Religion und Sinn [1 ed.] 9783666453267, 9783525453261


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Religion und Sinn [1 ed.]
 9783666453267, 9783525453261

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Martin Klüners / Jörn Rüsen

Religion und Sinn

Philosophie und Psychologie im Dialog

Herausgegeben von Christoph Hubig und Gerd Jüttemann Band 20: M  artin Klüners / Jörn Rüsen

Religion und Sinn

Martin Klüners / Jörn Rüsen

Religion und Sinn

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Hieronymus Bosch, Aufnahme der Seligen in den Himmel (Ausschnitt), zwischen 1505–1515 Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45326-7

Inhalt

Zum Titelbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Martin Klüners Seele, Vernunft, Glaube – Die psychologischen Grundlagen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Quaestiones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kleine Geschichte der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die Seele in frühen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die Seele in der abendländischen Philosophie . . . . . . . 16 Ansätze zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Erklären und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Die Seelenwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Die Psychoanalyse als naturwissenschaftlich inspirierte Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Das Verhältnis von Leib und Seele im Verständnis der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 »Vernunft«: Der Sinn des Spurenlesens . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Fährtenleser der San . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Das Interesse an der historischen Wahrheit . . . . . . . . . 25 Grenzen der Geschichtswissenschaft als Bewusstseinswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Das Realitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 »Sinn« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 »Glaube«: Von den sichtbaren zu den unsichtbaren Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Die andere Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Traumzeit und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 

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Das Irrationale: Mythos und Unbewusstes . . . . . . . . . . 39 Entwicklungspsychologie oder Psychoanalyse? . . . . . . 41 Trance und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Das Schuldgefühl als wichtigstes Problem der Kulturentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Jörn Rüsen Die roten Fäden im Gewebe der Geschichte – Historischer Sinn zwischen Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . . . 65 Was ist Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Sinndimensionen: Raum, Zeit, Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Dimensionen des Historischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Die kognitive Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Die ästhetische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die politische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die religiöse Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Die psychologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die moralische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Die didaktische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Differenz und Synthese der Dimensionen . . . . . . . . . . . 98 Die konstruierte Konstruktion historischer Sinnbildung  100 Vier Typen der historischen Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . 104 Geschichtsphilosophie – Differenz und Einheit von Inhalt, Form und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Transzendenz und Immanenz – historischer Sinn und religiöses Heil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Ausblick: Herausforderungen für ein zukunftsfähiges historisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Martin Klüners Kommentar zu Jörn Rüsens Beitrag »Die roten Fäden im Gewebe der Geschichte« . . . . . . . . . . . . 123 Jörn Rüsen Kommentar zu Martin Klüners’ Beitrag »Seele, Vernunft, Glaube – Die psychologischen Grundlagen der Religion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Brief von Martin Klüners an Jörn Rüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 131



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Zum Titelbild

Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus dem mutmaßlich zwischen 1505 und 1515 entstandenen, spätestens seit dem 17. Jahrhundert (evtl. schon ab 1520) in Venedig nachweisbaren und heute im dortigen Palazzo Grimani ausgestellten Gemälde Aufnahme der Seligen in den Himmel von Hieronymus Bosch, das als Teil der insgesamt vier sogenannten Jenseitstafeln Bezug nimmt auf das Schicksal der Seelen nach dem Tod – möglicherweise aber auch nach dem Jüngsten Gericht, welches rezenter kunsthistorischer Interpretation zufolge das Thema des heute verlorenen Reliquienschreines oder Sakramentshauses gewesen sein mag, zu dem die Tafeln einst wohl gehörten (Ilsink et al., 2016, S. 308–316). Für den vorliegenden Band wurde es ausgewählt, weil es auf treffliche Weise die generell eher schwierig zu materialisierenden, im Rahmen der hier publizierten Beiträge aber maßgeblichen Begriffe wie »Seele«, »Transzendenz« etc. anschaulich zu machen imstande ist. Wie alle großen Kunstwerke eröffnet es zudem die Möglichkeit zu sehr mannigfaltigen Deutungen. Eine davon lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Parallelen zwischen dem dargestellten Übergang in das Jenseits und dem Vorgang der Geburt: Der Lichttunnel erscheint dabei als großer Geburtskanal, der dunkle Teil des Bildes hingegen als intrauterine Welt, welche die Seelen, im Fruchtwasser schwebenden Föten gleich, in Richtung des Lichts verlassen. Der Tod entspricht demnach also dem Geburtserleben, Dies- und Jenseits freilich sind vertauscht, sofern man auch die vorgeburtliche als eine »jenseitige« Welt begreift (Frenken, 2016, S. 243 f.). Ein wenig fühlt man sich durch diese Interpretation erinnert an den Glauben mancher Stämme, dass die Seelen nach dem Tod wieder zu jenen 9

Geistkindern werden, die sie vor der Geburt schon waren – im Jenseits geduldig auf erneutes Geborenwerden wartend (vgl. meinen Beitrag in diesem Band, S. 15). Martin Klüners

Literatur Frenken, R. (2016). Symbol Plazenta. Pränatalpsychologie der Kunst. Wies­baden: Springer. Ilsink, M., Koldeweij, J., Spronk, R. et al. (Hrsg.) (2016). Hieronymus Bosch. Maler und Zeichner. Catalogue raisonné. Stuttgart: Belser.

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Martin Klüners Seele, Vernunft, Glaube

Die psychologischen Grundlagen der Religion

Quaestiones Religion und Psychologie ist der Begriff der Seele gemein. Dies gilt ungeachtet der Tatsachen, dass es einerseits mannigfaltige Religionen mit mindestens ebenso zahlreichen Seelenvorstellungen gibt1 und dass andererseits das Konzept einer »Seele« schon im 19. Jahrhundert weitgehend aus der wissenschaftlichen Betrachtung verbannt wurde. Die Religion und Psychologie verbindende Qualität der Seele ist es, die ihr in unserer Untersuchung eine herausgehobene Stellung verschaffen soll. Damit sie diese Rolle erfüllen kann, ist es freilich unerlässlich, gleich zu Beginn auf ihren schwierigen Stand hinzuweisen. Denn die Seele ist – zeitgleich mit der Religion übrigens – zum Problem geworden. Exemplarisch lässt sich dies an der Lehre von der Seele selbst, der Psychologie, aufzeigen: Die auf Friedrich Albert Lange zurückgehende, semantisch im Grunde ein Oxymoron ausdrückende Losung von der »Psychologie ohne Seele« (vgl. Jüttemann, 1991, S. 354, S. 358 f.) bezeugt in ihrem affirmativen Charakter (Newmark, 2004, S. 57) nicht nur den positivistischen Enthusiasmus ihrer Entstehungszeit, sondern bezeichnet darüber hinaus die prinzipiell auch heute noch gültige Haltung der Fachdisziplin ihrem Untersuchungsgegenstand gegenüber (Hecht u. Desnizza, 2012, S. 4). Die Psychoanalyse ihrerseits verwendet immerhin den Terminus »Seele«, lässt dessen epistemologischen Status allerdings weit1

Eine Typologisierung der unterschiedlichen Seelenkonzeptionen in den Religionen unternimmt Karl Wernhart (2004, S. 94 f.). Zum Junktim Religion und Seele vgl. Luhmann (2000, S. 267).

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gehend offen und verleiht ihm daher auf den ersten Blick eher das Gepräge einer heuristischen Kategorie (vgl. Newmark, 2004, S. 52). Der Schwierigkeit des Begriffs steht eine noch größere Schwierigkeit gegenüber, selbigen inhaltlich, in der Manier der Abgrenzung, zu bestimmen. Dieses Unterfangen rührt an eines der zentralen Probleme mindestens der abendländischen Philosophie, das infolge der mit ihm einhergehenden erkenntnistheoretischen Implikationen grundlegend ist sogar für die gesamte Architektur so gut wie aller wissenschaftlichen Disziplinen: den Leib-Seele-­ Gegensatz, der eine besonders pointierte Formulierung des Verhältnisses von Materie und Geist darstellt. Offenbar unterliegt die Materie anderen Gesetzmäßigkeiten als der immateriell gedachte Geist. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass beide auch unterschiedlich erforscht werden müssen. Da sich die Gesetzmäßig­ keiten der Materie sehr viel leichter, nämlich in Form des bekannten Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, zu erkennen geben als die des Immateriellen, ist die Versuchung insbesondere in der Neuzeit, unter dem Eindruck »des cartesischen Substanzdualismus« (Newmark, 2004, S. 45) als Zuspitzung des Leib-Seele-Problems, groß, das Immaterielle aus dem Materiellen heraus zu erklären. Diese als Physikalismus bezeichnete und in Grundzügen schon seit der Antike geläufige (Beckermann, 2011, S. 7, S. 9–11) Position erfreut sich gerade in Zeiten bedeutender naturwissenschaftlicher Fortschritte wachsender Beliebtheit. So sind es beispielsweise die unbestreitbaren Erfolge der Neurowissenschaften gewesen, welche die jüngeren Debatten über die menschliche Willensfreiheit erst so richtig entfacht haben. Ohne an dieser Stelle die ausufernden epistemologischen Diskurse im Einzelnen referieren zu können, lässt sich doch immerhin so viel festhalten: Man darf die besagte Position getrost als fundamentalen Kategorienfehler klassifizieren (vgl. Ryle, 1969; Gast, 2016, S. 69). Menschliche Willensfreiheit ist nicht das Ergebnis von »wirk- oder materialursächlich« (Newmark, 2000, S. 46) zu rekonstruierenden neurologischen Prozessen. Entsprechendes gilt für alle anderen mentalen oder, in traditionellerer Diktion, »seelisch-geistigen« Vorgänge.2 2 Wenn Seelisches auf Körperliches reduziert wird, »verliert die Seele damit zumindest theorieimmanent ihr rationalistisches Hauptattribut: die Hand-

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Akzeptiert man diese Festlegung, stellen sich hinsichtlich des Schicksals der Seele – hier verstanden als Gesamtheit der mentalen Eigenschaften eines Individuums – einige elementare Fragen: Während die Entstehung des Körpers aus der Befruchtung einer weiblichen Ei- durch eine männliche Samenzelle, seine weitere Entwicklung im Sinne von Zellteilung und wachsender Differenzierung auf physiologischer Basis hinreichend erklärt werden kann, wird die Entstehung der Seele zum Problem. Wenn sie nicht mit dem Körper identisch ist: Woraus bildet sie sich dann? Ähnlich verhält es sich, wenn der Lebensprozess des Körpers abgeschlossen ist, er stirbt – was geschieht folglich mit der Seele? Unversehens ist man also, ausgehend von erkenntnistheore­ tischen Reflexionen, bei altvertrauten Fragen der Metaphysik an­­ gelangt. Zur Religion, die sich kulturübergreifend, wenngleich zumeist unter anderen Bedingungen, mehr oder minder dieselben Fragen stellt, ist es damit nicht mehr weit. Was in diesem kurzen Aufriss des komplexen Problems bereits anklingt: Die Seele ist für das Selbstverständnis des Menschen zentral. Das gilt für die religiösen Vorstellungen pristiner Kulturen ebenso sehr wie für hochabstrakte philosophische Diskurse in den sogenannten aufgeklärten Gesellschaften. Es hat dabei freilich den Anschein, dass die zunehmende Rationalisierung über die Jahrhunderte in immer größere Gegnerschaft gerät sowohl zur Seele als auch zur Religion. Das lässt sich konstatieren, auch ohne das berüchtigte Schlagwort vom Geist als Widersacher der Seele bemühen zu müssen (Klages, 1929–1932). Viel eher ist mit Max Weber davon auszugehen, dass »die mathematisch orientierte Weltbetrachtung« grundlegend jeglichen Standpunkt zurückweist, der »überhaupt nach einem ›Sinn‹ des innerweltlichen Geschehens fragt«. Vernunft und Glaube, Wissenschaft und Religion geraten in einen so tiefen Widerspruch zueinander, dass am vorläufigen Ende dieser Entwicklung, nachdem die Wissenschaft über die Religion gesiegt zu haben scheint, letztere sogar als »die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin« begriffen wer-

lungsfreiheit, die sich aus ihrer Ungebundenheit an alles Erdenschwere begründet« (Newmark, 2004, S. 48). Ähnlich schon Ryle (1969, S. 20).

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den kann (Weber, 1920, S. 564).3 Und das, obwohl es Zeiten nicht einmal geringer Dauer gab, in der beide Hand in Hand nach der Wahrheit suchten: Die moderne abendländische Rationalität und die Frage »nach dem richtigen Begriff von Wissenschaft« haben ihre Ursprünge nämlich, fußend auf antiken Vorläufern, ausgerechnet in der Theologie des 11. Jahrhunderts – als Berengar von Tours postulierte, »daß die Dialektik studiert werden muß, weil der Mensch aus der Vernunft zum Ebenbild Gottes gemacht ist und ohne Vernunftgebrauch seine Würde unwiederbringlich verliert« (Ehlers, 2013, S. 58 f.). Wie also konnte es dann dazu kommen, dass Vernunft und Glaube Feinde wurden? Hier soll der Versuch unternommen werden, aus einer psycho­ logischen Perspektive heraus eine Antwort zu finden. Da wir Be­­ griff und Problem der Seele (samt der erwähnten erkenntnistheoretischen Verflechtungen) dafür als konstitutiv erachten, dient eine entsprechende Diskussion als Einstieg: Zunächst soll daher die Geschichte der Seele in knappen Formen skizziert werden,4 um anschließend die Beziehung »Vernunft« (hier vertreten durch die historische und nicht etwa eine mathematische Wissenschaft, da letztere nicht eigentlich mit Sinnbildungsleistungen befasst sind) und »Glaube« psychologisch zu erörtern. Psychologisch ist dabei nicht als Eigenschaftswort aufzufassen, das Zugehörigkeit zu einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin im engeren Sinne signalisiert;5 im Gegenteil umfasst es hier gerade auch, ja sogar schwerpunktmäßig, psychoanalytische Ansätze. Dies ist nicht nur der persönlichen Neigung des Verfassers, sondern auch dem Gegenstand geschuldet: Sinnverstehen verlangt nach hermeneutischen mehr denn nach erklärenden Methoden. Insbesondere dann, wenn es um den »Sinn« der Religion unter dem Aspekt des Seelischen zu tun ist – eines Seelischen, das wir explizit nicht physikalistisch betrachten. 3 Zu Typen der Religionskritik und der Entstehung der Religionssoziologie aus der Religionskritik vgl. Pickel (2011, S. 60–65). 4 Die Knappheit der Ausführungen gebietet eine inhaltliche Beschränkung, sodass hauptsächlich die abendländische Geschichte der Seele gemeint ist. 5 Es sei zudem darauf hingewiesen, dass der Verfasser von Haus aus Historiker ist.

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Kleine Geschichte der Seele Die Seele in frühen Religionen Dass schon Wildbeuterkulturen das oben skizzierte Problem des Ursprungs der Seele  – wenigstens implizit  – umtreibt, verdeutlicht der Glaube der auf den Inseln Bathurst und Melville vor der austra­lischen Nordküste lebenden Tiwi an die sogenannten pitapitui, »Geistkinder«, die für die Seelen der noch ungeborenen Kinder stehen (Goodman, 1994, S. 88). In der »Traumzeit«, wie die mythische Vorzeit genannt wird (vgl. den Abschnitt »Traumzeit und Traum«, S. 38 f.), wurden die Geistkinder nach Vorstellung der Tiwi ausgesetzt (Goodman, 1994, S. 99), damit der Vater sie in seinen Träumen finden und der Mutter bringen kann (S. 93). Bei den Festland-­ Aborigines existiert eine sehr ähnliche Konzeption: Erst wenn das Geistkind vom Vater an die Mutter weitergegeben oder auch auf unmittelbarem Weg in den Körper der Mutter gelangt ist, kann ein Embryo entstehen. Manche Stämme glauben, dass die Seele sich nach dem Tod des Menschen wieder in ein Geistkind verwandelt, um irgendwann aufs Neue geboren zu werden (Wernhart, 2004, S. 109). Die Vorstellung einer vor der Geburt gegebenen Seele ist im Übrigen nicht auf australische Eingeborenenkulturen beschränkt; sie lässt sich in anderen Formen auch bei Pflanzergesellschaften nachweisen (K. E. Müller, 2005, S. 32; Goodman, 1994, S. 110). Die Frage, ob es etwas gibt, das die physische Existenz des Men­­ schen überdauert, ist demnach schon sehr alt. Inhärent ist ihr zu­­ gleich diejenige nach einer Sphäre jenseits der physischen Welt (siehe hierzu den Abschnitt »Die andere Wirklichkeit«, S. 36 ff.). Die Antwort, die so gut wie alle Kulturen darauf geben, besteht in der Konzeption der Seele und einer Wirklichkeit, in der selbige auch unabhängig vom Körper existiert. Diese Konzeption ist trotz der Verschiedenartigkeit der jeweiligen Ausformungen »eine menschliche Universalie« (Wernhart, 2004, S. 93). Dabei wird mitunter nicht nur menschlichen, sondern allen belebten Wesen, ja zuweilen sogar Dingen der Besitz einer (oder mehrerer) Seele(n) zugesprochen. Der griechische Sprachgebrauch, der mit »apsychos« das Leblose und mit »empsychos« das Belebte bezeichnet, 15

bringt die mittlere dieser Vorstellungen zum Ausdruck: Eine Seele hat, was lebt, also außer Menschen auch Tiere und Pflanzen. Durch die Beseelung des Körpers erhält dieser Leben, verlässt die Seele ihn, stirbt er (Beckermann, 2011, S. 8). Die Seele in der abendländischen Philosophie Was die Seele eigentlich sei, woraus sie bestehe, wird emphatisch erst in der antiken Philosophie problematisiert. Die Materialisten wie Demokrit, Leukipp oder Epikur nehmen an, die Seele sei etwas Physisches, ein Körperteil wie Arme oder Ohren. Lukrez verortet den Sitz des mit der Seele verbundenen Geistes in der Brust, von wo aus er der Seele Befehle zur Bewegung der Glieder erteile. Platon hingegen glaubt an die Eigenständigkeit der Seele, die das tatsächliche Selbst des Menschen darstelle und den Körper nach dessen Tod verlasse. Aristoteles wiederum interpretiert die Seele als Formprinzip des Körpers (Beckermann, 2011, S. 9–15).6 Sowohl platonische als auch aristotelische Überlegungen bleiben das Mittelalter hindurch virulent.7 Augustinus postuliert daneben eine für das abendländische Denken maßgeblich werdende Hierarchisierung des Verhältnisses von Körper und Seele; mit ihr einher geht die christliche »Abwertung des Körpers« (Wulf, 1991, S. 5),8 aber auch die Feststellung, dass Seelisches nicht aus Körperlichem erklärt werden kann, ja nicht einmal räumliche Ausdehnung zu seinen Eigenschaften zählt (Kersting, 1991, S. 65). Räumliche Ausdehnung wird auch zum bestimmenden Kriterium jener Theorie, die den folgenreichsten Bruch mit dem bis6 Für eine Rehabilitierung des aristotelischen Hylemorphismus plädiert Marcus Knaup (2011). 7 Meist über Vermittlung durch die Kirchenväter: Augustinus, Pseudo-­ Dionysios und Boethius tradierten platonische Ideen und sorgten so für ihre Verbreitung bei christlichen Autoren, Aristoteles wurde ab dem Hochmittelalter zur grundlegenden Lektüre an den seit dem 12. Jahrhundert entstehenden Universitäten (Gersh u. Hoenen, 2002, S. V). 8 Die Lehre von der Fleischwerdung Gottes und der leiblichen Auferstehung hingegen widersprechen zugleich der expliziten Abwertung des Leiblichen.

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herigen Denken über das Verhältnis von Leib und Seele bedeuten soll: René Descartes trennt im 17. Jahrhundert die leib-seelische Gesamtwirklichkeit in die res extensa und die res cogitans, wobei erstere vollständig im Sinne mechanischer Gesetze erklärt werden kann. Die Seele wird für das Verständnis der belebten Natur überflüssig. Ihr kommt Realität folglich nur noch als Bewusstsein zu. Immerhin ist bewusstes Denken auch nach Descartes nicht auf Körperliches rückführbar; seine Position bleibt daher eine sub­ stanzdualistische (Beckermann, 2011, S. 15–19). Der Substanzdualismus Descartes’ vollzieht eine Trennung der beiden Bereiche, die das Wechselspiel zwischen Leib und Seele zu einem veritablen Problem macht: Es ist nämlich kaum noch zu erklären, wie die Substanzen miteinander interagieren, wie sie aufeinander wirken sollen. Damit handelt es sich hier der Sache nach um ein »Kausalitätsproblem« (Newmark, 2004, S. 44 f.). Die vier aristotelischen Kausaltypen werden folgerichtig auf neue Weise interpretiert – Material- und Wirkursache werden zur »mechanischen Kausalität« zusammengefasst und triumphieren über das aus Form- und Zweckursache gebildete teleologische Prinzip, das nicht mehr als »wissenschaftliche« Kategorie im strengen Sinne verstanden wird (Newmark, 2004, S. 56, Anm. 4 u. 6). Denn es ist für die Erforschung der Natur unbrauchbar. Eine scharfe Abgrenzung der Disziplinen ist ebenso die Folge wie das Möglichwerden einer experimentell verfahrenden Naturwissenschaft, die in der Lage ist, natürliche Gesetzmäßigkeiten (Newmark, 2004, S. 45 f.) und damit eine spezifische Form natürlicher Ordnung zu erkennen, die für das gesamte Universum Gültigkeit beanspruchen kann. Die erkenntnistheoretische Verkürzung – als solche muss man die Einengung von »Wissenschaft« auf Material- und Wirkkausalitäten wohl bezeichnen – führt zu einem Siegeszug der Naturwissenschaften, der sich bis in die Gegenwart vor allem durch unleugbaren technischen Fortschritt zu legitimieren scheint. Auf der Strecke bleiben in gewissem Sinne diejenigen Wissenschaften, die sich mit geistigen Äußerungen des Menschen auf nichtphysischer Grundlage beschäftigen. Auch heute noch stehen die Geisteswissenschaften unter einem vergleichsweise höheren Rechtfertigungsdruck als die Naturwissenschaften, deren Erkenntnissen oben17

drein meist noch praktische Verwertbarkeit anhaftet. Gleichzeitig verdankt sich die Professionalisierung auch der Humanwissenschaften nicht zuletzt dem krampfhaften Bemühen, es den Naturwissenschaften in Sachen »Wissenschaftlichkeit« irgend gleichzutun. Das aus den Naturwissenschaften stammende Prinzip einer Überprüfbarkeit der Untersuchungsergebnisse ist das Ideal, das insbesondere ab dem 19. Jahrhundert zum Standard wird. So soll nun beispielsweise auch die menschliche Geschichte anhand überprüfbarer, abgesicherter Tatsachen erforscht werden (vgl. Rohbeck, 2004, S. 74; dazu ferner den Abschnitt »Das Interesse an der historischen Wahrheit« in diesem Text sowie, zum 20. Jahrhundert, Klüners, 2013, S. 132). Durch die Entseelung der natürlichen Welt, die Neu-­Justierung der Beziehung von Leib und Seele und die strikte Trennung der Disziplinen wird prinzipiell eigentlich alles problematisch, was auf der Linie Natur-Mensch liegt und die interdisziplinären Debatten bis heute in einer sehr fundamentalen Weise prägt: nicht nur das Verhältnis von Leib und Seele selbst, auch die Relation von Natur und Kultur beziehungsweise Geschichte im Allgemeinen,9 im engeren Sinne von Anthropologie und Geschichtsphilosophie und auf erkenntnistheoretischer Ebene diejenige von Erklären und Verstehen (Klüners, 2013, 2014, 2017). Das bedeutet aber auch, dass das Verhältnis zur »Seele«, die als weitgehend unwidersprochene Kategorie höchstens noch in der Theologie Zuflucht gefunden hat, mindestens implizit nach wie vor das Denken des Menschen über sich selbst bestimmt, ja vielleicht sogar als dessen – trotz allem unverrückbarer – Dreh- und Angelpunkt bezeichnet werden kann.

9 Besonders sinnfällig wird die Bedeutung gerade dieser problematischen Wechselbeziehung im Phänomen des wissenschaftlichen Rassismus, der das vielleicht radikalste Beispiel einer im weitesten Sinne materialistischen Verkürzung des Leib-Seele-Problems darstellt: Denn nicht nur körperliche, sondern auch kulturelle Unterschiede zwischen sogenannten »Rassen« sollen mit seiner Hilfe biologisch, also naturwissenschaftlich, erklärt werden. Biologismus ist eine besonders fatale Form des Kategorienfehlers.

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Ansätze zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Erklären und Verstehen Übrigens gibt es gerade seit dem 20. Jahrhundert durchaus Ansätze gänzlich unterschiedlicher Provenienz, welche die genannten Dichotomien infrage stellen: Ausgerechnet die am naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientierte analytische Philosophie bescheinigte der historischen Erzählung, erklärende Funktion im Sinne des naturwissenschaftlichen Erkenntnismodells zu besitzen (Danto, 1974, S. 230) und trug so zu einer Entschärfung des vor allem für die Geisteswissenschaften nachteiligen Gegensatzes zwischen Erklären und Verstehen bei. Die Systemtheorie ihrerseits erforscht das Verhältnis von System und jeweiliger Umwelt, ohne dabei natürliche und menschliche Systeme qualitativ voneinander zu scheiden (Ropohl, 2012). Die alte anthropologische Frage nach dem Verhältnis von Anlage und Erfahrung, also vereinfacht gesagt nach der Beziehung von angeborenen und erlernten Eigenschaften des Menschen, wird heute vermehrt im Sinne einer permanenten Wechselbeziehung und nicht länger eines Gegensatzes von Gendeterminismus und Sozialkonstruktivismus beantwortet (Antweiler, 2011, S. 196).10 Und eine der elaboriertesten Formen der Naturwissenschaft, nämlich die Quantenmechanik, bringt sogar mithilfe experimenteller Nachweise herkömmliche Gewissheiten hinsichtlich der universalen Gültigkeit wirk-ursächlicher Kausalitäten ins Wanken. Philosophisch werden diese Befunde im Rahmen einer panpsychistischen Position inzwischen tatsächlich dahingehend diskutiert, dass man selbst Elementarteilchen proto-­ mentale Eigenschaften zuschreibt und das Leib-Seele-Problem von diesem Punkte aus zu lösen versucht (Brüntrup, 2018, S. 183).

10 Auf ähnlichen Voraussetzungen fußt die jüngere Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse, beispielsweise bei der Erforschung der Mentalisierung: Die »Mentalisierung von Erfahrung« vollzieht sich mittels Identifizierung mit dem Denken anderer. Seine Internalisierung kann aber erst stattfinden, »wenn dazu die biologische Basis besteht. Umgekehrt bewirkt die neurophysiologische Reifung allein noch keine psychische Repräsentation von Erfahrungen« (Ermann, 2010, S. 97 f.).

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Die Seelenwissenschaften Was diejenigen Wissenschaften betrifft, die sich wenigstens dem Namen nach speziell mit der Seele befassen, so lässt sich auch hier eine grundlegende Zweiteilung des disziplinären Selbstverständnisses entlang der Trennlinie von Erklären und Verstehen kon­statieren: Die Psychologie begreift sich eher als Naturwissenschaft (Hecht u. Desnizza, 2012, S. 8), die Psychoanalyse lässt sich als naturwissenschaftlich inspirierte hermeneutische Wissenschaft klassifizieren. Die psychologischen Disziplinen sind von den fundamentalen wissenschaftstheoretischen Diskursen in besonderer Weise betroffen (Klüners, 2017, S. 107). Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich auch in der Medizin, propagiert u. a. durch Hermann Helmholtz und Ernst Brücke, die Ansicht durchgesetzt, dass der Körper den gleichen Kausalgesetzen unterliegt wie die unbelebte Materie und ergo mit denselben Mitteln untersucht werden kann (Sonntag, 1991, S. 294; Newmark, 2004, S. 46). Der Helmholtz-Schüler Wilhelm Wundt entwickelt mit seiner experimentellen Psychologie eine Art von Seelenkunde, welche den Reduktionismus (Sonntag, 1991, S. 294) der Medizin übernimmt und ihren Untersuchungsgegenstand de facto in Körperliches transponiert (Newmark, 2004, S. 47).11 Der Brücke-Schüler Sigmund Freud hingegen wählt einen anderen Weg: Er entdeckt, dass hinter körperlichen Symptomen sich oftmals ein psychischer 11 Zur Krise der Psychologie vgl. Jüttemann (1991). Dilthey versuchte übrigens, das Verstehen des historisch Individuellen psychologisch zu untermauern. Daran entzündete sich die heftige Kritik Collingwoods. Denn Psychologie sei »nicht Geschichte, sondern Naturwissenschaft, eine auf naturalistischen Prinzipien gegründete Naturwissenschaft«, wenn also die Erkenntnis der Geschichte nur mithilfe einer Naturwissenschaft möglich sei, gebe es in letzter Konsequenz kein genuin historisches Verstehen mehr (Collingwood, 1955, S. 184). Collingwood wirft der deutschen geschichtsphilosophischen Schule bezeichnenderweise vor, sich tatsächlich nie »vom philosophischen Naturalismus, d. h. von der Verwandlung des Geistes in Natur« (S. 187) emanzipiert zu haben. Für ihn hingegen ist Geschichte der Gegenbegriff zur Natur und der Oberbegriff für alles, was nicht naturwissenschaftlich erfasst werden kann. Geschichte ist dabei nicht gleichbedeutend mit jeglicher Art von Veränderung – Naturprozesse nimmt er ausdrücklich von seinem Verständnis der Geschichte aus (S. 221; vgl. hierzu Klüners, 2017, S. 108).

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Konflikt verbirgt, der am sinnvollsten in Form einer Geschichte wiedergegeben werden kann (Klüners, 2014, S. 103). Die Psychoanalyse als naturwissenschaftlich inspirierte Hermeneutik Damit wird die von ihm begründete Psychoanalyse zu einer im Kern »historischen« Wissenschaft (Wehler, 1971, S. 19), die allerdings nicht primär mit Texten, sondern mit Patienten, also leib-­ seelischen Einheiten, befasst ist. Folglich ist die Wechselwirkung von Leib und Seele ihr zentrales Thema, eine Qualität, die sie vor textbasierten historischen Wissenschaften auszeichnet, ihr umgekehrt aber auch erkenntnistheoretische Probleme aufbürdet, welche die textbasierten Disziplinen weitgehend vernachlässigen können. Freud ist aufgrund seiner Befunde gewissermaßen gezwungen, die scharfe Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden; die Konsequenz ist eine »gemischte Rede« (Ricœur, 1969, S. 79), die Sprache und Denkfiguren aus beiden Bereichen miteinander verschränkt. Schon in der »Traumdeutung« setzt er die »Teleologie« (Freud verwendet den Begriff dort selbst: 1900a, S. 78; vgl. auch Newmark, 2004, S. 50), die einen Sinnzusammenhang und damit eine psychische Funktion des Traumes erwarten lasse, wieder in ihr Recht. Zugleich schreibt er der Seele »eine[s] der hauptsächlichen Körperattribute« zu, »nämlich Unbewusstheit«, und attestiert ihr eine innere Organisation nach dem Prinzip der Kausalität. Dieses Prinzip ist von entscheidender Bedeutung für die Rechtfertigung seiner Hypothese eines psychischen Unbewussten, da eine rein bewusste Psyche »Lücken in ihrer Kausalitätsreihe aufwiese« (Newmark, 2004, S. 52 f.). Damit verknüpft Freud Kausalität und Teleologie (Newmark, 2004, S. 55). Wie aber definiert die Psychoanalyse das für ihre Theorie­ bildung so zentrale Verhältnis von Körper und Seele nun konkret? Das Verhältnis von Leib und Seele im Verständnis der Psychoanalyse Die Antwort liegt in ihrer Interpretation des Verhältnisses von Bedürfnis (physisch) und Wunsch (psychisch). Die »großen Kör21

perbedürfnisse« erzeugen schon beim Säugling einen Spannungsreiz, der nach Aufhebung strebt, zum Beispiel die Hungerspannung, die durch Nahrungszufuhr aufgelöst wird. Dieses Befriedigungserlebnis schafft ein Erinnerungsbild der zugehörigen Wahrnehmung, das »mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt«. Sobald aber das Bedürfnis – in unserem und Freuds Beispiel der Hunger – wieder hervorbricht, tritt eine »psychische Regung« in Erscheinung, die das Erinnerungsbild erneut besetzt, ergo »eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunsch­ erfüllung […]« (Freud, 1900a, S. 571). Lilli Gast macht darauf aufmerksam, dass diese erste Vorstellung, von Freud bereits als »primitive Denktätigkeit« verstanden, gleichsam am Beginn einer »Verzeitlichung des Subjekts« steht. Denn es ist der in der Gegenwart existente Wunsch nach einer in der Zukunft liegenden Wiederherstellung einer in der Vergangenheit als angenehm erfahrenen Wahrnehmung, der von nun an das seelische Komplement zum körperlichen Bedürfnis bildet. Diese Verbindung ist in der Psychoanalyse »der psychophysische Knotenpunkt«, an welchem biologisch begründetes Bedürfnis und Psyche sich treffen (Gast, 2016, S. 73). Die Kausalität des somatischen Spannungsreizes verschränkt sich mit der Teleologie des Wunsches.12 Der physische Ursprung der beispielsweise von der analytischen Philosophie des Geistes als handlungsverursachend angenommenen Intention liegt demnach, worauf schon die Wortbedeutung von »intendere« = anspannen hindeutet, zuallererst in einem Spannungsreiz, das Ziel der Handlung bestünde folglich auf seiner elementarsten Ebene in der Aufhebung eines Spannungs­zustandes (Klüners, 2015, S. 506). Vielleicht hatte Freud Begriffe und Modelle aus der Zeit seines Studiums bei Franz Brentano im Kopf, als er den Trieb »als die psychische Repräsentanz einer […] innersomati12 Vgl. auch die Ausführungen von Laplanche und Pontalis (1972, S. 441 f.) zum Trieb: Demnach »hat der Trieb tatsächlich seine Quelle in organischen Phänomenen«, jedoch ist »das Ziel, das er anstrebt« (Hervorh. M. K.), gemeinsam mit den »Objekte[n], an die er sich heftet«, verantwortlich für sein seelisches »Schicksal«. Dadurch, dass er ein Ziel hat, ist dieses Schicksal also teleologisch zu verstehen.

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schen Reizquelle« (Freud, 1905d, S. 67) definierte. Denn die Freud’sche »Repräsentanz« erinnert verdächtig an die philosophische Terminologie, mit der die Beziehung zwischen der Intention und dem Gegenstand, auf den jene sich richtet, im Sinne einer »Repräsentation« des Gegenstandes im mentalen Zustand charakterisiert wird. Der Trieb strebt danach, über ein Objekt (z. B. Nahrung) den somatischen Spannungszustand aufzulösen – und das Objekt ist ein intentionaler Gegenstand (Klüners, 2015, S. 506).13 Der Trieb ist jedoch eben nicht identisch mit der somatischen Reizquelle selbst (Gast, 2016, S. 74), bezeichnet folglich also nichts Biologisches, sondern etwas Psychisches – womit die Kritik, die sich später an der angeblich unveränderliche natürliche Gesetzmäßigkeiten zementierenden Triebtheorie Freuds entzündete, teilweise entkräftet wäre (vgl. Klüners, 2013, S. 151 f.). Andererseits ist der Trieb »ein Dazwischen, ein Registerwechsel, und zwar im Sinn der Übersetzung einer vom Körper(-lichen) ausgehenden Arbeitsanforderung« (Gast, 2016, S. 74). Das Verhältnis von somatischer Erregung und psychischer Repräsentanz ist also das einer Delegationsbeziehung (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 442), womit das Prius des Körpers vor der Seele herausgestellt wäre. Die mögliche Überlegung, ob nicht eine Art »Lebenswille«, verstanden als mentale Entität,14 erst körperliche Selbsterhaltungsfunktionen und damit Bedürfnisse in Gang setzt, findet sich in diesem Modell nicht – schließt sie aber umgekehrt auch nicht aus. Wichtig ist wohl festzuhalten, dass es sich bei der Dialektik von Körper und Psyche um »wechselseitige Transgressionen« handelt, um eine »ursprunglose Figur, die sich Kausalitäten widersetzt« (Gast, 2016, S. 75). 13 Dort schrieb ich, das Bedürfnis »beruhe« auf dem Trieb. Wenn man den Trieb als psychische Repräsentanz des Körperreizes versteht, ist es wohl eher umgekehrt richtig. Allerdings geben Laplanche und Pontalis (1972) zu bedenken, dass »Trieb« einen »Grenzbegriff zwischen dem Somatischen und dem Psychischen« darstellt (S. 441) und sowohl die »somatische Kraft« als auch die »seelische Energie« bezeichnen kann (S. 527). Es handelt sich hier wohl um die prinzipiell unlösbare Frage nach dem Prius von Huhn oder Ei (vgl. im Folgenden). 14 Die panpsychistische Anschauung, dass Lebewesen, ja sogar Elementarteilchen mentale Eigenschaften besitzen, rückt eine solche Annahme in den Bereich des Möglichen. Mentale Eigenschaften wären bereits beim Embryo bzw. der Zygote vermutbar.

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Durch dieses dialektische Verständnis einer gegenseitigen Wechselwirkung von Leib und Seele hat Freud nicht nur die radikale cartesische Trennung aufgehoben, er hat auch den aus der religiösen Vorstellungswelt stammenden, in der abendländischen Philosophie über Jahrhunderte diskutierten und letztlich aus der wissenschaftlichen Weltbetrachtung verbannten Begriff der Seele rehabilitiert, womit wieder eine ganzheitlichere Deutung des Menschlichen möglich ist (vgl. auch Newmark, 2004, S. 55). Die Prinzipien, die Freud beim Studium des Seelischen entdeckte, sind, so unsere These, letztlich konstitutiv auch für das Verhältnis von »Vernunft« und »Glaube«. Schematisch ausgedrückt, ist es der Gegensatz von Realitäts- und Lustprinzip, der sich in dieser Dichotomie spiegelt.

»Vernunft«: Der Sinn des Spurenlesens Die Fährtenleser der San Im Jahre 2013 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein ungewöhnliches Projekt: Drei Angehörige einer heute noch lebenden Jäger-und-Sammler-Kultur sollten westliche Forscher beim Deuten von Spuren steinzeitlicher Jäger und Sammler in südfranzösischen Höhlen unterstützen. Die Fußabdrücke, die sich im Lehmboden der Höhlen abzeichnen, werden jenen Menschen zugeschrieben, die im Jungpaläolithikum die berühmten Felsmalereien und andere künstlerische Artefakte geschaffen haben. Sie haben sich dort ebenso wie die Kunstwerke über die Jahrtausende erhalten und stellen eine bemerkenswerte Momentaufnahme aus dem Leben einer prähistorischen Population weit vor der Erfindung der Schrift dar. Da die herkömmlichen Untersuchungsmethoden – die im Wesent­ lichen in einem Vermessen der Spuren bestanden – als unzureichend empfunden wurden, lud man die Fährtenleser C/wi /Kxunta, C/wi G/aqo De!u und Tsamkxao Ciqae aus dem Volk der San im nordöstlichen Namibia nach Europa ein, um während zweier Wochen im Juli 2013 die westliche Wissenschaft gewissermaßen eines »Besseren« zu belehren: In den Worten des Projektleiters Lenssen-­Erz 24

waren die streng faktenbasierten Methoden der San »viel genauer«, ihre empirisch – nämlich im besten Sinne durch exakte Beobachtung – gewonnenen Erkenntnisse nicht nur differenzierter, sondern auch unzweideutiger »im Vergleich zu den bisher getätigten Messungen«. Die über einen diesbezüglich »hochspezifische[n] Wortschatz« verfügenden Spurenleser diskutierten »die kleinsten Details und fügten die Hinweise zu einer ganzen Geschichte zusammen«. Sie konnten so anhand weniger Fußspuren beispielsweise nicht nur Alter und Geschlecht der betreffenden Person, sondern auch ihre Körperhaltung, ihre Geschwindigkeit und Ähnliches feststellen – was mit dem Instrumentarium, das modernen Wissenschaftlern zur Verfügung steht, nie in dieser präzisen und komplexen Form möglich gewesen wäre. So nimmt es nicht wunder, dass viele der bisher gültigen Annahmen über Ursprung und »Sinn« der in den Höhlen erhaltenen Spuren durch den Einsatz der San revidiert werden mussten (DFG, 2013). Das Interesse an der historischen Wahrheit Das Beispiel illustriert vor allem Folgendes: Ein im weitesten Sinne »historisches« Interesse daran, »wie es eigentlich gewesen« (Ranke, 1885, S. 7; Hervorh. M. K.), das Interesse an einer präzisen, »forensischen« Rekonstruktion des Vergangenen vermittels genauer Analyse der Fakten und noch so nebensächlich scheinender Indizien (Ginzburg, 1985), das in den westlichen Gesellschaften spätestens im 19. Jahrhundert zur Professionalisierung der historischen Wissenschaften geführt hat, ist im Grunde kein neuzeitliches Spezifikum. Es lässt sich ganz offensichtlich schon bei Wildbeutern finden, auch wenn das Entschlüsseln von – meist eher rezenten (vgl. DFG, 2013) – Fährten bei ihnen selbstredend eine Strategie im Kontext der Jagd darstellt und der Überlebenssicherung, nicht der Komplettierung oder Korrektur eines Geschichtsbildes dient. Das Prinzip jedoch ist das gleiche. Gewiss: Die moderne Geschichtswissenschaft – und hier geht es um jenes »deutsche Modell«, das im 19. Jahrhundert zum Vorbild so gut wie aller kulturwissenschaftlichen Disziplinen, national wie international, avancierte (Simon, 1996, S. 203), weshalb eine 25

ausführlichere Betrachtung lohnt – ist aus der Untersuchung von Texten, nicht von Fußabdrücken hervorgegangen. Sie ist in ihren Ursprüngen vor allem das Werk studierter Philologen wie Ranke und Droysen.15 Mag sie sich mittlerweile auch anderen Medien der Überlieferung zugewandt haben, so sind Schriftquellen doch traditionell und nach wie vor ihr hauptsächliches Objekt. Das – trotz gewisser Kränkungen durch die Aufholjagd sonstiger human-, vor allem sozialwissenschaftlicher Disziplinen (Simon, 1996, S. 204– 209) sowie immer neue, in der Regel aus ebendiesen Disziplinen stammende »turns« weiterhin nicht geringe – Selbstbewusstsein der Geschichtswissenschaft fußt dabei zunächst auf einem guten Grund: Schrift bietet deshalb eine beispiellose Informationsverdichtung, weil sie auf Sprache beruht. Es liegt in der Natur der Sprache, dass ihre Informationsdichte diejenige nichtsprachlicher Hinterlassenschaften weit übersteigt. Tonscherben, Artefakte, auch Bilder »sprechen« nicht in der gleichen Weise zu uns wie auf Tontafeln, Tempelmauern oder Pergament verschriftlichte Sprache selbst. Und im Unterschied zu dem beispielsweise im Rahmen ethnologischer Feldforschung geführten Interview, das zwar idealerweise auch verschriftlicht wird, aber naturgemäß nur einen vergleichsweise geringen Zeitraum überbrücken kann, verbinden historische Schriftzeugnisse mitunter Zeiträume von mehreren tausend Jahren. So ist es möglich, dass selbst Sumerer und Ägypter der Pharaonenzeit zu uns »reden«. Mit den Mitteln der Textkritik und Verstehenshermeneutik (Simon, 1996, S. 198) ist zudem eine unvergleichlich präzise Analyse und Interpretation des in der Quelle Mitgeteilten durchführbar (ohne dass damit freilich umgekehrt schon automatisch etwas über die historische »Wahrheit« ausgesagt wäre; vgl. hierzu 15 Beiden ist außer der Tatsache, dass sie Philologie studierten, zusätzlich ge­­ mein, dass der nord- bzw. mitteldeutsche Protestantismus sie entscheidend geprägt haben dürfte: Ranke durch ein zusätzliches Studium der Theologie, Droysen durch das Aufwachsen in einem protestantischen Pastorenhaushalt. Man erinnere sich an Thomas Manns frühe Erzählung »Enttäuschung«, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie viel Bedeutung das Wort in dieser Sphäre der, wie die Erzählung es nennt, »Kanzelrhetorik« besitzt (Mann, 1997, S. 97). Außerdem wirkten sowohl Ranke als auch Droysen für den größten Teil ihres Lebens in der Norddeutschen Tiefebene, einer Landschaft, die man als »bilderlos« charakterisiert hat. Wo es wenige Bilder gibt, ist das Wort der folgerichtige Ersatz und füllt die Leerstelle.

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u. a. White, 1991 und die sich hieran anschließenden Diskussionen). Und mehr als einmal hat es sich erwiesen, dass erst der genaue Blick in die Quellen historische »Gewissheiten« umzustürzen in der Lage ist – diese Tatsache war bei der Formierung der Geschichtswissenschaft, die vor allem auch in Abgrenzung zu religiösen und philosophischen Geschichtserzählungen erfolgte, sicher das ausschlaggebende Moment.16 Ein dem Verfasser aufgrund rezenter eigener Studien17 vertrautes Beispiel aus der Mediävistik mag als pars pro toto die auch heute noch aktuelle und ungebrochene Bedeutung solider Quellenanalyse verdeutlichen: Bis in die 1990er Jahre war es geltende (und nicht zuletzt auch durch Schulbücher popularisierte) Lehrmeinung, dass das »Lehenswesen«, verstanden als Klientelverhältnis zwischen einem landvergebenden Herrn und seinem militärische Hilfe leistenden Vasallen, nicht nur schon im Frühmittelalter, d. h. im 7. oder 8. Jahrhundert, entstanden, son16 Schon der Autor, dem wir den Begriff der Geschichtsphilosophie verdanken – Voltaire –, stellte Überlegungen darüber an, wie der aufgeklärte Historiker eigentlich mit seinem Untersuchungsgegenstand – der Geschichte – verfahren sollte. Beim Studium der alten Chroniken, die bis in die Zeit B ­ ossuets, d. h. fast bis in Voltaires Gegenwart hinein, heilsgeschichtlich orientiert waren (vgl. Löwith, 1953, S. 100) und in Anbetracht ihrer Verknüpfung innerweltlichen Geschehens mit dem Numinosen im Prinzip religiöse Texte darstellen, war Voltaire nämlich aufgefallen, dass das Bild der Geschichte, das diese vermitteln, teilweise erhebliche Ungereimtheiten aufwies, ja nicht selten sogar durch fabulöse Hinzudichtungen völlig entstellt und verfälscht war. Was sollte nun also der Historiker in Voltaires Augen in solch einer Situation tun, um ein korrekteres, kohärenteres Bild der Geschichte zu erhalten, um damit Geschichte letztlich besser zu verstehen? (Aus einer entstellten Geschichte lässt sich schließlich nur schlecht lernen.) Voltaire drückte es so aus: »Chez toutes les nations l’histoire est défigurée par la fable, jusqu’à ce qu’enfin la philosophie vienne éclairer les hommes« (Voltaire, 1963, S. 800 f.). Die Lösung besteht demzufolge in philosophischer d. h. vernunftgeleiteter Erkenntnis. Der durch Philosophie aufgeklärte Historiker sollte sich seines Verstandes bedienen, die fabulösen Entstellungen mithilfe seines kritischen Intellekts auflösen, die Geschichte gewissermaßen im Hinblick auf rational überprüfbare Tatsachen analysieren. Voltaire nimmt hier im Ansatz vorweg, was die im 19. Jahrhundert entwickelte Quellenkritik des Historismus in komplexerer und systematischerer Form wieder aufgreift. 17 Das Ergebnis meiner eigenen Bemühungen auf diesem Feld, die sich dem Lehenswesen unter Herzog Albrecht I. von Habsburg widmen, wird voraussichtlich 2020 erscheinen.

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dern auch die tragende Säule der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung gewesen sei. Im Spätmittelalter sei es dann zunehmend anderen Formen sozialer Bindungen gewichen (vgl. Patzold, 2012). Erst die grundlegende Untersuchung von Susan Reynolds (1994), die sich die Mühe machte, den frühmittelalterlichen Quellenbestand endlich einmal umfassend auf die gängige Forschungsthese hin zu überprüfen, brachte letztere so sehr ins Wanken, dass ein bis dato international von führenden Wissenschaftlern geteiltes und auch jenseits der Fachdisziplin verbreitetes »Bild der Vergangenheit« heute kaum noch diskutabel erscheint. Man datiert die Entstehung des Lehenswesens nicht mehr vor das ausgehende 11. Jahrhundert, hält es nur noch für eine Gruppenbindung unter vielen und veranschlagt seine eigentliche Blütezeit, in grellem Kontrast zur bisher gültigen Annahme, auf das Spätmittelalter (Patzold, 2012; ­Dendorfer, 2004). Auf diese Weise wurde also durch genaue Untersuchung der geschichtlichen Zeugnisse, in vorgestelltem Fall hauptsächlich von Urkunden, ein »Mythos« der Forschung widerlegt und so die Legitimität des geschichtswissenschaftlichen Forschungsansatzes einmal aufs Neue anschaulich vor Augen geführt. Grenzen der Geschichtswissenschaft als Bewusstseinswissenschaft Umgekehrt vernebelt die übergroße Bedeutung, die der Schrift­ (-lichkeit) von Historikern beigemessen wird, ihnen oft genug den Blick für die Grenzen ihres Verstehens. Der Historiker glaubt, überspitzt gesagt, nur das, was ihm »schwarz auf weiß« vorliegt (bzw. das, was er selbst daraus liest). Die Detailgenauigkeit, die bei der präzisen Textanalyse unerlässlich ist, mündet nicht selten in eine Pedanterie, die dem Detail oftmals den Vorzug einräumt vor dem Gesamtzusammenhang. Letzterer bietet im Vergleich zum festen Untergrund des schriftlich Fixierten nämlich weit weniger Halt und gleicht eher jener »Sumpflandschaft«, über der nach Popper (1935, S. 66 f.) der »Pfeilerbau« der wissenschaftlichen Theorien errichtet wird18 – wobei vielleicht hinzugefügt werden sollte, dass 18 Eine ähnliche Kritik an der Geschichtswissenschaft übte schon Norbert Elias (2002, S. 63; vgl. Klüners, 2016, S. 650, Anm. 9).

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die Geschichtswissenschaft sich häufig mit dem bloßen Einrammen der Pfeiler begnügt, ohne aus ihnen ein allzu komplexes theo­ retisches Gebäude konstruieren zu wollen.19 Die Angst vor dem Verlust der Bodenhaftung, ja dem drohenden Untergang dürfte jedenfalls nicht unerheblichen Anteil an der in deutschen historischen Seminaren häufig zu verspürenden Anspannung, mindestens aber an der Fixiertheit des Historikers auf seine Quellentexte besitzen – sie wenigstens sind ihm ein ausreichend dichtes Gewebe, auf das er, um im Bilde zu bleiben, seine bescheidenen (und wie gesagt oftmals unvollständigen) Bauten im großen Sumpf der historischen Tatsachen gründet. Die Popper’sche Metapher des Sumpfes weckt Assoziationen, die vielleicht auf eine tiefer liegende Problematik verweisen: Am Ende der »31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse« vergleicht Freud die Umwandlung von »Es« in »Ich« mit der »Trockenlegung der Zuydersee« (Freud, 1933a, S. 86). Einige Seiten zuvor bezeichnet er das Es als »Chaos«, als »Kessel voll brodelnder Erregungen« (Freud, 1933a, S. 80). Chaos und Sumpf verbindet das Amorphe, feste Unterscheidungen Auflösende. Die »brodelnde[n] Erregungen« ihrerseits heben die deskriptiven Bilder auf eine gleichsam emotionale Ebene. Folgende Hypothese wird dabei durch diese Metaphorik nahegelegt: Die Quellentexte, auf die der Historiker seine Aussagen stützt, sind ihm deshalb ein fester Grund, weil sie dem Bewusstsein entsprechen, während die umgebende Sumpflandschaft der nicht schriftlich festgehaltenen, höchstens durch Erkenntnisformen jenseits der Quellenexegese zu rekonstruierenden Wirklichkeit (sozusagen der »anderen« Wirklichkeit) korrespondiert. Diese Sphäre ist im Gegensatz zum schriftlich fixierten Wort nicht so leicht überprüfbar. Damit besitzt sie eine strukturelle Parallele zum ebenfalls schwer kontrollierbaren Nichtbewussten. Die emotionale Komponente kommt in der Formulierung der »brodelnde[n] Erregungen« zum Ausdruck. Und tatsächlich sind in Wahrheit maßgeblich Emotionen für das Selbstverständnis der Disziplin verantwortlich: Nur das Überprüfbare verleiht echte Sicherheit. 19 Das gilt natürlich nicht für die Theoretiker des Fachs, die aber innerhalb der »Zunft« oftmals einen eher schwierigen Stand haben.

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Unsicherheit bedingt dagegen Angst. Die Scheu der Historiker vor dem Nichtüberprüfbaren, Nichtschriftlichen, Nichtbewussten ist psychologisch betrachtet, pointiert formuliert, nichts anderes als die Angst vor dem Unbewussten. Schriftzeugnisse hingegen bieten »Sicherheit«, weil sie in der Regel mit einer bewussten Absicht verfasst werden; jedenfalls ist die maßgebliche Beteiligung des Bewusstseins für die Produktion von Schriftlichkeit unabdingbar (vgl. Klüners, 2016, S. 658).20 (Das gilt selbst für fiktionale Texte, auch wenn das Zwischen-den-Zeilen-Lesen, das den engen Rahmen der Rekonstruktion bewusster Absichten überschreitet, in den Aufgabenbereich der Literaturwissenschaft fällt.) Die Fixierung auf das Bewusstsein erklärt auch die im Vergleich zu anderen Humanwissenschaften auffällige Abneigung der Geschichtswissenschaft gegenüber psychoanalytischen Fragestellungen und Theorien.21 Über Nicht-Bewusstes zu reden gilt vordergründig als spekulativ und damit unseriös. So offeriert die Geschichtswissenschaft zwar eine solide kritisch-philologische Arbeit am historischen Quellentext, lehnt sich aber zugleich im Rahmen der – im Übrigen vom Gros der eher praktisch orientierten Historiker wohl kaum jemals auf ihre theoretischen Grundlagen und Probleme hin wirklich eingehend reflektierten – Verstehenshermeneutik nicht allzu weit aus dem Fenster. Auch das mag man als Ausdruck von Solidität werten. Der historischen Erkenntnis sind damit allerdings deutliche Grenzen gesetzt. Die augenfälligste Beschränkung einer Fixierung auf Schriftzeugnisse besteht in ihrer zeitlichen Dimension: Die Geschichte der Schrift beginnt bekanntlich nicht vor dem vierten vorchristlichen Jahrtausend, macht somit nicht einmal ein Prozent der Gattungsgeschichte aus – wobei noch hinzuzufügen wäre, dass der Gebrauch der Schrift sich anfänglich auf geografisch überaus kleine Räume beschränkt und sich nur vergleichsweise langsam ausbreitet. Zudem vernachlässigt die Konzentration auf bewusste, schriftlich festgehaltene menschliche Äußerungen im Grunde alles, 20 Wehlers Plädoyer, auch Quellen als überdeterminiert zu betrachten und daher mit psychoanalytischen Methoden zu untersuchen, verhallte weitgehend ungehört (Wehler, 1971, S. 16). 21 Die Vorbehalte hat Jürgen Straub (1988, S. 17–22) zusammengefasst. Natürlich gibt es Ausnahmen, zu diesen vgl. Klüners (2013, S. 21, Anm. 21; 2016, S. 645); Röckelein (1999a, S. 288–299; 1999b, S. 3–21).

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was den Menschen jenseits von Schriftlichkeit, mindestens aber von Bewusstsein definiert – und damit fundamentale Tatsachen seiner Existenz. Dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als das menschliche Bewusstsein, ist wohl auch dem Fachhistoriker bekannt; nur beschäftigt er sich in der Regel nicht weiter damit. Der Bewusstseinsfetischismus des Historikers als Ausdruck einer tief empfundenen Furcht vor dem Unkontrollierbaren hat übrigens recht eindeutig identifizierbare historische Ursachen: Sie wurde virulent, als jahrhundertelang gültige (im weitesten Sinne reli­ giöse) Narrative ihre Überzeugungskraft verloren.22 Das beginnt folglich nicht erst mit jener Kritik an der Geschichtsphilosophie, die gemeinhin als Gründungsurkunde der modernen Geschichts­ wissenschaft betrachtet wird – es beginnt bereits bei Voltaire, also bevor es eine Geschichtsphilosophie im emphatischen Sinne überhaupt gab. Die heilsgeschichtlich inspirierten Chroniken waren es, deren fabulöse Ungereimtheiten Voltaire mithilfe der Vernunft auflösen wollte (vgl. Anm. 16). Innerweltliches Geschehen war ihm und seinen Zeitgenossen zufolge nicht länger auf das Wirken Gottes rückführbar. Gleichwohl blieben zentrale – insbesondere apokalyptische – Denkmuster un- bzw. vorbewusst erhalten (so ist auch die Geschichtsphilosophie im Grunde nicht viel mehr 22 Dass deutsche Historiker im beschriebenen Sinne besonders große Furcht vor dem Unkontrollierbaren verspüren, ja dass es Deutsche waren, die die kritische Geschichtswissenschaft eigentlich erst erfunden haben, mag (cum grano salis) mit der Wirksamkeit kultureller Narrative zusammenhängen: Die Weltreichlehre, nach der das Römische Reich (in dessen Tradition das bis 1806 bestehende Heilige Römische Reich sich sah) den Antichrist aufhält, war in Deutschland – bezeichnenderweise besonders im protestantischen Raum, aus dem Ranke und Droysen stammten – immerhin bis weit ins 18. Jahrhundert hinein verbreitet, vor allem durch das laut Goez »verbreitetste Schul­ geschichtsbuch der protestantischen Welt«, die kleine Chronik des Johannes Sleidan (Goez, 1958, S. 279). Bereits der renommierte Mediävist Herbert Grundmann bezeichnete es als das »Schicksal« des »deutschen Volkes«, »daß es zum Träger dieser Reichsidee geworden ist, als andere Völker noch nicht die Kraft fanden zur Verwirklichung einer politischen Gesamtordnung. Dadurch hat sich aber unserer Geschichte, unserem politischen und geistigen Leben die Auswirkung mittelalterlicher Zeit- und Reichs­anschauungen tiefer und nachhaltiger eingeprägt als irgendeinem anderen Volk, und deshalb sind wir mehr als andere genötigt und verpflichtet, das Mittelalter zu verstehen, um uns selbst zu verstehen« (Grundmann, 1977, S. 219).

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als eine säkularisierte Geschichtstheologie; Löwith, 1953; vgl. im Folgenden den Abschnitt »Das Schuldgefühl als wichtigstes Problem der Kulturentwicklung«). Und damit sind wir nach diesem psychoanalytisch informierten Exkurs über die von uns als Stellvertreterin des rationalen Prinzips behandelte historische Wissenschaft wieder beim eigentlichen Thema des Aufsatzes, der »Religion«, angelangt. Das Realitätsprinzip Wie bereits ausgeführt: Das Spurenlesen im Sinne einer akribischen, an real gegebenen Fakten orientierten Rekonstruktion des Vergangenen ist nichts, was erst in der Neuzeit erfunden worden wäre. Und auch das damit verbundene Widerlegen von »Mythen« ist kein Privileg moderner Wissenschaft: Die Fährtenleser der San konnten durch die feineren Methoden ihrer »Wissenschaft« die »Mythen« der Prähistoriker über die steinzeitlichen Höhlenbesucher ebenso als unwahr entlarven, wie es die kritisch verfahrenden Wissenschaften der Neuzeit allgemein mit »Mythen« zu tun pflegen. Faktenprüfung ist somit nicht an Stufen kultureller Entwicklung gebunden, für die nach einer bestimmten Theorie das sogenannte »operationale Denken« notwendige Voraussetzung wäre (vgl. Hallpike, 1984 sowie im Folgenden). Es handelt sich vielmehr um eine Form des Wirklichkeitsbezuges, der wahrscheinlich so alt ist wie die Gattung selbst. Entscheidend ist, dass mit der Verabschiedung der Religion diese Form des Wirklichkeitsbezuges vollends in Bereiche vordringt, die zuvor Sache ebenjener Religion beziehungsweise des kulturellen Gedächtnisses (verstanden im Sinne Jan Assmanns, vgl. Assmann, 2018, insbesondere S. 48–66) waren. Es findet hier eine »Verschiebung« statt, die das Realitätsprinzip auf das kulturelle Gedächtnis selbst anwendet. Als Realitätsprinzip bezeichnet die Psychoanalyse jenen Steuerungsmechanismus der Psyche, der den Bedingungen der Außenwelt Rechnung trägt. Es ist ontogenetisch verantwortlich für die »Entwicklung der bewußten Funktionen, Aufmerksamkeit, Urteilsfähigkeit« und »Gedächtnis«, ja sogar für die »Entstehung des Denkens, das als ein ›Probehandeln‹ definiert wird […]«. Der »Ersatz 32

der motorischen Abfuhr« geschieht »durch eine Handlung, die auf eine angemessene Umwandlung der Realität abzielt« (­Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 428). Letztere beiden Punkte nun bilden eine Parallele zu Überlegungen des Soziologen Günter Dux, denen zufolge der menschliche Organismus darauf angewiesen ist, in eine reflexive Beziehung zu seiner Motorik zu treten, »die Struktur der Handlung und die eines Handlungssystems als Anschlußform aus[zu]bilden«, um die Befriedigung von Bedürfnissen realisieren zu können. Die »teleologische Sinnhaftigkeit« des Handlungssystems »ist Ausdruck der Notwendigkeit, die Befriedigung der basalen Bedürfnislage selbst organisieren zu müssen«. Die Verzeitlichung der Motorik bildet dafür die Voraussetzung (Dux, 1989, S. 44). Das Bedürfnis bezeichnet dabei, ähnlich wie bei Freud, die Verbindung von Außenwelt und zeitlicher Binnenorganisation des Körpers (S. 41). Es ist ein gewissermaßen psychologischer Konsens, der hier zwischen Dux’ soziologischer Argumentation und dem psychoanalytischen Verständnis des Realitätsprinzips festgestellt werden kann – denn Dux folgt im Wesentlichen jenem Entwicklungspsychologen, dessen Œuvre wie dasjenige Freuds von beachtlichem Einfluss auf den wissenschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts gewesen ist: Jean Piaget (der seinerseits übrigens von Freud nicht ganz unbeeinflusst war; vgl. Kohler, 2009, S. 87). Darin liegt auch der Grund für entscheidende Parallelen zwischen Dux und dem Werk des Ethnologen Christopher Hallpike, der auf P ­ iagets Entwicklungspsychologie seine eigene vielbeachtete Theo­rie über »Die Grundlagen primitiven Denkens« aufbaut. Auch Hallpike betont mit Piaget die Bedeutung von »Handlungen und deren Koordination«, die bei der Erlangung von Wissen über die Welt an erster Stelle stehen, gefolgt von Bildern, Symbolen und letztlich Zeichensystemen wie der Sprache (Hallpike, 1984, S. 41). Freud aber geht über Piaget, Dux und Hallpike hinaus, indem er zwar ebenfalls das Erreichen von Befriedigungen in der realen Außenwelt, die das Realitätsprinzip gewährleiste, als konstitutiv erachtet, jedoch umgekehrt keinen Zweifel lässt an der Macht seines großen Antagonisten, des Lustprinzips, das über das Unbewuss­ ­te gebiete (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 428). Historisch betrachtet und auf das Beispiel der ­Fährtenleser bezogen, gilt festzuhalten, dass das Realitätsprinzip für das Verhält33

nis zur äußeren Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung ist: Die sichtbare Welt muss, wie heute auch, in ihren für das Dasein relevanten Teilen – bei Jägern und Sammlern heißt das, um es noch einmal zu wiederholen, also: wie »es für die Subsistenzsicherung durch Sammeln und Jagen notwendig ist« (Dux, 1989, S. 185) – realistisch erfasst werden. Für die San ist übrigens nicht nur das Lesen von tierischen, sondern auch menschlichen Spuren essenziell: Es eignet sich beispielsweise dazu, »mit einem Blick auf den Dorfboden zu erkennen, welcher Bewohner vor wie langer Zeit in welche Richtung gelaufen ist, wie weit er sich demzufolge entfernt hat oder ob Fremde eingedrungen sind« (DFG, 2013). Nicht allein tierisches Verhalten, auch menschliches Handeln kann demnach Objekt des Fährtenlesens sein. Folglich wird eine Geschichte rekonstruiert (vgl. oben).23 Da es sich um physisch und nicht schriftlich vorhandene Spuren handelt, die auf ihren impliziten »Sinn« hin befragt werden, liegt näher als der Vergleich mit der textbasierten Geschichtswissenschaft jener mit der Archäologie, die der britische Geschichtsphilosoph Robin George Collingwood einst »zum Schlüssel einer allgemeinen Theorie der Wissenschaften« (Honneth, 2005, S. 221) erhob. Sie zeichnet sich unter den historischen Wissenschaften in der Tat durch besondere Ganzheitlichkeit aus, ist sie doch sowohl auf naturwissenschaftliche Methoden (beispielsweise in Gestalt der Radiokarbondatierung, der Strontiumanalyse etc.) als auch auf »Hermeneutik«, auf das Verstehen des hinter den Spuren sich verbergenden Sinns, angewiesen (Klüners, 2017). Hier ist nun eine so gut wie völlige strukturelle Übereinstimmung mit der Technik des Spurenlesens gegeben, denn auch diese bedarf einer (proto-) »naturwissenschaftlichen« Untersuchung des sinnlich Wahrnehmbaren – der Größe, der Tiefe, der Struktur der Spuren – in Verknüpfung mit einer Rekonstruktion des inneren Sinns dieses sinnlich Wahrnehmbaren. 23 Ginzburg äußert die Vermutung, dass das Modell der Erzählung seine Wurzeln im Fährtenlesen der Jägerkulturen besitzen könnte, denn der Jäger habe die zu interpretierenden Spuren im Sinne einer Erzählfolge ordnen müssen: »Der Jäger war somit vielleicht der erste, der ›eine Geschichte erzählte‹, da es nur ihm gegeben war, aus den stummen (kaum wahrnehmbaren) Zeichen, die seine Beute hinterließ, eine kohärente Ereignisfolge herauszulesen« (Ginzburg, 1985, S. 136; ähnlich auch Ginzburg, 1983, S. 70).

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Der in der Formulierung anklingende Doppelcharakter des Wortes »Sinn« – einerseits den Wahrnehmungssinn, andererseits intrinsischen Sinn, also sowohl »äußeren« als auch »inneren« Sinn in der Definition John Lockes (Ulfig, 1999, S. 379), zu bezeichnen (vgl. hierzu auch Rüsen, 2013, S. 35) – verweist auf die doppelt verfasste Welt, mit der auch schon der paläolithische Fährtenleser zu leben hatte: die sinnlich erfahrbare und die sinnhaft »konstruierte« Welt. Sie bilden idealerweise eine Einheit. »Sinn« Dass das Wort »Sinn« beide Aspekte zugleich umfasst, lässt eine Betrachtung seiner Etymologie adäquat erscheinen. Im Herkunfts­ wörterbuch der Duden-Redaktion liest man hierzu: »Die gesamte germ[anische] Wortgruppe beruht auf der idg. [= indogermanischen, M. K.] Wurzel *sent- ›gehen, reisen, fahren‹, deren ursprüngliche Bedeutung wohl ›eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen‹ war.« Für die auf das lateinische »sensus« zurückgehenden Begriffe in anderen Sprachen gilt Entsprechendes. Das Tätigkeitswort »sinnen« verlor in frühmittelhochdeutscher Zeit zwar seine ursprüngliche Bedeutung »gehen, reisen«, gleichsam bewahrte es jedoch »neben der vorherrschenden Bed[eutung] ›nachdenken‹ bis heute den richtungsbestimmten Sinn ›streben, planen, vorhaben‹ […]« (Duden, 1989, S. 675). Die »indogermanische Wurzel« weist weit in die Vergangenheit zurück – sollte die hier rekonstruierte Bedeutung schon für das Protoindoeuropäische gegolten haben, wäre man damit bereits tief in neolithische Zeit, genauer ins sechste oder gar siebte Jahrtausend v. Chr., vorgedrungen (Haarmann, 2010, S. 42). Das Fährtenlesen oder, allgemeiner, das Sich-Orientieren in einer konkret gegebenen Umwelt unter Maßgabe des oben erwähnten »teleologisch« verfassten Handlungsprinzips (Dux, 1989, S. 44) wäre nach dieser linguistischen Rekonstruktion also der ursprüngliche Gehalt des Begriffes »Sinn«, wie ihn zumindest die indoeuropäische Sprachfamilie verwendet, und damit des »allgemeinste[n], nicht transzendierbare[n] Medium[s] für jede Formbildung, das psychische und soziale Systeme verwenden können« (Luhmann, 35

2000, S. 15). Sämtliche solcher Systeme definieren und reproduzieren nach Luhmann ihre Operationen einzig in dem Sinn genannten Medium (S. 16). Er vertritt jedoch die Ansicht, dass keinerlei System imstande ist, jegliche Adaptationen an die Umwelt vermittels Kognition zu erfassen (Pickel, 2011, S. 122). Damit ist Luhmann sich im Prinzip mit Freud einig, der eigentlich nur eine etwas andere Terminologie verwendet; das »Unbeobachtbare« Luhmanns weist strukturelle Ähnlichkeiten mit dem »Unbewussten« der Psychoanalyse auf. Die Problematik, über Sinngehalte zu kommunizieren, die eigentlich »für Bewußtsein unzugänglich« sind, erfordert nach Luhmann erst die Verwendung von ­Metaphern »wie Dahintersein, In-etwas-Sein, Unsichtbarkeit, Unabbildbarkeit« (Luhmann, 2000, S. 41). Die Unbeobachtbarkeit des Systems – oder auch die mangelnde bewusste Verfüg- und Kontrollierbarkeit des Unbewussten – ist nun aber konstitutiv für die Entstehung der Religion: »Wenn die Welt und die laufend vorauszusetzende Angepaßtheit der Systeme sich der Beobachtung und erst recht der kognitiven Verarbeitung entziehen: Wie kann das System dann so etwas wie Sinnvertrauen entwickeln? Und die Vermutung liegt nicht ganz fern, daß hierfür Religion zuständig ist« (Luhmann, 2000, S. 47).

»Glaube«: Von den sichtbaren zu den unsichtbaren Dingen Die andere Wirklichkeit Die Unterscheidung von Beobachtbarem und Unbeobachtbarem (Luhmann, 2000, S. 34) gemahnt nicht von ungefähr an die alte theologische Differenz von Sichtbarem und Unsichtbarem.24 Gert Pickel setzt die Luhmann’sche Unterscheidung gleich mit jener 24 Auch die christlichen Geschichtsexegeten sahen ihre Aufgabe darin, die »sichtbare« Geschichte auf das unsichtbare Wirken Gottes hin zu befragen. Vgl. u. a. den Prolog des vierten Buchs der Chronik des Otto von Freising (Otto von Freising, 1960, S. 290) sowie vor allem Augustins »De civitate Dei« (Augustinus, 1955, S. 10, S. 14). Zu Augustinus vgl. ferner Kersting (1991, S. 61).

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»zwischen dem beobachtbaren Diesseits und dem unbeobachtbaren Jenseits«. Später ersetzt Luhmann sie durch diejenige von Immanenz und Transzendenz, die seiner Ansicht nach das signifikant Religiöse bestimmt (Pickel, 2011, S. 125). Auch Wildbeuterkulturen unterscheiden bereits eine ­sinnlich wahrnehmbare Welt und eine nicht sinnlich wahrnehmbare, »unsichtbare« Welt: »die andere Wirklichkeit«, wie die Ethnologin Felicitas Goodman es nennt.25 Goodman erkennt Parallelen zwischen pristinen Anschauungen über diese andere Wirklichkeit und Platons Ideenlehre.26 Die »Dualität der Wirklichkeit« ist allem Anschein nach eine zeiten- und kulturübergreifende Universalie (Goodman, 1994, S. 56, vgl. auch S. 17), wenngleich die konkrete Gestalt, die die unsichtbare Welt in den Vorstellungen der unterschiedlichen Völker annimmt, als »abhängige Variable« aufzufassen ist und nach dem Vorbild der realen Umwelt gestaltet wird. So glauben Wildbeuterkulturen beispielsweise, dass ihnen in der Anderswelt die Geister der ihnen aus der tatsächlichen Welt geläufigen Tiere begegnen, wohingegen Gartenbauern in der anderen Wirklichkeit den eigenen gleichende Siedlungen vermuten (S. 60). Während der Zugang zur sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt schon bei Jägern und Sammlern in den für das Überleben wichtigen Aspekten ein realistischer sein muss, dessen konsequenteste Ausformung wir im Modell des Fährtenlesens erblickt haben, wird die »andere« Wirklichkeit grundsätzlich mit anderen Mitteln erfasst als die sinnlich wahrnehmbare Welt. Ist also, in psycho­analytischer Begrifflichkeit, das Realitätsprinzip zur Orientierung in der realen Umwelt unerlässlich, so steht unserer These zufolge das Bild der anderen Wirklichkeit unter dem bestimmenden Einfluss jenes Prinzips, das dem »Vermeiden« beziehungsweise 25 So der Titel der religionsvergleichenden ethnologischen Studie von Felicitas Goodman (1994). Zur »anderen Wirklichkeit« bei Wildbeutern vgl. Goodman, 1994, S. 94–103. 26 Goodman zitiert einen Angehörigen der Oglala-Sioux diesbezüglich wie folgt: Häuptling »Crazy Horse träumte und betrat die Welt, in der es nur die Geister aller Dinge gibt. Das ist die wirkliche Welt, die sich hinter dieser befindet, und alles, was wir hier sehen, ist nur ein Schatten dessen, was sich in jener anderen befindet« (Goodman, 1994, S. 59).

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dem »Abfluß der unlustvollen Spannung« dient und das Freud als »Lustprinzip« bezeichnet (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 297). Wie gesagt, beherrscht das Lustprinzip vor allem das Unbewusste. Traumzeit und Traum Einer der kardinalen Zugänge zum Unbewussten in der Psychoanalyse ist der Traum. Er ist zugleich das Modell für die »Traumzeit« (zu dieser vgl. u. a. Bowie, 2008, S. 128–131), wie die Aborigines die »mythische Schöpfungsepoche«, »den Prozess der Gestaltung, Form- und Sinngebung allen Lebens« nennen (Wernhart, 2004, S. 117).27 Als »substanzlogische Fassung für das unfaßbare Geschehen im Ursprung von Zeit und Raum« bezeichnet Günter Dux die Traumzeit (Dux, 1989, S. 173). Rüsen (2013, S. 47) unterscheidet in seiner Historik die Welt des Mythos, die er der »Traumzeit« gleichsetzt, mit der Welt der Historie, die innerweltliches Geschehen beinhaltet.28 Nach Assmann ist die Traumzeit der sinnfällige Begriff für die »absolute Vergangenheit«, die in »kalten« Gesellschaften die Ewigkeit bezeichnet (Assmann, 2018, S. 78). »Traumzeit« bezieht sich also nicht nur auf die Vorstellungswelt konkreter australischer Stämme, sondern wird grundsätzlich als Synonym für den »Mythos« schlechthin gebraucht. Schon Paul Ricœur (1969, S. 17) attestierte Freud, den Mythos als eine Art »Wachtraum der Völker« begriffen zu haben. Mythos und (Wach)traum verbindet das Moment der Phantasie. Sie steht in augenfälligem Gegensatz zu jenem Prinzip, das den Zugang zur realen Umwelt reguliert, dem oben behandelten Realitätsprinzip. Phantasien analysiert Freud in der »Traumdeutung« nach dem Muster der Tagträume und demonstriert, dass ihre Struktur derjenigen des nächtlichen Traums entspricht (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 390). Den nächtlichen Traum selbst jedoch definiert Freud als »Wunscherfüllung« (Freud, 1900a, S. 127; Überschrift zum 3. Kapitel); als Wunscherfüllungen begreift Freud darüber hi­ 27 Mit der »Festzeit« setzt sie Jan Assmann gleich (Assmann, 2018, S. 57). 28 Historie kann freilich zur Religion werden, wenn diese sich auf reales innerweltliches Geschehen bezieht (Rüsen, 2013, S. 48; Assmann, 2018, S. 296).

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naus im Prinzip alle Bildungen des Unbewussten, also außer dem Traum auch Symptome oder eben Phantasien. Bewusste und unbewusste Phantasien modifizieren das Erfassen des Realen ebenso wie Handlungen (Klüners, 2015, S. 506). Ja »das Leben des Subjekts in seiner Gesamtheit« kann als »geformt durch […] ein System von Phantasien« verstanden werden, die ihrerseits die Aufgabe von Wunschinszenierungen haben (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 392 f.). Den besonderen – irrational anmutenden – Charakter der Bildungen des Unbewussten erklärt Freud am Beispiel des Traums mit der Konservierung einer aus frühkindlicher Zeit stammenden, d. h. »primären, als unzweckmäßig verlassenen Arbeitsweise des psychischen Apparats«, die in der Außenwelt mit fortschreitender Reifung aufgegeben werden musste, sich aber u. a. im Schlaf noch behauptet: »Das Träumen ist ein Stück des überwundenen Kinderseelenlebens« (Freud, 1900a, S. 572 f.). Wenn man mit Luhmann annehmen darf, dass der hauptsächliche Zweck von Systemen in der Reduktion von Komplexität besteht (Pickel, 2011, S. 123), dann lässt sich der Befund in dieser Allgemeinheit auch auf die Traumarbeit und Hervorbringungen des Unbewussten generell anwenden: Der manifeste Trauminhalt, das Symptom, die Phantasie erweisen sich vor allem aufgrund ihres verdichteten, überdeterminierten Charakters als Komplexitäts­ reduktionen. Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos. Das Irrationale: Mythos und Unbewusstes Freud ist grundsätzlich darin zuzustimmen, Mythen und religiöse Vorstellungen im Sinne jener psychischen Vorgänge und Prinzipien zu interpretieren, die er insbesondere bei der Analyse von Träumen studieren konnte. Der nach Maßstäben des Realitätsprinzips irrationale Charakter dieser Vorstellungen, der die basale Voraussetzung dafür bildet, dass im Zuge zunehmender Rationalisierung und damit auch Polarisierung »Vernunft« und »Glaube« überhaupt als Gegensatzpaar begriffen werden konnten, lässt sich wohl am ehesten befriedigend erklären, wenn man ihn als Ausdruck psychischer Realitäten auffasst und seine Beziehungen zum Unbewussten erhellt. Das »System Ubw«, wie Freud es in seiner 39

Abhandlung über das Unbewusste nennt, trägt ohnedem viele Züge, die dem Mythos als »Zeit der Zeitlosigkeit« (Wernhart, 2004, S. 19) zu eigen sind: »Die Vorgänge des Systems Ubw sind zeitlos, d. h. sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch die verlaufende Zeit nicht abgeändert, haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit. […] Ebensowenig kennen die U ­ bw-Vorgänge eine Rücksicht auf die Realität. […] Widerspruchs­ losigkeit, Primärvorgang (Beweglichkeit der Besetzungen), Zeitlosigkeit und Ersetzung der äußeren Realität durch die psychische sind die Charaktere, die wir an zum System Ubw gehörigen Vorgängen zu finden erwarten dürfen« (Freud, 1915e, S. 286).

Dies stützt wiederum zusätzlich die Vermutung, dass es sich bei den Vorstellungen über die »andere« Wirklichkeit um zum Unbewussten gehörende Vorgänge handelt. Das methodische Problem bei der psychoanalytischen Interpretation von Mythen besteht jedoch in der Anwendung von aus der Deutung individueller (Tag-)Träume gewonnenen Techniken auf nichtindividuelle Vorstellungswelten. So ist der individuelle Traum und die durch ihn zum Ausdruck kommende Wunscherfüllung ohne ein Wissen um die persönliche Geschichte des Träumenden kaum aufzulösen. Was aber soll nun bei der Analyse von Mythen die Stelle der persönlichen Geschichte einnehmen?29 Zwar mag man davon ausgehen, dass der Mythos, darin strukturell dem Traum gleichend, eine Verarbeitung all jener »Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte« darstellt, die nach Karl Wernhart »in einer verflochtenen holistischen (ganzheitlichen) Beziehung zur Transzendenz (im wörtlichen Sinn verstanden als die über das Bewusstsein des Menschen hinausgehende Dimension)« stehen und in dieser Form eine religiöse Universalie bilden (Wernhart, 2004, S. 11). Aber wie der individuelle Traum zum großen Teil auch von spezifischen Umwelt­ erfahrungen abhängt, so handelt es sich, wie schon erörtert, bei der »anderen« Wirklichkeit ebenfalls um eine »abhängige Variable«, 29 Ähnliche Probleme stellen sich bei der Anwendung psychoanalytischer Methoden auf die hermeneutische Interpretation von Texten (vgl. Straub, 1999, S. 280–295, unter Bezugnahme auf Alfred Lorenzer).

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die nur im Wissen um die Geschichte und das konkrete Verhältnis der betreffenden Gesellschaft zur Umwelt sinnvoll interpretiert werden kann. Der Bedeutung der persönlichen Biografie für die individuelle Traumdeutung entspricht also bei der Deutung religiöser Vorstellungen das Wissen über die jeweilige Gesellschaft, idealerweise im Kontext der kulturvergleichenden Forschung. Vor allem an einem solchen Wissen mangelte es Freud selbst, weshalb seine Versuche über den Totemismus (Freud, 1912–1913a) oder die monotheistische Religion (Freud, 1939a) als weitgehend gescheitert betrachtet werden müssen, wenngleich sich auch in diesen Schriften vereinzelt durchaus anschlussfähige Gedanken finden (Klüners, 2013, S. 211–248). Entwicklungspsychologie oder Psychoanalyse? Abgesehen von den methodischen Schwierigkeiten entzündet sich Kritik an dem Umstand, dass Freuds Begrifflichkeit, die er unbekümmert auf kulturelle Sachverhalte übertrage, sich hauptsächlich der Untersuchung pathologischer Phänomene verdanke.30 Der bereits genannte Ethnologe Christopher Hallpike hält daher die psychoanalytische Verdrängungstheorie für nicht geeignet, den »unbewußten Symbolismus«, der religiösen Vorstellungen zugrunde liege, angemessen und erschöpfend zu interpretieren: Der Terminus der »Verdrängung« könne höchstens einen Teil unbewusster Symbolbildung erklären, das Unbewusste umfasse zudem weit mehr als lediglich das Unterdrückt-Psychische. Weit größeres Erklärungspotenzial für das »primitive Denken« als das Freud’sche Konzept der Verdrängung besitze hingegen das des »begrifflichen Realismus« im Sinne Jean Piagets (Hallpike, 1984, S. 189 f.).31 Hallpikes Kritik an der psychoanalytischen Verdrängungstheorie ließe sich allerdings entgegnen, dass nicht alle unbe30 Ähnlich schon die zeitgenössische Kritik aus der Entstehungszeit der Psychoanalyse (Newmark, 2004, S. 53). 31 Hallpike benutzt den Ausdruck »primitiv« nach eigener Aussage wertneutral, im Sinne von »uranfänglich« (1984, S. 9). Deutlich vernehmbar ist der Einfluss Piagets auch in der folgenden Formulierung: »[…] jede Assimilation, die nicht durch Akkommodationen äquilibriert wird und nicht zu absicht-

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wussten »Wunschregungen« zwingend Produkte einer pathogenen Verdrängung sein müssen. Freud schreibt in seiner berühmten Abhandlung über »Das Unbewußte«, selbiges setze sich in seinem Kern zusammen »aus Triebrepräsentanzen, die ihre Besetzung abführen wollen, also aus Wunschregungen« (Freud, 1915e, S. 285). Die Wunschregung als solche hat demnach tiefere Wurzeln, lässt sich auch aus psychoanalytischer Perspektive schlechterdings nicht auf »Unterdrücktes« reduzieren und korrespondiert in ihrem Ursprung vielmehr, wie im Abschnitt »Das Verhältnis von Leib und Seele im Verständnis der Psychoanalyse« bereits angedeutet, dem ubiquitären physischen »Bedürfnis«, dessen zentrale Bedeutung ja auch Hallpike anerkennt. Es hat unseres Erachtens folglich wenig Sinn, im Zuge der Überlegung, welche psychologische Theorie die Eigenarten des »primitiven«, »wilden« oder religiösen Denkens am schlüssigsten zu deuten vermöge, die Psychoanalyse gegen die Piaget’sche Entwicklungspsychologie auszuspielen. Ihre jeweiligen Schwerpunkte sind so unterschiedlich, dass sie kaum als einander ausschließende Alternativen, sondern stattdessen als wechselseitige Ergänzungen aufgefasst werden müssen. Die kognitive Entwicklung und die affektiv-libidinöse Entwicklung verlaufen nun einmal zeitlich pa­rallel; man darf letztere daher vielleicht in einem gewissen Sinne als »Unterbau« der ersteren begreifen. Hans G. Furth definiert die Libido entsprechend als die motivationale Kraft, die den Akkommodationen überhaupt erst zugrunde liegt; Piaget habe sich mit dem Wie, d. h. vor allem mit Organisation, Mechanismen und Strukturen, Freud dagegen mit dem Warum, d. h. den emotionalen, triebökonomischen und energetischen Aspekten von Handlungen und Symbolbildungen befasst (Furth, 1990, insbesondere S. 14 f., S. 21–25).32 lichen Verallgemeinerungen führt, bleibt ganz allgemein sowohl im affektiven als auch im intellektuellen Bereich unbewußt« (S. 190). 32 Letztlich setzen Freud und Piaget nur unterschiedliche Akzente. Für Freud speist sich das menschliche Bewusstsein aus zwei Quellen, der Innen- und der Außenwelt: »Der Inhalt des Systems Vbw (oder Bw) entstammt zu einem Teile dem Triebleben (durch Vermittlung des Ubw), zum anderen Teile der Wahrnehmung« (Freud, 1915e, S. 293; vgl. auch S. 302 f.). Dies bedingt zwei unterschiedliche Welt- bzw. Selbstbezüge, deren Unterschiedlichkeit

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So bietet der erwähnte »begriffliche Realismus« Piagets tatsächlich eine überzeugende Analyse des Wie, also der kognitiven Mechanismen, die letztlich auch bestimmte Weltbilder zu formen imstande sind. Der begriffliche Realismus ist charakteristisch für das kindliche Erleben des präoperativen Stadiums, das noch nicht zwischen dem subjektiven Bild eines Gegenstands und dessen tatsächlichen Eigenschaften zu differenzieren gelernt hat. Dass zum Beispiel beim Aufheben eines Steins die eigene Muskelkraft aktiviert wird, schreiben Kinder gewöhnlich einer dem Stein innewohnenden »Kraft« zu. Der begriffliche Realismus ist nach Hallpike (1984, S. 31 f.) maßgeblich für die Entstehung animistischer Vorstellungen verantwortlich und »ein im Denken primitiver Völker überall anzutreffender Aspekt« (S. 487)33. Diese Völker unterschieden sich von der modernen westlichen Kultur vor allem durch das größere Gewicht, das sie den bildhaften, nichtsprachlichen symbolischen Vorstellungen beimäßen (S. 165). Wie im Abschnitt »Das Realitätsprinzip« bereits angedeutet, ist Hallpike, auch hier fußend auf Piaget und in Übereinstimmung mit dem seinerseits von Piaget beeinflussten Günter Dux, überzeugt, dass die Handlungskoordinierung und nicht die Sprache das erste Modell zur Ordnung der Welt im Leben eines Kindes ist (S. 41).34 natürlich erst dort zum Problem wird, wo ein ursprüngliches Gleichgewicht gestört wurde. Der Innenwelt, die Freud wesentlich durch das »Triebleben« geprägt sieht, entsprechen bei Piaget die Vorstellungen: »Für Piaget wird die kognitive Entwicklung des Kindes gefördert durch das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen für eine Akkommodation an die Umgebung einerseits und den inneren Vorstellungen von dieser Wirklichkeit, an die es diese zu assimilieren versucht, andererseits« (Hallpike, 1984, S. 25). Es ist hier freilich nicht der Ort, um die Parallelen und Widersprüche der Theorien Freuds und Piagets erschöpfend zu behandeln. Piaget hat dazu selbst Stellung bezogen (Piaget, 1978). Vgl. zudem neben dem zitierten Furth (1990) die Liste bei Kohler (2009, S. 87, Anm. 160). 33 An anderer Stelle heißt es: »Wir werden sehen, daß das Muster der späteren Stadien des präoperativen Denkens (artikulierte Anschauung) im allgemeinen am besten zum primitiven Denken paßt, auch wenn sich unter günstigen Umständen konkrete Operationen entwickeln« (Hallpike, 1984, S. 41). 34 Phylogenetisch ist die Sprache darüber hinaus ebenfalls nicht die älteste menschliche Kommunikationsform; die Gestik, die Verständigung über Gebärden, geht jener zeitlich voran (Goodman, 1994, S. 23–25). Goodman betont die Rolle der Gestik für (gerade in jüngerer Zeit auch in den Fokus der Geschichtsforschung gerückte) Rituale (S. 26).

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An diesen Punkt nun ließe sich aber wiederum mithilfe der psychoanalytischen Theorie anschließen, derzufolge die »Sachbesetzungen der Objekte, die ersten und eigentlichen Objekt­ besetzungen«, im Unbewussten verortet sind, während »das System Vbw entsteht, indem diese Sachvorstellung durch die Verknüpfung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird. Solche Überbesetzungen, können wir vermuten, sind es, welche eine höhere psychische Organisation herbeiführen« (Freud, 1915e, S. 300). Michael Wetzel (1991, S. 391) attestiert dem beschriebenen Konzept zweier Assoziationsketten eine enge Verwandtschaft mit der entsprechenden Unterscheidung von Signifikant und Signifikat durch Saussure. Es wäre zu eruieren, ob das für das »wilde Denken« konstitutive Bricolage-Prinzip, auf dessen Beziehungen zu Saussures Theorie Lévi-Strauss selbst aufmerksam macht (Lévi-Strauss, 2018, S. 29–36; zu Saussure: S. 31), nicht in einer sehr grundlegenden Weise auf den Assoziationsreihen aufruht, die Freud gewissermaßen als Scharnier zwischen bewusst und unbewusst verstand (vgl. zu »Assoziation«: Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 75–77). Freuds oben zitierte Annahme über das Prius der Sach- vor der Wortvorstellung verleitet zu der Hypothese, dass phylo­genetisch die Entwicklung der Sprache die von ihm beschriebene höhere seelisch-geistige Organisation erforderlich gemacht hat, die das für den Menschen Typische definiert. In einer kombiniert ontound phylogenetischen Betrachtung der Bedeutung, die die Sprachentwicklung für die psychische Organisation besitzt, läge theoretisch auch das Potenzial, zwischen Freud und Piaget in den geschilderten Punkten zu vermitteln: Das Prius der Sachvorstellung vor der Wortvorstellung beziehungsweise des Bildes vor der Sprache ist schließlich etwas, das beide Denker auf je eigene Weise miteinander teilen. Beide betonen zudem die Wichtigkeit der Handlungskoordination für die Entwicklung des Denkens. Eine ­psychologisch-anthropologische Perspektive, die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse synthetisiert, ihr Augenmerk nicht hauptsächlich auf Pathologien, sondern »Normalentwicklungen« legt und so möglicherweise anthropologische Universalien zu benennen imstande wäre, könnte auch zur Erforschung religiöser Vorstellungen Entscheidendes beitragen. 44

Dass Freud mit seiner eigenen Mythenanalyse eher neue My­­ then geschaffen hat (so auch Lévi-Strauss, vgl. Klüners, 2013, S. 216), als jene schlüssig zu erklären, spricht jedenfalls nicht prinzipiell gegen eine Anwendung psychoanalytischer Theorien, insbesondere über Traumarbeit und Phantasie, auf Phantasien im kollektiven Imaginären primordialer, aber auch funktional differenzierterer Gesellschaften. Wie bereits angeklungen, zollt Freud nicht zuletzt in seinen metapsychologischen Überlegungen auch psychischen Normalentwicklungen Rechnung: »Solange das System Bw Affektivität und Motilität beherrscht, heißen wir den psychischen Zustand des Individuums normal« (Freud, 1915e, S. 278). Das heißt vor allem auch: wenn kein Konflikt zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten besteht, der zu pathologischen Verzerrungen des Verhältnisses der Systeme führt, die insbesondere die Affektivität der Kontrolle des Bewusstseins entgleiten lassen und den Strebungen des Unbewussten ausliefern. Frühestens in einem solchen Fall, darf man annehmen, entfaltet das Unbe­ wusste überhaupt erst seine destruktive Wirkung und gerät in einen Gegensatz zum Bewusstsein. Denn »beim reifen Menschen« spielt das Unbewusste lediglich die Rolle einer »Vorstufe der höheren Organisation«. Das Verhältnis der Systeme sei zudem oft genug das »der Kooperation«. Und nicht nur die Phantasiebildungen der Neurotiker, sondern auch die der »Normalen« sind als »Abkömmlinge« des Unbewussten zu begreifen, die nicht immer die Schwelle zum Bewusstsein durchbrechen (Freud, 1915e, S. 288–290). Sollte man nicht als »Normalzustand« ein Gleichgewicht der Systeme vermuten dürfen, die sich idealerweise nicht gegenseitig behindern? Das käme dann auch der Überzeugung Piagets entgegen, der im Denken »ein sich selbst regulierendes System« erkennt, das grundsätzlich darauf zielt, »in ein Gleichgewicht mit seiner Umgebung zu kommen, indem es stabile Vorstellungen konstruiert, die die Veränderlichkeit und Schwankungen eben dieser Umwelt überwinden« (Hallpike, 1984, S. 20). Zur »Umgebung« des Systems »Denken« zählt aber realiter nicht nur die äußere Umwelt, sondern auch unbewusst Psychisches, das auf das Denken Einfluss nimmt.35 35 Auch Piaget unterstreicht, »daß in der Praxis jedes Denken unlösbar mit affektiven Assoziationen und Motiven verquickt ist, welche es beflügeln, aber

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Trance und Transzendenz In der aufgeklärten, Rationalitätsidealen verpflichteten Gesellschaft sind Träume vermutlich die auffälligste Erscheinung, die sich mit diesen Idealen, mit dem Logos, nicht so recht vertragen wollen; so nimmt es nicht wunder, wenn es Träume sind, die der Psychoanalyse zunächst als der zentrale Zugang zur Welt des Nichtrationalen und letztlich auch zum Mythos gelten. Und wenngleich sich zwischen Mythengenese und Bildungen des Unbewussten, insonderheit der Traumarbeit, verwandte Mechanismen aufdecken lassen, so muss zugleich konstatiert werden, dass Träume selbst vermutlich zwar einen vielleicht nicht geringen, aber wohl nicht den entscheidenden Anteil an der Entstehung von Religion besitzen. Selbstredend sind Überlegungen über Anfänge und anfängliche Inhalte der Religion notwendigerweise immer spekulativ. Aber im Sinne einer gewissen Wahrscheinlichkeit fügen sich bestimmte Tatsachen zu einem Gesamtbild, das zumindest nicht unplausibel erscheint. So ergaben bereits in den 1960er Jahren durchgeführte Studien, dass 92 Prozent der zu diesem Zweck untersuchten kleinen Ethnien das Phänomen religiöser Trance kannten (Goodman, 1994, S. 48).36 Zudem verwenden sämtliche Kulturen einen Begriff für »Religion«, der sich in der Regel aus drei Komponenten zusammensetzt, von denen zwei stets auf das Erlebnis religiöser Trance rekurrieren. Trance ist für die Religion daher fundamental (S. 17).37 In enger Verbindung zur Trance steht der Schamanismus, der gewissermaßen die religiöse Trance in Gestalt des Schamanen institutionalisiert; dieser »ist Spezialist für alles, was mit dem Phänomen Seele zusammenhängt«. Er ist Mittler zwischen den Wirklichkeiten, heilt Krankheiten sowie »das gestörte Selbstverständnis des Patienauch behindern, und daß die Assimilation selbst durch unbewußte Verfahren vor sich geht« (Hallpike, 1984, S. 53). 36 Auch Hallpike nennt Trancezustände ein weltweit vorkommendes Phänomen (Hallpike, 1984, S. 547). 37 Goodman (1994, S. 17) unterscheidet solche Erlebnisse grundsätzlich von Träumen, die anders strukturiert seien. Allerdings lässt ihre pauschale Feststellung, die Elemente der Träume seien im Unterschied zu denen der Trance »gewöhnlich flach«, gewisse Zweifel an einem rechten Verständnis der Träume und ihrer Bedeutung aufkommen.

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ten« und versucht außerdem, soziale Konflikte zu lösen. Er (bzw. sie) ist demnach die zentrale Instanz für die Wiederherstellung eines bedrohten psychischen und/oder sozialen Gleichgewichts (Wernhart, 2004, S. 137–139). Dass bereits die San und folglich Wildbeuter die Trance als Heilmittel und Seelenfahrt kennen, deutet auf ein potenziell hohes Alter hin (Goodman, 1994, S. 89 f.). Schamanismus ist prinzipiell der Mystik zu vergleichen (S. 50), der schama­ nistische »Himmelsflug […] wird als der älteste fassbare Ausdruck mystischen Erlebens betrachtet« (Wernhart, 2004, S. 138). Der Prähistoriker Hermann Müller-Karpe und auch der Theologe Siegfried Vierzig gehen davon aus, dass schon die paläolithischen Urformen der Religion eine Art früher Mystik gewesen seien (Müller-Karpe, 2005, S. 15 f.; Vierzig, 2009, S. 178). Das seelische »Außersichsein« verleihe dem Menschen Anteil an der anderen Wirklichkeit.38 Die Herkunft des Wortes »Geist«, wenngleich jüngeren Datums (was aber aufgrund des universalen Charakters religiöser Trance zu vernachlässigen ist), verweist auf Ähnliches: Seine ursprüngliche Bedeutung lautet so viel wie »Erregung, Ergriffenheit«. Daraus entstanden später sowohl »Geist, Seele, Gemüt« als auch »überirdisches Wesen, Gespenst« (Duden, 1989, S. 226). Die »geistige« Welt und affektive Erregung und Ergriffenheit, wie sie am intensivsten in Zuständen der Trance beziehungsweise einer unio mystica erlebt werden, stehen zueinander demnach in enger Beziehung. Der ursprünglichste Sinn von Religion dürfte also die Introspektion, ein Innewerden und Insichschauen gewesen sein, nicht zuletzt mit der Zielsetzung, das Gleichgewicht zwischen Innen und Außen zu gewährleisten oder, im Fall von Störungen, wiederherzustellen. In der Trance und den sich durch sie vermittelnden Bildern 38 Vierzig versucht, anhand von Analogien zum Schamanismus eine steinzeitliche Religion zu rekonstruieren: »Was die Steinzeit-Religion mit dem Schamanismus verbindet, ist zum einen, dass der Zustand ekstatischer Trance einen fundamentalen Teil der Religiosität darstellt, und zum anderen der Umstand, dass der Kosmos nicht nur die Realwelt umschließt, sondern dass zu ihm eine Anderwelt gehört, in der die Wiedergeburt geschieht, symbolisiert in der Unterwelt der Höhle, aber auch der Gräber. So wie der Schamane die Fähigkeit hat, als Wanderer zwischen den beiden Welten zu fungieren, so lebt der Steinzeit-Mensch in seinen Ritualen ebenfalls in zwei Welten, denn auch er verfolgt das Ziel eines psychischen Außersichseins, das ihm Anteil gibt an der Anderwelt« (Vierzig, 2009, S. 178).

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und Phantasien wird man den eigentlichen Schöpfer mythischer Vorstellungen zu erblicken haben; und da für die innere Wirklichkeit andere Gesetzmäßigkeiten gelten als für die Außenwelt, muten die Produkte der ersteren wenigstens im Sinne eines an den Maßstäben der Außenwelt gewonnenen Realitätsparadigmas grundlegend »irrational« an. Die transzendente Welt ist zu einem guten Teil die Welt der religiösen Trance.39 Entscheidend ist jedoch der generell gültige therapeutische Sinn der religiösen Trance, der mittlerweile mit ethnomedizinischen und ethnopsychologischen Ansätzen erforscht und dabei auch auf seine Parallelen zu modernen psychotherapeutischen und psychoanalytischen Methoden hin befragt worden ist (Wernhart, 2004, S. 138; Heller, 1990, S. 164).40 Trancezustände, vor allem unter Hypnose, sind allgemein aus der psychotherapeutischen Arbeit bekannt (A. Müller u. Stickel, 2010). Bevor Freud sich der Analyse der Träume zuwandte, waren solche Trancezustände insbesondere bei Hysterikerinnen eines der von ihm untersuchten pathologischen Phänomene, ebenso wie Halluzinationen unter Hypnose. Ludwig Janus sieht die noch das Instrument der Hypnose nutzende frühe Psychoanalyse entscheidend von Merkmalen der Tiefenregression bestimmt, wobei Tiefenregression »die Aktualisierung von Erlebniszuständen und Körperbefindlichkeiten aus der vorsprachlichen Zeit« meint. Die spätere Abwendung Freuds von der Hypnosetechnik sei vor allem aus dem Bestreben heraus geschehen, die Behandlungsmethode auf ein kognitives, durch Sprache geprägtes Niveau zu heben, und trage dabei durchaus nicht den Charakter totaler Verwerfung (Janus, 1990, S. 69). Die Trance hingegen kann vergleichsweise leichter ebenso aus vorsprachlicher Zeit stammende Erinnerungen reaktivieren, die ein fundamental anderes Erleben der Wirklichkeit zur Voraussetzung haben. Dies machen sich auch gegenwärtige Hypnosetherapien zunutze, die den Patien39 Dass ihr konkreter Inhalt abhängig von der jeweiligen Umwelt und Gesellschaft und damit eine im Grunde historisch variable Größe ist (vgl. Goodman, 1994, S. 55), wurde bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung von der Anderswelt erwähnt. 40 Heller gibt die verbreitete Ansicht wieder, der Schamanismus sei die weltweit am häufigsten vorkommende und zugleich älteste Psychotherapieform (Heller, 1990, S. 164).

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ten teilweise in Trancen von »tiefer Versunkenheit« versetzen, in denen die unbewussten Mechanismen mit ihren sehr spezifischen Eigenschaften vorherrschen (A. Müller u. Stickel, 2010, S. 15). Im Zuge voranschreitender Trance nimmt der verbale Charakter des Denkens immer weiter ab, das Denken wird gleichzeitig bildhafter (S. 22).41 Das Vermögen der Psyche zur Informationsverarbeitung auf ganz unterschiedlichen Ebenen erlaubt im Zustand der Trance die Ingangsetzung von Lernprozessen, die unbewusst ablaufen »und unabhängig von der bewussten Selbststeuerung andere Assoziationsmuster entstehen lassen, die therapeutisch wirksam sind« (S. 19). Der unmittelbarere Zugang zum nichtbewussten Psychischen rechtfertigt es nach Müller und Stickel, die Trance mit einer »Sonde ins Unbewusste« zu vergleichen (S. 135).42 Ein zen­ traler Unterschied zwischen der religiösen und der hypnotherapeutischen Trance besteht freilich darin, dass erstere in der Regel nicht auf die individuelle Lebensgeschichte des Patienten zielt (Heller, 1990, S. 176). Dennoch weisen die Mechanismen eine auf Tieferes hindeutende Verwandtschaft auf. Wenn es richtig ist, dass die Trance maßgeblich verantwortlich ist für transzendente Vorstellungen und gleichzeitig der direkteste Weg zum Unbewussten, dann bestätigt dies erneut die These, dass das Unbewusste der Quell der transzendenten Vorstellungen 41 Heller vermutet, »daß die averbale Kommunikation zwischen dem Schamanen und dem Kranken präverbale Erlebnisstrukturen aktiviert« (Heller, 1990, S. 176). Ludwig Janus bezieht die »Schamanenreise« konkret auf geburtliches und vorgeburtliches Erleben und definiert sie als dessen »bildliche Wiederbelebung und Symbolisierung«. Die Trommel des Schamanen stehe dabei für »den mütterlichen Herzschlag«, seine Rassel für »die Darmgeräusche« (Janus, 2011, S. 166). 42 Die dortige Beschreibung von Trancezuständen unter Hypnose erinnert an Charakteristika der religiösen Trance: »Vor allem in tiefer Trance treten bei geöffneten Augen positive und negative Halluzinationen auf« (A. Müller u. Stickel, 2010, S. 16). »Der Patient hat die Empfindung, sich um die eigene Achse zu drehen« (S. 17). »Die Dissoziation ist ein völlig normales, kein pathologisches Phänomen, […]« (S. 18). »In der Trance ist diese Bindung der Wahrnehmung und des Denkens an die logischen Kategorien des Wachbewusstseins teilweise oder ganz aufgehoben. […] In Trance-Reisen erkundet die hypnotisierte Person Phantasiewelten, in denen die Naturgesetze der physikalischen Welt nicht mehr gelten und die nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktionieren« (S. 20).

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ist. Im Anschluss an Luhmann ließe sich auch formulieren: Das Unbeobachtbar-­Unbewusste entspricht der »Transzendenz« selbst. Das Schuldgefühl als wichtigstes Problem der Kulturentwicklung Außer der Theorie des Unbewussten, deren Bedeutung für ein Verständnis des Religiösen wir bereits diskutiert haben, bietet die Psychoanalyse folgende weitere Annahmen, die für die Untersuchung nicht nur der Religion in historischer Perspektive, sondern der Kultur­geschichte im Allgemeinen unseres Erachtens von nicht geringerer Wichtigkeit sind: So begreift Freud einerseits »die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung« und »Religion« grundsätzlich als »Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich […], welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud, 1971, S. 98).43 Dass andererseits die sich zwischen den Generationen großteils unbewusst abspielende Kommunikation eine geschichtlich wirksame Kraft ist, gehört zu den zentralen anschlussfähigen Gedanken von Freuds Kulturanalyse, eine These, die er u. a. in »Totem und Tabu« vertritt (Klüners, 2013, S. 217). Der von der Psychoanalyse ungeachtet der Kritik an Freuds Triebtheorie nach wie vor vertretene Dualismus von Libido und Aggression »als Motor allen Handelns« (Mertens, 2000, S. 18) ist das dritte basale Theorem, auf das eine psychoanalytisch informierte historische Untersuchung von Kultur und Religion sich gründen sollte. Alle drei verdichten sich schließlich in Freuds Überzeugung, wonach »das Schuldgefühl […] das wichtigste Problem der Kulturentwicklung« (Freud, 1930a, S. 493 f.) sei. Der Glaube an eine »Schuld« der Menschen ist Bestandteil vieler Religionen; am pointiertesten ist vermutlich die christliche Lehre von der »Erbsünde«. In letzterem Begriff fallen Schuld und transgenerationale Weitergabe zusammen. Schuld leitet sich von dem Tätigkeitswort »sollen« her (Duden, 1989, S. 652). Nach Gün43 Diese Dialektik ist der entscheidende gemeinsame Nenner von Freuds Kulturtheorie und Hegels Geschichtsphilosophie (vgl. Klüners, 2013, S. 75).

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ter Dux ist das »Sollen« eine besondere Form der Strukturierung menschlichen Verhaltens, das in der Interaktion mit Artgenossen auf Regeln angewiesen sei. Wichtige Regeln würden zu Normen ausgeformt. Diese »Verzeitigung der Interaktion in Normen« sei für die menschliche Existenzform basal (Dux, 1989, S. 69). Die Strukturierung seines Verhaltens erlerne das Kind insbesondere in der Interaktion mit einem »immer schon kompetenteren anderen«, der für es maßgeblich die Außenwelt repräsentiere (S. 47). Dies steht nicht in Widerspruch zu der psychoanalytischen Theorie, dass dem Kind durch Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen Verhaltensnormen vermittelt werden, die es im Rahmen einer psychischen Verarbeitung solcher Interaktionen als »Über-Ich« verinnerlicht. Nun bestehen aber offensichtlich große Unterschiede in der Art und Weise, wie solche Normen vermittelt und folglich auch, wie sie verinnerlicht werden. Dass diese Unterschiede von grundlegender kultureller Bedeutung sein können und sogar die Spezifik ganzer Kulturformen erklären helfen, betont Hallpike. So gehört es nach seiner Auffassung zu den markanten Eigenschaften primordialer Gesellschaften, dass »[d]ie Erziehung […] durch Teilnahme, im Kontext realer Aufgaben und nicht so sehr durch verbale Belehrung außerhalb des Kontexts [geschieht]« (Hallpike, 1984, S. 162). Dagegen lernten die Kinder in der modernen urbanen Gesellschaft nicht in erster Linie durch Mitwirkung am Gemeinschaftsleben, sondern teils in separierten Bereichen wie der Schule, teils vermittels ausdrücklicher verbaler Belehrung durch die Erwachsenen (S. 47 f.). Kulturen unterscheiden sich ergo durch jeweils spezifische Arten von Normenvermittlung, oder, psychoanalytisch ausgedrückt: durch spezifische Formen der Über-IchBildung. Explizitere Normenvermittlung führt, so darf man annehmen, zu expliziterer Ausgestaltung eines Über-Ichs.44 Damit in

44 Ara Norenzayan stellte die These auf, dass erst das Anwachsen der menschlichen Gesellschaften die »Big Gods« – d. h. allwissende, in das Geschehen eingreifende Götter mit der Funktion moralischer »Wächter« – notwendig gemacht habe, weil nur so die in Face-to-Face-Gemeinschaften noch weitgehend unproblematische Normenkontrolle habe aufrechterhalten werden können: »Believers who feared these gods cooperated, trusted, and sacrificed for the group much more than believers in morally indifferent gods or

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engem Zusammenhang steht der Problemkomplex des kulturellen Schuldgefühls, das in religiösen Vorstellungen thematisiert wird. Fassbar wird eine solche Thematisierung erstmals bei früh­ agrarischen Gesellschaften am Übergang vom Stadium des Jagens und Sammelns zur Sesshaftigkeit. Zum festen Repertoire ihrer Mythen gehört nach Klaus E. Müller die Überzeugung von einem einstigen Verstoß gegen göttliche Gebote im Sinne eines »Sündenfalls« und einer daraus folgenden Strafe, die der aus der biblischen Erzählung bekannten Vertreibung aus dem Paradies ähnelt. Die vom Schöpfer nach der Vertreibung den Menschen gewisser­ maßen zur Demonstration eines Gnadenerweises geschickten Kulturstifter­heroen hätten sie aber letztlich nicht nur den Bodenbau und die Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs, sondern auch die Regeln eines friedlichen sozialen Miteinanders gelehrt, sodass sie trotz ihrer Verfehlungen noch in einer »quasiparadiesischen Welt« leben durften (K. E. Müller, 2010a, S. 148).45 Wenn solche gesellschaftlichen Regeln erstmals explizit problematisiert werden, ist dies ein Indiz dafür, dass sie de facto, gemessen jedenfalls an einem vorherigen Zustand, zum Problem geworden sind.46 Das Zusammenleben scheint einen Teil seiner Selbstverständlichkeit verloren zu haben. In der Tat sind die frühagrarischen Pflanzerkulturen nicht mehr die egalitären Gesellschaften der Wildbeuterzeit (zu diesen vgl. u. a. Helbling, 1987).47 Den Teilgruppen der jeweiligen Gemeinschaft kommen unterschiedliche Aufgaben und Rechte zu; die erwachsenen Männer und die Ältesten sind beispielsweise verantwortlich für die Normenkontrolle und genießen den höchsten Status, während die Ehefrauen aufgrund des Exogamiegebots meist aus fremden und damit als weniger »zivilisiert« geltenden gods lacking omniscience« (Norenzayan, 2013, S. 8). Eine statistische Untersuchung bestätigte jüngst diese These (Whitehouse et al., 2019). 45 Müller hat diesen Kulturen, die er die »›Standardgruppe‹ der Ethnologie« nennt (K. E. Müller, 2010a, S. 146), sein Hauptwerk gewidmet (K. E. Müller, 2010b). 46 Die Verschiebung des Augenmerks »von den Tiergeistern auf das Zusammenwirken der Menschen untereinander« in den Erzählungen der Gartenbauern stellt auch Goodman fest (Goodman, 1994, S. 74). 47 Wildbeuterkulturen sind für das Verständnis menschlicher Angelegenheiten zentral: Sie bilden in einem sehr grundsätzlichen Sinn die Folie dafür, wie es eigentlich gemeint gewesen.

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Ethnien stammen und erst »akkulturiert« werden müssen. Vor allem die Geburt von Söhnen erhöht das Ansehen der Ehefrauen. Mythische Vorstellungen dienen auch dazu, die »Ungleichheiten und Abhängigkeitsverhältnisse« zwischen den einzelnen Teilgruppen zu rechtfertigen (K. E. Müller, 2010a, S. 150–153). Der Status der Frau in Verbindung mit der männlichen Normenkontrolle ist bei der Betrachtung kultureller Über-Ich-­Bildungen von besonderem Interesse. Der Rechtshistoriker Uwe Wesel (1980), der der »Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften« eine eigene Monografie widmete, geht davon aus, dass gleichzeitig mit der Entstehung relativer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern infolge des Zwangs zur Produktion von Kindern auch der soziale Druck auf die Familie zugenommen habe. Zudem sei nicht nur die Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern auch die zwischen Kindern und Eltern im Vergleich zur Wildbeutergesellschaft verfestigt, der »emotionale Zusammenhalt« der Familienmitglieder intensiviert worden. Auch wenn man immer noch von de facto herrschaftsfreien Strukturen auszugehen habe, hätten diese doch gleichsam entschieden an Flexibilität und Offenheit eingebüßt (Wesel, 1980, S. 91–94). Die Veränderungen im sozialen, vor allem familiären Gefüge und insbesondere die implizite Abwertung der Frau können nicht ohne Rückwirkungen auf die Psyche der Gemeinschaftsmitglieder und letztlich auch auf die spezifische Über-Ich-Bildung geblieben sein. Als Hypothese sei formuliert, dass die neuartigen Belastungen die Entstehung von »Depressionen« – vielleicht nicht in einem heute geläufigen Sinne, sondern einer besonderen, kulturbezogenen Ausformung – begünstigt haben könnten.48 Infolge der zen­ tralen Bedeutung der Mütter für die Sozialisation des Nachwuchses gerade in der frühen Kindheit wäre diese Tatsache von kaum 48 Fiona Bowie referiert die Theorie Peggy R. Sandays, derzufolge die Abwertung der Frau mit dem Verlust eines Gefühls von Sicherheit im Zuge pro­ blematisch gewordener Umweltbedingungen Hand in Hand gehe. Problematische Umweltbedingungen verursachen demnach eine stärkere Orientierung der Gesellschaften in Richtung einer nunmehr erstmalig als bedrohlich empfundenen Außenwelt. Frauen wie Natur würden als »potentially dangerous and in need of control« erfahren (Bowie, 2008, S. 121, S. 132). Es werden wie gesagt vor allem die (psycho-)sozialen Folgen veränderter Umweltbedingungen gewesen sein, die zur Schlechterstellung der Frauen geführt haben.

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zu überschätzendem Gewicht im Hinblick auf die psychosoziale Entwicklung einer Gemeinschaft.49 Historisch gesehen bleibt es nicht bei den innergesellschaft­ lichen Verschiebungen. Hauptsächlich im Zuge eines seit der Neolithisierung an verschiedenen Orten des Planeten festzustellenden Bevölkerungswachstums nehmen auch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Ethnien zu (Harris, 1989, S. 217–226). Irgendwann entsteht Herrschaft. Der Ethnologe Marvin ­Harris nimmt an, dass eine an die neuen Gegebenheiten angepasste männliche Erziehung zu einer Verschärfung der ödipalen Problematik geführt habe (S. 356). Es wäre in der Tat zu zeigen, welche psychologischen Konsequenzen die »Sozialdisziplinierung« – um hier einmal einen eigentlich aus der Erforschung von kriegerischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit stammenden Begriff (vgl. O ­ estreich, 1969) zu bemühen – in archaischen Kulturen nach sich zieht; dies könnte beispielsweise Aufgabe der Ethnopsychoanalyse sein. Was die Schriftkulturen angeht, so lässt sich im Umfeld der mittelmeerischen Gesellschaften der späten Bronzezeit jedenfalls eine neuartige Behandlung des Schuldthemas beobachten, welche allgemein »die Strafe an die Schuld, […] die Folge an die Tat bindet« (Assmann, 2018, S. 236). Sie ist letztlich verantwortlich für einen anderen Umgang mit der Geschichte, die als Tun-Ergehen-­ Zusammenhang gedeutet wird, und wirkt dynamisierend auf das kulturelle Gedächtnis sowie das Verhältnis des Menschen zu seinen Göttern. Die Geschichte erhält das Gepräge einer Beichte, Notzeiten den Sinn einer Strafe, Götter werden zu Aufsehern über menschliches Handeln und »zu Instanzen der Rechenschaft« (S. 297). Jan Assmann schreibt hierzu weiter: »Im Zeichen der Schuld wird die Geschichte lesbar, d. h. sie erfüllt sich mit Sinn, wird semiotisiert bzw. ent-trivialisiert. […] In der Verkettung der Ereignisse manifestiert sich nicht irgendeine abstrakte historische Kausalität, sondern 49 Goodman zum Beispiel konstatiert bei Gartenbaukulturen »überwältigende Schuldgefühle«, die sie mit der »Vergewaltigung der Mutter (Erde)« in Zusammenhang bringt; diese hätten erstmals auch die Vorstellung »eines Weltuntergangs« provoziert, »durch den die Schändung der Erde geahndet« werden soll (Goodman, 1994, S. 31). Hier mag man eine Spiegelung psychologischer Vorgänge vermuten.

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der strafende Wille einer erzürnten Gottheit, die mit jedem Ereignis ein neues, schrecklicheres Zeichen ihres Zornes sendet« (S. 243 f.). Schuld wird, von Mesopotamien bis nach Rom, zum Auslöser für verstärkte »Erinnerung und Selbstthematisierung«. Ursächlich ist das Erlebnis des Leidens. Letzteres steht im Gegensatz zur Annahme einer zyklischen Wiederkehr. Durch die »Semiotisierung des Leidens« wird folglich »die Kreisläufigkeit der Zeit und die Kontingenz der Geschichte durchbrochen« (S. 244). Das lineare Verständnis von Geschichte einschließlich Anfang und Ziel derselben gewinnt im Zeichen von Schuld und Leiden an Gewicht. Drastisch sind zum Teil die sprachlichen Bilder der Bibel zur Charakterisierung des zürnenden Gottes: »[…] du hast uns mit Zorn überschüttet und verfolgt und ohne Barmherzigkeit erwürgt« (Klagelieder Jeremias 3:42–43, hier zit. nach K. E. Müller, 2010a, S. 165). Die Idee einer drohenden Vernichtung aufgrund menschlicher Verfehlungen, aufgrund von Schuld, liegt, in universalisierter Form, auch dem Christentum zugrunde: Das Jüngste Gericht steht in jedem Fall bevor; allein der Herr weiß Zeit und Stunde.50 Das kulturelle Über-Ich ist grausam geworden; nie war das Paradies ferner. Auch in der säkularisierten Zivilisation der Moderne wirken diese religiösen Erzählungen nach: »Der Westen denkt apokalyptisch«, wie der Mediävist Johannes Fried (2001, S. 9) es formuliert. Die apokalyptische Angst vor dem Weltende hat seiner Meinung nach nicht nur als Motor der Entstehung einer auf Überprüfbarkeit der Fakten basierenden modernen Naturwissenschaft gewirkt,51 sondern bildet das Ferment auch noch für sehr gegenwärtige Weltuntergangsszenarien, die sich auf »CO2, Ozonloch, Klimakatastrophe, Luftverseuchung, Ölpest, Umweltzerstörung« 50 Weltende ist die absolut gewordene Steigerung von innerweltlicher Strafe. Das Heil kann nun nicht mehr innerweltlich sein. Laut Müller galt das schon für Jesus von Nazareth selbst: »Für Jesus von Nazareth stand fest, dass die Dinge bereits entschieden waren. Die Zeit der Propheten, mit Johannes dem Täufer als letztem, lag hinter ihm. Das Ende der Welt stand unmittelbar bevor. Alsbald, verkündigt er seinen Jüngern, ›werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen‹« (K. E. Müller, 2010a, S. 165). 51 Man vergleiche die bereits beschriebene These von der Angst als Motor der modernen Geschichtswissenschaft, die sich als Korrektiv des kulturellen Gedächtnisses versteht.

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und Ähnliches beziehen (Fried, 2016, S. 259). Schon Jahrzehnte vor Fried analysierte Karl Löwith die moderne Geschichtsphilosophie, deren Heilslehren in Gestalt von Ideologien im 20. Jahrhundert ganz handfeste, globale politische Konsequenzen zeitigten, als Erbin eschatologischer Glaubensgewissheiten; Ideologien fußen demzufolge auf säkularisierter Theologie und genau wie die Herausbildung der modernen Wissenschaft auf der Furcht vor den Letzten Dingen (Löwith, 1953).52 Apokalyptisches Denken prägt also nach wie vor eine Welt, aus der sich die Religion als hauptsächliche Sinnbildnerin und Sinnstifterin weitestgehend verabschiedet hat.53 Seine psychologische Voraus­ setzung – gewisse Typen kultureller Über-Ich-Bildung und ein damit in Zusammenhang stehendes basales kulturelles Schuld­gefühl  – harrt dagegen noch ihrer wissenschaftlichen Untersuchung.54

Conclusio Es fällt nicht eben leicht, die bisherigen Ausführungen, welche dem Leser nicht zu Unrecht mitunter etwas ausschweifend vorgekommen sein werden, in vergleichsweise wenigen Worten zusammenzufassen. Leider liegt der ausschweifende Charakter in der Thematik selbst begründet, sodass zwar der Verfasser diesbezüglich entlastet, für die Klarheit seiner Argumentation aber möglicherweise nicht viel gewonnen ist. Wir wollen daher am Schluss versu52 Zur Kritik vgl. Baumgartner (1996, S. 166 f.), der eine feinere Begriffsbestimmung vornimmt: Nicht die »Eschatologie«, also der Glaube an die Letzten Dinge, sondern die »Ekklesiologie« als Glaube an das eben noch nicht eingetretene Ende sei in Wahrheit säkularisiert worden. 53 Dies gilt in erster Linie für den Westen, aber eben auch für die ehemals – oder nach wie vor – »sozialistischen« Länder und damit eben doch für den größeren Teil des Planeten. Die islamische Welt bzw. der politische Islam stellen global betrachtet wohl eher die Ausnahme dar. Auch das wachsende Bedürfnis nach Religiosität außerhalb der institutionalisierten Religion (vgl. Wernhart, 2004, S. 149–152) stellt die These vom Verlust der maßgeblichen (mindestens aber offiziellen) Sinnstiftungsfunktion nicht grundsätzlich infrage. 54 Ausnahmen bilden u. a. Cremerius (1989), Janus (2011, S. 185).

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chen, durch die Formulierung einiger zentraler Sätze und Thesen Ordnung in das Dickicht zu bringen: Ȥ Zentraler Begriff und Inhalt der Religion ist – kulturübergreifend – die Seele. Ȥ Religiöse Vorstellungen über den Ursprung der Seele und eine geistige Sphäre jenseits der physischen Welt thematisieren implizit die gleichen Fragen, die heutzutage im Zentrum erkenntnisund wissenschaftstheoretischer Überlegungen stehen. Ȥ Die Seele ist trotz ihrer vorläufigen (vielleicht auch voreiligen) Verabschiedung aus der wissenschaftlichen Weltanschauung nach wie vor Dreh- und Angelpunkt menschlichen Denkens über sich selbst. Ȥ (Aktuelle panpsychistische Positionen rehabilitieren sogar auf einer menschliche Belange überschreitenden Ebene die Annahme der Existenz eines Seelischen bzw. Mentalen, das nicht auf Materie reduzierbar ist.) Ȥ Die Psychoanalyse begreift die Teleologie des Wunsches als Kon­ stituende des Seelischen, die dialektisch mit dem physischen Bedürfnis verschränkt ist, überwindet die cartesische Trennung der Substanzen und operiert wieder mit der Kategorie der »Seele«. Ȥ Die modernen Wissenschaften – und zwar sowohl die Beobachtungs- als auch die hier ausführlicher behandelten historischen Wissenschaften – beruhen, wie schon das Fährtenlesen pristiner Kulturen, auf dem Realitätsprinzip. Nicht das Realitätsprinzip selbst, sondern vor allem der Bereich seiner Anwendung macht das spezifisch Wissenschaftliche des wissenschaftlichen Weltbezuges aus. Ȥ Vernunft und Glaube haben das Potenzial, zueinander in einen Gegensatz zu geraten, weil Realitäts- und Lustprinzip dieses Potenzial aufweisen. Je mehr das Realitätsprinzip – oder auch die »Vernunft« – in Bereiche vordringt, die dem Lustprinzip – beziehungsweise dem »Glauben« – vorbehalten waren, desto offensichtlicher wird der zwischen ihnen waltende Konflikt. Ȥ Das Lustprinzip beherrscht das Unbewusste. Dem Unbewussten entspricht das Unbeobachtbare der Religion, den Bildungen des Unbewussten die (ursprünglichen) Bildungen des Religiösen. Ȥ Die Bildungen des Unbewussten stellen nach psychoanalytischem Verständnis Wunscherfüllungen dar. In einem sehr all57

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gemeinen Sinne sind auch die Bildungen des Religiösen als Wunscherfüllungen (bzw. -inszenierungen) zu interpretieren. Ihre große Bedeutung ist u. a. die Konsequenz der Tatsache, dass der Wunsch als psychisches Komplement des Bedürfnisses ebenso ubiquitär ist wie dieses. Der oftmals irrational anmutende Charakter der Bildungen des Religiösen resultiert aus dem Umstand, dass ihr Ursprung zu großen Teilen im »Kinderseelenleben« zu verorten ist. Denn sowohl nach psychoanalytischer wie auch nach entwicklungspsychologischer Auffassung (zu dieser vgl. auch Oesterdiekhoff, 2010, S. 224 f.) prägen unterschiedliche Erfahrungsschichten und damit Informationssysteme, kindliche wie erwachsene, die menschliche Psyche (vgl. Janus, 2011, S. 67). Insbesondere aus vorsprachlicher (und hier insbesondere aus vorgeburtlicher) Zeit stammenden Erfahrungen eignet vordergründig ein fremdes, irrationales Gepräge. Die mutmaßlich ursprünglichste Form der Religion ist die religiöse Trance, deren Aufgabe es ist, das psychische und soziale sowie das Gleichgewicht zwischen Innen und Außen zu wahren. Sie erreicht ihr Ziel, indem sie zwischen den psychischen Erfahrungsschichten und Informationssystemen vermittelt und sie idealerweise miteinander in Einklang bringt. Ihr hauptsächliches Instrument ist die Introspektion. Religion ist damit ihrem Ursprung nach eine Form der Seelenkunde. Sie hat vornehmlich psycho- und sozialtherapeutische bzw. äquilibrierende Funktion. Die sozialen Veränderungen am Übergang zur Sesshaftigkeit bedingen psychische und folglich auch religiöse Veränderungen, die in kulturellen Thematisierungen von gesellschaftlicher Schuld greifbar werden. Es besteht eine Kausalverknüpfung zwischen neuartigen psychischen Belastungen, insbesondere der Mütter, und dem zunehmenden Verlust der einstigen Gewissheit, dass Mutter Erde ihre »Kinder« nährt, schützt und annimmt.

Das Verhältnis von Innen und Außen, von bewusst und unbewusst ist konstitutiv nicht nur für die wissenschaftlich legitimierte Seelenkunde, sondern bei näherem Hinsehen auch für ihre ursprünglicheren Formen, die man sich als Religion(en) zu bezeichnen gewöhnt 58

hat. Die Parallelen von Unbewusstem und Transzendentem verweisen dabei auf die zugrunde liegende Relation: Das Unbewusste bildet in gewissem Sinne ja durchaus die Schnittstelle zwischen dem Individuum und der es transzendierenden, über-individuellen Ordnung, in die es eingebettet ist – gleich, ob man letztere als »natürlich« oder »übernatürlich«, physisch oder metaphysisch begreift. Ob es allerdings außer dem Atman noch ein Brahman gibt, bleibt eine Frage des Glaubens.

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Jörn Rüsen Die roten Fäden im Gewebe der Geschichte – Historischer Sinn zwischen Immanenz und Transzendenz

Warum Fäden? Wenn es darum geht, den Sinn der Geschichte zu ergründen, fragt man nach dem roten Faden, der die Geschehnisse der Vergangenheit zu einer Geschichte für die Gegenwart zusammengefügt. Man fragt, wie der Faden beschaffen ist und wer mit ihm die Ereignisse der Vergangenheit, die für die Gegenwart wichtig sind, zu einer einheitlichen Darstellung zusammennäht. Wenn eine solche Frage, landläufig als Frage nach dem »Sinn der Geschichte« formuliert, im Blick darauf beantwortet wird, was sich als Gebilde von Geschichte zur Analyse darstellt und anbietet, dann breitet sich ein Panorama unübersehbarer Vielfalt von Phänomenen aus. Das trifft insbesondere dann zu, wenn nicht nur die eigenen (also westlichen) Traditionen des historischen Denkens und seiner Manifestationen infrage kommen, sondern wenn der Vielfalt von Kulturen in Raum und Zeit Rechnung getragen werden soll (soweit das für einen einzelnen Betrachter möglich ist). In dieser Vielfalt stellt sich der Sinn der Geschichte – sei es als Qualität der zeitlichen Abfolge von Geschehnissen in der Vergangenheit, sei es als Qualität des denkenden Umgangs mit dieser Abfolge selbst – in Vielfalt und Divergenz dar. Das gilt für die eigene Kultur und dann auch für die vergleichende Betrachtung anderer Kulturen. Je nach den geistigen Gebilden, in denen sich Geschichte darstellt, geht es um verschiedene Fäden, wenn man die Fülle der Phänomene berücksichtigen will. Allerdings teilen diese Fäden eine bestimmte Eigenschaft, die mit der Farbe »rot« metaphorisch angesprochen wird. Sie verknüpfen das Geschehen der Vergangenheit in der Form eines sinn- und bedeutungsvollen zeitlichen Zusammenhangs, und sie manifestieren sich in der Darstellung 65

dieses Zusammenhangs als maßgebenden Gesichtspunkt seiner gedanklich-­sprachlichen Kohärenz. Die folgenden Überlegungen beginnen mit der Analyse dessen, was einen Faden der Geschichte rot macht. Diese Farbmetapher bezeichnet das, was landläufig »Sinn« genannt wird. Was also heißt »Sinn der Geschichte«? Wenn man diese Frage gründlich beantworten will, so ist es zunächst erforderlich, sich klarzumachen, was überhaupt mit »Sinn« gemeint ist. Dazu sind längere Überlegungen erforderlich, da es sich um eine fundamentale Bestimmung des geistigen Umgangs des Menschen mit seiner Welt und mit sich selbst handelt. Dieser Umgang wird nach drei Hinsichten analysiert, in denen er sich vollzieht: Raum, Zeit und menschliches Selbst. Daran schließen sich Überlegungen zur Religion als besonderer Form menschlicher Sinnbildung an. Sie kann als Folge des umfassenden Verwestlichungsprozesses der Moderne aus dem Blick des Interesses an Geschichte geraten. Der Säkularismus der modernen Geschichtskultur droht sie als obsolet geworden an den Rand der intellektuellen Diskurse zu schieben. Ihr Sinnverlangen und ihr Sinnangebot stehen in einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis zur rein innerweltlichen Geschichtskultur der Moderne. Dort wurde der Zugang zur Religion mit dem Verdikt eines sacrificium intellectus belegt, das auch heute noch seine Wirkung entfaltet, wenn es um die Begründung und Verteidigung des wissenschaftlich-rationalen Umgangs mit Geschichte geht. Zwar wurde der Religion in jüngerer Zeit einige Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie sich partout dem Entzauberungsgebot einer wissenschaftlichen Form der kulturellen Orientierung entzog; aber sie blieb ein Stiefkind der akademischen Sinnbildung. Inzwischen gibt es einige Zweifel an dieser intellektuellen Marginalisierung. Schließlich lässt es sich nicht leugnen, dass nicht alle Hinsichten und Ausführungen religiöser Sinnbildung säkularisierbar, d. h. durch innerweltliche Deutungen ersetzbar und überwindbar sind. Erst wenn diese allgemeinen und fundamentalen Sinnbestimmungen analysiert worden sind, kann die spezielle Ausformung dieser Sinnbestimmungen im Umgang mit »Geschichte« als einem eigenen Bereich der kulturellen Selbst- und Weltdeutung ins Auge gefasst werden. Der Phänomenbestand »Geschichte« ist hochkom66

plex. Seine innere Vielfalt soll nicht einfach durch allgemeine Überlegungen zur Logik der historischen Sinnbildung unterlaufen werden. Vielmehr soll es darum gehen, ihn begrifflich zu ordnen und dieser Ordnung gemäß auch unterschiedliche Sinnkriterien und Strategien der historischen Sinnbildung zu unterscheiden und ihr Verhältnis zueinander zu analysieren.

Was ist Sinn? Sinn ist die Fähigkeit des Menschen, seine äußere und innere Welt wahrzunehmen, zu verstehen und zu behandeln. Er hat eine leibliche Seite, die Sinne. Sie sind die psycho-physische Ausstattung des Menschen, mit der er wahrnehmungsfähig ist. Zugleich bezieht sich »Sinn« aber auch auf das Wahrgenommene und bezeichnet dessen Verständlichkeit. Diese Verständlichkeit betrifft das Wahrgenommene, die Erfahrungsinhalte, und gibt ihnen eine Bedeutung für die Orientierung des menschlichen Lebensvollzuges in Raum und Zeit und in der Subjektivität der Menschen. »Sinn« nennt man die Bedeutung von etwas im Unterschied zu seiner äußeren Gestalt. Mit dieser Bedeutung wird es verständlich. Insofern ist der Sinn von etwas die Bedingung der Möglichkeit dafür, es zu verstehen. Bezogen auf menschliches Handeln, bezeichnet »Sinn« seine Ausrichtung auf ein Ziel oder einen Zweck, hat also eine teleologische Bedeutung. »Sinn« ist Vollzug und Resultat des menschlichen Geistes im Umgang mit der (äußeren und inneren) Welt. Er ist als bewusster Denkprozess aufs engste an Sprache gebunden. Er konstituiert Kultur als eigene menschliche Daseinssphäre, die untrennbar mit allen anderen Sphären (wie Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Umwelt) verbunden ist. Ihm kommt Ursprünglichkeit und Autonomie zu; er ist nicht ableitbar von anderen (etwa »ursprünglicheren«) Determinanten des menschlichen Lebens. »Sinn« ist untrennbar mit der menschlichen Sinnlichkeit verbunden. Er hat insofern keine rein metaphysische Qualität als von der »Natur« (der Leiblichkeit des Menschen) unabhängige Größe. Der Sinnbegriff bringt also die Doppelnatur des Menschen zum 67

Ausdruck, sinnliches Lebewesen als Teil der Natur und »über«-­ natürliches, nämlich kulturelles Lebewesen zu sein, das sich seine Welt über alle Natur hinaus und oft genug auch gegen die Natur schafft. Insofern ist »Sinn« eine fundamentale und konstitutive Bestimmungsgröße des Menschen als Menschen, hat also genuin anthropologische Bedeutung. Man könnte sagen: der Sinn des Sinns ist der Mensch. Dieser Selbstbezug macht den Menschen erst zum Menschen, zum Kulturwesen, das sich sinnbildend seine Natur aneignen und als Kultur, als »zweite Natur«, hervorbringen muss. Dies geschieht durch sein handelndes (und immer auch leidendes) Umgehen mit seiner Welt. Die menschliche Subjektivität bildet sich nicht einfach durch die sprachliche Leistung der Deutung seiner Lebensumstände, sondern durch sein Handeln in und mit ihnen. Sinn erschließt dem Handeln nicht nur seine Tätigkeitsbereiche, sondern macht es zielbewusst (oft auch: unbewusst); er gibt ihm eine teleologische Struktur. Immanuel Kant spricht den Menschen als solchem unangesehen jeder konkreten Lebensform »Würde« zu. Würde heißt für ihn, dass der Mensch in seinem bloßen Menschsein immer mehr ist als ein Mittel für die Zwecke anderer Menschen, sondern ein Zweck in sich selbst (Kant, 1968, S. 569). Diese Selbstzweckhaftigkeit ist in der »Ich-lichkeit« der menschlichen Subjektivität1 grundsätzlich angelegt. Kant bezieht sich auf das Phänomen der »Zweckrationalität«: Alles menschliche Handeln ist zweckgeleitet (bewusst oder unbewusst); es realisiert seine Zwecke, in dem es dazu passende Mittel mobilisiert. Im Anschluss an Max Weber lassen sich daher zwei handlungsleitende universelle Rationalitäten unterscheiden: Sinn- und Zweckrationalität (Weber, 1968, S. 565). Sie sind logisch zugleich klar trennbar und doch untrennbar miteinander verbunden. Reine Zweckrationalität (eigentlich müsste es »Mittel-« oder »instrumentelle Rationalität« heißen) ist sinnlos und stellt sich in ihren kulturellen Kontexten als Problem (Mittel des Handelns können seine Zwecke dominieren) dar. Reine Sinn- oder Wert­ rationalität ist ebenfalls problematisch, weil sie den menschlichen 1

Von »ich-licher Aktivität« spricht Edmund Husserl in »Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik« (1948, S. 63).

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Lebensvollzug von den technischen Möglichkeiten abspaltet, auf die er notwendig, um leben zu können, Bezug nehmen muss. Diese spannungsreiche Dimensionierung des menschlichen Handelns trägt sich in der Ethik als Verhältnis zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik aus. Reine Gesinnungsethik, der es nur um die Verwirklichung der normativen Vorgaben (Zwecke) des Handelns geht, setzt sich über die stets vorgegebenen Umstände des Handelns hinweg und kann ihnen gegenüber zerstörerisch wirken, also den Menschen seiner Lebenschancen berauben. Demgegenüber verlangt eine Verantwortungsethik, die Umstände des Handelns und seine Folgen zu berücksichtigen. Sie stellt also eine notwendige Ergänzung, ja Vervollkommnung der Gesinnungsethik dar, der es nur um die Zwecke und ihre treibende Kraft der Handlungsmotivation geht. Sinn ist in Wahrnehmung und Deutung als Vorgabe der Welt an den Menschen und Aufgabe des Menschen in der Welt stets prekär und in dauernder Bewegung. Er liegt nämlich genau dort, wo die Bedürfnisse des Menschen nach der inneren und äußeren Ordnung seiner Welt mit den gegebenen Bedingungen seines Lebens zusammenstoßen. Das Grundmotiv des menschlichen Handelns hat Thomas Jefferson in der amerikanischen Unabhängigkeits­ erklärung »pursuit of happiness« genannt. Dieses Glücksstreben geht immer auf mehr als die Wirklichkeit hergeben will. Goethe hat das im »Faust« (1808, Vers 1112–1117) so ausgedrückt: »Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen: Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.«

Durchgängig ist die menschliche Bedürfnis-»Natur« (besser wäre es, von Bedürfniskultur zu reden) von einer inneren Dynamik geprägt: die Erfüllung von Bedürfnissen erzeugt neue Bedürfnisse. »Satt an Sinn«– das dürfte die äußerste Ausnahme einer Lebenssituation sein. Es gibt sie, aber sie wird als Ausnahme, als seltener Glücksfall, wahrgenommen. Dieser Erfüllung gegenüber steht 69

die Erfahrung des Sinnverlustes in traumatischen Vorgängen der Unmenschlichkeit. Zwischen beiden Extremen geschieht Sinn im Wechselspiel von Bedingungen der Vorgabe an Lebenschancen und der Arbeit daran, diese Vorgaben lebensdienlich zu erhalten oder zu machen. Der seltenen Sinnerfüllung steht die »Unruhe des Herzens« entgegen, die Augustinus (2016; Confessiones I, 1) als Triebkraft des menschlichen Geistes angesehen hat und von der er meinte, dass sie nur in einer die Welt übersteigenden Dimension des Göttlichen sich beruhigen könne. Diese innere Dynamik des Sinns speist sich aus seinen Grenzen, Verwerfungen und Versagungen, die er jeweils in konkreten kulturellen Kontexten der menschlichen Lebensführung annimmt. Je nach sozialer Lage sehen die Sinnbedürfnisse und Sinnvorgaben der Menschen verschieden, ja auch gegensätzlich aus. Diese Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit manifestiert sich im Kampf um Anerkennung der Subjekte im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang als ein mächtiges Konfliktpotenzial. Es hält die kulturellen Lebensbedingungen in ständiger Bewegung und konstituiert die Geschichtlichkeit der menschlichen Lebensform. Sinn ist im Widerspiel von Absicht und Versagung, im Widerstreit der Interessen von Personen, Gruppen, Gesellschaften und Kulturen stets prekär. Er ist angewiesen auf einen tätigen mentalen Umgang mit ihm, auf Verstehensanstrengungen, Kritik, Zurückweisung, Erneuerung und Veränderung. Ohne tätige Bearbeitung würde er zerbrechen oder sich auflösen. Daher gibt es auch keine gesellschaftlichen Lebensformen, in der nicht Beauftragte oder Spezialisten für den Sinn (z. B. Schamanen, Priester, Künstler, Kulturwissenschaftler) und entsprechende Institutionen von Sinn­ reflexion (Religion, Kunst, Wissenschaft) tätig wären. Aus dieser Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit speist sich die Dynamik der Sinnbildung. Zu ihr gehört die mentale Anstrengung, eine Kohärenz von Sinn in der kulturellen Orientierung der Menschen zu erhalten oder zu gewinnen. Das gilt für einzelne Personen wie auch für alle Formen ihrer Vergesellschaftung. »Personalität« steht für die Kohärenz von einzelnen Subjekten, »Gemeinschaftlichkeit« für die Kohärenz der sozialen Formationen. »Nation« ist ein neuzeitlich höchst bedeutungsvolles und gegenwärtig recht umstrittenes Beispiel für eine solche soziale Sinnkohä70

renz (vgl. Borchmeyer, 2017). Jedem »Ich« und jedem »Wir« liegt ein Sinnkonzept zugrunde. Seine Zerstörung wird als lebensbedrohend empfunden und führt in der Regel zu aggressivem Verhalten. »Sinnkonzept« ist eine systematische Verknüpfung von Gesichts­ punkten der Deutung von Mensch und Welt, das die drei Dimensionen der Lebensführung umgreift – Raum, Zeit und Selbst – und in ihnen Orientierung verschafft. Es lässt sich folgendermaßen definieren: »Sinnkonzept ist ein plausibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Bedeutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt. Er dient dazu, die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten« (Rüsen, 2013, S. 99). »Sinn« wird zum Fundamentalbegriff der menschlichen Weltund Selbstdeutung erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Fellmann, 1998, S. 15).

Sinndimensionen: Raum, Zeit, Selbst Raum Solche Sinnkonzepte machen aus dem Raum eine »Welt«, ein lebbares Territorium mit inneren und äußeren Grenzen und verschiedenen Dimensionen. Raum als abstrakte Kategorie ist eine historisch späte Konzeption. Ursprünglich war er eine Welt, in der Vertrautheit und Fremde, Heimatlichkeit und Wildnis klar geschieden und handlungsrelevant aufeinander bezogen wurden. Raum war zentriert um die eigene bewohnte Welt. Deshalb war oft die Hauptstadt des eigenen Reiches oder der Ort höchster religiöser Bedeutung (z. B. Jerusalem, Mekka) auch das Zentrum der Welt im Ganzen. In China ist dieses Zentrum als steinernes Gebilde im Tempel des Himmels in Peking sichtbar (und von Touristen ohne Weiteres betretbar). Die eigene Welt war »heimisch«, d. h. vertraut, die andere, größere war un-heimlich, bedrohlich, dämonisch. Gegen diese musste das Vertraute und Bewohnte apotropäisch geschützt werden. (Diese uralte räumliche Sinndimension hat sich – natürlich abgeschwächt und kosmopolitisch zivilisiert – bis 71

heute erhalten, wie die Diskussion um sichere Grenzen in Europa angesichts drohender oder erfolgter Flüchtlingsströme eindrücklich zeigt.) Räumlichkeit wurde durch Sinn zivilisiert. Ihre Erstreckung grenzte eine menschen-affine Welt von einer menschen-­ fremden und dämonisch bedrohlichen Welt ab. Raum kann zu einem abstrakten Sinnkonzept werden, das kosmopolitische Einstellungen ermöglicht und eine ganze Wirklichkeitsdimension für sich, jenseits der jeweils eigenen Welt, definiert. Diese Dimension verlangt und findet eigene Deutungsmuster (z. B. geometrische) und Umgangsformen (z. B. in See- und Raumfahrt). Innerhalb des sinnhaft erschlossenen Raumes der menschlichen Welt gibt es natürlich weitere Differenzierungen, zum Beispiel zwischen virtuell-fiktiven und wirklichen Räumen. Zeit Auf ähnliche Weise verwandeln Sinnkonzepte die Zeit. Sie dienen dazu, das Früher und Später, das Vergangene und Zukünftige so auf Gegenwart zu beziehen, dass menschliches Handeln erfahrungsgestützt und zukunftssicher erfolgen und menschliches Leiden bewältigt werden kann. Sinn verwandelt natürliche in humane Zeit. Er bezieht die Naturzeit (Werden/Vergehen, Tag/Nacht, Jahresverlauf, Sternenbewegungen) so auf die menschliche Welt, dass sie mit dem Sinnbedarf des menschlichen Geistes kompatibel wird. Der Sternenlauf zum Beispiel wird astrologisch auf das Schicksal von Menschen bezogen, der Wechsel von Jahreszeiten rituell in die Agrarwirtschaft einbezogen etc. Schließlich wird die Kontingenz unkalkulierbarer Zeitverläufe und Ereignisse durch Erzählen so gedeutet, dass sie lebensdienlich verstanden und bewältigt werden kann. Stets droht dieser Sinnhaftigkeit von Raum und Zeit ein Um­­ schlag in Sinnlosigkeit. Kontingenz wirft immer einen Schatten von Bedrohung. Traumatische Erfahrungen und Ereignisse zerstören lebensdienliche Zeitkonzepte. Sie konfrontieren die menschlichen Subjekte mit unerträglicher Sinnlosigkeit, die – wenn sie nicht ins Unbewusste verdrängt wird und dort als Störfaktoren der Zeitdeutung und Selbstwerdung wirksam bleibt – nur schwer bewältigt werden kann. 72

Die unvermeidliche Sterblichkeit des Menschen verlangt ihm eine besondere Sinnbildung ab, die über den innerweltlichen Ablauf seines Lebens zwischen Geburt und Tod hinaus eine Dauer in anderer Gestalt und Wirklichkeitsdimension verspricht. Raum und Zeit haben als Sinngebilde sehr oft ein »Jenseits«‚ das die Versagungen des Diesseits kompensieren kann und so ein Sinnganzes vorstellbar macht, das seine innerweltliche Zerstückelung kompensieren oder gar heilen kann. Selbst Im menschlichen Selbst schließlich, in der Vorstellung, wer man als Mensch in der Welt eigentlich ist, wird die Selbstreferenz von Sinnbildung thematisch und manifest. Alle Kulturen sprechen dem Menschen eine kosmologische Sonderstellung zu, die ihn von aller unbelebten und belebten Natur unterscheidet. In dieser Sonderstellung ordnet er sein Leben nach reflektierbaren Gesichtspunkten; es wird normativ ausgerichtet. Die Erkenntnis von Gut und Böse legt ihm eine normative, wertbezogene Ausrichtung seines Handelns auf, die er oder sie als Chance oder als Last empfinden mag, die aber auf jeden Fall geleistet werden muss. Diese Leistung konstituiert seine Subjektivität (vgl. dazu Antweiler, 2011). Dieses sinnhafte Selbstkonzept kann natürlich in ganz verschiedenen Formen ausgeprägt und gelebt werden. Ihre Vielfalt reicht von Fetischen und projizierten Götterbildern bis zur humanistischen Individualität der Moderne. In jedem Fall aber bedeutet das menschliche Selbst, dass der Mensch kein bloßes Naturwesen ist, sondern seine Natürlichkeit transformieren muss, indem er sich zum Beispiel die kulturelle Signatur seines Lebens in seine Haut einschneiden lässt oder pharmazeutisch sein Leben verlängert. Jüngst artikuliert sich sogar Menschsein posthuman in Phantasien von Maschinenmenschen oder Übermenschen, die alle bisherigen Gestaltungen des Menschseins hinter sich lassen. Dabei werden nur allzu oft anthropologische Konstanten und Universalien übersehen, deren Ausblendung unmenschliche Praktiken des Umgangs miteinander freisetzen können. 73

Ich sehe vier solcher Universalien, die sich in aller zeitlichen Dynamik des Menschseins durchhalten: seine Fragilität, die ihn von anderen Menschen existenziell abhängig macht, seine Fehlbarkeit (Fallibilität), die ihn in Prozessen stetiger Wahrheitssuche festhält, seine Verwundbarkeit (Vulnerabilität), die ihn einer stetigen Gefährdung seines Lebens aussetzt, und den Schatten seiner Unmenschlichkeit (Inhumanität), der ihn als moralische Ambivalenz in allen Prozessen der Zivilisierung und Humanisierung zu einer Lebensform begleitet und ihn stets mit der Herausforderung konfrontiert, sich seiner Menschlichkeit sinnhaft reflexiv aktiv-praktisch zu versichern. In einer universalhistorischen Perspektive lässt sich die zeitliche Dynamik der Sinnbildung entwicklungstheoretisch ordnen. In ab­strakt-­idealtypischer Vereinfachung handelt es sich um die Wendung von objektiven Sinnvorgaben zu subjektiver Sinnbildungsleistung. Natürlich sind diese beiden Modi der Sinnbildung stets ineinander verschoben. Auch dann, wenn – wie zum Beispiel bei Max Weber (1904/1968, S. 180) – der Mensch als Kulturwesen definiert wird, »begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen«, geschieht diese Sinngebung nicht voraussetzungslos. Weber hatte sich die Sache erkenntnistheoretisch so zurechtgelegt, dass dem menschlichen Sinnschöpfer eine sinnlose »chaotische« Wirklichkeit gegenübersteht. In dieser Vorstellung gewinnt der Mensch die Rolle des Schöpfers der Welt, wie sie im Anfang der Bibel als Verwandlung von Chaos (Tohuwabohu) in Kosmos durch Gott beschrieben wird. Nun ist aber die Wirklichkeit im menschlichen Lebensvollzug alles andere als chaotisch (das wird sie erst in einer künstlichen erkenntnistheoretischen Abstraktion), sie ist, wie Heideggers (1975) Existenzialontologie überzeugend gezeigt hat, immer schon »gelichtet«, d. h. sinnhaft vorgegeben. Wie dieser Sinn in die Welt kommt, bzw. gekommen ist, ist eine andere Frage (Dux, 1997, S. 195–217): ursprünglich, in alten Kulturen, ja in den meisten Kulturen bis zum Beginn der Moderne, wurde die sinnhafte Weltordnung als objektive Vorgabe, analog zur Vorgabe der Natur angesehen, als Schöpfung eines numinosen Wesens zumeist, aber stets als vor- oder über-menschlich gedeutet. Es erhoben sich freilich immer wieder abweichende Stimmen (wie diejenige des Protagoras), die den Menschen zum Maß aller Dinge und die Götter 74

als menschliche Projektionen entzaubert. Aber die Einordnung der menschlichen Welt in eine kosmische Ordnung, die dem Menschen seinen Platz in der Welt und die Möglichkeiten seines Handelns und Leidens vorgibt, war und blieb sinntheoretisch dominant. In einer langfristigen Entwicklung jedoch kehrte sich die Beziehung zwischen Weltordnung und menschlicher Schöpferkraft um. Metaphysische Sinnvorgaben verloren ihre Überzeugungskraft, und der Mensch rückte in die Rolle des Sinngaranten seiner Welt ein. Damit gewann er das, was in seiner moralischen Disposition immer schon angelegt war: seine Würde. Pico della Mirandola (1486/87/1997, S. 9) hat in seinem Essay »De hominis dignitate« (dt.: »Über die Würde des Menschen«) diese Würde, Schöpfer seiner eigenen Kultur zu sein, noch als Gabe des Schöpfergottes an sein Geschöpf beschrieben: »Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deines selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.« Langfristig wurde diese Würde dann als ursprünglich mit der Natur des Menschen als Kulturwesen angesehen. Kant hat sie, wie schon gesagt, als anthropologisches Fundamentaldatum beschrieben: Jeder Mensch sei mehr als nur ein Mittel zum Zwecke anderer, sondern ein Zweck in sich selbst (Kant, 1968). Gott wird nur noch (als bloßes Postulat) dafür in Anspruch genommen, dass diese Selbstzweckhaftigkeit mit dem natürlichen Glücksstreben des Menschen vereinbar wird. So bleibt schließlich die Sinngarantie der menschlichen Lebensführung an ihren Subjekten haften und teilt mit ihnen ihre grundsätzliche Gefährdung durch Fragilität, Fallibilität, Vulnerabilität, und Inhumanität.

Religion Religion ist ein Sinnkonzept, das diese Eigenschaften des Menschen nicht einfach als anthropologisch fundamentale Tatsachen hinnimmt, sondern sie als Problemlage des Menschen ansieht und Lösungen entwickelt und lebenspraktisch realisiert. 75

Dass der Mensch leiden muss, ist eine genauso elementare Tatsache seiner Kultur-Natur wie sein Handeln-müssen, um leben zu können. Leiden schafft Sinnbedarf, der durch Handeln allein nicht erfüllt werden kann. Es sei denn, dass das Handeln eine spezifisch religiöse Form annimmt. In dieser Form bezieht es sich auf eine übernatürliche Welt, in der Kräfte herrschen, die sein Leiden beenden können. Diese Kräfte haben numinosen Charakter. Religion stiftet Sinn durch Rekurs auf göttliche Wesenheiten oder (um die Religionen nicht auszuschließen, die keinen konstitutiven Gottesbezug kennen) übernatürliche Dimensionen der menschlichen Welt. Das Entscheidende ist der numinose Charakter dieser Wesenheiten oder Dimensionen, mit dem sie den sie verehrenden Menschen aus irdischen Kontexten seiner Welt herausziehen und (zeitweilig) in einer anderen, besseren Welt beheimaten. Diese überirdische Welt wird als Kraftquelle zur Bewältigung der Leiden verursachenden irdischen Welt wahrgenommen und praktisch verwendet. Die religiöse Sinn(ein)stiftung geschieht durch ein bestimmtes Handeln, das die übermenschliche Welt in die menschliche einholt und dort zur Wirkung bringt. Diese Wirkung kann man hinsichtlich des Menschen »Erlösung« nennen. Sie wird als Befreiung vom Leid und als Erhebung in einen Zustand übermenschlichen Bewusstseins in der Begegnung mit dem Numinosen erlebt. Religion ist also alles andere als Wunder- und Dogmenglaube. Sie wird als Einbruch des Numinosen in die als leidvoll oder zumindest als sinndefizitär empfundenen Welt erfahren. »Wunder« sind Modi solcher Erfahrung, und Dogmen sind Versuche, sie in der Form von kognitiven Deutungen zu rationalisieren. Religiöser Sinn wird in den drei Dimensionen der menschlichen Lebenspraxis (Zeit, Raum, Selbst) zur Geltung gebracht. Er manifestiert und institutionalisiert sich in konkreten Formen und Praktiken. Zeit wird durchgängig mit Verweisen auf religiöse Sinnquellen versehen, so zum Beispiel in der Besetzung des Kalenders mit Gedenktagen religiös wichtiger Ereignisse und Hinweisen auf Heilige. Die Jahreszeiten und ihr Wechsel werden mit kultischen Handlungen begleitet. Auf ein besonders eindrückliches Beispiel religiöser Sinnbildung als Bedingung des gesellschaftlichen Zusam76

menhalts hat René Girard (1999a) hingewiesen: Die Ermordung unschuldiger Sündenböcke vollzieht sich religiös als kultischer Prozess der Erlösung von »Sünden« (Abweichungen von gesellschaftlich sanktionierten Normen). Dieses Beispiel steht zugleich für die Tatsache, dass auch und gerade die religiöse Sinnbildung die Ambivalenz der menschlichen Weltdeutung, Handlungsanleitung und Leidensbewältigung teilt, die aus der anthropologisch fundamentalen Kulturnatur resultiert und sich in der Dialektik von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit austrägt. Hexen- und Ketzerverbrennungen stehen dafür: Die Flamme soll die normativen Abweichungen (»Sünden«) vertilgen und insofern Erlösung von Schuld erbringen. Zugleich schafft sie schweres Leid. Erlösung zahlt den Preis der Inhumanität. Hinsichtlich des Raums separiert Religion das Heilige vom Profanen. Sie zeichnet Orte besonderer Heilswirksamkeit aus, aber auch das Gegenteil: Orte der Verdammnis. Diese Unterscheidung kann kosmologisch, geografisch, aber auch psychologisch vorgenommen werden. Auch das menschliche Selbst erfährt durch Religion eine sinnhafte Konstitution seiner Subjektivität. Das Numinose steigert seinen (anthropologisch universellen) Selbstbezug ins Grandiose. Er kann sich als Ebenbild Gottes fühlen und im Umgang mit der Natur dessen Schöpferkraft imitieren. Er kann ekstatisch ins Numinose aufgehen und damit Kraft für sein leidensgeprägtes Leben gewinnen. Die Fülle solcher religiöser Subjektivierungsleistungen ist enorm; in jedem Fall aber lädt sich menschliche Subjektivität durch Religion mit Sinn auf.

Immanenz und Transzendenz Religiöse Sinnbildung steht in einem unauflösbaren Widerspruch zu den Widrigkeiten des alltäglichen menschlichen Lebens. Sie hebt sie in die Vorstellung eines »anderen Zustands« (Robert Musil, 1952) auf, kann sie aber nicht beseitigen. Immer dann, wenn diese Widrigkeiten real-praktisch (also mit Macht) beseitigt werden sollen, entstehen neue, weil sich die Ambivalenz des Menschseins in 77

seiner anthropologisch-fundamentalen Kulturnatur nicht beseitigen lässt. Ideen eines Übermenschen oder einer posthumanen Existenz von Menschen als Cyborgs sind Versuche, aus dieser inneren Dialektik des Menschseins auszubrechen. Sie übersehen geflissentlich, dass sich diese Dialektik in ihnen und durch sie reproduziert. Je grundsätzlicher es der Differenz zwischen Glücksverlangen und Realisierungschancen an den Kragen gehen soll, desto schlimmer (inhumaner) sind die Folgen. Dafür stehen die Scheiter­haufen des Mittelalters und der frühen Neuzeit und natürlich (als Religions­ ersatz) Nationalsozialismus und Kommunismus, die mit ihren Erlösungsversprechen und ihrer praktischen Einlösung (durch Rassenhygiene oder Klassenkampf) unendliches Leid mit Abermillionen Opfern hervorgebracht haben (vgl. Küenzlen, 1997). Es bleibt also der Stachel irdischer Widrigkeiten in den Bemühungen religiöser Sinnbildung. Dafür mag der Terminus »Immanenz« stehen. Ihm gegenüber ließen sich die religiösen Bemühungen, den Menschen von seinem irdischen Leiden zu erlösen, mit dem Begriff »Transzendenz« charakterisieren. Schon diese Begrifflichkeit zeigt, dass und wie sie miteinander verbunden sind. Ihr jeweiliger Sinn ergibt sich nur dann, wenn sie je auf ihr Gegenteil bezogen werden. Ohne den je anderen (gegenteiligen) Begriff hätten beide Bezeichnungen keinen Sinn. Diese semantische Dialektik hat einen klaren Bezug auf die Realität des menschlichen Lebens. Mit seiner kulturellen Orientierung strebt der Mensch stets über die vorgegebenen Bedingungen und Umstände seines Handelns und Leidens hinaus. Kultur zeichnet sich grundsätzlich durch einen Intentionalitätsüberschuss des menschlichen Bewusstseins über die realen Bedingungen und Umstände seines Lebens in der Teleologie seiner Handlungsformen und Leidensbewältigung und deren normativen Elementen aus. Zugleich bleibt dieser Überschuss gebunden an die Möglichkeiten der Weltveränderung in den jeweils vorgegebenen Handlungssituationen. Kulturelle Sinnbildung ist also stets zwischen Immanenz und Transzendenz ausgespannt. Dieser Spannung verdankt sie ihre innere zeitliche Dynamik. Sie entfaltet sich im Verhältnis zuei­ nander. Dort kann es in langfristiger Perspektive zu einer Verschiebung der Gewichte kommen. Das drückt die Säkularisierungsthese 78

aus. Lange Zeit glaubte die westliche Intelligenzia, die Religion löse sich im Modernisierungsprozess allmählich auf und werde durch innerweltliche Deutungen und Normen ersetzt. So steht beispielsweise die Bewegung der Aufklärung dafür, Religion durch Moral zu ersetzen. Das hat sich in zweierlei Hinsicht als Irrtum erwiesen. Faktisch blieb die Religion eine kulturelle Orientierung, wenn auch (im Westen) für einen kleiner werdenden Bevölkerungsanteil. In der nichtwestlichen Welt dagegen hat sie (vor allem im Islam und im Hinduismus sowie im radikalen Protestantismus) an Stärke gewonnen. Aber auch auf intellektueller Ebene wurde ihr Anerkennung und Wirkung zuteil (Joas, 2004, 2017, 2015; Straub, 2016), weil die säkularen Deutungsmuster längst nicht allen Sinnbedarf der Menschen abdecken. Auch im Innenverhältnis der beiden Tendenzen gibt es eine Dynamik der Entfaltung ihrer Gegensätzlichkeit. Die monotheistischen Religionen haben zum Beispiel die Natur entzaubert und zum Bereich technischer Beherrschung gemacht – ein Schub der Säkularisierung, der mit dem Wachsen von Naturwissenschaft und Technik auf die religiöse Weltdeutung zurückschlug und ihr ganze Kompetenzbereiche streitig machte. Umgekehrt hat die Ablösung ganzer Sinnbezirke, vor allem der Kunst, von der modernen »gottfernen« (Max Weber) Wissenschaft zu schweigen, zur Entwicklung von Sinnbildungsstrategien geführt, deren Religionsnähe, wenn nicht deren religiöser Charakter kaum bestritten werden kann. Dazu sei ein Beispiel näher herangezogen: in der »Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt Marcel Proust eine Begebenheit, deren Ähnlichkeit mit einer unio mystica unübersehbar ist. Er tunkt einen Madeleine-Kuchen in eine Tasse Tee, und dabei erlebt er eine überwältigende Sinnerfahrung: »In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleich79

zeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. […] Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm [dem Tee] ist, sondern in mir. […] Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann« (Proust, 1981, S. 63–65). Ähnliche Ausgriffe ins Numinose jenseits aller ästhetischen Repräsentation finden sich auch in anderen bedeutenden Kunstwerken der Moderne, bei Beckett und Kafka zum Beispiel. Hier löst sich der innerweltliche Sinn in einen immanenten Verweis auf Transzendenz auf. Die Kunst, die sich ihre Autonomie von der Religion erkämpfen musste, gibt der Religion mit ästhetischen Mitteln (Verweise über alle Sprache und Darstellung hinaus) ihre Sinnkompetenz zurück. Es ist also nicht damit getan, die Gegensätzlichkeit von Immanenz und Transzendenz zu betonen und damit der Religion einen deutlich abgrenzbaren Sinnbezirk in der kulturellen Orientierung zuzuweisen. Vielmehr kommt es darauf an, ihr Widerspiel herauszuarbeiten, ihre wechselseitige Bedingtheit in ihrer Gegensätzlichkeit zu betonen. Ihr innerer Zusammenhang lässt sich begrifflich mit dem Konzept des Transzendentalen bezeichnen: transzendental bedeutet, dass immanente Gegebenheiten von Mensch und Welt auf ihre Bedingung der Möglichkeit hin durchsichtig gemacht werden (können). Diese Durchsicht transzendiert ihre Immanenz. Damit wird die Transzendenz irdisch verankert und in ihrer Einseitigkeit erheblich eingeschränkt. Zugleich aber wird die Immanenz der menschlichen Lebenspraxis auf Aus- oder besser: Durchblicke über sich hinaus geöffnet. Und über das Transzendentale der Transzendenz wird diese als eigene Dimension der menschlichen Welt- und Selbstdeutung erschlossen und der Blick auf eigene und besondere Sinnressourcen geöffnet. 80

Geschichte Das Wort »Geschichte« hat einen Doppelsinn: Es meint das Ge­­ schehen der menschlichen Welt in der Vergangenheit (res gestae). Bei Herodot (1959, S. 1), dem Beginn der westlich-europäischen Geschichtsschreibung, heißt es programmatisch: ta genomena ex antropon (was unter Menschen einst geschehen). In einem erweiterten Sinn kann Geschichte auch jedes Geschehen in der Vergangenheit bezeichnen; so zum Beispiel in der Vorstellung einer Geschichte der Natur. Aber ursprünglich und nach wie vor dominant bedeutet Geschichtemenschliches Geschehen in der Vergangenheit. Zugleich bedeutet Geschichte auch – und untrennbar mit der ersten Bedeutung verbunden – die Kunde und Darstellung dieses Geschehens (historia rerum gestarum). Vergangenes Geschehen wird erst dann als Geschichte angesehen, wenn es wirklich vergangen ist. Das heißt, es wird als zeitlich getrennt von der Gegenwart wahrgenommen. »Getrennt« nicht im bloß chronologischen Sinn, sondern als »anders« geworden. Man pflegt zu sagen, dass etwas dann Geschichte wird, wenn es für die Gegenwart »tot« ist, also abgespalten, getrennt, verschieden. Da ja alle Geschehnisse der Gegenwart als zeitspezifische Ereignisse grundsätzlich vergehen, wäre alles dieses Geschehen schon wegen seiner Vergänglichkeit tendenziell Geschichte. Das aber ist mit dem Begriff Geschichte im ersten Wortsinne nicht gemeint. In der Tat meint es zeitliche Abständigkeit und Vergänglichkeit, aber stets mit einem eigentümlich gegenläufigen Gegenwartsbezug: abgeschieden von ihr und zugleich wichtig und bedeutungsvoll für sie. Es ist als Vergangenes noch gegenwärtig. Was heißt das? Wenn es bloß abgestorben und tot wäre, und wenn es dabei bliebe, bekäme das vergangene Geschehen nicht die Qualität des Geschichtlichen. Es ist vielmehr in eine Zeit­dimension eingegangen, die die merkwürdige Eigenschaft einer Vergangenheit hat, die sich als bedeutungsvoll auf Gegenwart bezieht oder als bedeutungsvoll auf die Gegenwart bezogen wird. Pure Vergänglichkeit disponiert nicht dazu, geschichtlich zu sein. Das Geschehen muss von Vergangenheit auf Gegenwart so bezogen sein, dass es dort noch etwas ausrichtet. Das kann in zweierlei Art gesche81

hen: als Verlust oder als Gewinn. Das lässt sich am Tod von Menschen illustrieren, die mit lebenden Menschen verbunden waren. Sie können eine schmerzhafte Lücke hinterlassen oder eine Entlastung von einer beschwerlichen Beziehung. In beiderlei Hinsichten bleiben die Toten lebendig. Dieses »Leben« unterscheidet sich natürlich fundamental von ihrer Lebendigkeit in den sozialen Beziehungen, in denen sie gelebt haben. Den Lebenden sind die Toten noch verbunden, aber ganz anders, als wenn sie noch lebendig wären. Es gibt ein elementares geistig-seelisches (mentales) Vermögen in jedem Menschen, das diese Lebendigkeit des toten oder abgeschiedenen Gestrigen realisiert: die Erinnerung. Sie erstreckt sich nicht nur auf das, was bewusst erinnert wird, sondern auch auf eine starke unbewusste Dimension, in der Vergangenes mächtig auf gegenwärtiges Leben einwirkt. Das Vergangene kann sich in seiner geschichtlichen Qualität durch Erinnerung als lebendig in doppelter Weise zur Geltung bringen: Es kann sich von sich aus ein- und vordrängen, ohne, ja auch gegen den Willen der sich Erinnernden; oder es kann von ihnen bewusst und absichtsvoll aufgerufen und vergegenwärtigt werden. Nun reicht diese Erinnerung nicht sehr weit zurück und deckt mitnichten den gegenständlichen Bereich des Geschichtlichen ab. Da alle menschlichen Subjekte ihre mentalen Formen des Umgangs mit Welt und Selbst in intergenerationeller Verkettung ausbilden und leben, geht in ihre Erinnerung indirekt über die Kette der Generationen auch die Erinnerung ihrer Vorfahren ein. Aber auch diese Verlängerung des Erinnerten deckt die zeitliche Erstreckung und inhaltliche Füllung des Geschichtlichen nicht ab. Viele geschichtliche Geschehnisse betreffen Voraussetzungen, Bedingungen und Umstände vergangenen menschlichen Lebens, die den Betroffenen gar nicht bewusst waren und auch von ihnen nicht erinnert wurden (wenn man den Bereich des Unbewussten einmal außer Betracht lässt). Insofern reicht das Medium der Erinnerung nicht aus, um das in den Blick zu nehmen, was mit Geschichte bezeichnet wird. Auch außerhalb (und »unterhalb«) der Lebendigkeit des Vergangenen in der Gegenwart kann Vergangenes in der Gegenwart als »geschichtlich« wahrgenommen und vergegenwärtigt werden. Geschichte meint also in seiner gegenständlichen 82

Bestimmtheit den Bereich vergangenen Geschehens, das für die Gegenwart bedeutungsvoll ist oder werden kann. Mit dieser Qualifikation kommt die zweite Bedeutung von Geschichte in den Blick: die Kunde oder Darstellung vom Geschehen der Vergangenheit, die »historia rerum gestarum«. »Historia« meint eine explizit auf Vergangenheit bezogene Darstellung, also zumeist Historiografie. Aber »dargestellt« im Sinne von »gegenwärtig gemacht« erscheint die Vergangenheit in ganz unterschiedlichen Formen. Nur wenn man deren Vielfalt im Auge behält, wird deutlich, wie sehr gegenwärtiges menschliches Leben durchzogen ist von vergegenwärtigter Vergangenheit. Wohin man auch blickt: die Vergangenheit ist als solche da, jedoch nicht immer explizit »historisch« erkennbar wie zum Beispiel in alten Häusern, deren Fassaden erheblich von späteren Wohnhäusern abweichen. Explizit historisch sind demgegenüber Denkmäler, Straßenzüge mit Verweisen auf bedeutungsvolle Vergangenheit, Vereinsfahnen mit Gründungsdaten. Geht man den Phänomenbestand gegenwärtiger Vergangenheit im Alltag durch, kann man sich eine Reihe denken, die nach dem Gesichtspunkt »wachsender Historisierung« geordnet werden könnte. Damit ist gemeint, dass es unterschiedliche Betonungen und Gewichtungen der Vergangenheit gibt. Sie kann sich zu einem eigenen Bereich verselbstständigen und wird damit explizit zur Geschichte. Dafür stehen Denkmäler, historische Literatur und Filme, historische Publikumszeitschriften, Sendungen im Fernsehen, die historischen Themen gewidmet sind, historische Museen, Gedenkstätten, festliche Veranstaltungen, die an Geschehnisse der Vergangenheit erinnern, und Gedenktage. Solche Manifestationen verselbstständigter Vergangenheit lassen sich mit dem Begriff »Geschichtskultur« zusammenfassend bezeichnen. Geschichtskultur ist die Manifestation von Rekursion auf die Vergangenheit, die als bedeutungsvoll für die Gegenwart angesehen (oder auch: gemacht) wird. Der Geschichtskultur als sozialem Phänomen entspricht aufseiten der angesprochenen und involvierten Subjekte deren Geschichtsbewusstsein. Geschichtsbewusstsein ist Inbegriff der mentalen Vorgänge, in denen Vergangenheit vergegenwärtigt wird, um Gegen­­wart zu verstehen und Zukunft zu erwarten (Jeismann, 1985). 83

Im Blickwinkel zunehmender Historisierung der Vergangenheit werden besondere mentale Aktivitäten deutlich, durch die diese historische Bedeutung der Vergangenheit (genauer: vergangener Geschehnisse) seitens der Subjekte realisiert wird, für die diese Bedeutung gilt oder gelten soll. Eine besondere Rolle spielen dabei die kognitiven Elemente, Prinzipien und Dimensionen des menschlichen Bewusstseins. Die Historisierung der Vergangenheit ist untrennbar mit Wissen und Erkenntnis verbunden. Dafür steht paradigmatisch die Geschichtsschreibung. Sie ist natürlich nicht die einzige Art, kognitiv die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, aber sie zeichnet sich gegenüber allen anderen Arten der Historisierung der Vergangenheit dadurch aus, dass sie sich auf reales faktisches Geschehen, auf Tatsachen empirischer Gegebenheit bezieht. Dabei klammert sie weitgehend diejenige Bedeutungsverleihung aus, die auf fiktionalen Gesichtspunkten beruht, also Zuschreibungen vornimmt, die den Bereich der Erfahrung hinter sich lassen. Geschichtsschreibung ist ein spezifischer Modus der Historisierung, aber keinesfalls anthropologisch universell. Aber sie hat sich langfristig in (fast) allen Kulturen als Paradigma der Historisierung durchgesetzt, zumindest in all denjenigen Kulturen, die die Evolution zu modernen Lebensformen mitvollzogen haben. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die kognitive Seite der Historisierung zu besonderen Operationen des Verstandes entwickelt. Gemeint sind der Wissensgewinn und die Erkenntnissicherung durch Forschung. Dafür steht die Institution der Geschichtswissenschaft. »Wissenschaft« ist als Bezeichnung institutionalisierter Forschung und forschungsbezogener Historiografie ein umstrittener Begriff. Im angelsächsischen Sprachbereich (»science«) wird er kaum gebraucht, in anderen Sprachen, zum Beispiel im Deutschen, aber sehr wohl. Allemal aber geht es um die gleiche Sache: eine Fachdisziplin der organisierten Forschung als Grundlage sachgerechter Historiografie. Man kann der Geschichtskultur moderner Gesellschaften nicht gerecht werden, wenn man den schulischen Geschichtsunterricht und die auf historisches Lernen bezogenen kognitiven Diskurse ignoriert. Lernen ist eine anthropologisch fundamentale und universelle Tatsache (die sich übrigens auch auf nichtmenschliche Gattungen erstreckt).In jeder Kultur müssen die maßgebenden 84

Orientierungen, in denen die andere Zeit der Vergangenheit eine bedeutende Rolle spielt, von einer Generation an die nächste weitergegeben, also intergenerationell auf Dauer gestellt werden. Analog zur Geschichtswissenschaft haben sich auch Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik zu eigenen (genauer: »eigen-sinnigen«) Institutionen entwickelt. Sie gehören integral zur Geschichtskultur ihrer Gesellschaft und wirken auf ihre besondere Weise an der Historisierung der Vergangenheit mit. In all diesen Erscheinungsformen hat die zur Geschichte ab­­ ständig gewordene und vergegenwärtigte Vergangenheit »Sinn«. Sie ist ein integraler Teil der sinnhaften Kultur, in und mit der sich die Menschen ihre Welt und sich selbst verstehen. Dieser Sinn fällt natürlich ganz unterschiedlich aus, je nachdem, welche Orientierungsfunktion erfüllt wird: Unterhaltung, Vergnügen, Versagenskompensation, Identitätsvergewisserung, Legitimation oder Kritik von Lebensverhältnissen, Sehnsucht, Erfüllung, Belehrung, Ermahnung, Pluralisierung, Abgrenzung von anderen, Vergewisserung von Zugehörigkeit und Stolz auf sie, ästhetische Erfahrung, religiöse Erbauung, Entlastung von Erfahrungsdruck, Kompensation von Versagungen und Versehrungen etc.

Dimensionen des Historischen Wenn man die jeweiligen Sinndimensionen, in denen Geschichte als Sinnträger wirksam ist, auflistet und ordnet, lassen sich maßgebende Sinnkriterien identifizieren und ihr Verhältnis zueinander analysieren. Um die jeweils wirksamen Sinnkriterien unterscheidbar in den Blick zu nehmen, empfiehlt es sich, allgemein etablierte Dimensionen der kulturellen Orientierung zu unterscheiden. Dabei gehe ich von Gegenwartsphänomenen aus, versuche aber, in ihnen allgemeine und grundsätzliche Gesichtspunkte auszumachen, möglichst mit anthropologisch universeller Ausrichtung. Folgende Unterscheidungen folgen der Ausstattung der mensch­ lichen Mentalität mit maßgebenden Operationen der Sinnbildung wie Denken, Fühlen, Wollen, Werten, Gauben. Sie alle sind auf je 85

spezifische Weise mit der Erfahrung von historisierter Vergangenheit bezogen. Erfahrungsfreie historische Sinnbildung gibt es nicht. Fällt die Ausrichtung auf die Erfahrung des Widerspiels von Vergehen in die Vergangenheit und Einholung des Vergangenen in den Horizont der Gegenwart weg, dann kann sich durchaus Sinn in Bezug auf Zeit (Vergänglichkeit, Wiederkehr, Zukunftsentwurf etc.) bilden, zum Beispiel in der Form von Ewigkeitsvorstellungen, von Apokalypse, gesteigerter Augenblicksdeutung, Zeitverlust, Zeitenthobenheit, keinem Wandel unterworfener Weltordnung etc. Aber Geschichte ist das nicht. Die kognitive Dimension Die kognitive Dimension beruht auf dem mentalen Prozess des Denkens mit der Ausrichtung auf Wissen und Erkenntnis. Sie ist durch Erfahrungsbezug und Plausibilitätsansprüche geprägt, die in gesteigerter Form als Wahrheitskriterien auftreten. Was aber ist historische Wahrheit? Auf diese einfache Frage gibt es keine einfache Antwort. Eher das Gegenteil: Die jüngere geschichtstheoretische Diskussion neigt eher dazu, diese Frage abzuweisen und in die Linguistik des Erzählens als poetische Operation zu verweisen. Geschichtsschreibung wurde zumeist der Regel u ­ nterworfen, verlässliches Wissen zu präsentieren. Überdies galt weltweit die Regel, der Geschichtsschreiber solle bei der Darstellung von Konflikten keine Partei ergreifen, also nicht einseitig berichten. Dass die Geschichtsschreibung in ihrer hochkulturell entwickelten Form exemplarische Sinnbildung aus den Ereignissen der Vergangenheit, die ja durch menschliches Handeln zustande kamen, normative Schlussfolgerungen für menschliches Handeln folgern konnten und sollten, kann als interkulturelles Allgemeingut dieser Geschichtsschreibung gelten. Schon in einem frühen Text chinesischer Reflexion über Geschichtsschreibung, im Shi Tong von Liu Zhiji, einer der »größten Historiker, die das vormoderne China hervorgebracht hat« (Quirin, 1987, S. 13), heißt es: »Geschichtswerke werden in erster Linie wegen ihrer historischen Darstellung gelobt.« Für diese Darstellung sind folgende Gesichtspunkte maßgebend: »Verdienste 86

und Verfehlungen aufzeichnen, Gutes und Schlechtes festhalten, im Stil gediegen, aber nicht überladen, einfach, aber nicht glatt sein, so dass die Menschen nicht nur die Essenz der Ausführungen auskosten und die Klänge der Tugend sich zu Herzen nehmen können, sondern auch bei häufigem Lesen der Mühe vergessen und keinen Überdruss empfinden« (S. 100). Für Ibn Khaldun, der bedeutendste arabische Geschichtsschreiber, »besteht die Geschichte aus philosophischen Einsichten kritischer Prüfung, aus genauer Begründung aller Dinge und ihrer Grundlagen sowie tiefem Wissen um das wie und warum der Geschehnisse« (Ibn Khaldun, 1992, S. 32). Selbstbewusst verkündet er: »Wir verfügen über eine Grundregel, mit der wir Wahres von Falschem in den überlieferten Nachrichten sowie Richtigkeit von Unwahrheit durch logischen Beweis, der keinerlei Zweifel zulässt, zu trennen vermögen. […] Wir verfügen über ein rechtes Maß, mit dem die Historiker den Pfad der Richtigkeit und Wahrhaftigkeit beschreiten können« (S. 44). Lukian, der sich im zweiten Jahrhundert nach der Zeitenwende Gedanken darüber gemacht hat, »wie man Geschichte schreiben soll«, fasst die beiden maßgebenden Gesichtspunkte, den empirischen und den moralisch-­normativen, zusammen: »Die Geschichte hat nämlich nur eine einzige Aufgabe und ein Ziel, nämlich zu nützen, und das erreicht sie nur mithilfe der Wahrheit« (Lukian, 1965, S. 107). Es gibt also neben der empirischen Triftigkeit auch eine normative. Machiavelli zum Beispiel hat seine Einsicht in die Regeln und Normen politischen Handelns in der Kommentierung der Geschichtsschreibung von Livius dargelegt. Schließlich zieht sich durch die lange Geschichte der Geschichts­­ schreibung als Leitmotiv das Triftigkeitskriterium der narrativen Kohärenz. Der indische Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, Kalhana, hat dieses Kriterium so formuliert: »[…]to give a con­ nected account where the narrative of past events has become fragmentary in many respects« (Kalhana, 1900/1989, S. 2). Die kognitive Dimension ist universalgeschichtlich durch einen Prozess der Rationalisierung geprägt, der zur modernen Form einer professionalisierten akademischen Disziplin (zumeist »Geschichtswissenschaft« genannt) geführt hat. Zuerst in Europa ausgeprägt, hat sich diese kognitive Institution universalisiert. Auch die Kritik am westlichen Ursprung als Legitimation westlicher Herrschafts­­ 87

ansprüche bedient sich der etablierten disziplinären Form der Ar­­ gumentation. Es ist bemerkenswert, dass einer der ­schärfsten Kritiker westlicher Dominanz in den Kulturwissenschaften, Edward Said (2004, S. 21), die akademische Institution als Ort freien Denkens feiert (ohne diese Institution hätte er vermutlich auch seine Kritik an verborgenen Herrschaftsansprüchen der westlichen akademischen Kultur gar nicht ausarbeiten können). Die kognitiven Ansprüche, die diese Dimension der Geschichtskultur definieren, treten in unterschiedlicher Form auf. Im Westen haben sie eine lange Vorgeschichte. Zwar wurde im griechischen Ursprung der Idee einer Erkenntnis durch menschliche Vernunft dem historischen Denken die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, weil ihm wesentliche Faktoren dieser einen Erkenntnis fehlten (Aristoteles: Poetik, 1451b). Das Ideal dieser Erkenntnis, ihre »Reinheit«, bestand darin, dass sie – wie die Metaphysik bei Aristoteles – um ihrer selbst willen, jenseits allen Gebrauchs zu praktischen und technischen Zwecken erfolgt (Aristoteles: Metaphysik, 982b) und als höchste erstrebenswerte Lebensform des Menschen (bios theoretikos) angesehen wurde (Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1177a ff.). Diese Selbstzweckhaftigkeit ist in das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft als akademische Disziplin eingegangen. Sie sträubt sich grundsätzlich dagegen, mit ihren Erkenntnisleistungen von übergeordneten Zweckbestimmungen (etwa politisch-­ legitimatorischer Art) abhängig gemacht zu werden. Selbst eine Einsicht in die Kontextabhängigkeit historischer Perspektiven gilt nicht als Einschränkung, sondern eher als Ermöglichung von Erkenntnis. Dass historisches Wissen eine notwendige Bedingung für die Orientierung der menschlichen Lebenspraxis im Zeitstrom ständiger Veränderungen von Lebensumständen darstellt, dass historische Erkenntnis (nach Prinzipien geordnetes Wissen) also eine praktische Funktion hat, lässt sich nicht bestreiten. Die Frage ist aber, in welcher Form Wissen und Erkenntnis ihre Orientierungsfunktion so wahrnehmen können, dass sie im Meinungsstreit und Machtkampf in ihrem sozialen und politischen Kontext parteiübergreifend Gehör finden. Dies ist dann der Fall, wenn eben diejenige Selbstzweckhaftigkeit der Erkenntnis ins Spiel gebracht wird, die ihre kognitive Würde, ihre Wahrheitsansprüche, ausmacht. 88

Beides: Kognitiver Selbstzweck und kognitiv formierter Orientierungszweck müssen sich also nicht notwendig widersprechen. Bei beiden kann ihre kognitive Aufladung mit dem Vernunft­begriff bezeichnet und charakterisiert werden. Vernunft kann (nach Kant) theoretisch oder praktisch ausgerichtet werden. In beiden Fällen geht es um eine prinzipiengeleitete, erfahrungsbezogene und begrifflich verfasste Argumentation, die grundsätzlich von jeder diskursfähigen Person nachvollzogen werden kann, also universalistisch (man kann auch sagen: menschheitlich) ausgerichtet ist. Zum Nachvollzug gehören Zustimmungs- und Kritikfähigkeit und vor allen Dingen auch eine Applikationsfähigkeit in Hinsicht auf die zeitliche Orientierung der sich am Diskurs Beteiligenden. Der (kantische) Primat der praktischen Vernunft bedeutet keine Einschränkung oder Gängelung der theoretischen, sondern ihre Ermöglichung, ihre Herausforderung durch den Sinnbedarf ihrer Urheber und Adressaten. Die ästhetische Dimension Die ästhetische Dimension bezieht sich auf Erfahrung, allerdings auf eine Erfahrung besonderer Art: Die historische Vergangenheit wird als reizvoll, als sinnlich attraktiv, landläufig als schön erfahren und geht mit dieser Qualität in die Weltdeutung durch sinnliche, empfindungsmäßige Ordnung ein. Ihr spezifisch historischer Charakter beruht darauf, dass die landläufig mit ästhetischer Qualität von Phänomenen verbundene Vorstellung vom »schönen Schein« zum schönen »Vorschein« wirklicher Vergangenheit geworden ist. Maßgebend ist hier das Sinnkriterium formaler Kohärenz in der sinnlichen Wahrnehmung historisierter Vergangenheit. Jedes historische Denken hat seine ästhetische Seite, insofern es immer in Darstellung mündet. Nun ist nicht jede Darstellung ästhetisch mit einer entsprechenden – spezifischen – Sinnhaftigkeit verbunden. Max Imdahl (1996, S. 437) hat diese Sinnhaftigkeit »ikonische Sinndichte« genannt. Sie bringt das zum Ausdruck, was Kunstwerke – jenseits ihrer Zeitgemäßheit, ihrer Anzeige eines Ortes im geschichtlichen Zeitverlauf – auszeichnet: ihre Bedeutung für spätere Zeiten, für die differente Gegenwart. Man hat sich 89

angewöhnt, diese ästhetische Qualität überzeitlich zu nennen und sie damit aus dem Zeitrahmen des historischen Denkens herausgenommen. Damit aber wird die besondere Qualität des Kunstwerks als Sinngebilde für eine Zeit, die eine andere Zeit als diejenige ihrer Entstehung ist, verfehlt. Ästhetischer Sinn bleibt in der Zeit, aber eben nicht gebunden an den Kontext seiner Entstehung. Dieses »für eine andere Zeit« bezeichnet die Bedeutung des Ästhetischen im historischen Denken. Wie gesagt, als dargestellte hat die historisch vergegenwärtigte Vergangenheit stets eine ästhetische Seite. Akademische Texte verraten zumeist wenig davon, aber Historiografie als Text einer Erzählung kann und muss auch als ästhetisches, genauer: als poetisches Artefakt verstanden werden. Darauf hat Hayden White (1978, 1986, 1992) unmissverständlich und höchst wirkungsvoll hingewiesen. Seine Poetisierung des historischen Denkens blendet allerdings dessen spezifisch kognitiven Gehalt aus. Aber zum Verständnis dessen, was dargestellte Geschichte ist, kann auf eine Analyse ihrer ästhetischen Implikationen nicht verzichtet werden. Belehrt durch die Besonderheit ästhetischer »Sinndichte« der Kunst, richtet sich der Blick auf den Erzählprozess der historischen Darstellung. Wo liegen die Wurzeln seiner ästhetischen Qualität? Sie können nur in einem meta- oder präkognitiven Bereich des Erzählens aufgewiesen werden und der lässt sich auch ausmachen. Es gibt nämlich beim historischen Erzählen neben dem Autor – oder in ihm – einen impliziten Erzähler, der sich in einer eigenen Sinnbildung zur Geltung bringt. Dieser anonyme und nicht selten eigenwillige Erzähler trägt wesentlich zur ästhetischen Qualität der historischen Erzählung bei. Dieser Beitrag, der bisher kaum ausführlich untersucht worden ist, lässt sich am ehesten an dem Problem illustrieren, wie das historische Denken mit den Erfahrungen traumatischer Sinnlosigkeit umgeht. Eine übliche historiografische Darstellung ist als solche, aus der Logik des Erzählens selbst heraus, sinnvoll. Dieser Sinn widerspricht der darzustellenden Sinnlosigkeit (wenn z. B. dem Holocaust nicht ein – wie ich meine: illegitimer – Sinn zugeschoben wird). Kann man denn Sinnlosigkeit sinnvoll darstellen? Die Tradition der Historiografie, die sich durch eine bislang wenig thematisierte Leidensverdrängung auszeichnet (Rüsen, 2008), hat darauf 90

keine überzeugende Antwort. Wohl aber die Kunst. Sie ist in der Lage, Sinnlosigkeit überzeugungsstark darzustellen, so schon beispielsweise bei Euripides in der Antike, in der Malerei bei Goya und Anselm Kiefer und in der jüngeren Literatur bei Beckett und Kafka. Die Geschichtsschreibung kann sich von diesen Beispielen inspirieren lassen. Sie kann sich der fundamentalen Erfahrung des menschlichen Leidens öffnen und Darstellungsformen entwickeln, die die Sinnlosigkeit nicht verschleiern, sondern als herausfordernden Teil der menschlichen Kultur sinnvoll eingängig präsentieren. Die politische Dimension In der politischen Dimension verhandelt die Geschichtskultur die Machtkämpfe ihrer Gegenwart. Macht als Chance, auf einen gegebenen Befehl Gehorsam zu finden (Max Weber), bedarf stets der Bereitschaft der ihr Unterliegenden, sich beherrschen zu lassen. Die Machthaber sind daher brennend daran interessiert, gute Gründe für ihre Herrschaft geltend machen zu können. Historische Argumente gehören zu solchen guten Gründen. Max Weber (1917/18/1968) hat diese politische Orientierungsfunktion des historischen Denkens in seiner bekannten Typologie der Legitimität von Herrschaft klar zum Ausdruck gebracht. Als legitim können Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus drei verschiedenen Gründen angesehen werden: einmal wegen des Charismas des oder der Machthaber, dann wegen der Legalität von Macht-und Herrschaftsverhältnissen, also ihrer rechtlichen Form, oder aber schließlich auch wegen ihrer traditionellen Verankerung im Geschichts­ bewusstsein der Beherrschten. Alle drei Legitimitätsformen sind universell, sie kommen also überall, wo Menschen über Menschen herrschen, vor. Sie können logisch (typologisch) klar unterschieden werden, treten aber empirisch durchaus in Mischungsverhältnissen auf. So ist zum Beispiel die Herrschaftsform der Bundesrepublik verfassungsrechtlich in den Menschen-und Bürgerrechten verankert, erfreut sich aber zugleich einer hohen historischen Wertung als freiheitliche Grundordnung deutscher Staatlichkeit. Legalität braucht stets eine historische Absicherung. Die abstrakte rechtliche Geltung muss eine feste Stelle in der historischen 91

Einordnung des Rechts gefunden haben, sonst kann sie leicht zum Spielball kurzfristiger Rechtssetzungen werden. Sie ist zwar auf Macht gestützt – in ihr schlummert das Gewaltmonopol des modernen Staates –, aber Macht ist fluide und hängt von wechselnden Interessenlagen der Machthaber und deren politischer Durchsetzungsfähigkeit ab. Historisches Denken steht also vor der Herausforderung, sei­ ne Rolle in der Legitimation von Herrschaft bewusst wahrzunehmen und seine Potenziale theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs in die Erneuerung und Weiterentwicklung von Herrschaftsformen einzubringen, die den Gemeinsinn rechtlich gezähmter Herrschaft stärkt. Die religiöse Dimension In der religiösen Dimension der Geschichtskultur geht es darum, religionsspezifische historische Erfahrungen zu präsentieren. Die Vergangenheit wird daraufhin in den Blick genommen, wo und wie ein Transzendenzbezug, also etwas Numinoses oder Heiliges sich ereignet hat. Das ist in den so genannten »historischen« Religionen natürlich in besonderer Weise der Fall. Sie berufen sich auf ihre Stifter als Subjekte realen Geschehens in Raum und Zeit und beziehen deren Leben und Lehre durch ihre zeitlichen Auswirkungen auf die Gegenwart der Gläubigen. Für diese gilt diese Geschichte als Garantie ihrer Fortsetzung. Sie hat stets eine Zukunfts­perspektive, oft verbunden mit der Vorstellung einer Wiederkehr des Gründers als Vollendung der Geschichte seines Wirkens in und durch den Gang der Zeiten. Sinnkriterium des religiösen historischen Denkens ist die Heils­­ bedeutung des innerweltlichen Geschehens, in der sich das Numinose jeweils manifestiert. Der Zeitverlauf wird in seiner Richtungsbestimmung auf Gegenwart und Zukunft (auch in seiner zyklischen Form) nach Gesichtspunkten der Auswirkung der ursprünglichen Erlösungstat oder -lehre des Gründers konturiert. Diese Tat stellt die Mitte eines Verlaufs dar. Dessen erster Teil ist Vorlauf auf das Heilsereignis, oft mit der Weltschöpfung als Anfang verbunden und mit Vordeutungen auf das spätere Heilsereignis. Der zweite Teil 92

deckt den Zeitraum von der Stiftung bis zum Ende der Welt ab. Dieses Ende wird oft als Wiederkehr des Stifters und Errichtung einer »heilen« Welt angesehen, in dem die Kontingenz innerwelt­lichen Geschehens in die Dauer der Erlösung von ihr vorgestellt wird. Die psychologische Dimension Die psychologische Dimension liegt quer zu den anderen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie bei den mentalen Operationen des Geschichtsbewusstseins die Rolle des Unbewussten und seine komplexen Beziehungen zu den bewusst (und willentlich) vollzogenen Akten der Sinnbildung betont. Bestimmte, meist sehr negative, störende und verstörende, leidvolle Erfahrungen vom zeitlichen Wandel werden erst gar nicht zur Tätigkeit des Geschichtsbewusstseins zugelassen, sondern gleich verdrängt. Das ist insbesondere bei traumatischen Erfahrungen der Fall. In den Bereich des Unbewuss­ ten verschoben, sind sie dort durchaus wirksam, ohne dass die betreffenden Personen oder sozialen Gebilde in diese Wirksamkeit eingreifen und sie mitbestimmen können. Nur dann, wenn diese unbewusste Einwirkung auf die bewusste historische Sinnbildung zu Störungen in der zeitlichen Ordnung führt, gibt es mentale Impulse, sich diesem Verdrängten zuzuwenden und sich durch kritische Durcharbeitung die Last der Geschichte auf den Schultern der Gegenwart zu erleichtern. Das Unbewusste ist ein Bereich der psychischen Operationen des deutenden Umgangs mit der Erfahrung historischen Wandels (vgl. dazu Rüsen u. Straub, 1998). Es steht in spannungsreichen Beziehungen zum Bereich des Bewussten, wo die betroffenen Subjekte agieren und sich im Fluss der Zeit behaupten (müssen). Es gibt aber darüber hinaus noch den Bereich des »Über-Ichs«. In ihm sind mentale Dispositionen wirksam, denen die Subjekte unterworfen sind und mit denen sie sich auseinandersetzten müssen. Das kann natürlich in ganz unterschiedlichen Formen geschehen: in mimetischer Übernahme, bewusster Annahme, kritischer Überprüfung und schließlich auch durch Zurückweisung. Das Unbewusste ist alles andere als ein leerer Behälter für un­­ liebsame Zeiterfahrungen. In ihm wirken mächtige Kräfte, die 93

das menschliche Handeln bewegen und seine Subjekte leiden lassen (oder auch glücklich machen). Landläufig werden sie Triebe genannt; die Psychoanalyse bevorzugt den Terminus Libido. Sie können auch als Bildekräfte angesprochen werden. Diese Bezeichnung rückt ihren Einfluss auf die Subjektbildung des Menschen, seine Personalisierung und Sozialisierung, in den Fokus. Bildekräfte spielen eine wichtige Rolle im ontogenetischen Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft. Ihnen kommt für die zeitliche Bewegung des menschlichen Lebens, für seine gattungs­spezifische Geschichtlichkeit, eine geradezu konstitutive Bedeutung zu. Kant spricht in seiner geschichtsphilosophischen Programmschrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) von der »ungeselligen Geselligkeit« des Menschen hinsichtlich seiner Bewegtheit und Bewegung durch die Kräfte der Libido im Verhältnis zu anderen Menschen und zu sich selbst. Hegel nimmt sie als »List der Vernunft« für die Triebkräfte des zeitlichen Wandels der Menschenwelt in Anspruch und trägt damit zu ihrer intellektuellen Zähmung bei. Nietzsche glorifiziert sie als »Willen zur Macht«, der den Menschen in den Status des Übermenschen treibt, zur Herrschaft über andere und zum Genuss des Leidens der Unterworfenen. Foucault und die Nachkriegsrezeption Nietzsches sind ihm darin gefolgt, haben allerdings an der Grenze zum Übermenschen meistens, aber nicht immer (Sloterdijk, 1999) Halt gemacht – aus durchaus historischen Gründen. Landläufig werden diese Wirkkräfte des Unbewussten eher als blind gegenüber der Deutungsmacht bewusster historischer Sinnbildung angesprochen. Diese Sicht blendet freilich eine ganz wesentliche Rolle des Unbewussten aus, auf die vor allem C. G. Jung aufmerksam gemacht und deren Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Geschichte Erich Neumann (1986) dargelegt hat: Es handelt sich um die Archetypen, die der menschlichen Weltund Selbstdeutung als kategoriale Voraussetzungen zugrunde liegen. Sie gehen in ihrer Fundierungsfunktion für die menschliche Kultur allem historischen Wandel immer schon voraus und eignen sich daher als anthropologische Universalien zu einer Kulturdifferenz umgreifenden Perspektivierung von Universalgeschichte als Menschheitsgeschichte (Neumann, 1986). Das ist allerdings erst dann möglich, wenn sie im Verhältnis zueinander und dann vor 94

allem im Verhältnis zur reflektierenden Subjektivität der ihnen mental unterworfenen Menschen Veränderung bewirken. Das ist nun insofern der Fall, als das Unbewusste durch seine kulturellen Auswirkungen in den Bereich des Bewussten hineinragt und dort auf die menschliche Subjektivität als Reflexions- und Deutungsvermögen trifft. Die libidinösen und archetypischen Kräfte des Unbewussten setzen die Menschen in eine zeitliche Bewegung, die ihren Umgang mit ihrer Welt und mit ihrem Selbst geschichtsfähig macht; sie zwingen ihre Subjekte wegen deren Bewusstheit geradezu dazu, sich mit ihnen explizit sinnbildend auseinanderzusetzen. Diese reflektierende Auseinandersetzung gibt der zeitlichen Be­­ wegtheit der menschlichen Existenz eine Richtung. Freud (1923/2000) spricht generell davon, dass die unbewussten Kräfte des Es in das Ich hinein sublimiert und dabei das Über-Ich in das Ich integriert wird. Jung (1990) spricht von der Entwicklung des Ich zum Selbst, in der die unbewussten Archetypen einen Prozess der menschlichen Individualisierung bewirken. Neumann hat diese Richtungsbestimmung universalhistorisch ausgelegt. Mit dieser Richtung, die sich personell, intergenerationell und gattungsspezifisch erstreckt, wird überhaupt erst aus zeitlichen Veränderungen ein spezifisch historischer Wandel. Ohne diese innere Ausrichtung werden die zeitlichen Veränderungen der menschlichen Welt in alle möglichen Richtungen gehen, gleichsam taumeln. Erkenntnistheoretisch wurde dafür der Ausdruck »Chaos« (Weber, 1904/1968, S. 214) gebraucht. Gegenwärtig herrscht über diese Zeitrichtung der menschlichen Geschichtlichkeit eine große Unsicherheit. Zwar leben die Menschen für sich in einer solchen Gerichtetheit, aber ob diese Gerichtetheit noch als gesellschaftlich verbindlich angesehen werden kann, ist im Zuge einer allgemeinen Auflösung des sensus communis als Grundlage der politischen Kultur fragwürdig geworden. Demgegenüber könnten psychologische Einsichten in die innere Gerichtetheit der mentalen Triebstruktur wichtige Anregungen zur Sinnbestimmung von Geschichte im perspektivischen Blick auf ihre doppelte Zeitrichtung geben: Einmal ist es die Zeitrichtung im realen Geschehen von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, und dann ist es die Zeitrichtung in der Deutung des Geschehens von der Zukunft (der teleologischen Grund­bestimmung des menschlichen Handelns durch 95

Zweck- und sinnbestimmte Absichten) über die Gegenwart (des aktuellen Handelns und Leidens) in die Vergangenheit als gedeutete Geschichte. Was dieser zeitlich ausgerichtete Teil der menschlichen Mentali­ tät – sozusagen ihr »Geist« – für das historische Denken ­bedeutet, ist noch wenig erforscht worden. (Das mag daran liegen, dass die Subjektivität professioneller Historikerinnen und Historiker im Umgang mit der historischen Erfahrung auf klare methodische Regeln fixiert ist und sich mit dieser Fixierung wenig dazu eignet, auf ihre Bedingtheit durch Mächte des Unbewussten zu reflektieren.) Die moralische Dimension Die moralische Dimension der Geschichtskultur ist fundiert auf normativen Vorgaben an die Bedeutung der Vergangenheit als Geschichte für die Gegenwart. Normen spielen im historischen Denken stets eine wichtige Rolle. Sie wachsen den historisch Denkenden aus ihrem kulturellen Kontext zu und bestimmen die Deutungsperspektive, in die hinein die Vergangenheit vergegenwärtigt wird. Letztlich sind es die Normen, die das Selbstverhältnis der an der Vergangenheit Interessierten in ihrer historischen Identität bestimmen. Identität ist hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension eine Synthese aus der empirischen Genese und der normativ fundierten Projektion erwünschter Zukunft. Moralisch in einem dezidierten Sinn wird dieses komplexe Verhältnis zwischen Normativität und Tatsächlichkeit dann, wenn sich die Normen verselbstständigen, sich also aus ihrer Rückbindung an die historische Erfahrung lösen und zum Maßstab für die Beurteilung der Vergangenheit werden. Dann trifft der Blick auf die Vergangenheit stets selbst auf Normen, auf diejenigen nämlich, die das damalige Leben der Menschen bestimmt haben. Je weiter das historische Denken zeitlich zurückreicht, desto differenter wird diese normative Bestimmtheit (man denke etwa an die Menschenopfer der präkolumbischen Kulturen Lateinamerikas). Hinzu kommt, dass die im kulturellen Kontext des historischen Denkens wirksamen und in dieses Denken 96

hineingewachsenen Normen sich als Sollensbestimmungen von der realen Gegebenheit der jeweiligen Lebensverhältnisse unterscheiden. Dieses Sollen kann dann leicht in die Beurteilung der Vergangenheit zurückschlagen. Wenn es sich dabei nicht selbst historisiert, wird das historische Denken moralistisch. Dabei verschwindet der moralische Eigenwert der vergangenen Lebensformen. Sie werden zu bloßen Objekten einer moralischen Beurteilung, die den für den historischen Charakter maßgeblichen Unterschied zwischen damals und heute nivelliert. Ein solcher Moralismus setzt das hermeneutische Gebot außer Kraft, menschliches Handeln und Leiden in der Vergangenheit im Horizont des Selbstverständnisses seiner Subjekte zu verstehen. Folgt man diesen Geboten unbedingt, dann wird andererseits das historische Denken relativistisch. Damit freilich setzt es sich in Widerspruch zu den Normen, die das historische Denken selbst konstituieren. Dagegen hilft auch kein strenger Objektivismus historischer Forschungsverfahren; denn diese sind nur ein Teil des komplexen Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in dem das historische Denken gründet. Natürlich gibt es Gesichtspunkte der Objektivität, vor allem im methodischen Verfahren der historischen Forschung. Diese dienen der Kritik normativ aufgeladener Erwartungen an die eigene Bedeutung der Vergangenheit, an ihren kulturellen Wert für die Zeitorientierung der Gegenwart. Um Moralismus, Relativismus und Objektivismus als wenig plausible Strategien des historischen Denkens zu vermeiden, kann dessen normative Bedingtheit in zweierlei Hinsicht reflektiert und konzipiert werden: Sie sollte einmal im Hinblick auf anthropologisch universelle Normen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin überprüft werden (mit der Absicht, diese Verallgemeinerungs­ fähigkeit zu steigern), und sie sollte sich so mit den normativen Differenzen in der historischen Erfahrung (selbst normativ) ins Benehmen setzen. Dieses Benehmen wäre dann gegeben, wenn die Moral der jeweiligen Vergangenheit zu derjenigen von der Gegenwart her beanspruchten in ein genetisches Verhältnis gesetzt würde.

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Die didaktische Dimension Die didaktische Dimension der Geschichtskultur beruht auf dem sozialen Erfordernis, dass die Lebensform einer Gesellschaft im Wechsel der Generationen auf Dauer gestellt wird. Die Älteren müssen den Jüngeren vermitteln, worauf es ankommt, wenn sie den vollwertigen Status eines Mitglieds der Gesellschaft einnehmen werden. Der Vorgang dieser Vermittlung heißt Erziehung; die Fähigkeit, sich in den Grundlagen der gemeinsamen Lebensordnung auszukennen und sie diskursiv mit den anderen Mitgliedern verhandeln zu können, kann man »Bildung« nennen. Bestimmendes Sinnkriterium dieser Dimension ist die aktive Kultivierung Heranwachsender zu handlungs- (und leidens-) fähigen Personen. Die wesentlichen Gesichtspunkte der jeweils maßgebenden kulturellen Orientierung werden als lehr- und lernbare Kompetenzen konzipiert und durch eine besondere Praxisform (Erziehung) in die Ontogenese der Heranwachsenden eingebracht. (Auch Ältere sind davon betroffen, wenn sie aufgrund besonderer Umstände Orientierungsdefizite überwinden wollen oder müssen.) Differenz und Synthese der Dimensionen Die bereits beschriebenen Dimensionen des historischen Denkens stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Jedes ­Phänomen der Geschichtskultur stellt eine Mischung von ihnen dar, dessen Sinnkriterien aus entsprechenden Synthesen der unterschiedlichen Prinzipien der historischen Sinnbildung resultieren. Eine ausführliche Theorie der Geschichtskultur müsste der Wechselwirkung und der Möglichkeit einer Hierarchisierung der Dimensionen nachgehen. Dominierend wäre dabei die kognitive Dimension; denn ohne Denken und Erkenntnis kommen die anderen Dimensionen nicht aus. Alle machen Gebrauch von kognitiven Inhalten und Prozeduren, vom Wissen (oder zumindest Annahmen) über das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen zueinander ist nicht einfach eine Synthese maßgeblicher Gesichtspunkte und 98

ihre Auswirkung auf die historische Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Sie können auch im Widerspruch zueinander stehen oder geraten. So können zum Beispiel kognitive Einsichten dem politischen Legitimationsbedarf und seiner Erfüllung durch historische Traditionen widersprechen. Ästhetische Gesetzmäßigkeiten, die für die jeweiligen Medien der Präsentation maßgeblich sind, können historisches Wissen konterkarieren. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der höchst erfolgreiche Film »Schindlers Liste« (1993; Regie: Steven Spielberg), der gegen die Tatsachen die Hauptfigur des Leo Stern konzipiert, da ein Unterhaltungsfilm, der beim Publikum gut ankommen soll, eine klare Position von Held versus Antiheld braucht. In Spannung zueinander stehen auch die religiösen Sinnkriterien und die Sinnkriterien der anderen Dimensionen, insoweit diese säkular ausgerichtet sind. Die interdimensionale Konglomeration oder Synthese ist in hohem Maße kontextabhängig und entsprechend selbst »historisch« im Sinne einer dauernden Veränderung im Zeitfluss des menschlichen Lebens. Gibt es auch hier eine Richtungsbestimmung von Entwicklung? Angesichts der Vielfalt möglicher Konstellationen der Dimensionen im Verhältnis zueinander findet diese einfache Frage keine einfache Antwort. Maßgebend für eine Richtungsbestimmung dürften zwei Faktoren sein: zum einen die Unumkehrbarkeit von Errungenschaften des historischen Denkens in seinen verschiedenen Dimensionen. Dafür mögen der Siegeszug der Methoden der historischen Forschung in der kognitiven Dimension und die Einsicht in die narrative Struktur und in den poetischen Charakter der historischen Repräsentation in der ästhetischen Dimension stehen. Zum anderen tendiert das Verhältnis der unterschiedlichen Sinnkriterien zu einer umfassenden Synthetisierbarkeit. Ihr entspräche dann eine wechselseitige Offenheit aller Dimensionen, die natürlich ohne wechselseitige Kritik unmöglich ist. In beiden Fällen handelt es sich um dynamische Faktoren, die die Historizität der Geschichtskultur stärken.

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Die konstruierte Konstruktion historischer Sinnbildung Wie immer die historische Sinnbildung im Einzelnen ausfallen mag, sie stellt eine Aktivität gegenwärtigen Denkens dar. Die Einsicht, dass die Vergangenheit durch gegenwärtiges Tun ihre Qualität als Geschichte erhält, in Droysens (1977, S. 204) Worten: aus Geschäften Geschichte wird, hat zu einer konstruktivistischen Auffassung des historischen Denkens geführt. Die Historiker werden wie kleine Weltschöpfer präsentiert: Sie schaffen aus dem bloßen Material vergangenen Geschehens zuallererst die Geschichte, zu der das Vergangene vergegenwärtigt wird. Wie Gott im Alten Testament den Menschen aus Lehm (Humus) schuf, so schaffen in der Auffassung des kulturwissenschaftlichen Konstruktivismus die Historiker wie kleine Götter aus dem Faktenmaterial der Vergangenheit Geschichte als sinnvolles kulturelles Gebilde. Max Weber (1904/1968, S. 180) hat diese Auffassung in die bekannte Formulierung gebracht: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist […], dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.« Ist das wirklich so? Ist die Vergangenheit der menschlichen Welt wirklich stumm und kommt nur durch historische Zuwendung zur Sprache? Hat sie von sich aus nichts zu sagen? Ist sie nicht im Sinnbedarf der jeweils gegenwärtigen Kultur präsent? Wenn man nur die Aktivitäten des Geschichtsbewusstseins ins Auge fasst, dann scheint das wirklich so zu sein. Allerdings arbeitet das Geschichtsbewusstsein in Kontexten und unter Bedingungen, die es nicht autonom schöpferisch in Szene setzen kann. Vielmehr sind es diese Kontexte, die die Historiker (um im Sprachspiel zu bleiben) selbst immer schon in die Szene gesetzt haben, in der sie und ihre Zeitgenossen agieren. Zu diesen Voraussetzungen und Bedingungen gehören Sinnvorgaben, an die die Historiker anknüpfen müssen, um sich die Vergangenheit historisch aneignen zu können. Diese Voraussetzungen und Bedingungen sind nun selbst Resultate von Entwicklungen; in ihnen ist die Vergangenheit als Ergebnis zeitlicher Veränderungen gegenwärtig. Es ist dann die Vergangenheit, die mit 100

ihren gegenwärtigen Ergebnissen die Historiker »konstruieren«, also deren Sinnbildung durchaus bedingen und beeinflussen. Jede Selbsterfahrung von Historikerinnen und Historikern bestätigt das (vgl. Rüsen, 2018). Man weiß, dass und wie man zu einer Generation gehört, deren zeitgeschichtliche Bedingtheit die Weichenstellung der jeweiligen historischen Perspektivierung bestimmt. Die erste deutsche Nachkriegsgeneration zum Beispiel spürte die Last der jüngsten deutschen Geschichte auf ihren Schultern und bemühte sich (bewusst oder unbewusst), sie erträglich zu machen. Zählt man das Unbewusste zu solchen Bedingtheiten, dann kann nicht mehr daran gezweifelt werden, dass die Vergangenheit als Produzentin gegenwärtiger Lebensverhältnisse eine Stimme hat, also an der historischen Sinnbildung über sich selbst beteiligt ist. »Tradition« ist ein Modus (neben anderen) dieser Beteiligung. Was dann jeweils zur Sprache drängt, kann ganz verschieden sein (und auch ganz verschieden verstanden werden): Errungenschaften, die verteidigt werden wollen, Versagungen, die aufgehoben werden wollen, Versprechungen, die eingelöst, Hoffnungen, die erfüllt, Schrecken, die gebannt werden wollen, Leidenserfahrungen, die nach Trost verlangen etc. (Rüsen, 2008). Historischer Sinn ist also eine Synthese von Konstruktion und Konstruiertheit. In ihm wird die Sprache der Vergangenheit vernehmbar. Artikuliert freilich wird sie durch die Historiker und Historikerinnen nur als Übersetzung in die Semantik der Gegenwart (im Gefüge einer zeitübergreifenden Grammatik der historischen Darstellung). Diese Verbindung zwischen Konstruktion und Konstruiertheit hat einen Knotenpunkt, wo beides vermittelt wird bzw. das eine in das andere übergeht. Dieser Knotenpunkt liegt da, wo die Sinnbildung, die in den zeitlichen Prozessen der menschlichen Vergangenheit stets erfolgt ist, auf die der gegenwärtigen Deutung trifft. Man kann das Verhältnis dieses Treffens als Verhältnis von Frage und Antwort bestimmen: Die Gegenwart fragt und die Vergangenheit antwortet. Das gilt aber auch umgekehrt: Die Vergangenheit fragt mit offenen, ungelösten, widersprüchlichen Sinnbildungen, und die Gegenwart antwortet mit umgreifenden, dem Zeiten­abstand und dem Zeitverlauf geschuldeten Sinnkonzepten. In diesem »Tref101

fen« liegt das Fundament der hermeneutischen Ausrichtung des historischen Denkens. Wilhelm von Humboldt (1960, S. 598 f.) hat es als »eine vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt« beschrieben. August Boeckh (1886/1966, S. 11), der Lehrer Droysens (neben Hegel), hat das historische Denken als »Erkenntnis des Erkannten« charakterisiert und Droysen (1977, S. 409) sieht in der selbst zeitlich erstreckten Synthese von Verstehen und Verstandenem die fundamentale Sinnbestimmung der Geschichte in ihrem zeitlichen Geschehen und in ihrer historischen Vergegenwärtigung zugleich: »Über den Geschichten ist die Geschichte.« Diese Synthese vereinigt die materiale und die formale Form der Geschichtsphilosophie, sodass Form und Inhalt zueinander, besser: ineinander passen. Der dritte Aspekt der Geschichtsphilosophie, der funktionale, gehört notwendig dazu, denn dieses Verstehen des Verstandenen hat seine Bewährungsprobe darin, dass es die Kraft der zeitlichen Orientierung der aktuellen Lebenspraxis hat (vgl. dazu den Abschnitt »Geschichtsphilosophie« im Folgenden). Man kann die Gadamer’sche Formulierung von einer Horizontverschiebung aufgreifen, wenn es um das Ineinander der Horizonte der kulturellen Orientierung in der Zeit geht, – ineinander freilich in vollem Bewusstsein der Zeitdifferenz. Sie verschwindet nicht, sondern geht in die Vorstellung eines Gegenwart und Vergangenheit umgreifenden Zeitverlaufs ein, eben in die »Geschichte der Geschichte«. Es ist sinnvoll, diese zeitliche Sinnverschlingung näher zu unter­­­suchen. Wo und wie findet sie statt? Um dieser Sache näherzukommen, möchte ich eine Unterscheidung von drei Ebenen der historischen Sinnbildung aufgreifen, die Paul Ricoeur (1988, S. 88 ff.) vorgeschlagen hat: (a) die fungierende, (b) die reflexive und (c)  die pragmatische. Natürlich ist diese Unterscheidung künstlich, und die Ebenen sind stets miteinander vermittelt oder ineinander verschoben; dennoch kann ihre Unterscheidung dazu dienen, die Komplexität des Vorgangs durchsichtig zu machen, durch den die Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtigt wird. (ad a) Auf der fungierenden Ebene ist historischer Sinn als Vorgabe der Vergangenheit in der kulturellen Bestimmtheit der Gegenwart wirksam und mächtig. Hier sind historische Repräsentationen 102

harte Fakten sozialer Determinierung des menschlichen Lebens.2 Sprache und Tradition sind Beispiele für solche objektiven Vorgaben historischen Sinns in der menschlichen Lebenspraxis. Es können aber auch Belastungen einer unheilvollen Vergangenheit sein (wie sie auf Deutschland nach dem Ende der Nazi-Diktatur lasteten), ebenso wirken Verdrängungen einer solchen »negativen« Vergangenheit (wie die Kriegsverbrechen der Japaner im Zweiten Weltkrieg und im Krieg mit China). (ad b) Auf der reflexiven Ebene werden historische Deutungen aktiv vollzogen. Hier sind die Erkenntnisarbeit der Geschichts­ wissenschaft und die Erinnerungsarbeit von Museen und Gedenkstätten und anderen Institutionen angesiedelt. (ad c) Auf der pragmatischen Ebene vermitteln sich Sinnvorgabe und Sinnaufgabe. Hierhin gehört zum Beispiel der schulische Geschichtsunterricht. Auf dieser Ebene wird historisches Wissen in den unterschiedlichen Dimensionen der Geschichtskultur in Anspruch genommen und gebraucht. Wenn man den inneren Zusammenhang der drei Ebenen in ihrer Prozesshaftigkeit erfassen will, dann stellt sich Sinnbildung als ein Geschehen dar, das aller Arbeit des Menschen und seiner Geschichte voraus- und zugrunde liegt. Als zeitliches Geschehen ist es schlechthin gegenwärtig und kann als solches auch nicht durch mentale Zuwendung und Bearbeitung eingeholt werden. Jeder mentale Akt des Geschichtsbewusstseins macht aus dem vorgängigen Sinngeschehen einen denkbaren Sachverhalt, stellt es gleichsam zur Reflexion und Betrachtung still. In diesem Stillstand geht die schlechthinnige Gegenwart des Vollzuges von Sinnhaftigkeit in der unmittelbaren Zeitlichkeit des menschlichen Lebens verloren. Sie tritt zurück, sie wird sozusagen untergründig und kann nur indirekt, zum Sachverhalt des Denkens geronnen, bedacht, analysiert und in die Tätigkeit des Geschichtsbewusstseins aufgenommen werden. Dieser schlechthin wirkliche und gegenwärtige Sinn ist als Geschehen in der Zeitlichkeit des Menschen und seiner Welt unvordenklich. Hier liegt übrigens, wie später noch ausgeführt werden soll, die Quelle religiöser Sinnbildung (wenn man Religion 2 Auf diese Realität von Geschichte hat David Carr (1997, 2014) mehrfach und nachdrücklich hingewiesen.

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als Bemühen des Menschen verstehen will und kann, diese Unvordenklichkeit als Transzendenz in die kulturelle Orientierung und Subjektwertung des Menschen einzuholen).

Vier Typen der historischen Sinnbildung Historische Sinnbildung – so könnte man abgekürzt und zusammenfassend sagen – macht aus Zeit Sinn. Dieser bestimmt die Art und Weise, wie von der Gegenwart aus Bezug auf die »andere« Zeit der Vergangenheit genommen wird, wie in diesem Bezug der Zeitverlauf von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft gedacht wird und wie diese Zeit den Selbstbezug der menschlichen Subjektivität, ihre Identität, bestimmt. Das kann auf recht unterschiedliche Weise vor sich gehen. Um die Fülle konkreter Ausprägungen logisch zu ordnen, lassen sich Grundmuster ihrer Logik idealtypisch unterscheiden. Vier solcher Typen decken den ganzen Bereich des historischen Denkens ab: (a) der traditionale, (b) der exemplarische, (c) der genetische und schließlich (d) der kritische. (ad a) Traditional verfasstes Geschichtsdenken konzentriert sich auf Ursprünge und geltendes Herkommen. Historische Zeit ist die Dauer dieses ursprünglichen Herkommens im Wandel der menschlichen Welt. Dieses Geschichtsdenken formt die kulturelle Kommunikation, in der sich Geschichtsbewusstsein bildet, mimetisch: Vorgegebene ursprüngliche Lebensordnungen werden übernommen und verinnerlicht. Das Sinngebilde der historischen Zeit ist eine innerzeitliche Dauer, eine immanente Ewigkeit des Hergebrachten. Goethes (1808; »Faust«, Verse 682–683), Formulierung »was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen« bringt diese Art, Vergangenheit zu vergegenwärtigen, prägnant zum Ausdruck. (ad b) Exemplarisch verfasstes Geschichtsdenken weitet den historischen Blick über das Herkommen hinaus auf eine breite Fülle vergangenen Geschehens, dessen Grenzen darin liegen, dass sie – wie vermittelt auch immer – mit der Gegenwart zeitlich verbunden sind. Vergangene Geschehnisse werden daraufhin in einen bedeutungsverleihenden Blick genommen, was sich von ihnen über 104

menschliches Handeln, seine Absichten und Folgen als allgemeine Regel lernen oder einsichtig machen lässt. Geschichte ist hier – in den Worten Ciceros (De oratore II, Vers 36) – »Lehrmeisterin des Lebens«. Der Zeitverlauf, der das Geschehen der Vergangenheit umgreift, erhebt sich über die bloße Chronologie von Abfolgen in die Sphäre gültiger Regelhaftigkeit, die sich in den einzelnen Ereignissen manifestiert. Die dominierende Kommunikationsform der Geschichtskultur ist diejenige einer Argumentation im Modus der Urteilskraft, die Einzelfälle auf allgemeine Regeln bezieht und umgekehrt allgemeine Regeln an Einzelfällen einsichtig und beziehbar auf vergleichbare Fälle macht. Die große Geschichtsschreibung in den Hochkulturen der Vormoderne ist dieser Logik weitgehend verpflichtet. Sie bestimmen beispielsweise die Werke von Thukydides ebenso wie die von Sima Qian und Ibn Khaldun. (ad c) Genetisch verfasstes Geschichtsdenken hat ein ganz anderes Zeitverständnis als das traditionale und exemplarische. Diese stellen den zeitlichen Wandel in seine Sinnhaftigkeit innerzeitlich oder überzeitlich still, in die Dauer der Herkunft oder der Geltung allgemeiner Handlungsregeln. Genetisch heißt demgegenüber, dass der zeitliche Wandel selbst, also Veränderung als solche, Sinn macht. Alle menschlichen Lebensverhältnisse werden verzeitlicht. Die dominante Zeitverlaufsvorstellung ist diejenige einer gerichteten Entwicklung, einer Transformation. Im Geschichtsdiskurs geht es dann darum, sich selbst, das eigene Selbst in diesem Zeitverlauf auszumachen und es als dynamisches, also selbst zeitlich, zu konzipieren. In dieser Dynamik formiert sich das personale und soziale Selbst zu individuellen Gestaltungen. (ad d) Kritisch verfasstes Geschichtsdenken bezieht sich auf vorgegebene historische Orientierungen und stellt sie infrage. Es mobilisiert im Blick auf die Vergangenheit Erfahrungen, die geltenden Orientierungen widersprechen. Zeitverläufe werden als Brüche, Diskontinuitäten und Gegenläufigkeiten dargestellt. Die kommunikative Form der Geschichtskultur ist diejenige einer bewussten Standpunkteinnahme mit Abgrenzungsabsichten. Die vergegenwärtigten Zeitverläufe der Vergangenheit werden normativer Überprüfung unterzogen, also explizit als normativ beurteilbar angesehen. Mit dieser Typologie lassen sich Phänomene der Geschichtskultur und der unterschiedlichen Formen der Geschichtsschrei105

bung begrifflich analysieren und systematisch vergleichen. Auch zur historischen Einordnung in langfristige Entwicklungen kann sie verwendet werden. In sehr grober Vereinfachung stellen die drei ersten Typen drei Epochen dar, die in etwa der Periodisierung von Universalgeschichte entsprechen (mit den Epochenscheiden der agrarischen und der industriellen Revolutionen). Tradition als dominante Denkweise steht für archaische Kulturen (einschließlich ihrer mythischen Weltdeutung); exemplarisches Geschichtsdenken dominiert das Geschichtsdenken der Hochkulturen bis zur Moderne; das genetische dann ab der Moderne. Das kritische Denken ermöglicht die Übergänge von einem zum anderen Typ. Die »logische« Struktur der Typologie liegt diesseits der Unterscheidung zwischen säkular und religiös, sodass sie auch zur Analyse religiösen Geschichtsdenkens herangezogen werden kann. Traditionale Sinnbildung ist stets dann gefragt, wenn etablierte Heilsordnungen und Dogmatiken auf Dauer gestellt werden sollen; exemplarisch werden die Viten von Heiligen erzählt, deren Leben als Vorbild genommen wird; genetisch ist die Heilsgeschichte, wenn innerweltliche Ereignisse den Zeitfluss mit unterschiedlicher Bedeutung versehen. Die christliche Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Ende der Welt ist genetisch angelegt mit theoretisch besonders interessanten Verweisungszusammenhängen zwischen verschiedenen Epochen. So gelten viele Ereignisse im Alten Testament als Vorausdeutungen auf das Neue.

Geschichtsphilosophie – Differenz und Einheit von Inhalt, Form und Funktion Akademisch zuständig für fundamentale Sinnfragen des historischen Denkens ist die Geschichtsphilosophie. Sie tritt in drei Formen auf: (a) als materiale; hier geht es um den inneren Sinnzusammenhang des vergangenen Geschehens der Menschenwelt, mit dem es sich historisch auf Gegenwart beziehen lässt; (b) als formale; hier geht es um die spezifische Form (die »Logik«) des historischen Denkens; (c) als funktionale; hier geht es um die Gegenwärtigkeit und Wirksamkeit der Vergangenheit in der Gegenwart. 106

(ad a) Die materiale Geschichtsphilosophie präsentiert die innere Zeitstruktur, die die Geschehnisse der Vergangenheit der menschlichen Welt zu einem einheitlichen Phänomen zusammenfasst. Sie analysiert die besondere zeitliche Dynamik dieser Geschehnisse, die Richtungsbestimmung der in ihnen manifesten Veränderungen. Damit wird auch die Art und Weise angesprochen, wie die Vergangenheit des Geschehens mit gegenwärtigem Geschehen und dessen Zukunftsperspektive zusammenhängt. Historisch beruht diese Art des historischen Denkens auf heilsgeschichtlichen Konzepten, die den Zeitverlauf von der Weltschöpfung über das Erscheinen des Erlösers bis zum Ende der Welt als durchgängiges Sinngeschehen entwerfen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde eine weltliche Form zur Ordnung rasant akkumulierenden Wissens über die Menschenwelt in Raum und Zeit entwickelt (als prototypische Beispiele seien die kantische und herdersche Geschichtsphilosophie erwähnt). Hier beschränkt sich der Zeitrahmen der von ihr sinnhaft umschlossenen und geordneten Vergangenheit auf innerweltliches Geschehen. Außerhalb der Philosophie hat ein solches Denken in Fachdisziplinen der ­Kultur- und Sozialwissenschaften, insbesondere in der Soziologie, in der Kultur­anthropologie und in der Sozialpsychologie ihren Platz gefunden. Dort tritt sie als Theorie der kulturellen Evolution und als zeitliche Dimensionierung der Menschengattung in ihren kulturellen Manifestationen auf (Jüttemann, 2014). In dieser Form ist die Geschichtsphilosophie von Karl Jaspers (1963/2015) wirksam geblieben und weiterentwickelt worden (Arnason, Eisenstadt u. Wittrock, 2005). Innerhalb der Geschichtswissenschaft wird sie (zumeist ohne die Sinnfrage explizit aufzuwerfen) als Universal­ geschichte ausgearbeitet und diskutiert (Christian, 2004). (ad b) Die formale Geschichtsphilosophie präsentiert die Art und Weise des denkend-deutenden Umgangs mit der Erfahrung der Vergangenheit. Angeregt durch den Suprematsanspruch der Naturwissenschaften, musste die Geschichtswissenschaft darlegen können, wie und warum sich ihr Denken von der Rationalität und technischen Anwendung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis als eine eigene Denkweise unterscheidet und zugleich ihren Status als Wissenschaft behaupten kann. Zunächst wurde ihr Vorgehen mit dem Unterschied zwischen Erklären und Ver107

stehen ­(Dilthey im Anschluss an Droysen) oder zwischen generalisierenden und individualisierenden Verfahren (Rickert) der Interpretation beschrieben. Dann arbeitete die analytische Philosophie unterschiedliche Formen des Erklärens aus, um der Eigenart des historischen Denkens auf die Spur zu kommen. Schließlich wurde im Modus des Erklärens durch Erzählen eine Argumentationsweise ausgemacht und dargelegt, mit der die Logik des historischen Denkens in seiner Besonderheit dargelegt werden konnte (Danto, 1974; White, 1992). Bis heute dominiert in der formalen Geschichts­philosophie dieser Narrativismus. (ad c) Die funktionale Geschichtsphilosophie hebt auf Erinnerung als fundamentalen Modus der Vergegenwärtigung der Vergangenheit ab. Hier geht es eigentlich gar nicht um eine mentale Prozedur, durch die die zeitlich abständige Vergangenheit durch Deutung für die Gegenwart in diese eingeholt wird. Es wird vielmehr die unbestreitbare Tatsache in den Blick gerückt, dass die Vergangenheit vor diesen Prozeduren als deren Bedingung der Möglichkeit immer schon gegenwärtig und in den kulturellen Orientierungen der menschlichen Lebenspraxis wirksam ist. Der einschlägige Diskurs wurde gar nicht als Geschichtsphilosophie angesehen und geführt, sondern hatte sein Eigenleben neben der Geschichtstheorie als Erinnerungsdiskurs (Assmann, 1999). De facto aber verhält er sich zur Geschichtsphilosophie wie eine funktionale Ergänzung und Vervollständigung zu ihrer materialen und formalen Ausprägung. Diese drei Formen des Umgangs mit der Vergangenheit haben sich bis heute als Alternativen im Verhältnis zueinander verstanden. Dabei liegt es eigentlich auf der Hand, dass sie zusammengehören. Inhalt, Form und Funktion historisch vergegenwärtigter Vergangenheit ergänzen sich systematisch. Ihr innerer Zusammenhang bedarf freilich einer ausführlichen Analyse (die hier nicht vorgenommen werden kann). Was hält sie zusammen? Es ist der Sinn, der die Vergangenheit in drei unterschiedlichen Hinsichten zur Geschichte macht. Dieser Sinn geht in die verschiedenen Formulierungen von Geschichtsphilosophie ein und verändert dabei seine Gestalt: In der funktionalen ist er eine Vorgabe des historischen Denkens, ein wirksamer Faktor in seinem kulturellen Kontext. An ihn knüpft die 108

Tätigkeit des Geschichtsbewusstseins in seiner Arbeit an der Vergegenwärtigung der Vergangenheit an (in unterschiedlicher Weise: aufgreifend, verändernd, abweisend, oft unbewusst). In der materialen Geschichtsphilosophie erscheint er als Sachverhalt vergangener Geschehnisse, an die das historische Denken in seiner Formierung von Sinn ebenfalls in unterschiedlicher Weise anknüpfen oder zu denen es sich zumindest mit seinen Vorgaben und Absichten verhalten muss. In der formalen Geschichtsphilosophie schließlich dominiert diese eigene Sinnbildung des Geschichtsbewusstseins im Unterschied zur funktionalen Bestimmtheit und zur materialen Anregung. Man kann den Sinn der Geschichte in einer logischen Abfolge dieser drei Bestimmtheiten als ein Prozessdenken bezeichnen. Man gelangt von dieser logischen Vorgabe als Bestimmungsfaktor über eine Distanzierung von ihr durch vergegenständlichte historische Erfahrung in eine reflektierte Bestimmung durch die Subjektivität des historischen Denkens. Dieser Prozess hat eine Struktur, die sich als rekursiv, fast als kreisförmig beschreiben lässt. Denn die reflektiert-bewusste Formung geht in die Geschichtskultur ihrer Zeit ein und kann dort wiederum als Vorgabe für weitere Sinnbildungen wirken, die sich ihrerseits in ein bewusstes Verhältnis zur historischen Erfahrung verwandelt. Impuls dieses rekursiven Vorgangs ist das Streben nach Freiheit in der historischen Aneignung der Vergangenheit, besser: der Befreiung von ihrem Erfahrungsdruck im kollektiven Gedächtnis und von der verstörenden Erfahrung menschlicher Unmenschlichkeit im Geschehen der Vergangenheit.3 Dieser rekursive Vorgang von Vorgabe über Vergegenständlichung zur Bearbeitung ist durchaus ambivalent. Denn der dort wirksame Freiheitsimpuls ist selbst ein Faktor der historisch zu 3

Zu dieser Erfahrung siehe die eindrucksvolle Beschreibung bei Leopold von Ranke (1847/1975, S. 185 f.): »Die Masse der Tatsachen unübersehbar, der Eindruck trostlos. Man sieht nur immer, wie der Stärkere den Schwächeren überwindet, bis wieder ein Stärkerer über ihn kommt und ihn vernichtet; bis dann zuletzt die Gewalten unserer Zeit gekommen, denen es ebenso ergehen wird. […] Es bleibt nichts übrig als das Gefühl der Nichtigkeit aller Dinge und ein Widerwillen gegen die mancherlei Frevel, mit denen sich die Menschen befleckt haben. Man sieht nicht, wozu alle diese Dinge geschahen, alle diese Männer waren und lebten; selbst der innere Zusammenhang wird verdeckt.«

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deutenden Vergangenheit. Die Entlastung, die historisches Denken vom Erfahrungsdruck negativer Geschehnisse im Gedächtnis und im Erfahrungsreservoir von Erkenntnis erfährt oder erfahren soll, ist selbst Teil des historischen Geschehens. Ihm wendet sich das Denken nachträglich zu. Auch hier vollzieht sich ein Sinn­ geschehen, das als gegenwärtiges zwar vollzogen, aber nicht schon im Vollzug als dieses angesprochen und selbst sinnbildend bearbeitet werden kann. Der Geschehenscharakter der in dreifältig vermittelter Unterschiedlichkeit sich vollziehenden Geschichtskultur ist unvordenklich, also nur nachträglich denkend, zu behandeln.

Transzendenz und Immanenz – historischer Sinn und religiöses Heil Die Unvordenklichkeit des Sinngeschehens im aktuellen Vollzug des historischen Denkens ist natürlich selbst noch ein Gedanke. Er bezeichnet aber eine Grenze des Denkens über historische Sinnbildung. Jenseits (oder besser: diesseits) dieser Grenzen im puren Geschehen von Sinn macht der Unterschied von Immanenz oder Innerweltlichkeit und Religiosität oder Transzendenzbezug des historischen Denkens keinen Sinn. Beide sind Modi der Nachträglichkeit gegenüber der Zuträglichkeit der Unvordenklichkeit aktuell-­ gegenwärtigen Sinngeschehens. Vorgängig gehören sie zusammen; sie teilen sozusagen die Sinnhaftigkeit der Welt im Bezug des Menschen auf sie und sich selbst; sie treten erst dann auseinander, wenn diese Sinnhaftigkeit zur Angelegenheit bewussten Denkens, Vorstellens und Erfahrens wird. Ihre Unterschiedlichkeit wurzelt in der Art und Weise, wie sie den Übertritt vom reinen Sinnvollzug in reflektierte Bewusstseinstätigkeit vollziehen. Beides geschieht im Geschichtsbewusstsein; sie teilen also dessen Aktivitäten, durch die Vergangenheit bedeutsam für die Gegenwart wird. Diese Gemeinsamkeit setzt sie von der Sache her in Beziehung zueinander. Ihre Differenz ist also eine sekundäre Unterscheidung in der primären Gemeinsamkeit, Vergangenheit »historisch« zu machen. Worin besteht ihre Differenz? Sie liegt darin, wie sie das (unvordenkliche) Sinngeschehen denken, sich also zu eigen machen: 110

Immanenz hält das angeeignete Sinngeschehen in der Innerweltlichkeit der historischen Ereignisse und ihrer Deutung; Transzendenz bezieht das angeeignete Sinngeschehen auf eine überwelt­ liche Dimension der historischen Ereignisse und ihrer Deutung. Im säkularen Geschichtsdenken entfaltet sich die Sinnhaftigkeit der Geschichte aus dem menschlichen Vermögen, durch sein Denken und dessen Bezug auf Erfahrung die menschliche Lebenspraxis kulturell zu orientieren. Das unvordenkliche Sinngeschehen geht in die Autonomie des selbstbewussten menschlichen Denkens ein, den Sinn der Welt aus sich heraus, aus den Schöpfungskräften der eigenen Subjektivität bestimmen zu können. Im religiösen Geschichtsdenken wird diese Fähigkeit der menschlichen Subjektivität zurückgebunden an eine numinose Instanz, die sie erst sinnfähig macht. Hier ist die Sinnfähigkeit des Menschen heteronom. Sie entfaltet sich aus einem nicht selbst gesetzten Impuls heraus. Dieser Impuls wird also numinos definiert. Sein numinoser Charakter verweist auf die Unvordenklichkeit des sich aktuell vollziehenden Sinngeschehens zurück. Religiöses Denken macht daraus eine bestimmbare Transzendenz, sei es als Offenbarung oder als spezifische Erfahrung, als virtuelle Praxis oder als Verkündigung charismatischer Persönlichkeiten. Entscheidend für die Differenz zwischen säkularem und religiösem historischen Denken ist die Art und Weise, wie sich jeweils die menschliche Subjektivität ins Spiel bringt: Autonom oder (in Schleiermachers Worten) schlechthin abhängig (Schleiermacher, 1910, S. 642, S. 660). Auf den ersten Blick ist diese Unterscheidung eindeutig. Bezieht man sie jedoch auf die konkreten Vorgänge der Geschichtskultur, dann kommen Übergänge und Vermittlungen ins Spiel. Zunächst einmal ist der Einfluss religiöser Sinnkonzepte im historischen Denken in der Geschichte dieses Denkens unübersehbar. Das zeigt beispielsweise die Vorstellung vom Mandat des Himmels für den Kaiser in der chinesischen Historiografie oder die Integration des menschlichen Geschehens in die Einheit einer göttlichen Vor­ sehung im westlichen Geschichtsdenken. Religiöse Sinnkonzepte gehen sogar in die dezidiert säkulare Denkweise der Geschichtswissenschaft ein. Dafür stehen beispielsweise Ranke oder Droysen – markante Vertreter des Historismus als Wissenschaftsparadigma 111

(vgl. dazu Fleischer, 1991; Hardtwig, 2005). Im Umkreis der akademischen Geschichtskultur können sogar genuin heilsgeschichtliche Entwicklungsvorstellungen entworfen werden, wie etwa diejenige René Girards (1999b, 1998), die eine langfristige Überwindung der Opferung Unschuldiger als Bedingung des gesellschaftlichen Zusammenhalts annimmt. Umgekehrt ist moderne Geschichtstheologie ohne systematischen Rekurs auf die (säkulare) Geschichtswissenschaft gar nicht denkbar. Es gibt ein untrügliches Indiz für das Rückgekoppeltsein von Immanenz und Transzendenz des historischen Denkens: die Intui­ tion, den Einfall als notwendige Bedingung für Erkenntnisfortschritt. Max Weber (1917/19/1994; 1919/1994, S. 6 f.) hat seine fundamentale Bedeutung für die Erkenntnisarbeit der Wissenschaft und zugleich seine schlechthinnige Unverfügbarkeit hervorgehoben. Religiöse Geschichtsdeutungen können sich nicht nur neben (und manchmal auch gegen) die Dominanz innerweltlichen Geschichtsdenkens behaupten, sondern sogar als Ergänzung zu dessen Abgrenzungen von übersinnlich-numinosen Sinnquellen angesehen werden. Diese Ergänzung liegt als Potenzial schon in den anthropologischen Grundlagen der historischen Sinnbildung beschlossen. Menschsein zeichnet sich grundsätzlich durch Bestimmungsgrößen der Weltlichkeit (In-der-Welt-sein) aus, die eine Transzendierung in eine überweltliche Sinndimension darlegen, ja geradezu fordern. Es handelt sich um die anthropologischen Universalien der Fragilität, Fallibilität, Vulnerabilität und moralischen Ambivalenz. Fragilität erfordert eine soziale Absicherung der einzelnen Personen. Diese Absicherung durch Sozialisierung erfolgt jedoch nie so, dass das Anerkennungsbedürfnis der Individuen durch seine Einbettung in soziale Umgebungen und deren Einwachsen in die Subjektivität der Betroffenen restlos befriedigt würde. Das Anerken­nungsverlangen geht grundsätzlich über die Anerken­ nungsbereitschaft der Mitlebenden hinaus. Insofern kann es seine völlige Befriedigung erst durch Transzendierung der verlangenden Subjektivität in ein höheres Selbstsein mit numinoser Qualität erlangen. Solche Transzendierung gehört zum religiösen Rüstzeug jeder Kultur. Sie tritt in unterschiedlichen Formen auf: Die Spannweite geht von Selbstaufgabe in Rausch, Ekstase und Erleuchtungs112

erfahrung bis zur Selbststeigerung durch Liebe, die von der numinosen Sinninstanz des Göttlichen, wenn sie selbst personale Züge annimmt, ausgeht. Das Transzendenzverlangen, das von der anthropologischen Universalie der Fallibilität ausgeht, hat Gotthold Ephraim Lessing (1979, S. 33) so beschrieben: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ ich fiele ihm in Demuth in seine Linke und sagte: ›Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‹« Die Wahrheit, nach der der Mensch strebt, kann ja wohl nicht im Streben selbst liegen (das ja immer auf etwas aus ist, auf Erfüllung), sondern liegt als Erfüllte in der Numinosität transzendenter Sinnquellen. Das bezeugt unmissverständlich das Christentum mit der Aussage Christi, er selbst sei die Wahrheit (Johannes 14,5), und nur diese Wahrheit befreie den Menschen zu sich selbst (Johannes 8,32). Vulnerabilität verlangt nach Unversehrtheit, und die kann nur im Jenseits der Verwundbarkeit des Menschen in seinen innerweltlichen Lebenskontexten liegen. Auch hier gibt es eine große Spannung zwischen verschiedenen religiösen Unversehrtheits-­ vorstellungen: von der Auslöschung des verwundbaren Selbst in ein leidfreies Nichts bis zur Auferstehung des Leibes in einer unversehrten Lebensform,4 in der alle Tränen abgewischt sind.5 Moralische Ambivalenz bedeutet als anthropologische Universalie zweierlei: dass jeder Mensch zwischen Gut und Böse unterscheiden und sich in dieser Unterscheidung normativ entscheiden muss und dass diese Entscheidung stets ambivalent erfolgt. Das Böse bleibt als Potenzial von Handlungsabsichten im handelnden Subjekt selbst und in seinem Verhältnis zu den Mitmenschen virtuell erhalten und daher auch als Option oder als Folge des Handelns 4

Philipper 3,20–21: »Wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus, der unsern nichtigen Leib verwandeln [meta-schematizein] wird, daß er gleich werde seinem verherrlichten Leibe nach der Kraft, mit der er sich alle Dinge untertan machen kann.« 5 Apokalypse 7,16–17: »Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.«

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wirksam. Die Aufklärung glaubte, Religion durch Moral ersetzen zu können, und auch heute wird die Substanz des Religiösen in der (moralischen) goldenen Regel gesehen.6 Moralische Urteile treten häufig mit einer Emphase auf, die an religiösen Fanatismus erinnert; oft werden innerweltliche Beziehungen mit transzendenter Wucht aufgeladen. Dabei trifft die Moral den Kern des Religiösen überhaupt nicht: die Erlösung vom Leiden. Moral erlöst eben nicht. Im Gegenteil: Sie macht den Menschen, der sich seine Ohnmacht eingesteht, sein Handeln primär moralisch einzurichten, schuldig und erlösungsbedürftig. Diese anthropologische Rehabilitierung des Religiösen setzt es freilich seinerseits den Erfordernissen einer transzendenten Erfahrung von vollendeter Anerkennung, absoluter Wahrheit, unversehrter Subjektivität und Überwindung des Bösen aus. Kehrt sich diese numinose Transzendenz freilich gegen ihr innerweltliches Pendant und ignoriert ihre Komplementarität zu ihm, dann schlägt sie in ihr Gegenteil um und wird inhuman: Soziale Anerkennung wird zum Konformitätszwang religiöser Verhaltensweisen, Wahrheit wird zum Dogma der Unfehlbarkeit mit einem grundsätzlich intoleranten Allgemeinheitsanspruch, Unverletzlichkeit zur zwangshaften Zurichtungspraxis und moralische Ambivalenz zur Herrschaft des Über-Ichs über den Kern der menschlichen Subjektivität, das Ich. Bei aller Differenz und Komplementarität überschneiden sich also die beiden Denkweisen. Welche Logik liegt dieser Überschneidung zugrunde? Es ist die Logik des Transzendentalen, der Bedingung der Möglichkeit. Sie ist im Hinblick auf historisches Denken noch wenig entfaltet worden. Zwei Hinweise sollen diese grundsätzliche Beziehung erläutern: einmal die Tatsache, dass die theologische Plausibilität der Heilsgeschichte und damit auch der Kirchengeschichte unverzichtbar auf die Geltungssicherung durch wissenschaftliche Methodik angewiesen ist. Und zweitens, dass diese Methodik ihrerseits ein Sinnvertrauen des historischen Denkens voraussetzt, das sich methodologisch nicht begründen lässt, ohne das aber die methodischen Verfahren der Forschung hinsichtlich ihres hermeneutischen Charakters nicht mehr plausibel wären. 6 So vor allem bei Küng (1996) und seiner These vom Weltethos und der moralischen Substanz aller Religionen.

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Ausblick: Herausforderungen für ein zukunftsfähiges historisches Denken Es gibt eine ganze Reihe von Herausforderungen, die dem historischen Denken aus seinen kulturellen, sozialen und politischen Kontexten zuwachsen: (a) die Digitalisierung im Medium der kulturellen Kommunikation, (b) ein neues Verhältnis zur Natur und (c) die Erweiterung des historischen Horizonts im Zuge der Globalisierung. (ad a) Digitalisierung ist ein wesentliches Element im fundamentalen Wechsel im Medium der kulturellen Kommunikation von der Schriftlichkeit zu elektronischen Formen. Sie stellt für das historische Denken mehr als nur eine Ergänzung des methodischen Arsenals der Beschaffung von Informationen über die Geschehnisse der Vergangenheit dar. Die ist als Antwort auf die Orientierungsprobleme notwendig, die die Rolle von Computern in allen Sparten der menschlichen Lebenspraxis aufwirft: eine Beendigung der steigenden Informationsflut und die Anwendung ganz neuer Denk- und Darstellungsformen in der Geschichtskultur. Ihnen entsprechend müssen neue Interpretationsperspektiven entworfen werden, die ein neues nichtlineares Zeitverständnis ermöglichen. Die Methodik der historischen Forschung setzt die Möglichkeit erheblich erweiterter Informationsgewinnung aus den Relikten der Vergangenheit in die Heuristik, Kritik und Interpretation der historischen Erkenntnisgewinnung um; dabei geht die Darstellung historisch vergegenwärtigter Vergangenheit weit über die Möglichkeiten textlicher Erzählungen hinaus. Es werden Hyper-Texte möglich, die sich nicht mehr in der üblichen Weise (zumeist durch Druck) formulieren lassen (Krameritsch, 2007). Welche Auswirkungen solche Formen auf die zeitliche Orientierung der menschlichen Lebenspraxis haben, ist noch wenig absehbar. Allemal aber wird sich die menschliche Subjektivität noch stärker ins Spiel der historischen Deutung bringen, als das schon bisher der Fall war. Wesentlich, ja entscheidend für die Orientierung dürfte die Tatsache sein, dass die Dominanz von Algorithmen in der Gestaltung der Lebenspraxis durch spezifisch historische, also narrative Formation von Erkenntnis gebrochen werden 115

kann. Das könnte zu einer Steigerung von Individualität (personaler und sozialer Art) in den mentalen Prozessen der Identitätsbildung führen. Es ist eine offene Frage, wie jeweils die Sinnkriterien aussehen, die die Digitalisierung mit sich bringt, welche sich von den gegenwärtig üblichen nicht unterscheiden und welche sich ändern. In jedem Fall aber ändert sich die historische Erfahrung selbst: Die Abständigkeit der Vergangenheit geht in neue Vergegenwärtigungen (vor allem durch Bildmedien) ein; dementsprechend verändert sich die historische Zeitverlaufsvorstellung als Faktor der Sinnbildung in eine höhere Komplexität hinein. (ad b) Natur wurde bislang als das Andere der Kultur angesehen. Ihre Historisierung in Physik und Biologie hat das auf die menschliche Kultur gerichtete Geschichtsverständnis wenig berührt. Lediglich die Schnittstelle zwischen biologischer und kultureller Evolution wurde genauer ins Auge gefasst und die Bedingungen der Möglichkeit dafür ermittelt, dass sich Kultur als Daseinsbereich des Menschen ausbilden konnte (vgl. Dux, 2019). Die technische Beherrschung der Natur hat als Ausbeutung Folgen gezeitigt, die die menschliche Kultur ernsthaft bedrohen. Mit dieser menschengemachten Bedrohung ist die Natur in die kulturelle Reflexion des Menschen auf sich selbst und die zeitliche Dimension seines Lebens gleichsam hineingewachsen. Sie gewinnt eine innergeschichtliche, den historischen Zeitverlauf essenziell tangierende Bedeutung. Mit dieser Bedeutung muss sie »verstanden« werden. Dazu bedarf sie einer Stimme, die ihr nicht von sich aus, von sich selbst zukommt, sondern ihr vom Menschen verliehen wird. Das Verhältnis des Menschen zur Natur wird vom Gesichtspunkt der Verantwortung neu bestimmt. Diese Verantwortung ist alles andere als eine Naturalisierung des Menschen, eine Annähe­ rung an die Natur, wie es der sogenannte »animal turn« in den Kulturwissenschaften nahelegen will, sondern geradezu eine Steigerung der Differenz zwischen Mensch und Natur. Denn diese ist ja alles andere als verantwortlich für sich. Verantwortung schreibt ihr einen Sinn für den Menschen, eine Art Beantwortbarkeit auf sein nun sinnhaft (über pure Ausbeutung hinaus) bestimmtes Verhältnis zu ihr. Dass Natur vom Menschen weiterhin angeeignet werden muss und dass er sich vor ihr auch weiterhin schützen muss, dürfte 116

außer Frage stehen. Aber die menschliche Verantwortlichkeit setzt eine neue Sinnqualität der Natur in Kraft. Der Übergang von Natur in Kultur verliert den Charakter einer scharfen Trennung zugunsten einer komplexen Vermittlung, in der beide Seiten jeweils in die andere hineingewachsen sind und noch hineinwachsen. Damit gerät eine kosmologische Grundlage des historischen Denkens in den Blick, die die klassische Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel noch expliziert hatte, die aber in der fachlichen Institutionalisierung der historischen Erkenntnis weitgehend verloren gegangen ist. Typisch für diesen Verlust ist Max Webers erkenntnistheoretische Qualifikation der außerkulturellen Faktizität der Welt als »Chaos« (1904/1968, S. 214). Es steht also eine erhebliche Vertiefung und Erweiterung des Sinnkonzeptes »Geschichte« als sachgeboten an. (ad c) Die Globalisierung des historischen Denkens ist in vollem Gange. Universalhistorien und Kulturvergleiche sind Selbstverständlichkeiten der Geschichtskultur geworden. Und doch gibt es ein Sinnproblem, das einer eingehenderen Analyse bedarf, als es die Geschichtstheorie bisher unternommen hat. Es geht um die Orien­tierungsfunktion der historischen Erkenntnis und dort um die Frage, wie sich in universalhistorischer Perspektive die unterschiedlichen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen des Eigenen vom Anderen konzipieren lassen. Die bisherige Universalgeschichte setzt sich über diese elementare Funktion des historischen Denkens durch Nicht-Thematisierung hinweg, aber es gibt recht problematische gegenläufige Tendenzen mit starker ethnozentrischer Ausrichtung. Bezugspunkt des historischen Denkens ist auch im Zeitalter der Globalisierung die kulturelle Identität seiner Subjekte und Adressaten. Dass es diese Identität gibt, lässt sich nur mit intellektueller Arroganz bestreiten. Sie trägt sich durchaus in entsprechenden Per­ spektivierungen aus. In ihnen wird die eigene Kultur in Abgrenzung von anderen als normativ überlegen, als höherwertig ausgewiesen. Das war in der westlichen modernen Universalgeschichte der Fall (wenn auch eine Selbstkritik des Westens nicht übersehen werden sollte). Dieser Ethnozentrismus kehrt nun in der Umkehrung seiner Wertung wieder. Nun wird die westliche Kultur für alle Modernisierungsschäden verantwortlich gemacht, die inzwischen 117

eine hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das ethnozentrisch hoch aufgeladene Deutungsschema des Verhältnisses von Täter und Opfer findet allenthalben Anwendung auch und gerade bei denen, die für diese Schäden historisch verantwortlich gemacht werden. Moralische Kritik und Selbstkritik üben eine Tugendherrschaft aus, die die fundamentale Ambivalenz des Moralischen ignoriert und den Erfahrungsbezug des historischen Denkens erheblich einzuschränken droht. Ohne normative Setzungen lassen sich historische Perspektiven mit Identitätsrelevanz nicht entwerfen. Insofern sind kritische Hinsichten grundsätzlich nicht verwerflich, sondern geradezu geboten. Wenn sie freilich ethnozentrisch (etwa im Trend einer allgemeinen Viktimisierung) auftreten, gefährden sie die Plausibilität historischer Urteile. Kulturelle Differenz kann, muss und soll sich historisch austragen. Es fragt sich nur wie? Im Rekurs auf anthropologische Universalien können das gemeinsame Menschsein und sein Potenzial kultureller Selbstbestimmung einen differenzübergreifenden Ansatz historischer Perspektiven hergeben, der die Differenz als Phänomen eines kommunikativen Verhältnisses erkennbar macht. In diesem kommunikativen Verhältnis liegen bei aller Kritik Möglichkeiten wechselseitiger Anerkennung beschlossen. Deren Aktualisierung entspricht der sinntheoretischen Einsicht, dass der Sinn des Sinnes der Mensch ist.

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Martin Klüners Kommentar zu Jörn Rüsens Beitrag »Die roten Fäden im Gewebe der Geschichte«

Jörn Rüsen entwickelt in seinem Text eine elaborierte Theorie historischer Sinnbildung, die man auch als Summe einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit diesem Thema lesen kann. Entsprechend komplex sind seine diesbezüglichen Ausführungen. Im Rahmen dieses kurzen Kommentars kann folglich nur auf einzelne Aspekte eingegangen werden. Rüsen eröffnet seine Überlegungen mit einer Definition von »Sinn«, welche die in dem Terminus artikulierte »Doppelnatur des Menschen« und, im Hinblick auf menschliches Handeln, dessen teleologische Qualität betont. Beide Annahmen liegen auch meinen eigenen, vom Leib-Seele-Gegensatz inspirierten und die Etymologie des Sinnbegriffs bemühenden Gedanken zugrunde. Wenngleich Rüsen auf eine explizite psychologische Erörterung der leib-seelischen Doppelnatur des Menschen verzichtet, gesteht er der psychologischen Sinndimension des Historischen und insonderheit dem Unbewussten geschichtsmächtige Kraft zu. Die Terminologie im entsprechenden Abschnitt erscheint mir in gewissen Punkten zwar etwas ungenau (so etwa in Rüsens Ausführungen zu »Ich« und »Über-Ich«, »Libido« in vermeintlicher Abgrenzung zu »Trieben« sowie als Äquivalent zu Hegels »List der Vernunft« etc.), grundsätzlich lassen sich hier aber, sieht man einmal etwa von Rüsens zustimmendem Rekurs auf C. G. Jung und dessen Archetypenlehre ab, essenzielle Gemeinsamkeiten zwischen seinem und meinem Ansatz feststellen. Dies gilt vor allem auch für Rüsens im letzten Absatz formulierte Kritik an der die »Mächte des Unbewussten« weitgehend ignorierenden Methodologie der professionellen Historiker. 123

Die Fokussierung auf den Sinnbegriff verortet Rüsens (und meine) Überlegungen innerhalb einer Tradition, auf deren relativ junge Wurzeln im ausgehenden 19. Jahrhundert er selbst hinweist (S. 71). Die Religion hatte zu jener Zeit ihre Rolle als zentrale Sinnstifterin eingebüßt, die Leerstelle füllte der Mensch als »Sinngarant seiner Welt« (S. 75). Die einst dominierenden religiösen Sinnbildungsleistungen begreift Rüsen entsprechend – und legitimerweise – als bestimmte Ausformung historischer Sinnbildungsleistungen, folglich gewissermaßen als Teil eines übergeordneten Ganzen. Wohl auf diesen Umstand ist es zurückzuführen, dass Rüsen der Problematik der Religion lediglich die Abschnitte »Religion«, »Immanenz und Transzendenz«, »Die religiöse Dimension« und »Transzendenz und Immanenz – historischer Sinn und religiöses Heil« widmet. Die Religion steht also nicht gerade im Zentrum seiner Argumentation. Für meinen persönlichen Geschmack kommt sie damit in Anbetracht des vorgegebenen Themas (»Religion und Sinn«) ein wenig zu kurz. Es wäre meines Erachtens ein lohnendes Unterfangen gewesen, den Gegensatz zwischen religiösen und insbesondere kognitiven Sinnbildungsleistungen stärker unter die Lupe zu nehmen und nach möglichen Gründen für diesen Antagonismus zu fragen.1 Einig sind wir uns dagegen in der Feststellung, dass Religion keinesfalls gleichbedeutend ist mit »Wunder- und Dogmenglaube« (S. 76), sondern vielmehr der Glaube an eine Welt jenseits des sinnlich Fassbaren die kulturübergreifende Qualität des Religiösen bezeichnet. In meinem eigenen Beitrag habe ich versucht, eine psychologische Definition dieses Religiösen anzubieten, die sich auch auf die empirische, insbesondere ethnologische Forschung stützt. Rüsens Schwerpunkt liegt eher auf der Formulierung allgemeingültiger, von anthropologischen Universalien ausgehender Charakterisierungen religiöser Sinnbildungsleistungen, die den konkreten (und zugegeben immer auch relativen) Forschungsstand 1

Die kognitive Historisierung der Vergangenheit wird von Rüsen thematisiert, ohne sie jedoch in einen historischen Kontext einzubetten, sie zeitlich konkreter einzuordnen (von einzelnen Bemerkungen über das Zeitalter der Aufklärung etc. abgesehen). So fehlt auch ein Hinweis etwa auf Jan Assmanns Forschungen zum kulturellen Gedächtnis (u. a. Assmann, 2018).

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der beteiligten kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen weitgehend vernachlässigt. Rüsen nimmt jedenfalls in seinem Text vergleichsweise wenig Bezug auf die entsprechende Sekundärliteratur, von vereinzelten Ausnahmen (e. g. K. E. Müller) abgesehen. Für die Gewinnung einer transkulturelle, ja universale Geltung beanspruchenden Theorie der menschlichen Sinnbildung – ein Vorhaben, das ich unbedingt unterstütze – ist es meines Erachtens jedoch erforderlich, vermeintliche anthropologische Universalien auf ihre tatsächliche »Universalität« hin zu überprüfen. Das alte Problem der Ahistorizität anthropologischer Grundannahmen droht sonst auch hier. So ging meines Erachtens der einschneidendste Bruch im Denken des Menschen über Raum, Zeit und Selbst der schicksalsträchtigsten Veränderung seiner Existenz- (und Subsistenz)weise im Zuge der Neolithisierung parallel – Wildbeuterkulturen erzählen sich daher wesenhaft andere Geschichten über sich selbst und die Welt als spätere Kulturstufen. Gleichzeitig können sie, aufgrund kaum oder nicht ausgeprägter »Entfremdung(en)«, am ehesten Auskunft geben über etwaige anthropologische Universalien jenseits historischer, kulturell bedingter Verzerrungen, also gewissermaßen darüber, wie es – um eine Formulierung aus meinem eigenen Beitrag aufzugreifen – eigentlich »gemeint« gewesen. Wenn Rüsen beispielsweise, hierin vermutlich von dem erwähnten Ethnologen K. E. Müller beeinflusst, schreibt, die Außenwelt jenseits des eigenen Siedlungsgebiets sei den Menschen »un-­heimlich, bedrohlich, dämonisch« erschienen, sodass »das Vertraute und Bewohnte apotropäisch geschützt werden« sollte, so gilt das sicher für die (von K. E. Müller explizit untersuchten) hortikulturellen Gesellschaften seit der Neolithisierung, nicht aber in gleichem Maße für Jäger- und Sammlerkulturen. Entsprechendes lässt sich über die Unterscheidung von »Gut und Böse« als Basis einer daraus resultierenden Normativität des Handelns, die vermeintlich von »allen Kulturen« dem Menschen zugedachte »kosmologische Sonderstellung«, den von Rüsen ebenfalls als universal gekennzeichneten »Intentionalitätsüberschuss des menschlichen Bewusstseins über die realen Bedingungen und Umstände seines Lebens«, die (vermutlich eher geschichtlich gemachte) Inhumanität oder auch die von Augustinus beschriebene spezifische »Unruhe des Herzens« als Teil einer psychologischen Grundausstattung des Menschen sagen. 125

Zweifellos können alle diese Aspekte für bestimmte Kulturstufen, nämlich immerhin die den Planeten dominierenden neolithischen bzw. postneolithischen Gesellschaften, entscheidende Bedeutung beanspruchen – ob es aber wirklich anthropologische »Universalien« in dem Sinne sind, dass sie dem Menschen vom Beginn seiner Gattungs- bzw. Speziesgeschichte an eigen waren, wage ich wie gesagt zu bezweifeln. Um Universalien dieser Art zu benennen, wäre in meinen Augen eine dezidierte Reflexion des Gegensatzes von kaum bis gar nicht selbstentfremdeten Wildbeuterkulturen und stärker selbstentfremdeten bodenbebauenden und viehzüchtenden Kulturen notwendig. Dass nämlich anthropologische Universalien einer vielleicht mehr denn je nach Orientierung verlangenden Weltgesellschaft entschieden dabei helfen können, kohärente, verallgemeinerungsfähige Sinnbildungen auszuformen und so »Moralismus, Relativismus und Objektivismus als wenig plausible Strategien des historischen Denkens zu vermeiden«, halte ich mit Rüsen für evident. Im Hinblick auf den (Wert-)Relativismus (der nicht zuletzt auch dem Historismus insbesondere Ranke’scher Prägung zum Vorwurf gemacht wurde) ebenso wie auf übertriebenen Moralismus kann die Psychoanalyse, die ihrerseits im- oder explizit generalisierende anthropologische Aussagen trifft, nach meinem Dafürhalten Wichtiges zu oben genanntem Projekt beitragen: Ihr Instrumentarium ermöglicht prinzipiell eine Identifizierung von Pathologien und Irrationalitäten des historischen Prozesses (Klüners, 2016, S. 656 f., Anm. 16) sowie der von Rüsen angesprochenen Moralentwicklung2 und birgt auf diese Weise das Potenzial für eine globale Verständigung nicht zuletzt auch über normative Fragestellungen.

2 Ein Beispiel: Wenn Rüsen die Aufklärung dahingehend charakterisiert, ihre Hauptzielrichtung bestehe im Wesentlichen darin, »Religion durch Moral zu ersetzen« (S. 79), so ließe sich dieser Vorgang psychoanalytisch im Sinne der Ablösung einer spezifischen Über-Ich-Form durch eine andere interpretieren.

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Literatur Assmann, J. (2018). Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (8. Aufl.). München: Beck. Klüners, M. (2016). Das Unbewusste in Individuum und Gesellschaft. Zur Anwendbarkeit psychoanalytischer Kategorien in der Geschichtswissenschaft. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 70 (7), 644–673.

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Jörn Rüsen Kommentar zu Martin Klüners’ Beitrag »Seele, Vernunft, Glaube – Die psychologischen Grundlagen der Religion«

Ich lese den Text von Klüners als willkommene Ergänzung zu meinen eigenen Überlegungen. Mir geht es um eine Klärung dessen, was Sinn als Kategorie der kulturellen Orientierung ist und welche Rolle er im historischen Denken spielt. Beide Themen werden von Klüners ebenfalls, wenn auch auf ganz andere Art, behandelt: stärker auf unterschiedliche Diskurse der Kulturwissenschaften bezogen und mit Hinweisen auf konkrete historische Phänomene in einer umfassenden, anthropologisch fundierten Perspektive versehen. Wenn man die zahlreichen empirischen Sachverhalte in ihrer konkreten Gegebenheit einmal außer Acht lässt (zu ihnen lässt sich natürlich immer Ergänzendes und teilweise auch Kritisches sagen), halte ich die umgreifenden und fundamentalen Fragestellungen bei Klüners für erkenntnisförderliche Schritte zu weiteren fruchtbaren Überlegungen, die sich mit der Logik und Pragmatik der Kultur befassen. Zwei Themenkreise dominieren Klüners’ Argumentation: ein Plädoyer zur Verwendung des Begriffs »Seele« als Bezeichnung der Agentin von Sinnbildung und die Heranziehung der Psychoanalyse als notwendiges Instrumentarium zur Untersuchung dieser Sinnbildung. Zu Ersterem kann ich wenig sagen. Für meine Überlegungen reichen die Begriffe der bewussten und unbewussten Deutungsoperationen aus, die ich mit den Begriffen »mental« oder »geistig« bezeichnet habe. »Seele« wäre mir zu einschränkend gegenüber dem Geist und seinem Denkvermögen. Ich rede lieber von »Geschichtsbewusstsein« mit dem Bereich des Unbewussten. Überdies bezeichnet »Seele« traditionell unterschiedliche Sachverhalte: 128

vitale Kräfte der physischen Lebensermöglichung und davon klar unterscheidbar das Vermögen einer Realitätstranszendierung in übersinnliche Daseinsbereiche.1 Modern gefasst kehrt sie in der anthroposophischen Anthropologie wieder, die von Ätherleib und Astralleib als unterschiedlichen Dimensionen in der Verfassung des Menschen spricht. Dass die Psychoanalyse zur Entschlüsselung von Sinnbildungs­ aktivitäten herangezogen werden kann und muss, ist mir seit langem klar (Rüsen, 2003, S. 77 f.; Rüsen u. Straub, 1998). Leider bezieht sich Klüners ganz überwiegend auf die Psychoanalyse von Sigmund Freud. Andere, die ebenfalls Deutungsmöglichkeiten historischer Art vorschlagen und demonstrieren, wie etwa C. G. Jung und sein Schüler Erich Neumann, werden nicht erwähnt. Überdies halte ich eine Kritik an Freuds Ideen zur Kulturgeschichte der Menschheit und an seiner Auffassung von Religion als »Illusion« für angebracht. »Illusion« hatte eine normativ abwertende Komponente. Auf gut Deutsch heißt sie »Un-Sinn«. Das dieser Qualifikation zugrunde liegende Sinnkonzept bedarf einer kritischen Revision. Klüners hält das etablierte Wissenschaftsverständnis der Ge­­ schichtswissenschaft für überholt, ja für ganz unzutreffend. Schließ­­ lich hätten schon die San, die sogenannten Buschmänner im südlichen Afrika, die Prinzipien der Quellenkritik entwickelt und angewandt, auf die sich die etablierte Wissenschaftsdisziplin der Geschichtswissenschaft so viel zugutehalte. Ich finde diese Charakterisierung der Geschichtswissenschaft irreführend. Sie ist einem Klischee wissenschaftlicher Objektivität durch Quellenkritik verpflichtet, dass die professionellen Historiker im 19. Jahrhundert entwickelt hatten und das bis heute noch nachwirkt. Wir müssten es freilich im Blick auf die anspruchsvolle Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft (etwa bei Droysen, Jacob Burckhardt, Ernst Bergheim, Max Weber und in der jüngeren Geschichts­theorie, 1

Klaus Müller hat in der Lebensordnung hortikultureller Gesellschaften zwei Seelen unterschieden: die Vitalseele und die Freiseele, also den Bereich physiologischer Kräfte und den Bereich bewusstseinsbildender Kräfte (K. E. Müller, 1983, S. 17). Diese Unterscheidung dürfte noch heutzutage phänomenologisch (zumindest aber begriffsgeschichtlich) plausibel sein.

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z. B. Jürgen Kockas) besser wissen. Historische Methode ist mehr als Quellenkritik, und die Forschungsmethoden sind komplexer und erfolgreicher als in ihrer traditionellen Konzeption des 19. Jahrhunderts. Ganz ausgeblendet wird bei Klüners die praktische Orientierungsfunktion des historischen Wissens und die ihr geschuldete Vorstellung von historischer Bildung. Klüners Kommentar ist ja selbst gebildet. Über eine solche Auswirkung der Tradition klassischer historischer Sinnbildung sind wir uns einig, freilich jeder auf seine (und ziemlich unterschiedliche) Weise.

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Brief von Martin Klüners an Jörn Rüsen

Lieber Herr Rüsen, vielen Dank für Ihren Kommentar zu meinem Aufsatz. Wie ich sehe, haben auch Sie sich neben der kurzen Herausstellung von Gemeinsamkeiten vor allem auf diejenigen Passagen meines Beitrags konzentriert, wo wir – ausnahmsweise, möchte man fast sagen – nicht einer Meinung sind. Denn dass es zwischen unseren Positionen zwar zum Teil erhebliche perspektivische und methodische Unterschiede, aber keinen grundlegenden Dissens gibt, bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung. Für einen wissenschaftlichen Dialog wäre das bloße Austauschen von Höflichkeiten und Affirmationen freilich eher langweilig. Ich möchte mich im Folgenden daher denjenigen unter Ihren Charakterisierungen widmen, mit denen ich nicht einverstanden bin: 1. Sowohl in Ihrem Aufsatz als auch in Ihrem Kommentar erwähnen Sie zustimmend C. G. Jung und seinen Schüler Erich Neumann und äußern Ihr Bedauern, dass ich meinerseits diese Autoren nicht zitiere. In der Tat habe ich mich mit Jung bis dato noch nicht erschöpfend auseinandergesetzt. Dieses Versäumnis hat allerdings triftige Gründe: Spätestens seit dem Bruch zwischen Freud und Jung im Jahre 1912 blicken die Freudianer auf den einstigen »Kronprinzen« mit einem gewissen Argwohn, der, abgesehen von persönlichen Differenzen zwischen dem Vater der Psychoanalyse und dem der Analytischen Psychologie, vor allem auf inhaltlichen Gegensätzen beruht. Denn bereits zur Zeit seiner Freundschaft mit Freud neigte Jung zu Obskurantismus und Mystizismus, die ihn mitunter zu erkenntnistheoretisch höchst fragwürdigen Einschätzungen führten. 131

Meines Wissens kann man auch die Archetypenlehre hierunter subsumieren. Die Jung’schen Archetypen daher, wie von Ihnen unter Bezugnahme auf Neumann vorgeschlagen, als anthropologische Universalien aufzufassen, die für die Deutung der Menschheitsgeschichte geeignet seien (eine Annahme, die übrigens ähnlich schon durch Arnold Toynbee geäußert wurde; vgl. Klüners, 2013, S. 116 f., S. 119 f. Anm. 485), ist meines Erachtens problematisch. Ich will aber umgekehrt nicht ausschließen, dass sich in Jungs Theorie, die ich wie gesagt nicht gut genug kenne, für die Kulturanalyse wertvolle Gedanken finden, welche in einer erkenntnistheoretisch reformulierten Form die künftige Forschung durchaus befruchten könnten. 2. Sie plädieren für »eine Kritik an Freuds Ideen zur Kultur­ geschichte der Menschheit und an seiner Auffassung von Religion als ›Illusion‹«. Diese Kritik gibt es ja längst – in meiner Dissertation (Klüners, 2013) habe ich dazu umfassend Stellung bezogen. Für meine Argumentation in diesem Band ist auch nicht so sehr der kulturtheoretisierende, sondern der die menschliche Psyche und insbesondere das Unbewusste analysierende Freud von Belang. 3. Damit ist gleichzeitig eingeräumt, dass ich mir viele psychoanalytische Grundannahmen zu eigen mache. Die Aussage aber, dass ich mich dabei so gut wie gänzlich auf Freud beschränke und anderen psychologischen Positionen kaum Beachtung schenke, ist so nicht richtig: Ich setze mich ja einigermaßen ausführlich mit der Entwicklungspsychologie Jean Piagets auseinander. Diese ist seit dem späteren 20. Jahrhundert von so eminenter Bedeutung für den kulturwissenschaftlichen Diskurs, dass man um sie nicht mehr herumkommt. Auch eine sich an anthropologischen Universalien orientierende Geschichtstheorie sollte Piaget nach meinem Dafürhalten möglichst rezipieren. 4. Gründlich missverstanden fühle ich mich in den letzten zwei Abschnitten Ihres Kommentars, in denen es um unser beider Herkunftsdisziplin, die Geschichtswissenschaft, sowie um das historische Wissen zu tun ist: »Klüners hält das etablierte Wissenschaftsverständnis der Geschichtswissenschaft für überholt, ja für ganz unzutreffend« ist eine Einschätzung, deren Grundlagen sich mir offen gestanden nicht erschließen. In meinem 132

Text ist davon jedenfalls mitnichten die Rede. Im Gegenteil: Im Abschnitt »Das Interesse an der historischen Wahrheit« breche ich ja nun eine deutliche Lanze für die moderne Geschichtswissenschaft und insbesondere die quellenkritische Methode. So spreche ich ausdrücklich von »beispiellose[r] Informations­ verdichtung« schriftlicher Quellen sowie, in Bezug auf die historisch-­kritische Methode, von »unvergleichlich präzise[r] Analyse und Interpretation des in der Quelle Mitgeteilten«. Anhand eines konkreten Beispiels, nämlich der Erforschung des mittelalterlichen Lehenswesens, weise ich zudem darauf hin, »dass erst der genaue Blick in die Quellen historische ›Gewissheiten‹ umzustürzen in der Lage ist«. Dies sind doch recht eindeutige Stellungnahmen für das Wissenschaftsverständnis der Geschichtswissenschaft. 5. Im Abschnitt »Grenzen der Geschichtswissenschaft als Be­ wusst­seinswissenschaft« übe ich, der Überschrift entsprechend, lediglich Kritik an einer Verengung gewisser Aspekte, nämlich der übergroßen Fixierung auf Bewusstseinsleistungen, die sich meines Erachtens tatsächlich historisch auf die Textfokussiertheit zurückführen lässt (dass es mittlerweile andere historische Methoden gibt, erwähne ich ja durchaus). Da besteht zwischen unseren Positionen überhaupt kein Dissens – ich sage im Grunde nur mit anderen Worten, was Sie in Ihrem eigenen Beitrag selbst bemängeln: »Was dieser zeitlich ausgerichtete Teil der menschlichen Mentalität – sozusagen ihr ›Geist‹ – für das historische Denken bedeutet, ist noch wenig erforscht worden. (Das mag daran liegen, dass die Subjektivität professioneller Historikerinnen und Historiker im Umgang mit der historischen Erfahrung auf klare methodische Regeln fixiert ist und sich mit dieser Fixierung wenig dazu eignet, auf ihre Bedingtheit durch Mächte des Unbewussten zu reflektieren)« (S. 96). Wir sind uns also einig: Das Unbewusste ist in der gegenwärtigen (deutschen) Geschichtswissenschaft keine ernstzunehmende bzw. ernstgenommene Kategorie. Ich gebe umgekehrt freilich zu, dass ich einige Formulierungen (»Bewusstseinsfetischismus« u. a.) polemisch zugespitzt habe – aber das war nicht als Diskreditierung der kompletten Disziplin gemeint. Wie gesagt, es geht aus (tiefen-)psychologischer Perspektive (die ich 133

laut Konzept dieser Buchreihe ja einnehmen soll) einzig darum, die Vernachlässigung bestimmter Aspekte zu kritisieren. 6. Die Gleichsetzung von Fährtenlesen und moderner Quellenkritik findet sich so nicht in meinem Text. Es ging mir dabei ebenfalls nicht um eine wertende Gegenüberstellung der beiden »Methoden«, sondern eher darum, den Fährtenlesern ein Realitätsverständnis zuzusprechen, das unserem wissenschaftlichen Verständnis zumindest in gewissen Bereichen ihres Weltbezuges durchaus nahekommt. Sie müssen »wissenschaftlich« vorgehen, wo es ihrer Subsistenzsicherung dient. Die historisch betrachtet entscheidende Frage ist doch die, warum es bei dieser Beschränkung nicht bleibt, sondern das (proto-) wissenschaftliche Realitätsverständnis irgendwann auf jene Ebene angewendet wird, die Jan Assmann das »kulturelle Ge­­ dächtnis« nennt. Wieso kommen pristine Kulturen jahrtausendelang mit eher wissenschaftsfernen Mythen aus, wieso wächst irgendwann aber rapide die Bedeutung der faktischen Historie (und insbesondere im Abendland nach der Verabschiedung der Religion als oberster Sinnstifterin)? Dies waren die Leitfragen meiner Überlegung. 7. Auch das Urteil »Ganz ausgeblendet wird bei Klüners die praktische Orientierungsfunktion des historischen Wissens etc.« bedarf meines Erachtens einer Einschränkung. Ob »praktisch« oder nicht, die Orientierungsfunktion des historischen Wissens ist in Wahrheit der eigentliche Dreh- und Angelpunkt meines Aufsatzes – was in früheren Zeiten wie gesagt der Mythos, die »Traumzeit« oder auch die christliche Heilsgeschichte und Ähnliches waren, ist in unserer heutigen Gesellschaft die quellenkritisch abgesicherte historische »Wirklichkeit«. Deswegen fiel meine Wahl auf die Geschichtswissenschaft als Mutter aller historischen Wissenschaften und Sinnbild eines allgemeinen Paradigmenwechsels. Ich hätte als Vertreterin der »Vernunft« und Antipoden »der« Religion gewiss auch die Naturwissenschaft, der man diese Funktion klassischerweise zuschreibt, wählen können – sie ist aber in meinen Augen keine Sinnbildungsleistung im engeren Sinne und daher kein wirkliches Substitut der Religion. Es ist vielmehr so, dass das neue, kritischere Verhältnis zur kulturellen Überlieferung sich allen134

falls unter dem Einfluss der naturwissenschaftlichen Methode herausgebildet hat. Entscheidend ist aber, dass der »Abwendung von Gott« seit der Aufklärung eine »Hinwendung zur Zeit« entspricht und das gesamte menschliche Selbst- und Weltverständnis historisiert wird. Das gilt nicht nur für die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe oder die neue Methodologie in der Erforschung alter Chroniken und Urkunden, sondern beispielsweise auch für die geologische Erforschung der Erdgeschichte oder die biologische Erforschung der Entstehung der Arten (Gamm, 2001, S. 9–11; Klüners, 2013, S. 165). Diese Historisierung ist das eigentliche Surrogat religiöser Sinnbildungsleistung. Um es prägnant zu formulieren: Die »Geschichte« (der Erde, der Natur, vor allem aber des Menschen) ersetzt spätestens ab dem 19. Jahrhundert »Gott« (bzw. die religiösen und mythologischen Sinnbildungsleistungen). Soweit meine Gedanken zu Ihrer Kritik. Selbige sollten wie gesagt nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Kernfragen keine Gegner sind. Einstweilen herzliche Grüße Ihres Martin Klüners

Literatur Gamm, G. (2001). Einleitung: Zeit des Übergangs. Zur Sozialphilosophie der modernen Welt. In: Gamm, G., A. Hetzel, M. Lilienthal. Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie (S. 7–27). Stuttgart: Reclam. Klüners, M. (2013). Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse. Mit einem Geleitwort von J. Straub. Göttingen: V&R unipress.

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