernzeit in der Regel nur ein Jahr und die Anforderungen an die Praxis sind deutlich reduziert. Wesentlich ist das Kennen der religionsgesetzlichen Regeln und ihrer im progressiven Judentum angenommenen Gründe, die Auseinandersetzung mit ihnen und ihrer Relevanz in der modernen Welt sowie das Treffen einer individuellen begründeten Entscheidung, welche Regeln, gerade von den nicht ethischen, eingehalten werden und welche nicht. Ferner wird die Teilnahme am Gemeindeleben, der Besuch des Gebets und eine koschere, wenigstens aber eine vegetarische Küche des Kandidaten erwartet.33 (3) Prüfung vor einem religiösen Gericht (Beit Din) Auch im progressiven Judentum ist für einen Übertritt die Prüfung vor einem religiösen Gericht notwendig. Hier kommt der alltäglichen jüdischen Praxis jedoch eine geringere Relevanz zu; wichtiger ist hingegen zum Beispiel, ob ein regelmäßiger Besuch des Gebets in der Gemeinde erfolgt. Die halachischen Grenzen für zulässige Motive werden zwar berücksichtigt, aber nicht als zwingend angesehen. So sagte der progressive Rabbiner Ernst Stern in einem Interview: „Es sind immer die Motive und die Motive sind halachisch festgelegt. Das heißt nicht, dass wir uns heute an die halachischen Motive halten.“34 (4) Physischer Akt und Bekenntnis zum Judentum beim Untertauchen Auch im progressiven Judentum ist für männliche Kandidaten eine Beschneidung erforderlich und für alle Kandidaten das Untertauchen in einer Mikwe. Allerdings scheint zumindest im liberalen Judentum im engeren Sinne kein Aufsichnehmen der mündlichen Lehre zu erfolgen; im konservativen Judentum legt die Übertrittsformel, wie sie von der konservativen Rabbinerin Gesa Ederberg verwendet wird, eine intensive Auseinandersetzung, aber ebenfalls keine Bindung im engeren Sinne nahe.35 32
Vgl. Steiner, ebd., S. 47; 86 – 89. Vgl. Steiner, ebd., S. 47 f., 52. 34 Zitat aus einem Interview mit Rabbiner Ernst Stein, 22. Oktober 2009, zitiert nach Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 51. 35 Vgl. „Hiermit erkläre ich aus freien Stücken meine Bindung an den G’tt Israels, die Tora Israels und das Volk Israel. […] mich würdig zeige gegenüber den Traditionen […] die Mitzwot des Judentums jetzt und für alle Zeit annehme […]. 33
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dd) Vergleich der Praktiken Aus orthodoxer Sicht fehlen dementsprechend bei nichtorthodoxen Übertritten wesentliche Elemente: Insbesondere ist dies die orthodoxe religiöse Praxis als zentrales Element der orthodoxen Religiosität, der generell die Idee des Judentums als Religion des Handelns zugrunde liegt. Ferner fehlt der konsequente Ausschluss halachisch nicht zulässiger Motive, aber vor allen Dingen das Aufsichnehmen aller Mizwot, also aller 613 Ge- und Verbote, und die Anerkennung nicht nur der schriftlichen, sondern auch der mündlichen Lehre als komplett g’ttlich und verbindlich. Gerade aufgrund des letzten Punktes und der damit einhergehenden anderen Übertrittsformel, die für den Übertritt konstitutiv ist, handelt es sich im Kern um einen anderen Ritus, weshalb die nichtorthodoxen Konversionen von der jüdischen Orthodoxie nicht anerkannt werden. Inhaltlich steht beim orthodoxen Übertritt die Aufnahme in das jüdische Volk stärker im Vordergrund und die Integration in dessen Tradition und Religion, während im progressiven Judentum der Schwerpunkt mehr auf dem Individuum und seiner persönlichen Glaubensauffassung liegt.
d) Wirkungen der Konversion aa) Allgemein: Teil des Volkes Allgemein hat eine Konversion zur Folge, dass die betreffende Person ab dann als Teil des jüdischen Volkes gilt.36 Sie wird nach dem Übertritt als Neugeborener betrachtet.37 Das bedeutet, dass mit der ursprünglichen biologischen Familie rechtlich keine verwandtschaftliche Beziehung mehr besteht.38 bb) Status innerhalb des jüdischen Volkes Was den Status innerhalb des jüdischen Volkes betrifft, so wird teilweise angenommen, dass dieser über demjenigen eines geborenen Juden anzusiedeln sei. Dabei wird auf das Achtzehn-Bittengebet verwiesen, in dem der Konvertit, der Ger Zedek, in dem Abschnitt über die Gerechten und Frommen erwähnt wird. Ferner wird angeführt, in der Tora sei 36-mal erwähnt, dass der Konvertit zu lieben bezie-
36 Vgl. Rambam, Igrat Tschuwot el Raw Owadia haGer (Antwortbrief an Rabbiner Ovadia der Konvertit), in: Igrot Rambam (Briefe von Rambam) (Hebr.), Bd. 1, Jerusalem 2005, Frage 1, S. 233 f. 37 Vgl. Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah 268, S. 167. Vgl. ferner: Babylonischer Talmud, Jewamoth 22a, 48b, 62a, 97b. 38 Vgl. Babylonischer Talmud, Jewamoth 22a. Ferner: Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah, 268, S. 166.
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hungsweise es verboten sei, den Ger zu bedrücken.39 Die häufige Erwähnung des Konvertiten in der Tora könnte aber auch ein Zeichen für die besondere Schutzbedürftigkeit und Gefährdung dieses Status sein; so hatte der Ger im Land Israel mangels Zugehörigkeit zu einem Stamm de facto kein Erbteil. Dementsprechend wird er häufig zusammen mit anderen Personengruppen genannt, die über eine insbesondere wirtschaftlich gefährdete Position in der Gesellschaft verfügen, wie zum Beispiel die Witwe und der Waise.40 In der Praxis versucht man über eine Art Karenzzeit für Konvertiten bezüglich der Übernahme leitender und lehrender Positionen in den jüdischen Gemeinden sicherzustellen, dass nur solche Personen die Gemeinde vertreten und die Lehre weitergeben, die sich insbesondere emotional ganz dem Judentum und dem Schicksal des jüdischen Volkes zugehörig fühlen. Dass dieses Vorgehen nicht zwingend ist, zeigt nicht nur die Geschichte: Einflussreiche Rabbiner wie Rabbiner Ovadia waren Konvertiten. Auch heute finden sich unter den Mitgliedern der Allgemeinen Rabbinerkonferenz sowie der Orthodoxen Rabbinerkonferenz in Deutschland konvertierte Rabbiner.41
2. Apostasie im Judentum a) Begriff Neben dem Übertritt zum Judentum kennt das Judentum auch den Abfall vom Judentum.42 aa) Formen der Apostasie Generell werden verschiedene Formen der Abtrünnigkeit unterschieden: Der Meschummad (Abtrünniger), der seine Lebensanschauung zerstört,43 der Apikoros (Häretiker)44, der auch als „dem Lebensgenuss huldigende(r) Freidenker“ und „Verächter des g’ttlichen Gesetzes und der Gesetzeslehrer“45 skizziert worden ist,46 der 39
Vgl. Babylonischer Talmud, Baba Mezia 59b. Vgl. z. B. auch 3. Buch Mose 19, 33 – 34. Vgl. zum Beispiel 5. Buch Mose 27,19 oder Jeremia 7,5. 41 Vgl. Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen (Anm. 3), S. 78. 42 Zum Begriff der Apostasie, für eine historische Entwicklung der Vorstellungen von Apostasie im Judentum und zu den Übertrittsmotiven in den verschiedenen Jahrhunderten vgl.: Julius Lewkowitz/Joseph Max, Art. Apostasie, in: Georg Heritz/Bruno Kirschner (Hrsg.), Jüdisches Lexikon, Bd. I, Berlin 1927, Sp. 397 – 401. Vgl. allgemein zu Fällen der Apostasie: Babylonischer Talmud, Sanhedrin 90a, 90b. 43 Vgl. Chajim Guski, Mumar, in: Jüdische Allgemeine, 06. 11. 2014, juedische-allgemeine. de/article/view/id/20641 (Abfrage: 18. 09. 2017). 44 Vgl. Guski, Mumar (Anm. 43). 45 Vgl. auch Babylonischer Talmud, Sanhedrin 99b. 40
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Kofer (Verleugner)47, der G’tt beziehungsweise die Fundamentalsätze des jüdischen Glaubens leugnet,48 der Posche’a Jisrael, der teils als rebellischer Jude49, teils als „von Israel Abgefallener“50 bezeichnet wird, und schließlich der Mumar, der hinsichtlich der Religion Gewandelte,51 derjenige, der seine Religion tatsächlich wechselt. bb) Der Mumar Der Mumar ist also insbesondere jemand, der als Jude geboren wurde, aber nicht nach den Maßstäben des Judentums lebt, sondern seine Weltanschauung gewechselt hat.52 Problematisch ist, welche Anforderungen an diesen Weltanschauungswechsel zu stellen sind. Nach einer Ansicht soll bereits jeder nichtreligiöse Jude ein Mumar sein, wenn er öffentlich den Schabbat entweiht. Stützen lässt sich diese Position auf das Traktat Chullin des Babylonischen Talmuds, in dem die öffentliche Schabbatentweihung, zusammen mit dem aktiven Götzendienst, als Fall genannt wird, in dem eine besonders gravierende Sünde vorliegt.53 Sinnvoller scheint es zu sein, an dem Grund dafür anzusetzen, warum ausgerechnet die öffentliche Schabbatentweihung als einzige Sünde ausdrücklich dem offenen Götzendienst gleichgestellt wird. Dieser liegt darin, dass die Einhaltung des Schabbat das Bekenntnis zur Existenz G’ttes und dazu ist, dass er die Erschaffung der Welt an diesem Tag beendet hat. Eine öffentliche Entweihung kommt also einer vollständigen Absage an das Fundament des Judentums gleich. Um ein Handeln in dieser Weise werten zu können, muss sich der Handelnde dieser Bedeutung des Schabbat und damit seines Handelns bewusst sein. Das ist jedoch im Zweifel nicht der Fall, wenn er nicht entsprechend erzogen worden ist. Deshalb werden viele nichtreligiös lebende Juden nicht als Mumar einzustufen sein.54
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Lewkowitz/Max, Art. Apostasie (Anm. 42), Sp. 397. Vgl. Guski, Mumar (Anm. 43). 48 Vgl. Babylonischer Talmud, Sanhedrin 39a. Ferner: Lewkowitz/Max, Art. Apostasie (Anm. 42), Sp. 397. 49 Vgl. Guski, Mumar (Anm. 43). 50 Vgl. Lewkowitz/Max, Art. Apostasie (Anm. 42), Sp. 397. 51 Vgl. Lewkowitz/Max, Art. Apostasie, ebd., Sp. 397. 52 Zu den anderen Erscheinungsformen eines Mumar vgl. Rambam, Hilchot Tschuwa, 3. Kapitel, Verse 6, 9. Für den Fall eines Mumar vgl. Babylonischer Talmud, Sukkah 56b. Allgemein: Babylonischer Talmud, Eruwim 69a. 53 Vgl. Babylonischer Talmud, Chullin 5a. Ferner: Guski, Mumar (Anm. 43). 54 Vgl. für diese Position: Babylonischer Talmud, Eruvin, 69b, The Schottenstein Edition Vol. II, 4. Aufl. New York 2015, Fn. 8. 47
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b) Status des Mumar Die Folge des Wechsels zu einer anderen Religion besteht allgemein in dem Verlust bestimmter Rechte und teilweise in der Behandlung wie ein Nichtjude. Konkret bedeutet dies zunächst, dass es keine Kaschrut aus der Hand des Mumar mehr gibt. Dies betrifft insbesondere koscheren Wein; auch koscheres Schächten ist ihm nicht mehr möglich. Insofern gilt er als Nichtjude.55 Ferner werden auf ihn nicht mehr die jüdischen Trauervorschriften angewendet, und er erhält kein jüdisches Begräbnis.56 Abgesehen davon zählt er nach einer umstrittenen Ansicht nicht mehr zum Minjan57 und kann unter anderem nicht mehr als Zeuge vor einem Beit Din aussagen.58 Entscheidend ist, dass er, wenn er sein Verhalten nicht ändert und Buße tut, keinen Anteil an der künftigen Welt haben wird.59 Trotz der teilweise weitgehenden Einschränkungen im religiösen Vollzug bleibt auch der zu einer anderen Religion übergetretene Jude weiterhin Jude und damit Teil des jüdischen Volkes. Dies ergibt sich bereits aus den talmudischen Quellen. So bleibt zum Beispiel der Sünder Achan im Talmud weiterhin „Israel“,60 und die jüdische Ehe eines Ger ist weiterhin gültig, auch wenn er später wieder zur Ursprungsreligion zurückkehrt.61
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Vgl. Babylonischer Talmud, Chullin 13a (bzgl. Minim). Vgl. ferner: Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah 2, S. 5; Abschn. 123, S. 68. 56 Vgl. Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah 345, S. 186. 57 Vgl. Guski, Mumar (Anm. 43). 58 Vgl. Schulchan Aruch oder die vier jüdischen Gesetzbücher, in der Übersetzung von Heinrich Georg Fr. Löwe, Bd. 2,1, Hamburg 1836, Choschen haMischpat 34, S. 39. Vgl. auch: Guski, Mumar (Anm. 43). 59 Vgl. Rambam, Hilchot Tschuwa, 3. Kapitel, Vers 6. 60 Vgl. Babylonischer Talmud, Sanhedrin 44a; vgl. ferner Joshua 7, 1 – 26. 61 Vgl. Babylonischer Talmud, Bechorot 30b. Vgl. auch: Schulchan Aruch oder die vier jüdischen Gesetzbücher, in der Übersetzung von Heinrich Georg Fr. Löwe, Bd. 1, Hamburg 1837, Eben haäser 44, S. 55. Ebenso: Schulchan Aruch (Anm. 14), Joreh Deah, 268, S. 165.
Zwischenkirchliche Beziehungen, Kirchenzugehörigkeit, Religionswechsel Eine anglikanische Stimme Von Hanns Engelhardt Am Anfang der Geschichte des Anglikanismus steht nicht religiöse Vielfalt, sondern „uniformity“. Der Regierung des Königs Edward VI., des Sohnes Heinrichs VIII., war es vorbehalten, der Vielfalt liturgischer Traditionen (am bekanntesten der „usus Sarum“ der Diözese Salisbury, dem auch andere Gebiete folgten) in den verschiedenen Diözesen Englands durch das erste Book of Common Prayer von 1549 ein Ende zu setzen. Seitdem spielte das Prinzip der Uniformität in der englischen Kirchengeschichte eine bedeutende Rolle. Noch im 19. Jahrhundert wurden Geistliche ins Gefängnis geworfen, weil sie den gesetzlich vorgeschriebenen Einheitsritus nicht befolgen wollten. Heute ist das – glücklicherweise – Vergangenheit. Die liturgischen Regelungen der Kirche von England gestatten eine größere Vielfalt. Die im Laufe der letzten Jahrhunderte entstandenen unabhängigen Kirchenprovinzen1 außerhalb Europas haben ihre eigenen Gottesdienstordnungen, die im Grundsätzlichen der englischen Tradition folgen, in den Einzelheiten aber mannigfache Variationen aufweisen.
1. Die Anglikanische Kirchengemeinschaft als Ganze, die sich aus der henrizianischen Reform des 16. Jahrhunderts und später aus der Kirche von England entwickelt hat, besitzt kein einheitliches, für alle Provinzen verbindliches Kirchenrecht. Wer anglikanisches Kirchenrecht untersucht, muss daher in aller Regel auf das Recht der einzelnen Provinzen zurückgreifen. Vor einigen Jahren hat allerdings eine Gruppe von Legal Advisers einen Katalog von Principles zusammengestellt, die nach ihrer Auffassung „common to the Churches of the Anglican Communion“ sind.2 1 Die unabhängigen Mitgliedskirchen der Anglikanischen Gemeinschaft werden – um ihre Zusammengehörigkeit zum Ausdruck zu bringen – gewöhnlich als Provinzen bezeichnet, was allerdings zu der terminologischen Schwierigkeit führt, dass die größeren unter ihnen vielfach in (interne) Provinzen untergliedert sind. 2 Vgl. dazu grundlegend Norman Doe, The Contribution of Common Principles of Canon Law to Ecclesial Communion in Anglicanism, in: Ecclesiastical Law Journal 10 (2008), S. 71 – 91.
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Dabei handelt es sich aber nicht um verbindliche Rechtssätze, sondern um eine Beschreibung von Grundsätzen, die tatsächlich in der Gemeinschaft aufgrund übereinstimmenden Rechts der Provinzen allgemein gelten (oder auch nicht). Um das geltende Recht zu erkennen, muss man feststellen, ob sie sich im Recht der betreffenden Provinz tatsächlich finden lassen. Immerhin besteht aufgrund der Expertise der Verfasser eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass das in den meisten Provinzen der Fall ist.
2. Die anglikanische Haltung gegenüber anderen Traditionen war zunächst dadurch bestimmt, dass die Kirche von England „as by law established“ die einzige gesetzlich zugelassene Kirche in England war, der alle Engländer zugehörten. Sie betrachtete sich als die Kirche, die immer gewesen war, nur eben in ihrem Gesichtskreis bewusst beschränkt auf England. Die liturgischen und doktrinären Streitigkeiten des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren innerkirchliche Streitigkeiten. Erst nach Revolution und Restauration des 17. Jahrhunderts wurde der Widerstand der „Opposition“ so stark, dass anerkannt werden musste, auch außerhalb der Staatskirche könne es kirchliche Gemeinschaften geben, denen im Lauf der folgenden 200 Jahre mehr und mehr Toleranz und schließlich bürgerliche und politische Gleichberechtigung gewährt wurde.3 Trotzdem gilt noch heute als Mitglied der Kirche von England jeder in der Pfarrei wohnende Christ, der sich nicht ausdrücklich zu einer anderen Kirche bekennt. Damit hängt zusammen, dass auch heute noch jeder Bewohner des Pfarreigebiets ein Recht darauf hat, in der Pfarrkirche getraut zu werden.4 Nach außen wirkte diese Auffassung sich dahin aus, dass die Kirche von England ihre Wirksamkeit auf England beschränkte, den Kirchen anderer Länder grundsätzlich die gleiche Freiheit zubilligte, ihre Angelegenheiten selbstständig und unabhängig zu ordnen, wie sie sie selbst in Anspruch nahm.5 In Ländern, in denen bereits christliche Kirchen bestanden, hat die Kirche von England keine Pfarreien, sondern nur chaplaincies errichtet, die grundsätzlich nur für die geistliche Versorgung von Engländern (oder Angehörigen anderer, in der Regel englischsprachiger, Kirchenprovinzen) bestimmt waren.6 Diese Grundhaltung ermöglichte es der Kirche von 3
Vgl. dazu Engelhardt, Staatskirchentum und Religionsfreiheit, in: Festschrift für Erwin Stein zum 80. Geburtstag, hrsg. von Hermann Avenarius, Hanns Engelhardt, Hermann Heussner und Friedrich von Zezschwitz, Bad Homburg 1983, S. 13 – 24. 4 Vgl. Sir William Dale, The Law of the Parish Church, 7. Aufl. London 1998, S. 51 f. 5 Vgl. Articles of Religion XXXIV Abs. 2: Every particular or national Church hath authority to ordain, change, and abolish, ceremonies or rites of the Church ordained only by man’s authority, so that all things be done to edifying. 6 Dass die amerikanische Episkopalkirche, die älteste unabhängige anglikanische Kirchenprovinz außerhalb Europas, offener für die Bildung landessprachlicher Gemeinden ist,
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England (und später der Anglikanischen Gemeinschaft) schon vom 18. Jahrhundert an und immer wieder – wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg – auf die Kirche Roms mit Versuchen der Verständigung zuzugehen.7
3. Teil VIII der genannten Principles befasst sich mit den ökumenischen Beziehungen der Mitgliedskirchen. Als besonders wichtig erscheint mir hier Principle 94 über die Kirchengemeinschaft (Ecclesial Communion), wo es heißt: 1. Ecclesial communion between two or more churches exists when a relationship is established in which each church believes the other to hold the essentials of the Christian faith and recognises the apostolicity of the other. 2. Full communion involves the recognition of unity in faith, sacramental sharing, the mutual recognition and interchangeability of ministries, and the reciprocal enjoyment of shared spiritual, pastoral, liturgical and collegial resources. 3. Inter-communion is an ecclesial relationship in which at least one but not all of the elements of full communion is present. 4. Churches in communion become interdependent but remain autonomous. 5. The relationship of communion does not require the acceptance of all theological opinion, sacramental devotion or liturgical practice characteristic of another church. Diese Grundsätze werden ergänzt durch Principle 95 über die „ökumenische Freiheit“ (Ecumenical freedom): 1. A church is free to establish relations of ecclesial communion with churches not in the Anglican Communion as permitted by the discipline of each ecumenical partner. 2. It is for a church in agreement with its ecumenical partner to determine when dialogue reaches a stage which allows establishment of ecclesial communion. 3. If a member church of the Anglican Communion enters a relation of ecclesial communion with a non-member church, this effects a relationship between such non-member church and other member churches of the Anglican Communion only to the extent provided in their own laws and the regulatory instruments of the non-member church.
mag vielleicht mehr mit der amerikanischen als mit spezifisch anglikanischer Tradition zusammenhängen. 7 Eine zusammenfassende Darstellung dieser Versuche bis zum Jahr 1975 bieten Bernard und Margaret Pawley, Rome and Canterbury through four centuries, London & Oxford 1974.
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Solche Regelungen, die eine Provinz der Anglikanischen Gemeinschaft bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu nichtanglikanischen Kirchen zumindest rechtlich von einer Rücksichtnahme auf die andern Provinzen freistellen, sind – wenngleich im Hinblick auf die Struktur der Gemeinschaft wohl unvermeidlich – nicht unproblematisch, insofern sie dazu führen können, dass eine nichtanglikanische Kirche mit einzelnen Provinzen der Gemeinschaft in voller kirchlicher Gemeinschaft stehen kann und mit anderen nicht. Es ist daher, wenn auch nicht rechtlich vorgeschrieben, so doch im Sinne der comitas8 zwischen den Provinzen dringend empfehlenswert, dass eine Provinz vor der Begründung einer solchen zwischenkirchlichen Beziehung, insbesondere der vollen kirchlichen Gemeinschaft, so weit wie möglich die Auffassungen der anderen Provinzen einholt und zumindest in ihre Erwägungen einbezieht. Für die Kirche von England sind die in voller Gemeinschaft mit ihr stehenden Kirchen in einer Note zu Canon C 8 aufgelistet. Sie umfassen alle Provinzen und außerprovinzialen Diözesen der Anglikanischen Gemeinschaft, einige vereinigte Kirchen, die frühere anglikanische Diözesen einschließen (Bangladesch, Nord- und Südindien, Pakistan), die alt-katholischen Kirchen der Utrechter Union, die Philippinische Unabhängige Kirche, die Syrische Mar-Thoma-Kirche von Malabar sowie sechs Nordische und Baltische Lutherische Kirchen, die die Porvoo-Vereinbarung angenommen haben. Die US-amerikanische Episkopalkirche, die erste unabhängige (sozusagen autokephale) anglikanische Kirchenprovinz außerhalb der Britischen Inseln, die vielen später unabhängig gewordenen außereuropäischen Kirchenprovinzen mit mehr oder weniger starken lokalen Abweichungen als Verfassungsmodell gedient hat, war von Anfang an in den meisten Kolonien und späteren Staaten der Union in einer völlig anderen Position, vom Staat getrennt und als Minderheitskirche von den protestantischen Mehrheitskirchen, die sich im Wesentlichen aus dem englischen Nonkonformismus herleiteten, bestenfalls mit Misstrauen beobachtet. Dies führte zu einer anderen Rechtsentwicklung. Im Recht der Episkopalkirche ist ausdrücklich festgelegt, mit welchen anderen Kirchen die Episkopalkirche in voller kirchlicher Gemeinschaft steht (Can. I. 20). Es sind dies zunächst alle Diözesen, Provinzen und Regionalkirchen, die in Gemeinschaft mit dem Erzstuhl von Canterbury stehen (vgl. Can. III. 10 Sec. 2 (a)(3)(i)), die alt-katholischen Kirchen der Utrechter Union (Can. I. 20 Sec. 1 (a)), die Philippinische Unabhängige Kirche (Can. I. 20 Sec. 1 (b)) und die Syrische Mar-Thoma-Kirche von Malabar (Can. I. 20 Sec. 1 (c)). Ferner werden genannt die Evangelical Lutheran Church in America (Can. I. 20 Sec. 2)9 sowie die Nördliche und die Südliche Provinz der Moravian Church in America (Can. I. 20 Sec. 3)10 8
Zu diesem Begriff vgl. auch Hanns Engelhardt, Zwischenkirchliche Beziehungen als Gegenstand des weltlichen und des kirchlichen Rechts, in: öarr 58 (2011), S. 77 – 136, hier 92. 9 Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Bedingungen des zwischen den beiden Kirchen geschlossenen Konkordats „Called to Common Mission“; dazu Hanns Engelhardt,
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Über zwischenkirchliche Vereinbarungen (Ecumenical agreements), die der Entwicklung zwischenkirchlicher Beziehungen dienen, heißt es in Principle 97.1 und 3: 1. The extent and terms of ecclesial communion or other relationship, between a church and a church not in the Anglican Communion, may be set out in a constitutional union, concordat, covenant or other instrument agreed between the participant churches. 3. A parish may enter a local ecumenical project to provide for shared ministerial, liturgical or sacramental communion or other form of reciprocity agreed by the participant churches, in the manner and to the extent authorised by law. Auch für solche Vereinbarungen gilt, dass jede Provinz bei ihrem Abschluss rechtlich frei ist. Vielfach werden sie freilich, wenn überzeugende Gründe dafür sprechen, von anderen Provinzen ausdrücklich oder stillschweigend übernommen. Beispiele für Vereinbarungen, durch die volle kirchliche Gemeinschaft begründet worden ist, sind die Bonner Vereinbarung mit den alt-katholischen Kirchen von 1931 und die Vereinbarung von Porvoo von 1992 zwischen den anglikanischen Provinzen der Britischen Inseln und einigen nordeuropäischen lutherischen Kirchen. Das Konkordat zwischen der amerikanischen Episkopalkirche und der Evangelical Lutheran Church of America proklamiert dasselbe Ziel;11 dagegen geht die Meißener Vereinbarung zwischen der Kirche von England und der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1988 nicht so weit.12 Als Beispiel für Principle 97.3 können in der Kirche von England die in dem sehr umfangreichen Can. B44 geregelten Local Ecumenical Projects angesehen werden. Solche Projekte setzen eine Vereinbarung des zuständigen Diözesanbischofs mit der zuständigen Behörde jeder anderen teilnehmenden Kirche13 voraus (Can. B44 Sec. 1 (1)). Der Bischof bedarf dazu der Zustimmung des Pfarrers, des Pfarrgemeinderates mit Dreiviertelmehrheit und einer Pfarrgemeindeversammlung der betroffenen Pfarrei sowie des Diözesanpastoralausschusses nach Konsultation der zuständigen Dekanatssynode (Can. B44 Sec. 1 (3)). Die Vereinbarung ist auf höchstens sieben Jahre Zwischenkirchliche Vereinbarungen – ein Weg zu mehr ökumenischer Gemeinsamkeit?, in: Festschrift für Achim Krämer, Berlin 2009, S. 583 – 596, (584 – 589). 10 Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Bedingungen der zwischen den beiden Kirchen geschlossenen Vereinbarung: „Finding Our Delight in the Lord: A Proposal for Full Communion Between The Episcopal Church; the Moravian Church-Northern Province; and the Moravian Church-Southern Province“. 11 Zu der Frage, ob dieses Ziel erreicht worden ist, und der Problematik dieser Vereinbarung allgemein vgl. Engelhardt, Zwischenkirchliche Vereinbarungen (Anm. 9), S. 584 ff. 12 Zu der Problematik dieser Vereinbarung, die darin liegt, dass die EKD keine rechtlichen Mittel hat, ihre Mitgliedskirchen zur Beachtung einer solchen Vereinbarung anzuhalten, vgl. ebenfalls Engelhardt, Zwischenkirchliche Vereinbarungen (Anm. 9), S. 590 ff. 13 In Betracht kommen Kirchen, die von den Erzbischöfen von Canterbury und York gemeinsam als unter die Church of England (Ecumenical Relations) Measure 1988 (1988 No. 3) fallend bezeichnet worden sind (Can. B 44 Sec. 8 und Sec. 5 (1) der Measure). Die Voraussetzungen hierfür sind in Sec. 5 (2) der Measure umschrieben.
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befristet, kann aber vom Bischof verlängert werden (Can. B44 Sec. 2 (1)). Im Rahmen einer solchen Vereinbarung kann der Bischof Geistliche einer anderen teilnehmenden Kirche ermächtigen, mit der Zustimmung aller Beteiligten an einem Gottesdienstplatz der Kirche von England nach dem Ritus einer teilnehmenden Kirche die Taufe zu spenden (Can. B44 Sec. 4 (c)), einen Priester der Kirche von England ermächtigen, in dem betroffenen Gebiet eine Kommunionfeier nach dem Ritus einer anderen teilnehmenden Kirche zu leiten (Can. B44 Sec. 4 (d)), Regelungen für gemeinsame Gottesdienste, einschließlich Tauf- und Konfirmationsgottesdienste, mit einer andern teilnehmenden Kirche in dem betroffenen Gebiet treffen (Can. B44 Sec. 4 (e)), die Feier von Kommuniongottesdiensten unter Leitung eines Geistlichen einer anderen teilnehmenden Kirche an Gottesdienstplätzen der Kirche von England erlauben (Can. B44 Sec. 4 (f)).14 In jedem Fall muss der Bischof sicherstellen, dass in der betroffenen Pfarrei der Gottesdienst nach dem Ritus der Kirche von England „with reasonable frequency“ und insbesondere an den Hauptfesten aufrechterhalten bleibt (Can. B44 Sec. 5). Besondere Vorschriften gelten für lokale ökumenische Projekte, die Domkirchengemeinden oder Institutionen einschließen, für die ein Kaplan im außerparochialen Dienst bestellt ist (Can. B44 Sec. 6 und 7).
4. Ein neuralgischer Punkt für die zwischenkirchlichen Beziehungen kann auch das kirchliche Mitgliedschaftsrecht sein, insofern es den Übertritt von einer Kirche zur andern betrifft.15 Die Principles lassen die Vielfalt erkennen, die sich in den Mitgliedschaftsregelungen der einzelnen Kirchenprovinzen finden. In Principle 27 (Church membership) heißt es: 2. Membership in a church, for the purposes of participation in its governance, may be based, as the case may be under its law, on any or all of these: baptism; or baptism and confirmation; or baptism, confirmation and communicant status; or regular attendance at public worship. 4. A communicant member is a person who has received Holy Communion at such frequency and on such occasions as may be prescribed by law. 5. A communicant in good standing is a communicant who for a prescribed period has been faithful in worship and has supported the work and mission of the church. 6. Names of persons may be entered on a parish roll or other register of membership, subject to such conditions as may be prescribed by law, enabling eligibility for 14 In diesem Fall muss eindeutig klargestellt werden, dass es sich nicht um „a celebration of the Holy Communion according to the use of the Church of England“ handelt (Can. B 44 Sec. 4 (3)(b)). 15 Zu dieser Problematik vgl. schon Athanasios Basdekis/Klaus Peter Voß (Hrsg.), Kirchenwechsel – ein Tabuthema der Ökumene?, Frankfurt am Main 2004.
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selection to participate in governance and other ecclesiastical functions and offices. 7. Names may be removed from a parish roll or other register of eligible voters in accordance with the law and observing the principles of justice and equity. 8. Membership of a church implicitly involves profession of the faith, acceptance of the doctrines of a church, submission to its government and law, and the enjoyment of the fundamental and other rights and duties of the faithful. Dabei ist stets im Gedächtnis zu behalten, dass nicht von der Mitgliedschaft in der universalen Kirche Christi die Rede ist, die allein durch die Taufe erworben wird und unverlierbar ist, sondern von der Zuordnung der Mitglieder dieser Kirche zu einer partikularen Kirche. Darüber hinaus betrifft wie die Exkommunikation so in der Regel auch die Entfernung aus einer parish roll oder einem Wählerverzeichnis nicht einmal die Zugehörigkeit zur Partikularkirche, sondern lediglich die Einschränkung von Mitgliedschaftsrechten.16 Eine typische Relativierung des Mitgliedschaftsrechts findet sich schon zu Beginn von Principle 27, wo es heißt: 1. A church should serve, in appropriate ways, all who seek its ministry, regardless of membership. Ausdrückliche Regelungen über die Beendigung der Kirchenmitgliedschaft finden sich im anglikanischen Kirchenrecht in aller Regel nicht. Als Beispiel einer solchen Regelung zitiert Norman Doe allein das Recht der Kirche von Nordindien, nach dem ein Kirchenmitglied, das sich in einer anderen „denomination“ erneut taufen lässt, nicht mehr als Mitglied der Kirche von Nordindien angesehen werden soll.17 i. Zum Recht der Kirche von England fasst Norman Doe, der führende anglikanische Kanonist der Gegenwart, in seinem Standardwerk18 seine Ausführungen zur Kirchenmitgliedschaft wie folgt zusammen: In short, there is no precise legal understanding of membership of the Church of England similar to that operative in the Roman Catholic Church, …
Die Aufnahme in die Kirche von England ist in ihrem Canon B28 geregelt. Die Vorschrift unterscheidet zunächst zwischen ungetauften und schon (gültig) getauften Personen. Ungetaufte werden nach entsprechendem Taufunterricht durch die Taufe19 aufgenommen (Sec. 1). Getaufte, die noch nicht von einem Bischof20 konfirmiert 16 So wohl auch Norman Doe, Termination of Membership in Anglican Canon Law, in: James Conn, Norman Doe & Joseph Fox (Hrsg.), Initiation, Membership and Authority in Anglican and Roman Catholic Canon Law, Cardiff/Rome 2005, S. 103 – 120 (115, 120). 17 Doe, Termination of Membership in Anglican Canon Law (Anm. 16), S. 119. 18 Norman Doe, The Legal Framework of the Church of England, Oxford 1996, S. 225. 19 Bestehen ernstliche Zweifel an der Gültigkeit einer empfangenen Taufe, dann wird der/ die Betreffende konditional getauft. 20 Der in der apostolischen Sukzession steht.
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worden sind, werden nach entsprechendem Unterricht durch den Bischof im Wege der Konfirmation aufgenommen; kommt eine Konfirmation noch nicht in Betracht, vor allem bei Kindern im Hinblick auf ihr Alter, so werden sie durch den Gemeindepfarrer „with appropriate prayers“ aufgenommen (Sec. 2). Ist die Person bereits bischöflich konfirmiert, dann wird sie nach entsprechendem Unterricht mit Erlaubnis des Bischofs nach einem von der Generalsynode hierfür beschlossenen Formular aufgenommen; handelt es sich um einen Priester, so ist die Aufnahme dem Diözesanbischof oder seinem Kommissar vorbehalten (Sec. 3). Auffällig ist eine feine Unterscheidung: während bei Ungetauften nur von einem Wunsch „to be received“ die Rede ist, spricht die Vorschrift bei Getauften von dem Wunsch „to be formally admitted“. In dieser Wortwahl könnte eine unterschiedliche kanonische Wertung des jeweiligen „Aufnahme“-aktes zum Ausdruck kommen. In der Tat ist ja die kanonische Rechtsstellung von Ungetauften und getauften Nichtmitgliedern verschieden21 Freilich ist bei der Bezeichnung des formalen Aktes wieder in beiden Fällen von „reception“ bzw. „received“ die Rede. Regeln, nach denen bei Aufnahme eines Mitglieds einer anderen Kirche diese zu benachrichtigen wäre, findet sich im Recht der Kirche von England nicht, obwohl das im Interesse einer freundschaftlichen Zusammenarbeit der Kirchen wünschenswert wäre. Einen Austritt aus der Kirche sieht das Recht der Kirche von England nicht vor. Um die Notwendigkeit zu vermeiden, eine Austrittsregelung einzuführen, wurden sogar 1868 die allgemeinverbindlichen Kirchenabgaben abgeschafft.22 Dementsprechend gibt es auch keine Regelung eines Übertritts zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft. Ebenso wenig gibt es einen Ausschluss aus der Kirche von England. Die Streichung aus der Electoral Roll führt nicht zu einem Verlust der Mitgliedschaft. Aus der einschlägigen Vorschrift23 ergibt sich, dass die in Betracht kommenden Gründe (z. B. Tod, Eintritt in den geistlichen Stand, Aufgabe des Wohnsitzes in der Pfarrei) keinen Mitgliedschaftsentzug bedeuten können. ii. Die Canons der Episkopalkirche beschäftigten sich zunächst, was die Kirchenmitglieder betraf, auf disziplinarische Bestimmungen und dann Vorschriften über die Überweisung umziehender Mitglieder an eine andere Gemeinde.24
21
Getaufte Nichtmitglieder sind im Rahmen von Can. 15 A Sec. 1 lit. (b)-(d) zur Kommunion zuzulassen. 22 Vgl. The Compulsory Church Rates Abolition Act 1868, 31 – 32 Vict. c. 109, in: R. P. Flindall (Hrsg.), The Church of England 1815 – 1948: A Documentary History, London 1972, S. 209. 23 Schedule 3 (Church Representation Rules) Part I Sec. 1 (9). 24 Gerade die letzteren Vorschriften wurden immer wieder überarbeitet, um zu vermeiden, dass umziehende Mitglieder sich bei der Gemeinde ihres neuen Wohnsitzes nicht meldeten und dadurch der Kirche verloren gingen (White/Dykman, I, S. 345), der dem von Ernst Frhr. v. Castell, Der „Kirchenaustritt“ aus römisch-katholischer Sicht, in: Basdekis/Voß (Anm. 15), S. 74 – 81 (81), treffend so genannten „kalten Kirchenaustritt“ entspricht.
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Die Convention von 1910 fügte dem Can. 40 (damaliger Zählung) als zweiten Satz an: Any communicant of any Church in communion with this Church, shall be entitled to the benefits of this Section so far as the same can be made applicable.25
Damit wurden erstmals Mitglieder anderer Kirchen, wenigstens derjenigen, die in Kirchengemeinschaft mit der Episkopalkirche standen,26 in eine kanonische Regelung einbezogen. Bei der Convention von 1934 wurde der Versuch gemacht, eine Definition des Begriffs „communicant“ herbeizuführen. Das House of Bishops lehnte dies mit der Begründung ab, dass ein diesbezüglicher Beschluss der Convention von 1913 eine weitere Definition überflüssig mache. White und Dykman stellen fest, dass ein solcher Beschluss in den Protokollen von 1913 nicht enthalten ist.27 Ein neuer Versuch in dieser Richtung wurde bei der Convention von 1952 unternommen; auch er scheiterte an Meinungsverschiedenheiten zwischen dem House of Bishops und dem House of Deputies über die Formulierung. Es ist aber interessant, dass der Beschluss des House of Bishops lautete: (a) The members of the Church shall be all persons who have received the Sacrament of Holy Baptism in accordance with the Doctrine of the Church which rite shall be performed by a Minister or by a Baptized person. (b) A Communicant of the Church is a Baptized person who has been confirmed by a Bishop of the Church, or of any Church in communion with the Church, or, having been confirmed in a Church having Apostolic Succession and who having renounced membership in such Church, has been received into this Church or who has received Baptism and has been formally admitted to the Holy Communion as being ready and desirous to be confirmed.28
In Absatz (a) fällt auf, dass nicht die Taufe in der Episkopalkirche oder eine institutionelle Beziehung zu dieser Kirche gefordert wird. Der Anschein, es könnten damit alle gültig Getauften als Mitglieder der Episkopalkirche anerkannt (und in Anspruch genommen?) werden, wird noch dadurch verstärkt, dass der Nebensatz „which rite shall etc.“ in dem Parallelbeschluss des House of Deputies nicht enthalten ist. Trotzdem wird man annehmen müssen, dass die Convention einer vergleichsweise kleinen, auf eine Nation beschränkten Partikularkirche damit nicht weltweit ausgreifen wollte, dass es sich vielmehr um eine Ungenauigkeit der Formulierung handelt. In Absatz (b) wird allerdings in der Tat erstmals der Übertritt von einer anderen Kirche, mit der keine Kirchengemeinschaft besteht, als Regelungsgegenstand ins 25 Vgl. White/Dykman, Annotated Constitution and Canons for the Government of the Protestant Episcopal Church in the United States, Greenwich Conn. 1984, Bd. I, S. 345. 26 Das waren damals außer den anglikanischen Kirchen der Britischen Inseln die inzwischen unabhängig gewordenen Kirchenprovinzen der anderen Kontinente. 27 White/Dykman, Annotated Constitution (Anm. 25), Bd. I, S. 347. 28 White/Dykman, ebd., Bd. I, S. 347 f. Ein weiterer Unterabschnitt sollte den Begriff „in good standing“ definieren, was hier ohne Interesse ist.
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Auge gefasst und die Aufgabe der Mitgliedschaft in einer solchen Kirche (having renounced membership in such Church) als möglich angesehen und als Voraussetzung der Aufnahme statuiert.29 Nach diesen vergeblichen Anläufen nahm schließlich die Convention von 1961 eine Definition des Begriffes „member“ an. Sie lautete (und lautet noch heute): All persons who have received the Sacrament of Holy Baptism with water and in the name of the Father and of the Son and of the Holy Ghost (heute: Spirit), and whose Baptism has been duly recorded in this Church, are members thereof. (Title I Can. 16 Sec. 1)
Diese Regelung erscheint klar, birgt aber Probleme in sich, vor allem hinsichtlich der Frage, was die Wendung „whose Baptism has been duly recorded in this Church“ bedeutet. Diese Voraussetzung ist sicher erfüllt, wenn die Taufe im Taufregister einer Gemeinde eingetragen ist. Dies kann aber nicht ausschließlich gelten, denn Can. I 17 Sec. 1 sieht die Aufnahme getaufter Mitglieder anderer Kirchen vor, deren Taufe mithin nicht im Taufregister einer Gemeinde der Episkopalkirche eingetragen ist; in diesem Fall muss die Eintragung im „Register of Baptized Persons“ aufgrund der Aufnahme ausreichen. Eine besondere Regelung trifft Canon III. 19 für die Aufnahme von Klerikern aus anderen Kirchen. Sie setzt zunächst einen background check nach Kriterien, die Bischof und Standing Committee der Diözese festzulegen haben (Can. III. 19 Sec. 1 (a)), eine medizinische und psychologische Überprüfung (Can. III. 19 Sec. 1 (b)) und den Beweis der Ausbildung (Can. III. 19 Sec. 1 (c)) voraus. Als Gegenstand der zu beweisenden Ausbildung werden allerdings ausdrücklich nur genannt: (1) die Vermeidung sexuellen Fehlverhaltens (2) die Meldung und die seelsorgerliche Behandlung des Beweises von Missbrauch, (3) Verfassung und Recht der Episkopalkirche, insb. die Disziplinarvorschriften, (4) die Lehre der Kirche über Rassismus. Man wird davon ausgehen können, dass der anfangs genannte background check auch die Lehre der Episkopalkirche als Ganzes einbeziehen wird; jedoch zeigt die Aufzählung, was den Verfassern der Vorschrift als besonders wichtig erschien. Da alle Personen, deren Taufe im oben beschriebenen Sinne „recorded“, d. h. entweder im Taufregister oder (wenigstens) im Register of Baptized Persons eingetragen ist, Mitglieder der Episkopalkirche sind, endet die Mitgliedschaft nur bei Streichung aus dem letztgenannten Register.30 Eine solche Streichung sieht Can. I. 17 Sec. 4 nur für den Fall vor, dass ein Gemeindeglied aus dem Gebiet einer Gemeinde wegzieht und dem zuständigen Pfarrer offiziell mitgeteilt wird, dass es aufgrund der ihm er29
Die Schlusswendung des Absatzes bezieht sich auf die hier nicht interessierende Regelung, nach der allgemein nichtkonfirmierte Kirchenmitglieder zur Kommunion zugelassen werden konnten, wenn sie „ready and desirous to be confirmed“ waren. 30 Der Vollzug der Taufe kann natürlich nicht aus dem Taufregister gestrichen werden.
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teilten Mitgliedschaftsbescheinigung „has been enrolled in another congregation of this or another Church“ (Can. I. 17 Sec. 4 (a) Satz 2). „Another Church“ kann nach dem Wortlaut des Kanons auch eine Kirche sein, die mit der Episkopalkirche nicht in kirchlicher Gemeinschaft steht. Die Geistlichen anderer Kirchen können freilich nicht, wie die Geistlichen der Episkopalkirche durch Can. I. 17 Sec. 4 (b), verpflichtet werden, dem Pfarrer der bisherigen Gemeinde die von ihnen vorgenommene Eintragung zu notifizieren. Tun sie es nicht, dann kann der Umgezogene nicht aus dem Register seiner bisherigen Pfarrei gestrichen werden; er bleibt aufgrund der Eintragung Kirchenmitglied. Im Übrigen fehlt auch für den umgekehrten Fall, die Aufnahme eines Mitglieds einer andern Kirche, eine Mitteilungspflicht gegenüber dieser, die – wie schon erwähnt – aus Gründen des ökumenischen Miteinanders wünschenswert wäre. Schließlich ergibt sich aus der dargestellten Regelung, dass ein isolierter Austritt aus der Episkopalkirche ohne Eintritt in eine andere Kirche nicht möglich ist. Eine Belastung für das einzelne Mitglied bedeutet das nicht, da es keine rechtlich erzwingbaren Mitgliedschaftspflichten gibt. Für den „kalten Kirchenaustritt“ gilt auch hier das zu und in Fußnote 24 Gesagte. Ebenso wenig gibt es einen Ausschluss aus der Episkopalkirche. Wie die Exkommunikation berührt auch die Feststellung des „Abandonment of The Episcopal Church“ Can. IV. 16) die Kirchenmitgliedschaft nicht. Diesen Tatbestand gibt es nur für Bischöfe (Can. IV. 16 Sec. 1, 2) sowie Priester und Diakone (Can. IV. 16 Sec. 3, 4). Er kann bestehen in i.
einer offenen Ablehnung von Lehre, Disziplin oder Gottesdienst der Episkopalkirche,
ii. der förmlichen Aufnahme in eine religiöse Körperschaft, die nicht in Gemeinschaft mit der Episkopalkirche steht, iii. (bei einem Bischof:) der Vornahme bischöflicher Akte in einer und für eine religiöse Körperschaft, die nicht in Gemeinschaft mit der Episkopalkirche steht, mit dem Ziel, das geweihte Amt, wie es in der Episkopalkirche besteht, auf diese Körperschaft auszudehnen, oder die Spendung der Firmung (Confirmation) namens einer solchen Körperschaft ohne ausdrücklichen Auftrag der zuständigen kirchlichen Autorität (der Episkopalkirche) oder (bei einem Priester oder Diakon) „in any other way“. Die Rechtsfolge kann nur „Deposition or Release and Removal“ sein, also ein Amtsverlust (Can. IV. 16 Sec. 2, 4), nicht aber die Beendigung der Kirchenmitgliedschaft.
Beitritt, Austritt, Wechsel des Religionsbekenntnisses und Wiedereintritt Theologische und kanonistische Anmerkungen aus römisch-katholischer Perspektive Von Wilhelm Rees Das Christentum ist ebenso wie das Judentum, der Islam und das Bahaitum „eine sich auf eine göttliche Offenbarung stützende Religion, die konzeptionell auf ihre globale Ausdehnung angelegt ist“1. Daher kann, wie Christoph A. Stumpf feststellt, „im Prinzip … keine Offenbarungsreligion einer vollständigen Religionsfreiheit einschließlich des Rechts auf Religionswechsel hin zu fremden Religionen und des Rechts auf Mission zugunsten fremder Religionen vorteilhaft gegenüberstehen“2. Im Folgenden soll – nach einem Blick auf staatliche Regelungen zu Kirchenbeitritt, Austritt und Übertritt in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich – der Blick auf die Regelungen der römisch-katholischen Kirche zu diesem Bereich sowie kurz auf jene der evangelischen Kirche gerichtet werden.
1. Religionsrechtliche Regelungen zu Kirchenbeitritt, Austritt und Übertritt in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich Der freie Beitritt zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, aber auch der Wechsel einer Religion oder Weltanschauung und der Kirchenaustritt sind Kennzeichen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und in einem solchen grundrechtlich gewährleistet. Grundlage hierfür bildet dessen religiös-weltanschauliche Neutralität und insbesondere die Gewährleistung des Rechts auf Religionsfreiheit. Es dauerte im Europa der Neuzeit allerdings lange, bis sich das Recht auf Religions-
1 Christoph A. Stumpf, Die Freiheit des Religionswechsels als Herausforderung für das religiöse Recht des Islam und des Christentums, in: ZevKR 48 (2003), S. 129 – 148, hier 141. 2 Stumpf, ebd., S. 141.
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Wilhelm Rees
freiheit herausgebildet und etabliert hat. Weithin war dieser Prozess mit Glaubenskämpfen, Gewalt und Leid verbunden3.
a) Bundesrepublik Deutschland Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig durch hohe Austrittszahlen aus der römisch-katholischen sowie der evangelischen Kirche und zunehmend davon gekennzeichnet, dass immer mehr Personen keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören oder ihr Bekenntnis bzw. ihre Religion wechseln4. Letzteres ist nicht zuletzt durch einen wachsenden Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund bedingt5. Wie Gerhard Robbers bemerkt, wurde in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert zunächst nur „die Möglichkeit eines Übertritts zwischen den zugelassenen Konfessionen normiert“, während „der bloße Austritt ohne Übertritt zu einem anderen Bekenntnis … undenkbar“ gewesen war6. Gegenwärtig gewährleisten in der Bundesrepublik Deutschland Art. 4 GG und Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 – 141 WRV Religionsfreiheit im umfassenden Sinn7. Art. 4 GG und Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 WRV garantieren individuelle Religionsfreiheit, d. h. das Recht der einzelnen Person zur Bestimmung ihrer Religions- bzw. Kirchenzugehörigkeit, aber auch zum Wechsel und Austritt aus einer Kirche und Religionsgemeinschaft. Näherhin zählt die Regelung der Kirchenmitgliedschaft zu den „eigenen Angelegenheiten“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV) und damit zum Selbstbestimmungsrecht dieser Gemeinschaften8. „Das kirchliche Selbstverständnis von der Kirchenzugehörigkeit 3
Vgl. Wilhelm Rees, Häresie, Apostasie und innerchristliche Gewalt in kirchenrechtlicher Sicht, in: Georg Plasger und Heinz-Günther Stobbe (Hrsg.), Gewalt gegen Christen. Formen, Gründe, Hintergründe, Leipzig 2014, S. 295 – 327. 4 Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2017: 2.7. Kirchen und Jüdische Gemeinden: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/StatistischesJahrbuch/Bevoelkerung.pdf; jsessionid=6D4C1FA6 A4 A6F62FC7D5DBDC04B1FB51.InternetLive2?__blob=publication File (einges. 3. 3. 2018). 5 Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2017: 2.3. Migration: https://www. destatis.de (wie Anm. 4). 6 Gerhard Robbers, Kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Fragen des Kirchenübertritts, in: ZevKR 32 (1987), S. 19 – 46, hier 21; ebenso Christoph Link, Kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Fragen des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, in: ÖAKR 22 (1971), S. 299 – 322, hier 316. 7 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1); Text: http://www.bundestag.de/gg (einges. 3. 3. 2018); Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Siehe Ansgar Hense, Kirche und Staat in Deutschland, in: HdbKathKR3, S. 1830 – 1865, bes. 1844 – 1856. 8 Vgl. Axel v. Campenhausen, Art. Kirchenmitgliedschaft. III. Staatl., in: LKStKR 2 (2002), S. 494 f., hier 494; ders./Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. Ein Studienbuch,
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durch Taufe bzw. Konversion“, wird somit, wie Heinrich J. F. Reinhardt ausdrücklich bemerkt, „vom staatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland anerkannt“9. „Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat darf eine natürliche Person ebenso wenig ohne ihren Willen als Kirchenmitglied behandeln wie er den Kirchen Mitglieder gegen ihren Willen aufdrängen darf.“10 Sofern die von einem Wechsel des Bekenntnisses betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen, muss eine Person vor ihrem Übertritt zunächst den Austritt aus ihrer bisherigen Kirche oder Religionsgemeinschaft erklären, um „die bürgerliche Wirksamkeit“ des Übertritts sicherzustellen11. Eine Ausnahme macht das Gesetz über den Austritt aus Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts in Niedersachsen (Kirchenaustrittsgesetz – KiAustrG) vom 4. Juli 1973 (GVBl. 221)12. Hier heißt es in § 5 Abs. 1 Satz 1: „Wer aus einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft, die die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzt, in eine andere derartige Körperschaft übertreten will, kann anstelle des Austritts bei der aufnehmenden Körperschaft den Übertritt erklären, sofern die beteiligten Körperschaften den Übertritt durch Vereinbarung zugelassen haben.“ Es gehört somit, wie Ilona Riedel-Spangenberger bemerkt, „zum Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Kirchen, ihr Einverständnis zu einer solchen München 42006, S. 149 – 151; Hense, Deutschland (Anm. 7), bes. S. 1850 – 1853; Michael Germann, Art. Kirchenmitgliedschaft, in: Hans Michael Heinig/Hendrik Munsonius (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht, Tübingen 22015, S. 130 – 134, hier 130 f.; Heinrich de Wall, Evangelisches Kirchenrecht, in: ders./Stefan Muckel, Kirchenrecht. Ein Studienbuch, München 52017, S. 248 – 398, hier 282, Rdnr. 2. 9 Heinrich J. F. Reinhardt, Art. Kirchenzugehörigkeit. II. Kath., in: LKStKR 2 (2002), S. 553 – 554, hier 553, unter Hinweis auf Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kindertaufe vom 31. März 1971: BVerfGE 30, 415 ff. 10 Johannes Kuntze, Mitgliedschaft und Mitgliedschaftsrecht, in: Hans Ulrich Anke/Heinrich de Wall/Hans Michael Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 2016, S. 201 – 227, hier 203, Rdnr. 3; s. auch ders., Bürgerliche Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften. Studie über die Rechtsbeziehungen der Mitglieder zu den römischkatholischen, evangelischen, jüdischen und islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland (= Göttinger Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 4), Göttingen 2013. 11 So ausdrücklich Robbers, Fragen (Anm. 6), S. 23 mit Anm. 20, unter Hinweis auf Hanns Engelhardt, Der Austritt aus der Kirche (= Aktuelles Recht 17), Frankfurt/Main 1972, S. 75; s. auch ebd., 90 – 93; ferner Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Konversion. II. Staatl., in: LKStKR 2 (2002), S. 637 – 638, hier 638; dies., Konversion und Rekonziliation im Recht des Staates und der Kirche, in: Heribert Hallermann (Hrsg.), Ökumene und Kirchenrecht – Bausteine oder Stolpersteine?, Mainz 2000, S. 157 – 164, hier 158, unter Hinweis auf preußisches Gesetz, betreffend den Austritt aus den Religionsgesellschaften öffentlichen Rechts vom 30. November 1920 (GS 1921, S. 119); Text: https://www.kirchenrecht-rheinland.de/pdf/3047. pdf (einges. 3. 3. 2018). 12 http://www.nds-voris.de/jportal/portal/t/1 h3a/page/bsvorisprod.psml/action/portlets.jw. MainAction?p1=6&eventSubmit_doNavigate=searchInSubtreeTOC&showdoccase=1&doc. hl=0&doc.id=jlr-KiAustrGNDV1P5&doc.part=S&toc.poskey=#focuspoint (einges. 3. 3. 2018) und: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata%2Fges%2FNdsKiAustrG%2Fcont% 2FNdsKiAustrG%2EP5 %2Ehtm (einges. 3. 3. 2018); s. dazu Robbers, Fragen (Anm. 6), S. 26 – 28.
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staatlichen Übertrittsregelung zu geben“13. „Die in der Vereinbarung bestimmte Stelle der aufnehmenden Körperschaft hat dem nach § 2 Abs. 1 zuständigen Standesbeamten unverzüglich eine beglaubigte Abschrift der Übertrittserklärung zu übersenden“ (§ 5 Abs. 3 KiAustrG). „Der Übertritt wird mit Zugang der Mitteilung an den Staatsbeamten wirksam. Der Übertritt hat die in § 3 Abs. 2 bestimmte Wirkung eines Austritts. Hierüber erteilt der Standesbeamte dem Übergetretenen eine Bescheinigung“ (§ 5 Abs. 4 KiAustrG)14. Multilaterale Vereinbarungen dieser Art haben bereits im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bestanden und finden sich „seit 1. 7. 1985 im Bereich der ACK Baden-Württemberg sowie seit 1. 7. 1998 im Bereich des Freistaates Sachsen“15. Wie Heribert Hallermann aufzeigt, kann die römisch-katholische Kirche „weder auf Grund ihrer Ekklesiologie noch auf Grund der für sie geltenden staatskirchenrechtlichen Regelungen dem Modell eines sogenannten ,Übertritts‘ beitreten“16. Wer von einer privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaft zu einer anderen oder zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, übertreten will, muss dies über den Austritt gemäß § 39 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) tun17. Im Fall eines Religionswechsels Minderjähriger ist das Gesetz über die religiöse Kindererziehung zu berücksichtigen: „Nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden“ 13 Riedel-Spangenberger, Konversion (Anm. 11), S. 638; dies., Konversion und Rekonziliation (Anm. 11), S. 158, unter Hinweis auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV; s. auch Heribert Hallermann, Zu Fragen der Kirchenmitgliedschaft, des Kirchenaustritts und des sogenannten Übertritts aus der Sicht des Katholischen Kirchenrechts, in: Una Sancta 57 (2002), S. 84 – 96. 14 Kritisch merkt Robbers, Fragen (Anm. 6), S. 27, an, dass eine Person, die aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzt, in eine privatrechtliche Religionsgemeinschaft übertreten will, „nach dem Wortlaut des Kirchenaustrittsgesetzes auf den Weg des Austritts beschränkt“ bleibt, was „im Interesse der Rechtsklarheit und der Sicherstellung geordneten verwaltungstechnischen Ablaufes gerechtfertigt erscheinen (mag), … aber die Freiheit sowohl des Übertretenden wie die der beteiligten Kirchen oder Religionsgemeinschaften“ verkürzt. 15 Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 86 – 89, hier 86; s. dazu auch unten 6. 16 Hallermann, ebd., S. 96; vgl. auch Joseph Listl, Die Rechtsfolgen des Kirchenaustritts in der staatlichen und kirchlichen Rechtsordnung, in: Winfried Schulz (Hrsg.), Recht als Heilsdienst. FS Kaiser (65), Paderborn 1989, S. 160 – 186, hier 173; abgedr. in: ders., Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht. Zweiter Halbband. Hrsg. von Josef Isensee und Wolfgang Rüfner i. V. m. Wilhelm Rees (= SKRA 25), Berlin 1996, S. 648 – 671, hier 661, der bemerkt, dass „der eigentliche Adressat der Kirchenaustrittserklärung nicht die staatliche Behörde, vor der die Erklärung abzugeben ist, sondern die Kirche“ ist. 17 https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/BJNR001950896.html (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.buergerliches-gesetzbuch.info/bgb/39.html (einges. 3. 3. 2018). Josef Jurina, Die Religionsgemeinschaften mit privatrechtlichem Rechtsstatus, in: HdbStKirchR I (1974), S. 587 – 605, hier 602, hatte bereits darauf hingewiesen, dass die in § 39 Abs. 2 BGB vorgesehene Kündigungsfrist „im Hinblick auf Art. 4 GG zu lang“ ist.
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(§ 5 RelKErzG)18. Wie eine Kirche oder Religionsgemeinschaft den Übertritt oder Austritt bewertet bzw. darauf reagiert, ist für den religiös-weltanschaulich neutralen Staat ohne Belang. Mit der Erklärung des Austritts erlöschen jedoch staatlicherseits alle mit der Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft verbundenen Rechte bzw. Pflichten, wie u. a. die Teilnahmepflicht am konfessionellen Religionsunterricht der öffentlichen Schule oder die Kirchensteuerpflicht.
b) Republik Österreich Auch die Republik Österreich gewährleistet im Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ (Art. 14 Abs. 1 StGG)19 und überlässt die Regelung der Mitgliedschaft der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft im Sinn einer inneren Angelegenheit (vgl. Art. 15 StGG)20. Wie Herbert Kalb, Richard Potz und Brigitte Schinkele betonen, ist „die Entscheidung darüber, ob eine Person, die einer Religionsgemeinschaft beitritt, die Bedingungen der Aufnahme erfüllt hat, … staatlicher Beurteilung gänzlich entzogen“21. Ausdrücklich legt § 3 des Gesetzes vom 20. Mai 1874, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften (AnerkennungsG), fest, dass „die Erfordernisse der Zugehörigkeit und die Art des Beitrittes zu einer anerkannten Religionsgesellschaft … durch deren Verfassung bestimmt“ werden22. Damit ist die kirchenrechtliche Regelung auch für den weltlichen Bereich ver18
https://www.gesetze-im-internet.de/kerzg/BJNR009390921.html (einges. 3. 3. 2018). RGBl. 1867/142, Art. 14 Abs. 1: „Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist Jedermann gewährleistet.“ https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnor men&Gesetzesnummer=10000006 (einges. 3. 3. 2018). 20 „Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Cultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonde, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.“ Siehe dazu Wilhelm Rees, Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche Problematik, in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz (= Die österreichischen Bischöfe 10) (= Bischof DDr. Klaus Küng zur Vollendung des 70. Lebensjahres), Wien 2010, S. 38 – 61, hier 41 f.; ferner: http://www.bischofskonferenz.at/dl/MMrkJKJKKoolOJqx4kJK/ Heft10_Zugehoerigkeit_zur_Katholischen_Kirche.pdf (einges. 3. 3. 2018); s. auch Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (= BzMK 6), Essen 1992, S. 152 – 159, bes. 155 – 159; zum Staat-Kirche-Verhältnis in Österreich s. insbesondere Alfred Rinnerthaler, Kirche und Staat in Österreich, in: HdbKathKR3, S. 1866 – 1887. 21 Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 159, unter Hinweis auf VwSlg 11255 A/1916. 22 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnum mer=10009173 (einges. 3. 3. 2018); s. auch Liste der Gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften in der Republik Österreich: https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/ public/content/82/Seite.820015.html (einges. 3. 3. 2018). 19
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bindlich. Die Glaubensprüfung bei Asylwerbern im Rahmen des Asylverfahrens durch staatliche Stellen in Form der dort vorgesehenen Interviews ist daher unverständlich bzw. nicht nachvollziehbar23. Wenngleich die Bekanntgabe des Eintritts an die Behörde nicht vorgesehen ist, so steht es allen Bürgerinnen und Bürgern „frei, das Glaubensbekenntnis bzw. eine allfällige Änderung auf dem MeldezettelFormular zu vermerken“24. Die Kirchenzugehörigkeit begründet die Pflicht zur Teilnahme am konfessionellen Religionsunterricht der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft in der öffentlichen Schule sowie zur Entrichtung von Kirchenbeitrag im Fall der katholischen, der evangelischen und der altkatholischen Kirche. Der Kirchenzugehörigkeit kommt auch Bedeutung im Melde- und Datenschutz- sowie im Arbeitsrecht zu. Ebenso wie die Mitgliedschaft in gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften ist auch jene in staatlich eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften25 intern zu regeln. Gemäß § 4 Abs. 1 Ziffer 4 des Bundesgesetzes über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften (BekGG)26 haben die Statuten „Bestimmungen betreffend den Beginn der Mitgliedschaft und die Beendigung der Mitgliedschaft“ zu enthalten. Ein Kirchenaustritt im staatlichen Bereich entfaltet, wie Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. Mai 1868, wodurch die interconfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden (InterkonfG), herausstellt, erst und nur dann „seine gesetzliche Wirkung“, wenn „der Austretende denselben der politischen Behörde“ meldet, „welche dem Vorsteher oder Seelsorger der verlassenen Kirche oder Religionsgenossenschaft die Anzeige übermittelt“27. Wenn Art. 6 Abs. 2 InterkonfG bemerkt, dass „den Eintritt in die neu gewählte Kirche oder Religionsgenossenschaft … der Eintretende dem betreffenden Vorsteher oder Seelsorger persönlich erklären“ muss, so ging der Gesetzgeber damals davon aus, dass ein Austritt allein nicht möglich ist, sondern immer mit einem Religionswechsel verbunden sein muss. „Die zur Entgegennahme der Erklärung des Ausritts aus einer Kirche oder Religionsgesellschaft berufene politische Behörde“ ist nach § 1 der Verordnung der Minister des Cultus und des Innern vom 18. Jänner 1869, betreffend den Vollzug der, den Uebertritt von einer Kirche 23 Vgl. Wilhelm Rees, Welche Verantwortung übernimmt die Pfarrgemeinde mit der Aufnahme von Menschen im Asylverfahren in den Katechumenat und der anschließenden Taufe? (Kirchen-)rechtliche Anmerkungen. Referat beim Studientag „Welche Verantwortung übernimmt die Pfarrgemeinde mit der Taufe von Menschen im Asylverfahren?“ am 23. März 2018 im Haus der Begegnung, Innsbruck (bisher unveröffentlicht). 24 Siehe Allgemeines zum Eintritt in eine Religionsgemeinschaft (30. 01. 2018): https:// www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/82/Seite.820002.html (einges. 3. 3. 2018). 25 Zu den einzelnen staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften in der Republik Österreich s. https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/82/Seite. 820016.html (einges. 3. 3. 2018); dazu Johann Bair/Wilhelm Rees (Hrsg.), Staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften in Österreich (= Religion und Staat im Brennpunkt, Bd. 3), Innsbruck 2018. 26 BGBl. I 1998/19: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnor men&Gesetzesnummer=10010098 (einges. 3. 3. 2018). 27 RGBl. 1868/49: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnor men&Gesetzesnummer=10009169 (einges. 3. 3. 2018).
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oder Religionsgesellschaft zur anderen, regelnden Bestimmungen des Gesetzes vom 25. Mai 1868 (ÜbertrittsVO) die „politische Bezirksbehörde (Bezirkshauptmannschaft) des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Meldenden, und in jenen Städten, die eigene Gemeindestatute haben, die mit der politischen Amtsführung betraute Gemeindebehörde“28, d. h. heute die Bezirkshauptmannschaft, in Statutarstädten der Magistrat und in Wien das Magistratische Bezirksamt29. Ähnlich legt § 8 Abs. 1 BekGG fest, dass die Beendigung der Mitgliedschaft in einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft „durch die Erklärung des Austrittes vor der Bezirksverwaltungsbehörde“ erfolgt, die „den Austritt der betreffenden religiösen Bekenntnisgemeinschaft mitzuteilen“ hat30. Für den Fall, dass bei einem Religionswechsel der Beitritt zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ohne Erklärung des Austritts aus der bisherigen Gemeinschaft vor der staatlichen Behörde erfolgt, bleibt, wie Kalb/Potz/ Schinkele betonen, „der Beitritt ohne Rechtsfolgen im staatlichen Bereich“31. Dies gilt seit dem Jahr 1868 (vgl. InterkonfG) mit Blick auf den Austritt aus gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften, seit dem Jahr 1998 auch mit Blick auf staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften (vgl. BekGG). Durch die Änderung der Religion bzw. des Bekenntnisses gehen gemäß Art. 5 InterkonfG im Bereich des staatlichen Rechts „alle genossenschaftlichen Rechte der verlassenen Kirche oder Religionsgenossenschaft an den Ausgetretenen ebenso wie die Ansprüche dieses an jene verloren“. Der Staat vermeidet mit Blick auf den Austritt aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft „einen Eingriff in den innerkirchlichen Rechtsbereich“32, indem er die Folgen dieses Schrittes auf die bürgerlichen Wirkungen beschränkt und eventuelle innerkirchliche Auswirkungen der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft überlässt. Zusatzerklärungen, wie z. B. die Einschränkung, trotz der Erklärung des Austritts vor einer staatlichen Behörde aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, weiterhin dieser Gemeinschaft angehören zu wollen, haben – wie in der Bundesrepublik Deutschland – auch in der Republik Österreich keine rechtliche Relevanz. Für den Religionswechsel Jugendlicher gilt das Bundesgesetz über die religiöse Kindererziehung33. Sofern die bzw. der Ju28
Reichsgesetzblatt Nr. 49 (RGBl. 1869/13): https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung. wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009171 (einges. 3. 3. 2018). 29 Vgl. Allgemeines zum Austritt aus einer Religionsgemeinschaft (30. 01. 2018): „Die Erklärung über den Austritt aus einer Religionsgemeinschaft erfolgt über eine Behörde … Der Austritt erfolgt durch persönliche Vorsprache oder schriftlich … Die Austrittserklärung wird von der Behörde an die zuständige Vertretung der Religionsgemeinschaft weitergeleitet.“ Erforderliche Unterlagen sind dabei ein amtlicher Lichtbildausweis und der Nachweis der Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft. Siehe: https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/ public/content/82/Seite.820004.html (einges. 3. 3. 2018). 30 „Gebühren anläßlich des Austrittes dürfen nicht gefordert werden.“ Siehe § 8 Abs. 2 BekGG. 31 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 21), S. 160. 32 Dazu Schwendenwein, Staatskirchenrecht (Anm. 20), S. 156 Anm. 146, unter Hinweis auf Landesgericht Salzburg 32 R 85/83 vom 20. April 1983. 33 BGBl. 1985/155, § 5: „Nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat
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gendliche noch nicht 14 Jahre alt und damit religionsmündig ist, müssen folgende Abstufungen berücksichtigt werden: Bis zum 10. Geburtstag bestimmen die Eltern die Religionszugehörigkeit des Kindes. Dies gilt auch vom 10. bis zum 12. Geburtstag mit Blick auf das Religionsbekenntnis sowie den Verbleib in oder den Austritt aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, wobei das Kind jedoch angehört werden muss. Für einen Austritt ist die ausdrückliche Zustimmung beider Elternteile erforderlich. Vom 12. bis zum 14. Geburtstag ist ein Wechsel der Religion gegen den Willen des Kindes nicht mehr möglich. Art. 9 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschrechtskonvention EMRK)34, die in Österreich zum Bestand der Bundesverfassung zählt (vgl. BGBl. 1958/219)35, gewährleistet die „Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung“, ebenso Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte36. In vielen Staaten der Welt ist ein Religionswechsel mit rechtlichen und praktischen Konsequenzen für die betreffende Person verbunden, wenn dieser in Form der Abwendung von der Staatsreligion erfolgt, in islamischen Ländern auch strafbar37. Ausdrücklich hat Papst Benedikt XVI. das Recht auf Religionswechsel auch für islamische Länder eingefordert38. das Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.“ Text: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFas sung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009571 (einges. 3. 3. 2018); s. auch Allgemeines zum Eintritt (Anm. 24); ferner Religionsmündigkeit (30. 1. 2018): https://www. help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/82/Seite.820012.html (einges. 3. 3. 2018). 34 Vom 4. November 1950, Art. 9 Abs. 1: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“ Text : https://www.ris.bka. gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR12016940 (einges. 3. 3. 2018). 35 Die EMRK und das 1. Zusatzprotokoll sind gemäß BVG BGBl. Nr. 59/1964 mit Verfassungsrang ausgestattet: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundes normen&Gesetzesnummer=10000308 (einges. 3. 3. 2018). 36 Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, Art. 18: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“ Text: http://www.ohchr.org/EN/ UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger (einges. 3. 3. 2018); s. auch Wolf von der Wense, Das Recht zum Religionswechsel. Religionsfreiheit ist fundamentales Kernstück des Kanons der bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte (Juli 2006): https://www.igfm.de/themen/scha ria/apostasie/das-recht-zum-religionswechsel-von-dr-wolf-von-der-wense-juli-2006/ (einges. 3. 3. 2018). 37 Vgl. Giuseppe Nardi, In 20 (islamischen) Staaten ist Religionswechsel Straftat – Religionsfreiheit ist nicht nur Kultfreiheit (30. 11. 2012): https://www.katholisches.info/2012/11/in20-islamischen-staaten-ist-religionswechsel-straftat-religionsfreiheit-ist-nicht-nur-kultfreiheit/ (einges. 3. 3. 2018); s. auch Stumpf, Freiheit (Anm. 1), S. 132 – 140.
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Zusammenfassend kann mit Blick auf die staatlichen Regelungen gesagt werden, dass bezüglich der Zugehörigkeit einer Person zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland und ebenso in der Republik Österreich das eigene Recht der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft bzw. Bekenntnisgemeinschaft gilt. Für den Eintritt in eine Kirche oder Religions- bzw. Bekenntnisgemeinschaft ist die jeweilige Kirche, Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft zuständig und deren Rechtsordnung hierfür verbindlich. Der Eintritt in eine Kirche, Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft ist somit eine Angelegenheit der jeweiligen Kirche, Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft, während der Austritt im Wege der zuständigen staatlichen Behörde erfolgen muss. Im Fall eines Wechsels der Religion muss – sofern keine Vereinbarungen bestehen, was nicht bzw. nur im evangelischen Bereich in der Bundesrepublik Deutschland zum Teil gegeben ist, der Austritt vor der staatlichen Behörde erklärt werden. Austritt und Religionswechsel sind somit nicht nur Angelegenheit eines Individuums, sondern unterliegen auch staatlicher Regelung39. Ebenso kennen Kirchen, Religions- und Bekenntnisgemeinschaften hierfür entsprechende Regelungen bzw. auch Sanktionen und Strafmaßnahmen. Für Kirchen, Religions- und Bekenntnisgemeinschaften hat ein Religionswechsel immer sowohl eine ekklesiologische als auch eine pastorale Perspektive. Zudem kommt das Recht auf Religionsfreiheit in den Blick. Die Frage nach einem Religionswechsel wird für die römisch-katholische Kirche relevant, wenn eine in der römisch-katholischen Kirche getaufte Person zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft wechseln, und ebenso, wenn eine Person aus einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft in die römisch-katholische Kirche aufgenommen werden will. Beide Möglichkeiten sind im Folgenden – neben den Bestimmungen zum Eintritt in die römisch-katholische Kirche – näher in den Blick zu nehmen.
2. Die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche Bezüglich Eintritt, Austritt und Religionswechsel sowie eines evtl. Wiedereintritts spielt das Selbstverständnis der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft eine entscheidende Rolle.
a) Zur Frage der Heilsnotwendigkeit der Kirche Wie das Zweite Vatikanische Konzil betont, hat „Gott selbst … dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in 38 Vgl. Recht auf Religionswechsel (19. 12. 2008): https://www.onetz.de/deutschland-unddie-welt-r/archiv/recht-auf-religionswechsel-d216183.html (einges. 3. 3. 2018). 39 Vgl. Übertritt in gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften (30. 01. 2018): https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/82/Seite.820201.html (einges. 3. 3. 2018).
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Christus erlöst und selig werden können. Diese einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten“ (Art. 1 Abs. 2 VatII DH). Näherhin sind, wie das Konzil betont, „alle Menschen … ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren“ (Art. 1 Abs. 2 VatII DH; vgl. auch Art. 2 Abs. 2 VatII DH). Somit stellt sich die Frage, ob die katholische Kirche der einzige Weg zum Heil bzw. nur ein Weg unter mehreren Wegen ist? Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ betont, dass die Kirche „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ ist (Art. 1 VatII LG), und im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche diese als „das allumfassende Sakrament des Heils“ (universale salutis sacramentum) definiert (vgl. Art. 1 Abs. 1 VatII AG, unter Hinweis auf Art. 48 VatII LG). „Gestützt auf die Heilige Schrift und die Tradition“ lehrt das Konzil, „daß diese pilgernde Kirche zum Heil notwendig“ ist (Art. 14 Abs. 1 VatII LG). Denn „Christus allein ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird“ (ebd.). Daraus folgert das Zweite Vatikanische Konzil, dass „jene Menschen nicht gerettet werden (können), die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten“ (Art. 14 Abs. 1 VatII LG; vgl. Art. 7 Abs. 1 VatII AG)40. Somit erscheint die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und der diese Zugehörigkeit begründende Akt, nämlich die Taufe, als heilsnotwendig41. Dennoch hat sich das von Origines (185 – 254) entwickelte und von Cyprian von Karthago (um 200 – 258) im engen Sinn angewandte Axiom „extra ecclesiam 40 Zur theologischen Problematik vgl. Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: ders., Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 2004, S. 263 – 582, bes. 389 – 401. 41 Vgl. Beatrix Laukemper, Die Heilsnotwendigkeit der Taufe und das kanonische Taufrecht (= BzMK 7), Essen 1992, bes. S. 18 – 25; Felix Bernard, Die Berufung zur Kirche, in: HdbKathKR3, S. 255 – 267, hier 258 f.; Aymans – Mörsdorf, KanR III (2007), S. 193 f.; s. in diesem Zusammenhang auch Congregatio pro Doctrina Fidei, Declaratio „Dominus Iesus“ de Iesu Christi atque Ecclesiae unitate et universalitate salvifica vom 6. August 2000, in: AAS 92 (2000), S. 742 – 765; dt.: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/ rc_con_cfaith_doc_20000806_dominus-iesus_ge.html (einges. 3. 3. 2018); dies., Responsa ad quaestionibus de aliquibus sententiis ad doctrinam de Ecclesia pertinentibus vom 29. Juni 2007, in: AAS 99 (2007), S. 604 – 608; dt.: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20070629_responsa-quaestiones_ge.html (einges. 3. 3. 2018); dies., Kommentar zu den Antworten zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche; dt.: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_ cfaith_doc_20070629_commento-responsa_ge.html (einges. 3. 3. 2018); neuestens dies., Schreiben „Placuit Deo“ an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte des christlichen Heils vom 22. Februar 2018; dt.: http://www.vatican.va/roman_curia/congregati ons/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20180222_placuit-deo_ge.html (einges. 3. 3. 2018).
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nulla salus – außerhalb der Kirche kein Heil“42 grundsätzlich gewandelt. „Das Zweite Vatikanische Konzil sieht“, wie Felix Bernard bemerkt, „die katholische Kirche als die am vollständigsten ausgerüstete Verwirklichung der universalen Kirche Christi an“43. In diesem Sinn betont das Konzil: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (Art. 8 Abs. 2 VatII LG). Die katholische Kirche nimmt somit, wie Stefan Muckel bemerkt, „für sich in Anspruch, institutionell die volle Verwirklichung dieser einen und einzigen Kirche Christi darzustellen“44. Diese Sicht der katholischen Kirche „schließt nicht aus“, wie das Konzil ausdrücklich feststellt, „daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen“ (Art. 8 Abs. 2 VatII LG). Daher kann das Zweite Vatikanische Konzil betonen, dass die katholische Kirche „nichts von alledem“ ablehnt, was in anderen Religionen „wahr und heilig ist“ (Art. 2 Abs. 2 VatII NA)45. Nachdrücklich hat sich die katholische Kirche auf dem Konzil zum Recht auf religiöse Freiheit bekannt (vgl. VatII DH). Dieses Recht wird nicht von einer menschlichen Instanz verliehen, sondern ist „auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet“ (Art. 2 Abs. 1 VatII DH). Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit Blick auf die Zugehörigkeit zur Kirche „ein dynamisches Verständnis“ entwickelt, indem es von communio plena und communio non plena spricht46. Wie Heinrich J. F. Reinhardt anmerkt, hat das Konzil dadurch „die frühere Gleichsetzung (est) der einen Kirche Jesu Christi mit der ecclesia catholica … wesentlich modifiziert. Die gefundene neue Formel der Subsistenz (subsistit in Ecclesia catholica) ermöglicht einerseits die weitere Identifizierung der katholischen Kirche mit der von Christus gestifteten Kirche aller Getauften, andererseits lässt es die Anerkennung der nichtkatholischen Kirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften zu“, wie sie durch das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich erfolgt ist47. Somit gehören nach katholischer Auffassung die Angehörigen der anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften „zwar durch die Taufe der einen Kirche Christi an. Ihre konkreten Gemeinschaften repräsentieren aber … nur partiell die Kirche Christi“48. Diese Sicht greift der kirchliche Gesetzgeber im geltenden kirchlichen Gesetzbuch für die lateinische Kirche, dem Codex Iuris Cano42 Vgl. 4. Laterankonzil (11.–30. November 1215): „Una vero est fidelium universalis Ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur“, unter Hinweis auf Cyprian. Lat./dt.: DH 802. 43 Bernard, Berufung (Anm. 41), S. 259, unter Hinweis auf Art. 3 VatII UR. 44 Stefan Muckel, Katholisches Kirchenrecht, in: de Wall/Muckel, Kirchenrecht (Anm. 8), S. 95 – 247, hier 111 f., Rdnr. 6. 45 Vgl. Roman Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: Hünermann/Hilberath, Herders Theologischer Kommentar (Anm. 40), Bd. 3 (2005), S. 591 – 693, hier 653 – 658. 46 So Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 91, unter Hinweis auf Art. 14 und 15 VatII LG. 47 Reinhardt, Kirchenzugehörigkeit (Anm. 9), S. 553. 48 Muckel, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 44), S. 112, Rdnr. 7.
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nici vom 25. Januar 1983 (CIC), auf, wenn er betont: „Durch die Taufe wird der Mensch der Kirche Jesu Christi eingegliedert und in ihr zur Person mit den Pflichten und Rechten, die den Christen unter Beachtung ihrer jeweiligen Stellung eigen sind“ (c. 96 CIC; vgl. auch c. 204 § 1 CIC; c. 751 CCEO). Zugleich erfolgt mit der Taufe die Eingliederung in eine bestimmte Kirche oder kirchliche Gemeinschaft. „Voll in der Gemeinschaft der katholischen Kirche in dieser Welt stehen jene Getauften, die in ihrem sichtbaren Verband mit Christus verbunden sind, und zwar durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung“ (c. 205 CIC; vgl. c. 8 CCEO, Art. 14 Abs. 2 VatII LG). Diese drei so genannten vincula, d. h. die Gemeinschaft im Glauben, in den Sakramenten und in der kirchlichen Leitung, „die in Anlehnung an Robert Bellarmin von der Apologetik bisher zur Umschreibung der Ecclesia Jesu Christi dienten“, sind nunmehr aufgrund der durch das Zweite Vatikanische Konzil erneuerten Ekklesiologie „die Identifikationsmerkmale der plena communio der katholischen Kirche“49. Diese neue Sichtweise ermöglicht auch die Zuordnung von anderen, d. h. nichtkatholisch getaufter Christinnen und Christen zur katholischen Kirche und zwar derart, dass für sie „eine graduell abgestufte communio non plena mit der katholischen Kirche“ besteht50. Der kirchliche Gesetzgeber übernimmt die Gedanken des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. Art. 1 Abs. 2 VatII DH), wenn er in c. 748 § 1 CIC51 feststellt, dass „alle Menschen … gehalten (sind), in den Fragen, die Gott und seine Kirche betreffen, die Wahrheit zu suchen“ und sie „kraft göttlichen Gesetzes die Pflicht und das Recht (haben), die erkannte Wahrheit anzunehmen und zu bewahren“. Gemäß c. 748 § 2 CIC (vgl. auch c. 586 CCEO, Art. 10 VatII DH, can. 1351 CIC/1917) hat niemand „jemals das Recht, Menschen zur Annahme des katholischen Glaubens gegen ihr Gewissen durch Zwang zu bewegen“. Diese Norm entspricht der Forderung des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach „die Würde des Menschen verlangt …, daß er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blinden innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang“ (Art. 17
49 Reinhardt, Kirchenzugehörigkeit (Anm. 9), S. 553; s. auch Rüdiger Althaus, Zugehörigkeit zur Kirche, in: HdbKathKR3, S. 268 – 288, bes. 266 – 277. 50 Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 91; s. auch ders., Die Rechtsstellung nichtkatholischer Christen im Codex von 1983, in: ders., Ökumene und Kirchenrecht (Anm. 11), S. 30 – 48. 51 Vgl. Ludger Müller, Zum Glauben verpflichtet? Anmerkungen zu c. 748 § 1 CIC, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae Mysterio. FS Aymans (65), St. Ottilien 2001, S. 389 – 404, der aufzeigt, dass die in c. 748 § 1 CIC genannten Pflichten nicht als Pflichten rechtlicher Art zu verstehen sind. Siehe auch ders., Glaubensabwerbung – ein legitimes Mittel der Mission? Mission „zwischen“ Konkurrenz und Toleranz, in: Peter Krämer/Sabine Demel/Libero Gerosa/Alfred E. Hierold/Ludger Müller (Hrsg.), Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand (= KB 10), Berlin 2007, S. 113 – 120; Nerses Sakayan, Mission – Glaubensabwerbung – Proselytismus. Missionsverständnis bei nichtkatholischen Ostkirchen, in: ebd., S. 121 – 134.
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VatII GS)52. Mit c. 748 § 2 CIC erteilt der kirchliche Gesetzgeber „nachdrücklich und grundsätzlich … jedwedem zwanghaften Hinwirken (coactio) auf die Annahme des katholischen Glaubens, damit auch jeder Zwangstaufe oder -katholisierung, wie sie in der Geschichte vorgekommen sind, eine Absage“53. Es war, wie Ludger Müller bemerkt, „eine der wichtigsten Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils, sich von der Argumentationsweise der Schule des öffentlichen Kirchenrechts, des Ius Publicum Ecclesiasticum zu befreien, wonach die Wahrheit alles, der Irrtum hingegen kein Recht hat und Religionsfreiheit immer nur der katholischen Kirche, der wahren Religion, nicht aber anderen Religionen zu gewähren sei, da sich die letztgenannten eben im Irrtum befinden“54. Dennoch ist die römisch-katholische Kirche zur missionarischen Sendung verpflichtet (vgl. c. 781 CIC; c. 584 § 1 CCEO)55.
b) Das Sakrament der Taufe Die Taufe steht am Beginn der christlichen Existenz. Sie ist zugleich das grundlegende Band der Einheit, das alle Christinnen und Christen verbindet. Sie gliedert in die Kirche Jesu Christi, d. h. die Gemeinschaft aller Getauften, zugleich auch in eine bestimmte Kirche oder kirchliche Gemeinschaft ein56. Nach katholischem Verständnis ist die Taufe57 „die Eingangspforte zu den Sakramenten“ (c. 849 CIC; vgl. c. 675 §§ 1 und 2 CCEO) und damit auch Voraussetzung 52 Gemäß Art. 2 Abs. 2 VatII DH bleibt das Recht auf religiöse Freiheit „auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen“. 53 Rüdiger Althaus, Konversion – Abfall vom Glauben oder Freiheit des Glaubens?, in: Krämer/Demel/Gerosa/Hierold/Müller, Recht auf Mission (Anm. 51), S. 189 – 200, hier 197. 54 Müller, Glaubensabwerbung (Anm. 51), S. 118, unter Hinweis auf Peter Krämer, Religionsfreiheit in der Kirche. Das Recht auf religiöse Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung (= Canonistica, Bd. 5), Trier 1981, bes. S. 20 – 22; ders., Religionsfreiheit und christlicher Wahrheitsanspruch, in: Walter Andreas Euler (Hrsg.), 40 Jahre danach. Das Zweite Vatikanische Konzil und seine Folgen, Trier 2005, S. 91 – 114, hier 101 – 106, s. auch Thomas A. Weitz, Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (= DiKa, Bd. 14), St. Ottilien 1997. 55 Franziskus, Adhortatio Apostolica „Evangelii gaudium“. Episcopis Presbyteris ac diaconis viris et mulieribus consecratis omnibusque christifidelibus laicis de Evangelio Nuntiando nostra aetate vom 24. November 2013, in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137; dt.: https:// w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazioneap_20131124_evangelii-gaudium.html (einges. 3. 3. 2018). 56 Wie Ulrich Rhode, Kirchenrecht, Stuttgart 2015, S. 83, bemerkt, nennt der CIC kein „Kriterium für die Entscheidung der Frage, in welche christliche Kirche oder Gemeinschaft jemand durch die Taufe eingegliedert wird … Ausschlaggebend für die Zugehörigkeit ist … die Absicht des Täuflings bzw. seiner rechtlichen Vertreter“. 57 Zur Taufe s. Alfred E. Hierold, Taufe und Firmung, in: HdbKathKR3, S. 1152 – 1169, bes. 1152 – 1164; Johann Hirnsperger, „Sie ließ sich samt ihrem Hause taufen …“ (Apg 16,15). Ein Blick in das katholische Taufrecht, in: ders./Christian Wessely (Hrsg.), Wege zum Heil? Religiöse Bekenntnisgemeinschaften in Österreich: Alt-Alevitische Glaubensge-
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für den Empfang der übrigen Sakramente (vgl. c. 842 § 1 CIC; vgl. c. 675 § 2 CCEO), näherhin auch der weiteren Initiationssakramente, d. h. der Sakramente der Firmung und der Eucharistie. Mit dem Empfang der drei genannten Sakramente ist die christliche Initiation abgeschlossen (vgl. c. 842 § 2 CIC; c. 697 CCEO)58. Der kirchliche Gesetzgeber betont ausdrücklich, dass der tatsächliche Empfang der Taufe oder wenigstens das Verlangen danach „zum Heil notwendig“ ist (vgl. c. 849 CIC). Durch die Taufe wird der Mensch „durch ein untilgbares Prägemal Christus gleichgestaltet“ und unwiderruflich „der Kirche eingegliedert“ (c. 849 CIC; vgl. c. 675 § 1 CCEO). Die Taufe verleiht damit, wie das Sakrament der Firmung und das Sakrament der Weihe, einen unauslöschlichen Charakter (character indelebilis) und kann daher nicht wiederholt werden (vgl. c. 845 § 1 CIC; c. 672 § 1 CCEO). Näherhin wird die Taufe in der katholischen Kirche „als Gnadengeschenk“ gesehen, „das Gott aus Liebe den Menschen unwiderrufbar anbietet und das den Zugang zum Heil erschließt“59. Wie Heribert Hallermann betont, bringt „die seit Augustinus vor allem in der Auseinandersetzung mit den Donatisten entwickelte dogmatische Lehre, wonach den Gläubigen durch die Sakramente der Taufe, der Firmung und der Weihe ein als Character indelebilis bezeichnetes unauslöschliches Merkmal eingeprägt wird, … theologisch zum Ausdruck, daß die durch den Empfang dieser Sakramente bewirkte Verbindung mit Christus und der Kirche vonseiten Gottes nicht zurückgenommen wird, selbst wenn der einzelne Gläubige diese Potenz nicht aktualisiert“60. Es gilt der Grundsatz semel catholicus semper catholicus. Mit Hallermann kann daher festgehalten werden, „dass die Katholische Kirche weder eine Beendigung der Kirchenmitgliedschaft kennt noch einen wirklichen Übertritt von einer christlichen Kirche zu einer anderen“ und auch der staatlicherseits geregelte Kirchenaustritt „nicht zu einer Beendigung der Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche“ führt61. Allerdings können die mit der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche verbundenen Rechte gemindert bzw. eingeschränkt werden.
meinschaft in Österreich (AAGÖ) und Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia). Mit Beiträgen aus anderen Religionsgemeinschaften (= Theologie im kulturellen Dialog, Bd. 7d), Innsbruck, Wien 2018, S. 181 – 213; Muckel, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 44), S. 203 – 206, Rdnr. 21 – 33; Reinhild Ahlers, Art. Taufe, in: LexKR (2004), Sp. 935 – 937; Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Taufe. II. Kath., in: LKStKR 3 (2004), S. 657 – 661. 58 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Die Sakramente der christlichen Initiation in der kirchlichen Rechtsordnung. Eine Untersuchung zur ekklesialen und rechtlichen Bedeutung von Taufe, Firmung und Eucharistie in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der nachfolgenden Rechtsentwicklung (= KStKR 10), Paderborn u. a. 2009. 59 Hirnsperger, Taufrecht (Anm. 57), S. 183. 60 Heribert Hallermann, Art. Character indelebilis, in: LKStKR 1 (22000), S. 334 – 335, hier 334. 61 Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 93. Nach Hallermann, ebd., S. 94, misst die Evangelische Kirche dem Kirchenaustritt „auch eine die Mitgliedschaft beendende Wirkung im innerkirchlichen Rechtsbereich zu“.
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Die Taufe wird – außer in Todesgefahr – „nach der in den gebilligten liturgischen Büchern vorgeschriebenen Ordnung gespendet“ (c. 850 CIC). Näherhin ist zwischen der Kinder- und der Erwachsenentaufe zu unterscheiden62. Erstere ist nach dem Ordo baptismi parvulorum63 zu spenden, wobei nach dem neuen Rituale die Feier außerhalb bzw. innerhalb einer Messe stattfinden kann und spezielle Formen für die Tauffeier für ein Kind in Lebensgefahr und die Einführung in die Kirche für ein Kind, das die Nottaufe empfangen hat, bestehen, letztere nach dem Ordo initiationis christianae adultorum64, wobei nach der Manuskriptausgabe von 2008 u. a. auch ein eigener 62
Vgl. Hierold, Taufe (Anm. 57), S. 1153 f. Vgl. Rituale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Ordo baptismi parvulorum. Editio typica, Typ. Pol. Vat. 1969; zur Inkraftsetzung s. Sacra Congregatio pro Cultu Divino, Decretum de Ordine Baptismi parvulorum recognitio vom 15. Mai 1969, Prot. Nr. 50/69, in: AAS 61 (1969), S. 548; s. Editio typica altera, Typ. Pol. Vat. 1973 (Nachdruck 1986, 2003); ferner: https://de. scribd.com/document/256401777/Ordo-Baptismi-Parvulorum-1973 (einges. 3. 3. 2018); zur Inkraftsetzung s. Sacra Congregatio pro Cultu Divino, Decretum „Cum necesse“ de editione Typica altera „Ordinis baptismi parvulorum“ cum nonnullis variationibus et additamentis inductis vom 29. August 1973; abgedr. in: Ochoa, Leges V, Nr. 4217, Sp. 6642 f.; dt.: Die Feier der Kindertaufe in den katholischen Bistümern des Deutschen Sprachgebietes. Hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und des Bischofs von Luxemburg, Einsiedeln und Köln, Freiburg und Basel, Regensburg, Wien, Salzburg, Linz 1971; s. neuestens Rituale Romanum auf Beschluss des Hochheiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils erneuert und unter der Autorität Papst Pauls VI. veröffentlicht. Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes, 2. authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica altera 1973, Freiburg, Basel, Wien, Regensburg, Freiburg (Schweiz), Salzburg, Linz 2007; ferner: http://www.liturgie.de/liturgie/ pub/litbch/kindertaufe_online.pdf (einges. 3. 3. 2018); approbiert durch die Deutsche Bischofskonferenz am 15. Februar 2005, durch die Österreichische Bischofskonferenz am 15. Juni 2006, durch die Schweizer Bischofskonferenz am 1. März 2006, durch den Erzbischof von Luxemburg am 31. März 2005, durch den Erzbischof von Vaduz am 24. August 2006. Die Feier der Kindertaufe wurde seitens der einzelnen österreichischen Diözesen vom 30. November 2008 an für verbindlich erklärt. In Österreich trat das Rituale „Die Feier der Kindertaufe“ samt pastoraler Einführung mit 1. Adventssonntag 2008 in Kraft. Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Rituale „Feier der Kindertaufe“, in: Abl. ÖBK, Nr. 46 vom 1. September 2008, Nr. II. 5, S. 22; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teil kirchenrecht/oebiko/kindertaufe.html (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.bischofskonferenz. at/dl/rntsJKJKKoonkJqx4KNJK/Amtsblatt_der_Bischofskonferenz_Nr._46_-_01. 09. 2008.pdf (einges. 3. 3. 2018); dazu Wilhelm Rees, Partikularnormen der Österreichischen Bischofskonferenz und der Diözesen Österreichs. Überblick über die Gesetzgebung des Jahres 2008, in: öarr 57 (2010), S. 120 – 175, bes. 126, 127 f., 131, 138 – 141, 155 u. 164; Stephan Haering, Die kirchenrechtliche Ordnung des Sakraments der Taufe. Ein Überblick anlässlich der neuen Ausgabe des liturgischen Buchs zur Kindertaufe, in: KlBl. 88 (2008), S. 284 – 287; s. auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Feier der Kindertaufe. Pastorale Einführung, Januar 2008 (= Arbeitshilfen 220), Bonn 22008. 64 Vgl. Rituale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Ordo initiationis christianae adultorum, Editio typica, Typ. Pol. Vat. 1972; redimpr. emend. 1974; zur Inkraftsetzung s. Sacra Congregatio pro Cultu Divino, Decretum de „Ordine initiationis christianae adultorum“ vom 6. Januar 1972, Prot. Nr. 15/72, in: AAS 64 (1972), S. 252; dt.: dies. (Hrsg.), Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem neuen Rituale Romanum. Studienausgabe (= Pas63
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Ritus für die Feier der Eingliederung in Lebensgefahr, für die Feier der Zulassung zur Taufe für Menschen, die in den christlichen Glauben eingeführt, aber noch nicht getauft sind, sowie die Eingliederung in die Kirche für Menschen, die getauft sind, aber nicht in den Glauben eingeführt wurden, vorgesehen ist. Die Taufe von Kindern, die dem Kindesalter entwachsen sind, mindestens aber derer, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, ist dem Diözesanbischof anzutragen, damit sie von ihm persönlich gespendet wird, wenn er dies für angebracht hält“ (c. 863 CIC). Im Fall der Erwachsenentaufe ist ein Katechumenat vorgeschrieben (vgl. c. 851, 18 CIC), wie ihn bereits das Zweite Vatikanische Konzil gefordert hat (vgl. Art. 64 VatII SC und Art. 14 VatII AG)65. Im Fall der Kindertaufe sind die Eltern und Patinnen bzw. Paten „über die Bedeutung dieses Sakraments und die mit ihm zusammenhängenden Verpflichtungen ordnungsgemäß zu belehren“ (c. 851, 28 CIC; vgl. c. 686 § 2 CCEO), nicht zuletzt in Form eines Taufgesprächs66. Voraussetzung für den Empfang der Taufe sind ein gewisser Taufglaube, die Bitte um die Taufe sowie das Taufvertoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Einsiedeln, Köln und Freiburg, Wien 1975; Liturgische Institute Salzburg, Trier, Zürich (Hrsg.), Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem neuen Rituale Romanum (= Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), 2., durchgesehene und nach dem CIC 1983 korrigierte Aufl., Einsiedeln, Köln, Freiburg, Wien 1986; neuestens: Liturgische Institute Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (Hrsg.), Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche – Grundform. Manuskriptausgabe zur Erprobung, Trier 2001; ferner: http://www.liturgie.de/liturgie/pub/litbch/download/dli_5269_www.pdf (einges. 3. 3. 2018); Liturgische Institute Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz (Hrsg.), Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche – Teil II: In besonderen Situationen. Manuskriptausgabe zur Erprobung, Trier 2008; ferner: http://www.liturgie.de/litur gie/pub/litbch/download/dli_5271_www.pdf (einges. 3. 3. 2018); s. auch Liturgische Institute Salzburg, Trier, Zürich (Hrsg.), Die Eingliederung von Kindern im Schulalter in die Kirche. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Erarbeitet von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im deutschen Sprachgebiet (= Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Einsiedeln, Köln und Freiburg, Wien 1986. 65 Vgl. Reiner Kaczynski, Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Hünermann/Hilberath, Herders Theologischer Kommentar (Anm. 40), Bd. 1 (2004), S. 1 – 227, hier 147 f.; Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zum Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, in: ders./Hilberath, Herders Theologischer Kommentar (Anm. 40), Bd. 4 (2005), S. 219 – 336, hier 278 – 280; zur Geschichte des Katechumenats s. Michel Dujarier, Kurze Geschichte des Katechumenats, in: Katechumenat in Geschichte und Gegenwart (= Pastoral-katechetische Hefte 65), Leipzig 1987, S. 18 – 96; Bruno Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I: Die Feier der Eingliederung in die Kirche (= GdK 7/1), Regensburg 1989, S. 20 – 249. 66 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Richtlinien für die Einführung eines Taufgesprächs mit den Eltern vor der Spendung der Taufe vom März 1971; u. a. in: Verordnungsblatt für die Diözese Innsbruck, 46. Jg., Nr. 6 vom 1. Juni 1971, Nr. 47, S. 34; abgedr. in: Ingrid Jorrisen/Hans Bernhard Meyer, Die Taufe der Kinder. Anleitung für das Taufgespräch. Text und Ritus der Kindertaufe mit Gesängen aus dem künftigen Einheitsgesangbuch. Zur religiösen Erziehung des Kleinkindes, Innsbruck, Wien, München und Würzburg 1972, S. 144 f. Die entsprechende Regelung der Deutschen Bischofskonferenz ist ebd., S. 142 – 144 abgedruckt.
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sprechen bzw. Taufgelübde67. Diese Forderungen sind im Fall der Erwachsenentaufe von der betreffenden Person persönlich zu erfüllen (vgl. c. 865 CIC; c. 682 CCEO), im Fall der Kindertaufe tragen hierfür die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten Verantwortung. Für den Fall, dass diese Voraussetzungen und die Gewähr der Erziehung und Reifung im christlichen Glauben nicht gegeben sind, ist ein Aufschub der Taufe möglich (vgl. c. 868 § 1, 28 CIC; c. 681 § 1, 1. CCEO)68. Der Pfarrer des Ortes, an dem die Taufe gefeiert wurde, ist verpflichtet, die Spendung der Taufe in ein Taufbuch einzutragen (vgl. c. 877 §§ 1 – 3 CIC; c. 689 §§ 1 – 3 CCEO). Wenngleich von manchen getauften Personen nach der Erklärung des Kirchenaustritts vor einer staatlichen Behörde auch die Löschung der Eintragung der Taufe im Taufbuch gefordert wird, besteht ein derartiger Anspruch nicht69. Gemäß den kirchenrechtlichen Bestimmungen wird in die lateinische Kirche durch den Empfang der Taufe „ein Kind von Eltern (aufgenommen), die zu ihr gehören oder die, falls ein Elternteil nicht zu ihr gehört, beide übereinstimmend gewünscht haben, daß ihr Kind in der lateinischen Kirche getauft wird“ (c. 111 § 1 CIC; vgl. c. 29 § 1 CCEO). Sofern diese Übereinstimmung nicht gegeben ist, wird das Kind „der Rituskirche zugeschrieben, zu welcher der Vater gehört“ (c. 111 § 1 CIC; vgl. c. 29 § 1 CCEO). Mit Vollendung des vierzehnten Lebensjahres kann jede Taufbewerberin und jeder Taufbewerber „frei wählen, ob er in der lateinischen Kirche oder in einer anderen Rituskirche eigenen Rechts getauft werden soll“ (c. 111 § 2 CIC; vgl. c. 30 CCEO). Nach Empfang der Taufe werden in eine andere Rituskirche eigenen Rechts aufgenommen, „18 wer die Erlaubnis vom Apostolischen Stuhl erhalten hat; 28ein Ehepartner, der bei Eingehen oder während des Bestehens einer Ehe erklärt, daß er zur Rituskirche eigenen Rechtes des anderen Ehepartners übertrete, … 38 vor der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres die Kinder der 67
Vgl. Hierold, Taufe (Anm. 57), S. 1159 – 1161; Aymans – Mörsdorf, KanR III (2007), S. 202 – 206. 68 Vgl. Bernd Dennemarck, Der Taufaufschub. Dogmatisch-kanonistische Grundlegung und rechtliche Ausgestaltung im Hoheitsgebiet der Deutschen Bischofskonferenz (= DiKa, Bd. 18), St. Ottilien 2003; Heribert Schmitz, Taufaufschub – rechtlich betrachtet, in: AfkKR 143 (1974), S. 443 – 447; zur Spendung der Kindertaufe in zwei Stufen, sofern die Voraussetzungen für die Taufe noch nicht gegeben sind, s. Rituale Romanum auf Beschluss des Hochheiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils erneuert und unter der Autorität Papst Pauls VI. veröffentlicht. Die Feier der Kindertaufe (Anm. 63), S. 141 – 175; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kindertaufe (Anm. 63), Nr. 16, S. 13. 69 Vgl. VGH München, Beschluss vom 16. Februar 2015 – 7 ZB 14.357: http://www.geset ze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2015-N-42482?hl=true (einges. 3. 3. 2018); für Österreich s. Datenschutzkommission, Entscheidung vom 16. November 2007: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Dsk/DSKTE_20071116_K121309_0010_DSK_2007_ 00/DSKTE_20071116_K121309_0010_DSK_2007_00.html (einges. 3. 3. 2018); s. auch María J. Roca, Aktuelle Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften im Königreich Spanien, in: öarr 61 (2014), S. 285 – 309, hier 301 – 303; Zoila Combalía/María Roca, Religion and the Secular State in Spain, in: Donlu D. Thayer (Hrsg.), Religion and the Secular State/La religion et l’Ètat laique: National Reports/Rapports nationaux, Madrid, 2015, S. 656 – 673, hier 663 – 665.
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in nn. 1 und 2 Genannten wie auch in einer Mischehe die Kinder des katholischen Teils, der rechtmäßig zu einer anderen Rituskirche übergetreten ist“ (c. 112, 18 – 38 CIC; vgl. cc. 32 – 34 CCEO). Die Kinder können nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres zur lateinischen Kirche zurückkehren (vgl. c. 112, 38 CIC; c. 34 CCEO). Ausdrücklich weist der kirchliche Gesetzgeber darauf hin, dass „der selbst längere Zeit hindurch geübte Brauch, die Sakramente nach dem Ritus einer anderen Rituskirche eigenen Rechts zu empfangen, … nicht die Aufnahme in diese Kirche mit sich“ bringt (c. 112 § 2 CIC).
3. Reaktionen der katholischen Kirche auf den Wechsel eines Mitglieds zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft und den Kirchenaustritt Im Unterschied zum religiös-weltanschaulich neutralen Staat können ein Wechsel eines Kirchenmitglieds zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft und ein Kirchenaustritt der katholischen Kirche nicht gleichgültig sein.
a) Glaubensfreiheit und Glaubenspflicht Der kirchliche Gesetzgeber verpflichtet innerhalb des Katalogs der Pflichten und Rechte aller Christgläubigen, der im Zug der Reform des CIC/1917 Eingang in den CIC/1983 gefunden hat, die Christgläubigen, „auch in ihrem eigenen Verhalten, immer die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren“ (c. 209 CIC; c. 12 § 1 CCEO). Andererseits hat sich das Zweite Vatikanische Konzil an zahlreichen Stellen zu Grund- und Menschenrechten geäußert (vgl. Vorwort Abs. 2 VatII GE, Art. 6 VatII GE; Art. 21, 26, 29, 41, 42, 59, 73, 76 und 87 VatII GS; Art. 6 VatII DH) und u. a. auch das Recht auf religiöse Freiheit betont (vgl. VatII DH)70. Wenn somit die Annahme des Glaubens, der Empfang der Taufe und der damit verbundene Eintritt in die Kirche Jesu Christi bzw. die katholische Kirche frei, d. h. ohne Zwang, erfolgen müssen, stellt sich die Frage nach der Bewährung im Glauben und nach der Freiheit zur Abkehr von der Kirche71. Zu Recht hat Heribert Schmitz aufgrund der konziliaren Aus70 Der kirchliche Gesetzgeber spricht das Recht auf religiöse Freiheit im Katalog der Rechte und Pflichten der Christgläubigen nicht an, während ein solches Recht im Entwurf zur Lex Ecclesiae Fundamentalis (LEF) noch vorgesehen war. Vgl. Peter Krämer, Menschenrechte – Christenrechte. Das neue Kirchenrecht auf dem Prüfstand, in: André Gabriels/Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium iustitiae. FS Heinemann (60), Essen 1985, S. 169 – 177, hier 171 mit Anm. 16, unter Hinweis auf dens., Kirche der freien Gefolgschaft. Kirchenrechtliche Überlegungen zu einem umstrittenen Kirchenmodell (= Eichstätter Hochschulreden 29), München 1981, S. 9 f. 71 Vgl. Aymans – Mörsdorf, KanR I (1991), S. 96; Gerhard Luf, Grundrechte im CIC/1983, in: ÖAKR 35 (1985), S. 107 – 131, hier 130 (= Zwischen Tradition und Erneuerung. Willibald
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sagen (vgl. Art. 2 Abs. 2 VatII DH) bereits im Rahmen der Reform des damals geltenden kirchlichen Gesetzbuchs, d. h. des CIC/1917, eine Ergänzung dahingehend gefordert, „daß niemand von irgendeiner menschlichen Macht, auch nicht in der katholischen Kirche, gezwungen werden darf, seinen Glauben gegen sein Gewissen zu bewahren und vor anderen öffentlich zu bekennen“72. Es wird also auch eine innerkirchliche Glaubensfreiheit gefordert, d. h. „die rechtliche Garantie freier Glaubensbewährung“73. Wenngleich es der Kirche „als Glaubensgemeinschaft … nicht gleichgültig sein (darf), ob und was ihre Glieder glauben“, und es damit zu ihrer Aufgabe zählt, „sich in den religiösen Bereich ,einzumischen‘“74, so ist eine Religionsgemeinschaft, die für sich korporative Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, „verpflichtet, ihren Mitgliedern auch individuelle Religionsfreiheit zu gewähren“75, dies u. a. in Form eines Rechts auf Austritt oder auch zum Wechsel der Religion bzw. des Bekenntnisses76. Mit Blick auf den Religionswechsel sind zwei Fälle zu unterscheiden77, nämlich der Wechsel einer katholischen Christin bzw. eines katholischen Christen in eine nichtkatholische christliche Kirche oder Gemeinschaft und jener in eine nichtchristliche Religionsgemeinschaft. Näherhin kennt der kirchliche Gesetzgeber Straftaten gegen die Religion und die Einheit der Kirche in Form von Apostasie, Häresie und Schisma. Schisma bezeichnet „die Verweigerung der Unterordnung unter den Papst oder der Gemeinschaft mit den diesem untergegebenen Gliedern der Kirche“, d. h. den Bischöfen (c. 751 CIC), und hat die Tatstrafe der Exkommunikation zur
M. Plöchl, dem Mitbegründer und langjährigem Herausgeber dieser Zeitschrift zum Gedenken); ders., Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, in: HdbKathKR3, S. 964 – 973, hier 967 f. 72 Heribert Schmitz, Glaubens- und Bekenntnispflicht, in: GrNKirchR, S. 438 – 440, hier 439; s. auch ders., Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, in: AfkKR 146 (1977), S. 381 – 419, hier 416. 73 Luf, Glaubensfreiheit (Anm. 71), S. 967. 74 Peter Krämer, Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, in: ÖAKR 37 (1987/88), S. 229 – 239, hier 237. 75 Adrian Loretan, Kirche und Staat in der Schweiz, in: HdbKathKR3, S. 1888 – 1913, hier 1902. 76 Zum Kirchenaustritt s. Ludger Müller, Kirchenaustritt – Konsequenzen innerhalb der Kirche, in: ders./Wilhelm Rees/Martin Krutzler (Hrsg.), Vermögen der Kirche – vermögende Kirche? Beiträge zur Kirchenfinanzierung und kirchlichen Vermögensverwaltung, Paderborn 2015, S. 193 – 211; ders., Konsequenzen des weltlich-rechtlichen Kirchenaustritts im kirchlichen Eherecht? Thesen zur Reform der Reform, in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Zugehörigkeit 2010 (Anm. 20), S. 62 – 75; Wilhelm Rees, Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche Problematik, ebd., S. 38 – 61. 77 In beiden Fällen ist ein solcher Wechsel in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Österreich nur nach vorausgehender Erklärung des Austritts aus der römisch-katholischen Kirche vor der staatlichen Behörde, d. h. in Deutschland vor dem Standesbeamten/ der Standesbeamtin, in Österreich vor der Bezirkshauptmannschaft, möglich.
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Folge (vgl. c. 1364 § 1 CIC; vgl. c. 1437 CCEO: große Exkommunikation)78. „Häresie nennt man die nach Empfang der Taufe erfolgte beharrliche Leugnung einer kraft göttlichen und katholischen Glaubens zu glaubenden Wahrheit oder einen beharrlichen Zweifel an einer solchen Glaubenswahrheit“ (c. 751 CIC). Auch Häresie wird seitens des kirchlichen Gesetzgebers mit der Tatstrafe der Exkommunikation belegt (vgl. c. 1364 § 1 CIC; vgl. c. 1436 §§ 1 und 2 CCEO: große Exkommunikation)79. Apostasie bezeichnet „die Ablehnung des christlichen Glaubens im ganzen“ (c. 751 CIC)80. Wie Schisma und Häresie belegt der kirchliche Gesetzgeber auch Apostasie mit der Tatstrafe der Exkommunikation (vgl. c. 1364 § 1 CIC; vgl. c. 1436 §§ 1 und 2 CCEO: große Exkommunikation). Der Wechsel der Religion kann im ersten Fall Häresie, im zweiten Fall, d. h. in eine nichtchristliche Religionsgemeinschaft, Apostasie bedeuten. In beiden Fällen kann nach den Bestimmungen des CIC ein Schisma gegeben sein, wenn die Unterordnung unter den Papst und die Bischöfe verweigert wird. Wenngleich die Exkommunikation nicht den Verlust der Kirchengliedschaft als solcher zur Folge hat, bringt sie doch weitreichende Rechtsentzüge in der römisch-katholischen Kirche mit sich (vgl. c. 1331 CIC; vgl. c. 1434 §§ 1 – 3 CCEO)81. Da es sich in den genannten Fällen um eine Tatstrafe handelt, erfolgt keine Strafverhängung durch ein kirchliches Gericht, vielmehr tritt die Strafe mit Begehung der Tat ohne Strafprozess bzw. Strafdekretverfahren ein82. Die betroffene Person muss die Strafe an sich selbst vollziehen, d. h., sich der durch die Strafe entzogenen Rechte enthalten. Der Straferlass erfolgt im Rahmen des Bußsakraments (vgl. c. 1357 CIC). Volle Rechtswirkung entfaltet die Strafe nur, wenn der Eintritt der Tatstrafe der Exkommunikation seitens der kirchlichen Autorität ausdrücklich festgestellt worden ist (vgl. c. 1331 § 2 CIC). Auch werden Personen, die „vom katholischen Glauben oder von der Gemeinschaft der Kirche öffentlich abgefallen“ sind, von Rechts wegen eines Kirchenamtes enthoben (vgl. c. 194 § 1, 28 CIC; c. 976 § 1, 2. CCEO). Ein Kleriker kann zudem mit dem „Verbot oder Gebot, sich an einem bestimmten Ort oder Gebiet aufzuhalten“, ferner „mit dem Entzug einer Vollmacht, eines Amtes, einer Aufgabe, eines Rechtes, eines Privilegs, einer Befugnis, eines Gunsterweises, eines Titels, einer Auszeichnung, auch wenn sie nur ehrenhalber verliehen wurde“, sowie mit dem „Verbot, das auszuüben, was unter n. 2 aufgeführt ist, oder mit dem Verbot, dieses an einem bestimmten Ort 78
Zum Schisma s. Wilhelm Rees, Art. Schisma, in: LKStKR 3 (2004), S. 507 f.; ders., Art. Schismatiker, in: LKStKR 3 (2004), S. 508 – 510. 79 Zur Häresie s. Heinrich J. F. Reinhardt, Der Häresiebegriff im CIC/1917 und im CIC/ 1983. Ein Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Theologia et Jus Canonicum. FG Heinemann (70), Essen 1995, S. 415 – 431. 80 Zur Apostasie s. Elmar Güthoff, Kanonistische Erwägungen zur eigenständigen Bedeutung der Apostasie, in: Winfried Aymans/Stephan Haering/Heribert Schmitz (Hrsg.), Iudicare inter fideles. FS Geringer (65), St. Ottilien 2002, S. 109 – 119. 81 Vgl. Wilhelm Rees, Straftat und Strafe, in: HdbKathKR3, S. 1591 – 1614, bes. 1598 f.; ders., Exkommunikation, in: LThK3, Bd. 3 (1995), Sp. 1119 f. 82 Vgl. Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, bes. 1580 f.
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oder außerhalb eines bestimmten Ortes auszuüben“, belegt werden, wenngleich diese Verbote „niemals die Nichtigkeit von Akten zur Folge“ haben (c. 1336 § 1, 18 – 38 CIC; vgl. c. 1434 CCEO). Wer die Straftat der Apostasie, der Häresie oder des Schismas begangen hat, ist irregulär für den Empfang des Sakraments der Weihe (vgl. c. 1041, 28 CIC; vgl. c. 762 § 1, 2. CCEO) und für die Ausübung empfangener Weihen (vgl. c. 1044 § 1, 28 CIC; vgl. c. 763, 2. CCEO). Bereits Papst Johannes Paul II. hatte Straftaten gegen den Glauben, d. h. Apostasie, Häresie und Schisma, in bestimmten Fällen der Kongregation für die Glaubenslehre zur Beurteilung und Ahndung vorbehalten (vgl. Art. 1 § 1 Normae2010 i. V. m. Art. 52 PastBon)83. Näherhin hat die Kongregation bei den in Art. 1 § 1 genannten Straftaten „das Recht, im Auftrag des Papstes die Kardinäle, die Patriarchen, die Gesandten des Apostolischen Stuhls, die Bischöfe und andere natürliche Personen zu richten“ (Art. 1 § 2 Normae2010 i. V. m. c. 1405 § 3 CIC und c. 1601 CCEO)84. Im Bereich der Diözesen bzw. der Eparchien in den katholischen Ostkirchen „steht es dem Ordinarius bzw. dem Hierarchen zu, nach Maßgabe des Rechts die als Tatstrafe eingetretene Exkommunikation gegebenenfalls aufzuheben oder einen Strafprozess in erster Instanz oder per Dekret auf dem Verwaltungsweg durchzuführen, unbeschadet des Rechts, an die Kongregation für die Glaubenslehre zu appellieren bzw. zu rekurrieren“ (Art. 2 § 2 Normae2010). Somit ist für die Behandlung dieser Glaubensdelikte zunächst der jeweilige Ordinarius bzw. – in den katholischen Ostkirchen – der Hierarch zuständig. Wie Rüdiger Althaus zu Recht bemerkt, wird die Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre „erst ausgelöst, wenn sich der Beschuldigte oder der Kirchenanwalt an diese wendet, um den Entscheid des Ordinarius bzw. Hierarchen überprüfen zu lassen, sei es als gerichtliche appellatio (d. h. in der Berufungsinstanz), sei es administrativ als hierarchischer Rekurs“85. Nicht betroffen von Strafsanktionen ist der Übertritt bzw. Wechsel von einer katholischen Rituskirche zu einer anderen eigenen Rechts (vgl. c. 112 § 1, 18 – 38 CIC und cc. 29 – 38 CCEO). Zwar verpflichtet der universalkirchliche Gesetzgeber die Christgläubigen, „für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten, damit ihr die Mittel zur Verfügung stehen, die für den Gottesdienst, die Werke des Apostolats und der Caritas sowie für einen angemessenen Unterhalt der in ihrem Dienst Stehenden notwendig sind“ (c. 222 § 1 CIC; vgl. c. 25 § 1 CCEO). Sanktionen für den Fall, dass diese Pflicht
83 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010: http://www.vatican.va/resources/resources_norme_ge.html (einges. 3. 3. 2018). 84 Vgl. Rüdiger Althaus, Kommentar zu Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis – Vorschriften über schwererwiegende Straftaten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind, in: ders./Klaus Lüdicke, Der kirchliche Strafprozess nach dem Codex Iuris Canonici und Nebengesetzen. Normen und Kommentar (= BzMK 61), Essen 2011, Art. 1, Rdnr. 3, S. 4 f. 85 Althaus, ebd., Art. 2, Rdnr. 4, S. 7; s. cc. 1628 – 1640 CIC bzw. cc. 1732 – 1739 CIC und cc. 1309 – 1321 CCEO bzw. cc. 996 – 1006 CCEO.
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vernachlässigt oder gänzlich unterlassen wird, sieht der universalkirchliche Gesetzgeber jedoch nicht vor.
b) Verständnis der Strafen im Fall von Glaubensvergehen bzw. Religionswechsel In Kontinuität zum CIC/1917 unterscheidet can. 1312 § 1, 18 und 28 CIC/1983 zwischen Besserungs- oder Beugestrafen/Zensuren (poenae medicinales seu censurae) und den Sühnestrafen (poenae expiatoriae)86. Dabei zeigt sich, dass die Besserungsstrafe den Blick mehr auf das Individuum richtet, die Sühnestrafe mehr die Gemeinschaft der Kirche und ihre Ordnung im Blick hat. Franz Pototschnig hat die Strafmaßnahmen im Fall von Glaubensvergehen ausdrücklich als „Verletzung der Gewissensfreiheit“ gebrandmarkt87. Heute werden Strafmaßnahmen – ungeachtet der nach wie vor geltenden Sorge der Kirche um das Heil des Menschen und die Aufrechterhaltung ihrer Ordnung – nicht mehr vorwiegend oder ausschließlich als Zwangsmaßnahmen in dem Sinn verstanden, dass sie Wohlverhalten erreichen wollen. Vielmehr will die Kirche, wie Libero Gerosa aufgezeigt hat, durch die Verhängung von Strafmaßnahmen zum Ausdruck bringen, dass die betreffende Person durch ihr Verhalten die kirchliche Gemeinschaft verlassen hat und sich „außerhalb der ,communio plena‘ befindet“88. Die Kirche verurteilt also nicht die (Gewissens-)Entscheidung, die sie bei aller Sorge um das Heil des einzelnen Menschen respektieren muss, sondern die Auswirkung dieser Entscheidung auf die kirchliche Gemeinschaft als Communio. Sie bringt zum Ausdruck und stellt dies in manchen Fällen ausdrücklich fest (vgl. c. 1331 § 2 CIC), dass eine Person nach kirchlichem Selbstverständnis nicht mehr vollwertiges Glied dieser Gemeinschaft sein und alle Rechte, die mit der vollen Gliedschaft gegeben sind, ausüben kann. Ludger Müller hält daher den Begriff „Beugestrafe“ für irreführend, da es bei dieser Maßnahme „in keiner Weise um Strafen“ geht89. Für den Fall, dass sich „im Einzelfall zeigt, dass kirchliche Strafverhän86
Vgl. Rees, Grundfragen (Anm. 82), S. 1577 f.; ders., Straftat (Anm. 81), S. 1598 – 1603. Franz Pototschnig, Zur Wandelbarkeit des unwandelbaren göttlichen Rechts, in: ders./ Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck (= Kirche und Recht 17), Wien 1985, S. 387 – 402, hier 387, Anm. 2. 88 Vgl. Libero Gerosa, Communio – Excommunicatio. Zur theologischen und rechtlichen Natur der Exkommunikation, in: Reinhild Ahlers/Peter Krämer (Hrsg.), Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre (Heribert Schmitz zum 60. Geburtstag), Paderborn 1990, S. 105 – 119, hier 115; ders., „Communio“ und „Excommunicatio“. Ein Streitgespräch, in: Ludger Müller/Alfred E. Hierold/Sabine Demel/Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.), „Strafecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 97 – 110, hier 105. 89 Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: Müller/Hierold/Demel/ Gerosa/Krämer, Strafrecht (Anm. 88), S. 183 – 202, hier 194; s. auch ders., Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes der Lateinischen Kirche, in: Ludger Müller/Wilhelm Rees (Hrsg.), Geist – Kirche – Recht. FS Gerosa (65) (= KStT 62), Berlin 2014, S. 267 – 284. 87
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gung als Zwang wirkt und keine anderen Strafzwecke die Verhängung rechtfertigen“, muss, wie Ansgar Grochtmann, bemerkt, „auf Strafe verzichtet werden: um des Gewissens willen, wie es die Kirche zu schützen berufen ist“90. Mit Blick auf Glaubensvergehen (vgl. c. 1364 i. V. m. c. 751 CIC; c. 1436 und c. 1437 CCEO) kann somit eine Strafe letztlich „nur als Appell an das Gewissen verstanden werden, die eigene Entscheidung zu überdenken“91.
c) Die Problematik des vor einer staatlichen Behörde erklärten Kirchenaustritts Es stellt ein besonderes Problem dar, dass ein Austritt aus der römisch-katholischen Kirche durch eine Person, die dieser Kirche angehört, in Deutschland und Österreich nicht vor der Kirche, d. h. einem Vertreter dieser Kirche, wie dem zuständigen Pfarrer oder Bischof, erfolgt, sondern vor einer staatlichen Behörde92. Diese meldet den vollzogenen Austritt an die Kirche. Dieser Umstand hat zu langjährigen Auseinandersetzungen, einer ausführlichen Erörterung und zu klaren Regelungen bezüglich der Folgen eines vor einer staatlichen Behörde erklärten Austritts aus der römisch-katholischen Kirche seitens der deutschen und österreichischen Bischöfe geführt. Ein Rundschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte aus dem Jahr 2006 zu eherechtlichen Fragen des Kirchenaustritts hat dazu wesentlich beigetragen93. Bis dahin wurden die Folgen des vor einer staatlichen Behörde erklärten Kirchenaustritts zunächst sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der kirchlichen Verwaltungspraxis einheitlich gesehen, nämlich dahingehend, dass jeder Austritt zumindest den Straftatbestand des Schismas erfülle und die Exkommunikation als Tatstrafe zur Folge habe. Zudem wurde davon ausgegangen, dass Perso90
Ansgar Grochtmann, Justitiabilität der Gewissensfreiheit. Rechtsvergleichende Analyse zur kirchlichen Strafverhängung und zum Schutz des forum internum im Völkerrecht (= AIC 47), Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 206, unter Hinweis auf Helmuth Pree, Forum externum und forum internum – Zur Relevanz des Gewissensurteils im kanonischen Recht, in: AfkKR 168 (1999), S. 25 – 50, hier 42. 91 Krämer, Prüfstand (Anm. 70), S. 172. 92 In Österreich beläuft sich die Zahl der Katholikinnen und Katholiken mit Stichtag 31. Dezember 2017 auf 5,11 Millionen. Insgesamt sind 53.510 Personen im Jahr aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Statistik: https://www.katholisch.at/statistik-60000 (einges. 3. 3. 2018). 93 Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Litterae circulares missae omnibus Conferentiis episcopalibus vom 13. März 2006; in verschiedenen Sprachen abgedr. in: Communicationes 38 (2006), S. 170 – 184; für Österreich in: Generalssekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Pastorale Initiativen in Zusammenhang mit dem Kirchenaustritt (= Die österreichischen Bischöfe 7), Wien 2007, S. 4 – 6; ferner: http://www.bischofskonferenz.at/dl/mtsuJKJKKoolOJqx4KkJK/Heft7_Zugeh_ rigkeit.pdf (einges. 3. 3. 2018) und: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkirchen recht/oebiko/kirchenabfall.html (einges. 3. 3. 2018); dazu Rees, Kirchenaustritt (Anm. 20), S. 49 – 51.
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nen, die den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche vor einer staatlichen Behörde erklärt hatten, nicht an die kanonische Eheschließungsform gebunden waren und für den Fall, dass sie mit einer gleichfalls nicht an die kanonische Formpflicht gebundenen Person (u. a. gleichfalls ausgetretene Person, evangelische Christin bzw. evangelischer Christ) auf dem Standesamt eine kirchlich gültige Ehe geschlossen haben (vgl. c. 1117 CIC alt)94. Diese Sicht und die damit verbundenen rechtlichen Regelungen wurden zunehmend kritisch hinterfragt. Generell entlässt ein Austritt aus der römisch-katholischen Kirche bzw. der Übertritt von der römisch-katholischen Kirche in eine andere Kirche oder Religionsgemeinschaft „die betreffende Person nicht aus der Jurisdiktion“ der römisch-katholischen Kirche95. Ausnahmen bestanden im Eherecht mit Blick auf Personen, die durch einen formalen Akt (actus formalis) von der Kirche abgefallen waren (vgl. cc. 1086 § 1, 1117 und 1124 CIC alt). Im Anschluss an die Überlegungen des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte hat Papst Benedikt XVI. mit dem Motu Proprio „Omnium in mentem“, das am 9. April 2010 in Kraft getreten ist, mit Blick auf die eherechtliche Problematik eine Klärung gebracht, indem er diese Ausnahmen beseitigt hat96. Allerdings bestehen bezüglich Gültigkeit bzw. Ungültigkeit von Eheschließungen durch eine Person, die vor einer staatlichen Behörde den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche erklärt hat, mit einer Person, die gleichfalls nicht an die kanonische Eheschließungsform gebunden war, weiterhin Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Kirche97. 94
Vgl. dazu Althaus, Zugehörigkeit (Anm. 49), S. 279 – 288. Reinhardt, Kirchenzugehörigkeit (Anm. 9), S. 553. 96 Vgl. Benedikt XVI., Litterae Apostolicae Motu Proprio datae „Omnium in mentem“ quaedam in Codice Iuris Canonici immutantur vom 26. Oktober 2009, in: AAS 102 (2010), S. 8 – 10; dt.: https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/apost_letters/documents/hf_benxvi_apl_20091026_codex-iuris-canonici.html (einges. 3. 3. 2018); s. auch Wilhelm Rees, Kriterien für die Anwendung des Motu proprio Omnium in mentem in den deutschen und österreichischen Diözesen, in: DPM 21/22 (2014/2015), S. 255 – 295; ders., „Die Beurteilung der kirchenrechtlichen Folgen bezüglich Ehesakrament (Can. 1117) obliegt dem Diözesangericht.“ Kirchenbeitrag, Kirchenaustritt, Actus formalis und die diesbezüglichen Regelungen der Österreichischen Bischofskonferenz und der jeweiligen österreichischen Diözesanbischöfe, in: DPM 15/16 (2008/2009), S. 245 – 291. 97 Die Österreichische Bischofskonferenz hat Ehen von Personen, die den Austritt aus der katholischen Kirche vor einer zivilen Behörde erklärt haben und in der Zeit vom Inkrafttreten des CIC/1983 (27. November 1983) bis zum Inkrafttreten des Motu Proprio „Omnium in mentem“ am 9. April 2010 zivil eine Person geheiratet haben, die nicht an die kanonische Eheschließungsform gebunden war, für ungültig erklärt. Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Feststellung der Österreichischen Bischofskonferenz in der Angelegenheit Nichtbestandserklärung standesamtlicher Ehen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des CIC 1983. Beschlossen in der Sommerplenaria der Österreichischen Bischofskonferenz vom 21.–23. Juni 2010 in Mariazell, in: Abl. ÖBK, Nr. 52 vom 15. September 2010, Nr. II. 3, S. 10; abgedr. in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Zugehörigkeit 2010 (Anm. 20), S. 17; ferner: https://www. uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkirchenrecht/oebiko/kirchenaustritt_3.html (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.bischofskonferenz.at/pages/bischofskonferenz/rechtsmaterie/index8.html sowie: http://www.bischofskonferenz.at/dl/MMrkJKJKKoolOJqx4kJK/Heft10_Zugeh_rigkeit_ 95
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Im Fall des vor einer staatlichen Behörde in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Republik Österreich erklärten Austritts aus der römisch-katholischen Kirche ist nicht nachprüfbar, ob damit Vergehen gegen den Glauben verbunden sind. Der vor einer staatlichen Behörde erklärte Austritt aus der römisch-katholischen Kirche kann daher nicht automatisch und generell in diesem Sinn gesehen werden, weil die ausgetretene Person keine Angaben über die Motive des Austritts macht, die für den Staat sowieso unerheblich wären98. „Der Kirchenaustritt des deutschen und des österreichischen Staatsrechts“ stellt vielmehr „prinzipiell die Erklärung vor dem Staat dar, nicht als Glied der katholischen Kirche behandelt werden zu wollen“, dies u. a. mit Blick auf Kirchensteuer oder Kirchenbeitrag99. Für den Fall, dass „dem Kirchenaustritt der Beitritt zu einer anderen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft nachfolgt“, ist, wie Klaus Lüdicke bemerkt, davon „auszugehen“, dass „spätestens durch diesen Akt die Strafftat des Schismas vollendet wird“100. Nach Ulrich Rhode handelt es sich in Deutschland und Österreich „bei den Körperschaften des öffentlichen Rechts, aus denen man austreten kann, um die staatliche Rechtsform der Bistümer als solcher. Wer in diesen Ländern aus der betreffenden Körperschaft des öffentlichen Rechts austritt, distanziert sich damit – ob gewollt oder ungewollt – zugleich vom Bistum als solchen“101. Jedoch ist der vor einer staatlichen Behörde erklärte Austritt aus der römisch-katholischen Kirche, wie Klaus Lüdicke zu Recht bemerkt, nicht ohne weiteres „als Indiz für Apostasie oder Häresie … anzusehen. Hier bedarf es zusätzlich einer Kundgabe der Entscheidung gegen den Glauben im ganzen oder gegen verbindliche Glaubenslehren“102, die jedoch nur gegenüber einem Vertreter der römisch-katholischen Kirche möglich ist. Dennoch vollendet nach Klaus Lüdicke „der Beitritt zu einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft“ nach der Erklärung des Kirchenaustritts vor einer staatlichen Behörde „in der Regel das Delikt der Apostasie“103. Ungeachtet dessen, ob mit der Erklärung des Austritts aus der römisch-katholischen Kirche vor einer staatlichen Autorität eine Straftat im Sinn des universalkirchlichen Rechts verbunden ist oder nicht, ist jedoch unbestritten, dass eine Person, die vor einer staatlichen Behörde den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche erklärt hat, nicht mehr alle Rechte innerhalb der Gemeinschaft der Kirche wahrnehmen kann. Sie unterliegt vielmehr Rechtsminderungen, die die Deutsche und die Österreichische Bischofskonferenz genau umschrieben haben, ohne dass dabei von Strafe bzw. Exkommunikation die Rede ist. Eindeutig betrachtet die Deutsche Bischofskonferenz den vor einer staatlichen Behörde erklärten Austritt aus der rözur_Katholischen_Kirche.pdf (einges. 3. 3. 2018); dazu Rees, Kriterien (Anm. 96), S. 269 – 293; ders., Beurteilung (Anm. 96), S. 276 – 287. 98 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23. Februar 1979, Az.: BVerwG 7 C 37/78: https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1979-02-23/bverwg-7-c-37_78/ (einges. 3. 3. 2018). 99 Klaus Lüdicke, Kommentar, in: MK CIC, c. 1364, Rdnr. 12 (Stand November 2001). 100 Lüdicke, ebd., c. 1364, Rdnr. 12. 101 Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 87. 102 Lüdicke, Kommentar (Anm. 99), c. 1364, Rdnr. 12. 103 Lüdicke, ebd., c. 1364, Rdnr. 12.
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misch-katholischen Kirche als einen schweren Verstoß gegen die kirchliche Communio (vgl. c. 209 § 1 CIC) und gegen die Pflicht, einen Beitrag für die Bedürfnisse der Kirche zu leisten (vgl. c. 221 § 1 i. V. m. c. 1263 CIC), so dass die ausgetretene Person weitgehend ihre Rechte innerhalb der Kirche verliert. „Wenn aus der Reaktion des Gläubigen, der den Kirchenaustritt erklärt hat, auf einen schismatischen, häretischen oder apostatischen Akt zu schließen ist, wird der Ordinarius dafür sorgen, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen.“104 In diesem Fall müsste wohl der Eintritt der Tatstrafe der Exkommunikation ausdrücklich durch den zuständigen Diözesanbischof festgestellt werden. Ausführlich hat sich die Österreichische Bischofskonferenz mit der Erklärung des Kirchenaustritts befasst, unabhängig davon, ob er aus finanziellen Gründen erfolgt oder mit einem Religionswechsel verbunden ist. Die Erklärung ist vom Bemühen gekennzeichnet, mit der ausgetretenen Person in Kontakt zu treten. Für den Fall, dass dieser Kontakt nicht zustande kommt bzw. kein Widerruf105 des vor der staatlichen Behörde erklärten Austritts aus der römisch-katholischen Kirche erfolgt, wird der Kirchenaustritt nach einer Frist von drei Monaten in die entsprechenden Kirchenbücher eingetragen. Die betroffene Person unterliegt dann Rechtsbeschränkungen bzw. Konsequenzen, wie sie von der Österreichischen Bischofskonferenz festgelegt worden sind106. Für das Begräbnis von Verstorbenen, 104 Deutsche Bischofskonferenz, Allgemeines Dekret zum Kirchenaustritt: Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz, 20. September 2012, 145a: https://www.dbk.de/fi leadmin/redaktion/diverse_downloads/presse/2012-145a-Allgemeines-Dekret-Kirchenaustritt_ Dekret.pdf (einges. 3. 3. 2018). Das Dekret wurde am 15. März 2011 beschlossen und am 20. September 2012 veröffentlicht. Es ist in sämtlichen Amtsblättern der deutschen Diözesen publiziert. Vgl. u. a. Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim, Nr. 5/24. 09. 2012, S. 98; s. dazu Rüdiger Althaus, Zur Bewertung der Erklärung eines Kirchenaustritts aufgrund des neuen Allgemeinen Dekretes der Deutschen Bischofskonferenz, in: ThGl 103 (2013), S. 390 – 409; Stephan Haering, Die neue gesetzliche Ordnung der Deutschen Bischofskonferenz zum Austritt aus der katholischen Kirche vor der staatlichen Autorität, in: KlBl. 92 (2012), S. 249 – 257; s. auch kritisch Noach Heckel, Das Allgemeine Dekret der Deutschen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt vom 15. März 2011. Der Kirchenaustritt in Deutschland aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts (= MThS.K 75), St. Ottilien 2018, der eine Revision seitens der Bischofskonferenz für dringend nötig hält, um „das eigentliche Anliegen der deutschen Bischöfe besser zur Geltung (zu bringen), die ausgetretenen Gläubigen in die communio Ecclesiae zurückzuführen und die Gemeinschaft in der Kirche zu stärken“. Ebd., S. 584. 105 Im Jahr 2017 haben mit Stichtag 31. Dezember 2017 555 Personen von ihrem Recht auf Widerruf Gebrauch gemacht. Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Statistik (Anm. 92). 106 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Erklärende Ausführungen der Österreichischen Bischofskonferenz nach c. 34 CIC zu den Auswirkungen des Kirchenaustrittes nach staatlichem Recht auf die kirchliche Rechtsstellung des Ausgetretenen, in: Abl. ÖBK, Nr. 52 vom 15. September 2010, Nr. II. 2c, S. 9 – 10; abgedr. in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Zugehörigkeit 2010 (Anm. 20), S. 15 f.; s. auch dies., Regelung zum Kirchenaustritt, ebd., Nr. II. 2a, S. 7 f. = S. 11 f.; dies., Hinweise für die Durchführung der Reglung der Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt, ebd., Nr. II. 2b, S. 8 f. = S. 13 f. Alle Gesetze wurden in der Sommerplenaria der Österreichischen Bischofskonferenz vom 21.–23. Juni 2010 in Mariazell beschlossen und sind mit der Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft getreten. Siehe auch: http://www.bischofskonferenz.at/dl/MMrkJKJKKoolOJqx4kJK/
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die aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten sind, hat die Österreichische Bischofskonferenz eigene Richtlinien erlassen107. „Wenn die Angehörigen im Todesfall eines Katholiken, der aus der Kirche ausgetreten ist, um den Beistand der Kirche ersuchen, muss der Pfarrer klären, ob und in welcher Form dies möglich ist.“ Näherhin legen die Richtlinien hierzu fest: „a) Für Katholiken, die aus der Kirche ausgetreten sind, die den Wunsch zur Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft in ihrem Testament oder vor Zeugen glaubhaft zum Ausdruck gebracht oder ein Zeichen der Kirchenzugehörigkeit gesetzt haben, soll ein ortsübliches kirchliches Begräbnis gehalten werden. b) Für Katholiken, die aus der Kirche ausgetreten sind, die im Blick auf ihr Begräbnis das Mitwirken der Kirche nicht ausdrücklich ausgeschlossen haben, kann eine Feier der Verabschiedung gehalten werden, die von einem Priester, einem Diakon oder einem (einer) von der Kirche beauftragten Begräbnisleiter (Begräbnisleiterin) geleitet wird. c) Wenn jemand im Testament oder vor Zeugen zu erkennen gegeben hat, kein kirchliches Begräbnis zu wünschen, oder sich ausdrücklich vom christlichen Glauben losgesagt hat, ist dies zu respektieren. Eine kirchliche Feier würde dem Willen des/der Verstorbenen widersprechen. Es ist jedoch möglich, dass ein Priester, ein Diakon oder ein(e) von der Kirche beauftragte(r) Begräbnisleiter (Begräbnisleiterin) die Angehörigen auf deren Wunsch auf dem Weg des Abschieds begleitet, um mit ihnen zu beten.“108
Heft10_Zugeh_rigkeit_zur_Katholischen_Kirche.pdf (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.bi schofskonferenz.at/pages/glossary_list.siteswift?s=3804&ts=1522398365 (einges. 3. 3. 2018). 107 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Richtlinien für das Begräbnis von Verstorbenen, die aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten sind, in: Abl. ÖBK, Nr. 56 vom 15. Februar 2012, Nr. II. 1, S. 7 f.; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkir chenrecht/oebiko/begraebnis_2.html und: http://www.bischofskonferenz.at/rechtliches (einges. 3. 3. 2018). Die Richtlinien wurden von der Österreichischen Bischofskonferenz auf Vorschlag der Pastoral- und Seelsorgeamtsleiter in der Herbstvollversammlung vom 7. bis 10. November 2011 beschlossen und traten mit der Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft. 108 In: Österreichische Bischofskonferenz, Richtlinien für das Begräbnis (Anm. 107), wird näherhin festgelegt: „5. Zur Situation gemäß Punkt a): Der Pfarrer selbst bzw. ein von ihm beauftragter Priester, Diakon oder Begräbnisleiter (eine Begräbnisleiterin) leitet die Feier des Begräbnisses bzw. die Verabschiedung und das Gebet mit den Angehörigen. Er soll die Angehörigen in der Hoffnung stärken und sie durch christlichen Trost aufrichten; auch solche, die dem christlichen Gottesdienst oder sogar dem christlichen Glauben fernstehen. 6. Zur Situation gemäß Punkt b): Für Katholiken, die aus der Kirche ausgetreten sind, die im Blick auf ihr Begräbnis das Mitwirken der Kirche nicht ausgeschlossen haben, wird der Priester, der Diakon oder der Begräbnisleiter (die Begräbnisleiterin) ganz besonders auf die konkrete Situation eingehen. Die Begräbnisfeier soll nur in der Aufbahrungshalle (1. Station) und beim Grab (2. Station) stattfinden. Es kann jedoch in einem späteren Gottesdienst (Gemeindemesse) des/der Verstorbenen gedacht werden (hierfür empfiehlt sich das Gedenken in Form einer Fürbitte für den Verstorbenen bzw. die Verstorbene). 7. Zur Situation gemäß Punkt c): Der Priester, Diakon oder Begräbnisleiter (die Begräbnisleiterin) trägt in solchen Fällen (siehe Punkt c), in denen jemand ein kirchliches Begräbnis ausgeschlossen hat, keine liturgischen Gewänder und geht hinter dem Sarg mit den Angehörigen. Die Beerdigung wird als ,konfessionslos‘ vermerkt. Wenn der Priester, Diakon oder Begräbnisleiter (die Begräbnisleiterin) die Trauerhalle bzw. den Ort der Aufbahrung betritt, besprengt er/sie als Letzte(r) den Sarg und stellt sich so in
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d) Die Möglichkeit der Rekonziliation/ Reversion bzw. Wiederaufnahme Generell ist nach einem Austritt und der damit verbundenen Abkehr von der römisch-katholischen Kirche bzw. einem Religionswechsel ein Wiedereintritt in die römisch-katholische Kirche möglich. In Deutschland wird von „Rekonziliation“, in Österreich weithin von „Reversion“ gesprochen, wobei die Notwendigkeit hierzu „unabhängig davon (besteht), ob der Kirchenaustritt im Einzelfall die Exkommunikation nach sich gezogen hat oder nicht“109. Die kirchliche Verwaltungspraxis versteht unter Rekonziliation bzw. Reversion „die Wiederaufnahme eines katholisch getauften, aber von der Kirche abgefallenen Christen in die katholische Kirche“110. Im Unterschied zum Kirchenaustritt, der „eine einseitige Rechtshandlung“ der austretenden Person darstellt, ist der Wiedereintritt in Deutschland und Österreich, wie Ulrich Rhode zu Recht herausstellt, „eine zweiseitige Rechtshandlung, zu der einerseits die Absichtserklärung des Gläubigen gehört, wieder voll in die Gemeinschaft der katholischen Kirche zurückzukehren, und andererseits die mit der Vollmacht der zuständigen kirchlichen Autorität vorgenommene Wiederzulassung des Betreffenden zu den vollen Rechten eines katholischen Gläubigen“111. Einzelheiten werden durch Partikularrecht geregelt. Die Wiederaufnahme erfolgt in der Regel durch einen Priester innerhalb einer einfach gestalteten Feier ohne Öffentlichkeit, in der das Glaubensbekenntnis abgelegt wird; sie kann jedoch auch innerhalb eines öffentlichen Gottesdienstes, d. h. einer Wort-Gottes-Feier oder einer Eucharistiefeier, erfolgen. Vorausgehen kann ggf. die Ableistung einer Buße oder der Nachlass der eingetretenen Strafe. Allerdings macht Beatrix Laukemper-Isermann darauf aufmerksam, dass bezüglich der Zulassung zum Empfang der Sakramente Schwierigkeiten für Personen gegeben sein können, „deren Lebensverhältnisse nicht im Einklang mit der Lehre der katholischen Kirche stehen (vgl. cc. 915 u. 916, 1007)“112. Gegebenenfalls ist die Möglichkeit der Sanierung der bestehenden Ehe zu prüfen. Da ein Kirchenaustritt im Taufbuch verzeichnet wird, ist auch die Wiederaufnahme in diesem Buch einzutragen. In Österreich ist eine entsprechende Mitteilung an die diözesane Meldestelle erforderlich113, d. h. je nach Regelung durch die jeweilige Diözese die Reihe jener, die des Verstorbenen (der Verstorbenen) gedenken. In der Feier selbst, zum Beispiel am Grab, ist auf die Verwendung von Weihwasser zu verzichten.“ 109 Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 88. 110 Beatrix Laukemper-Isermann, Art. Rekonziliation, in: LKStKR 3 (2004), S. 402 – 403, hier 402; s. auch Riedel-Spangenberger, Konversion und Rekonziliation (Anm. 11), S. 163. 111 Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 88. 112 Laukemper-Isermann, Rekonziliation (Anm. 110), S. 403. 113 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über Führung und Aufbewahrung der Pfarrbücher sowie über Urkundenausstellung, in: Abl. ÖBK, Nr. 67 vom 1. Jänner 2016, Nr. II. 2, S. 10; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkirchenrecht/oebiko/ pfarrbuecher.html (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.bischofskonferenz.at/pages/bischofskon ferenz/rechtsmaterie/index3.html (einges. 3. 3. 2018), in dem die Führung eines Tauf-, Katechumenen-, Konvertiten- und Revertitenbuchs gefordert wird. Dabei hat die Bischofskonfe-
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an das Bischöfliche Ordinariat, das Matrikenreferat oder die Kirchenbeitragsstelle, im Bereich der Bundesrepublik Deutschland auch „die Meldung an die zuständigen staatlichen Behörden (Einwohnermeldeamt, Standesamt, Finanzamt)“, vor allem mit Blick auf die Kirchensteuerpflicht114. In Österreich erfolgt die Wiederaufnahme nach einem Austritt aus der römisch-katholischen Kirche nach den Regelungen der Liturgischen Kommission für Österreich, die in Übereinstimmung mit der Österreichischen Bischofskonferenz getroffen worden sind115. Für den Fall, dass eine Person nach dem Austritt zu einer anderen gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft bzw. staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft übergetreten ist, muss vor dem Ansuchen um Reversion der Austritt aus dieser Gemeinschaft erfolgt sein. Zur Erleichterung des Wiedereintritts in die Römisch-Katholische Kirche setzte der Diözesanbischof von Linz für seine Diözese bereits zum 1. Juli 2008 eine Generalvollmacht in Kraft116. Näherhin wird „allen Pfarrern und Priestern, die die Rechte und Pflichten eines Pfarrers innehaben, … die Generalvollmacht erteilt, ausgetretene Katholik/inn/en wieder in die volle Gemeinschaft der Katholischen Kirche aufzunehmen“ (§ 1). Diese Vollmacht umfasst auch das Recht, ggf. „von der Tatstrafe der Exkommunikation gem. can. 1364 § 1 CIC loszusprechen“ (§ 2 Abs. 1). Näherhin werden die Vorbereitung der Wiederaufnahme (§ 4), deren Feier (§ 6), die Spendung des Sakraments der Firmung, sofern die Person noch nicht gefirmt ist (§ 7), die Matrikulierung (§ 8), die Feier der Wiederaufnahme für Minderjährige (§ 9) und die Klärung der Frage der kirchlichen Gültigkeit von Ehen (§ 10) geregelt. Die Aufhebung der Strafe der Exkommunikation kann „zusammen mit der sakramentalen Lossprechung beim Empfang des Bußsakraments“ oder „eigens am Beginn der Feier der Wiederaufnahme in die volle Gemeinschaft der Kirche“ erfolgen (§ 5). In der Generalvollmacht sind „nicht die Erlaubnis zur Taufe von Erwachsenen (can. 863 CIC) und die Bevollmächtigung zur Vornahme von Konversionen“ enthalten (§ 12). Auch andere österreichische Diözesen haben die Wiederaufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche erleichtert117. renz in ihrer Sommerversammlung vom 16. – 18. Juni 2014 auf Antrag der Ordinariatskanzlerkonferenz das Dekret über Führung und Aufbewahrung der Pfarrbücher sowie über Urkundenausstellung, veröffentlicht im Abl. ÖBK, Nr. 3 vom 15. April 1989, Nr. 38, S. 26; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkirchenrecht/oebiko/pfarrbuecher.html (einges. 3. 3. 2018), so abgeändert, dass die bisher in Punkt 1. lit. b) normierte Verpflichtung der Pfarrer zur Führung eines pfarrlichen Apostatenbuchs entfällt. 114 Vgl. Laukemper-Isermann, Rekonziliation (Anm. 110), S. 403. 115 Vgl. Liturgische Kommission für Österreich (Hrsg.), Die Feier der Wiederaufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche (= Texte der Liturgischen Kommission für Österreich Nr. 2), Salzburg 21993, Nr. 1. 116 Vgl. Diözese Linz, Generalvollmacht zur Wiederaufnahme von ausgetretenen Katholikinnen und Katholiken in die Katholische Kirche (Reversion) (Zl 1295/08), in: Linzer Diözesanblatt, 154 Jg., Nr. 4 vom 1. Juli 2008, Nr. 50, S. 62 – 64; s. dazu Rees, Partikularnormen 2008 (Anm. 63), S. 134 f. 117 Vgl. Rees, ebd., S. 142, 154, 175. In einzelnen deutschen Bistümern bestehen Sondervollmachten der Beichtväter zur Lossprechung von der Tatstrafe der Exkommunikation. Siehe Laukemper-Isermann, Rekonziliation (Anm. 110), S. 402.
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4. Wechsel in die römisch-katholische Kirche War bislang vom Wechsel einer katholischen Christin bzw. eines katholischen Christen in eine nichtkatholische christliche Kirche bzw. in eine nichtchristliche Religionsgemeinschaft sowie von einem Wiedereintritt und der damit verbundenen Rekonziliation bzw. Reversion die Rede, so muss im Folgenden der Blick auf den Wechsel einer Person, die einer nichtkatholischen christlichen Kirche bzw. einer anderen Religionsgemeinschaft angehört, in die römisch-katholische Kirche gerichtet werden, wobei diese Person noch nie der katholischen Kirche angehört hat. Hierbei wird – zumindest für den zweiten Fall – nach wie vor von Konversion gesprochen. Näherhin bezeichnet die kanonistische Fachsprache damit „die in einzelnen rechtlichen Schritten vollzogene Zuwendung von getauften oder ungetauften Nichtkatholiken zur katholischen Kirche“118. Dabei kommt „der persönlichen Bekehrung eine bedeutende Rolle zu“119. Art und Weise des Eintritts sind jedoch verschieden, je nachdem ob es sich um eine Person handelt, die einer nichtkatholischen christlichen Kirche bzw. einer anderen Religionsgemeinschaft angehört.
a) Aufnahme von bereits getauften Personen in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche Der CIC verwendet im Fall des Wechsels einer getauften Person in die römischkatholische Kirche nicht mehr den Begriff „Konversion“, sondern spricht aufgrund der durch das Zweite Vatikanische Konzil erneuerten Ekklesiologie von der Aufnahme von „bereits Getauften in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche“ (vgl. c. 883, 28 CIC). Für Gerhard Robbers zeigt die veränderte Sprechweise „die gestärkte ökumenische Ausrichtung des neuen Codex“120. Wie Ilona Riedel-Spangenberger bemerkt, bedeutet die Hinwendung von Christinnen und Christen aus einer nichtkatholischen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, deren Taufe als gültig anzusehen ist, im kirchenrechtlichen Sinn „das Eintreten in die communio plena durch Anerkennung aller mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte und Pflichten“121. Es handelt sich also „nicht um einen ,Übertritt‘, sondern um die Aufnahme eines Getauften, der bislang eine communio non plena mit der Katholischen Kirche verwirklicht hatte, in die volle Gemeinschaft der Katholischen Kirche“122. Im Unterschied zum Gesetzbuch für die katholischen Ostkirchen, dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (cc. 896 – 901 CCEO), enthält der CIC für die Aufnahme gültig getaufter Perso118
Riedel-Spangenberger, Konversion (Anm. 11), S. 638. Althaus, Konversion (Anm. 53), S. 189; s. auch ebd., 190. 120 Robbers, Fragen (Anm. 6), S. 39. 121 Riedel-Spangenberger, Konversion (Anm. 11), S. 638; ebenso dies., Konversion und Rekonziliation (Anm. 11), S. 162. 122 Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 92. 119
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nen in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche keine Bestimmungen, wenngleich er den Umstand in c. 883, 28 CIC nennt123. Es sind jedoch, wie Helmuth Pree betont, „die allgemeinen Anforderungen an den Rechtsakt gemäß cc. 124 – 126 CIC“, ferner das Ökumenische Direktorium, der liturgische Ritus der Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche sowie partikulare Richtlinien und Regelungen, d. h. jene einzelner Diözesen bzw. der Bischofskonferenz, zu berücksichtigen124. Voraussetzung für die volle Aufnahme in die katholische Kirche (communio plena) sind die gültig gespendete Taufe sowie die Annahme und Anerkennung des Glaubens der katholischen Kirche, der Sakramente und der kirchlichen Leitung (vgl. c. 205 CIC; vgl. c. 8 CCEO)125. Die Aufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche ist, wie Ulrich Rhode bemerkt, „eine zweiseitige Rechtshandlung: Einerseits bedarf sie einer Erklärung des Konvertiten, dass er in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen werden will; andererseits ist seine Aufnahme in die katholische Kirche seitens der zuständigen kirchlichen Autorität erforderlich“126. Da nichtkatholische Christinnen und Christen bereits die Taufe empfangen haben, bedarf es für die volle christliche Initiation noch des Empfangs der Sakramente der Firmung und der Eucharistie (vgl. c. 842 § 2 CIC; vgl. 123 Vgl. Helmuth Pree, Die Konversion als Rechtsakt, in: Rüdiger Althaus/Klaus Lüdicke/ Matthias Pulte (Hrsg.), Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche. FS Reinhardt (65) (= BzMK 50), Essen 2007, S. 347 – 353, hier 347; s. auch Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 83, der „diese Rechtslücke“ damit erklärt, „dass der CIC/1917 die nichtkatholischen Christen als in ihren Rechten weitgehend eingeschränkte Glieder der katholischen Kirche angesehen hatte“. 124 Vgl. Pree, Konversion (Anm. 123), S. 347 f.; s. im Einzelnen Pontificium Consilium ad Unitatem Christianorum Fovendam, Directorium oecumenicum noviter compositum vom 25. März 1993, Nr. 99, in: AAS 85 (1993), S. 1039 – 1119, hier 1080 f.; dt.: VApSt Nr. 110, Bonn 1993, S. 59 – 61; ferner: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/ general-docs/rc_pc_chrstuni_doc_19930325_directory_ge.html (einges. 3. 3. 2018); Ordo initiationis christianae adultorum (Anm. 64), Appendix: Ordo Admissionis valide iam baptizatorum in plenam communionem Ecclesiae catholicae (zugleich mit dem Ordo initiationis christianae adultorum von der Sacra Congregatio pro Cultu Divino durch Dekret vom 6. Januar 1972, Prot Nr. 15/72, approbiert); dt.: Die Feier der Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und der Bischöfe von Bozen-Brixen und von Luxemburg, Einsiedeln und Köln, Freiburg und Basel, Regensburg, Wien, Salzburg, Linz 1974; Die Feier der Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche, in: Liturgische Institute Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz, Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche – Teil II (Anm. 64), S. 65 – 83; s. auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Richtlinien für die ökumenische Praxis (= Arbeitshilfen 39), Bonn 31989; dass. (Hrsg.), Die Aufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche. Eine Handreichung für die seelsorgliche Begleitung von Konvertiten (= Arbeitshilfen 52), Bonn 1987. 125 C. 205 CIC (vgl. c. 8 CCEO): „Voll in der Gemeinschaft der katholischen Kirche in dieser Welt stehen jene Getauften, die in ihrem sichtbaren Verband mit Christus verbunden sind, und zwar durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung.“ Siehe oben. 126 Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 83 f.; s. auch Pree, Konversion (Anm. 123), S. 348 f.
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c. 697 CCEO). Näherhin fordert die Pastorale Einführung zur Feier der Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche einen Antrag auf Aufnahme an den zuständigen Bischof, der ggf. einen Priester mit der Aufnahme beauftragen kann (Nr. 8 Pastorale Einführung). Voraussetzung ist eine Unterweisung127 der Bewerberin bzw. des Bewerbers im katholischen Glauben sowie eine Einführung in das kirchliche Leben (Nr. 5 Pastorale Einführung). Gefordert sind der Empfang des Bußsakraments (Nr. 9 Pastorale Einführung), die Ablegung des Glaubensbekenntnisses (Nr. 6 Pastorale Einführung) sowie eine entsprechende Vorbereitung auf den Empfang der Sakramente der Firmung und der Eucharistie (vgl. c. 889 § 2; c. 913 § 1 CIC). Die Aufnahme erfolgt in einer gottesdienstlichen Feier, deren Höhepunkt der Empfang der Eucharistie ist (Nr. 3 a Pastorale Einführung). Es bedarf eines Zeugen, wobei auch zwei Zeugen möglich sind (Nr. 10 Pastorale Einführung). Die Aufnahme ist in ein eigenes Buch (Nr. 13 Pastorale Einführung) sowie in das Taufregister einzutragen128. Staatlicherseits muss die Erklärung des Austritts aus der bisherigen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft vorausgehen. Wie Helmuth Pree bemerkt, weist die deutsche Kirche auf dieses Erfordernis ausdrücklich hin, „da sie eine Divergenz zwischen kirchenrechtlicher und staatskirchenrechtlicher Kirchenzugehörigkeit ausschließen will“129. Ähnliches gilt in Österreich. Damit jemand rechtlich gültig in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen werden kann, muss die Person das siebte Lebensjahr vollendet haben (vgl. c. 97 § 2 i. V. m. c. 98 CIC; vgl. c. 909 § 2 CCEO und c. 910 § 2 CCEO). Die Aufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche „bewirkt (wie die Taufe in der katholischen Kirche) die bleibende Eingliederung in die Jurisdiktion der katholischen Kirche (c. 11)“130. Vor Inkrafttreten des CIC/1983 bedurfte es bei Personen, „die gutgläubig und daher nur materiell, ohne sich Kirchenstrafen zugezogen zu haben, Häretiker oder Schismatiker waren“, für die Aufnahme in die römisch-katholische Kirche der Beseitigung der vorhandenen Sperre (obex)131. Dadurch dass bei der Aufnahme bereits getaufter Personen in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche gegenüber früheren Zeiten „kein Abschwören der Ketzerei und kein Lossprechen von der Strafe der Exkommunikation“ erforderlich ist, da „den außerhalb der kath. Kirche geborenen Christen keine Schuld am Schisma zur Last gelegt wird“, kommt für Ger127
Diese Unterweisung ist von derjenigen der Katechumenen zu unterscheiden. Vgl. Ordo initiationis christianae adultorum, Appendix (Anm. 124); Die Feier der Aufnahme gültig Getaufter (Anm. 124); s. auch Die Feier der Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche II (Anm. 124); bezüglich Eintragung s. Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über Führung (Anm. 113). 129 Pree, Konversion (Anm. 123), S. 353, unter Hinweis auf Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Richtlinien für die ökumenische Praxis (Anm. 124), IV. 1. und IV. 6., S. 24 f. und Bertram Zotz, Katholisch getauft – katholisch geworden. Kanonistische Kriterien für die Zugehörigkeit zur römischen Kirche (= BzMK 35), Essen 2002, S. 97 – 99. 130 Reinhardt, Kirchenzugehörigkeit (Anm. 9), S. 553. 131 Vgl. Pree, Konversion (Anm. 123), Anm. 10, S. 349; s. auch Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KStT 41), Berlin 1993, S. 88 – 91. 128
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hard Robbers „die grundsätzliche ökumenische Ausrichtung der katholischen Kirche“ deutlich zum Tragen132. Die Taufe ist u. a. als gültig anzusehen „bei den nichtkatholischen Kirchen des Ostens, den aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften, Anglikanern, Altkatholiken, Baptisten, Presbyterianern, Methodisten, Mennoniten und Adventisten“, wobei die meisten dieser Gemeinschaften auch die in der katholischen Kirche gespendete Taufe anerkennen (mit Ausnahme z. B. der Baptisten, Mennoniten, Adventisten, soweit die Taufe Kindern gespendet wurde)133. Orthodoxe Christinnen und Christen, die in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche eintreten wollen, werden im Regelfall nicht der römisch-katholischen Kirche, sondern einer katholischen Ostkirche (unierten Kirche) zugeschrieben und sind daher an den Hierarchen, d. h. den zuständigen Bischof oder Großerzbischof der entsprechenden unierten Kirche zu verweisen (vgl. c. 35 CCEO, c. 112 CIC sowie Art. 4 und Art. 25 VatII OE). Ausnahmen sind jedoch möglich (vgl. c. 32 CCEO). Das Bekenntnis des katholischen Glaubens ist abzulegen. Die Aufnahme ist in das Konvertitenbuch, das in jeder Pfarrei zu führen ist134, einzutragen sowie an die entsprechende diözesane Meldestelle, d. h. das bischöfliche Ordinariat, das Matrikenreferat bzw. die Kirchenbeitragsstelle zu melden, in Deutschland kraft diözesanen Rechts auch an die zuständige staatliche Behörde (Einwohnermeldeamt, Standesamt, Finanzamt). Die 132
Robbers, Fragen (Anm. 6), S. 41 f., unter Hinweis auf can. 2314 § 2 CIC/1917 und das Ökumenische Direktorium von 1967. Vgl. Secretariatus ad Christianorum Unitatem Fovendam, Directorium ad ea quae a Concilio Vaticano Secundo de re oecumenica promulgata sunt exsequenda vom 14. Mai 1967, Nr. 19 f., in: AAS 59 (1967), S. 574 – 592, hier 581; lat./dt.: NKD 7, Trier 1967, S. 12 – 59, hier 28 – 31. Das Direktorium hatte im Anschluss an Art. 3 VatII UR in Nr. 19 betont, dass „die außerhalb der sichtbaren Einheit der katholischen Kirche geborenen und getauften Brüder“ im Unterschied zu denen, „die zwar in der katholischen Kirche getauft worden sind, aber ihrem Glauben bewußt und öffentlich abgeschworen haben“, für den Fall, dass sie „aus eigenem Antrieb den katholischen Glauben annehmen wollen, nicht von der Strafe der Exkommunikation losgesprochen zu werden (brauchen), sondern … nach Ablegung des Glaubensbekenntnisses … in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche zugelassen werden (dürfen). Die Vorschriften des Kanons 2314 gelten dagegen nur für jene, die reuig darum bitten, mit der Mutter Kirche wieder versöhnt zu werden, nachdem sie sich schuldbar vom katholischen Glauben und von der katholischen Gemeinschaft getrennt haben“. 133 Vgl. Rhode, Kirchenrecht (Anm. 56), S. 192; Rüdiger Althaus, Kommentar, in: MK CIC, c. 869, Rdnr. 3c (Stand Januar 2015); Hirnsperger, Taufrecht (Anm. 57), S. 204. Keine gültige Taufe spenden nach dem Verständnis der katholischen Kirche u. a. die Zeugen Jehovas, die Christengemeinschaft Rudolf Steiners, The New Church des Emmanuel Swedenborg und die Mormonen. Für Österreich s. Erzbistum Wien, Gültigkeit der Taufe in den christlichen Kirchen und Gemeinschaften vom Dezember 1990, in: Wiener Diözesanblatt, 128 Jg., Nr. 12, Dezember 1990, S. 108 f.; abgedr. in: AfkKR 159 (1990), S. 521 – 523, mit Blick auf die Orthodoxe Kirche und die altorientalischen Kirchen sowie die Evangelische Kirche A. B. und H. B., die Methodisten, die Altkatholische Kirche und die Anglikanische Kirche. Dabei wurden die Vereinbarungen mit der Evangelischen Kirche A. B. und H. B. vom Juni 1969 und der Altkatholischen Kirche vom Mai 1974 erneut abgedruckt. Siehe auch Heribert Hallermann, Die Vereinbarungen zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe, in: ders., Ökumene und Kirchenrecht (Anm. 11), S. 118 – 139; Wilhelm Rees, Taufe, Ökumene, Kirchenrecht. Von den Ansätzen des Zweiten Vatikanischen Konzils hin zu neueren Texten und Aussagen, in: Geringer/Schmitz, Communio (Anm. 51), S. 481 – 502. 134 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über Führung (Anm. 113).
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Abmeldung von der bisherigen gesetzlich anerkannten Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft bzw. auch der staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft muss vor dem Ansuchen um volle Aufnahme in die römisch-katholische Kirche erfolgt sein. Der aufnahmeberechtigte Priester besitzt die Vollmacht zur Spendung des Sakraments der Firmung, falls die betreffende Person noch nicht gefirmt ist (vgl. c. 883, 28 CIC). Es ist zu prüfen, ob eine gültige Ehe besteht bzw. die bestehende Ehe saniert werden kann. Für den Fall, dass dies nicht möglich ist, müssen die damit verbundenen Konsequenzen angesprochen werden. Im Fall von Todesgefahr hat jeder Priester von Rechts wegen die Vollmacht zur Vornahme der vollen Aufnahme in die katholische Kirche. In das Konvertitenbuch sind auch der Empfang des Sakraments der Firmung, die kirchliche Eheschließung usw. einzutragen. Wie Thomas A. Amann betont, hat die katholische Kirche die Taufe in nichtkatholischen Kirchen „nie ernstlich in Frage gestellt“. Doch konnte es mit Blick auf die Taufe in nichtkatholischen kirchlichen Gemeinschaften „Anlässe geben, die Gültigkeit der Taufe anzuzweifeln“, was zu der Praxis geführt habe, „bei einer Konversion regelmäßig unter der Bedingung der Ungültigkeit die Taufe nachzuholen“135. Im Unterschied dazu stellt c. 869 § 2 CIC136 fest, dass „in einer nichtkatholischen kirchlichen Gemeinschaft Getaufte … nicht bedingungsweise zu taufen (sind), außer es besteht hinsichtlich der bei der Taufspendung verwendeten Materie und Form der Taufworte und ferner bezüglich der Initiation eines, der als Erwachsener getauft wurde, und des Taufspenders ein ernsthafter Grund, an der Gültigkeit der Taufe zu zweifeln“. Für den Fall, dass „ein Zweifel besteht, ob jemand getauft ist oder ob die Taufe gültig gespendet wurde, der Zweifel aber nach eingehender Nachforschung bestehen bleibt, ist dem Betreffenden die Taufe bedingungsweise zu spenden“ (c. 869 § 1 CIC). Sofern die Spendung oder die Gültigkeit der Taufe zweifelhaft bleibt, „darf die Taufe erst gespendet werden, nachdem dem Täufling, sofern es sich um einen Erwachsenen handelt, die Lehre über das Taufsakrament dargelegt wurde und ihm bzw., falls es sich um ein Kind handelt, seinen Eltern die Gründe für die Zweifel an der Gültigkeit der gespendeten Taufe erklärt wurden“ (c. 869 § 3 CIC). Erstmals haben im Rahmen der so genannten Magdeburger Erklärung am 29. April 2007 elf in Deutschland vertretene Kirchen eine Vereinbarung über die wechselseitige Anerkennung der in diesen Kirchen vollzogenen Taufen unterzeichnet137. Eine gegenseitige Anerkennung 135
Thomas A. Amann, Der ökumenische Auftrag, in: HdbKathKR3, S. 944 – 963, hier 956 f. Vgl. Ordo initiationis christianae adultorum, Appendix (Anm. 124), Praenotanda, Nr. 7; Die Feier der Aufnahme (Anm. 124), Einführung, Nr. 7, S. 6; Congregatio pro Doctrina Fidei, Responsa ad proposita dubia de validitate baptismatis vom 1. Februar 2008, in: AAS 100 (2008), S. 200; abgedr. in: AfkKR 177 (2008), S. 201 f.; s. auch Hierold, Taufe (Anm. 57), S. 1161 f. 137 Vgl. Wechselseitige Anerkennung der Taufe. 11 Kirchen in Deutschland unterzeichnen am 29. April in Magdeburg Erklärung (23. 04. 2007): https://www.ekd.de/pm86_2007_wechsel seitige_taufanerkennung.htm (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.oekumene-ack.de/fileadmin/ user_upload/Themen/Taufanerkennung2007.pdf (einges. 3. 3. 2018). Die unterzeichnenden Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sind die Römisch-katholische Kirche, die Evangelische Kirche in Deutschland, die Orthodoxe Kirche in Deutschland, die Evangelisch-metho136
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der Taufe ist auch zwischen Papst Franziskus und dem koptischen Patriarchen Tawadros II. im Jahr 2017 erfolgt138. In Österreich besteht eine offizielle Vereinbarung über die gemeinsame Anerkennung der Taufe zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche A. B. und H. B. in Österreich von 1969 sowie der Römisch-Katholischen Kirche und der Altkatholischen Kirche in Österreich von 1974139. Bereits der Erste Teil des im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil herausgegebenen Ökumenischen Direktoriums vom 26. Mai 1967 befasste sich im zweiten Abschnitt ausführlich mit der Gültigkeit der von Amtsträgern in den getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gespendeten Taufe140. Auch das Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus vom 25. März 1993, das das 1967 und 1970 in zwei Teilen veröffentlichte Ökumenische Direktorium abgelöst hat, behandelt im Sinn eines allgemeinen Ausführungsdekrets (vgl. c. 33 §§ 1 und 2 CIC) im vierten Kapitel das Sakrament der Taufe als das sakramentale Band der Einheit zwischen den Christen und insbesondere die gegenseitige Anerkennung der Taufe141. Für den Fall, dass eine Person getauft ist, jedoch ein Taufschein unter zumutbarem Aufwand nicht beigebracht werden kann, genügt „die Erklärung eines einzigen einwandfreien Zeugen oder der Eid des Getauften selbst, wenn dieser im Erwachsenenalter die Taufe empfangen hat“ (c. 876 CIC; vgl. c. 691 CCEO).
distische Kirche, die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, die Armenisch-Apostolische Orthodoxe Kirche in Deutschland, das Katholische Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland, die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen, die Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeinde und die Arbeitsgemeinschaft Anglikanisch-Episkopaler Gemeinden in Deutschland. 138 Vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und dem koptisch-orthodoxen Patriarchen Tawadros II vom 28. April 2017, Nr. 11: http://de.radiovaticana.va/news/2017/04/29/ im_wortlaut_gemeinsame_erkl%C3 %A4rung_von_papst_und_patriarch/1308956 (einges. 3. 3. 2018); s. auch Katholische und Koptische Kirche anerkennen gegenseitig die Taufe. Papst Franziskus und koptischer Papst-Patriarch Tawadros II. unterzeichnen Ökumene-Papier (28. 04. 2017): http://www.oekumene.at/lebendigeoekumene/1784/katholische-und-koptischekirche-anerkennen-gegenseitig-die-taufe (einges. 3. 3. 2018); Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Orientierungshilfe zu liturgischen und kirchenrechtlichen Fragen, Wien 2 2016: http://www.oekumene.at/dl/mtsOJKJKMnlJqx4KJK/OERKOE_Orientierungshilfe__ 2016_web.pdf (einges. 3. 3. 2018); Ökumenische Kommission Oberösterreich (Hrsg.), Die Taufe im Verständnis der verschiedenen christlichen Kirchen (23. 03. 2011): http://www.oeku mene.at/site/_old/home/article/418.html (einges. 3. 3. 2018). 139 Vgl. dazu Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich, Orientierungshilfe (Anm. 138), S. 53; s. auch Erzbistum Wien, Gültigkeit (Anm. 133). 140 Vgl. Secretariatus ad Christianorum Unitatem Fovendam, Directorium (Anm. 132), Nr. 9 – 20, S. 578 – 581 = S. 21 – 31; dazu Hallermann, Vereinbarungen (Anm. 133), S. 121 – 126. 141 Pontificium Consilium ad Unitatem Christianorum Fovendam, Directorium (Anm. 124) Nr. 92 – 101, S. 1078 – 1082 = S. 57 – 61; dazu Hallermann, Vereinbarungen (Anm. 133), bes. S. 126 – 129; zu frühen teilkirchenrechtlichen Vereinbarungen in Deutschland s. ebd., S. 130 – 139.
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Wie Helmuth Pree bemerkt, häufen sich in Deutschland „in den letzten Jahren …, bedingt durch verstärkte Migration, durch Mischehen und andere Gründe, Fälle, in denen getaufte Nichtkatholiken ohne förmlichen Übertritt zur katholischen Kirche de facto nach längerer Zeit im Ergebnis als Katholiken geführt und behandelt werden“. Zudem komme auch vor, „dass zuziehende Christen vor der staatlichen Meldebehörde und gegebenenfalls auch vor der Kirche eine andere als ihre wahre Bekenntnisangabe machen“, was weitreichende Konsequenzen, wie u. a. für die Kirchensteuerpflicht habe142. Solche „de facto-Konversionen“ könne es nach katholischem Kirchenrecht jedoch nicht geben143. Für den Wechsel von einer anderen christlichen Kirche oder Religionsgemeinschaft zur römisch-katholischen Kirche sind in Österreich der Taufschein mit Austrittserklärung der zuständigen staatlichen Behörde sowie die Geburtsurkunde erforderlich144. Auch für Geistliche nichtkatholischer christlicher Kirchen ist ein Konfessionswechsel möglich. „Wenn in einer Reihe von Fällen bei Konversionen verheirateter nichtkatholischer Geistlicher die weitere Ausübung des ordo ungeachtet dessen, dass sie verheiratet sind, gestattet wurde“, so ist, worauf Hugo Schwendenwein verweist, „der Ausnahmecharakter solcher Sonderregelungen zu betonen“145. Besondere Bestimmungen gelten für den Übertritt von Mitgliedern der Anglikanischen Kirche zur katholischen Kirche. Näherhin hat Papst Benedikt XVI. die Aufnahme anglikanischer Personen in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche ermöglicht und zugleich Raum zum Schutz der eigenen Tradition gewährt146. 142
Pree, Konversion (Anm. 123), S. 347. Vgl. näherhin Pree, ebd., S. 353. 144 Vgl. Katholische Kirche – Eintritt Übertritt (6. 3. 2018): https://www.help.gv.at/Portal. Node/hlpd/public/content/82/Seite.820218.html (einges. 11. 3. 2018). 145 Hugo Schwendenwein, Die Rechte und Pflichten der Kleriker, in: HdbKathKR3, S. 355 – 371, hier 362. 146 Vgl. Benedikt XVI., Constitutio Apostolica „Anglicanorum coetibus“ qua Personales Ordinariatus pro Anglicanis conduntur qui plenam communionem cum Catholica Ecclesia ineunt vom 4. November 2009, in: AAS 101 (2009), S. 985 – 990; dt.: http://w2.vatican.va/con tent/benedict-xvi/de/apost_constitutions/documents/hf_ben-xvi_apc_20091104_anglicanorumcoetibus.html (einges. 3. 3. 2018); Congregatio pro Doctrina Fidei, Complementary Norms for the Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus vom 4. November 2009: http://www.vati can.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20091104_norme-an glicanorum-coetibus_en.html (einges. 3. 3. 2018); s. dazu Christoph Ohly, Personaladministration und Personalordinariat. Neue verfassungsrechtliche Strukturen im Hinblick auf die Entwicklung eines ökumenischen Kirchenrechts, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte (= KB 13), Wien/Berlin 2014, S. 105 – 120; ders., Ritus est patrimonium. Anmerkungen zur Ritusfrage im Kontext der Apostolischen Konstitution Anglicanorum coetibus, in: Elmar Güthoff/Stefan Korta/Andreas Weiß (Hrsg.), Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst (= AIC 50), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 407 – 419; Christian Wirz, Das eigene Erbe wahren. Anglicanorum coetibus als kirchenrechtliches Modell für Einheit in Vielfalt? (= BzMK 63), Essen 2012; John A. Renken, The Personal Ordinariate of the Chair of Saint Peter: Canonical Reflections, in: StCan 46 (2012), S. 5 – 50; Yves Kingata, Benedikt XVI. als kirchlicher Gesetzgeber. Ein Überblick über die legislative Tätigkeit des Papstes, in: AfkKR 181 (2012), S. 487 – 511, hier 503 f. 143
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b) Eintritt von Personen, die nicht getauft sind bzw. bisher einer anderen nicht-christlichen Religionsgemeinschaft angehört haben, in die katholische Kirche und der damit verbundene Katechumenat Neben dem Wechsel einer Person, die einer nichtkatholischen christlichen Kirche angehört, in die römisch-katholische Kirche kann auch eine Person, die nicht getauft ist bzw. bisher einer anderen nicht-christlichen Religionsgemeinschaft angehört hat, den Wunsch haben, in die römisch-katholische Kirche aufgenommen zu werden. Falls es sich um eine erwachsene Person handelt, ist in diesem Fall ein mehrstufiger Katechumenat gefordert, an dessen Abschluss der Empfang des Sakraments der Taufe und zur vollen Initiation der Empfang der Sakramente der Firmung und der Eucharistie steht. „Wer den Willen zur Annahme des Glaubens an Christus bekundet hat, ist nach Ablauf des Vorkatechumenats in liturgischer Feier zum Katechumenat zuzulassen; sein Name ist in das dazu bestimmte Buch einzutragen“ (c. 788 § 1 CIC; vgl. c. 587 § 1 CCEO)147. Näherhin sind die Katechumenen „durch Unterweisung und Einübung im christlichen Leben in geeigneter Weise in das Geheimnis des Heils einzuweihen und in das Leben des Glaubens, der Liturgie, der Caritas des Volkes Gottes und des Apostolats einzuführen“ (c. 788 § 2 CIC; vgl. c. 587 § 1 CCEO). Der universalkirchliche Gesetzgeber erteilt der Bischofskonferenz des jeweiligen Landes den Auftrag, „Normen zur Ordnung des Katechumenats zu erlassen“, in denen sie „festlegt, was von den Katechumenen zu leisten ist und welche Vorrechte ihnen zuerkannt werden“ (c. 788 § 3 CIC; vgl. c 587 § 3 CCEO). Näherhin betont der kirchliche Gesetzgeber, dass die Katechumenen mit der Kirche „auf besondere Weise verbunden“ sind (c. 206 § 1 CIC; vgl. c. 9 § 1 CCEO). Er räumt ihnen daher auch besondere Vorrechte ein (vgl. c. 206 § 2 CIC; vgl. c. 9 § 2 CCEO), nämlich das Recht auf Teilnahme an Wortgottesdiensten (nicht an der Eucharistiefeier), die Möglichkeit des Empfangs kirchlicher Segnungen (vgl. c. 1170 CIC) sowie das Recht auf ein kirchliches Begräbnis (vgl. c. 1183 § 3 CIC). Wenngleich für die Aufnahme Erwachsener der Katechumenat von Rechts wegen vorgeschrieben (vgl. cc. 788 § 1, 851, 18 und 865 § 1 CIC; vgl. c. 587 §§ 1 und 2 CCEO) ist148, wird er vom CIC nicht näher geregelt. Er gestaltet sich vielmehr nach außerkodikarischem Recht, d. h. den liturgischen Gesetzen, wie sie in den kirchlichen Ritualbüchern enthalten sind (vgl. c. 2 CIC), und den von den jeweiligen Bischofskonferenzen festgelegten 147
Siehe auch Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über Führung (Anm. 113). Volljährig ist man gemäß c. 97 § 1 CIC ab Vollendung des 18. Lebensjahres (persona maior). Als Erwachsener (adultus) gilt, „wer sowohl dem Kindesalter entwachsen ist als auch den Vernunftgebrauch erlangt hat. Dieses wird mit Vollendung des 7. Lebensjahres vermutet“. Als Kind (infans) gilt „zum einen, wer dem Kindesalter noch nicht entwachsen ist, d. h. das 7. Lebensjahr noch nicht vollendet hat …, zum anderen derjenige, der, obwohl älter, seiner nicht mächtig ist, also infolge fehlenden Vernunftgebrauches nicht selber über sich bestimmen kann“. So Rüdiger Althaus, Kommentar, in: MK CIC, c. 852, Rdnr. 2a) (Stand Dezember 2003), unter Hinweis auf c. 97 § 2 und c. 99 CIC; s. auch Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Katechumenat, in: LKStKR 2 (2002), S. 394 f., hier 394. 148
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Normen. Näherhin gilt der Ordo initiationis christianae adultorum und die dazugehörende Studienausgabe für den deutschsprachigen Raum bzw. die Manuskriptausgabe zur Erprobung von 2001149. Im Fall eines Kindes bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres (vgl. c. 97 § 2 CIC; c. 909 § 2 CCEO) gibt es keinen Katechumenat. Es sind vielmehr dessen Eltern, die „durch Taufbitte und Taufgespräch mit dem Geistlichen die Initiation vorbereiten und unter Beteiligung der Paten durchführen“150. Es gilt der Ordo baptismi parvulorum in Form der Studienausgabe von 2007151. Insbesondere fordert der kirchliche Gesetzgeber, „die Eltern eines Kindes, das getauft werden soll, und ebenso jene, die den Patendienst übernehmen wollen, … über die Bedeutung dieses Sakraments und die mit ihm zusammenhängenden Verpflichtungen ordnungsgemäß zu belehren“ (c. 851, 28 CIC; vgl. c. 686 § 2 CCEO). Die Eltern müssen sich „an den Pfarrer wenden, um für ihr Kind das Sakrament zu erbitten und um entsprechend darauf vorbereitet zu werden“ (c. 867 § 1 CIC; vgl. c. 686 § 2 CCEO). Für die erlaubte Taufspendung ist die Zustimmung der Eltern oder eines Elternteils bzw. eines Erziehungsberechtigten erforderlich (c. 868 § 1, 18 CIC; vgl. c. 681 § 1, 2. CCEO). Ebenso „muß die begründete Hoffnung bestehen, daß das Kind in der katholischen Religion erzogen wird“ (c. 868 § 1, 28 CIC; vgl. c. 681 § 2, 1. CCEO). Für Kinder und Jugendliche von 8 bis 18 Jahren gelten die Regelungen für Erwachsene, jedoch „unter Berücksichtigung des usus rationis und der entwicklungsspezifischen Voraussetzungen“. Sofern möglich, sollen sie „in die Katechese zur Erstkommunion und zur Firmung ihrer getauften Kameraden“ integriert werden152. Zusätzlich zu den gesamtkirchlichen Vorgaben haben die Deutsche und die Österreichische Bischofskonferenz Ordnungen für den Katechumenat erlassen. Gemäß den Bestimmungen der Deutschen Bischofskonferenz153 muss für erwachsene Taufbewerber „auf Pfarrebene oder überpfarrlicher Ebene ein Katechumenat“ entsprechend den liturgischen Büchern durchgeführt werden. In Österreich richtet sich 149
154. 150
Vgl. oben Anm. 64; s. dazu auch Riedel-Spangenberger, Initiation (Anm. 58), S. 152 –
Riedel-Spangenberger, Katechumenat (Anm. 148), S. 394; Aymans – Mörsdorf, KanR III (2007), S. 201 f.; Hirnsperger, Taufrecht (Anm. 57), S. 199 – 203. 151 Vgl. oben Anm. 63; s. dazu auch Riedel-Spangenberger, Initiation (Anm. 58), S. 154 – 160; ferner auch Liturgische Institute Salzburg, Trier, Zürich, Die Eingliederung von Kindern im Schulalter (Anm. 64); s. dazu auch Riedel-Spangenberger, Initiation (Anm. 58), S. 160 f. 152 So Riedel-Spangenberger, Katechumenat (Anm. 148), S. 394. 153 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Partikularnorm Nr. 9 zu c. 788 § 3 und c. 851, 1 CIC. Katechumenat für Erwachsene vom 22. September 1992, 23. September 1993 und 26. September 1995, rekognosziert mit Dekret der Kongregation für die Bischöfe vom 16. Mai 1995 und 12. September 1995: https://recht.drs.de/fileadmin/user_files/117/Dokumente/Rechtsdoku mentation/4/2/2/95_23_09.pdf (einges. 3. 3. 2018). Die Partikularnormen erhielten für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz Rechtskraft am 1. Januar 1996. Siehe auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Stufen auf dem Glaubensweg. Handreichung zu Fragen des Katechumenats in der Bundesrepublik Deutschland, 16. Februar 1982 (= Arbeitshilfen 25), Bonn 1982; dass., Erwachsenentaufe als Chance. Impulse zur Gestaltung des Katechumenats, März 2001 (= Arbeitshilfen 160), Bonn 2001.
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der Erwachsenenkatechumenat nach der von der Österreichischen Bischofskonferenz erlassenen Ordnung für den Katechumenat vom 6. November 1982154, die für Bewerberinnen und Bewerber ab dem vollendeten 14. Lebensjahr verpflichtend ist (§ 1). Ein Vorkatechumenat (vgl. § 2) und ein eigentlicher Katechumenat sind gefordert. „Zuständig für die Aufnahme in den Katechumenat ist der Pfarrer jenes Ortes, wo der Kandidat seinen Wohnsitz hat“ (§ 3). „Die Aufnahme muss in der vorgesehenen liturgischen Form erfolgen, wenn möglich im sonntäglichen Gemeindegottesdienst“ (§ 3). Der gesamte Katechumenat darf „nicht kürzer als sechs Monate sein“ (§ 6). Für eine verkürzte Zeit des Katechumenats bedarf es der Erlaubnis des Ortsordinarius, d. h. in der Regel des Diözesanbischofs. Da „die Taufe von solchen, die dem Kindesalter entwachsen sind, mindestens aber derer, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, … dem Diözesanbischof anzutragen (ist), damit sie von ihm persönlich gespendet wird, wenn er dies für angebracht hält“ (c. 863 CIC), ist Sorge zu tragen, „dass die nötige Stellungnahme gemäß can. 863 rechtzeitig eingeholt wird“ (§ 6). „Der zuständige Ortspfarrer hat darauf hinzuwirken, dass die ganze Gemeinde die Begleitung der Katechumenen als ihre Aufgabe erkennt und wahrnimmt“ (§ 9). Die österreichischen Bischöfe sahen sich im Jahr 2015 veranlasst, besondere Regelungen für den Katechumenat von Asylwerbern aufzustellen, da hier „besondere Aufmerksamkeit und Begleitung“ und somit eine besondere Sorgfalt gefordert sind155. Grundlage für die Durchführung bildet auch in diesen Fällen der Ordo initiationis christianae adultorum und die Studienausgabe für den deutschsprachigen Bereich bzw. das Manuskript zur Erprobung von 2001156. Allerdings dauert die „gesamte Vorbereitungszeit (inklusive Erstverkündigung = Vorkatechumenat) … nach Möglichkeit mindestens ein Jahr“. Sie kann, da sie individuell zu gestalten ist, „auch 154 Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über die Ordnung des Katechumenats can. 788 § 3 und can. 851, in: Abl. ÖBK, Nr. 11 vom 28. April 1994, Nr. II. 2, S. 3 f.; abgedr. in: AfkKR 163 (1994), S. 159 – 161; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teil kirchenrecht/oebiko/katechumenat.html (einges. 3. 3. 2018) sowie: http://www.bischofskonfe renz.at/pages/bischofskonferenz/rechtsmaterie/index7.html (einges. 3. 3. 2018). Das Dekret wurde von der Österreichischen Bischofskonferenz am 6. November 1992 beschlossen. Die Recognitio durch die Kongregation für die Bischöfe erfolgte am 14. Januar 1994. Siehe auch Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katechumenat. Pastorale Orientierungen (= Die österreichischen Bischöfe 14), Wien 2016; ferner: http://www.bischofs konferenz.at/dl/NpLLJKJKKoolOJqx4KlJK/Heft14_Katechumenat.pdf (einges. 3. 3. 2018); Hirnsperger, Taufrecht (Anm. 57), S. 196 – 199. 155 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Richtlinien der österreichischen Bischöfe zum Katechumenat von Asylwerbern, in: Abl. ÖBK, Nr. 64 vom 1. Februar 2015, Nr. II. 1, S. 9 – 14; ferner: https://www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/teilkirchenrecht/oebiko/katechumen at-asylwerber.html (einges. 3. 3. 2018) und: http://www.bischofskonferenz.at/pages/glossary_ list.siteswift?s=3804&ts=1520596802 (einges. 3. 3. 2018). Die Richtlinien wurden von der Österreichischen Bischofskonferenz in der Herbstvollversammlung vom 3.–6. November 2014 beschlossen. Sie sind mit der Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft getreten. Siehe auch Gewissens- und Religionsfreiheit von Islam einfordern. Wiener Erzbischof: Immer mehr Muslime wollen Christen werden, „aber wir prüfen sehr genau, ob es eine ehrliche Konversion ist“, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 63, 13. März 2016, S. 3. 156 Vgl. oben Anm. 64.
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längere Zeit in Anspruch nehmen“. Die österreichischen Bischöfe weisen darauf hin, dass „nach der österreichischen Rechtslage … der Wunsch nach einer Konversion zum Christentum bzw. eine schon erfolgte Eingliederung in die Kirche dann im Asylverfahren zu berücksichtigen (ist), wenn der Religionswechsel als Ursache der Flucht oder wegen einer aufgrund einer späteren Konversion nunmehr gegebenen Verfolgung im Herkunftsland als Asylgrund geltend gemacht wird. Das gilt vor allem für eine Konversion von Flüchtlingen aus Ländern, in denen der Islam die dominante Religion der Bevölkerungsmehrheit ist. Nur in diesen Fällen ist die konkrete Konversion eines Asylwerbers für die Behörden relevant, wobei diese sicherstellen müssen, dass es sich nicht um eine Scheinbekehrung mangels anderer relevanter Asylgründe handelt“. Es ist für die römisch-katholische Kirche daher „besonders wichtig, die Echtheit der Motive für den Taufwunsch genau zu prüfen und auf eine sorgfältige Durchführung des Katechumenats und eine ausreichende Dauer zu achten“. Für die österreichischen Bischöfe wird die Prüfung der Echtheit von Konversionen „von immer größerer Brisanz, weil sich in Asylantenkreisen Personen bewegen, die kirchlich nicht autorisierte Beratung anbieten, wie eine sichere und schnellere Anerkennung als Asylant durch eine scheinbare Hinwendung zum Christentum erlangt werden kann“. Dies halten die österreichischen Bischöfe „für die Kirche nicht wünschenswert“. Sie sehen darin auch den „Grund, warum die Behörden misstrauisch agieren, wenn der Wunsch Christ zu werden als hauptsächlicher Asylgrund angegeben wird“. Dieses Misstrauen treffe dann aber „alle Asylwerber, einschließlich jener, die wirklich Christen sein wollen und oft schon seit längerer Zeit gut in eine Gemeinde integriert sind“. Die österreichischen Bischöfe weisen darauf hin, dass ein anhängiges Asylverfahren „auch weitere Familienangehörige“ tangieren kann. „Wenn ganze Familien konvertieren wollen, ist genau zu prüfen, ob das auch dem Wunsch aller entspricht. Ab dem 14. Lebensjahr bedarf es jedenfalls der eigenen Entscheidung jedes Familienangehörigen. Aber auch jüngere Kinder dürfen nicht gegen ihren erklärten Willen getauft oder in die Vorbereitung einbezogen werden.“ Bei muslimischen Personen, die um die Taufe bitten, fordern die österreichischen Bischöfe „insbesondere Klarheit“ bei bestimmten Glaubensinhalten. Ausdrücklich genannt werden „der Glaube an den Einen Dreifaltigen Gott, Jesus Christus als wahrer Mensch und Gott, die Rolle der Gottesmutter im Heilsereignis, Tod und Auferstehung Jesu, die Vergebung der Sünden, das christliche Menschenbild und die damit verbundene Stellung von Mann und Frau“. Diese speziellen strengen Regelungen mögen als diskriminierend gesehen werden. Die österreichischen Bischöfe halten sie jedoch für notwendig, da „eine Zulassung zur Taufe von Personen, die beim behördlichen Verfahren als unglaubwürdig eingestuft werden, … zur Unglaubwürdigkeit der Kirche bzw. des Katechumenats in ganz Österreich (führt). Damit geraten alle Taufbewerber in Misskredit, auch jene, die aus echter und tiefster Überzeugung Christ werden wollen“. Im Jahr 2016 belief sich in Österreich die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund auf rund 1,898 Millionen Personen (22,1 %). Dies bedeutete gegenüber dem Vorjahr 2015 (1,813 Millionen) ein Anwachsen um 85.000 Menschen. In den beiden Jahren 2015 und 2016 stellten 130.625 Personen einen Asylan-
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trag, wobei 36.720 Personen als Flüchtlinge anerkannt wurden157. Wie die innerkirchliche Statistik zeigt, machten im Jahr 2016 in Wien Menschen mit muslimischem Hintergrund rund die Hälfte der erwachsenen Taufwerberinnen und -bewerber aus. Ihr Anteil stieg damit zwischen 2015 und 2016 von einem Drittel auf die Hälfte158. Als Gründe für die wachsende Zahl nennt Friederike Dostal, Leiterin des Referats für die Taufvorbereitung von Erwachsenen in der Erzdiözese Wien und des Koordinationsbüros der Österreichischen Bischofskonferenz für Katechumenat und Asyl, „neben dem Flüchtlingsstrom auch das kirchliche Engagement bei der Betreuung und Unterbringung von Asylwerbern sowie eine generell ernüchterte Einstellung zum Islam im Blick auf Gräueltaten, die jihadistische Terrorgruppen im Nahen Osten verüben“159. Die intensive Taufvorbereitung habe, wie der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Kardinal Christoph Schönborn erklärte, auch auf die österreichischen Behörden „direkte Auswirkungen“. „Der Asylgerichtshof erkenne die hohen Standards der katholischen Kirche in der Taufvorbereitung durchaus an … Behördenvertreter seien so eher bereit, die Konversion als Fluchtgrund beziehungsweise als Nachfluchtgrund zu akzeptieren“160. Im Jahr 2017 gab es in Österreich 750 Erwachsenentaufen. Von diesen hatten rund 75 % einen muslimischen Hintergrund161. Personen, die in den Katechumenat aufgenommen wurden, werden unter Angabe von Ort und Zeit in das Verzeichnis der Katechumenen eingetragen, das nach diözesaner Regelung zu führen und aufzubewahren ist162. Vor Beginn des Katechumenats ist die Erlaubnis zur Taufe beim Ortsordinarius, d. h. normalerweise dem Diözesanbischof, einzuholen (vgl. c. 863 CIC), der mit dem Auftrag zur Taufspendung in der Regel gemäß c. 883, 28 CIC auch die Befugnis zur Firmung gibt, sofern er nicht selbst die christliche Initiation vornehmen will. Nach erfolgter Taufe und Firmung sind die Daten – gegebenenfalls einschließlich einer eventuellen kirchlichen Trauung – aus dem Katechumenenprotokoll in das Taufbuch zu übernehmen. Eine Meldung an die diözesane Meldestelle, d. h. je nach Diözese an das Bischöfliche Ordinariat, das Matrikenreferat oder an die Kirchenbeitragsstelle, in Deutschland kraft Diözesanrechts an das zuständige Einwohnermeldeamt ist erforderlich. Sofern eine Person 157 Vgl. Österreichischer Integrationsfonds, Statistisches Jahrbuch 2017: https://www.inte grationsfonds.at/publikationen/zahlen-fakten/statistisches-jahrbuch-2017/ (einges. 3. 3. 2018). 158 Vgl. Anzahl der Taufwerber mit muslimischem Hintergrund steigt. Anteil an Taufwerbern aus muslimischen Familien stieg in Wien von einem Drittel auf die Hälfte – Österreichweit deutlich über 300 Erwachsenentaufen 2016, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 62, 11. März 2016, S. 13 f. 159 Friederike Dostal, zitiert in: Anzahl (Anm. 158), S. 13. 160 Christoph Schönborn, zitiert in: Anzahl (Anm. 158), S. 13; s. auch ORF, „Pressestunde“ mit Kardinal Christoph Schönborn, Erzbischof von Wien (13. März 2016 um 11.05 Uhr in ORF 2): https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20160311_OTS0161/pressestunde-mit-kar dinal-christoph-schoenborn-erzbischof-von-wien (einges. 3. 3. 2018). 161 Vgl. Österreichweit gab es 2017 bis zu 750 Erwachsenentaufen (15. 1. 2018): https:// www.erzdioezese-wien.at/site/home/nachrichten/article/62769.html (einges. 3. 3. 2018). 162 Siehe Österreichische Bischofskonferenz, Dekret über Führung (Anm. 113).
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bisher Mitglied einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft bzw. staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft war, sind für den Übertritt zur römisch-katholischen Kirche in Österreich staatlicherseits sowohl die Beitrittserklärung zur vorhergehenden Religionsgemeinschaft mit Austrittserklärung der zuständigen staatlichen Behörde als auch persönliche Dokumente, wie amtlicher Lichtbildausweis und Geburtsurkunde, vorzuweisen. Vonseiten der Kirche sind die Neugetauften „in angemessener Unterweisung zu vollerer Kenntnis der Wahrheit des Evangeliums und zur Erfüllung der durch die Taufe übernommenen Pflichten zu führen; sie sind zu aufrichtiger Liebe zu Christus und seiner Kirche anzuleiten“ (c. 789 CIC). Hierzu hat die Pfarrgemeinde – wie bereits während der Katechumenatszeit – eine besondere Verpflichtung. Bei erwachsenen Taufbewerberinnen und -bewerbern ist immer auch die eherechtliche Situation, d. h. die kanonische Gültigkeit der Ehe bzw. die Möglichkeit der Sanierung der bestehenden Ehe, zu prüfen163. Dies gilt im Bereich der Bundesrepublik Deutschland vor allem auch bei Aussiedlerinnen und Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion.
5. Das Verbot von Proselytismus „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ,missionarisch‘ (d. h. als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters“ (Art. 2 Abs. 1 VatII AG; Art. 35 VatII AG; Art. 2 – 4 VatII LG). Dieses Verständnis „bringt mit sich, daß Glaubensabwerbung in einem gewissen Sinn eine notwendige Begleiterscheinung kirchlicher Verkündigung darstellt“164. Ausdrücklich hat das Zweite Vatikanische Konzil jedoch darauf hingewiesen, dass man sich „bei der Verbreitung des religiösen Glaubens und bei der Einführung von Gebräuchen allzeit jeder Art der Betätigung enthalten (muss), die den Anschein erweckt, als handle es sich um Zwang oder um unehrenhafte oder ungehörige Überredung, besonders wenn es weniger Gebildete oder Arme betrifft. Eine solche Handlungsweise muß als Mißbrauch des eigenen Rechtes und als Verletzung des Rechtes anderer betrachtet werden“ (Art. 4 Abs. 4 VatII DH). Mission und Evangelisierung kann und darf daher nicht mit Proselytismus gleichgesetzt werden. Sie können jedoch in diese Richtung gehen, wenn mit der Verkündigung Zwang und Manipulation verbunden sind. Papst Benedikt XVI. hat sich in einer Predigt bei der Bischofsversammlung 2007 in Aparecida (Bra163
Siehe Erzbischöfliches Seelsorgeamt Freiburg, Die Aufnahme in die römisch-katholische Kirche. Wideraufnahme in die römisch-katholische Kirche, Erwachsenentaufe, Aufnahme in die volle Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche. Ein pastoraler Leitfaden, Freiburg 2015, Nr. 8, S. 11 – 13; ferner: https://www.ipb-freiburg.de/html/content/taufe_und_ka techumenat.html (einges. 3. 3. 2018). 164 Müller, Glaubensabwerbung (Anm. 51), S. 115.
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silien) ausdrücklich vom Proselytismus distanziert165, ähnlich Papst Franziskus während der Pressekonferenz auf der Rückreise von Bangladesch nach Rom im Jahr 2017166. Proselytismus ist in Staaten mit Staatsreligion, wie z. B. in Griechenland (vgl. Art. 13 Abs. 2 Satz 3 Verf.)167, und verschiedenen islamischen Staaten verboten.
6. Ein Blick auf die evangelische Kirche Wie nach dem römisch-katholischen Kirchenrecht wird auch im evangelischen Kirchenrecht die Kirchenmitgliedschaft „nicht durch Willenserklärung („Eintritt“) begründet, sondern durch die Taufe“168. Da die Taufe auch nach evangelischem Verständnis „einen unzerstörbaren Charakter (character indelebilis)“ besitzt, wird sie „nicht wiederholt, auch nicht beim Übertritt in eine andere Kirche oder beim Eintritt eines in einer anderen Kirche Getauften in eine evangelische Kirche“169.
165 Vgl. Benedikt XVI., Predigt bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik bei der Apostolischen Reise nach Brasilien anläßlich der V. Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik vom 13. Mai 2007, in: AAS 99 (2007), S. 433 – 438; dt.: https://w2.vatican.va/content/be nedict-xvi/de/homilies/2007/documents/hf_ben-xvi_hom_20070513_conference-brazil.html (einges. 3. 3. 2018): „Die Kirche betreibt keinen Proselytismus. Sie entwickelt sich vielmehr durch ,Anziehung‘“. 166 Vgl. Franziskus, Apostolische Reise nach Myanmar und Bangladesch (26. November – 2. Dezember 2017). Pressekonferenz auf dem Rückflug von Bangladesch am 2. Dezember 2017: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2017/december/documents/papafrancesco_20171202_viaggioapostolico-bangladesh-voloritorno.html (einges. 3. 3. 2018): „Evangelisieren heißt nicht Proselytismus betreiben.“ Siehe auch Vatikan – Papa Franziskus: Verkündigung ist nicht „Proselytismus“. Nur der Heilige Geist „fasziniert“ und lässt Herzen umkehren (04. 12. 2017): http://www.fides.org/de/news/63340-VATIKAN_Papa_Franziskus_ Verkuendigung_ist_nicht_Proselytismus_Nur_der_Heilige_Geist_fasziniert_und_laesst_Her zen_umkehren (einges. 3. 3. 2018); ferner Franziskus, Nie im Sitzen, Frühmesse im Vatikanischen Gästehaus „Domus Sanctae Marthae“, Donnerstag, 4. Mai 2017, in: ORdt, Nr. 21, 26. Mai 2017; ferner: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/cotidie/2017/documents/papafrancesco-cotidie_20170504_nie-im-sitzen.html (einges. 3. 3. 2018). 167 Vgl. Verfassung der Republik Griechenland vom 9. Juni 1975: http://www.verfassun gen.eu/griech/verf75.htm (einges. 3. 3. 2018). 168 Michael Germann, Art. Kircheneintritt/-austritt/-übertritt, in: Heinig/Munsonius, Begriffe (Anm. 8), S. 110 – 115, hier 111; s. auch de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 329 – 331, Rdnr. 2 – 7; Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelisch werden. Eintritt in die Evangelische Kirche: https://archiv.ekd.de/einsteiger/einsteiger_eintritt.html (einges. 3. 3. 2018): „Bevor Sie getauft werden, ist eine Einführung in den christlichen Glauben wünschenswert. Ein Pfarrer/eine Pfarrerin kann Ihnen Auskunft darüber geben, wie Sie diese Einführung im einzelnen gestalten können. Die Taufe selbst wird in einem Gottesdienst gefeiert. Sie berechtigt u. a. zur selbständigen Teilnahme am Abendmahl und zur Übernahme des Patenamtes bei einer Taufe.“ 169 de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 283, Rdnr. 4.
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Die evangelische Kirche stellt „auf einen zweigliedrigen Kirchenbegriff“ ab und unterscheidet „die geistliche Gliedschaft von der juristischen Mitgliedschaft“170. Erstere bezeichnet „die auf die Taufe gegründete Zugehörigkeit zur Kirche Jesu Christi im Sinne der einen wahren Kirche des dritten Glaubensartikels“, letztere „die Zugehörigkeit zu einem konkreten, rechtlich organisierten Kirchenwesen, etwa einer Deutschen Evangelischen Landeskirche“171. Maßgebend für die Evangelische Kirche in Deutschland sind das Kirchengesetz über die Kirchenmitgliedschaft, das kirchliche Meldewesen und den Schutz der Daten der Kirchenmitglieder (Kirchengesetz über die Kirchenmitgliedschaft) vom 10. November 1975 (KMG.EKD)172, die Lebensordnungen, die „Leitlinien kirchlichen Lebens (LKL.VELKD) bzw. die Ordnung kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union vom 5. Juni 1999 (OKL.EKD)173. Grundvoraussetzungen für die Kirchenmitgliedschaft sind Taufe, Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthaltsort und Bekenntnis174. Die Kirchenmitgliedschaft begründet Rechte und Pflichten (§§ 3 – 5 KMG.EKD). Zum Teil gewähren einzelne Landeskirchen auch ungetauften Personen bestimmte Teilnahme- und Mitwirkungsrechte175. Wie Johannes Kuntze bemerkt, wurden neben dem Mitgliedschaftserwerb infolge der Taufe, der den Regelfall bildet, „weitere Erwerbstatbestände geschaffen, die diejenigen Fälle betreffen, in denen die Taufe bereits vollzogen wurde, das Nichtmitglied jedoch vorübergehend oder dauerhaft keinem oder einem anderen Bekenntnis zugeordnet war“176. Hierzu zählen Aufnahme und Wiederaufnahme sowie der Übertritt. Das KMG.EKD versteht unter Aufnahme den „Erwerb der Kirchenmitgliedschaft durch eine zuvor aus einer anderen christlichen Kirche oder Religionsgemeinschaft mit bürgerlicher Wirkung ausgetretene Person“, unter Wiederaufnahme „das Zurückerlangen der Rechte und Pflichten aus der Kirchenmitgliedschaft durch eine zuvor aus einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland mit bürgerlicher Wirkung ausgetretene Person“ und unter Übertritt den „Erwerb der Kirchenmitgliedschaft unter Aufgabe der Mitgliedschaft in einer anderen christlichen Kirche oder Religionsgemeinschaft ohne vorherigen Austritt mit bürgerlicher Wirkung, so170
Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 203, Rdnr. 4. de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 281 f., Rdnr. 1; s. auch Evangelische Kirche in Deutschland, Wie man in die Kirche eintritt. Der Beitritt zur Evangelischen Kirche ist einfach – und ohne Prüfung: https://www.ekd.de/wie-man-in-die-kirche-eintritt-15014.htm (einges. 3. 3. 2018). 172 Abl. EKD 1976, S. 389: https://www.kirchenrecht-ekd.de/pdf/3168.pdf (einges. 3. 3. 2018). 173 Vgl. Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 206 – 210, Rdnr. 7 – 11. Nach Christoph Link, Art. Kirchenzugehörigkeit. I. Ev., in: LKStKR 2 (2002), S. 549 – 553, bes. 549 f., ist „die Bestimmung der Kirchenzugehörigkeit in der evangelischen Kirche nicht unproblematisch“. 174 Im Einzelnen Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 210 – 214, Rdnr. 12 – 21; de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 283 f., Rdnr. 4 f. 175 Siehe Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 226, Rdnr. 50 m. w. N. 176 Kuntze, ebd., S. 215, Rdnr. 22; s. auch Christoph Thiele, Art. Wiedereintritt in die Kirche. II. Ev., in: LKStKR 3 (2004), S. 881 – 883. 171
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fern nicht das staatliche Recht einen vorherigen Austritt erfordert“ (§ 7 Abs. 2 KMG.EKD). „Entsprechend der in der ev. Ekklesiologie gegründeten Auffassung vom Wechsel der Konfession als ,Wechsel der Gemeinschaft innerhalb der einen, die Konfessionskirchen übergreifenden Kirche Jesu Christi‘“ ist die Hinwendung evangelischer Christinnen und Christen zu einer anderen christlichen Konfession und der Eintritt einer aus einer anderen christlichen Konfession stammenden getauften Person, wie Christian Grethlein bemerkt, „eine mitgliedschaftsrechtlich zu regelnde Frage ohne grundsätzliches, d. h. soteriologisches Gewicht“177. Zudem macht Grethlein darauf aufmerksam, dass „innerevangelische Bekenntnisdifferenzen“ heute „nicht mehr als Konversion verstanden“ werden, wie der in einzelnen Bundesländern in der Bundesrepublik Deutschland mögliche direkte Übertritt von einer evangelischen Landeskirche in eine Freikirche oder umgekehrt und ebenso die so genannte „Möbelwagen-Konversion“, d. h. der „Wechsel zwischen zwei unterschiedlich bekenntnismäßig fundierten evangelischen Kirchen auf Grund von Umzug“, zeige178. Somit sind die deutschen evangelischen Landeskirchen, die der Leuenberger Konkordie beigetreten sind, „offen für die Möglichkeit eines zwischen den Kirchen vereinbarten Übertritts mit öffentlich-rechtlicher Wirkung ohne vorausgehenden Kirchenaustritt“179. Es ist daher möglich, dass „die Kirchenmitgliedschaft in einer der rechtlich verfassten evangelischen Partikularkirchen tatsächlich beendet werden kann … und dass der sogenannte ,Übertritt‘ zum einen die Mitgliedschaft in der bisherigen Kirche rechtlich und faktisch beendet und zum anderen die Mitgliedschaft in der aufnehmenden Kirche neu begründet“180. Eine solche Vereinbarung zur Regelung des Übertritts zwischen christlichen Kirchen besteht u. a. im Freistaat Sachsen181. Die Möglichkeit des Übertritts setzt voraus, „dass sowohl die ,abgebende‘ als auch die ,aufnehmende‘ Kirche diese Art des Mitgliedschaftswechsels anerkennt“182. Dies ist, wie Heinrich de Wall betont, „leider im Verhältnis zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche nicht der Fall“183. Der Wechsel einer katholischen Christin bzw. eines katholischen Christen in eine evangelische Kirche kann in einem Gemeindegottesdienst erfolgen, „wobei die Teilnah177
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Christian Grethlein, Art. Konversion. I. Ev., in: LKStKR 2 (2002), S. 636 – 637, hier
Grethlein, ebd., S. 636. Riedel-Spangenberger, Konversion und Rekonziliation (Anm. 11), S. 159. 180 Hallermann, Fragen (Anm. 13), S. 90. 181 Vgl. Vereinbarung zur Regelung des Übertritts zwischen christlichen Kirchen im Freistaat Sachsen vom 11. Dezember 1998, in Kraft getreten 1. Juli 1998 (Abl. 199 S. A 5): https:// engagiert.evlks.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=883&token=4929d3d042c6af8a f49a1c4348658742425289e6 (einges. 3. 3. 2018); s. auch oben 1. a). 182 de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 285, Rdnr. 8. 183 de Wall, ebd., unter Hinweis auf Ernst v. Castell, Der „Kirchenübertritt“ aus römischkatholischer Sicht, in: Athanasios Basdekis/Klaus Peter Voß (Hrsg.), Kirchenwechsel – ein Tabuthema der Ökumene?, Frankfurt 2004, S. 74 – 81, hier 80 f.; s. auch Bernd Densky, Kirchenwechsel – Tabuthema der Ökumene?: http://www.oekumene-ack.de/aktuell/nachrichtenar chiv/artikel/artikeldetails/kirchenwechsel-tabuthema-der-oekumene/ (einges. 3. 3. 2018). 179
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me am Abendmahl als sichtbares Zeichen der Eingliederung gilt“ und „vor der Aufnahme … der Kirchenvorstand bzw. das Presbyterium der betreffenden Gemeinde gehört werden“ muss184. Für den Fall, dass ein Pfarrer einer evangelischen Kirche zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft übertritt, scheidet er damit kraft Gesetzes aus dem bisherigen Dienst aus185. Nach § 10 KMG.EDK endet die Kirchenmitgliedschaft mit dem Fortzug aus dem Geltungsbereich des Kirchenmitgliedschaftsgesetzes, durch Übertritt zu einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft nach dem Recht der Gliedkirche oder mit Wirksamwerden der nach staatlichem Recht zulässigen Austrittserklärung186. Der vor einer staatlichen Behörde erklärte Kirchenaustritt ist auch in der evangelischen Kirche „differenziert zu beurteilen. Er ist um der Glaubens- und Gewissensfreiheit im staatlichen Recht gewährleistet und hat lediglich zur Folge, dass staatlicherseits an die Kirchenzugehörigkeit keine Rechtsfolgen mehr geknüpft werden können. Dagegen wird innerkirchlich dadurch wegen des character indelebilis der Taufe das Band zur Kirche nach evangelischem Verständnis nicht einfach zerschnitten“187. „Für die Zugehörigkeit zur ecclesia spiritualis und universalis hat ein Kirchenaustritt … keine Bedeutung.“188 Der Austritt führt jedoch in der Regel zur Kündigung bei kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wiedereintritt oder – besser gesagt – die Wiederaufnahme ist für eine ausgetretene Person möglich. Für den Wiedereintritt genügt nicht die „bloße Willenserklärung“; vielmehr bedarf es dazu „einer Einwilligung durch eine nach Kirchenrecht berufene Stelle, idR durch den Pfarrer bzw. die Pfarrerin oder den Kirchenvorstand der Kirchgemeinde des Wohnsitzes der wieder eintretenden Person“189. Er kann „in einem Gottesdienst gefeiert werden oder in einer kurzen Aufnahmezeremonie in Gegenwart vor zwei Mitgliedern des Kirchenvorstandes. Wegen der Unwiderruflichkeit der Taufe, findet bei einem Wiedereintritt keine erneute Taufe statt“190. In Österreich anerkennt die Evangelische Kirche A. B.191 die Taufe aller christlichen Kirchen, die im Namen des dreieinigen Gottes und mit Wasser gespendet 184
Grethlein, Konversion (Anm. 177), S. 636 f. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD) vom 10. November 2010 (Abl. EKD 2010, S. 307), § 97: http://akd-ekbo.de/wp-content/uploads/EKD-Pfarrdienstrecht.pdf (einges. 3. 3. 2018). 186 Zu Umzug und Zuzug aus dem Ausland s. §§ 8 und 9 KMG.EKD; dazu de Wall, Evangelisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 285 – 288, Rdnr. 9 – 13; Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 217 – 220, Rdnr. 27 – 35. 187 Link, Kirchenzugehörigkeit (Anm. 173), S. 551. 188 Kuntze, Mitgliedschaft (Anm. 10), S. 222, Rdnr. 40. 189 Thiele, Wiedereintritt (Anm. 176), S. 881. 190 EKD, Evangelisch werden. Wiedereintritt in die Evangelische Kirche: https://archiv. ekd.de/einsteiger/einsteiger_wiedereintritt.html (einges. 3. 3. 2018). 191 Zur Evangelischen Kirche A. B. in Österreich s. unter: https://www.evang-wien.at/evan gelische-kirche-oesterreich (einges. 3. 3. 2018). 185
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wurde. Näherhin besteht eine Vereinbarung über die Taufanerkennung mit der Römisch-katholischen Kirche192. Ähnliches gilt für die Evangelische Kirche H. B. in Österreich193. Der Eintritt in die Evangelische Kirche A. B. oder H. B. erfolgt beim Wohnsitzpfarramt. Gefordert wird ein Taufschein und die vor der zuständigen staatlichen Behörde abgegebene Erklärung des Austritts aus der bisherigen gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft bzw. staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft, wobei auf der Rückseite des Taufscheins der Eintritt in die Evangelische Kirche A. B. oder H. B. vermerkt wird. Erfolgt ein Übertritt von einer nicht-christlichen Religionsgemeinschaft zur Evangelischen Kirche wird das Sakrament der Taufe gespendet194.
7. Schluss Eintritt, Austritt bzw. Wechsel des Bekenntnisses und der Wiedereintritt haben seitens der römisch-katholischen Kirche – ebenso auch in der evangelischen Kirche – eine eingehende Regelung gefunden. Verantwortlich für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben und Regelungen ist der jeweilige Diözesanbischof195. Auffallend ist, dass die katholische Kirche bzw. die kanonistische Wissenschaft im Fall der Hinwendung einer Katholikin bzw. eines Katholiken zu einer anderen christlichen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft bzw. einer nichtchristlichen Religion oder atheistischen Weltanschauung „– auch wenn ein Katholik diese Lehre vor seinem Gewissen als wahr erkennen sollte –“ trotz aller Forderungen nach Dialog und Anerkennung von Elementen des Heils in einer solchen Gemeinschaft und ebenso auch der Anerkennung des Grundrechts auf religiöse Freiheit nach wie vor, wie Rüdiger Althaus bemerkt, nicht von einer conversio, d. h. einer Hinwendung, spricht, sondern „von
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S. 25. 193
Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich, Orientierungshilfe (Anm. 138),
Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich, ebd., S. 30; zu anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften s. ebd., unter der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft; zur Evangelischen Kirche H. B. in Österreich s. unter: https://reformiertekirche.at/ (einges. 3. 3. 2018). 194 Vgl. Evangelische Kirche A. B. und H. B. – Eintritt und Übertritt: https://www.help.gv. at/Portal.Node/hlpd/public/content/82/Seite.820212.html (einges. 3. 3. 2018); s. auch Evangelisch werden ist einfach: https://evang.at/glaube-leben/evangelisch-werden/ (einges. 3. 3. 2018); ferner Mitgliedschafts-Ordnung der Evangelischen Kirche A. und H. B. in Österreich, in: Kirchengesetz der Evangelischen Kirche A. und H. B, in: Abl. für die Evangelische Kirche in Österreich, Jahrgang 2005, 7. Stück, 4. Juli 2005, Nr. 141, S. 167 f.; Text i. d. g. F.: https:// evang.at/wp-content/uploads/rechtsdatenbank/mitgo.pdf (einges. 3. 3. 2018). 195 Vgl. Ulrich Rhode, Die oberhirtliche Aufsicht über Taufe, Konversion und Rekonziliation Erwachsener. Ein Überblick über die Verwaltungspraxis in den deutschen Bistümern, in: Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. FS Hierold (65) (= KStT 53), Berlin 2007, S. 573 – 600.
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Glaubensabfall, von Apostasie, Häresie oder Schisma“196. Dies lässt, wie Althaus zu Recht bemerkt, „erkennen, dass die gegenwärtige Begrifflichkeit weiterhin geprägt ist von der Auffassung der Vorrangstellung der katholischen Kirche“197. Von dieser „Vorrangstellung“ wird die katholische Kirche, wie oben offenkundig wurde, wohl nicht ablassen können, wie sie dies auch im Zweiten Vatikanischen Konzil bekräftigt hat. Zu fragen ist, ob die Kirche bei einer Neufassung des kirchlichen Strafrechts, die Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitet hat, jedoch bis heute noch nicht abgeschlossen bzw. erfolgt ist, im Fall des Religionswechsels auf Strafen verzichten und an deren Stelle eine entsprechende Bestätigung des Austritts ausstellen sollte. Dabei wäre allerdings darauf hinzuweisen, dass durch diesen Schritt Rechte in der römisch-katholischen Kirche nicht mehr wahrgenommen werden können, mit Ausnahme des Rechts auf Rückkehr198. Dies scheint jedoch nicht möglich, da es einen Austritt aus der Kirche theologisch nicht gibt. Zudem ist aus der Sicht der katholischen Kirche ein Austritt bzw. Abfall von Glaube und Kirche immer als großes Übel, d. h. als Sünde, zu sehen. An diesem kann die Kirche aber nur schwerlich mitwirken, sei es auch nur in Form einer „Austrittsbestätigung“, die weithin wohl als kirchenamtliche Akzeptanz dieses Schrittes verstanden würde. Es bleibt daher wohl nur die Möglichkeit, mit Rechtsbeschränkungen zu reagieren, auf die nicht verzichtet werden kann. Wünschenswert wäre es wohl auch, dass ein Austritt eines Kirchengliedes aus der römisch-katholischen Kirche dieser direkt mitgeteilt wird. In diesem Fall wäre ein seelsorglich-pastorales Gespräch über die Motive und ebenso eine Klärung des Eintritts bzw. Nichteintritts einer kirchlichen Strafe eher und evtl. leichter möglich. Grundsätzlich muss seitens der katholischen Kirche die Religionsfreiheit der einzelnen Person geschützt und auch respektiert werden. Dadurch werden jedoch Reaktionen der Kirche gegenüber Gläubigen, die sich von ihr abgewendet haben, in Bezug auf die kirchliche Communio nicht ausgeschlossen. Es bleibt die Spannung zwischen der vom Zweiten Vatikanischen Konzil bekräftigten Pflicht, am katholischen Glauben festzuhalten, und der vom selben Konzil betonten Religionsfreiheit.
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Althaus, Konversion (Anm. 53), S. 190. Althaus, ebd. 198 Weithin müsste über den Sinn der Beugestrafen bzw. über das Festhalten an diesem Straftypus nachgedacht werden. Vgl. Wilhelm Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), Paderborn 2017, S. 23 – 60; ders., Katholische Kirche und Menschenrechte. Erwartungen an ein künftiges Strafrecht, in: Christoph Ohly/Wilhelm Rees/ Libero Gerosa, Theologia Iuris Canonici. FS L. Müller (65) (= KStT 67), Berlin 2017, S. 639 – 665. 197
Verkündigung des Evangeliums in pluralistischem Kontext Zusammenspiel verschiedener normativer Ordnungen Von Burkhard Josef Berkmann
1. Hinführung zum Thema In früheren Jahrhunderten ist die katholische Kirche vor allem außerhalb Europas fremden Religionen begegnet, besonders wenn sie das Evangelium auf anderen Kontinenten verkündete. In der Gegenwart ist die Landschaft aber in Mitteleuropa selbst pluralistisch geworden, zumal hier nicht mehr nur weitere christliche Konfessionen sowie das Judentum präsent sind, sondern eine Vielzahl an Religionen – insbesondere der Islam – und in einem säkularen Umfeld ebenso nichtreligiöse Weltanschauungen. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist die Verkündigung des Evangeliums durch die katholische Kirche an Menschen, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. Dabei wird dieser Gegenstand unter dem Blickwinkel des pluralistischen Kontextes betrachtet, indem drei Aspekte von Vielfalt beleuchtet werden, mit denen die Kirche sich heute auseinandersetzen muss: erstens die Vielfalt an Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen, zweitens die kulturelle Vielfalt und drittens die Vielfalt normativer Ordnungen. Der zuletzt genannte, dritte Aspekt ist für eine kirchenrechtliche Untersuchung von besonderem Interesse. Einerseits weist das Kirchenrecht per se eine innere Vielfalt auf, insofern es sowohl das Recht der lateinischen Kirche als auch das Recht der orientalisch-katholischen Kirchen umfasst. Ersteres ist vor allem im Codex des kanonischen Rechts (CIC), zweiteres im Codex der Canones der orientalischen Kirchen (CCEO) niedergelegt. Andererseits ist es selbst Teil eines Geflechts mit anderen normativen Ordnungen wie zum Beispiel mit dem Recht der Staaten und Internationalen Organisationen oder mit Normen nicht-rechtlicher Art im interkonfessionellen und interreligiösen Bereich. Dabei möchte der Beitrag harmonische Aspekte ebenso aufzeigen wie Spannungen und Entwicklungen.
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2. Verkündigung in vielfältigen Kulturen Was die Verkündigung angesichts der kulturellen Vielfalt betrifft, lehrte das Zweite Vatikanische Konzil, dass der Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur nicht untergehen, sondern geheilt, erhoben und vollendet werden soll (Art. 17 LG). Damit ist der Grundgedanke der Inkulturation der christlichen Botschaft bereits angedeutet. Eine kirchliche Spezialnorm, nämlich das Allgemeine Direktorium für die Katechese, verwendet den Begriff „Inkulturation“ ausdrücklich und erläutert die einzelnen damit verbundenen Aufgaben. Dabei kommen keineswegs nur fremde, außereuropäische Kulturen in den Blick, wenn etwa die eine Darstellung der christlichen Botschaft erwähnt wird, „die es denjenigen, die inmitten oft paganer und manchmal nachchristlicher Kulturen das Evangelium zu verkünden haben, möglich macht, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt‘ (1 Petr 3,15)“1. Die aktuellen kirchlichen Gesetzbücher verwenden den Begriff der Inkulturation hingegen nicht. In einem Entwurf zum CCEO war er zwar enthalten, wurde dann aber periphrasiert, weil man einen Neologismus vermeiden wollte, der gerade in einem juristischen Text Anlass zu Missverständnissen geben könnte.2 Der Sache nach kommt die Inkulturation aber in beiden Codices vor. C. 787 § 1 CIC hebt hervor, dass die nicht an Christus Glaubenden zur Erkenntnis der Botschaft des Evangeliums in der Weise gelangen sollen, die ihrer Eigenart und Kultur entspricht.3 Ein kompaktes Inkulturationsprogramm4 enthält c. 584 § 2 CCEO: „Die Evangelisierung der Völker soll so geschehen, dass sich unter Bewahrung der Unversehrtheit des Glaubens und der Sitten das Evangelium in der Kultur der einzelnen Völker ausdrücken kann, z. B. in der Katechese, in den eigenen liturgischen Riten, in der religiösen Kunst, im Partikularrecht und schließlich im gesamten Leben der Kirche.“ C. 592 § 1 CCEO erinnert zudem daran, dass beim Apostolat der Laien und der Institute des geweihten Lebens Rücksicht zu nehmen ist auf den Geist und die Anlage der einzelnen Völker. Außerdem kommt der Gedanke der Inkulturation in c. 601 CCEO 1 Kleruskongregation, Allgemeines Direktorium für die Katechese, in: VApSt 130, Art. 110. 2 Nuntia 11 (1980), S. 56. Vgl. George Nedungatt, Evangelization of Peoples (cc. 584 – 594), in: ders. (Hrsg.), A guide to the Eastern Code. A commentary on the code of canons of the Eastern Churches (Kanonika 10), Roma 2002, S. 403 – 430, hier 409. 3 Einige Kanonisten stellen diese Vorschrift in den Zusammenhang der Inkulturation. Luigi Sabbarese, Cultura, lingua e rito: aspetti canonici, in: Euntes Docete 56 (2003), S. 91 – 116, hier 93; Dimitri Salachas, L’azione missionaria nella legislazione della Chiesa, in: Euntes Docete 54 (2001), S. 7 – 71, hier 28; Crescenzio Sepe, Il diritto missionario della Chiesa: evangelizzazione e dialogo interreligioso, in: Ombretta Fumagalli Carulli, Il governo universale della Chiesa e i diritti della persona, Milano 2003, S. 335 – 347, hier 342. 4 Vgl. Sunny Kokkaravalayil, The Eastern Catholic Churches in Evangelisation: Commentary on CCEO c. 585, in: IM 5 (2011), S. 29 – 59, hier 55; Dimitrios Salachas, Dialogo interreligioso e inculturazione del vangelo nell’azione missionaria della Chiesa, in: Euntes Docete 56 (2003), S. 47 – 64, hier 55.
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zum Ausdruck. Dass der CCEO den Aspekt der Inkulturation stärker betont als der CIC, verdankt sich dem Umstand, dass unter den katholischen Ostkirchen selbst schon eine beachtliche kulturelle Vielfalt besteht.5 Der Vorgang der Inkulturation hat rechtliche Implikationen.6 Er fand daher mit gutem Grund Aufnahme in die kirchlichen Gesetzbücher. Ausgangspunkt ist das Recht, gemäß der eigenen kulturellen Identität zu leben.7 Die Glaubenskongregation betonte, dass jeder Mensch ein Anrecht auf Kultur und ein Recht auf kulturelle Freiheit besitzt.8 Schon die Bischofssynode 1971 hielt fest, dass keinem Volk verwehrt werden darf, sich seiner kulturellen Eigenart gemäß zu entwickeln.9 Besondere Beachtung verdient die Erklärung anlässlich des Friedensgebets von Assisi vom 24. 1. 2002. Sie wurde nämlich auf Einladung Papst Johannes Pauls II. von den Vertretern mehrerer Weltreligionen gemeinsam abgegeben und stellt somit einen gewissen Konsens zwischen ihnen dar. Nach dieser Erklärung hat jede menschliche Person ein Recht auf ein würdiges Leben nach der eigenen kulturellen Identität.10 Die jeweilige Kultur stellt ein auch rechtlich zu schützendes Gut dar, das den Nichtchristen gehört und von den Verkündern des Evangeliums zu achten ist. Darüber hinaus verdeutlicht c. 584 § 2 CCEO, dass das Kirchenrecht selbst ein Ausdruck der Inkulturation ist, wenn das Partikularrecht den lokalen und regionalen Gewohnheiten Rechnung trägt.11
3. Verbreitung der Bibel Für die Verkündigung sind die sozialen Kommunikationsmittel, vor allem Bücher von großer Bedeutung. Im Zentrum stehen dabei Ausgaben der Heiligen Schrift. Das Zweite Vatikanische Konzil war sich bewusst, dass auch Bibelübersetzungen in Bezug auf die Lebenswelt eventueller nichtchristlicher Adressaten aufbereitet werden müssen, wenn es festhielt: „Darüber hinaus sollen mit entsprechenden Anmerkungen versehene Ausgaben der Heiligen Schrift geschaffen werden, die auch Nicht5
Vgl. Sabbarese, Cultura (Anm. 3), S. 92. Vgl. Andrea D’Auria, Il diritto canonico come strumento di dialogo e di evangelizzazione, in: IM 5 (2011), S. 103 – 155, hier 138 f. 7 Burkhard Josef Berkmann, Inculturation and evangelization in the Catholic canon law, in: Kritische Zeitschrift für überkonfessionelles Kirchenrecht, 3 (2016), S. 29 – 38, hier 32. 8 Glaubenskongregation, Instructio: Libertatis conscientia. De libertate christiana et liberatione (22. 3. 1986), in: AAS 79 (1987), S. 554 – 599, Art. 92 – 93. 9 Bischofssynode, II. Ordentliche Generalsversammlung, De iustitia in mundo (30. 11. 1971), in: AAS 63 (1971), S. 923 – 942; dt. in: DBK, Römische Bischofssynode 1971. Der priesterliche Dienst. Gerechtigkeit in der Welt, Trier 1972, Art. 64 Nr. 8 lit. a. 10 Vertreter der Weltreligionen, Gemeinsame Erklärung: Gemeinsame Verpflichtung für den Frieden (24. 1. 2002), in: ORD 1. 2. 2002, S. 9 – 10, Nr. 4. 11 Vgl. Natale Loda, Il can. 584 del CCEO quale ianua evangelizationis, in: IM 4 (2010), S. 25 – 59, hier 52. 6
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christen gebrauchen können und die ihren Verhältnissen angepasst sind“ (Art. 25. Abs. 3 DV). In ähnlicher Formulierung ging dieser Grundsatz in c. 655 § 2 CCEO ein: „Alle Christgläubigen, besonders die Seelsorger, sollen darum bemüht sein, Ausgaben der Heiligen Schrift zu verbreiten, die mit geeigneten Anmerkungen versehen und für den Gebrauch auch von Nichtchristen angepasst sind.“12 Sie treten als Empfänger der Bibeln in Erscheinung, bleiben aber nicht völlig passiv. Vielmehr geht von ihnen insofern ein Impuls für die Kommunikation aus, als die Anmerkungen der Bibelausgaben auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sein müssen.13 Geeignete Bibelübersetzungen zu erstellen und zu verbreiten ist wirksamer als die Verurteilung schlechter Literatur, wie es der Politik der vorkonziliaren Kirche entsprach.14 Zu c. 655 § 2 CCEO gibt es keine Parallelstelle im CIC. Der CCEO beweist damit eine größere Treue zu den Konzilstexten und zugleich eine höhere Aufmerksamkeit für Nichtchristen.15
4. Dialog und Kooperation Die Verkündigung in einem nichtchristlichen Umfeld steht in engem Zusammenhang mit Dialog und Zusammenarbeit. Dementsprechend normiert c. 592 § 2 CCEO: „Ebenso sollen der Dialog und die Kooperation mit den Nichtchristen eifrig und klug gefördert werden.“ Der gesamte Canon steht im Kontext der Missionstätigkeit. Der CIC weist keine Parallelstelle auf. Eine entfernte Ähnlichkeit kann höchstens in c. 787 § 1 CIC erblickt werden. Auch hier geht es um den Dialog, jedoch nicht mit den Nichtchristen, sondern mit den nicht an Christus Glaubenden („non credentibus“), während die Kooperation überhaupt nicht vorkommt. Als Quellen werden Art. 40 Ad Gentes und Art. 18 Ecclesiae Sanctae angegeben.16 Diese passen aber nur zu c. 592 § 1 CCEO.17 Hingegen scheint § 2 die Synthese mehrerer Konzilsaussagen zu sein, wie z. B. Art. 34 Ad gentes18, Art. 41 Abs. 5
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Vgl. Nuntia 17 (1983), S. 51. Burkhard Josef Berkmann, References to Non-Christians. A Comparison between the CIC and the CCEO, in: Eastern Legal Thought 13 (2017), S. 205 – 224, hier 217. 14 George Nedungatt, Ecclesiastical Magisterium (cc. 595 – 666), in: ders. (Hrsg.), A guide to the Eastern Code. A commentary on the code of canons of the Eastern Churches (Kanonika 10), Roma 2002, S. 431 – 492, hier 483 – 484. 15 Vgl. Berkmann, References (Anm. 13), S. 224. 16 Nuntia 11 (1980), S. 56. 17 Berkmann, References (Anm. 13), S. 214. 18 „Eine sach- und ordnungsgemäße Ausübung der missionarischen Tätigkeit verlangt eine wissenschaftliche Vorbereitung der Missionare auf ihre Aufgaben, vor allem auf den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen und Kulturen.“ 13
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und 6 Ad gentes19 sowie Art. 2 Abs. 3 Nostra aetate20. Kokkaravalayil erkennt eine Verbindung zwischen dem Canon und der Konzilserklärung über die nichtchristlichen Religionen, wenn er bemerkt, dass jemand, der in Dialog mit Nichtchristen tritt (c. 592 § 2 CCEO), deren religiöse Überzeugungen und Bräuche in hohem Maße respektieren sollte, wie in Art. 2 NA festgelegt ist.21 In der ursprünglichen Fassung sah c. 592 § 2 CCEO den Dialog nur mit den gebildeten Nichtchristen vor. Dagegen wurde eingewandt, dass sich der Dialog nicht auf eine intellektuelle Elite beschränkt, sondern das tägliche Zeugnis der Worte und Werke ist, welches die Christen im Zusammenleben mit ihren nichtchristlichen Mitbürgern geben.22 Außerdem umfasste die ursprüngliche Fassung noch nicht die Zusammenarbeit.23 Durch diese Hinzufügung trägt der Canon nun den oben genannten Konzilsaussagen besser Rechnung, welche die Zusammenarbeit ebenfalls einschließen.24 C. 592 § 2 CCEO findet sich zwar wie c. 787 § 1 CIC im Abschnitt über das Missionsrecht, doch erscheint der Dialog hier nicht mehr nur als Mittel, sondern ist als solcher zu fördern und erhält somit einen Eigenwert.25 So lässt c. 592 § 2 CCEO ein weiteres Dialogverständnis zu als c. 787 § 1 CIC. Der Bezug zur Verkündigung ist hier zwar nicht ausgeschlossen, wird vom Wortlaut her aber nicht eigens angesprochen.26 Stattdessen wird die Verknüpfung von Dialog und Kooperation hervorgehoben.27 Bei der Reform des Ostkirchenrechts wurde eingewandt, dass sich der Dialog mit Nichtchristen nicht auf Missionsgebiete beschränkt, sondern vom Zweiten Vatikanischen Konzil auch dort gewünscht wird, wo bereits Diözesen errichtet sind. Zwar wurde die Richtigkeit dieses Einwands bestätigt, der Canon aber trotzdem im 19 „Besonderen Lobes wert sind jene Laien, die an Universitäten oder wissenschaftlichen Instituten durch ihre geschichtlichen oder religionswissenschaftlichen Forschungen die Kenntnis über die Völker und Religionen vertiefen und dadurch den Boten des Evangeliums helfen und den Dialog mit den Nichtchristen vorbereiten. Im Geiste der Brüderlichkeit mögen sie mit den anderen Christen, den Nichtchristen und besonders mit den Mitgliedern der internationalen Verbände zusammenarbeiten und immer dabei im Auge behalten, dass ,der Aufbau des irdischen Gemeinwesens im Herrn gegründet und auf ihn hin ausgerichtet werde‘.“ 20 „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“ 21 Kokkaravalayil, Evangelisation (Anm. 4), S. 53. 22 Nuntia 17 (1983), S. 15. 23 Ebd. 24 Berkmann, References (Anm. 13), S. 214. 25 Ebd. 215. 26 Vgl. Nedungatt, Evangelization (Anm. 2), S. 424. 27 Vgl. Kokkaravalayil, Evangelisation (Anm. 4), S. 53.
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Titel über das Missionsrecht belassen.28 Immerhin wurde an die Pflicht jedes Ortsbischofs und jedes Gläubigen zur Verkündigung erinnert. Der Dialog und die Zusammenarbeit sollen eifrig und zugleich klug gefördert werden. Einem Konsultationsorgan ging der Ausdruck „sedulo“ zu weit, aber dem Vorschlag, ihn zu streichen, wurde nicht stattgegeben. Dafür wurde als zusätzliche Qualifizierung „prudenter“ beigefügt, weil der Dialog mit den Nichtchristen viel Vorsicht verlangt.29 Somit sind im endgültigen Text sowohl der Eifer als auch die Vorsicht erwähnt, womit die beiden Pole angesprochen sind, zwischen denen sich der Dialog bewegt.30 Garcia Martín zufolge muss der Missionar klug sein, weil er einerseits die Art und Weise kennen muss, wie sein Gesprächspartner denkt und glaubt, und weil er andererseits mit seinem Zeugnis und der Predigt des Evangeliums auch eine Bewertung über soziale, politische oder religiöse Angelegenheiten abgibt.31
5. Freiheit bei der Annahme des Glaubens Für die Verkündigung des Evangeliums ist der Grundsatz unverzichtbar, dass der Glaube nur in Freiheit angenommen werden kann, und diese Freiheit muss durch Normen sowohl des kirchlichen als auch des staatlichen Rechts geschützt werden. Sowohl c. 748 § 2 CIC als auch c. 586 CCEO verbieten die Ausübung von Zwang, wenn das Evangelium verkündet wird. Die beiden Bestimmungen unterscheiden sich jedoch in einigen Punkten. Nach der Vorschrift des CIC hat niemand jemals das Recht, Menschen durch Zwang gegen ihr Gewissen zur Annahme des katholischen Glaubens zu bewegen.32 Die Bedeutung dieses Rechts wird sowohl durch den Wortlaut als auch durch die Positionierung der Norm hervorgehoben.33 Der Ausdruck „nemini umquam fas est“ ist sehr stark,34 weil „fas“ in der kirchlichen Rechts28
Nuntia 17 (1983), S. 15. Ebd. 30 Vgl. Burkhard Josef Berkmann, Nichtchristen im Recht der katholischen Kirche (ReligionsRecht im Dialog 23), Wien 2017, S. 249 f. 31 Julio García Martín, L’azione missionaria della Chiesa nella Legislazione canonica, Roma 1983, S. 121. 32 Hasenhütl erblickt darin nicht nur eine Ablehnung von Zwang, sondern positiv auch die Betonung, dass die Annahme des katholischen Glaubens nur im freien Gewissensentschluss möglich ist. Franz Hasenhütl, Zwischen Wahrheitsanspruch und Toleranz. Zur Frage der Religionsfreiheit im katholischen Kirchenrecht, in: Johann Hirnsperger/Christian Wessely (Hrsg.), Wege zum Heil? Religiöse Bekenntnisgemeinschaften in Österreich: Elaia Christengemeinde (ECG) und Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IAGÖ). Mit Beiträgen anderer Religionsgemeinschaften, Innsbruck 2014, S. 181 – 196, hier 190. 33 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 234. 34 Diese starke Formulierung findet sich erstmals in c. 748 § 2 Schema/1982 anstelle des farblosen „a nemini unquam … adduci possunt“ in c. 707 § 2 Schema/1980. 29
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sprache gegenüber dem gewöhnlichen „ius“ nur sparsam eingesetzt und hier durch die Verneinung „nemini umquam“ noch verstärkt wird. Außerdem ist die Norm im Unterschied zum CIC/1917 nicht mehr in den Kontext des Missionsrechts gestellt, sondern steht innerhalb der Grundnormen des Verkündigungsrechts am Beginn des dritten Buches des Codex. Damit wird ihre fundamentale Bedeutung für den gesamten Verkündigungsdienst hervorgehoben.35 Die Bestimmung des CCEO ist hingegen ausführlicher. Ihr zufolge ist es streng verboten, dass jemand zum Eintritt in die Kirche gezwungen oder durch ungehörige Mittel beeinflusst oder angelockt wird. Auch hier erfolgt eine sprachliche Hervorhebung und zwar durch den Ausdruck „severe prohibetur“.36 Allerdings wurde die Norm nun wieder im Missionsrecht platziert. Das bedeutet zwar keine Einschränkung ihres Anwendungsbereichs, lässt ihre Wichtigkeit aber weniger zum Vorschein kommen.37 Es fällt auf, dass im CIC die Freiheit bei der Annahme des katholischen Glaubens, im CCEO jedoch die Freiheit beim Eintritt in die Kirche geschützt ist.38 Da beide Vorgänge aber zusammenhängen und die Freiheit beim einen ohne die Freiheit beim anderen nur eine Farce wäre, muss aus dem Sinn und Zweck der beiden Vorschriften darauf geschlossen werden, dass beide den gesamten Prozess des Christwerdens schützen.39 Inhaltlich reicht die Bestimmung des CCEO weiter als jene des CIC, weil sie nicht nur Zwang, sondern auch die Beeinflussung und Anlockung durch ungehörige Mittel verbietet. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass derartige Mittel im lateinischen Rechtsbereich gestattet wären.40 C. 586 CCEO übernimmt hier einen Inhalt aus einem Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils,41 der ebenso für die lateinische Kirche relevant ist. Da die Bestimmung des CCEO als Parallelstelle nach c. 19 CIC für die Auslegung des c. 748 § 2 CIC heranzuziehen ist, muss man zu dem Schluss 35 Vgl. Felix Bernard, Entscheidungsfreiheit im neuen Kirchenrecht, in: ThPQ 133 (1985), S. 28 – 40, hier 32; Péter Erdo˝ , Liberté religieuse dans l’Église. Observations à propos des canons 748, 205 et 209 § 1 CIC, in: Apollinaris 68 (1995), S. 607 – 618, hier 614; Josef Königsmann, Die Mission der katholischen Kirche unter den Bedingungen der Religionsfreiheit. Implikationen der cc. 747 und 748 CIC/1983, in: Ilona Riedel-Spangenberger/Peter Boekholt (Hrsg.), Iustitia et modestia. Festschrift für Hubert Socha zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, München 1998, S. 238 – 248, hier 244. 36 Das ursprünglich vorgesehene, stärkere „nefas“ wurde, weil es zu Missverständnissen führen könnte, zugunsten von „severe prohibetur“ aufgegeben, das auch in Art. 13 AG verwendet wird (Nuntia 17 [1983], S. 11). 37 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 234. 38 Bei der CIC-Reform schlug eine Bischofskonferenz vor, ebenfalls den Beitritt zur katholischen Kirche zu erwähnen (Communicationes 29 [1997], S. 52). Bei der Reform des Ostkirchenrechts wurde klargestellt, dass die Aufnahme in die Kirche gleichzusetzen ist mit der Taufe (Nuntia 17 [1983], S. 11). 39 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 234. 40 Ebd. 41 Art. 13 AG: „Die Kirche verbietet streng, dass jemand zur Annahme des Glaubens gezwungen oder durch ungehörige Mittel beeinflusst oder angelockt werde.“
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kommen, dass dieser Canon unter „coactio“ nicht nur den absoluten physischen Zwang versteht, sondern im weiten Sinn auch die Beeinflussung und Anlockung mit ungehörigen Mitteln.42 In c. 586 CCEO ist schließlich noch ein Satz angefügt, der im CIC ebenso fehlt: „Alle Christgläubigen müssen aber dafür sorgen, dass das Recht auf Religionsfreiheit geschützt wird, damit niemand durch üble Druckmittel von der Kirche ferngehalten wird.“ Damit wird im CCEO explizit die Religionsfreiheit als solche erwähnt, während der CIC diesen Begriff nicht kennt und in c. 748 § 2 nur einen Aspekt der Religionsfreiheit herausgreift, nämlich die Freiheit von Zwang bei der Annahme des Glaubens.43 Die Religionsfreiheit wird im CCEO jedoch nur unter einem Aspekt genannt, nämlich in der Funktion, dass niemand vom Eintritt in die Kirche abgehalten werden darf.44 Eine besondere kirchliche Rechtsquelle hinsichtlich der Religionsfreiheit stellt der Grundlagenvertrag des Heiligen Stuhls mit dem Staat Israel vom 30. 12. 1993 dar.45 Darin verpflichteten sich beide Vertragspartner auf das Menschenrecht der Religions- und Gewissensfreiheit. Der Heilige Stuhl bekräftigte in Art. 1 § 2, dieses Menschenrecht zu achten und zu wahren, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in anderen internationalen Abkommen, denen er beigetreten ist, festgeschrieben wird. Ebenso bekräftigte er den Respekt der katholischen Kirche vor den anderen Religionen und ihren Anhängern. Diese Erklärungen des Heiligen Stuhls stützen sich auf zwei Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, nämlich die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ und die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“.46
6. Übereinstimmung mit dem Völkerrecht Während bisher nur die Normen des internen Kirchenrechts betrachtet wurden, weitet sich der Blick in diesem Abschnitt auf die Normen des weltlichen Rechts, insbesondere auf die im Völkerrecht verankerten Grundrechte. Wenn sich die Kirche bei 42
Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 235. Vgl. James Coriden, c. 748, in: New Commentary of the Code of Canon Law, New York 2000, S. 912 – 913, hier 913. San José Prisco sieht c. 748 CIC hingegen weiter als Ausdruck der Religionsfreiheit, als eines Grundrechts der Person inspiriert durch Dignitatis Humanae, vgl. José San José Prisco, Comentario, in: REDC 65 (2008), S. 297 – 314, hier 313. 44 Vgl. Peter Krämer, Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen – aus der Perspektive des Christentums, in: Peter Krämer/Sabine Demel/Libero Gerosa/Alfred Hierold/ Ludger Müller (Hrsg.), Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand, Berlin 2007, S. 35 – 52 hier 49. 45 Holy See/State of Israel, Fundamental Agreement (30. 12. 1993), in: AAS 86 (1994), S. 716 – 729. 46 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 235. 43
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der Evangelisierung auf die Religionsfreiheit beruft und wenn sie dabei die Ausübung von Zwang und ungehörigen Mitteln verbietet, sind ihre Rechtsnormen mit den Bestimmungen des Völkerrechts kompatibel. Die Freiheit zum Religionswechsel wird in Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte47 ausdrücklich erwähnt. Diese Klausel findet sich in Art. 18 IpbpR48 und in Art. 1 der Erklärung über die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung49 nicht mehr. Das ändert jedoch nichts daran, dass dieses Recht implizit doch mit enthalten ist und zwar in der Formulierung „Religion eigener Wahl“, denn wer seine Religion nicht wechseln kann, hat im Grunde eine ihm auferlegte Religion.50 Der Menschenrechtsausschuss der UNO interpretiert Art. 18 IPbpR eindeutig im Sinne eines Rechts auf Religionswechsel.51 Außerdem schließt Art. 8 der Erklärung ausdrücklich aus, dass eine Bestimmung so ausgelegt wird, als ob sie ein Grundrecht, das sie verbürgt, beschränken oder aufheben würde. Was Europa betrifft, so wird die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)52 ausdrücklich genannt. Die Freiheit des Religionswechsels schließt die Freiheit zur Glaubenswerbung bzw. zur Missionierung ein.53 Eine effektive Möglichkeit zum Wechsel hat nur, wer mit anderen Religionen in Berührung kommt und Informationen über sie erhält.54 Somit gehört Glaubenswerbung nicht nur zur Religionsausübung, sondern ist Voraussetzung für den von Art. 9 EMRK geschützten Religionswechsel.55 Dies geht aus dem Urteil Kokkinakis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, in dem er das griechische Verbot, Gläubige der orthodoxen Kirche abzuwerben, zu untersuchen hatte. Zeugen Jehovas, die sich dieser Vorschrift widersetzten, wurden mit Haftstrafen belegt. Dies verletzt nach dem genannten Urteil jedoch die
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UN-Generalversammlung, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (10. 12. 1948). Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights), vom 19. 12. 1966, in: UN Treaty Series 999, 171. 49 UN-Generalversammlung, Res. 36/55, Erklärung über die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung (Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Discrimination Based on Religion or Belief), vom 25. 11. 1981. 50 Berkmann, Inculturation (Anm. 7), S. 35. 51 UN-Menschenrechtsausschuss, CCPR/C/21/Rev.1/Add.4: General Comment No. 22: The right to freedom of thought, conscience and religion (Art. 18) (30. 7. 1993), Nr. 5. 52 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, vom 4. 11. 1950, in: ETS Nr. 5. 53 Berkmann, Inculturation (Anm. 7), S. 36. 54 Vgl. Paul Taylor, Freedom of Religion. UN and European Human Rights Law and Practice, Cambridge 2005, S. 49. 55 Vgl. Stephan Korinek, Strafbarkeit von Glaubenswerbung (Proselytismus). Art. 7 und 9 MRK, in: JBl. 1998 (120), S. 573 – 576, hier 576. 48
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Religionsfreiheit.56 Das Tragen religiöser Kleidung bei einer Prozession wegen Proselytismus zu verbieten, verstößt ebenso gegen Art. 9 EMRK.57 Indessen ist nicht jede Form des Proselytismus zulässig, denn zur Freiheit der Religionszugehörigkeit gehört nicht nur das Recht, die Religion zu wechseln, sondern auch das Recht, sie zu behalten.58 Hier zeigt sich, dass die einzelnen Elemente der Freiheit der Religionszugehörigkeit einander durchaus auch widerstreiten können und es eines angemessenen Ausgleichs bedarf. Diesen versuchte der Gerichtshof im Urteil Larissis.59 Auch dieser Fall ereignete sich in Griechenland. Dieses Mal handelte es sich jedoch um einen Militäroffizier, der seine Stellung gegenüber den untergebenen Soldaten ausnützte, um neue Mitglieder zu gewinnen. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Religionsfreiheit nicht verletzt wird, wenn der griechische Staat derartige Praktiken verbietet. Proselytismus darf nämlich keinen ungerechten Druck ausüben oder ein Abhängigkeitsverhältnis missbrauchen.60 Aus demselben Grund gewährt Art. 9 EMRK kein Recht auf Proselytismus in einem Krankenhaus.61 Durch die Evangelisierung übt die Kirche einen Aspekt der Religionsfreiheit aus, der durch das Völkerrecht garantiert ist. Die einzelnen Staaten dürfen ungehörige Mittel des Proselytismus verbieten. Die katholische Kirche verbietet derartige Mittel ohnehin bereits in ihrem eigenen Recht. Das Kirchenrecht ist mit dem weltlichen Recht also kompatibel.62
7. Interkonfessionelle und interreligiöse Dokumente Die kirchliche Verkündigungstätigkeit steht aber nicht nur im Kontext des weltlichen Rechts, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Konfessionen und Religionen, von denen viele ebenso einen Anspruch auf Verbreitung ihrer Glaubenslehren erheben. Um Konflikte auf diesem Feld zu vermeiden, haben mehrere Glaubensgemeinschaften selbst die Initiative ergriffen und gemeinsame Verhaltenskodizes aufgestellt, die man als interkonfessionelle bzw. interreligiöse Ordnungen bezeichnen kann, obwohl sie (noch) keinen Rechtscharakter erlangt haben. Das Besondere an diesen Kodizes liegt also darin, dass sie nicht von der katholischen Kirche allein, sondern von mehreren christlichen Konfessionen und sogar von 56
EGMR, Nr. 14307/88, Kokkinakis/Griechenland (25. 5. 1993), Nr. 31. EGMR, Nr. 41135/98, Arslan/Türkei (23. 2. 2010), Nr. 51. 58 Berkmann, Inculturation (Anm. 7), S. 36. 59 EGMR, Nr. 23372/94 und 26377/94, Larissis/Griechenland (24. 2. 1998), Nr. 45. 60 Taylor meint, der Gerichtshof hätte auch in diesem Fall eine Grundrechtsverletzung feststellen müssen, da keine Rechte anderer beeinträchtigt werden, solange kein Zwang ausgeübt wird, vgl. Taylor, Freedom (Anm. 54), Fn. 37, 69 und 72. 61 EGMR, Nr. 32526/96, J. L./Finnland (16. 11. 2000). 62 Vgl. Berkmann, Inculturation (Anm. 7), S. 38. 57
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nichtchristlichen Religionen gemeinsam verabschiedet wurden. Die Mitglieder jeder dieser Gemeinschaften können selbst Glaubenswerbung betreiben, aber auch Adressaten der Werbung anderer sein. Das bedeutet, dass auf der Grundlage der Reziprozität gemeinsame Standards dafür festgelegt wurden, was eine erlaubte und was eine verwerfliche Praxis ist.63 An dieser Stelle sollen nur zwei Verhaltenskodizes erwähnt werden, an denen die katholische Kirche offiziell beteiligt ist. Das „Inter Faith Network for the United Kingdom“ verabschiedete im Jahr 1993 ein derartiges Dokument.64 An diesem Netzwerk ist die katholische Kirche durch das “Committee for Relations with Other Religions” der Katholischen Bischofskonferenz von England und Wales beteiligt. Außerdem gehört ihm eine Vielzahl von Organisationen anderer Konfessionen und Religionen an. Die territoriale Reichweite des Dokuments ist aber naturgemäß begrenzt.65 Ein Dokument auf Weltebene sind hingegen die Empfehlungen für einen Verhaltenskodex: „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“. Sie wurden am 28. 6. 2011 vom Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog, vom Ökumenischen Rat der Kirchen und von der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) verabschiedet. Zwar wurden sie nur von christlichen Konfessionen beschlossen, aber in Kontakt mit anderen Religionsgemeinschaften erarbeitet und könnten in Zukunft auch für diese geöffnet werden.66 Von besonderem Interesse ist, dass sie das Thema der kulturellen Vielfalt direkt ansprechen: – Grundlagen für das christliche Zeugnis Nr. 4: „Christliches Zeugnis in einer pluralistischen Welt umfasst auch den Dialog mit Menschen, die anderen Religionen und Kulturen angehören (vgl. Apg 17,22 – 28).“ – Prinzip Nr. 9: „Respekt für alle Menschen. Christen/innen sind sich bewusst, dass das Evangelium Kulturen sowohl hinterfragt als auch bereichert. Selbst wenn das Evangelium bestimmte Aspekte von Kulturen hinterfragt, sind Christen/innen dazu berufen, alle Menschen mit Respekt zu behandeln. Sie sind außerdem dazu berufen, Elemente in ihrer eigenen Kultur zu erkennen, die durch das Evangelium hinterfragt werden, und sich davor in Acht zu nehmen, anderen ihre eigenen spezifischen kulturellen Ausdrucksformen aufzuzwingen.“
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Vgl. ebd., S. 37. Inter Faith Network for the United Kingdom, Building Good Relations with People of Different Faiths and Beliefs (1993), at: https://www.interfaith.org.uk/uploads/buildinggoodrela tions.pdf [22. 12. 2017]. 65 Vgl. Berkmann, Inculturation (Anm. 7), S. 37. 66 Vgl. Christoph Gellner, Zeugnis, Einladung, Bekehrung, in: SKZ 179 (2011), S. 521 – 522; Aysun Yas¸ar, Beobachtungsbericht zum Forum: Mission/Da‘wa und Konversion, in: Hansjörg Schmid/Ays¸e Bas¸ol-Gürdal/Anja Middlebeck-Varwick/Bülent Ucar (Hrsg.), Zeugnis, Einladung, Bekehrung, Mission in Christentum und Islam, Regensburg 2011, S. 241 – 245, hier 244. 64
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Wenngleich die Verhaltenskodizes keine Rechtsnormen im eigentlichen Sinn enthalten, bleiben sie doch nicht ohne rechtliche Relevanz.67 Sie erfüllen eine ähnliche Funktion wie das sogenannte soft law im Völkerrecht, denn sie enthalten eine Selbstverpflichtung, die in wechselseitiger Übereinstimmung eingegangen wurde.68 Ihre praktische Wirkung darf nicht unterschätzt werden. Einerseits werden die Verantwortlichen in den einzelnen Gemeinschaften angespornt, sich danach zu richten, und eventuelle Verstöße werden offensichtlich.69 Andererseits kommt ihnen Signalwirkung nach außen zu, weil sie vor der Öffentlichkeit und vor allem vor den Staaten aufzeigen, dass die Verkündigungstätigkeit nicht bedeutet, dass die einzelnen Gemeinschaften sich gegenseitig bekämpfen oder die Menschen ungerecht behandeln.70
8. Zusammenfassung Aus den in vorliegenden Beitrag gemachten Ausführungen lassen sich folgende Beobachtungen ableiten: 1. Das interne Recht der katholischen Kirche berücksichtigt den pluralistischen Kontext bei der Verkündigung des Evangeliums. Die behandelten Stellen im CCEO gehen auf das nichtchristliche Umfeld aber intensiver ein als die entsprechenden Stellen im CIC. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass der CCEO das jüngere Gesetzbuch ist, oder darauf, dass viele Stammländer der katholischen Ostkirchen in Diasporagebieten liegen.71 2. Das katholische Kirchenrecht und die völkerrechtlich verankerte Religionsfreiheit ergänzen sich und stehen miteinander in Einklang. Der Anspruch auf Verkündigung, den die Kirche erhebt, ist nämlich eine Weise, die grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit auszuüben. Die Grenzen, die dabei vom staatlichen Recht gesetzt werden können, werden von der Kirche schon aus eigenem Antrieb geachtet, weil sie den Gebrauch ungehöriger Mittel von sich aus verbietet.
67
Berkmann, Nichtchristen (Anm. 30), S. 241. Vgl. Christian Troll/Thomas Schirrmacher, Der innerchristliche Ethikkodex für Mission. Eine Einführung, in: Materialdienst EZW 74 (2011), S. 293 – 299, hier 295; Thomas Schirrmacher, „Mit Sanftmut und Ehrerbietung“: Warum die Mission von der Ethik bestimmt sein muss – Eine evangelikale Perspektive hinsichtlich einer Ethik des christlichen Zeugnisses, in: Klaus Müller (Hrsg.), Menschenrechte – Freiheit – Mission, Nürnberg 2010, S. 97 – 119, hier 111. 69 Wenngleich die Leitungen der unterzeichneten Gemeinschaften die Einhaltung intern nicht rechtlich durchsetzen können, verspricht sich Schirrmacher doch einen moralischen Druck auf diejenigen, die unmittelbar in der Missionierung tätig sind. Schirrmacher, Sanftmut (Anm. 68), S. 111. 70 Vgl. Troll/Schirrmacher, Ethikkodex (Anm. 68), S. 295. 71 Vgl. Berkmann, References (Anm. 13), S. 224. 68
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3. Interkonfessionelle und interreligiöse Verhaltenskodizes bilden eine normative Ordnung, die noch keinen Rechtscharakter hat, aber Konflikte zwischen Glaubensgemeinschaften verhindert, indem alle dieselben Standards einhalten. Somit lässt sich festhalten, dass Normen verschiedener Art bereits bestehen oder sich noch entwickeln, welche die Spannungen durch religiöse Vielfalt regulieren und so zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen.