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German Pages 115 [124] Year 1914
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker) In Gießen Im Sommer 1913 erschien das I. Heft von:
Hefte der Theologischen Amerika-Bibliothek Herausgeber: Lic. Kart Bornhausen Prfvatdo2äit der Theologie an der Universität Marburg
Inhalt:
Das Studium der Religion, Theologie und Kirchen Nordamerikas in Deutsehland von Karl Börnhausen Großolctavformat — 44 Seiten — Preis ,1 Mark
Die Ethik Pascals von Karl Börnhausen Oktavformat — ISO Seiten — Preis 4 Mark (Heft 2 der »Stadien zur Geschichte des neueren Protestantismus" hrsgg. von den Profi. H. Hoffmann-Bern und L. Zschamack-Bérlin)
Bei Vandeflhoeck & Ruprecht, Göttingen erschien von demselben Verf.:
Der religiöse Wahrheitsbegriff in der Philosophie Rudolf Euekens Oktavformat — 70 Seiten — Preis 1*60 Mark
Religion in Amerika Beiträge zu ihrem Verständnis
von
Lie. Karl Bornhausen Privatdozent an der Universität Marburg
Glessen 1914 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
Den Freunden in Amerika als Dank und zur Verständigung
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Vorwort. Die folgende Denkschrift, die ich mit Genehmigung des preußischen Ministers der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten veröffentliche, soll einem größeren Publikum Kenntnis geben von der Errichtung einer Theologischen Amerika-Bibliothek an der Universität Marburg. Ihre wissenschaftlichen Ziele und Vorschläge sind von der Regierung wie auch von der mir vorgeordneten Universität und theologischen Fakultät gebilligt worden. Dank der Stiftung einer ersten Gründungssumme durch einen deutsch-amerikanischen Gönner war die Regierung alsbald in der Lage, die Theologische Amerika-Bibliothek Anfang dieses Jahres an der Universität Marburg ins Leben zu rufen. Das durch seine immerhin bescheidenen Mittel bis jetzt recht anspruchslose Institut ist unter die Seminare der Universität eingereiht worden und darf sich nicht nur der gewichtigen Unterstützung der preußischen Regierung, sondern vor allem der Hülfe amerikanischer Freunde und Gönner erfreuen. Wenn ich als Leiter der Bibliothek das Dokument veröffentliche, welches einem Reise-Gedanken unerwartete Verwirklichung gab, so geschieht dies nicht mit dem Anspruch, einen wissenschaftlichen Beitrag zu der religiösen Verständigungsfrage zwischen Deutschland und Amerika zu liefern. Vielmehr möchte ich die lebendige Überzeugtheit und Energie wiedergeben, mit der ich die theologischen Verständigungsziele damals unter dem frischen Eindruck des religiösen Neulands erfaßte. Die Überzeugung von dem Wert religiöser Verständigungsarbeit im Rahmen des großen internationalen Wissenschaftsaustauschs hat mich seitdem nicht verlassen; sie gewinnt die erste Energie wieder, wenn ich zu diesem Gegenstand Wort oder Feder ergreife. Aber die Arbeit selbst will mit vollkommener
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Ruhe und Mäßigung getan sein, ohne Überschätzung ihrer Bedeutung und Wirksamkeit. Ich denke, daß in eineinhalbjähriger Wartezeit alle unklare Gründerbegeisterung verflogen sein und der wissenschaftliche Ernst seinen Dienst an den Sachen und an den Personen erfüllen wird. Denn wie auch sonst Beschäftigung mit der Religion aufgefaßt werden mag, sie ist niemals nur sachlich, sondern stets zugleich persönlich; dies Flammenzeichen der Religion kann uns keine wissenschaftliche Strenge ersticken. Daher denke ich mir auch die Arbeit der Theologischen Amerika-Bibliothek als Dienst an Ideen und an Personen. Zunächst lege ich den Hauptwert auf die S a m m l u n g einer Präsenzbibliothek, aus der eine wissenschaftliche Orientierung über die theologische, kirchliche und religiöse Entwicklung und Gegenwartslage Nordamerikas möglich ist. Bei der Größe des Gebiets und den außerordentlichen Kosten der Anschaffung wird auch da zunächst das Wichtigste beschafft; neben der Dogmatik ist die Literatur über Religionspsychologie und religiösen Sozialismus jetzt das Interessanteste, was Amerika uns bietet. Diese Zweige der Bibliothek werden zuerst ausgebaut und durch Seminarübungen, Spezialstudien und auch Vorlesungen nutzbar gemacht. Ferner dient die Büchersammlung der freien Kenntnisnahme gelehrter, praktisch-religiöser, kirchlicher und politischer Zeitschriften und Zeitungen, die zur B e o b a c h t u n g des in ständiger Entwicklung befindlichen amerikanischen Religionslebens wichtig sind. Dadurch wird die Bibliothek auch den amerikanischen Studenten wertvoll, die bei unseren vergleichenden Studien über deutsche und amerikanische Frömmigkeitsformen sich und uns belehren wollen und sich dazu in der Bücherei aus den sonst in Deutschland nicht zu findenden Zeitschriften über die Vorg ä n g e in ihrer Heimat unterrichten möchten. Die Entwicklung der Bibliothek zu einer Vereinigungsstätte, an der deutsche und amerikanische T h e o l o g e n sich treffen und in vertiefter Weise kennen lernen, soll damit vorbereitet werden. Und gewiß ist es da das Ziel gemeinsamer religiöser Lern- und Lehrarbeit, den internationalen Charakter der Religion aufs weiteste zu fassen und auf alle Kulturreligionen auszudehnen, ohne dabei irgendwie die scharf ausgeprägten Individual- und Nationaltypen des reli-
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giösen Lebens beeinträchtigen zu wollen. Eine gerechte und verständige Einführung der Ausländer in die Eigenart deutscher Religion wäre der Nebenzweck, der dadurch erreicht wird, daß wir Deutsche uns mit wissenschaftlicher Akribie um das Verständnis ihrer religiösen Eigenart und Leistung bemühen. Die Veröffentlichung von Jahresberichten und wichtigen Referaten aus dem Arbeitsbereich des Instituts, Rezensionen und Übersichten über die einschlägige Literatur sollen unsere Arbeit vervollkommnen und ihr vor allem in Amerika die Freunde werben, die sie braucht. Das Glück des kleinen Anfangs ist äußerlich und innerlich auf z w e i Länder gebaut: in der religiösen Verständigungsfrage kann ein Land allein nicht das gute Werk vollbringen; das andre muß mithelfen: so ist es das Wesen aller Religion in ihrer Begründung im Persönlichen. Daher kann das Aufwachsen dieser neuen Einrichtung ein Symbol dafür werden, daß nur in der opferwilligen Zusammenarbeit, die stets dem anderen das Beste zutraut, der Fortschritt religiöser Kultur unter den Völkern und in der Welt zu suchen ist. Mit diesem guten Zutrauen zur religiösen Zukunft Amerikas hat die folgende Denkschrift den Anfang gemacht; sie soll jetzt der schlichten Arbeit kommender Jahre den Weg weisen. Ihre englische Übersetzung ist in The Harvard Theological Review (Cambridge, Mass.) Bd. VI, Oktober 1913 erschienen. Ich habe der Denkschrift einen Aufsatz und einige Vorträge angefügt, die ich über Religion in Amerika zu halten veranlaßt wurde. Trotzdem sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, enthalten sie doch wesentliches Material zur Ergänzung der Denkschrift; auch glaube ich, daß sie die Hauptmomente heutiger amerikanischer Religion und Christlichkeit berühren und klar stellen. Mir wäre die anhaltende Beschäftigung mit einem fremdländischen Geistesleben der Gegenwart nicht möglich gewesen, wenn sich nicht an die Eindrücke einer kurzen Reise ein dauernder schriftlicher Gedankenaustausch und ein enger Verkehr mit amerikanischen Studierenden angeschlossen hätte. So ist es mir Bedürfnis, die Schrift, an der viele Amerikaner teil haben, ihnen zu widmen. Aus ihrer großen Zahl möchte ich
- Vili einigen auch namentlich Dank und Gruß senden: Herrn Professor Lie. W. W. Rockwell vom Union Theological Seminary in New York, Herrn Professor W. Rauschenbusch am Rochester Theological Seminary, Rochester N.Y. und Herrn Rev. Ch. G. Cumming auf Trinidad. Mehr denn je dürfen wir uns heute der Gewißheit freuen, daß der Raum dem geistigen Verständnis keine Grenzen setzt. M a r b u r g i. H., September 1913. Karl B o r n h a u s e n .
Inhalt. D e n k s c h r i f t über das Studium a m e r i k a nischer Religionsverhältnisse . . Die Notwendigkeit des Studiums I. der Theologie II. der Kirche III. der Religion S k i z z e n und E i n d r ü c k e vom r e l i g i ö s e n L e b e n in N o r d a m e r i k a 1. Die Freundschaftsbeziehungen zwischen deutschem und amerikanischem Protestantismus 2. Der englische und amerikanische Protestantismus im neunzehnten Jahrhundert . . . 3. Religion und Arbeit in Amerika 4. Student und Mission in Amerika
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Denkschrift über das Studium amerikanischer Religions Verhältnisse in Deutschland
Das Studium der Religion, Theologie und Kirchen
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Dem hohen Königlich Preußischen Kultusministerium erlaube ich mir den Vorschlag zu unterbreiten, an einer der preußischen Universitäten im Zusammenhang mit der evangelischtheologischen Fakultät ein Seminar zum Studium amerikanischer Religionsverhältnisse zu gründen. Zu diesem Vorschlag veranlassen mich die Erfahrungen, die ich 1911 auf einer Studienreise durch den Osten und Mittelwesten der Vereinigten Staaten Nordamerikas gemacht habe. Der Herr Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten hatte mir zu dieser Reise eine pekuniäre Beihilfe bewilligt und mich zum Bericht über die amerikanische Literatur, die mir in meinem Spezialgebiet Übersetzenswert erscheinen werde, aufgefordert. Der reiche Ertrag meiner Reise und die Wichtigkeit des Gegenstandes veranlassen mich aber, meinen Bericht in dem oben bezeichneten Vorschlag gipfeln zu lassen. Denn nur dadurch kann ich den bedeutsamen Anregungen gerecht werden, die mich auf die dringende Notwendigkeit der religiösen Verständigung Deutschlands und Nord-Amerikas hingewiesen haben. Diese beiden Völker werden zweifellos in der Gegenwart für die Zukunft des Protestantismus und der christlichen Religion und Kultur überhaupt eine sehr bedeutende Rolle zu spielen haben. Die Aufgabe solcher Verständigung muß meines Erachtens zunächst den Universitäten aufliegen und dürfte sich auf geistigen Austausch in folgenden 3 Gebieten erstrecken: a) in der Theologie, b) in den Kirchenverhältnissen, c) in der religiösen GesamtBornhausen, Religion In Amerika
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kultur. Diesen 3 Gebieten entsprechend hätte das Seminar Folgendes zu leisten: Verfolgung der amerikanischen Theologie sollte Theolo le a ) es eine Bibliothek der wirklich wertvollen charakteristischen theologischen Wissenschaftswerke haben. Die systematischen Disziplinen müßten dabei bevorzugt werden, da sie gerade die kennzeichnenden Äußerungen der religiösen Entwicklung wiedergeben. Ich glaube, eine gut gewählte Sammlung solcher englisch geschriebener Bücher würde wertvoller sein als die deutsche Übersetzung einzelner Werke, die doch weder Übersicht noch Abschluß bilden. Wie wenig amerikanische theologische Literatur aus der Systematik ist bei uns bekannt! Auch die Universitätsbibliotheken beachten sie kaum! Ebenso müßte das Seminar die hauptsächlichen theologischen Zeitschriften Amerikas besitzen. Zur Nutzbarmachung dieses Materials müßten natürlich Seminarkurse oder zuweilen eine Vorlesung über Gegenstände wie z. B. über Religionspsychologie abgehalten werden. dagegen erscheint mir die Zusammenstellung des Büchermaterials über die Geschichte, die Lehre und Verfassung der sämtlichen amerikanischen Kirchen und Sekten. Hier sollte alles gesammelt werden, was sich als gegenwärtige Lebensäußerung dieser Denominationen zeigt, ihre" Hauptzeitschriften, ihre charakteristischen Predigten und Unterrichtsbücher. Die großen Denominationen bieten darin teilweise vorzügliches Material, das uns sehr wertvoll sein wird: Zeitschriften wie z. B. „The Congregationalist." Dieses Material dürfte von selbst eine außerordentliche Belebung der Vorlesung über Konfessions- und Sektenkunde ergeben, die heute allzusehr den bloß geschichtlichen Charakter zeigt. Unter Heranziehung des lebendigen amerikanischen Sektenwesens und seiner literarischen Erzeugnisse gewinnt die sogenannte Symbolik notwendig viel mehr Interesse und gegenwärtige Wichtigkeit. Außer dieser praktisch-theologischen und Lehrseite des Denominationenwesens wäre aber vor allem auch ihre Verfassung und Verfassungsgeschichte zu studieren und unseren Theologen nahe zu bringen. Für sie ist es wichtig die verschiedenartige Entwicklung des kirchlichen Geistes in Kirchenwesen
b) W e i t
wichtiger
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Amerika zu beobachten und die Zweckmäßigkeit seiner Rechtsformen vergleichend zu bewerten. Auch den Juristen sollte das Seminar nach dieser Richtung entgegenkommen und dienen. Denn es ist kein Zweifel, daß die Unkenntnis über diese kirchlichen Verfassungsfragen des Auslandes uns geschadet hat und noch jetzt schadet. An irgend einer deutschen Universität muß doch eine Stätte sein, wo man sich aus gutem Material ausgiebig über diese Fragen orientieren kann: sie wäre in solchem Seminar zu schaffen. Religiöse c) Endlich glaube ich, daß dieses Seminar die reliGesamtlage giöse Gesamtkultur in Amerika im Auge behalten muß. Ja, ohne die großen Gedanken der Philosophie und Ethik, der Politik und Weltmission einzubeziehen, dürfte das Seminar seiner Aufgabe, die amerikanische Religiosität uns näher zu bringen, überhaupt nicht gerecht werden. Die Philosophie und Weltanschauung des Amerikaners wird sogar der allein richtige Ausgangspunkt solcher Verständigungsarbeit sein; daher habe ich schon im Wintersemester 1911/12 Seminarübungen über „Philosophie und Religionswissenschaft in Amerika" abgehalten und werde derartige Kurse fortsetzen. Die Einbeziehung aller Kulturinteressen, die von der Religion beeinflußt werden, müßte dem Seminar erlaubt sein. Unmöglich kann man die amerikanische Religiosität verstehen, ohne die wesentlichen sozialen und politischen Zeitschriften, den „Survey", den „Outlook" zu verfolgen. Auch wichtige Bücher über die soziale Frage, über die soziale Arbeit der großen Denominationen, die Berichte der „Young Men's Christian Association" müßten vorhanden sein. Vieles von solchen Werken würde sogar freiwillig zur Verfügung gestellt werden, wie auch die amerikanische Regierung ihr grundlegendes statistisches Werk über „Religious Bodies 1906" den Interessenten gern gratis überläßt. Auch die Politik und die Ästhetik, die schöne Literatur, die teilweise sehr bedeutsames Material zum Verständnis der Religiosität des Amerikaners enthält (Whittier, Hawthorne), dürfte nicht vergessen werden. Kurz, hier gälte es den Horizont des Interesses so weit zu spannen, daß sich aus der breiten Front heraus deutlich die grundlegenden großen Religionszüge des amerikanischen Protestantismus entwickeln lassen, womit zugleich ein Verständnis für die religiöse Zersplitterung und die sektiererische 1*
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Produktivität Amerikas gewonnen würde. 1 ) Nur auf diesem Wege scheint mir eine religiöse Auseinandersetzung und damit ein geistiger Austausch mit dem amerikanischen Protestantismus möglich, dessen Bedeutung für den g e i s t i g e n F o r t s c h r i t t d e r M e n s c h h e i t u n d f ü r d e n F r i e d e n d e r W e l t ich aufs stärkste behaupte. Das nächstliegende Mittel, die deutsche Religion, Theologie und Kirche in den Dienst der hohen religiös-kulturellen Ziele zu stellen, die eine enge Freundschaft zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten einschließen, scheint mir die Gründung eines solchen „Seminars zum Studium amerikanischer Religionsverhältnisse", das ich lieber in einer k l e i n e r e n preußischen Universität gegründet sähe, und dem meine Kräfte zu leihen mir Genugtuung und Ehre wäre. Zur näheren Begründung meines Vorschlags erlaube ich mir, die folgende Denkschrift anzufügen. Universität M a r b u r g , im November 1911.
1) Den Beginn einer Materialsammlung in dieser Hinsicht auf deutschem Boden stellt das Buch von W. Müller .Das religiöse Leben in Amerika* (Jena, Diederichs 1911) dar. Wissenschaftliche Arbeit hätte eingehender und besser motivierend und kombinierend darzustellen.
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Das Studium amerikanischer Religionsverhältnisse. Wir stehen heute im Zeichen internationaler Verständigung der Wissenschaften; seit langem hat sich der Austausch naturwissenschaftlicher Forschung und geisteswissenschaftlicher Gedanken im Verkehr der Kulturvölker als segensreich erwiesen: er hat politische Gegensätze gemildert und besseres Verständnis für die verschiedenen Lebensbedingungen anderer Nationen geschaffen. Das Bindeglied, das die Wissenschaft in dieser Weise geben konnte, war ihre Objektivität und Allgemeingültigkeit: das logische Denken arbeitet gleich auf allen Erdteilen; seiner wissenschaftlichen Richtigkeit kann sich kein nach Kultur strebendes Volk entziehen. So konnte die allgemeingültige Wissenschaft die Friedensgesinnung moderner Nationen stärken. Nun fragt es sich, ob das heutige Geistesleben sich mit diesem Austausch abstrakter Wissenschaft begnügen muß. In jeder Kulturnation lebt auch heute ein geistiger Machtfaktor, der viel tiefer Sinn und Wesen des Volkes bezeichnet: die Religion. Sie ist der individuelle Ausdruck seelischen Volkslebens mit vollem Anspruch auf Eigenart und Unvergleichbarkeit. Trotzdem sollte gerade sie auch in den Kranz der vermittelnden internationalen Beziehungen eingereiht werden: ist es doch ihre sittliche Aufgabe, Friede und Duldung, Hülfsbereitschaft und Aufopferung zu pflegen; ist sie doch gerade geeignet, die engsten Freundschaften der Völker zu schließen, während ihre Feindschaften nach wie vor die ernstesten Gefahren in sich bergen. Aber die Aufgabe, Austausch der Religionen anzubahnen, ist nun durchaus eigenartig. Die Objektivität, die die Wissenschaften verbindet, gilt hier nur teilweise für manche Zweige der Theologie. Jedoch das Wesen der Religion wird durch rein intellektuelle Vermittlung nicht mitgeteilt. Ja, es ist wichtig zu betonen, daß nicht nur innerhalb der christlichen Religion, sondern sogar in der gleichen Konfession, wenn ihre Anhänger verschiednen selbständigen Völkertypen auf getrennten Erdteilen angehören, sich grundlegende Veränderungen in der Frömmig-
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keit und ihren Ausdrucksformen geltend machen, die die Gleichsetzung mit dem wissenschaftlichen Austausch nicht ohne weiteres gestatten. Zur Klärung dieser Lage wäre also die N o t w e n d i g k e i t des r e l i g i ö s e n Austausches zwischen verwandten Kulturvölkern nachzuweisen. Für meine Beobachtungen und Ansichten, die ich hier niederlege, kommt nun nur das knappe Material in Betracht, das ich bei meiner Studienreise durch den Osten und Mittelwesten der Vereinigten Staaten Nordamerikas März bis August 1911 gesammelt habe. Des Unzureichenden meines Überblicks bin ich mir klar bewußt; nur als Anregungen spreche ich meine Gedanken aus. Meine Aufgabe beschränkt sich darauf, die Notwendigkeit des religiösen Austauschs zwischen Deutschland und Amerika nachzuweisen, das will sagen: zwischen den beiden Völkern, die nicht nur durch ökonomische und politische Beziehungen verknüpft sind, sondern die durch ihre ausgesprochen r e l i g i ö s e und p r o t e s t a n t i s c h e Vergangenheit und Gegenwart auf die g e m e i n s a m e Pflege des größten Kulturguts moderner Völker, der Religion, hingewiesen sind.
Wenn ich die Notwendigkeit des Gedankenaustausches zwischen Deutschland und Amerika auf religiösem Boden ins Auge fasse, so muß es mir gestattet sein, ganz außer acht zu lassen, wieviel Amerika von uns Deutschen in theologischer und religiöser Hinsicht zu lernen hat. Die amerikanische Theologie und die Kirchen und Sekten Amerikas haben aber von je die deutschen religiösen Verhältnisse mit Aufmerksamkeit verfolgt. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts kamen amerikanische Theologen nach Deutschland und jetzt ist es fast selbstverständlich, daß der größte Teil der mit Auslandsstipendien belohnten Seminarabsolventen nach Deutschland geht, um unsere theologische Wissenschaft an der Quelle kennen zu lernen. Dem gegenüber müssen die Deutschen zugeben, daß wir diesem Entgegenkommen der Amerikaner durch ein Interesse für ihre religiösen Verhältnisse nur wenig entsprochen haben, sondern uns damit begnügten, freigebige Wirte und uneigennützige Lehrer zu sein. Der Erfolg dieses Verhaltens ist, daß in Amerika das
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Deutschtum nirgends unvoreingenommener anerkannt und gepriesen wird als an den amerikanischen Universitäten; und dieses Verhalten erstreckt sich ebenso auf die guten theologischen Seminare in Amerika, wo die Leistungen deutscher Theologie unbeschränkte Anerkennung und erheblichen Einfluß finden. Wechselseitiger Mir scheint jedoch, daß wir uns mit der GeUnlversltätsbesuch w ä h r u n g solcher akademischen Gastfreundschaft und ihrer enthusiastischen Anerkennung in Amerika nicht begnügen dürfen. Freundschaft zwischen Völkern wie zwischen Menschen beruht auf Wechselseitigkeit allein, mag dieselbe auch nicht in der gleichen Münze umgesetzt werden. Eine Wechselseitigkeit des Austauschs muß daher auch auf religiösem Boden angestrebt werden, und die Amerikaner haben das, was sie jeweils bei uns gelernt haben, viel zu eigenartig bei sich verwendet und entwickelt, als daß wir nicht von ihren religiösen Verhältnissen lernen könnten, wenn wir uns nur nicht immer engherzig auf das Theoretisch-Wissenschaftliche beschränken. Will man daher die Notwendigkeit ins Auge fassen, daß wir Deutschen in religiösen Fragen und Verhältnissen von Amerika zu lernen haben, so muß man die Tatsache betonen, daß die theologische Wissenschaft doch nur einen kleinen Teil der Austauschwerte moderner christlicher Völker darstellt. Dieser läßt sich leichtlich unter die oben anerkannten wissenschaftlichen Austauschformen unterbringen und ist auch durch die verschiedentliche Sendung deutscher Theologen als Dozenten nach Amerika zur Geltung gekommen. Aber die Freundschaftsbeziehungen neuzeitlicher Völker verlangen intimeres Eingehen und mehr Seele und Gemüt im wechselseitigen Verkehr. Die Aufgaben für uns Deutsche, besseres Verständnis der amerikanischen Religionsverhältnisse anzubahnen, dehnen sich weit über das theologisch - wissenschaftliche Gebiet hinaus. Zuerst hat unsre Aufmerksamkeit allerdings auf das Verständnis amerikanisch-theologischer Wissenschaft sich zu richten (I), alsdann aber die kirchlichen Verhältnisse Amerikas in ihrer vergleichenden Bedeutung für uns iu betrachten (II) und endlich das Streben des religiösen Amerika nach einer christlichen Kultur zu bewerten (III).
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I. Nach dieser allgemeinen Charakteristik wird es nicht verwunderlich erscheinen, wenn die Ausbeute an a m e r i k a n i s c h t h e o l o g i s c h e r W i s s e n s c h a f t für den Deutschen ziemlich gering ist. Die amerikanische Theologie ist wenig mehr denn einundeinhalb Jahrhundert alt, sie hat erst kürzlich die Bande denominationeil - dogmatischer Beschränkung abgestreift und steht teilweise noch in den Kämpfen um die Lehrfreiheit. Doch haben einige führende theologische Institute, wie das Union Theological Seminary und die Harvard Divinity School und andere mehr mit Erfolg einen interdenominationellen Charakter sich erworben, sodaß Theologiestudierende jeder Sekte und Konfession dort Belehrung suchen. Erst durch diese Erweiterung ist die wissenschaftliche Unbeschränktheit diesen theologischen Fakultäten, die durch freundschaftliche Korrespondenz mit am gleichen Ort bestehenden Universitäten noch besonders gefördert werden, gesichert worden. Zwar haben ihre Schüler nun zuweilen in engherzigen Denominationen um Zulassung zum Pfarramt zu kämpfen. Aber es steht zu erwarten, daß allmählich alle bedeutenden Denominationen diese wenigen in der Tat führenden wissenschaftlichen Institute anerkennen, ihren gelegentlichen Radikalismus im rechten Freiheitssinn als unbedenklich und in der Praxis sich von selbst korrigierend empfinden. Dann werden auch die kirchlichen Verhältnisse den ungeschwächten Einfluß der theologischen Wissenschaft durch wohlgeschulte junge Theologen und Geistliche in breiterer Weise erfahren. Eine eigentümliche, der Wissenschaftlichkeit allerdings zuweilen gefährliche Mischung von Theorie und Praxis an den theologischen Seminaren unterstützt diese Entwicklung, deren Wert abzuschätzen und Nachteil aufzuweisen eine besondere und hier weit abführende Frage bildet. Mein besonderes Interesse hat sich in den Vereinigten Staaten auf die theologischen Seminare, ihre verschiedenen Typen
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und ihre Eigenart gerichtet. Für den wissenschaftlichen Austausch mit Deutschland kommen aber von ihnen nur einzelne Institute oder auch nur einzelne Gelehrte in Betracht. Zu erwähnen ist besonders, daß solche einzelne Gelehrte sich jetzt in den philosophischen Fakultäten verschiedener Universitäten finden, die mit Erfolg Gebiete der Religionswissenschaft bearbeiten und dort natürlich völlige Freiheit für ihre Forschungen finden, wobei die Meinung irrig wäre, sie alle für ultraradikal und kirchlich unerträglich zu halten. Einige von diesen Männern nehmen einen sehr gemäßigten Standpunkt ein und selbst radikalere unter ihnen sind daneben Pfarrer in an sich recht orthodox-pietistischen Denominationen. Die theologische Wissenschaft in Amerika wirkt weniger religiös-kirchlich trennend, ein Zustand, der große Vorteile in sich birgt. Besuch ens werte Von Instituten, die unter diesem Gesichtspunkt Institute z u b e s u c h e n sich verlohnt, möchte ich folgende anführen: das Union Theological Seminary in New York; die Harvard Divinity School, das Andover Theological Seminary und die Episcopal Theological School in Cambridge, Mass.; die Divinity School der Yale University in New Haven, Conn.; die Divinity School der University of Chicago. Ebenso wichtig ist es, einige Seminare kennen zu lernen, die nicht mit Universitäten verbunden sind, wie etwa das Hartford Theological Seminary, Conn, oder das Bangor Theological Seminary, Maine; das baptistische Theologenseminar in Rochester N. Y. stellt ebenfalls ein fortgeschrittenes Beispiel solcher Anstalten dar. Dann muß das Augenmerk des Besuchers auf die philosophischen, psychologischen, pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten gerichtet sein. Folgende Universitäten: Columbia in New York, Harvard in Cambridge, Yale in New Haven, Pennsylvania-University in Philadelphia und andere wären zu erwähnen. Endlich dürfte man charakteristische Einzelgelehrte nicht vergessen, aus deren Zahl ich mehr zufällig nenne: von Psychologen Stanley Hall in Clark University (Worcester, Mass.), J. Leuba in Bryn Mawr, Pa., Edward S. Ames in Chicago, Irving King in Jowa, George A. Coe im Union Theological Seminary, New York; von Philosophen J. B. Pratt und Russell in Williamscollege, Williamstown, Mass., Howison an der University of California in
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Berkeley bei San Francisco; von Sozialwissenschaftlern Edward T. Devine in Columbia, New York und andere mehr. Damit hätten wir die Institute und Männer ungefähr gekennzeichnet, die in den Gesichtskreis des theologischen Besuchers treten müssen, um ihm ein Bild zu geben, was in der Theologie und auf ihren Grenzen in Amerika gearbeitet wird. Nun ist es bezeichnend, daß das im allgemeinen friedliche Verhältnis zwischen Theologie und Kirche in Amerika großenteils auf Nachteilen der theologischen Wissenschaft beruht. Ich sehe dabei ganz ab von der Masse veralteter traditioneller Theologie, die in den Seminaren von manchen in praktischer Arbeit recht lebendigen Denominationen ohne jede Anpassung an neuzeitlich religiöses Bedürfnis sich vererbt. Bei ihren Vertretern merkt man den Mangel an intellektuellem Interesse für die Religion, der auch viele amerikanische Theologiestudenten auszeichnet. Aber die von deutscher Theologie abhängige amerikanische theologische Wissenschaft zeigt bei aller Konsequenz und sogar in ihrem Radikalismus eine nachteilige Unabgewogenheit und Unfähigkeit, die Religion als Ganzes zu überschauen. In der Jugend der wissenschaftlich-kritischen Theologie Amerikas kommt hiermit zum Ausdruck die Ungeübtheit in umsichtigem theologischem und philosophischem Denken, das nur aus dem Fluidum langer dogmatisch-religiöser Erziehung heraus sich entwickelt und allein durch die vorsichtig abgewogene Einpassung in ein historisch aufgebautes Kulturdenkgefüge sich den Namen „wissenschaftlich" verdient. Durch das Hinschwinden der Bibelautorität und den Einbruch radikaler Kritik ist in Amerika das Interesse an den eigenen systematischen Gedanken gewachsen und die Geschichte erscheint manchmal nur als Objekt negativer Kritik.1) Daher entstehen dann die sonderbarsten Versuche, die geistige und religiöse Gegenwartslage philosophisch und historisch unabhängig zu begreifen. Die Notwendigkeit, eigene theologische Anschauungen an großen historischen Traditionen zu korrigieren, wird in der amerikanischen Theologie bisher nur von einigen 1) Ein hartes Beispiel dafür ist Thompsons Aufsatz über ,The Alleged Persecution of the Christians at Lyons in 177* im American Journal of Theology (Vol. XVI Nr. 3 July 1912, S. 3 5 8 - 3 8 4 ) und seine vernichtende Kritik durch Harnack in der Theologischen Literaturzeitung 1913 Nr. 3, Sp. 74 ff.
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Führern anerkannt, da sie ja selbst kaum große Traditionen hat und diejenigen, die sie hat, in merkwürdigem geschichtlichem Unverständnis beiseite läßt. Vielmehr findet man bei manchen theologischen Denkern drüben die Ansicht, daß nur in der Losreißung von der Geschichte und in dem Traum einer Neubildung der Religion wahrer theologischer Fortschritt gefunden werden könne. Doch ist es notwendig, daß wir auch diesem religiösen Radikalismus eines jungen Volkes das rechte Verständnis entgegenbringen: bei aller wissenschaftlichen Fehlerhaftigkeit steckt darin Glaube an die Macht der Religion und Begeisterung für den Fortschritt des Christentums. Hier muß ich anmerken, daß sich diese Beurteilung der amerikanisch-theologischen Wissenschaft wesentlich auf dasjenige theologische Gebiet bezieht, welches wir immer mehr als das eigentlich zentrale anzusehen gezwungen sind: das systematischtheologische. Ich habe auf dieses Gebiet und die mit ihm verbundenen Wissenschaften der Psychologie und Religionsgeschichte sowie die Philosophie mein Hauptaugenmerk gerichtet und muß, wenn ich nun zu der Bewertung der einzelnen theologischen Disziplinen in Amerika übergehe, betonen, daß mir nur auf diesen Spezialgebieten ein zutreffendes Urteil möglich ist. Biblische Theologie Auf den Gebieten des A l t e n u n d N e u e n und Kirchengeschichte T e s t a m e n t s ist im englischen Sprachgebiet philologisch und historisch stets wertvolle Einzelarbeit geleistet worden, die die deutsche Wissenschaft von jeher bereitwillig anerkannt und verwertet hat. Die k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e A r b e i t in Amerika hat sich bisher wesentlich mit der englischen Kirchenentwicklung wissenschaftlich beschäftigt, wobei wir darüber hinausgehende Forschungen wie die von Henry Martyn Baird über die Hugenotten oder von Henry Charles Lea über die Inquisition gern als wertvolle Ausnahmen erwähnen. Auch in der Ausbildung einer eigenen Kirchengeschichte hat sie gute Ansätze gezeitigt. Harnack und seine Arbeiten gelten in der theologisch-historischen Methodik drüben als allgemein führend. Lassen wir das Gebiet der praktischen Theologie, das ja stets den besonderen kirchlichen Verhältnissen untersteht und in Amerika bisher noch keineswegs den durch historische Arbeiten wissenschaftlich abgeklärten Charakter wie bei uns erhalten hat,
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hier beiseite, so bleibt das Gebiet der systematischen Theologie im weitesten Sinn. Dogmatik
Greift man aus der systematischen Theologie das Zentrum, die G l a u b e n s l e h r e , heraus, so hat darin bisher die amerikanische Theologie nichts geleistet, was ernstlich die deutsche Theologie belehren könnte. Maßgebend sind drüben bisher mancherlei vermittlungstheologische Dogmatiken, die meist an ältere deutsche oder englische Versuche angelehnt sind: der Einfluß Hegels ist oft darin noch unverkennbar. Neueste Anfänge, die teils von der Ritschlschen Theologie abhängig sind, teils auch modern-empiristische Interessen verarbeiten wollen, haben bisher noch keinen klaren wissenschaftlichen Ausdruck gefunden. Doch verdienen führende Dogmafiker wie William Adams Brown im Union Theological Seminary, New York, Edward Caldwell Moore in Harvard Divinity School 1 ) und ihre Werke unsere vergleichende Beobachtung. Ethik
< em
* Gebiet der religiösen E t h i k ist in Amerika ohne Zweifel mehr und origineller gearbeitet worden. Das ethische Interesse liegt der gebildeten Welt dort nahe und gewisse soziale Ideen gehören jetzt geradezu in das akademische Programm auch der Theologie. Sozialethik wird an verschiedenen theologischen Seminarien gelesen; besondern Wert hat Professor Peabody's soziales Museum und Seminar in Harvard University, wo seine Vorlesung über Sozialethik von sehr vielen Studenten 1) Vgl. deren letzte Bücher, W. A. Brown's »The Christian Hope* und E. C. Moore's .Outline of the Histoiy of Christian Thought Since Kant". Was D. C. Macintosh in seiner Kritik von Moore's Buch im Yale Divinity Quarterly, January 1913 Vol. IX Nr. 3 S. 103 f. an dessen Kantischem Idealismus auszusetzen findet, ist nicht berechtigt. Die europäische Philosophie, auch die von England und Frankreich, ist keineswegs von den Grundgedanken der Kantischen Erkenntnistheorie gelöst. Und wenn Professor Macintosh einmal etwas länger in deutsches Denken eintauchen wollte, so wird er die vorwärts, strebende Gewalt der allgemein gefaßten Kantischen Wissenschaftsprinzipien in deutscher Philosophie und Theologie der Gegenwart deutlichst empfinden. In E. C. Moore's Buch begrüßen wir gerade diese Gleichgestimmtheit in den Denkprinzipien, weil für uns unentwegt das Wort des deutschen Dichterphilosophen Schiller über Kants Philosophie gilt: .So alt das Menschengeschlecht ist und solange es eine Vernunft gibt, hat man sie (Kants Philosophie) stillschweigend anerkannt und im Ganzen darnach gehandelt* (Jonas, Schillerbriefe, Bd. 4 S. 49).
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besucht wird. Einen fortgeschritteneren Typus dieses christlichsittlichen Sozialismus vertritt Professor W. Rauschenbusch, Kirchenhistoriker im baptistisch-theologischen Seminar in Rochester N. Y., dessen Werk „Christianity and the Social Crisis" in Amerika größtes Aufsehen und Beifall erregt hat. Eine deutsche Übersetzung dieses Werkes ist in Vorbereitung 1 ), und mit Recht; denn ohne Zweifel muß die deutsche theologische Ethik an der progressiven Art, wie das amerikanische Christentum auch wissenschaftlich die sozialen Fragen der Gegenwart aufgreift, das regste Interesse nehmen und in manchen praktischen Einzelheiten von ihr zu lernen suchen, mag auch im Ganzen das soziale Wohlfahrtsstreben in Amerika hinter Deutschland noch sehr weit zurückstehen. Bemerkenswert bleibt in Amerika, wie sich die theologische Wissenschaft dieser praktischen Gegenwartsfragen mit großer Beweglichkeit und Energie bemächtigt, mögen ihr bisher auch noch die Mittel fehlen, sie tief und gründlich zu beantworten. S e r befriedigenden Ausblick bietet die gegenwärtige R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e in Amerika. Der amerikanisch - theologische Geist hat sich in ihr als in einem Felde rein systematischkonstruktiver Betätigung nicht sehr heimisch gefühlt und meist Anregungen aufgenommen, die v o n ' Höffdings mehr empiristischer oder von Pfleiderers hegelisch beeinflußter Religionsphilosophie ausgingen. Der originale Versuch einer Religionsphilosophie, der von W. James herrührt, muß in seiner rein empiristischen Konstruktion als nicht tragfähig erkannt werden, wie ja James selbst und seine Nachfolger die systematischen Mängel und Widersprüche ihres religionsphilosophischen Denkens zugeben. Bei ihnen sind eben Vorarbeiten verwendet worden, die zur religionsphilosophischen Bearbeitung längst nicht reif und abgeklärt genug waren, die aber mit Recht als einflußreich auf eine zukünftige Religionsphilosophie erkannt wurden: ich meine die Religionspsychologie. Doch muß ich Religlonsphilosophle
Einen
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1) Die deutsche Übersetzung durch Dr. Christlieb erscheint bei Diederichs in Jena. Rauschenbusch hat jetzt eine Fortsetzung dieses Buches mit dem Titel .Christianizing the Social Order* (New York Macmillan 1912) veröffentlicht, die gleichermaßen sozialethisch aufrüttelnd in Amerika zu wirken scheint.
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hier stark auf die Wichtigkeit eines deutschen Studiums der James'schen Religionsphilosophie, mag diese auch wissenschaftlich als Gedankenfragment und als völlig inconcinn erscheinen, hinweisen. Erfahren wir durch diese Religionsphilosophie nur in einigen Punkten wissenschaftliche Bereicherung, so lernen wir durch sie als Ganzes w e s e n t l i c h e Z ü g e d e s a m e r i k a n i s c h e n r e l i g i ö s e n D e n k e n s kennen, die sich bei keinem amerikanischen Denker echter und populärer niedergeschlagen haben als bei W. James. 1 ) „ „ ,
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Rellgionspsychologie
Aber wissenschaftlich wichtiger ist die Vor,
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aussetzung von James religiösen Uberzeugungen: die R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e , die er selbst durch seine Arbeiten bedeutend gefördert hat. Es ist ohne Bedenken anzuerkennen, daß die Amerikaner in der Begründung und Ausarbeitung der Religionspsychologie wie der modernen empirischen Psychologie überhaupt Bahnbrechendes geleistet haben. Andrerseits aber muß ich betonen, daß die Religionspsychologie jetzt in Amerika in eine ganz bedenkliche Periode der Popularität und Überschätzung eingetreten ist, sodaß der Büchermarkt mit hastigen Erzeugnissen von Augenblickseinfällen und wissenschaftlich scheinenden Ausgeburten beschränkter Konsequenzmacherei auf dem Gebiet der Religionspsychologie bedeckt wird. Wertvoll ist nur, was in der Anwendung der Religionspsychologie auf die religiöse Pädagogik geleistet wird. Die Religionspsychologie selbst in ihrem wissenschaftlichen Ausbau leidet darunter, daß sie zu früh ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt worden ist und nun das Publikum durch Sensationen unterhalten will. Orthodoxie und Liberalismus schlachten beide die noch ungefestigten Resultate einer empirischen Psychologie für ihre jeweiligen dogmatischen Vorurteile aus. Niemandem fällt es ein, diese Religionspsychologie in die notwendige Korrespondenz mit der Geschichtswissenschaft der Religion und der Dogmengeschichte zu setzen; vielmehr erscheint die religiöse Geschichte nur als Experimentierlaboratorium der 1) Vgl. Troeltschs Gedächtnisaufsatz für James über „Empiricism and Platonism in the Philosophy of Religion" in der Harvard Theological Review (Oktob. 1912), ferner meine Veröffentlichungen über James in der .Christlichen Welt* 1910 Nr. 34 und 1913 Nr. 6.
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Psychologie. Doch ist zu hoffen, daß diese sensationelle Hochflut, da sie religiös fruchtlos bleiben wird, sich bald verläuft und die Religionspsychologie dann in die stilleren Wasser kommt, wo sie sich auf ihre Pflichten und Rechte an der Religion besinnen kann. So fremd nun diese ganze religionspsychologische Bewegung uns vorkommen mag, so ist der deutschen Theologie doch der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich aus begreiflicher Furcht vor diesen Extravaganzen von der religionspsychologischen Arbeit allzusehr zurückgehalten hat. Und doch wird es der deutschen theologischen Arbeit letztlich aufliegen, die systematischen Resultate aus dieser empirischen Religionswissenschaft zu ziehen, da die andern Völker zu diesem Geschäft der gründlichen Nachdenklichkeit ermangeln. Aber diese Arbeit werden die deutschen Theologen nicht leisten können, ohne sich mit den empirischen Vorarbeiten und Materialsammlungen auseinandergesetzt zu haben, die das Ausland und besonders Amerika darbietet. Daher dürfte jetzt für die d e u t s c h e T h e o l o g i e die rechte Zeit gek o m m e n s e i n , a l l g e m e i n er a l s b i s h e r die a m e r i k a n i s c h e n r e l i g i o n s p s y c h o l o g i s c h e n P u b l i k a t i o n e n zu s a m m e l n , i h r e M a t e r i a l i e n zu s i c h t e n , i h r e M e t h o d e n zu k r i t i s i e r e n u n d W e g e zu b a h n e n , um nicht etwa nur eine theologische Praxis und Seelsorgeerleichterung, sondern e i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e E i n a r b e i t u n g d e r R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e in R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e u n d D o g m a t i k zu b e w e r k s t e l l i g e n . Dabei werden wertvolle Anregungen und Vorarbeiten, die auf deutschem Boden von T r o e l t s c h und W o b b er m i n begonnen sind, breiter und vielseitiger aufgenommen werden müssen, während die religionspsychologische Richtung, die in Deutschland nur den empiristischen Radikalismus der Amerikaner nachahmt ( V o r b r o d t , R u n z e ) , keinen Erfolg verspricht. Jedenfalls sollte die deutsche wissenschaftliche Theologie aus der amerikanischen Religionspsychologie die Folgerung entnehmen, daß die Religionspsychologie als vorbereitende Disziplin dem Gefüge theologischer Encyclopädie eingearbeitet werden muß, wenn ihr darin auch keineswegs die ausschlaggebende Stellung zukommt, die die Erfinderfreude der Amerikaner ihr gegeben hat. Hier liegt eine klare Aufgabe vor, von Amerika kritisch zu lernen.
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letzte Disziplin, in der wir Ver.. . . . . •, ,, . . , dienste der Amerikaner um die theologische Wissenschaft hervorheben müssen, ist die R e l i g i o n s g e schichte. J a sie scheint mir das Gebiet zu sein, wo wir am unbedenklichsten von ihnen uns abhängig machen dürfen. Die sorgsamen amerikanischen Quellensammlungen und antiquarischen Studien über die Religion der Primitiven und Ähnliches gehören zum besten, was die historische Wissenschaft überhaupt zu diesen schwierigen Problemen beigebracht hat, und die Arbeit eines Gelehrten wie G. F. M o o r e ' s in Harvard University genügt zum Beweis, daß diese geschichtlichen Schätze in Amerika eine breite und tiefgreifende Verarbeitung erfahren. Die deutsche Theologie muß diese amerikanische religionsgeschichtliche Wissenschaft und ihre Entwicklung aufs schärfste im Auge behalten und von ihr lernen, auch wo sie sich in das Philosophische oder Profanhistorische zu verlieren scheint. Denn es gilt zuletzt den Geist der Religionsgeschichte für die gegenwärtige Religion wirksam zu machen, das heißt hinauszuführen auf eine Philosophie der Religionsgeschichte. In diesem Sinn wird die Religionsgeschichte für die deutsche Theologie äußerst wichtig, da sie ihr zentrales Problem vorbereitet, das der Glaubenslehre.
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Schon diese skizzenhafte Übersicht der amerikanischen Theologie zeigt doch, daß ihre Beobachtung und Verwertung uns Deutschen nicht unnützlich wäre, ganz abgesehen von dem großen Vorteil, den wir aus der näheren Verständigung mit der amerikanischen theologischen Gelehrtenwelt hätten. II. Ist die Notwendigkeit, daß sich die deutsche Theologie mehr mit der amerikanischen Religionswissenschaft beschäftige, nur beschränkt und in Einzelheiten nachweisbar, so dürfte es dagegen leichter und einfacher sein, der deutschen Wissenschaft den Zwang einer stärkeren Kenntnisnahme der a m e r i k a n i s c h e n K i r c h e n v e r h ä l t n i s s e nahe zu bringen. Die amerikanischen Kirchen und Sekten haben sich aus ihren eigentümlichen historischen Bedingungen und unter besonderen politischen Einflüssen so eigenartig und selbständig entwickelt, daß sie in
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Formen und Verwaltung neue Gebilde von beträchtlichem Wert darstellen. Und bedauerlicher Weise muß hier festgestellt werden, eine wie geringe Kenntnis der kirchlichen Verhältnisse Amerikas bei uns vorhanden ist, sodaß man sich teilweise ganz groteske Vorstellungen von einer angeblichen kirchlichen Anarchie in Amerika macht. Gerade das Gegenteil ist der Fall: das kirchliche Leben vollzieht sich in den großen protestantischen Denominationen Amerikas in einer Ordnung und unter persönlicher Beteiligung der Mitglieder derart, daß man schon von der Realisierung eines echten Volkskirchentums dort reden kann. Dabei ist deutlich erkennbar, wie diese Denominationen sich immer mehr Verfassungsformen aneignen, die die Führung der Kirchenwesen in die Hände kleinerer demokratisch gewählter Körperschaften, Presbyterien, Gemeindevorstände legen, sodaß sich die Kirchenentwicklung von dem rein demokratischen Gemeindeprinzip, nach dem j e d e s Gemeindeglied in j e d e r kirchlichen Frage stimmberechtigt ist, hinweg zu bewegen scheint. Sehr bezeichnend wirkt dabei auch die immer stärkere Belebung und Bereicherung der gottesdienstlichen Formen mit, die dem früheren Puritanismus unerträglich gewesen wären. Im Allgemeinen dürfte man daher sagen, daß ein Kirchentypus erstrebt wird, der die Verfassungsform der Presbyterian Church im Sinne der Congregational Church modifiziert, während in den Gottesdienstformen sogar Elemente der Episcopal Church in den Puritaner-Congregationen Aufnahme finden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Dinge im einzelnen einzugehen, aber der Hinweis ist mir wichtig, daß in den großen protestantischen Denominationen Amerikas sich eine kirchliche Entwicklung anbahnt, die sie dem Verständnis des deutschen Kirchentums näher rückt und ihre Kenntnis für das deutsche Kirchenwesen unmittelbar bedeutsam macht. „. . . . Dieser Gedanke wird noch dadurch unterKirchenvereinigung
stützt, daß sich unter den Hauptdenominationen Amerikas heute eine Einigungsbestrebung anbahnt, die zum mindesten die kirchlich-sozialen Kräfte der Kirchen zu gemeinsamer Aktion sammeln will. Diese Church Union erstrebt zunächst die Einigung der Presbyterianischen, Congregationalistischen, Baptistischen und Methodistischen Kirche, Bornhausen, Religion In Amerika
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die durch ihren Zusammenschluß die Hauptmasse des Gesamtprotestantismus Amerikas darstellen würden. 1 ) Ihre Einigung bedeutete eine außerordentliche Kraftersparnis und die Möglichkeit, trotz der bleibenden Verschiedenheiten der Kirchen als juristische Personen, in Fragen der religiösen und moralischen Beeinflussung und Erziehung stärkste Einwirkung auf die gesamte protestantische Bevölkerung Amerikas zu gewinnen. Mit Recht erhoffen amerikanische Idealisten in dem Zusammenschluß dieser Denominationen den Beginn einer a m e r i k a n i s c h - p r o t e s t a n t i s c h e n V o l k s k i r c h e , die ohne jede Verknüpfung mit dem konfessionslosen Staat doch auf das Volksleben jenen unmeßbaren kulturbringenden Religionseinfluß äußert, den die christliche Religion und der Protestantismus allein bringen kann. Der deutsche Protestantismus hat in der Reformation diese Ideale geschaffen; die amerikanische Union-Church mag vielleicht die erste werden, die sie im modernen Kulturleben realisiert. Der deutschen Theologie und Kirche darf es aber durchaus nicht gleichgültig sein, wenn sich in Amerika eine Kirchengemeinschaft bildet, die wohl den größten protestantischen Körper in der Welt darstellen würde. Vielmehr müßte es uns Deutschen als dringende Pflicht erscheinen, schon an der Entstehung dieser Church-Union teil zu nehmen, so sehr wir nur können, und ein kirchliches Freundschaftsverhältnis mit diesen Denominationen anzubahnen, das e i n e m W e l t b u n d d e s P r o t e s t a n t i s m u s vorarbeitet. Wir dürfen auch kirchlich heute nicht mehr in der Isolierung jeben, und wir würden uns gewaltig täuschen, wenn wir von deutschen Gegenwartserscheinungen ausgehend glaubten, die Kirchen oder auch nur die deutschprotestantische Kirche hätten ihre Rolle ausgespielt. Wer weiß, ob nicht in Kurzem das deutsche Volksbewußtsein eine Wendung macht, die über allen Individualismus und Intellektualismus hinweg die großen religiösen Aufgaben aufgreift, die wir an unserm 1) Auf dem zweiten derartigen Kirchentag im Dez. 1912 in Chicago waren 32 protestantische Denominationen vertreten. Das dort aufgestellte Arbeitsprogramm ist höchst charakteristisch. Vgl. The Outlook 21. Dez. 1912 Vol. 102 Nr. 16 S. 846ff. und den Aufsatz über .Religion und Arbeit in Amerika" im vorliegenden Buch. Präsident dieser Kirchenvereinigung ist jetzt Shailer Mathews, Dekan der Chicago Divinity School, ein als Organisator sehr bewährter Mann.
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Volk und an der Menschheit noch zu leisten haben? Und immer wird dann e i n K i r c h e n w e s e n das Gefäß sein, in dem die religiöse Überzeugung ihre praktischen Auswirkungen sich schafft: keine Religion ist ohne dieses soziale Band der Kirche möglich im modernen Leben. Kirchliches Leben Daß aber solche Kirchen in ihrer sozialund Toleranz religiösen Lebendigkeit einen unbegrenzten Einfluß auch auf das modernste Kulturvolk ausüben können, beweist eben Amerika. Es ist unrichtig, das amerikanische „Freikirchentum" als „einflußloses Kirchentum" zu interpretieren; und ebenso sehr irren daher die deutschen Vertreter einer T r e n n u n g von Kirche und Staat, die Amerika als Land anführen, wo die Kirche den Staat nicht beeinflusse. Die Verfassungsfrage ist schlechterdings irrelevant, wo der Geist kirchlicher Institutionen das Kulturleben eines Volkes zu durchdringen beginnt. Oder glaubt man, daß der amerikanische Volksvertreter nach Washington nur als American Citizen und nicht zugleich als Katholik oder Protestant ginge? Solche falschen Vorstellungen müssen bei uns zerstört werden durch bessere Kenntnisse, aus denen auch die Unmöglichkeit erkannt werden wird, daß ein Kirchenwesen das andere kopiert. Nicht um zu kopieren soll die deutsche Theologie und Kirche sich mit dem amerikanischen Kirchenwesen befassen, sondern um zu erkennen, welch' gewaltige religiöse und moralische Kräfte noch heute im Kirchenwesen leben, um zu verstehen, wie diese Kräfte gepflegt und zur Leistung gebracht werden, um zu lernen, wie Vieles wir an der Kirche für wesentlich halten, was tatsächlich für ihre moderne Bedeutung nicht in Betracht kommt. Ist es nicht kolossal, daß die Baptisten, die früher jeden Kindgetauften als Heiden ansahen und keine Gemeinschaft mit ihm haben konnten, heute mit all solchen „Heiden": Presbyterianern, Congregationalisten und anderen sich vereinigen! Das bedeutet für den Baptismus den Verzicht auf eine frühere conditio sine qua non, auf ein fundamentales Dogma von gleicher Bedeutung wie die Verbalinspiration der Bibel. Und solche Glaubenserweiterung geschieht in einer positiven Denomination, die in ihrer Orthodoxie ungleich einfacher und fester ist als jede deut2*
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sehe Orthodoxie. 1 ) Eine solche suggestive Macht hat in Amerika der Gedanke p r a k t i s c h e n Christentums, daß durch ihn heute mehr und mehr die Fesseln des Dogmas gesprengt werden. So triumphiert im protestantischen Kirchenwesen Amerikas der große religiöse Brudergedanke, daß man freudig mit andersdenkenden Christen zusammenarbeiten und für das Christentum wirken kann, wenn man auch mit den dogmatischen Überzeugungen des Anderen nicht im mindesten übereinstimmt. Die evangelische Allianz hat im vorigen Jahrhundert die Durchsetzung dieser Verständigung zwischen Amerika, England und Deutschland begonnen, aber die trennenden Schranken nicht beseitigen können. So bleibt die Aufgabe bestehen! In K i r c h e u n d R e l i g i o n e i n i g t d i e A r b e i t , das Denken trennt: das allerdings nur relative Recht dieser Lehre von Amerika zu lernen, tut dem deutschen Kirchenwesen heute Not. Deutsch-amerikanisches Dabei muß auch erwähnt werden, daß Luthertum leider das deutsche Luthertum der Vereinigten Staaten es nicht im mindesten verstanden hat, sich diesem modernen Friedensgeist der amerikanischen Denominationen und dem Zurücktretenlassen dogmatischer Unterschiede anzupassen. Ich sehe dabei hier ganz von der Tatsache ab, daß das deutsche Luthertum der Vereinigten Staaten ein religiös und administrativ vielgegliedertes und vielschichtiges Gebilde ist, das man nicht als Einheit ansprechen kann. Neben der Missouri Synode und den ihr in der Synodalkonferenz von Nordamerika angegliederten Synoden von Ohio, Wisconsin, Minnesota und Illinois, die wesentlich alle, besonders aber Missouri, die schroffste lutherische Bekenntnisorthodoxie vertreten, neben der lutherischen Generalsynode, die mehr die Oststaaten umfaßt und viele amerikanische Elemente enthält, steht die Deutsch-Evangelische Synode, die aus Unionsbestrebungen hervorgegangen eine freiere Bekenntnisgrundlage hat, in der Tat sich jetzt aber ganz konservativ und dogmatisch unbeweglich hält. Daher haben sich von ihr wieder eine Anzahl deutscher freier 1) Vgl. die charakteristisch vorsichtige Vermittlung des Präsidenten Q. F. Horr von Newton Theological Institute, über die der Literary Digest Vol. 46 Nr. 10 p. 519 s. vom 8. März 1913 unter dem Titel .Baptist Beliefs and Church Union* berichtet.
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Gemeinden als Deutsch-Evangelisch-Protestantischer Predigerverein und Predigerkonferenz abgelöst, die aber infolge ihrer Freigesinntheit beim Deutschtum keinen Rückhalt finden und bei ihrer kleinen Zahl allmählich von amerikanischen Denominationen, der Episcopal oder Presbyterian Church, besonders aber von den Unitariern aufgesogen werden. So ist es keine Unrichtigkeit, das deutsche Luthertum als im allgemeinen geschlossen positiv und dogmatisch intransigent hinzustellen. 1 ) Die Abgeschlossenheit in dogmatischer Orthodoxie und ethischem Konservativismus hat nun mancherlei Nachteile und strenge Verurteilung für die Deutschlutheraner im amerikanischen Volksleben gebracht; es ist daher hohe Zeit, daß das Luthertum fortschrittlichere Bahnen im öffentlichen Denken und Handeln betritt. Auch für die deutsche Mutterkirche wird dadurch die Verbindung mit den deutschen Kirchen in Amerika leichter werden. Die deutsche Theologie aber soll an unseren Universitäten zu solcher Horizonterweiterung dadurch mithelfen, daß sie sich energischer mit dem amerikanischen Kirchenwesen und dem Schicksal der Deutschen in ihnen beschäftigt. Nur wenn wir die amerikanischen Kirchenverhältnisse voll verstehen, können wir es unternehmen, die deutsche Kirche drüben energisch zu beeinflussen, sich vom allgemeinen kirchlichen Fortschritt nicht auszuschließen. Die bedeutungsvolle Rolle, die die Kirche in dem amerikanischen Volk der Zukunft spielen wird, bedingt die Notwendigkeit, daß wir die amerikanischen Denominationen und Sekten eingehend kennen zu lernen und zu verstehen uns bemühen. Bedeutung der ameriDiese Notwendigkeit gebietet zunächst kanlschen Denominationen e i n akademisches Studium der Geschichte, Gedanken und Verfassung sämtlicher amerikanischer Denominationen und Sekten. Selbstverständlich wäre es nicht 1) Nähere Auskunft hierüber gibt: Herzog-Hauck, Realencyclopädie für Prot. Theol. und Kirche" Bd. 14 S. 165ff., besonders S. 178ff; Religious Bodies 1906, das statistische Übersichtswerk des Department of commerce and labor in Washington 1910; Kraushaar .Verfassungsformen der lutherischen Kirche Amerikas" Gütersloh 1911. Ein neuestes literarisches Beispiel für lutherische Dogmatik in Amerika: R. F. Weidner .The Doctrine of Man; Outline Notes Based on Luthardt" Chicago 1912, ein Buch gelehrten und doch stark traditionellen Charakters. Immerhin muß man die tüchtige Arbeit eines lutherischen Seminars wie das in Mount Airy bei Philadelphia anerkennen.
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das Rechte, etwa nur die oben bezeichneten wichtigsten religiösen Gemeinschaften herauszugreifen. Sondern es gälte das Sektenleben der Vereinigten Staaten in seinem ganzen Umfang zur Kenntnis zu bringen. Die Einzelausgestaltung der Denominationen wäre dann zu beachten, ihre kirchlichen Gebräuche und ihre geschichtliche Abwandlung, ihre Unterrichtsinstitute, Schulen, theologischen Seminare, ihre Lehrentwicklung bis in die neueste Zeit, ihre Verfassungsideale und wie sie realisiert werden. In solchem Gesamtbild würde nun erst der richtige Maßstab zur Beurteilung gefunden werden können: gar vieles würde sich als oberflächlich, wertlos, hohl erweisen, viel Sektenwesen rein aus Sensation, ja religiösem Sport erwachsen erscheinen. Aber um so stärker würden große weittragende Linien in gewissen kirchlichen Hauptgebilden hervortreten, die über alle Äußerlichkeit hinweg einen religiösen Geist und einen ungemein praktischen Organisationssinn verraten. Dieses amerikanische Kirchenverfassungswesen würde deutlich werden ,als das notwendige Gefäß spezifisch amerikanischen Frömmigkeitslebens, allem Praktischen, Wirksamen, Fortschrittlichen zugewandt, dagegen weniger geeignet, religiöse Innerlichkeit zu pflegen. Um so stärker würde die soziale Bedeutung hervortreten, die diese Kirchen immer mehr gewinnen, die Selbstverpflichtung, die sie dem Volksganzen gegenüber fühlen, die praktische Arbeit für Volkswohlfahrt, die sie unverdrossen in Angriff nehmen. Die Symbolik, die es für die deutsche Wissenschaft in dem Amerika der Gegenwart zu studieren gälte, würde also unmittelbar darauf hinauslaufen, moderne Kirchengebilde nach dem Maße zu beurteilen, in welchem sie das moderne Kulturleben moralisch heben und religiös beeinflussen und unvergängliche Ideale christlichen Völkerlebens in neuer Weise und mit neuen Kräften zu verwirklichen suchen.
III. So muß die Beschäftigung mit dem Kirchenwesen der Vereinigten Staaten Amerikas uns auf die Notwendigkeit führen, das a m e r i k a n i s c h e V o l k s l e b e n ü b e r h a u p t u n t e r r e l i g i ö s e m G e s i c h t s p u n k t z u b e t r a c h t e n und zu verfolgen,
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in welcher Weise sich drüben e i n e c h r i s t l i c h - r e l i g i ö s g e s t i m m t e V o l k s k u l t u r anbahnt, die uns Deutschen überaus wichtig ist. Da diese Bewegung in Amerika neu ist und ganz in den Anfängen steht und bei der Breite, Zersplitterung und Unorganisiertheit des amerikanischen Kulturlebens dem vorübergehenden Beobachter keine volle Übersicht über die Masse der Einzelheiten möglich ist, so bedingt dieser Gegenstand auch in der Darstellung eine gewisse Zufälligkeit der Eindrücke und Urteile, die sich aber doch bei aufmerksamer Verfolgung der Bewegung ordnen und besser werten lassen können, als es die Amerikaner selbst vermögen. Zweifellos sieht gerade der fremde Beobachter bei den Amerikanern in ihrer religiös-sozialen Arbeit mehr Einheitsstreben, als ihnen selbst bei ihrer konfessionellen Zerteilung bewußt ist. So läßt sich das Material äußerlich nach den Interessentengruppen einteilen, bei denen religiöse Kultureinflüsse besonders hervortreten: ich denke an die akademische Gruppe (1), die Kaufmannskreise (2) und die Arbeitermasse (3). Religionsinteresse 1. Für den Deutschen, der an die großen der Akademiker amerikanischen Privatuniversitäten des Ostens, Princeton oder Pennsylvania University, Columbia oder Yale, Harvard oder Williams College kommt, ist es doch sehr auffallend, welche Bedeutung in ihnen allen dem Protestantismus zukommt. Überall findet man Universitätsgottesdienste und Morgenandachten, Professoren aller Fakultäten, die die religiöse Rede pflegen, Studenten aller Art, die freiwillig und mit Eifer diese religiösen Ansprachen besuchen. Ganz abgesehen von den Instituten, wo die jüngeren Studenten zum Besuch dieser Veranstaltungen gezwungen sind: wie hochstehend und bedeutsam ist der Einfluß, der in Harvard von den Morgenandachten ausgeht, die bedeutende Prediger und Männer der Vereinigten Staaten je ein bis zwei Wochen abhalten, um dann in ihrer freien Zeit den Studenten Gelegenheit zu persönlicher Aussprache über jede Lebensfrage zu geben. Welche Bedeutung kommt andrerseits dem j u n g e n Universitätsprediger zu, der im Alter und Empfinden den Studenten nahe steht, ihnen sonntäglich predigt und sich in der Woche im sozialen Verkehr, offenen Abenden, Besuchen und Versammlungen, kleinen
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Unterrichtskursen über religiöse Fragen um sie bekümmert! Die Bedeutung eines solchen Mannes, wie z. B. Columbia University in New York ihn hat, ist eine ganz außerordentliche für das Studentenleben, das gerade bei uns am Mangel sozialer Verbindung zwischen Professoren und Studenten so sehr leidet, d. h. an einem i n n e r e n Verkehr, der auf die Lebensfragen und das Suchen der Studenten eingeht. 1 ) Natürlich unterstützt die intellektuelle Weichheit und Unselbständigkeit des amerikanischen Studenten die Herstellung solcher religiösen Beziehungen sehr; und recht bezeichnend ist, daß sie sogar in einer Riesenstadt wie New York durchführbar und wirksam ist an einer Universität, die nichts weniger als konfessionell einheitlich ist. Ebenso bedeutsam wie diese religiöse BeStudentenvereinigung einflussung des Studentengemüts ist auch die Art, wie die Studenten dann weiter zur praktischen Betätigung ihres idealistischen Denkens geführt werden. Ich denke an die Studentenbewegung der Young Men's Christian Association (Y. M. C. A.), die an allen Universitäten und Colleges große oder kleine Institute mit durchaus individualistischem Gepräge hat. Die Art, wie die Pennsylvania University in Philadelphia in ihrer ganzen Lebensäußerung der Studentenschaft von diesem Universitätsdepartement, wozu sich die Y. M. C. A. dann geradezu entwickelt, frei und fortschrittlich geleitet wird, ist mustergültig und staunenswert. 8 ) Und dem individuellen Geist der Studentenschaft ist da volle Freiheit gelassen: der Geist der Y. M. C. A. Studentenbewegung im Mittelwesten, wo ich einer sehr interessanten Studentenkonferenz beiwohnte, ist in seiner intellektuell gänzlich unentwickelten Art sehr verschieden vom Osten, wo die Y. M. C. A. die klügsten, tatkräftigsten und leistungsfähigsten Studenten, die sich neben die besten deutschen Studenten stellen dürften, in ihren Reihen hat Christliche
1) Vgl. dazu .Student Pastors* in Literary Digest vom 13. Jan. 1912. Die Anregung zu solcher Einrichtung hat auch in Deutschland nicht gefehlt : Friedrich Naumann hat sie in der Christlichen Welt schon 1887 Nr. 25 und 33 vorgeschlagen. 2) Vgl. den Aufsatz des dortigen Sekretärs Thomas S. Evans über .Religion in the University of Pennsylvania* Biblical World, Dez. 1912 Vol. 40 S. 397 ff.
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und sie als Führer benutzt und festhält. U n d all das zielt endlich darauf, einen kameradschaftlichen Einheitsgeist voll Sittlichkeit und Kraft an jeder Universität zu schaffen, der auch den moralisch Schwachen erzieht und trägt. Diese Kraft wird erhalten und verbreitet durch praktische Aufgaben, die dem jungen Studenten die Pflichten an seiner Volksgemeinschaft nahe bringen: Universitäts-Settlements, die Kirchen und ihre sozialen Institute suchen die Hülfe der Studenten in J u g e n d p f l e g e für Spiel und Sport, für Anregung und Unterweisung. Die Theologiestudierenden werden in dieser Hinsicht vielleicht zu sehr belastet und von energischem Studium abgehalten. Bei dem Studenten andrer Fakultät wird dies in der Regel nicht der Fall sein, vielmehr wird ihm die praktische Arbeit im Dienst religiöser Ideen besonders den Wert der Religion und religiöser Lebensüberzeugungen nahe bringen und den Ernst seines Studiums unterstützen. Als Beispiel wäre zu erwähnen die Arbeit von Charles Stelzle in New York, der die Studenten des Union Theological Seminaiy erheblich zur Hülfe heranzieht. 1 ) Missionsinteresse Als letzte g r o ß e Äußerung dieses akadeakadcmlscher Kreise misch - religiösen Geistes ist nun das Interesse an der äußeren Mission bei den amerikanischen Universitäten zu betonen, einem Werk, worin die J u g e n d ihre Begeisterung und das Alter seine weise Hochwertung der Religion zu erkennen gibt. Die Art, wie jede Universität die Mittel für ihre besondere Missionsarbeit aufbringt, die Bereitwilligkeit, mit der Studenten vom selbst erworbenen Geld reichlich beisteuern, ist mustergültig u n d begeisternd. Und die tüchtigsten jungen T h e o l o g e n , wohlgeschult in der Wissenschaft, stellen sich gern in die Missionsarbeit und werden Missionare. Dabei steht dieses Missionsinteresse in den akademischen Kreisen unter dem Zeichen einer weltpolitischen Auff a s s u n g des Christentums: man wird immer mehr nicht so durch d e n Theologen, als durch den Ingenieur, den Lehrer, den Chemiker, den Arzt missionieren, der aus dem christianisierten Universitätsmilieu herausgeboren n e b e n seinen Wissenschaftskenntnissen eine ungebrochene einfache Begeisterung für die 1) Vgl. S. 33.
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Sache des Christentums in die Welt hinaus nimmt. Nicht tiefe Einzelerkenntnisse, sondern eine starke, geschlossene, zum Teil für uns recht unreflektierte Überzeugung ist es, die diese Laien erfüllt. Damit verbinden sie aber nun große Gesichtspunkte der Welteroberung, welche dem jungen an Erfolgen so reichen amerikanischen Volk wohl anstehen. Mir scheint, daß die Vereinigten Staaten ihren Einfluß auf Japan und China durch ihre Missionsarbeit viel schneller zur Geltung bringen werden als durch irgend welche politische Maßregeln. In diesem Verhalten steckt ein wahrhaft moderner und unanzweifelbarer Glaube an die weltgeschichtliche Aufgabe des Christentums an allen Völkern, deren Verfolgung aber der Machtstellung und Größe desjenigen Volkes am meisten zu Gunsten kommt, das frühzeitig und aufopferungsfreudig diese weittragende und unerschöpfliche Aufgabe der Selbsterhaltung und grenzenlosen Wachstums erkannt und unternommen hat. Daß das amerikanische Volk in aller Naivetät und intellektuellen Unklarheit hellsehend genug war, diese Riesenbedeutung des Christentums für die politische Großmachtstellung eines modernen Kulturstaates zu begreifen und die darin eingeschlossenen Aufgaben ohne Verzug zwar zuerst mit altmodischen Mitteln, die es aber ständig modernisiert und praktischer macht, in Angriff nahm, stempelt es in meinen Augen mehr als alle seine Leistungen in Handel und Technik zu einem Volk und Staat der Zukunft. Und d e r S i t z d i e s e r w e i t schauenden Politik der Ausbreitung des Christent u m s i s t in A m e r i k a d i e U n i v e r s i t ä t , d i e a k a d e m i s c h e B i l d u n g , nicht wie bei uns die traditionelle Volksfrömmigkeit, wo die Mission gewohnheitsmäßig und pietistisch getrieben wird. Wie unendlich fern steht dagegen unsere ganze Bildung solcher modernen weltgeschichtlichen Betrachtung des Christentums als eines Mittels, durch die deutsche und christliche Kulturausbreitung als Mission zweckbewußt dem eigenen Staat und Volk das Prestige in der Welt zu erhalten I Daß diese Dinge dem deutschen Universitätsleben mit allem Ernst nahegebracht werden, ist dringende Notwendigkeit. Allerdings ist hierbei anzumerken, daß der Idealismus und die Uneigennützigkeit, die alles deutsche Missionswerk hervorbrachte, bei dieser amerikanischen Mission bewußt und unbewußt
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durch weltpolitische Motive unterstützt wird. Praktische Gesichtspunkte helfen den Amerikaner zu großer Leistung bewegen, aber diese praktischen Gesichtspunkte können dann von dem Einzelnen soviel persönliche Selbstaufopferung und religiöse Hingabe verlangen, wie es doch nun jede Missionsarbeit in fremdem Weltteil unter heidnischer Bevölkerung in sich schließt. Für die Überlegung der amerikanischen Missionsarbeit ist bezeichnend, wie sie sich vorzugsweise die Völker wählt, die dem politischen Interesse Amerikas nahe standen und stehen und die durch ihre Kultur der Zukunft der Menschheit bedeutsam werden müssen: Japan, China, Indien. Kommerzielle Interessen an China und Japan hatten die Vereinigten Staaten schon lange, ebenso wie die politischen Beziehungen zu Indien. Nun wirft sich die Mission mit Recht auf diese Gebiete, um nationale Interessen in die Sphäre ethisch-religiöser Kultur zu erheben. Daran ist nichts zu verachten. Und vielleicht ist es nicht unberechtigt zu fragen, ob in unsrer Zeit idealistischer Schwäche nicht solche praktischen Impulse für die Missionsarbeit auch bei unserem Volk der Religion und dem Christentum als fördernde Hülfsmittel zu gute kommen würden. Theoretischer Pragmatismus Es ist nun wichtig, bei dieser prakund praktische Religion tischen Seite der amerikanischen Religiosität in ihrem Eroberungsdrang darauf hinzuweisen, wie sie in letzter Zeit auch durch eine spezifisch amerikanische Theorie, die Philosophie des Pragmatismus unterbaut worden ist. Diese Philosophie hat in rechtem Verständnis der amerikanischen Volksseele sofort die Religion in den Kreis ihrer Spekulationen gezogen und ihre Metaphysik in einer Religionsphilosophie ausgebaut. Sie stellt in ihrer theoretischen Widerspruchsfülle und Unmöglichkeit, zugleich aber ihrer praktischen Brauchbarkeit und Popularität das typische Produkt des Amerikanismus dar. Mehr Weltanschauungsmethode denn Philosophie hat sie sich die Anerkennung der ganzen amerikanischen Durchschnittsbildung erworben, sie herrscht an Universitäten wie Columbia und Chicago und übt auf Moral und Religion der Amerikaner jetzt den stärksten Einfluß, da sie den populären Idealismus in der Richtung ganz utilitaristischer Ziele verwertet. Diese Philosophie, die das amerikanische Religions-
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bedürfnis vollständig in sich verarbeitet und ihm den methodischen Denkrückhalt gibt, ist nun das Mittel, durch das die amerikanische Logik, Ethik und Ästhetik mehr und mehr religiös-pragmatischen Einflüssen sich öffnet. Bei der Logik bedeutet es ein Umdeuten der Wahrheit in ein Glauben; bei der Ethik zeigt es sich in der praktischen Handhabung aller wirksamen Mittel zur Erreichung des religiös erstrebten Zweckes; in der Ästhetik macht es sich bisher nur unsicher geltend, doch wird es ohne Zweifel auch in ihr Folgen haben: das Neuaufkommen des religiösen Tendenzstücks: Miss Josephine Preston Peabody's (Mrs. Marks) „The Piper", dann der populär-religiöse Show! So wäre im Pragmatismus die wichtige theoretische Handhabe gefunden, durch die der praktische Geist des Amerikaners in die Richtung einer religiös-christlichen Kultur geleitet worden ist. Vielmehr hat umgekehrt der amerikanische Geist diese Richtung eingeschlagen und der Philosoph W. James und seine Schule haben die Theorie dazu gemacht, die von unserem wissenschaftlichen Standpunkt aus nur als ein philosophisches Misch- und Übergangsprodukt angesehen werden kann. Aber für das Verständnis der akademischen religiösen Kultur bildet sie den Schlüssel; ihre kritische Nachempfindung ist daher eine Notwendigkeit für die, die die Fülle praktischer Religiosität in der amerikanischen Bildung verstehen und würdigen wollen.1) Religionsinteresse kauf- 2. In der Gesellschaftsgruppe Amerikas, männischer Kreise kaufmännischen Interdie v o n e s s e n beherrscht wird, tritt begreiflicher Weise der religiöse Einfluß auf die Lebensanschauungen und das praktische Verhalten nicht so stark und geschlossen auf als in der prinzipiell fortgeschritteneren akademischen Gruppe. Immerhin ist zu bedenken, daß der Einfluß des Universitätswesens, namentlich seit es den die Amerikaner so stark beherrschenden Vorurteilen offenbarer praktischer Brauchbarkeit immer mehr nachkommt, auch auf das industrielle und kaufmännische Leben langsam stärker wird und mehr Ansehen gewinnt. (Die Staats1) Vgl. dazu meine oben erwähnte Übersetzung von Josiah Royce's Gedächtnisrede auf James, Christliche Welt 1913 Nr. 6 Sp. 122 ff. .James der Philosoph des heutigen Amerika."
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Universitäten des Westens!) Auch wächst der Einfluß, den zahlreiche Kaufleute, die durch Universitätscolleges hindurchgegangen sind, aus dieser Studienzeit ins praktische Leben übertragen, sodaß eine ganze Menge der Settlements, Young Men's Christian Association- und Missions-Arbeit, die wir unter 1. vorführten, auch von den Kaufmannskreisen lebhaft unterstützt wird. Diese sehen eben den praktischen Wert der Religion für das Volk ein. Die religiöse Arbeit der Y. M. C. A. z. B. wird hauptsächlich von Kaufmannskreisen subventioniert, wobei natürlich wieder der pragmatische Grundsatz mitspricht, daß nüchterne, wohlunterhaltene und geistig angeregte kaufmännische Angestellte, wie sie die Y. M. C. A. in ihren Klubhäusern erzieht, dem Geschäft bessere Dienste leisten. So mag wohl ein Großkaufmann lieber der Y. M. C. A. große Summen stiften, als seinen Angestellten das Gehalt erhöhen. Und die Eisenbahngesellschaften, ja selbst der Staat nimmt an dieser religiös-sittlichen Erziehung der Jugend teil: für die Eisenbahnangestellten, für die Matrosen der Kriegsschiffe existieren besondere Abteilungen der Y. M. C. A. Expräsident Taft hat einmal ausgesprochen, daß nur der religiöse Einfluß der Y. M. C. A. die verrotteten sittlichen Zustände in der Marine bessern könnte: und sie bringt es in der Tat fertig. Men and Religion Diese religiöse Laienbewegung hat geForward Movement letzthin ein sehr bezeichnendes rade neues Werk unternommen: eine Gruppe Kaufleute und Industrieller aus allen Denominationen wollten die Arbeit in die Hand nehmen, die der Religion entfremdeten Männer, welche die Kirche vergeblich religiös zu interessieren sucht, für das Christentum zu gewinnen. Sie haben das „Men and Religion Forward Movement" organisiert und wollen in planmäßigem Feldzug durch die Großstädte der Vereinigten Staaten religiöses Interesse bei der männlichen Bevölkerung erwecken. 1 ) Wenn dies Werk nun von den Laien auch noch so äußerlich mehr als organisatorische Technik denn als religiöse Erziehung 1) Vgl. Literary Digest 17. Juni 1911 S. 1202, 1. März 1913 S. 461 und andere Tagesberichte über diese oft erwähnte Bewegung, die einen erheblichen Erfolg hatte. Als eigene Organisation existiert sie jetzt nicht mehr; ihre Arbeit wird jetzt von den Kirchen, der Y. M. C. A., dem Laymen's Missionary Movement energisch betrieben.
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unternommen wurde, immerhin ist es wichtig, wie stark diese Laien eine religiöse Verpflichtung gegen ihr Volk und seine Kultur empfinden und wie sie solche Gedanken sogleich in die Tat umsetzen. Und da die Kirchen sogleich starkes Interesse an der Bewegung genommen haben, so mag trotz aller Reklame und flachen Erweckungspraxis vielleicht doch ein die amerikanische Religions- und Sittlichkeitsverhältnisse besserndes Resultat herauskommen. Christlicher Bei all dem ist nicht zu vergessen, wie viel mehr Sozialismus ungetane soziale Arbeit gerade dem Manne des praktischen Lebens drüben auffällt, für die der Staat nicht aufgerufen werden kann und deren Bewältigung dem religiös-sittlichen Gewissen der besitzenden Kreise aufliegen muß. Da ist es nun bezeichnend, wie von der Kanzel aus das sittliche Verpflichtungsgefühl der Kaufmannskreise langsam in Bewegung gesetzt wird: es sind letztlich immer religiöse Impulse, die zur sozialen Tat antreiben. So ist es mit dem Kampf gegen die Trunksucht gegangen, in dem die Religion die große Prohibitionliga gebildet hat. So geht es jetzt mit der Kinderarbeit, gegen die das fromme Empfinden des Volkes aufgerufen wird; so wird es mit der Frauenarbeit und ihrer Bezahlung gehen: ist das schlafende Gewissen der maßgebenden Kreise erst religiös erweckt, so ist es merkwürdig, wie die bekannte moralische Skrupellosigkeit des Amerikaners weicht und sich plötzlich ein neues sittlichreligiöses Volksurteil bildet, das kapitalistische aber auf unsittlicher Geschäftsbasis aufgebaute Unternehmungen wie Rockefeller's Standard Oil Company im Ansehen des Volkes moralisch ruiniert. Dieses neue sittliche Volksbewußtsein kam in dem Urteil des Supreme Court über die Standard Oil Company als unrechtmäßiger Gesellschaft zum Ausdruck und wirkt weiter in den andauernden Antitrustprozessen; das religiös-sittliche Erwachen schafft schließlich neue Normen der Geschäftsbeurteilung, die in ihrem rein profanen Charakter nichts mehr von dem religiösen Anstoß zeigen, von dem sie zuerst ausgingen. Welche politisch-ethische Bedeutung haben in dieser Weise Prediger wie Lyman Abbott und Parkhurst in New York gehabt und eine Zeitschrift wie „The Outlook". Wie darin so schafft sich auch in anderen Fragen zwar sehr langsam aber sicher das religiös-
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soziale Gewissen Raum. Kein Wunder, daß das junge Amerika gerade in der Erreichung solcher Ziele noch unendlich zurück ist und sich in nichts neben das soziale Wohlfahrtssystem in Deutschland stellen kann. Aber was bei uns der Staat in einem großen auf dem sittlichen Volksbewußtsein ruhenden Fürsorgesystem getan hat, dafür tritt in Amerika die Religion ermahnend und auffordernd ein. Es ist bezeichnend, daß in den Bildungskreisen auch der Kaufmannschicht das „ s o z i a l e E v a n g e l i u m " Schlagwort wird. Der soziale Wert der christlichen Lehren, der Ethik Jesu wird mit solcher Macht betont, daß die notwendige individualistische Innerlichkeit des Christentums fast vergessen scheint. D a s G r o ß s t a d t c h r i s t e n t u m s o l l erw e c k t w e r d e n in s e i n e m s o z i a l e n G e w i s s e n : das ist das Programm der Prediger in New York und Chicago, und es findet langsam Aufnahme in der kaufmännischen Erwerbsschicht. In eben diesem praktisch-religiösen Sinne ist auch die allgemeine Volksgesinnung zu erklären, die sich in den Vereinigten Staaten für die Friedensbewegung einsetzt. In der Begeisterung für den Weltfrieden schwingen religiös-soziale Saiten, und nicht unter politischem, sondern unter diesem religiösen Gesichtspunkt muß uns das Peace Movement wichtig sein. So darf man verallgemeinernd sagen: Nicht die soziale Arbeit, sondern ihre religiösen Impulse in Amerika sind es also, die die Verfolgung dieser Entwicklung uns Deutschen zur Pflicht machen, weil in diesem amerikanischen Programm die Ergreifung einer Aufgabe steckt, die bei uns vernachlässigt wird: R e l i g i o s i e r u n g d e s V o l k s lebens. Religion und 3. Diese Aufgabe tritt nun in ihren Anfängen Arbeiterschaft s e j , r deutlich hervor auch bei der dritten sozialen Gruppe, die wir betrachten wollten: bei d e r A r b e i t e r m a s s e . Nur liegt das Verhältnis so, daß bei vielem, was die akademischen und die Kaufmannskreise auf religiösem Weg erstreben, eben die Arbeitermasse das Objekt ist; vieles von dem oben über Settlement, Lohnbewegung, Kinder- und Frauenarbeit gesagten hat also seinen Gegenstand in der großen Arbeitermasse. Wie diese Fragen, so treten auch die Probleme der Wohnungsnot, der Wasser- und Nahrungsmittel-
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Versorgung, der Kindererziehung unter religiöse Impulse, die allerdings oftmals ganz unausgesprochen und unerörtert bleiben. Gerade darin aber äußert sich das, was ich als das Streben nach einer C h r i s t i a n i s i e r u n g d e s gesamten K u l t u r l e b e n s i n A m e r i k a bezeichnen zu müssen glaube. Außer der vereinzelten religiös-sozialen Fürsorge, die von den Denominationen an den Arbeitern getrieben wird und wo infolge der kirchlichen Zersplitterung herzlich viel Kraft verschwendet wird, und außer dem Y. M. C. A. Werk, das auch unter den Arbeitern bedeutsam wirkt, hat sich das religiöse Verpflichtungsgefühl an den Arbeitern neuerdings zweier Probleme bemächtigt: einmal des Immigrantenproblems, und dann der Frage, wie das Volk seine Erholungszeit benutzt. Religion Das Immigrantenproblem ist mehr und mehr und Einwanderung d i e schwerste Last für das amerikanische Staatswesen; die starke Einwanderung von Polen, Griechen, Iren bedeutet einen Zuwachs an Katholizismus, der dem puritanisch-protestantischen Geist hart zu ertragen ist. Noch schlimmer aber ist der Zuzug an religionslosem oder religionshassendem Volk: diese Immigranten sind auch die einzige Verstärkung der drüben noch sehr unbedeutenden Sozialdemokratie. Das religiöse Gewissen ist nun insoweit erwacht, daß man empfindet, die Pflicht an den Einwanderern sei nicht erfüllt mit der ziemlich leicht erreichten Infiltration des demokratischen Geistes; sondern man sieht die Notwendigkeit ein, durch die Religion das vertiefte nationale Verpflichtungsgefühl gegen eine Volksgemeinschaft den Einwanderern zu lehren. Der rücksichtslose Individualismus, der sonst in den ersten Generationen der Einwanderer herrscht, soll religiös-sozial gestimmt werden durch die Hülfe, die die religiöse Gemeinschaft gewährt Und die sie von ihren Gliedern untereinander verlangt. Die Pastorisierung der Einwanderermassen ist daher die Sorge, die die religiösen Körperschaften drüben mit Recht bedrückt. Bezeichnend ist, wie auch hier das paritätische Volk der Religion zur Erreichung nationaler Ziele nicht entraten kann. Und wird nicht letztlich der Dienst, den die Religion hier dem Volk leistet, ihr selbst reichlich zu gute kommen?
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Religion Das andere Problem ist die Pflicht der und Volksbildung Aufsicht über die Art, wie das Volk sich vergnügt. Der amerikanische Individualismus hatte in der Vergangenheit Verhältnisse von unglaublicher Rohheit geschaffen: man denke an den 4. Juli, das Fest der Unabhängigkeit, wo jährlich Hunderte durch Feuerwerk getötet wurden. Mustergültig ist, wie seit zwei Jahren dieses Fest durch andere Volksunterhaltung reformiert worden ist: Umzüge, Theater auf den Parkwiesen der Städte und Ähnliches. Profane und kirchliche Institute haben darin zusammengewirkt. Ebenso charakteristisch ist die Bewegung, die für „People's Sunday Evening" sorgen will. Das Volk, dem der Ausschank geschlossen ist, muß einen anderen Platz haben für seine Unterhaltung. Und Volkslesehalle und Gottesdienst genügen dazu nicht. Religiöse Vereinigungen nehmen daher die Arbeit auf, an Wintersonntagen durch gute Kunst und Rede dem Volk Unterricht in der Unterhaltung zu geben und ein Vertrauen der Masse zur Religion neu zu erwecken, das bei Vielen ganz verloren gegangen ist. Derart arbeitet Pfarrer Charles Stelzle in seinem „Arbeitertempel" in New York; sein Wirken als Leiter der sozialen Arbeit der amerikanischen Presbyterianerkirche ist vorbildlich. Natürlich ist für alle solche Arbeit der amerikanische Arbeiter ein unendlich angenehmerer Schüler, da er nicht durch eine falsche Philosophie und Weltanschauung intellektuell verbogen ist. Vielmehr lassen sich bei ihm die idealistischen Gedanken der Religion leicht anknüpfen. Wie wäre es sonst möglich, daß ein sozialer Führer wie der Sekretär der Labor Union in Amerika, Mr. R. Robins, im Streik der Pennsylvaniabergwerkarbeiter Sommer 1911 am Sonntag dieselben Streikenden zum Arbeitergottesdienst um sich sammelte, die er tags zuvor in hrem Kampfe gegen die Gewalt der Eisenbahngesellschaft beriet I So bleibt drüben der Arbeiter in seinem sozialen Kampf der Religion zugänglich; er sieht in ihr eine innere und äußere Hülfe in den Nöten des Alltags, und die Kirchen begreifen noch gerade rechtzeitig, welche Pflichten sie haben, ja nicht diesen Geist religiöser Geneigtheit in das Gegenteil umschlagen zu lassen. Daher der Eifer, mit dem sich die klarsehenden christlichen Gemeinschaften in die soziale Fürsorgearbeit stürzen. Geschieht diese Fürsorge Börnhausen, Religion In Amerika
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im Namen des sozialen Christentums, so bedeutet das eine Ausbreitung christlichen Geistes und christlicher Kultur im modernen Staat, wie sie wirksamer überhaupt nicht denkbar ist. Mögen zu dieser Verbreitung christlicher Kultur auch noch so kleine Ansätze vorhanden sein in Betracht solchen Riesenlandes und seines so jungen Volkes, mir scheinen hinter ihnen große Gedanken zu wirken, die wir vielleicht besser erkennen als die Amerikaner selbst. Könnten wir zu dem Nutzen, den wir religiös und kirchlich aus der Verfolgung dieser Entwicklung und ihrer Klärung entnähmen, noch den fügen, d e m bef r e u n d e t e n Volk d u r c h d i e s e u n s e r e i n t e l l e k t u e l l e K l a r l e g u n g zu h e l f e n , s o w ä r e d i e s e i n G r u n d m e h r , d i e R e l i g i o n , T h e o l o g i e u n d K i r c h e A m e r i k a s in D e u t s c h l a n d zu s t u d i e r e n .
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Die deutsche Kultur dankt ihre Fortschritte zu allen Zeiten dem bewährten und festen Glauben, daß eine theoretische Kenntniserweiterung die praktische Besserung der Verhältnisse nach sich zu ziehen vermag. Daher möchte ich zum Schluß die Hoffnung aussprechen, daß e i n e a k a d e m i s c h - t h e o l o g i s c h e B e s c h ä f t i g u n g , ein S t u d i u m d e r o b e n skizziert e n P h ä n o m e n e vielleicht n i c h t w i r k u n g s l o s b l e i b e n m ö c h t e e i n m a l auf u n s e r e T h e o l o g i e s t u d i e r e n d e n , dann auf b r e i t e r e U n i v e r s i t ä t s k r e i s e , die an solchen Kulturfragen Interesse nehmen, endlich auf d e n a m e r i k a n i schen P r o t e s t a n t i s m u s , den solche A u f m e r k s a m k e i t u n t e r s t ü t z e n w i r d . Und der Zukunft mag es überlassen bleiben, ob nicht aus diesem Wissenschaftsinteresse an der Geistesentwicklung eines modernen Volkes auch praktische Antriebe übergehen in unser religiöses Volksleben, Antriebe, die dann nicht mehr den ausländischen Importcharakter haben würden, den wir bei der heutigen internationalen Religionsbeeinflussung
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durch England und Amerika nur allzu oft in unserem Volk wirksam werden sehen. Sondern die Antriebe, die durch deutschakademisches Studium hindurchgegangen sind, dürften wohl soweit germanisiert sein, daß sie e i n o r i g i n a l e s L e h r - o d e r H t i l f s m i t t e l dem deutschen religiösen Leben böten. Nur durch ein geistiges Filtriersystem läßt sich solche Übertragung fremder religiöser Anregungen ins eigene Leben vollziehen; wer anders als unsere Universitäten kann diese zarte Anpassungsarbeit in geistigen Dingen ausführen? Doch tatsächlich müssen diese praktischen Ziele unter den heutigen Verhältnissen ganz im Hintergrund bleiben, was uns nicht hindern darf, über ihre Verwirklichung nachzudenken. Zunächst aber kann es sich nur um die Aufgabe handeln, die protestantische Theologie und durch sie die Kirche genauer mit dem religiös-kirchlichen Leben des Protestantismus in den Vereinigten Staaten bekannt zu machen. Diese Aufgabe aber könnte am besten in einem Seminar verfolgt werden, das der theologischen Fakultät einer preußischen Universität angegliedert ist und die Entwicklung der amerikanischen Religionsverhältnisse nach den drei oben angeführten Gesichtspunkten verfolgt. Es wäre zu erwarten, d a ß e i n solches Seminar auch amerikanische T h e o l o g i e s t u d i e r e n d e a n z ö g e , die e i n e n a t ü r l i c h e B e r e i c h e r u n g der K e n n t n i s s e und des A u s t a u s c h e s brächten. Ebenso sollte dieses Seminar geeigneten deutschen Studenten die Anregung geben, sich als Theologen durch Studienreisen nach Amerika zu belehren. Ein Studium in Union Theological Seminary, New York, oder in der Harvard Divinity School in Cambridge, Mass., die jetzt mit dem Andover Theological Seminary verbunden ist, wird auch wissenschaftlich dem deutschen Theologen wertvoll sein, selbst wenn er nur lernte, daß ein verschiedenes religiöses Gefühl eine andere Theologie hervorbringt. Besonders aber dürfte ein Studium der deutschen jungen Theologen in Amerika zum Kennenlernen gewisser sozialer und organisatorischer Gemeindeeinrichtungen stets von höchstem Wert sein. Außer der Anregung zu solchen Interessen bei deut3*
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sehen Theologen sollte aber das Seminar in erster Linie der Theorie, nämlich der Belehrung und Verständigung über Religion, Theologie und Kirche in Deutschland und Amerika dienen und dadurch die friedlichen Gesinnungen dieser beiden Brudervölker fördern und befestigen.
Skizzen und Eindrücke vom religiösen Leben in Nordamerika
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1.
Die Freundschaftsbeziehungen zwischen deutschem und amerikanischem Protestantismus.1) Es ist eine oft bestätigte Erfahrung der Geschichte, daß verwandte und geistig von einander abhängige Religionsgruppen besondere Schwierigkeit haben sich zu dulden und zu verstehen. Während unsere Kultur mit ihren stets verfeinerten Lebensansprüchen auf materiellem wie geistigem Gebiet eine ungewöhnliche Übereinstimmung der zivilisierten Welt in Arbeitsmethoden und Lebensbedürfnissen, in merkantiler und wissenschaftlicher Unterstützung und Zusammenarbeit hervorgebracht hat, ist für diese weitgehende Verständigung der Völker untereinander die Religion fast ganz fortgefallen. Um so auffallender ist das, wenn es sich um zwei Völker handelt, die wesentlich die gleiche Konfession haben. Warum spielt in den freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und Deutschland die Religion, der Protestantismus eine so untergeordnete Rolle? Nun lassen sich für diese Erscheinung schnell eine Reihe gewichtiger Gründe anführen: die Geschichte des amerikanischen Protestantismus hat die Kirchen drüben nie ganz vergessen lassen, welches Unrecht einst ihren Stammvätern in Europa geschah. Die besonderen Bedingungen des neuen Landes und der werdenden Kultur haben den amerikanischen Denominationen einen Zug der Freiheit und Fremdartigkeit gegeben, der den Europäern bedenklich erschien. Und da der deutsche wie der amerikanische Protestantismus jeder, unter seinen eigentümlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, so kam der religiöse Partikularismus garnicht darauf, einander besonders zu beachten oder gar Hülfe zu leisten. Man muß zugestehen, daß auch der christlichen 1) Aus „Die Eiche* Vierteljahrsschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland, 1. Jahrgang Nr. 1; Berlin, Zillessen 1913.
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Religion im Grunde zwei Seelen innewohnen: der Geist der Brüderlichkeit und gegenseitigen Hülfe wird immer wieder außer Kraft gesetzt durch den starken Anspruch der Religion, origineller und individueller Besitz sei es des einzelnen, sei es der Volksgemeinschaft zu sein. Und man darf nicht sagen, die eine Seele sei besser und wichtiger als die andere: der Protestantismus hat sie beide in Reinheit nötig, einmal das Bewußtsein seiner charakteristischen und wertvollen Ausprägung, sei es in Deutschland, sei es in Amerika oder sonstwo, und ebenso das Bewußtsein der engen Zusammengehörigkeit mit allen denen, die den im Anfang der Neuzeit erzeugten reformatorischen Geist des Christentums in Frömmigkeit und Brüderlichkeit durchsetzen wollen. Nun hat gewiß Deutschland der Neuen Welt auch religiös mancherlei geleistet, einfach dadurch, daß es seine Kinder hinüberziehen ließ. Welchen Schatz protestantischer Überzeugung, welche Fülle religiös-ethischer Kräfte haben die deutschen Auswanderer mit hinübergenommen I Sie bilden doch auch heute eine nicht zu unterschätzende Verbindung der religiösen Brüderlichkeit mit uns unbeschadet ihres amerikanischen Bürgertums, das notwendig auch ihren religiösen Typus beeinflußt hat. Aber die besonderen Aufgaben religiöser Verbindung in der Gegenwart haben doch die Amerikaner zuerst erkannt und ergriffen. Zunächst hat ihr tiefausgeprägtes, praktisches Religionsbedürfnis sie zur religiösen Propaganda in Europa geführt, um die ihnen eignende Frische und Unmittelbarkeit religiöser Eindrücke in Deutschland neu zu erwecken. Wir sind weit entfernt diese Einfuhr für glücklich und zweckentsprechend zu halten. Einmal deswegen, weil sie oft gerade die niedrigsten Typen amerikanischen Christentums, manche Abarten des Methodismus, die Christian Science und ähnliches bei unserm Volk einzuführen suchte, und dann weil sie ja gerade damit die zweite Seele der Religion, die jedem Volk seine eigentümliche religiöse Art erhalten will, nicht respektierte. Mission besteht nicht darin, daß man in den Menschen ihnen fremde religiöse Erregungen erweckt, sondern darin, daß man die eigenen religiösen Überzeugungen mit den geschichtlichen und psychologischen Voraussetzungen des anderen in Verbindung bringt. Und dies ist vor allem dann
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nötig, wenn neu geformte religiöse Kräfte sich an die überaus kühne Aufgabe machen, so stark mit gehaltvollem geschichtlichem Religionsgeist erfüllte Menschen, wie die Deutschen, für ihre traditionslose Religion Zugewinnen. Aber jedenfalls schätzen wir an diesem religiösen Einbruch die ursprüngliche Missionsenergie und, indem wir ihm im einzelnen auch manches Gute verdanken mögen, erwarten wir mehr von einem auf gleicher Höhe sich begegnenden Geist befreundeter und sich verstehender Kirchen in Amerika und Deutschland. Und auch für diese höhere Pflicht hat der amerikanische Protestantismus bisher mehr getan als wir. Er hat bald erkannt, daß er seine religiöse Entwicklung nur dann fruchtbar gestalten könne, wenn er sich mit dem geschichtlichen Werdegang des Protestantismus in Verbindung halte; und diese Einsicht führte ihn nach Europa und an die deutschen Universitäten. Es ist ganz außerordentlich, mit welcher Unvoreingenommenheit und welchem Lerneifer die amerikanischen Theologen unsere protestantische Theologie aufgenommen und studiert haben. Sie haben durch ein kurzes oder längeres Studium bei uns sich unserer wissenschaftlichen Methoden bemächtigt und sind bald dazu fortgeschritten, sie in eigener Weise zu verwerten. Aber diese Aufnahme der intellektuellen Seite unseres religiösen Arbeitens durch die amerikanischen Theologen hat eine Einseitigkeit des Lernens und der Beurteilung mit sich gebracht, die der Verständigung des Protestantismus nicht genügend dient. Der Amerikaner hat gewissermaßen nur die akademische Seite unseres Glaubens schätzen gelernt; für andere Seiten hielt er sich an andere Völker, z. B. fürs Predigen an die Schotten, für die Sozialarbeit an die Engländer. Nun darf man jedem Lerneifrigen wohl das Recht zugestehen, daß er sich das Beste überall heraussuche. Aber er selbst muß es sich doch angelegen sein lassen, von seinem besonderen Interessengebiet hinaus zu kommen in die Weite des anders gearteten Kulturlebens und sich eine tiefer gehende Gesamtanschauung des anderen Volkes zu erwerben. In dieser Hinsicht aber haben wir unsere amerikanisch-theologischen Gäste vernachlässigt, und zwar teils deswegen, weil wir sie in ihrer Eigenart zu wenig verstanden, teils weil sie uns für die tiefer gehende Verständigung keine An-
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knüpfung gaben. Denn oft genug treffen wir bei uns jenen übereifrigen Ausländer, der unsere Wissenschaft und Belehrung an sich reißt und ausnutzt, ohne sich irgendwie um die tieferen Zusammenhänge unseres Denkens mit der Kultur und der Volksseele zu bekümmern. Und leichtlich benutzt er auch unsere Gastfreundschaft nur dazu, um sich über allerhand Sachen zu informieren, anstatt sie zur Kenntnisnahme unseres Lebens und Denkens zu verwenden, wozu allein sie ihm doch geboten wird. Dann sind die Schwierigkeiten gegenseitigen Verständnisses zu groß, und der Zustand bleibt, daß wir zu wenig auf die amerikanische Art eingehen und die Amerikaner unser religiöses Wesen nicht voll schätzen lernen, sondern aus ihm nur die ihnen notwendige akademische Seite nehmen. Verständigung und Freundschaft ist immer wechselseitig; und auch im kirchlichen und wissenschaftlichen Gebiet waren die vielen Besuche lerneifriger Amerikaner immerhin des Gegenbesuchs wert. Denn daran ist kein Zweifel: den amerikanischen Protestantismus verstehen und werten kann nur der, der ihn in seiner lebendigen Auswirkung im Lande selbst kennen gelernt hat. Dort erst fallen die eigentümlichen Vorzüge dieser viel schneller beweglichen, viel unbedenklicheren, viel impulsiveren Frömmigkeit in die Augen. Dort erst erkennen wir, was der amerikanische Theologe bei uns lernen soll, aber auch das, was wir von ihm hier und in seinem Lande lernen müssen. Und ohne weiteres dehnt sich dadurch die Aufgabe religiöser Verständigung zwischen dem deutschen und amerikanischen Protestantismus über den akademischen Studienrahmen der Theologie hinaus auf das Verständnis der anderen religiösen Volksseele, wie sie sich im Individuum und d e j Gemeinschaft Ausdruck verschafft als Theologie, Kirche und religiöse Kultur. Auf dem Boden der Theologie sind die Beziehungen zwischen dem deutschen und amerikanischen Protestantismus die engsten und freundschaftlichsten, aber nicht, ohne daß für unseren höheren Begriff von konfessioneller Verständigung noch Wünsche übrig blieben. Wir verstehen uns recht gut auf dem Boden der theologischen Wissenschaftsformen, aber am Geist der Theologie sind wir uns noch viel schuldig geblieben. In allem, was an formaler wissenschaftlicher Methodik, an philo-
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logisch-historischer Arbeit, an psychologischer Beobachtung in der Religionswissenschaft notwendig ist, hat ein ungemein reger Austausch zwischen Amerika und Deutschland eingesetzt. Die amerikanischen Theologen sind mit Konsequenz durch unsere historisch-kritische Schulung hindurch gegangen und haben die philologischen und psychologischen Methoden radikaler durchgeführt, als es je bei uns geschah. Immerhin hat ihr uneingeschränkter Wissenschaftstrieb in der Religionsgeschichte, der Textkritik, der psychologischen Beobachtung genug zuwege gebracht, was uns zur Förderung dienen kann. Hingegen ist es den meisten amerikanischen Theologen bei uns nicht gelungen, hinter den religiösen Geist unserer wissenschaftlichen Arbeit zu kommen. Es fehlt am Eingehen auf unsere theologischen Motive und Ziele. Wer in Marburg aus Jülichers klassischer neutestamentlicher Theologie oder seiner Römerbrief-Exegese den bedeutenden Eindruck fehlerloser Handhabung philologischhistorischer Methode mitnimmt, hat freilich das beste Stück deutscher theologischer Wissenschaft gesehen. Aber zu den eigentlichen Triebkräften unserer Theologie ist er nicht vorgedrungen. Diese hätte er erst erfaßt, wenn er gemerkt hätte, wie diese historische Arbeit ja nur dazu dient, dem religiösen Geist der Vergangenheit durch seine Verbindung mit unserem heutigen Frömmigkeitsgeist Geltung und Dauer zu verleihen. Die religiöse Eigenleistung in der wissenschaftlichen Geschichtsdurchdringung ist daher die Krone unserer Theologie. In ihr lebt ein gut Stück deutschen Glaubens, den zu entdecken unseren amerikanischen Freunden sehr wichtig sein dürfte. Oder ist es nicht bezeichnend, wie schwer es den amerikanischen Theologen wird, Wilhelm Herrmann zu verstehen 1 Seine philosophische Methode wird von ihnen bald ergriffen; aber die geniale Verknüpfung des reformatorischen Geistes mit der Gegenwart, die gewaltige Selbständigkeit des religiösen Individualismus nachzuerleben fehlt ihnen die Geduld. Da sucht man nach „Wissenschaftlichkeit" und merkt nicht, wie es sich allein um Geist und Glauben handelt. Aber wir haben vergleichbare Schwierigkeiten in dem Verständnis der amerikanischen Theologie. In dem starken Wissenschaftseifer der dortigen Philologie und Psychologie ist es uns ungemein schwer zu erkennen, worauf
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diese Untersuchungen über die Religion in ihrer uneingeschränkten Konsequenz hinaus wollen, und oft genug scheint es uns, als ob diese theologische Wissenschaft dem Glauben in seiner Vernunftsausprägung überhaupt keinen Raum mehr lasse, als ob beide in unversöhntem Gegensatz verharrten. Und das bedeutet doch eine starke Gefährdung der Religion durch die Wissenschaft. Mag auch sein, daß unsere Kollegen in Amerika oft genug in ihrer Arbeit noch nicht zu einer erkenntnismäßigen Erfassung der Überlegenheit der Religion über die Wissenschaft vorgedrungen sind. Wir sind gewiß, daß sie deren Voraussetzungen in ihrem Gemüt haben, wir sind des um so sicherer, je'mehr wir sie persönlich kennen gelernt haben. Wenn wir die Schriften von George Albert Coe über Religionspsychologie lesen, so können wir uns wohl fragen, ob hier nicht der Wissenschaftsgeist die Religion erdrücke. Wenn wir aber mit ihm selbst verhandelt haben, so konnte uns auch bei seinen radikalsten Äußerungen die Überzeugung nicht verlassen, daß auch er die theologische Wissenschaft doch nur als einseitige Ausdrucksform des religiösen Geistes empfindet. So stellt sich der protestantischen Theologie auf beiden Seiten des Weltmeers die schöne Aufgabe, das Beste an einander gegenseitig noch zu entdecken, die eigenartigen religiösen Impulse zu verstehen, die uns so unabweisbar zur Theologie treiben, daß wir von ihr nicht lassen können. Eine ähnliche Pflicht der Verständigung auf höherer Stufe hat der deutsche und amerikanische Protestantismus auf dem Gebiet der Kirchen. Trotzdem die geschichtlich gewordene Verschiedenheit im Kirchenwesen beider Länder denkbar groß ist, Staatskirchen hier, Freikirchen dort, hat sich doch das Interesse bei uns der Beobachtung dieser kirchlichen Institutionen zugewandt. Und in diesem Fall ist es gerade die deutsche Gelehrsamkeit gewesen, die den eigentümlichen Wert des amerikanischen Kirchen- und Sektenwesens in Geschichte und Gegenwart festzustellen sich bemühte. Der Nationalökonom Max Weber, der Theolog Ernst Troeltsch, beide in Heidelberg, haben der neuen Auffassung in Deutschland Bahn gebrochen. Nicht das kirchengeschichtliche Faktum genügte, daß die protestantische Frömmigkeit sich in Amerika so anders als bei uns
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organisiert hat. Vielmehr suchen wir zu verstehen, warum diese Entwicklung für das amerikanische Christentum notwendig und vorteilhaft war und in welchen charakteristischen Formen sie nicht nur der Zukunft Amerikas die Wege weist, sondern auch Parallelerscheinungen bei uns aufhellt, die dann in irgend einer Weise uns angepaßt werden müssen. Der höhere Gedanke von kirchlicher Einheit und Gemeinschaft, den wir letzthin auch in Amerika in den großen protestantischen Denominationen hochkommen sehen, setzt zunächst Toleranz voraus. Aber in dem Maße, wie wir von dem kirchlichen sozialen Gemeinschaftsgeist des amerikanischen Protestantismus getroffen werden und sein Ringen um kirchlichen Frieden bewundern, gewinnen wir nicht nur eine tolerante Anerkennung, sondern eine achtungsvolle Hochschätzung für religiöse Gemeinschaftsbildungen, die in ihrer praktisch-religiösen Brauchbarkeit den unseren überlegen sind und doch in ihrem Zusammenschluß eine Annäherung an unser Kirchenideal verraten. Deswegen bitten wir aber unsere amerikanischen Freunde, unsere ihnen so rückständig und wertlos erscheinenden Kirchengebilde als bedeutsam zu beachten. Auch sie sind Verkörperungen von konsequenten Gedanken, die, geschichtlich mannigfach abgebogen, doch ihren wichtigen religiös-kirchlichen Gesamtcharakter nicht verbergen, wenn derselbe jetzt auch häufiger als Macht- denn als sittlicher Rechtsfaktor hervortritt. Immerhin steckt in unserem protestantischen Staatskirchentum die Idee praktisch-religiöser Zusammengehörigkeit und Einheit so kraftvoll ausgedrückt, daß sie allen kirchlichen Freiheitsidealen gegenüber eine gewisse Überlegenheit behauptet. Wenn wir aber auf diesem kirchlichen Gebiet nach höherer Verständigung suchen, so tun wir es nicht, um von unseren protestantischen Glaubensgenossen eine relative Anerkennung der Formen zu erreichen, in denen wir unseren religiösen Gehalt zu vertiefen und zu verbreiten uns bemühen. Vielmehr fesselt uns über den durch Zeit und Ort bestimmten Gefäßen die Frage nach dem Inhalt und seiner allgemeineren Formgebung. Nicht die einzelne protestantische Kirche und Denomination ist wichtig, sondern die Erfassung eines Brudergeistes, der die protestantischen Gemeinschaftsgebilde Deutschlands und Amerikas in Bewußtsein und Tat zusammenfaßt. Ich
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glaube, daß wir allmählich für diesen Gedanken reif werden, und bin gewiß, daß der Zusammenschluß der sich seltsam ergänzenden protestantisch-kirchlichen Gemeinschaftskräfte in Amerika und Deutschland einen sehr mächtigen Einfluß auf die religiöse Weltentwicklung haben könnte. Mit dieser weiten Aussicht treten wir in das Gebiet ein, auf dem letztlich noch höhere und wechselseitige Verständigung gesucht werden muß, in das Gebiet der religiösen Allgemeinkultur. Was Theologie, was Kirchen leisten, muß sich zeigen im Volksleben. Und was im Volk als religiöses Kraftbewußtsein aufsteigt, wird Gegenstand und Aufgabe für die Arbeit der Theologie und Kirche. Diese Beobachtung darf bei den theologischen und kirchlichen Erscheinungen nicht stehen bleiben, sie muß alle von der Religion berührten Gebiete der Philosophie und Ethik, der Politik und der Handelsorganisation, der Literatur und Kunst in ihre Vergleichung einbeziehen. Nicht das einzelne Fremdartige ist entscheidend, sondern die großen Züge, in denen sich ein gemeinsames religiöses Drängen und Ringen im Volk kundgibt. Und solche Züge können wir im amerikanischen Sozialleben genug finden, die uns in den Universitäten, den Kaufmannskreisen, ja der Arbeiterschaft die ungewöhnliche Lebendigkeit der praktischen Frömmigkeit zeigen. Aber die Amerikaner dürften auch bei uns durch gründlichere Beobachtung bald feststellen, daß unser Volks- und Kulturleben längst nicht so sehr religiös verarmt ist, wie sie oft annehmen. Unsere religiöse Art ist anders als die ihre, aber sie ist wirksam und wird sich langsam durchsetzen. Der Protestantismus in beiden Ländern hat das gleiche Ziel: ausschlaggebenden Einfluß auf Inhalt und Form unseres Kulturlebens zu bekommen; die Amerikaner versuchen dies mehr durch praktische Unternehmungen, wir mehr durch theoretische Überlegungen. Nur in der Verbindung von beiden wird der rechte Fortschritt erreicht. Sollten wir uns da in unserer religiösen Eigenart nicht besser kennen lernen, damit wir mehr von einander haben und den eigenen Weg besser sehen und gehen? Eine verständnisvolle Freundschaft zwischen deutschem und amerikanischem Protestantismus wird aber nicht nur beide Völker in ihrem religiösen Bestand stärken und festigen, sondern einen beherrschenden Einfluß auf
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die Weltlage des Protestantismus gewinnen. Nicht umsonst sind der gleichen Konfession auf verschiedenem Erdteil verschiedene Aufgaben in ihrem Volk gestellt. Gerade diese Lage kann uns die Beweglichkeit geben, daß wir über unseren Sonderpflichten die große Allgemeinaufgabe des Protestantismus in der Welt für Frömmigkeit und Freiheit erfassen und in Angriff nehmen, eine Aufgabe, die wir nur gemeinschaftlich lösen können und auf Grund besseren wechselseitigen Verständnisses. Die Vorarbeit für diese tiefere Verständigung des deutschen und amerikanischen Protestantismus zu leisten, fällt der Bildung, der Wissenschaft z u ; sie ist eine neue Aufgabe der Theologie. Aus dem Gebiet der Geisteswissenschaften hervorwachsend, bezweckt sie, die Religions- und Kulturvergleichung bis in die Gegenwart fortzusetzen und von da aus die Linien in die Zukunft zu ziehen. Bei den religions- und stammverwandten Völkern, Deutschland, England, Amerika, hat sie einzusetzen, zunächst das Gebiet christlicher Religion in Vereinigung mit dem Katholizism u s zu durchdringen, um schließlich bei den fremden Kulturreligionen der Gegenwart, in Indien und Kleinasien, in China und Japan ihre Arbeit zu vollenden. So wäre das Ziel für den wissenschaftlichen Gesamtbetrieb theologischer und religiöser Verständigung zu stellen. Über ihm aber zieht uns der gleich zu Beginn dieser Arbeit lohnende praktische Erfolg an, daß die zwei Völker sich gegenseitig religiös bereichern und zusammen der Welt Frieden und geistigen Fortschritt gewährleisten, denen die Zukunft des Protestantismus anvertraut ist, Deutschland und Amerika.
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2. Der englische und amerikanische Protestantismus Im 19. Jahrhundert. Unsere Bewertung des Protestantismus in der Gegenwart ist gern geneigt, den Blick von Deutschland, der Heimat des reformatorischen Glaubens, zeitweilig abzuwenden und die großen Erscheinungen zu betrachten, die in der Fremde aus ihm hervorgegangen sind. Wenn wir bereitwillig anerkennen, daß die Kräfte des Protestantismus in England und Amerika sich "anders auswirken als bei uns, so bestätigen wir damit nicht nur die vielspältige Wurzelung des reformatorischen Glaubens, sondern auch die allgemeine geistesgeschichtliche Tatsache, daß der Einfluß von Nationalität und Volkscharakter wesentlich verändernd auf den Religionstypus wirkt. Es wäre ja seltsam, wenn die Glaubensüberzeugungen des geschichtlich eigenartig gewachsenen Engländers, des kulturell und klimatisch anders beeinflußten Amerikaners nicht verschieden wären von denen des kontinentaleuropäischen Deutschen. Aber indem wir diese Unterschiede zugeben, halten wir sie auch der Betrachtung für wert, weil wir ihnen Berechtigung, Vorzüge und Einfluß auf uns nicht versagen können. Die Begrenztheit des eigenen religiösen Lebens und die Enge seiner geschichtlichen Bedingtheit treibt gerade die Religion hinaus in die Weite der vergleichenden Betrachtung, was andere Menschen und andere geschichtlichen Kräfte aus der Verbindung protestantischer Grundgedanken mit neuen menschheitlichen Kulturbedingungen gemacht haben. Aber diese vergleichende Betrachtung darf nicht dazu dienen, die verschiedenen Religionsentwicklungen in eine Rangordnung aufzuteilen und bei dieser Bewertung einem falschen Optimismus oder Pessimismus Platz zu geben. Gerade bei der Beurteilung religiöser Entwicklungen sind wir geneigt, die Dinge
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persönlich zu nehmen und den Vergleich nicht in der Unabhängigkeit zu halten, die dem Historiker geziemt. Dabei hat gerade die Religion das Recht zu behaupten, daß ihr genau das Schicksal wird, das sie verdient. Jede Volkseinheit schafft sich ihr religiöses Gewand, und es wäre sehr unrecht zu behaupten, daß ein Zufall uns Luther und das Luthertum, England und Amerika aber den Calvinismus und das Freikirchentum gegeben habe. Der Protestantismus hat sich in seiner geschichtlichen Entwicklung mit der ihm immanenten Logik den verschiedenen Völkern und ihrem Geschick angepaßt und jene Unterschiede geschaffen, an denen jedes protestantische Volk seine Freude und sein Leid hat. Die Idee des Protestantismus historisch eindeutig zu verwirklichen wird niemals gelingen; aber jedes protestantische Volk versucht, sich in seiner Weise und unter seinen eigentümlichen Bedingungen dem Ideal anzunähern. Wer will sagen, daß das eine Volk weiter fortgeschritten sei als das andere? Betrachten wir doch nur die Wirkungen des religiösen Lebens und nicht den religiösen Gehalt: wer weiß, ob das Volk, dessen religiöser W e g der dornenvollste ist, nicht schließlich doch die stärksten religiösen Kräfte hat? Aber freilich verlangt unsre deutsche protestantische Gegenwart einen gesunden Pessimismus. Wir müssen es der höheren Vernunft überlassen, den Vollwert unsrer deutschen Frömmigkeit zu wägen und zu bewahren. Uns bleibt die sittlich-religiöse Aufgabe, mit herzlicher Unzufriedenheit über unsere religiöse Gegenwart nachzudenken und zu ihrer Besserung eigene religiöse Kräfte aufzubringen, Kräfte, die wir in anderer Weise bei anderen Völkern am Werk sehen. Deswegen ist uns die Betrachtung anderer protestantischer Glaubenstypen wichtig; sie sollen uns nicht auf den Abweg führen, Schicksal und Schuld in der Geschichte abzuwägen, ein fruchtloses Geschäft, das die Religion von je gern unternahm. Sie soll uns vielmehr die Wege zeigen, die der Gesamtprotestantismus in die Zukunft zu gehen hat; welcher Weg jedem Einzelvolk dabei zu gehen zukommt, m a g es selbst ausmachen. Wenn jedes protestantische Volk seine eigenste Glaubenspflicht tut und dabei die religiöse Arbeit des Nachbarn achtet und beachtet, so ist damit das Prinzip konfessionellen Friedens und Zusammenschlusses gesichert. Börnhausen, Religion in Amerika
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Auf diesen philosophischen Voraussetzungen muß sich nun allerdings das Gefüge harter geschichtlicher Tatsächlichkeit aufbauen. Die Religion geht nicht den Weg der Reinheit und Weltfremdheit; sondern in engster Verflechtung mit allen Gebieten des Menschenlebens entwickelt sie sich. Erst heute ist uns der Blick dafür geöffnet, in welche Verwicklungen der Protestantismus mit dem Völkerleben eingegangen ist. Staat und Gesellschaft, Ehe und Familie, Politik und Wirtschaftsleben, Handel und Industrie, Kunst und Literatur: sie alle haben Teil am Protestantismus und sind von ihm beeinflußt. Und die einzige Dominante in diesem Chaos ist das religiöse Volksgemüt, seine Produktivität und Eigenkraft, die aber durch die unmeßbaren und unvoraussehbaren Zufälle des geschichtlichen Lebens, durch die blind willkürlichen Verschiebungen profaner Massenenergien tief beeinflußt und stark abgebogen werden. Gewiß, auch die Völker müssen Glück haben, besonders in der Entwicklung ihres religiösen Eigenlebens; aber heroisch und groß erscheint die religiöse Kraft, die bei allen Schwierigkeiten und Widerständen äußerer Gewalt sich immer wieder eigenartig durchsetzt und die Hoffnung nicht aufgibt, einmal doch den Sinn des völkisch-staatlichen Kulturganzen entscheidend zu beeinflussen. In dieser Weise ist die Geschichte des Protestantismus in D e u t s c h l a n d bis zur Gegenwart verlaufen. Das innerliche Luthertum hat, durch zahlreiche historische Ursachen veranlaßt, den Segen seiner religiösen Revolution nicht so ernten können, wie es seiner individualistischen Art entsprach. Nicht jener Zusammenschluß tatkräftiger Individuen in selbständiger Gemeinschaft ist erfolgt, wie er wahrhaft reformatorisch angelegt war; sondern im Bund mit dem souveränen Staat ging der Gemeinschaftsgedanke über in den Amtsnimbus des Pastorenstandes und der Pastorenkirche. Das Individuum aber rettete seine persönlichen religiösen Kräfte, vertiefte sie im Pietismus, vereinzelte sie in der Aufklärung und erwirkte die religiöse Zersplitterung des protestantischen Deutschlands im 19. Jahrhundert, in der der F r o m m e sich entwöhnt hat, die Kirche als das Gefäß religiöser Kräfte anzusehen, sondern in ihr nur die Staatsorganisation anerkennt, die seine religiöse Freiheit und
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Eigenart mehr oder weniger glücklich in kirchliche Gemeinschaftsbeziehungen zusammenfassen will. So hat der deutsche Protestantismus die Idee des Staatskirchentums konsequent durchgeführt, er hat in der Anpassung an den Staat seinen individualistischen Wert intellektuell und religiös außerordentlich gesteigert und verfeinert zu weltfreier Innerlichkeit und dabei die Tugenden der Ergebung und Geduld, der christlichen Fürsorge und der konservativen Beharrlichkeit, der Autoritätsanerkennung und der geistig-humanen Aristokratisierung in wertvoller und Staat wie Gemeinschaft fördernder Weise dargestellt. Wenn heute der extreme religiöse Individualismus diese Tugenden als veraltet hat zurücktreten lassen, so sind sie weder als historisch wertlos abzutun, noch kann der Ausblick in eine radikale Neuordnung des protestantisch-deutschen Gemeinschaftslebens befriedigen. Vielmehr gilt es zu begreifen, wie allein die Einseitigkeit des souveränen Machtstaates dem Protestantismus als Gemeinschaft gefährlich ist und daß eine konstitutionelle Reform im Sinne des modernen Rechtsund Kulturstaates der deutschen protestantischen Kirche die gemeinschaftbildende Freiheit geben kann, die dem besonderen religiösen Geist des Protestantismus entspricht. Anders liegen die Verhältnisse in den Ländern, in denen Calvinismus und Freikirchentum von Anfang an Wurzel geschlagen haben und mit ihrem verschiedenen religiösen Geist die Typen des konstitutionellen und demokratischen Protestantismus rein dargestellt haben. Den eigentlichen Gegensatz zu der deutschen Entwicklung bietet da der amerikanische Protestantismus. Für uns Deutsche ist die Entwicklung am lehrreichsten, wo jedes Eingreifen des Staates in das religiöse Gebiet verboten ist, wo alle Sekten und Kirchen das Recht freier Aussprache ihrer Meinungen haben, wo der Name Gottes nicht in der Bundesverfassung vorkommt, wo bei der Volkszählung kein Staatsbürger nach seiner Glaubensüberzeugung gefragt wird und die religiöse Statistik allein auf den Angaben der Denominationen beruht. Protestantismus und konsequente Demokratie: diese Verbindung ist das weltgeschichtliche Gegenspiel gegen unser deutsches Staatskirchentum. Eine Vermittlung stellt England dar, wo ein alter, Jahrhunderte lang vorbereiteter Kulturboden dem 4*
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Calvinismus und dem Freikirchentum nach schwerem, aber früh durchgeführtem Kampf die schönen Früchte konstitutioneller Freiheit und Duldung zeitigte. So haben wir es im protestantischen E n g l a n d des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit Entwicklungen, sondern mit Resultaten zu tun. Die religiösen Revolutionen Englands liegen im 16. und 17. Jahrhundert; sie finden im Methodismus des 18. Jahrhunderts ihren starken volkstümlichen Ausklang und bedeuten die Auseinandersetzung des Calvinismus und Dissentertums mit dem Katholizismus und untereinander. Zweierlei hat der Calvinismus dem ruhigen Charakter des Engländers in jahrhundertelanger Ü b u n g eingeprägt. Einmal hat der Gedanke der Prädestination oder ewigen Erwählung ihn frei gemacht von den natürlich und geschichtlich gewordenen Verhältnissen, deren Unvernunft und Unbeeinflußbarkeit offenbar ist. Der Mensch als Individuum bleibt in seinem religiösen Selbstbewußtsein der Welt überlegen und seiner ewigen Bestimmung gewiß. Diese Bestimmung aber zwingt ihn zweitens, sein Glück der Erwählung nicht als einzelner egoistisch zu befriedigen, sondern sich selbst zur Ehre Gottes und zur Förderung des christlichen Gemeinschaftsreiches zu opfern. Nicht das Persönliche, sondern das Sachliche überwiegt in den Interessen des Calvinismus. Daher entsteht jene Abneigung gegen zersetzende Zweifel und jene Hingabe an große praktische religiöse und profane Aufgaben, die dem Calvinismus seine kulturelle Fruchtbarkeit gegeben haben und dem Engländer seinen Bund der Religion mit der Weltpolitik ermöglichten. Das Sektentum hat dem anglikanischen Charakter dagegen jene Weltentzogenheit und das Heiligungsbedürfnis zugeführt, die in der stillen Aufopferung und Hingabe alles irdischen Tands den Frieden der Seelen suchen. Reinheit der Sitten, strenge Selbstzucht, Einfachheit der Lehre und des Lebens, Zurückhaltung von der Sünde der Welt, die in Staat und Recht, Konkurrenz und Krieg umgeht und die Gemeinde zerstört: das sind Bedingungen der Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, die in strenger Selbstkontrolle dem Vorbild Christi in Demut und Einfachheit nachfolgt. Man sieht, daß zwischen calvinistischer Kirche und den Dissenters keine unvereinbaren Gegensätze bestanden, daß sich beide vielmehr nur in ihrer Stimmung zur Welt und in
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der Art, wie sie mit der Welt fertig werden wollten, unterschieden. So hat sich denn auch nach der Niederringung des Katholizismus und nach anfänglich schwerster Verfolgung der Dissenters ein friedlicher Ausgleich von Calvinismus und Freikirchentum in England angebahnt, dessen Anfang in der Toleranzakte Wilhelms III. von Oranien (1689) und dessen Abschluß im Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Öffnung der Staatsund weltlichen Ämter auch für die Dissenters sich vollzieht (1828). Ein mächtiger Aufschwung des geistigen Lebens, eine ungewöhnliche Entwicklung der Geistes- und Naturwissenschaften, der Kunst und Philosophie setzt im 17. und 18. Jahrhundert in England ein, überflügelt die kontinentale Kultur vollständig und bringt sie in Abhängigkeit. Dieser frühe Kulturertrag ist nicht zuletzt dem zur Freiheit und gerade dadurch zur Tätigkeit gekommenen Protestantismus Englands zu danken. So sehen wir im 19. Jahrhundert in England ein protestantisch durchsättigtes Volk; Staatskirchentum und Freikirchen haben sich nicht nur friedlich mit einander eingerichtet, sondern verfolgen die gleichen Interessen der praktischen Religiosierung des Volks. Der Katholizismus hat der Staatskirche wesentliche kulturelle Kräfte eingeflößt und bleibt zwar nicht gefahrlos, aber doch im Hintergrund. Und protestantisch-calvinistische Innerweltlichkeit setzt sich in Staat und Gesellschaft, Handel und Wandel, Kunst und Politik durch. Dies Volk ist nicht nur protestantisch in seiner puritanischen Sonntagsheiligung; sondern in seinem Welthandel und seiner äußeren Politik wirkt die exklusive Kraft des in der Volksseele konstitutionell gewordenen Protestantismus. In drei Wellen pulsiert diese geruhige protestantische Volksstimmung Englands durch das 19. Jahrhundert. Sie entsprechen den drei Momenten der Volksseele, die überhaupt im 19. Jahrhundert der Religion bedeutsam geworden sind: es ist die evangelikal-pietistische, konservativ-archaistische und aufklärerisch-intellektualistische Bewegung, die zusammen die Komponenten des modernen Protestantismus in der Welt ausmachen. 1. In England ist Anfang des 19. Jahrhunderts die pietistisch-evangelikale Bewegung am stärksten gewesen. Sie hat sowohl in der Staatskirche als auch bei den Freikirchlern sich
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Anerkennung verschafft und bildet in beiden ein pietistisches Ferment nicht unähnlich unseren Gemeinschaftskreisen. Die Bibel und ihr naiv-frommes Verständnis steht im Mittelpunkt. Auf die durch göttliche Gnade hell und einfach interpretierte Bibel und die persönliche fromme Erfahrung gründet sich eine praktische Lebensauffassung, die mit aller Energie die individuelle und soziale Besserung des Volks anstrebt. Die calvinistischen Kräfte der christlichen Gemeinschaftsarbeit haben sich in der evangelikalen Bewegung Englands wunderbar durchgesetzt: äußere und innere Mission, Bibelverbreitung, Armenerziehung, Gefängnisreform sind von ihr in Angriff genommen worden. Ihre enthusiastischen Kräfte, die auch die methodistischen Erweckungsmittel nicht verschmähten, haben den Ernst praktischer Frömmigkeit ungemein gesteigert und verbreitet. Dabei bewahrt sich der englische Evangelikaiismus davor, in äußeren Dingen zu radikal zu werden; er ging ruhig mit den rechtlichen und liturgischen Grundsätzen der Staatskirche zusammen und fand durch seine Bibelgläubigkeit ebenso den Beifall der orthodoxen Freikirche. Beiden aber teilte er seine einfachen praktischreligiösen Lebensenergien der Nächstenhülfe und der christlichen Gesinnung mit und half nicht zuletzt, den Geist der Brüderlichkeit zwischen Hochkirche und Freikirchen zu verbreiten. Ein schroffer kirchenfeindlicher Separatismus wurde von dem Pietismus Englands mit Erfolg vermieden, da ja die religiös unbefriedigten. Gläubigen ungehindert Anschluß an die überall entstehenden dissentierenden Gemeinden fanden, und die geringeren Übel der Abneigung gegen kirchliche Organisation und Wissenschaft und einer gewissen Welt- und Kulturenge wurden durch andere Triebe der Volksseele reichlich aufgewogen. Was diese Bewegung an ernster Lebensauffassung, christlicher Selbstbeobachtung, Sorge um das öffentliche Wohl, Anerkennung der Wahrheit in der eigenen Seele und im Volk geleistet hat, hat weit über pietistische Kreise hinaus Wirkung und Anhang gefunden. Und daß heute die große revivalistische Missionsbewegung in den untersten Volksschichten, die General Booth als Heilsarmee in Szene gesetzt hat und die aus methodistischen Anfängen heraus wesentlich ethische Ziele verfolgt, allgemeine Anerkennung in den Kreisen des englischen Protestantismus
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findet, ist nicht nur den prinzipiell evangelikalen Zügen der Heilsarmee zuzuschreiben, sondern der friedlich-ausgleichenden Art des sozial gerichteten englischen Pietismus. 2. Es ist begreiflich, daß dieser über- und außerkirchlichdemokratischen Religionsbewegung eine staatskirchlich-aristokratische Gruppe entgegentrat, die sowohl in der Aristokratisierung des Geistes wie der Institution ihre Aufgabe erkannte. Bezeichnend ist, daß diese akademische Oxford - Bewegung stark katholisierende Züge annahm und in mehreren führenden Geistern, vor allem John H. Newman, zu katholischer Abfallbeweg u n g wurde. Zunächst wollen diese Männer protestantisch gelehrte Reformer sein, die den Wert der unfehlbaren Autorität, der Tradition, der religiösen Disziplin, des sakramentalen Kultus, der hierarchischen Ordnung gegenüber der Gefühlsschwärmerei und dem weglosen Individualismus der evangelikalen Bewegung deutlich machen. Sehen wir von der vorübergehenden Stärkung des englischen Katholizismus zwischen 1840 und 1850 ab, so hat die Oxfordbewegung mit ihrer grundlegenden patristischen Gelehrsamkeit und ihrem Rückgang auf urchristliche Autoritäten einen Konservatismus in den hochkirchlichen Protestantismus gebracht, der des ästhetisch-kulturellen und sozialen Werts nicht ermangelt. Die dogmatische Reformbewegung lief aus in ritualistische Neuordnungen , die dem konservativen, praktisch-utilitaristischen Charakter des durchschnittlichen Engländers durchaus entsprachen. Nicht nur daß die Hochkirche die kirchlichen Künste, Musik, Architektur als Schmuck ihrer zahlreicheren Gottesdienste immer besser verwendete, sie ist auch in der Höherwertung der beschaulichen Anbetung, des Gesangs, der Liturgie und des Ritus einem religiösen Bedürfnis des Menschen entgegen gekommen und hat so die wertvollen Formen katholischer Frömmigkeit in der englischen bischöflichen Kirche erhalten. Daneben hat aber die Oxford-Bewegung die Staatskirche im Anschluß an urchristliche Ideale auch auf den W e g sozialer Fürsorge gebracht und sie dadurch zu näherer Berührung mit den niederen Volkskreisen geführt, sodaß die aristokratische Staatskirche nicht mehr als schroffe Klasseninstitution erscheint. Gewiß haftet ihr eine gewisse Kulturexklusivität weiter a n : in der Bevorzugung von Kunst und Form, in der vorurteilslosen Be-
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trachtung von Kirchengeschichte und Kultus, in der großzügigen Beurteilung von menschlichen und göttlichen Dingen und ihrer Verflechtung mit dem gesamten Kulturleben und endlich in der hohen Auffassung des geistlichen Amtes und seines Trägers liegen die aristokratischen Elemente protestantischer Bildungsreligion. Das auf altem Kulturboden aufwachsende protestantische England des 19. Jahrhunderts durfte diese Züge kirchlichen Kulturaristokratismus wahrlich nicht entbehren, wie sie die Hochkirche zur Schau trägt. Gewiß hat er Verschärfung der kirchlichen Gegensätze hervorgerufen; aber in seinem Archaismus und Ästhetizismus, seiner Klassenethik und seinem Klassensozialismus ist er ein typischer Ausdruck altprotestantischer englischer Frömmigkeit, die noch heute lebendig weiterwächst und in deren uns fremden Ausdrucksformen gewaltige Kräfte gemeinschaftsund volksfördernder Religion nachwirken. 3. Endlich hat doch auch in England jene aufklärerischintellektualistische Bewegung Platz gefunden, die die Religion mit allen Resultaten fortschrittlicher Erkenntnis in Zusammenklang bringen will. Allerdings lebt sich diese Richtung in dem praktischen England nicht in der Breite aus, die die theoretische deutsche Theologie und Philosophie eingeschlagen hat. Dafür ist aber auch der Kampf zwischen Religion und Agnostizismus nicht so zugespitzt, und die Gegensätze von Religion und Wissenschaft sind mehr im Halbdunkel geblieben, während die sittlichen Probleme im Licht des Tages stehen: so ist es calvinistische Tradition. Die Liberalisierung des englischen Protestantismus liegt also nicht in den Verdiensten um historische Theologie begründet, die die Lightfoot, Westcott und Hort in Cambridge am Neuen Testament sich erwarben, sie liegt nicht in des Deutschen Max Müller hervorragenden Forschungen zur Religionsgeschichte; und auch die religionsphilosophischen Anregungen, die von dem Kantianer Coleridge bis zu dem Unitarier Martineau laufen und auch in Amerika Einfluß haben, sind für den englischen Liberalismus nicht charakteristisch. Sein Verdienst liegt in der Weiche und Großgesinntheit, mit denen er alle religiösen Kulturrichtungen, die mit der Frömmigkeit zu tun haben wollten, zuließ und ihnen Stätten gab im religiösen Volksleben. Die Erschütterungen religiöser Gewißheit, die Darwin
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und Huxley in England hervorriefen, nahmen nicht die trostlosradikalen Formen eines Häckelianismus und Monistenbunds an, sondern ein praktischer Liberalismus lenkte diese Kritik schnell in die Bahnen einer gesunden Qlaubensrevision. Und der Positivismus, der sich um Herbert Spencer scharte, hat in den Dichtungen der George Eliot die Spuren hinterlassen, wie ein vornehmer künstlerischer Geist auch die ihm fremden Güter der Religion anerkennt und wertet. Wer in England seine wissenschaftlichen Überzeugungen mit seinem Glauben nicht einigen konnte, macht darum keinen propagandistischen Lärm, sondern er läßt es gern geschehen, daß die liberale Theologie das Bildungsleben Englands zu einem weitherzigen und geistvollen Christentum führt. Da denke man an den englischen Roman des 19. Jahrhunderts und seine religiös-sittlichen Qualitäten: an Dickens und Thackeray; oder man tauche in Robert Brownings religiöser Lyrik, in Carlyles begeisterter Predigt für Volkswohl und Wahrheit oder in Ruskins ästhetischer und doch religiöser Anbetung der Schönheit unter. Nur ein ganz weit und reich gesinntes Volk bringt solche Kulturgaben der Religion. In eine große weite Innerlichkeit geht das protestantische Denken und Fühlen ein und söhnt Hochkirche mit Freikirche, Geistliche und Laien, Religionsfreunde und Religionsentfremdete aus in einem völkischen und ethisch kulturellen Gesamtbewußtsein. In dieser liberalen Aufgeklärtheit und in seiner praktischen Intensität im Bunde mit einem konstitutionellen Staatswillen und gemeinschaftsbildender Volksenergie hat der Protestantismus Englands die großen sozial-christlichen Aufgaben der Zukunft zu lösen. Gewiß hat auch er mit einer breiten Masse Religionsentfremdeter zu rechnen; aber da er in sich selbst bei aller Mannigfaltigkeit der Überzeugungen Frieden hat, so kann er die Aufgabe, dem Volk Religion nahe zu bringen, auf vielerlei Wegen, aber mit einem einzigen praktischen Ziel verfolgen. Eine günstige praktisch gewendete Charakteranlage und eine glückliche kirchengeschichtliche Entwicklung haben dem Protestantismus Englands im 19. Jahrhundert die Ausgestaltung gegeben, die dem englischen Volk ebenso seine Überlegenheit im Rat der Weltvölker gibt, starke Einheit in der Mannigfaltigkeit. Was einem uralten Kulturvolk mit seiner Fülle ererbter
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Traditionen und seinem stark und einseitig entwickelten Volkscharakter als Protestantismus im englischen konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts darzustellen geglückt ist, erscheint ohne weiteres ausgeschlossen in dem kulturellen Neuland A m e r i k a . Man sage nicht, daß die calvinistischen Pilgerväter, die teilweise auch täuferische und spiritualistische Gedanken vertraten, doch darin die ganze Fülle europäischer christlicher Traditionen mit hinübergenommen hätten. Diese protestantischen Elemente entwickeln sich auf einem jungen, unkultivierten Boden, unter einer anderen Sonne und im Kampf mit fremden Menschen und Verhältnissen zu einer neuen Art Frömmigkeit. Zwei Jahrhunderte lang haben die Protestanten in Nordamerika in festem Glauben das Neuland erkämpft und erobert, beackert und kultiviert, den Handel nach Osten und Westen eröffnet, die europäischen Einflüsse energisch abgeschüttelt und in schweren Kämpfen sich die Staatsverfassung geschaffen, die als Regierung des Volks durchs Volk fürs Volk nimmer von der Erde verschwinden soll. So das Prophetenwort Abraham Lincolns. Enorme protestantische Energien sind in die Entstehung dieses demokratischen Staatsgebildes und in dieses Volksganze unbewußt und lebendig eingegangen. Wie werden im 19. Jahrhundert diese Kräfte bewußt; und was leisten sie? 1. Erst im 19. Jahrhundert tritt der Protestantismus Amerikas in ein Stadium bewußter und beabsichtigter Entwicklung, das man in kirchengeschichtlicher Gliederung beschreiben und darlegen kann. Das 17. und 18. Jahrhundert enthält die politische und kirchliche Eroberung des Landes, wobei die ursprünglichen Beziehungen von demokratischen und religiösen Gedanken sehr schwer zu bestimmen sind. Es ist kein Zweifel, daß die christlichen Einwanderer, Puritaner, Pilgerväter, religiösen Sektierer zunächst durchaus nur die Theokratie erstrebten und daß die religiösen Gemeinschaften, die sich in Ostamerika zu Staaten auswuchsen, weit entfernt waren von der religiösen Toleranz, die wir ihnen zurechnen. Vielmehr wurden die calvinistischen Kirchenideale der Lehr- und Lebenszucht in schroffster Weise durchgeführt, und erst die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien 1776 und der erste Zusatz zur Bundesverfassung von
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1791 brachten den völlig neutralen Charakter der Union gegenüber aller Religion zum Ausdruck. Dieser starke Einfluß des Protestantismus auf die Staatenbildung hat einen tiefliegenden Grund. Um den neugegründeten Gemeinwesen Amerikas dauernd Ordnung und Ausbreitung zu geben, mußte das Volk, das den monarchischen Autoritäten des Gehorsams und der Pflicht entronnen war, zur individuellen Selbsterziehung und zur Ehrfurcht vor der Gerneinschaft gebracht werden. Kein anderes Mittel besaß aber die amerikanische Demokratie dazu als die Religion. Der Altväterglaube, die Bibel allein konnte den Gehorsam erzielen, der der christlichen Gemeinschaft und dem Staatswohl das eigene Interesse unterstellte. Daher hatte die amerikanische Demokratie nichts nötiger als die Religion; und von der Geburt dieser demokratischen Staaten an ist das Christentum ein Stück ihres Wesens geblieben. Demokratie und Religion gingen so eine ungemein fruchtbare Verbindung ein, die erst Ende des 18. Jahrhunderts ihre staatskirchlichen Züge abstreifte, wobei aber die geistige pädagogische Einwirkung der Religion auf die Demokratie bis heute anhält und zum Beispiel in der Assimilierung der Einwanderer weiterhin ihre bedeutsame Aufgabe behält. Aber noch eine andre Verbindung hatte die Religion in Amerika einzugehen, die der Kultivierung des Landes unentbehrlich war. Es galt nicht n u r die Festigung des eigenen Volksbestandes; es galt die Eroberung des Continents für die christliche Kultur. Das weite Land mit seinen ungeheuren Kolonisationsschwierigkeiten oder auch mit seinen fast endlosen Erwerbsmöglichkeiten erwirkte zunächst einen eigentümlich starken Individualismus unter seinen Kolonisatoren. Der Pioniergeist des Amerikaners, der als Farmer, als Händler, oft auch in blutigen Kämpfen mit den Indianern sich durchsetzt, ist ein Erzeugnis des Landes. Dieser individualistische Eroberungsgeist verband sich nun mit den christlichen Traditionen der protestantischen Einwanderer zum Missionsgeist. Mission war von Anfang an das Geschäft des amerikanischen Christentums. Teilweise kamen die Einwanderer sogar mit dieser Missionsabsicht schon hinüber, so die Quäker zum Zweck ihrer Indianer-Mission. Alle protestantischen Denominationen und Sekten haben drüben mit großer
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Schnelligkeit eingesehen, wie das Werk der Kultureroberung und Selbstausbreitung in Amerika nur zu treiben sei mit Hülfe der Religion, als Mission. Daher verbündet sich auch die Eroberungsfreudigkeit und der kolonisatorische Wagemut mit dem protestantischen Erbgut; der Glaube mäßigt den isolierten Erwerbsegoismus, er lenkt ihn in die Bahnen der Aufopferung, und eine rauhe und beschränkte, aber energische Christlichkeit durchdringt langsam, doch sicher missionarisch das ganze Land. So ist die Geschichte der Vereinigten Staaten in den ersten beiden Jahrhunderten protestantische, teils auch katholische Religionsgeschichte. Die ersten Kulturprodukte sind religiös: die ersten literarischen Erzeugnisse sind Predigt und Lieder, die ersten Bücher sind Andachts- und Gebetssammlungen. Die ersten Schulen, Yale, Harvard, sind konfessionell protestantische Gründungen. Und bald entsteht auch die dogmatische und polemische Literatur, die den religiösen Differenzen unter den Sekten Ausdruck gibt. Die Größe des Landes und der religiöse Freiheitsgeist gewährt aber allen die gleiche Möglichkeit religiöser Sektenbildung; zahlreiche religiöse Neuformungen entstehen, die meist die aus Europa mitgebrachten nationalen und religiösen Differenzen hervorheben und ausbauen; einige wenige entstammen auch rein amerikanischem Boden. Immerhin erscheinen zur Zeit der Revolution die Hauptdenominationen in fester Stellung und Besitz. Die Kongregationalisten und Presbyterianer, Lutheraner und Reformierten, die Anhänger der bischöflichen Kirche und die Mährischen Brüder, die Baptisten und Methodisten, sie alle haben sich selbständig und stark zusammengefügt und halten einem Katholizismus Widerpart, der im Bewußtsein seiner Minorität und seiner Angefeindetheit sich zurückhält und nur die gleichen allgemeinen Rechte der Niederlassung und Organisation genießt. In zwei Momenten beginnt zunächst das 18. Jahrhundert in Amerika sich seiner protestantischen Einheit bewußt zu werden. Einmal in der Theologie Jonathan Edwards', des ersten und bedeutendsten Theologen Neuenglands. Seine theologischen Fragestellungen erwachsen allerdings aus streng calvinistischen Voraussetzungen, aber sie werden aus starker persönlicher Religiosität beantwortet und in allgemeingültiger Form ausgesprochen. Die Gnadenwahl, jenes der amerikanischen Kulturentwicklung so
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überaus fruchtbare calvinistische Dogma, bekam durch Edwards seinen eigentümlichen amerikanischen Ausdruck, seine positive Formulierung aus der religiösen Praxis heraus. Von da an hat die kompakte calvinistische Orthodoxie in Amerika sich wissenschaftlich organisiert. Princeton Theological Seminary ist im Osten ihr intellektuelles Zentrum; sie hat im Mittelwesten und Süden besonders große Anhängerschaft bis heute. Aber mit Edwards steht auch das zweite den Protestantismus Amerikas sammelnde Moment im Zusammenhang: die Erweckungsbewegung, die interdenominationell das Land durchflutet. Der Name des Engländers Whitefield Mitte des 18. Jahrhunderts ist dauernd mit dieser evangelistischen Begeisterungsbewegung verbunden; aber sie hatte schon 1734 durch Edwards, Bußpredigt ihre Anfänge erfahren. Der Einfluß, den diese Bewegung im amerikanischen Protestantismus hinterließ, ist tief geblieben. Kalter Dogmatismus und starre orthodoxe Kirchlichkeit erhielten durch diese Glaubensbewegung, die ihre Kraft in der Laienbibel und in der Erneuerung durch den heiligen Geist fand, ihr dauerndes Gegengewicht. Niemals konnte darnach die rigide dogmatische Orthodoxie die Alleinherrschaft über die amerikanische Frömmigkeit gewinnen. Die verallgemeinernde Theologie J. Edwards' und die Erweckungsbewegung haben nun auch nicht geringen Anteil an dem glücklichen Ausgang des Befreiungskrieges und der Entstehung des amerikanischen Staatenbundes 1789. Beide hatten die wichtige Wirkung, die geistige und religiöse Abgeschlossenheit der Kolonien gegen einander aufzuheben und die Grenzen dem Gefühl christlicher und bürgerlicher Zusammengehörigkeit zu öffnen. Diese aus der Religion entspringende Einheitsstimmung durfte aber in der Folgezeit nicht religiös-konfessionell gefärbt sein. Es war eine ungeheure Schwierigkeit, den kleinstaatlichen Partikularismus zu bewältigen, und das gelang nur durch Ausscheidung allen konfessionellen oder religiösen Einflusses auf das Staatsganze. Während sich aber so erst der Gesamtstaat und später auch die Einzelstaaten aller Verbindung mit den Denominationen und Kirchen begaben, genossen sie doch die politisch-soziale Erziehungsarbeit zum Gemeingeist, die theologische und religiöse Anstrengung geleistet hatten.
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Das 19. Jahrhundert brachte nun den Hauptanstoß zur geistigen Entwicklung des amerikanischen Protestantismus durch die unitarische Kontroverse. Die unitarische Bewegung in Amerika leistet jenen liberalisierenden, kulturverbindenden Aufklärungsdienst an der Religion, den wir in England wie in Deutschland erlebt haben und als eine Notwendigkeit des modernen religiösen Bewußtseins empfinden. Nirgends sonst als in Amerika hat aber dieses von der orthodoxen Dogmatik und der Gefühlsenge evangelikaler Frömmigkeit befreite religiöse Denken in die radikalen Formen des Unitarismus sich kleiden und in ihnen sich durchsetzen können. Es war die Blüte der Bildung, die in Boston sich zusammentat, um mit Kopf und Herz gegen Dogmenzwang und Pietistenfanatismus zu protestieren. In enger Verbindung mit den Kultureinflüssen deutscher und englischer Romantik und Philosophie, Schleiermacher, Schelling, Coleridge entsteht eine stark idealistische Bildungsgruppe, voll Aufopferung und Hingabe an einfaches, wohltätiges Leben, voll pädagogischer Interessen und voll religiösen Eifers. Das Bildungsmilieu der Oststaaten allein bietet ihr Ausbreitung. Doch bleibt die Zahl klein, die geistige Kulturleistung aber wird erstaunlich groß. Wundervolle Prediger: Channing, Parker, bedeutende Gelehrte wie der Historiker Parkman, große Politiker stehen in der unitarischen Bewegung, die in einem Mann sich in der ganzen Welt namhaft macht: Ralph Waldo Emerson. Er ist kein großer Theologe, noch weniger ein großer Philosoph; aber er ist ein ganz wunderreicher, freier Mensch, der sich unmittelbar als Gotteskind fühlt und der im Menschen Gott findet. Die schöne Naturfreude des Unitarismus findet auch in ihm ihren romantischen Anhänger: die Natur ist Gottes voll, wie alles gottgeschaffene Natürliche gut und wohltätig, wenn man es recht ansieht und gebraucht. So wird seine Ausdrucksform der ungezwungene Essai und jede Rede eine Art Bekenntnis. Und dieser undogmatische, freie Kulturgeist, der die Mächte des Innenlebens und der Außenwelt in der frommen Persönlichkeit zusammenfaßt, er haßt die Lehrstreitigkeiten. Emerson hat seinen unitarischen Glaubensgenossen in Boston das Wort zugerufen: wer heute sich zu gemeinsamer Arbeit mit andern vereinigt, der „überläßt dogmatische Streitigkeiten
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solchen Gemeinschaften, die müßiger und unwissender sind als wir." Der Unitarismus hat beides gehalten: er hat sich nach schweren Konflikten schweigend durchgesetzt und seinen erweiternden Einfluß schließlich auf alle großen protestantischen Denominationen des Ostens ausgeübt. Der Geist der Weltfreude und Weltoffenheit, die Ablehnung der dogmatischen Gegensätze, die Zurückhaltung gegen pietistischen Evangelikalismus und die Hingabe an die Gesamtheit geistiger, intellektueller Güter hat sich in den Kirchen verbreitet, und zwar so sehr, daß heute der Unitarismus seine Mission als Kulturöffnung des Puritanismus und Beschränkung des Evangelikaiismus erfüllt zu haben scheint. Allerdings gilt es noch, den Westen für diese Aufklärung zu erobern; aber dort setzen sich neue, dem Unitarismus verwandte Mächte ein. Denn auch das zweite dankt der amerikanische Protestantismus den Unitariern, das bewußte Einstehen in gemeinsamer Arbeit trotz der Unterschiede im Denken. Der Gedanke moderner Toleranz erwächst in dieser freiheitlichen Bewegung, die nicht etwa die Duldsamkeit der Charakterlosigkeit und Unklarheit ist, sondern die die Individualität des eigenen freien Denkens zu ihrer praktischen Bewährung hineinwirft in die Gemeinschaft des Volks und der Arbeit. Mein Denken, meine Weltanschauung, mein Glaube geht niemand etwas a n ; aber wenn ich sie in gemeinsamer Arbeit am Volk einsetze, dann mag jeder sehen, daß ich recht glaube, und mir meinen Frieden lassen. So etwa würden diese philosophischen Theisten ihren Glauben im allgemeinen Leben behaupten. Ein großer praktisch-idealistischer Zug geht durch diesen unitarischen Protestantismus. Dieser religiöse Idealismus wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts schwer gefährdet durch die historischen Ereignisse. Der Bürgerkrieg 1861—65 tobt sich aus; Kirchen scheidensich an der Frage, ob der Neger in der Demokratie Mensch sein soll oder nicht. Die Volkseinheit ist auf das stärkste bedroht. Die in ernsten Erfahrungen gewonnene Glaubensenergie, mit der der reinste protestantische Demokrat, Abraham Lincoln, diesen Bruderkampf führt und als Märtyrer von Mörderhand fällt, ist großartig. Die demokratische Idee wird gerettet durch die Kraft puritanisch-evangelikalen Frömmigkeits- und Bürger-
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bewußtseins. Und als der Kriegslärm verhallt, als das mühsam durch Blut zusammengekittete Volk wieder an seine Arbeit geht, werden die Traditionen liberalisierender, idealistischer Geisteskultur beiseite gedrängt, und das sich nur seiner physischmaterialistischen Neukraft bewußte Volk wirft sich allein in den Kampf um die Güter dieser Welt. Nun beginnt jener ungeheuerliche Auftrieb kapitalistischer Gewalten: der Dollarschwindel erfaßt das ganze Volk, der Großkaufmann ist Herr des Landes und des Staatswesens. Ungeheuere Vermögen sammeln sich in wenigen Händen und zerstören den demokratischen Grundgedanken durch die Tyrannei des Geldes. Handel und Industrie wachsen sich zu gewaltigen Machtzentren aus, die das für sie arbeitende Individuum aussaugen und vernichten. Und über diesem Gefüge moderner Plutokratie und Hörigkeit steht die Ironie jenes Satzes aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten dafür, daß alle Menschen gleich geboren sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, daß zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören." So ist der reformatorisch-protestantische Volksidealismus der Aufklärung geschändet durch den Materialismus des endigenden 19. Jahrhunderts. Aber der protestantisch-religiöse Geist stirbt nicht in dem dicken Brodem des Egoismus und der kapitalistischen Machtentfaltung. Beobachtend steht er mitten im Strudel der wirtschaftlichen und sozialen Revolution und paßt sich den neuen Verhältnissen an. Das liberale Denken des Unitarismus wirkt weiter. Wieder ist es ein Mann, der Typus des modernen Amerikaners in seiner Weltoffenheit und seiner religiösen Wurzelung, der der neuen Zeit ihr Gesetz gibt und aufs tiefste den Protestantismus in seiner Stellungnahme zum neuamerikanischen Kulturleben beeinflußt, der Philosoph William James (t 1910). Er wurzelt im charakteristischen amerikanischen Sektierertum; ein swedenborgischer Pfarrer ist sein Vater. Die Nöte des Bürgerkriegs haben ihn getragen und die moderne Naturwissenschaft und der moderne Industrialismus ihn gereift. Alle Kräfte des neuen Amerika treffen sich in ihm, und als Mediziner, Psycholog und zuletzt Religionsphilosoph beschwört
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er ihren Geist. In doppelter Weise hat dieser Philosophieprofessor von Harvard den amerikanischen Protestantismus zusammengefaßt und lebenskräftig gemacht. Einmal hat er als Religionspsycholog das Wesen der Religion wissenschaftlich in der Mystik bestimmt und damit dem wissenschaftshungrigen Zeitalter seinen religiösen Individualismus als notwendig und berechtigt geschenkt. Dem amerikanischen Religionsgeist bedeutet es Befreiung, daß der Wille zum Glauben aus der Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung sich erheben muß, um jedem Menschen die ihm notwendige persönliche Religion zu geben. Ohne Glauben kein Mensch; wer nicht glaubt, ist ein nichtsnutziges Mitglied des Volks. In spezifisch amerikanischer Art wird so der religiöse Individualismus Allgemeingut der Christen. Aber diese individuelle, mystische Frömmigkeit wird nun zur demokratisierenden protestantischen Volkskraft durch die praktische Wendung, die James ihr gibt. Religion ist nicht zum Zeitvertreib des einzelnen da, sondern sie ist der einzig gültige volksumfassende Arbeitsantrieb, der die Vernunft und Nützlichkeit des Lebens überhaupt gewährleistet. Wir glauben an Gott, weil dieser Glaube das gewaltigste praktische Lebens- und Ordnungsmittel ist, das die Menschheit je besessen hat. Der Erfolg der Religion beweist ihre Richtigkeit. Und ihr Erfolg liegt in dem Lebensmut, den sie dem einzelnen und dem Volk einflößt, in der Aufopferungsfähigkeit, die sie jedem gibt, in dem Glückseligkeitsgefühl, das den treuen Arbeiter erfüllt. Das ist Pragmatismus, die neue Lehre von der Praktischkeit des Denkens, des Glaubens. Nur die Religion mit ihrer praktischen geistigen Lebensverwirklichung bewährt so den Gedanken der Unabhängigkeitserklärung, daß Leben, Freiheit und Glückseligkeit zu den Menschenrechten gehören. Daß diese Menschenrechte nur durch Religion sich erfüllen lassen, hat James den Amerikanern der neuesten Zeit gewiß gemacht. Damit erwies er die unverlierbare Kraft in den alten puritanischen, evangelikalen und liberalen Bestrebungen des Protestantismus. Kirche und Theologie haben mit Enthusiasmus nach dieser Neuauffassung der Religion gegriffen ; die Botschaft von dem praktischen und lebensnotwendigen Glauben erfüllt Kanzeln und Hörsäle. Nur wer recht glaubt, arbeitet auch erfolgreich; nur in der Gemeinschaftsbetätigung Bornhausen, Religion In Amerika
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des Volkes, der Kirche wird Gott lebendig. Ein neuer, starker Kirchenbegriff entsteht, der die religiöse und soziale Gemeinschaft zur Wirkungsstätte wahrer Lebendigkeit macht. Und von ihr gehen die Tugenden des Fleißes und der Tüchtigkeit, der Fürsorge und der Nächstenliebe über in die bürgerliche und staatliche Gemeinschaft, in die wirtschaftliche und politische Volksorganisation. Die amerikanische Demokratie und der amerikanische Protestantismus halten so, was sie versprachen. Niemand kümmert sich im Staatsgefüge um die Gläubensüberzeugungen der Bürger. Und doch gibt die im Volk allgemein gepflegte Religion der profanen Demokratie die Kraft der Zukunft. Dieses Programm des Protestantismus steht gleichermaßen bei den hervorragenden Pfarrern und Laienpredigern, wie Lyman Abbott oder John R. Mott, fest wie bei den großen Volksführern Roosevelt und Woodrow Wilson. Möge es den von den religiösen Motiven der amerikanischen Demokratie bewußt oder unbewußt ergriffenen Männern glücken, diesen neuen amerikanisch-protestantischen Geist der sozialen, weltoffenen Frömmigkeit in Volk und Staat zum Sieg zu führen. 2. Aber jetzt noch kurz die zweite Frage, was denn diese geistige Entwicklung des amerikanischen Protestantismus bisher praktisch geleistet hat. Denn das ist doch zweifellos, daß ihre ganze Zielstrebigkeit auf die Praxis ausgeht. Wir haben dabei nicht zu erwägen, welch starke und bedenkliche Einseitigkeit in der pragmatisch-sozialen Auffassung des Protestantismus liegt. Sondern es gilt das zu erfassen, was auf amerikanischem Boden dieses aus amerikanisch-protestantischer Wurzelung entstandene, soziale Evangelium wirkt. Das erste, was die langsame Entwicklung protestantischen Gemeingeistes in Amerika zuwege gebracht hat, ist die aktive und aufopfernde Beteiligung der Laien am kirchlichen Leben. Das puritanische Prinzip des allgemeinen Priestertums hat sich im 19. Jahrhundert lebendig erhalten und durchgesetzt. Der Laie spielt im protestantischen Gemeindeleben eine führende Rolle, er leitet selbständig die Sonntagsschule, er steht dem Armenwesen vor, sorgt für die rechte Verwaltung der Kirche und bekümmert sich um Erhaltung und Pflege des guten, angesehenen Kirchengeistes. Mag dabei sein eigenes Ansehen
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sich auch heben und er so Vorteil haben, welcher historischen Schulung hat es bedurft, um der Laienwelt diese Erziehung zur Gemeinschaftsarbeit an der Kirche zu geben. Die zweite große Leistung des neuzeitlichen Protestantismus ist das Erwachen des sozialen Geistes. Von den Kanzeln ist die scharfe Kritik erhoben worden an der Aussaugung des Volkes, an den elenden Wohnungsverhältnissen, an der Frauenund Kinderarbeit mit ihrer jämmerlichen Bezahlung. Den Geist des Christentums hat Peabody, hat Rauschenbusch in Wallung gebracht, und das protestantische Gemeinschaftsgefühl ist erregt, um Abhülfe zu schaffen. Die soziale Frage steht in engstem Bunde mit der Kirche; ein Laie, der Werktags in der Gewerkschaft den Arbeitern höhere Löhne verschafft, kann ihnen Sonntags über Jesu Botschaft der Bruderliebe predigen. Und mancher Pfarrer ist Mitglied eines Arbeiterverbandes und dient ihm bei der Beilegung von Streik und in anderen sozialen Nöten. Der protestantische Geist hat die Führung zur sozialen Besserung ergriffen, da nur da gutes, reines Leben und fromme Gemeinschaft sein kann, wo die Wohnungs- und Nahrungssorgen human beseitigt sind. Ferner hat der protestantische Glaube seinen Jahrhunderte alten Missionsgeist im 19. Jahrhundert wundervoll ausgebaut und verfolgt. Nicht nur hat er ihn bedeutsam verwendet, um die Einwanderermassen gründlicher zu amerikanischen Bürgern umzugestalten. Sondern der Protestantismus hat erkannt, daß die Weltmachtstellung eines Kulturvolkes nur zu erhalten und zu erweitern sei durch auswärtige Mission. Der Kaufmann und der Gelehrte, der Gebildete und der Ungebildete ist ergriffen von der großen Idee, die Völker des Ostens dem Christentum und der Kultur zu erschließen. Kein Opfer an Menschen und an Mitteln ist zu groß, um diese begeisternde Aufgabe zu verfolgen. Und Hunderte von wagemutigen und aufopferungsfrohen Männern bieten sich dem Werk der Ausbreitung des amerikanischen Protestaritismus an. Innerhalb der Kirchen und über die Kirchen hinaus dehnt sich diese gewaltige Missionsarbeit, die alle Differenzen des Glaubens und der Lehre vergessen macht. Darin zeigt sich auch die große Elastizität, die die protestantischen Denominationen gewonnen haben. Erstaunlich ist 5*
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vor allem, welche große Wucht in Amerika der Begriff Kirche gewonnen hat. Hier hat dies Wort den Wohllaut echter Gemeinschaft; hier wird der Vollwert des Christentums erst dann erlebt, wenn zwei oder drei zusammen sind in Jesu Namen. Church bedeutet Kirche und Gemeinde: daher kommen den Kirchen ohne weiteres die ethischen und religiösen Vorzüge der Gemeinde zugute. Die ganze Wärme und Intimität, der Stolz und die Stärke christlichen Einstehens aller für eines kommt in diesem Doppelsinn der Kirche in Amerika zum Ausdruck. Zugleich aber hat dieser protestantische Kirchengeist die anderen religiösen Gemeinschaften frei und gleichberechtigt anerkannt. Das Gezänke der Sekten ist in der Öffentlichkeit verstummt. Man sucht nach den Ausdrücken, die den gemeinsamen Geist der Christenheit bezeichnen. Und in gemeinsamer Arbeit für das Gemeinwohl finden sich die Kirchen zusammen, die sich früher grimmig haßten. Ja aus diesem Konzentrationsbedürfnis im Handeln, Denken und Glauben erwächst eine Bewegung, die die Vereinigung der Kirchen in Aussicht zu nehmen wagt. Welch großer Gedanke, daß sich der amerikanische Protestantismus der Darstellung einer Volkskirche nähert, auf deren gemeinsamem Felde alle Denominationen in voller Freiheit und voller Friedlichkeit zusammen leben und arbeiten. Und noch ein großes Ziel entsteht aus diesem amerikanisch-protestantischen Einheitsgeist, der Wunsch der Welt mit dem inneren auch den äußeren Frieden zu bringen. Das ist von je echt christliche, echt protestantische Aufgabe gewesen, Frieden zu stiften, und unrecht ist es, diese gute christliche Zuversicht zu verachten. Wehe dem Christentum, das nicht mehr zum Frieden helfen will in der Welt: es ist gerichtet. Wenn aber ein Volk als christliches Ganzes in wundervollem, reinem Enthusiasmus sich begeistern kann für solche sittlichreligiösen Ideale, dann vertrauen wir auf seine Größe, auf seine Zukunft, dann wollen wir seine Bundesgenossenschaft suchen zu unserer eigenen, selbständigen Bereicherung im echten, protestantischen Glauben. So bleibt das Ziel des Protestantismus in aller Welt das gleiche, wie es die Reformation uns gelehrt hat: es gibt nichts Größeres als ein sittlich religiöses Ideal, für das der einzelne,
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für das die Völker ihr Leben hingeben. Und das reformatorische Ideal, durch Glauben allein Erlösung zu haben, es ist in vier Jahrhunderten protestantischer Glaubensbewährung in allen Landen erweitert und gesteigert für die Zukunft! Vom Altar der Geschichte nehmen wir unsere neue Aufgabe, das Weltgeschick des Protestantismus der Zukunft zu erfüllen als einer selbständigen und eigenwertigen, aus gemeinsamem religiösem Besitz gewonnenen Arbeits- und Kulturgemeinschaft, der Gemeinschaft freier, friedlicher Völker und von sittlicher Unkraft und innerer Verzagtheit erlöster Menschen. A n m . : Es ist nicht unwichtig zu dem oben behandelten Gegenstand die ziemlich zerstreute Literatur etwas bereit zu stellen. Für den englischen Protestantismus und seine Geschichte existieren mancherlei geschichtliche Zusammenfassungen. Ein gutes Verständnis der englischen Religionsverhältnisse vermittelt Goetz .Kirche und Religion in England*. Berlin, Protest. Schriftenvertrieb 1913. Knappe Obersichten findet man in .Religion in Geschichte und Gegenwart*. Art. England II von Baumgarten und in der Herzog-Hauckschen Realencyklopädie für protest. Theologie und Kirche, 3. Afl., Band 23, dem ersten Ergänzungsband von 1913, Art. .Englische Theologie des 19. Jahrhunderts" von A. H. Newman. In diesem Aufsatz ist auch sehr wichtige Literatur über Amerikas theologische Produktion zusammengetragen, wie sie sonst nicht aufzufinden ist. F. H. Foster's .History of the New England Theology* (Chicago 1907) hält sich streng an ihr begrenztes Thema. Für die Geschichte des amerikanischen Protestantismus sind vor allem Rauschenbuschs Darlegungen in Krüger-Stephans Handbuch der Kirchengeschichte, Teil IV .Die Neuzeit" (Tübingen 1909) wichtig. Die leicht herauszufindenden Kapitel über Nordamerika verdienen durch trefflichen Inhalt und selbständige Auffassung allgemeine Anerkennung. Ferner sind von ihm zu beachten seine Aufsätze in der Christlichen Welt 1908, Sp. 346ff. .Kirche und soziale Bewegung in Amerika.* Troeltschs .Soziallehren der christlichen Kirchen" (Tübingen 1912) sind für das historische Verständnis des amerikanischen Protestantismus gerade in seiner praktisch-sozialen Seite unentbehrlich. Dazu muß man Max Webers kirchen- und sozialpolitische Skizze .Kirchen und Sekten in Nordamerika* Christi. Welt 1906, Sp. 558 ff. 577 ff. vergleichen, auch um der Auseinandersetzung mit Troeltsch willen. Von charakteristischen Äußerungen der Amerikaner über ihr Christentum führe ich an Th. R. Slicer .Liberale Religion in den Vereinigten Staaten* Protokoll des 5. Weltkongresses für Freies Christentum, Berlin 1910, S. 372 und D. S. Schaff .The Movement and Mission of American Christianity" American Journal of Theology 1912, S. 51 ff. Die ausgebreitete Zeitschriftenliteratur Amerikas zur religiösen Frage der Gegenwart ist bisher in Deutschland nicht zu finden gewesen. Ich hoffe, daß die Theologische Amerika-Bibliothek diesem Mangel abhilft.
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3. Religion und Arbeit In Amerika. Wenn wir Religion und Arbeit zu einer Überschrift verbinden, so müssen wir uns zunächst fragen, ob beide überhaupt etwas mit einander zu tun haben. Darauf wird uns die Geschichte die Antwort geben, daß die Menschen immer Religionsbedürfnis gehabt haben und daß sie andrerseits durch Arbeit eine höhere Kultur darzustellen sich bemühten, aber daß sie Religion und Arbeit deswegen doch nicht ohne weiteres in Zusammenhang brachten. Religion und Arbeit haben keine psychologische Verbindung; sie zeigen vielmehr einen Gegensatz. Während der naive Mensch im allgemeinen die Religion als ein Bedürfnis empfindet, ist ihm die Arbeit eine peinliche Last. Hochschätzung und Verherrlichung der Arbeit als des wesentlichen Antriebs zum Fortschritt der Menschheit ist neueren Datums, und erst diese sittliche Wertung der Arbeit hat die Religion zu ihr in Beziehung gesetzt. Das Christentum und vor allem der Protestantismus hat die religiöse Wertschätzung der Arbeit in die Welt gebracht, nachdem der Fortschritt und Aufstieg der Kultur durch die Arbeit allmählich ganz offenkundig geworden war. Nun konnte die Religion mit ihrem Anspruch auf Geistes- und Kulturherrschaft nicht anders, als die Arbeit in den Bereich ihrer sittlichen Beurteilung zu ziehen. In doppelter Weise hat daher die christliche Religion die Arbeit unter ihre Herrschaft zu bringen gesucht. Einmal wollte sie die irdische Berufsarbeit, die sich auf Erwerb von Geld und Gut bezieht, beeinflussen und unter die Gedanken der Bruderliebe und Menschlichkeit bringen. Ferner bildete sie eine eigene Gruppe von Arbeitsleistungen aus, die die Wohltat der arbeitsamen Menschengemeinschaft erhöhen und die im Arbeitsbetrieb geschlagenen Wunden heilen sollten.
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Diese doppelte Auswirkung christlicher Liebestätigkeit konnte aber nicht hindern, daß sich die Arbeit fast gänzlich von dem Einfluß der Religion, wie ihn die Reformation angestrebt hatte, befreite. Vielmehr hat die Arbeit den Profancharakter, den sie im Lauf der Geschichte angenommen hat, immer noch verstärkt. Und es scheint so, als ob sich heute die Arbeit von aller Religion schroff abwende, um nur das Ihre, neuen Besitz und irdische Werte, zu suchen. Wie schwierig ist heute in Deutschland das Verhältnis von Religion und Arbeit! Viele mühen sich an der harten Aufgabe ab, beide zu einander in segensreiche Beziehung zu bringen und den rohen Zustand zu ändern, daß die eine sich um die andere nicht kümmert. Welche Entstellung der Kultur im Einzelmenschen, daß seine Religion stets die Arbeit und seine Arbeit die Religion bekämpft und ausschließt 1 Weder Staat noch Kirche wissen bisher, wie diese Entwicklung zu besserem, harmonischem Ende zu führen sei. Wenn uns heute aber die vielspältigen Geistesrichtungen in unserm eigenen Volk völlig unübersichtlich sind, weil wir selbst zu sehr an diesen Fragen beteiligt sind, so kann uns jedenfalls die Betrachtung eines Volkes fördern, in dem der Gegensatz von Religion und Arbeit sich noch viel grausamer austobt als bei uns und in dem doch nicht die Anzeichen für eine glückliche Lösung fehlen. Nicht ohne Grund hat man Amerika als das Land der Gegensätze bezeichnet. Und auch in unserer Frage zeigt das amerikanische Volk uns zunächst den stärksten Zwiespalt. Man könnte geradezu sagen, daß die amerikanische Volksseele sich aus zwei einander bekämpfenden Elementen zusammensetzt: aus Religion und Arbeit. Und beide haben in Amerika eine besonders scharfe, einseitige Ausprägung erhalten. Den protestantischen Glauben brachten die puritanischen Einwanderer aus Europa nach Amerika mit und festigten ihn in dem fremden, ungeheuren Land, wo sie mit Klima und Naturgewalten, mit feindlichen Tieren und Menschen gleichermaßen zu kämpfen hatten. Die Not macht fromm; und den ersten Einwanderern wurde ihr Glaube die einzige Stärkung; die kirchliche Gemeinschaft schloß die einzelnen zusammen, und aus ihr erwuchs ihnen nun die Kraft, die Arbeit der Kolonisation und Kulturausbreitung zu tun.
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Wie die Religion der Gemeinschaft auf diese Weise zuerst die Arbeit beeinflußt, so wirkt auch die neue Arbeit auf den Glauben zurück. Das neue Land war ungeheuer groß und wild, und mächtige Schätze barg sein Boden. Aber nur dem Mutigen, dem Fleißigen gewährte es seinen Reichtum. Für Feiglinge und Faulenzer war in Amerika von Anfang an kein Platz. Nur die nimmer rastende Ausdauer gab dem selbstständigen Arbeiter, sei er Landmann oder Kaufmann, Jäger oder Goldsucher, die großen Erwerbsmöglichkeiten in die Hand. Daher entwickelte das weite Land an seinen Einwohnern neben einem gewaltigen Fleiß eine stark ausgeprägte Selbständigkeit. Allein auf sich gestellt, wehrte der Fellhändler draußen im Westen sich seines Lebens gegen die Indianer; allein setzte sich der energische kluge Kaufmann im Großhandel New Yorks durch. Doch die besonderen wirtschaftlichen Bedingungen, die sich dem isolierten Farmer westlich der Alleghanies aufzwingen, entwickeln allmählich jene eigentümliche demokratische Zusammengehörigkeit, die in gleicher religiöser Überzeugung und gemeinsamer Sicherung von Hab und Gut ihre doppelte Wurzel hat. Not und Glaube führen die selbständigen Individuen zu kleinen Gruppen zusammen, in denen doch jeder sich als unabhängig und nur in Freiheit den anderen dienend empfindet. Daher gleiche Freiheit, gleiches Recht für alle, die arbeiten wollen! Dieser demokratische Grundzug wirkt zurück auf die Religion: gleiche Duldung für jeden Glauben, der den einzelnen trägt und tüchtig macht zur Arbeit. Mag der Glaube noch so einseitig und wunderlich seiri, mag die Religion noch so verschieden sich äußern, wenn sie dem Gläubigen Halt gibt im praktischen Leben, wenn sie ihn zu besserer Arbeit leistungsfähig macht, so ist sie gut und geduldet. Man sieht, schon neigen sich Religion und Arbeit, die großen Gegensätze, einander zu; aber sie tun es unter dem Zeichen des Nutzens. Die Arbeit trägt den Sieg über die Religion davon und fragt sie barsch nach ihrer Existenzberechtigung! „Was leistest Du, Religion, an praktischer Arbeit?" Das ist die neue Verbindung der Gegensätze. Und die im Grunde unpraktische Religion, die Herzenssehnsucht nach Ruhe und Erlösung von der ewigen Arbeitsjagd, tritt beiseite und
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verschwindet hinter stillen Kirchenfenstern. Die Folgen dieses Zustandes sind auch uns wohl bekannt. Der Mensch macht entweder die Arbeit zu seiner Religion, oder er zerfällt in sich selbst in zwei Lebensauffassungen: die religiöse und die ökonomische. Wie findet sich der einzelne und die Volksgemeinschaft in Amerika mit dieser Entscheidung ab? 1. Man kann sagen, daß in Amerika die erste Lösung viel seltener vorkommt als bei uns: Religion ganz vergessen und außer acht lassen widerspricht der religiösen Tradition der Amerikaner und ist nach ihrem Empfinden einfach ungehörig. Wir finden fast alle Menschen bei ihnen in religiöser Gemeinschaft, wobei allerdings die Tiefe religiöser Beeinflussung ganz außer acht bleibt. Daher tritt nun durchgängig der andere Zustand ein: man ist als religiöser und als arbeitender Mensch eine ganz verschiedene Person, wobei man es aber mit beiden Seiten dieses Lebens recht ernst nimmt. Der Amerikaner ist durch seine Anlage und Erziehung religiös gestimmt. In seinem Privatleben steht er bewußt oder unbewußt beständig unter religiösen Traditionen, denen er sich gern unterwirft. Da ist der sonntägliche, oft genug zweimalige Kirchgang, die Sonntagsruhe, die lautes Vergnügen ausschließt; das rege Gebetsleben, das früher in der Familie gepflegt wurde, ist jetzt leider stark im Abnehmen begriffen. Die moralischen Urteile über Theater und Tanz sind zuweilen sehr hart. Und die puritanische Sittenstrenge steigert sich in vielen Orten bis zur grausamen Bestrafung von irgendwelcher Ausschweifung, Alkoholgenuß oder ungewöhnlichem sittlichem Lebensgang durch gesellschaftlichen Boykott. 1 ) Doch auch aktiv wirkt Religion im Privatleben des einzelnen nach: Beteiligung an der Sonntagsschule oder an der Missionsarbeit, Bereitwilligkeit zur Arbeitsleistung in der Gemeinde sei es als Kirchenältester oder als Armenverweser, große Opferwilligkeit für den Unterhalt der religiösen Gemeinschaft zeichnen den Amerikaner aus. Ein eigentümlicher Idealismus ist ihm aus seinem Selbstbewußtsein und Freiheitstrieb erwachsen: er weiß die innere Energie der religiösen Hin1) Vgl. die scharfe, aber nicht ungerechte Schilderung der „Lynchung Gorkis" von H. G. Wells . D i e Zukunft in Amerika*. Deutsche Übersetzung bei Diederichs, Jena 1911 S. 153 ss.
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gäbe und Aufopferung zu schätzen, da sie allein den freien Menschen bildet. Und so vertraut er den religiösen Mächten in den Menschen und in der Gemeinschaft, daß sie zur Besserung und Förderung der Allgemeinheit beitragen. Daher stellt sich sogar das politische Leben des konfessionslosen Staates unter religiöse Gebräuche. Der Kongreß in Washington beginnt seine Session mit Gebet; ebenso die großen Parteiversammlungen. Beim ersten Kongreß von Roosevelts Fortschrittspartei (Sommer 1912) hat, wie ich hörte, ein Negerpfarrer die Tagung mit dem 23. Psalm „Der Herr ist mein Hirte" eröffnet; eine besondere Kühnheit des Fortschritts lag dabei in der Person, der man das religiöse Amt übertrug. An diesen religiösen Gewohnheiten und Pflichten übernimmt der einzelne gern sein Teil. Vor allem kargt er dabei nicht mit dem Geld. Nur dürfen diese Idealinteressen nicht zu nahe herantreten an die andere Seite seiner Existenz, an seine Arbeitsund Berufsauffassung. Hier klafft nun der Abgrund zwischen Religion und Arbeit: der Mann im praktischen Alltagsleben vergißt die Religion und kennt iiur den Erwerb. Halten wir uns die Kaufmannsmoral in Amerika vor, so sehen wir jenen skrupellosen Egoismus, der den Gewinn von Geldmacht als Selbstzweck ansieht. Man arbeitet, um zu besitzen, und besitzt, um andere für sich arbeiten zu lassen und dadurch mehr zu besitzen. Die mit diesem Besitz auszuübende Macht über alle Arbeit ist das Ziel der eigenen Arbeit. In diesem Aufbau egoistischer und in ihrer Fülle berauschender Arbeitsinteressen geht die Religion als Bewußtsein der eigenen lebendigen Seele unter. Die Religion wird als soziales Kristallisationsmittel gewertet: die Zugehörigkeit zu einer guten Kirchengemeinde oder gar der Vorsteherposten der Sonntagsschule in einer angesehenen Kirche hilft gewaltig im öffentlichen Ansehen. Wenn ein junger Kaufmann oder Advokat sich heute im Mittelwesten Amerikas in einer kleineren Stadt niederläßt, wird er schnell suchen, in eine der besseren Gemeinden einzutreten, um dadurch gesellschaftlichen Anschluß zu bekommen. Natürlich sehen die guten Gemeinden darauf, daß die Leute, die Aufnahme begehren, wirklich religiöse Überzeugungen haben. Gewiß gibt es da krasse Fälle, in denen nur Nützlichkeitsgründe
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zum kirchlichen Anschluß bewegen. Aber bei weitaus den meisten bestehen doch alte, durch Familie und Erziehung gefestigte Gewohnheiten oder das mehr oder minder klare Bedürfnis nach innerer Ruhe und läuternder Umgebung. Also kirchliche Traditionen wirken auch in dem profanen Leben nach: ein anständiger Mensch ist ein religiöser Mensch. Aber wie hohl ist diese religiöse Form durch das Arbeitsinteresse geworden I Wohl wirken religiöse Sitten im Arbeitsleben mit; aber sie sind verweltlicht und retten nichts von der guten Gewohnheit der Nächstenrücksicht in das Maschinengetriebe grausamer Erwerbsgewalten. Vielmehr geht das religiöse Verpflichtungsgefühl des einzelnen seinen Privatweg außerhalb des Geschäftes. Sonntagschristentum 1 Gewiß werden wir nicht sagen, daß es solch ethisch-religiöse Gedankenlosigkeit in Europa weniger gäbe als in Amerika. Nur tritt die Dissonanz zwischen Religion und Arbeit in Amerika infolge des Mangels an selbstverpflichtendem Denken und an Bedürfnis nach Einheit des Lebens noch stärker in Erscheinung. Wohl ist viel guter Wille vorhanden, irgendwie auch persönlich den sittlichen Weisungen des Evangeliums nachzukommen; aber meist herrscht ein naiver Glaube, daß sich diese Ethik und Religion im Leben vollziehen lasse ohne schmerzliche Brüche und Kämpfe. So gibt sich der aktive Mann in seinem Arbeitsleben nicht Rechenschaft über den sittlich-religiösen Sinn seiner Arbeit, sondern er glaubt sie dadurch in Einklang mit dem Christentum zu halten, daß er im Privatleben seine Pflicht an der religiösen Gemeinschaft ernst nimmt. Die Schwierigkeit für die Beurteilung solchen moralisch-religiösen Zwiespalts liegt für uns darin, daß wir uns hüten müssen, über die religiöse Qualität solchen Verhaltens allzu harte Urteile zu fällen. Rockefeller, der vor einigen Jahren der unpopulärste Mann in Amerika war unter nationalökonomischem Gesichtspunkt, von dem man an die Litfaßsäulen anschlug, er sei der größte Dieb der Welt, er bleibt doch der schlicht fromme Baptist, der auf seine Stellung zu Gott den allergrößten Wert legt. Und in seinem Privatleben fehlen dann nicht Züge einer gewissen seelischen Größe, ehrlicher Frömmigkeit und christlicher Einfalt. Der Ausbau der Universität Chicago, den er mit 30 Millionen Dollar bewerkstelligte, bleibt für die Heranbildung des Mittelwestens von Amerika
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eine groß gedachte und groß durchgeführte Wohltat. Und daß Rockefeller sich und seine Familie jetzt ganz von der Universitätsleitung zurückgezogen hat, um das Institut mit seiner Person und seinen Geschenken jetzt nicht mehr zu belasten, ist gewiß vornehm empfunden. Obwohl Rockefeiler orthodoxer Baptist ist, hat er niemals versucht, den Geist der sehr liberalen baptistisch-theologischen Fakultät in Chicago, der ihm zuwider sein muß, zu ändern oder zu unterdrücken. Diese Umstände werden dazu beigetragen haben, daß sich jetzt ein eigentümlicher Umschwung der populären Stimmung zu seinen Gunsten vollzogen hat. Von solchem Privatchristentum wird aber das öffentliche Individuum nicht beeinflußt, sondern dieses ist allein auf Machterwerb, Selbstdurchsetzung, schrankenlosen Herrschaftsbesitz gerichtet. So ist die christliche Erwerbsmoral des Amerikaners im Durchschnitt eine hypothetische; sie lautet: Wenn ich erst dies oder jenes durch rücksichtslose Arbeit erreicht habe, dann werde ich auch meinen christlich-sittlichen Pflichten, die ich ja genau kenne, gerecht werden. Man muß anerkennen, daß diese hypothetische Moral recht oft in Realität tritt und daß manche Individuen später mustergültig ihre Pflicht an der Allgemeinheit erfüllen, aber doch meist nur von ihrem Überfluß. 2. Damit bleibt der Amerikaner als Individuum ein von Religion und Arbeit zerklüfteter Mensch, ein Wesen, dem nur durch seinen köstlichen Optimismus die Überwindung dieses Zwiespalts prophezeit ist. Und in der Tat hat er schon den Ansatz gefunden, von dem aus Religion und Arbeit heute versöhnt werden müssen. Religion und Arbeit einigen sich in der Gründung von Gemeinschaft. Allerdings ist diese Gemeinschaft sehr verschieden. Arbeitsgemeinschaft ist praktisch oft Arbeitsknecbtschaft: und diese hat nichts mit Religion zu tun. Andrerseits hat uns heute erst die geordnete Arbeit von Menschenmassen gelehrt, was Arbeitsgemeinschaft leisten kann und welch ungeheure Kräfte das Arbeiterheer unter richtiger Leitung entwickelt. An diese noch undisziplinierte Arbeitsgemeinschaft muß die Religionsgemeinschaft heran. Die Religionsgemeinschaft hat die Aufgabe, das rohe Treiben der Massenkräfte zu bändigen durch Rücksicht auf die Einzelmenschen, damit die Arbeits-
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gemeinschaft auf der Gesinnungsgemeinschaft sich fester gründe. Diese Entwicklung hat letzthin im amerikanischen Volk deutlich eingesetzt, und mit Begeisterung sind religiöse Führer am Werk, sie zu verbreiten. Das Volk ist dazu gekommen, einzusehen, wie seine einzelnen Glieder die Sklaven der Arbeit sind und auch ihre Seele nicht mehr aus der Öde des Arbeitsprozesses retten können. Die sittliche, die religiöse Menschengemeinschaft wollte zu ihrem Recht kommen, je mehr im Lauf der Entwicklung auch das Gesetz in Erscheinung trat, daß der Einzelne im modernen Leben nichts bedeutet. Zu dieser Belehrung trug nicht wenig die Organisation des Kapitals bei, die gerade in Amerika ein grandioses Beispiel dafür ergab, was Machtkoalition vermag. Allerdings würde man falsch gehen zu behaupten, daß der Trustgedanke und seine Ausführung in Amerika irgendwie gemeinschaftsbildend genannt werden könnte oder als Kraftzusammenfassung auf den Sozialismus in Amerika gewirkt habe. Die Trustbewegung kann schlechterdings als nichts anderes denn als ein grandioser individueller Utilitarismus aufgefaßt werden, bei dem sich verschiedene Individuen nur scheinbar zu einer Gemeinschaft gegenseitiger und allgemeiner Ausnutzung zusammentun. In diesen Kapitalorganisationen schlummert nichts, was sozial genannt werden könnte: die Gemeinschaftsarbeit in ihnen dient nur Individuen, und es ist charakteristisch, wie auch nach außen immer wieder ganz wenige einzelne als Führer und Gewinner dieser Kapitalkräfte erscheinen. Diesen im Grunde ganz egoistisch-individualistischen Erscheinungen gegenüber haben sich das amerikanische Volk, vor allem die amerikanischen Kirchen auf den Gemeinschaftsgedanken der Nächstenrücksicht und Hülfe besonnen, wie er im Evangelium ausgesprochen wird. Es erschien unmöglich, der individualistischen Erwerbskraft einzelner in schrankenloser Weise das Feld zu überlassen, ohne den anderen die schon durch das demokratische Prinzip garantierte Gleichberechtigung zu schützen. Daher beginnt auch die Gesetzgebung sich der sozialen Frage legislatorisch anzunehmen. Man hat allerhand profane Unterstützungsorganisationen gebildet, um dem natürlichen Gebot der Menschenpflicht durch soziale Hilfeleistung nachzukommen. Vor allem aber haben sich die religiösen Denominationen mit Eifer dieser
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Arbeit angenommen. Es ist charakteristisch, daß der erste Ruf nach sozialer Besserung in New York von der Kanzel aus erfolgt ist. Lyman Abbott, Charles H. Parkhurst haben als Pfarrer diese Arbeit begonnen, der Outlook ist unter diesem religiös-ethischen Zeichen gegründet worden. Und heute ist es wie selbstverständlich, daß eine Wochenzeitschrift wie der Literary Digest stets eine lange Rubrik hat unter dem Titel „Religion and social Service". Wie weit sind wir von solch einer öffentlichen Zusammenfassung des Religiösen und Sozialen entfernt! In der Tat leistet nun die Religion in Amerika am meisten für die Verbreitung sozialethischer Maximen; auch die Arbeiterbewegung hat sich früher ohne weiteres dem Kräfteeinfluß des „Sozialen Evangeliums" unterworfen. Allerdings hat dann das Aufkommen des Arbeitersyndicalismus („The Industrial Workers of the World") dem religiösen Einfluß Grenzen gesetzt. Darin macht sich geltend, daß auch in Amerika der Arbeiter Religion und Kirchen zum Kapital rechnet und den Verdacht hat, daß wahre Demokratie nicht im Bunde mit der Religion stehen könne. Gewiß haben die amerkanischen Kirchen diesen Argwohn mit verschuldet, da sie meist, wenn auch nicht in der Lehre, so doch praktisch die Reichen unterstützten oder schützten. Für den Arbeiter in Amerika ist die Demokratie das Ideal; er ersehnt sie in der Politik, der Religion wie in der sozialen Frage. Religiöse Demokratie muß daher die Losung der ernstlich vorwärtsstrebenden kirchlichen Kreise sein: jeder sein eigener Herr vor Gott und den Menschen, und für alle gleiches Recht, aber im Einklang mit religiöser Selbstbescheidung und Nächstenliebe. Diese Erweckung des sozialreligiösen Bewußtseins in Amerika ist zwar noch ganz in den Anfängen, aber bei der wackeren Arbeit, die von seiten mancher Kirchen und Denominationen geleistet wird, steht eine allmähliche demokratische Sozialisierung des amerikanischen Volksbewußtseins außer Zweifel. Der alte puritanische Geist wird langsam wieder Geltung gewinnen in neuer Form als sozialer Geist gegenüber dem individualistischen Erwerbsegoismus. Es sind erhebliche Anzeichen vorhanden, daß der Volkswille in der Richtung religiös-sozialer Gedanken tendiert: die Aufnahme, die verschiedene Werke über christlichen Sozialismus, über Jesus und die soziale Frage,
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Rauschenbuschs soziale Gebetbücher „For God and the People"') und „Unto me"*) gefunden haben, die Mühe, die christliche Kreise auf Hebung des Wohnungselends, Hinderung der Frauenund Kinderarbeit, Bekämpfung der Unsittlichkeit,2) Festsetzung von Minimallöhnen verwenden, das alles zeigt ein zarter werdendes christliches Gewissen. Man will Religion und Arbeitsleben versöhnen in der Volksgemeinschaft. Auf drei Gebieten tritt heute das amerikanische soziale Gewissen besonders deutlich hervor, in der Missions-, der Friedens- und der Arbeiterfrage. Das Missionsinteresse der Amerikaner ist alt, aber es ist in der Gegenwart ungemein verstärkt worden durch sozialhumane Interessen. An den Universitäten und in den Kirchen hat sich die Einsicht Bahn gebrochen, daß religiöse und soziale Mission Hand in Hand gehen müssen. Man glaubt an die weltgeschichtliche Gemeinschaftsaufgabe des Christentums, die sich auf die Mitteilung verchristlichter und versittlichter Kulturgüter erstreckt. Und es fehlt in Amerika nicht an der religiös ergriffenen Jugend, die sich für solche Lebensarbeit begeistert. Gewiß ist auch manches praktische Interesse mit diesem Idealismus verbunden; die Grundtriebe aber sind doch Selbsthingabe für andere und der Wille zu sozialer und religiöser Mitteilung und Hülfe, zur Arbeit. Gerade die Gebildeten haben eingesehen, daß die Religion zu Hause sich nur dann mit der Arbeit versöhnen kann, wenn die Religion draußen in der Welt ihre Aufgabe erfüllt, nämlich der Welt die höhere Kultur zu bringen, in der Religion und Arbeit einst versöhnt sein sollen. 3 ) Die Friedensbewegung ist ein ebenso folgerichtiger Ausdruck des religiösen Strebens, die Arbeit versöhnlich zu gestalten. Die Arbeit führt im Grunde heute Krieg: sie bringt die Kulturvölker in den Kampf um die Existenz durch die Konkurrenz. Diese wetteifernden Arbeitsinteressen in kriegerischer Auseinandersetzung zu entscheiden, muß aber der Religion als ein Greuel 1) Boston, Pilgrim Preß 1910, 1912. 2) In dieser Sozialarbeit tritt jetzt der Sohn Rockefellers führend hervor. Vgl. Outlook 1913 Nr. 6 Bd. 103 S. 287, 298. 3) Vergl. .Outlook* 1913 Nr. 6 Bd. 103 S. 292 ss., .Statesmanship in Missions", dazu den hier folgenden Aufsatz Uber Student und Mission in Amerika.
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und ein Unsinn erscheinen. Daher sucht sie die Gemeinschaft der Völker von der Möglichkeit des friedlichen Arbeitsausgleichs in der Menschheit zu überzeugen. Die amerikanische Friedensbewegung ist sozial-human begründet, wobei religiöse Motive stark mitwirken. Sie zeigt die neu aus dem Puritanismus aufwachsenden religiös-sozialen Kräfte, die sich das größte Feld der Weltpolitik in aller Naivität zu ihrer Entfaltung suchen, weil sie arbeiten wollen. Diese begeisterte Unternehmungslust ist bezeichnend für den Amerikaner; aber der zuweilen oberflächliche Optimismus birgt hier nicht den Kern egoistischer Unwahrhaftigkeit, sondern echte religiöse und soziale Gefühle von einer Schwungkraft, über deren Stärke wir uns in Deutschland sehr täuschen. Geographische Isolierung und politische Sicherheit erleichtern den Amerikanern den Friedensenthusiasmus; Staat und Regierung haben keinen Grund, den Optimismus zu dämpfen. So hat der christliche Geist auf diesem Gebiet völlig freie Hand. Religion ist bei dieser Friedensbewegung an praktischer, volksverbindender und aussöhnender Arbeit I Endlich die Arbeiterfrage, die auch für Amerika die soziale Frage im eminenten Sinn ist. Gerade hier wird das Problem der Vereinigung von Religion und Arbeit brennend. Die amerikanischen Kirchen haben es nicht so weit kommen lassen, daß der von der Anteilnahme der Kirche enttäuschte Arbeiter ihr für immer den Rücken kehrte. Kirchliche Gemeinschaft und Bildung haben aufopfernd gewirkt, um der großen Not und Verelendung des Volks namentlich in den großen Städten zu steuern. Besonders tapfer ist die Presbyterian Church in dieser Arbeit vorangegangen. Seit 1903 hat sie ein besonderes Bureau für die Pflege der Beziehungen von Kirche und Arbeit zu einander eingerichtet. Der Vorsteher dieser Abteilung ist der schon mehrfach erwähnte Charles Stelzle, der selbst Arbeiter gewesen ist und erst spät Pfarrer wurde. Sein soziales Verständnis hat sich ganz der Aufgabe gewidmet, Kirche und Arbeiterschaft einander näher zu bringen. Auf seine Anregung hin wurde zuerst in Minneapolis ein Austausch von Delegierten zwischen Pfarrerkonferenz und Arbeiterverein eingerichtet. Dieser Austausch von „fratemal delegates" hat sich in der ganzen presbyterianischen Kirche bewährt und ist von anderen Kirchen
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nachgeahmt worden; viele Pfarrer benutzen heute ihr Recht, bei Arbeiterversammlungen anwesend zu sein und Rede und Antwort zu stehen. Neuerdings hat Stelzle seine Aufmerksamkeit der fremdsprachlichen Bevölkerung New Yorks zugewendet, deren schwierige Lage dem Gemeinwesen eine Gefahr und den Kirchen eine Sorge ist. Heute ist die presbyterianische Kirche so weit, daß sie jungen Theologen besondere Auslandsstipendien zuweist: sie sollen die Lebensbedingungen der amerikanischen Einwanderer in deren Heimat studieren und dann in New York durch praktische Arbeit den großen sozialen und religiösen Nöten der Landesfremden steuern helfen. Und wenn auch diese und ähnliche Leistungen fast wie ein Tropfen auf den heißen Stein erscheinen, so zeigen sie doch den ernsten Willen religiöser Arbeitsgemeinschaft und gewinnen langsam das Vertrauen des Volks. 1 ) In dieser Weise ist jetzt der kirchliche Gemeinschaftssinn in Amerika lebendig, um in werktätiger Hülfe die Arbeitsgemeinschaft und Menschengemeinschaft überhaupt zu durchdringen. Gerade die christlichen Kirchen und Sekten haben diese Ideen der religiösen Arbeitsleistung, Arbeitshumanisierung aufgenommen: Dienst an der Gemeinschaft ist religiöse Pflicht. Wunderschön stellen die Herausgeber der Biblical World 1913, 1. Heft folgende Gedanken an den Anfang des neuen Jahres: „Soziale Arbeit ist nicht altruistische Rastlosigkeit; vielmehr ist sie der weise abgezweckte Dienst der Seelen, die an etwas Besseres glauben, als der Heroismus verlorener Hoffnung es vermag. Sie ist Religion an der Arbeit. Wir wünschen nicht, daß unsere Kirchen alle möglichen Reformen überstürzen; wir wünschen nicht, daß sie ethische Waisenhäuser sind, die man vor allen Unzuträglichkeiten zu bewahren liebt. Wir wünschen, daß unsere Kirchen geistliche Heimstätten seien, in welchen die Seelen zu geistigem Leben geboren und den Sozialsinn der Wiedergeburt gelehrt werden." 1) Vergi, dazu das Material der Denkschrift a. a. O. S. 31 ff., ferner in Rauschenbuschs Buch .Christianizing the Social Order" (New York, Macmillan 1912) Teil I, Cap. II, S. 7 ff. .The Response of the Churches', in dem man eine interessante Übersicht über die kirchliche Sozialentwicklung findet. Börnhausen, Religion In Amerika
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Der Sozialsinn der Wiedergeburt ist die neue Erläuterung eines uralten religiösen Gedankens: Die christliche Gemeinschaft muß den Einzelmenschen die Erlösungskräfte zuführen. Das ist freilich ein sehr einseitiger Gedanke; aber er hilft zunächst der Religion aus ihrer unpraktischen Weltfremde herauszukommen in die praktische Arbeit. Aus diesen Interessen heraus hat in Amerika eine höchst wichtige Bewegung eingesetzt, um die vielen zersplitterten christlichen Kirchen zu vereinigen, alle Glaubensstreitigkeiten bei Seite zu lassen und nur die Aufgabe der Sozialarbeit auf religiösem Boden zu erfüllen. „The Federal Council of the Churches of Christ in America" hat zum zweiten Mal in Chicago im Dezember 1912 getagt. 32 verschiedene christliche Kirchen und Sekten waren auf dieser Tagung vertreten und in großer Einmütigkeit einigte man sich auf schwerwiegende Beschlüsse. Professor Rauschenbusch faßte die Vergangenheit Amerikas vom christlichen Standpunkt aus-in folgenden Vorwurf zusammen: „Wir sind ein Verschwendervolk. Wir haben unsere Wasserkraft vergeudet, verschwendet unsere Wälder, unseren Boden und seinen Fruchtbarkeitsgehalt; wir haben das Leben der Kinder in den Fabriken vergeudet und den Segen schmerzvoller Mutterschaft, — aber die größte Verschwendung von allen war die Vergeudung von religiösem Enthusiasmus. ul ) Daher gilt es nun den religiösen Enthusiasmus zur Arbeit zu bringen, daß er nicht ohnmächtig im Werkgetriebe verfliege. Vierfach ist das Programm des christlichen Bundesrats: 1. Benutzung des religiösen Geistes zu praktischer Arbeit, 2. Vermeidung von Kraftverschwendung durch die praktische Arbeit, 3. Vereinigung bestehender. Kirchen auf dem Fundament praktischer Arbeit, 4. Sozialhülfe mit praktischer Arbeit. Vereinigung von Religion und Arbeit auf dem Boden gemeinschaftlichen Lebens ist der Grundgedanke in diesem zeitgemäßen Programm, das die eigentlichen Aufgaben der Kirchen im Leben der Gegenwart bezeichnet. Sehr wichtig ist nun weiter zu hören, wie die amerikanische Kirchenvereinigung dieses 1) Outlook 1912 Bd. 102 S. 847, vgl. S. 18 dieses Buchs, Anm.
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allgemeine Programm praktisch verwirklichen will. Auf folgende Arbeitsgemeinschaft haben sie sich geeinigt: „Die christlichen Kirchen Amerikas wollen zusammen einstehen : 1. für gleiche Rechte und volle Gerechtigkeit für alle Menschen in allen Lebenslagen; 2. für den Schutz der Familie nach dem alleinigen Maßstab sittlicher Reinheit, für gleichmäßige Ehescheidungsgesetze, für geeignete Eheregelung und geeignete Wohnungsverhältnisse ; 3. für möglichst vollständige Lebensentwicklung jedes Kindes, besonders durch Beschaffung geeigneter Erziehung und Erholung; 4. für Abschaffung der Kinderarbeit; 5. für derartige Regelung der Arbeitsbedingungen der Frauen, daß die physische und moralische Gesundheit der Gemeinschaft gewährleistet ist; 6. für die Verminderung der Armut und Schutz gegen Verarmung; 7. für den Schutz des Individuums und der Gemeinschaft gegen die soziale, ökonomische und moralische Verwüstung durch den Alkoholhandel; 8. für die Erhaltung der Gesundheit; 9. für den Schutz des Arbeiters gegen gefährliche Maschinen, Berufskrankheiten und Sterblichkeit; 10. für das Recht aller Menschen auf die Gelegenheit zum Selbstunterhalt, für die Bewahrung dieses Rechts gegen Beschränkungen jeder Art und für den Schutz der Arbeiter vor dem Ungemach erzwungener Arbeitslosigkeit; 11. für geeigneten Schutz der alternden Arbeiter und der durch Unfall Arbeitsunfähigen; 12. für die gleichen Organisationsrechte bei Arbeitsnehmern und -gebern und für angemessene Einrichtungen- von Vermittlung und Schiedsgericht bei industriellen Konflikten; 13. für einen Ruhetag nach sechs Arbeitstagen; 14. für die allmähliche und vernünftige Verringerung der Arbeitszeit auf ein praktisch mögliches Minimum und für das Maß von Erholung für alle, welches eine Bedingung des höchsten menschlichen Lebens ist; 6*
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15. für einen Minimalarbeitslohn in jeder Industrie und für den höchsten Arbeitslohn, den jeder Industriezweig leisten kann; 16. für eine neue Betonung der Anwendung christlicher Prinzipien auf den Erwerb und die Nutznießung des Eigentums und für die gerechteste Verteilung der Industrieerzeugnisse, die überhaupt ersonnen werden kann." 1 ) Dieses Programm mutet uns in vielem kühn und in manchem auch überlebt an. Aber da müssen wir uns erinnern, daß Amerika noch keine Arbeiterversicherung hat und der Arbeiter durch den schrankenlosen Individualismus vollständig schutzlos ist. An dem Programm ist uns allein wichtig, daß es von Kirchen ausgeht und von ihnen erfüllt werden soll. Es steht sehr wenig Religiöses darin, und doch ist es voll von christlichsozialem Geist. Die Vereinigung von Religion und Arbeit ist der große Gedanke, den diese brüderlich geeinte Kirchengemeinschaft gefaßt hat: sie vergißt allen Streit im Gemeinschaftsgefühl der Arbeit zum Dienst der Religion. Damit aber hat das amerikanische Christentum ein Ziel ergriffen, das wir in Europa noch nicht erfaßt haben und das jedenfalls unserem Volksempfinden noch sehr fern steht. In Amerika begeistern sich die kirchlichen Gemeinschaften für die große Idee: Religion und Arbeit endlich zu versöhnen. Und ihr religiöser Enthusiasmus setzt sich damit ein praktisches Ziel, das in der Tat die bedeutendste Aufgabe der Religion und Kultur in der Gegenwart darstellt. Die Religion muß etwas leisten: sonst steht sie zurück in unserem heutigen Kulturempfinden; und was sie leisten kann, ist die Eroberung der Arbeit durch den Geist der Nächstenliebe. Wenn die Religionsgemeinschaft auf dieses Ziel praktisch hinarbeitet und die Arbeitsgemeinschaft den segensvollen Einfluß der Religion erfährt, dann ist das brennende Problem der Gegenwart gelöst: Arbeitskultur mit Religion und Moral in Einklang zu halten. Die religiös durchdrungene Arbeitsgemeinschaft und die praktisch-sozial arbeitende Religionsgemeinschaft sind die Vereinigung von Religion und Arbeit in der höheren Kultur, die wir erbitten und erarbeiten. 1) Outlook Bd. 102 S. 851; ein etwas anderer Text steht bei Rauschenbusch, a. a. O. S. 14 f.
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4. Student und Mission In Amerika. Ein Vortrag im Marburger Akademischen Missionsverein.
Der Vorzug, daß ich heute in kleinerem Kreis bei Ihnen reden darf, und die Lebendigkeit des Gegenstandes, den ich Ihnen vortragen möchte, veranlassen mich, die hier nicht gewöhnliche Methode der Darlegung zu wählen, die die exakten Wissenschaften anwenden: wir wollen erst beobachten und Erfahrungen sammeln und daraus dann Schlüsse ziehen. So möchte ich Ihnen diesen Weg von besonderen Beobachtungen zu allgemeinen Darlegungen zu gehen vorschlagen und beginne damit, Ihnen das Missionswerk zu schildern, wie es mir in einer ganz abgegrenzten Studentengruppe Amerikas entgegentrat. Im Frühjahr 1911 lebte ich zwei Monate im engsten Verkehr mit dem Union Theological Seminary in New York, einem Theologenseminar mit Studierenden aller protestantischen Konfessionen, mehr als zweihundert Besucher. Von diesen gehörten zweiundfünfzig der ältesten Klasse an, die im Mai 1911 entlassen wurden und in die praktische Arbeit gingen: mit ihnen hatte ich besonderen Umgang und lernte manche genau kennen. Was ist aus diesen jungen Theologen geworden ? Von den zweiundfünfzig sind elf in die Äußere Mission und fünf in die Innere Mission gegangen ; also fast ein Drittel und gerade die wissenschaftlich tüchtigsten Leute gingen in die Mission. Es ist bezeichnend, wie sich diese wenigen Männer über die Welt verteilen: drei sind in Indien, drei in China, zwei in Syrien, einer in Brasilien. Zwei bereiten sich noch in speziellen Studien für die Missionsarbeit vor. Die anderen arbeiten in allen Teilen der Vereinigten Staaten bis Puerto Rico und den amerikanischen Kolonien. Dabei ist zu erwägen, daß die religiöse Arbeit in Amerika, das innere
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Missionswerk der äußeren Mission vielfach sehr ähnlich sieht und oftmals viel größere persönliche Aufopferung verlangt; die Zustände in den kleinen unkultivierten Städten des Westens oder unter der Immigrantenbevölkerung sind oft so wild, daß Missionsarbeit in Indien gelinde erscheint. Im Sommer 1912 erhielt ich nun durch befreundete Vermittlung den Klassenbrief, den die jungen Leute ausgetauscht haben. Nach einem Jahre haben sie ihre Erfahrungen an einen Freund in New York geschrieben ; dieser hat die Briefe vervielfältigen lassen und jedem ein Exemplar geschickt. Um Ihnen den Lebensreichtum amerikanischer Missionsarbeit, der in dieser doch wahrlich kleinen Menschengruppe sich auswirkt, vorzuführen, teile ich Ihnen einige markante Zeugnisse mit. Es ist eine besondere Gunst, daß ich diese Privatbriefe hier benutzen darf; denn keine bessere Quelle für den Missionsgeist gebildeter Theologen in Amerika dürften wir finden. Mit Absicht gebe ich zunächst einige Proben der Missionsarbeit in Amerika selbst; wie bedeutsam sie ist, erhellt sofort aus dem Brief eines Deutschamerikaners. Er ist in Superior im Staat Wyoming im Nordwesten der U. S. A. tätig, gesendet von der Congregational Home Missionary society 1 „Seit fünf Monaten bin ich hier in Superior. . . . Superior ist eine typisch westliche Kohlenbergwerkstadt. Sie liegt weit draußen in der Wüste, wo man nichts als wildes Gebüsch, Felsen und Hügel sieht. Das Lager hat eine Bevölkerung von fast 3000 Einwohnern. Über 1000 sind auf dem Zahlzettel der Kohlenkompagnie. Zwei Drittel der Bevölkerung sind Landesfremde. Fast jede Nation der Erde und ich glaube fast jede Religion hat ihren Vertreter. Auch einige Mormonen sind da." „Die Ideale dieses Volkes sind nicht sehr hoch. Die Stadt galt im letzten Winter als die weitest offene im ganzen Westen.1) Aber ich hoffe, in diesem Winter wird es ein wenig besser, da wir einen neuen Bürgermeister haben, der die Zustände etwas sicherer macht. Wir haben mehr als zwölf Schnapskneipen, und es ist davon die Rede, noch einige mehr zu eröffnen; dabei scheinen sie alle gute Geschäfte zu machen. 1) D. h. das Lumpengesindel konnte dorthin sich verziehen und ungestraft austoben.
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Man hört zu aller Zeit in der Nacht die Leute nach Hause kommen, mit jeder Art von Lärm. Glücksspiel ist im Staat Wyoming verboten; und trotz des Gesetzes sind zwei oder drei Berufsspieler immerzu hier, die ich genau kenne. Zwei von ihnen essen in demselben Gasthof wie ich, und oft sitze ich gerade zwischen ihnen. Was soll man da tun? Ich nehme jeden Rat gern an. Einer von den Magistratspersonen ist Kneipenwirt, und ich glaube, daß auch in seiner Kneipe Glücksspiel getrieben wird!" „Ich halte Sonntagsschule und Gottesdienst Morgens und Abends an jedem Sonntag. Aber der Kirchenbesuch ist nicht groß. Die Durchschnittszahl im ersten Vierteljahr war Siebzehn. Es ist das Schlimmste, daß wir mehr haben sollten. Fünfzig englisch sprechende protestantische Familien sind im Lager: so ist kein Grund da, warum man nicht eine hübsche Kirchenversammlung haben sollte. Aber wie kann ich die Leute kriegen? Ich habe sie alle besucht und sie eingeladen. Die meisten englisch redenden Männer haben auch Sonntags zu arbeiten!" „Und doch bin ich nicht mutlos. Unsere Arbeit ist erst seit ein und einhalb Jahren hier organisiert: mein Vorgänger hatte es noch schlechter. Oft hatte er nicht genug Leute überhaupt Gottesdienst zu halten. Bevor ich den Brief schließe, muß ich doch sagen, daß ich gern hier bin, wenn mich auch einige Probleme arg quälen. Gewiß ist hier ein großes Feld für Arbeit, und ich wünschte nur fähiger zu sein, die Arbeit zu leisten." Das ist ein echter Missionarsbrief, aus schwerer Not heraus geschrieben und doch voll fester Zuversicht auf die Wirksamkeit treuer Arbeit. Aber die Gleichgültigkeit gegen die Religion ist nicht die einzige Schwierigkeit, die der Pfarrer in Amerika trifft. Von anderen höchst charakteristischen Differenzen erzählt ein Theologe, der als Missionar des Presbyterian Board of Home Missions in den Südstaaten verwendet wurde. „Wenn man aus der dünnen Höhenluft des Union Theological Seminary kommt, ist man nicht für die Undurchdringlichkeit des Konservativismus vorbereitet, der in den Landdistrikten von Missouri und Tennessee vorherrscht. Missouri ist schon schlimm genug, aber erst Tennessee! — Du lieber Himmel: Dort
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unten ist der Konservativismus so dick, daß selbst der Engel Gabriel mit flammendem Schwert ihn nicht zerschneiden könnte. Höhere Kritik ist noch nicht am Geisteshorizont erschienen, und die brennende Frage der Gegenwart ist, wie der Mensch getauft werden soll, durch Untertauchung oder durch Besprengung. Kündigt man eine Predigt über die Taufe an, so kommt das ganze Land gelaufen und hört zu." . . . (Es folgt eine Schilderung des denominationellen Hochmuts und der kirchlichen Konkurrenz, durch die das genügend mit Kirchen versehene Land religiös zurückkommt.) . . . „Einer unserer Pfarrer hat einen Mann für ein Jahr aus der Kirche ausgeschlossen, weil er durch Untertauchung getauft zu werden wünschte. Der Pfarrer sagte ihm nicht, daß das völlig unangängig sei, sondern behauptete, es sei unschriftgemäß und deshalb schlecht!!" „Gerade dadurch werde ich mehr und mehr auf das geführt, was wir jungen Leute eigentlich zu bringen haben: die soziale Botschaft, diese Botschaft, die die wesentliche Eigenart jeder Denomination anerkennt, aber sie alle zusammenruft zu gemeinsamer Arbeit an der großen praktisch-moralischen Aufgabe, die wir alle gemeinsam haben. Ich darf annehmen, daß die Einsicht von der Bedeutung der sozialen Botschaft mit mir in diesen Wochen und Monaten wächst: ich sehe so sehr, wie notwendig sie ist. Ich muß gestehen, daß ich mich etwas von der mystischen Art Religion abgewendet habe, die ich so sehr gegen die Soziallehre im Union Theological Seminary betonte. Ich sehe diese Mystik jetzt in zu übertriebener Form und oft geradezu reaktionär in ihren Zielen vor mir. Und doch fühle ich auch in der Abwendung von ihr eine gewisse Gefahr, die Gefahr kalt, hart und knorrig zu werden, die schönen Gedanken zu vergessen, die vor langer Zeit erklangen." Und nun noch ein Zeugnis aus der Missionsarbeit in den Großstädten Amerikas und zwar in New York. Sein Bekenner ist der beste, befähigtste Student dieses Jahrgangs im Union Theological Seminary gewesen; er sollte das große Auslandstipendium bekommen und lehnte es ab, weil er glaubte, die Arbeit in New York sei zu dringlich. Er war Hülfspfarrer an einer guten New Yorker Stadtkirche mit bester Aussicht, dort erfolgreicher Pfarrer zu bleiben. Aber die Missionsarbeit zog
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ihn stärker, und nachdem er lange erwogen, ob er nicht in die auswärtige Mission gehen sollte, glaubte er doch, daß die Arbeit unter den Immigranten in New York wichtiger sei. So zog er ins Italien er-Viertel, 116. Straße, New York Ost am Bronx-Park: üble Stadtgegend. Und dort arbeitet er mit voller Aufopferung und großer Begeisterung. „Meine Arbeit ist wichtig. Auf unserem Erfolg, diese fremden Einwanderer zu amerikanisieren, beruht die Zukunft unserer Demokratie in weitem Maß. Und unter „Amerikanisieren" verstehe ich nicht, die Leute uns gleich machen; denn sie haben einen originalen Beitrag zu leisten für das Amerika der Zukunft. Sondern wir müssen den Leuten den Willjen beibringen, ihr Talent mit einzusetzen. Und zu dem Zweck müssen wir sie kennen lernen und mit ihnen sympathisieren. Es ist eine Schande, daß die Kirche Christi so wenig getan hat, die Wahrheit durchzusetzen, daß wir alle eins sind in Christo. Und nicht nur die Reichen sind diejenigen, die das verhindern. Die schmutzigste Familie in meinem Bezirk weigerte sich eine Zeit lang ihre Kinder in die Sonntagsschule zu schicken „wegen der dreckigen Italiener!" (Sie selbst waren Deutsche.) Gewiß habe ich ganz besondere Schwierigkeit auf diesem Missionsfeld und in einer Lage, die neu und delikat ist (Rassenfrage I!) Aber ich habe bisher jedermann freundlich gefunden, und es ist mir eine Freude gewesen, mit den fremdsprachigen Pfarrern zu arbeiten." „Ich könnte schier ein Buch schreiben über das mir zentrale Problem, welche Rolle die Religion in der Demokratie zu spielen hat. Hier in New York komme ich mehr denn je zu dem Schluß, daß ohne normales, gesundes Leben in der Commune ein normales gesundes kirchliches Leben unmöglich ist. Damit will ich keine Entmutigung ausdrücken; denn mein Werk geht gut vorwärts. . . . Ich lerne eben italienisch; die Sprache ist nicht schwer, aber ich habe zu viel Abhaltung bei der Arbeit" etc. . . . Nun aber zu den Nachrichten vom äußeren Missionsfeld. Die Briefe aus der Ferne sind nicht so bestimmt und klar in ihrem Gehalt. Diese jungen Missionäre sind erst ein halbes Jahr draußen gewesen und noch in den Kinderschuhen bei der
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Arbeit, namentlich in Sprachstudien. So schreibt der Klassenjüngste, ein 22 Jahre alter Mann, aus Vadala in Indien, daß er fast nur mit schweren Sprachstudien beschäftigt sei. Aber die in Aussicht stehende praktische Arbeit locke ihn sehr. Und es fehlen die Kräfte: „Wir sind nicht genug an Zahl. In den letzten fünf Jahren sind viele Plätze frei geworden und ich bin der erste, der zum Ausfüllen kommt. Zwei ganze Bezirke wie Vadala sind ohne Missionar, und die Erziehungsarbeit in den Schulen leidet darunter. Vergeßt es nicht, Kameraden, es ist mein ernster Wunsch, einige von Euch, die noch keine Lebensarbeit haben, hierher zu ziehen. Obwohl ich tatsächlich wenig noch von der Arbeit hier, ihren Möglichkeiten und Mühen verstehe, sehe ich doch genug, um in ihr des Herrn Werk zu erkennen, mit all seinen Hoffnungen und Leiden und harter Arbeit, die es auferlegt Die schönste Gabe vom Union Theological Seminary ist dieses Gefühl von Kameradschaft in einer großen Sache. — Wie grün sind wir alle, voll Hoffnung und voll Dank für den seltenen Vorzug und die Gelegenheit christlichen Predigtamts." . . . . In den letzten Zeilen kommt etwas echt Amerikanisches zum Ausdruck: die prächtige Loyalität der Studierenden zu ihrer Schule und ihren Kameraden. Der Wunsch, Arbeiter aus der gleichen Schule neben sich zu haben, kehrt bei allen immer wieder. Einen anderen Brief wähle ich als typisch für den in der Arbeit der Young Men's Christian Association stehenden Missionar. Der Schreiber ist Lehrer an der Universität Calcutta und arbeitet dort unter den Studenten. Die Schwierigkeiten mit den intellektuell hochgebildeten Studenten fertig zu werden sind offenbar groß. Er schreibt: „Eine der schwierigsten Arbeiten in der Welt ist nichtchristliche Studenten zu einer endgültigen und sicheren Entscheidung für Christus zu bringen. Ich werde von April an der Nationalsekretär der Y. M. C. A. für Indien sein, und diese Stellung verlangt viel Reisen durch alle Teile Indiens; und das Hauptziel ist, eine echte indische Studentenbewegung unter den christlichen Studenten zu Stande zu bringen. Dieses Problem ist eng verknüpft mit den wichtigsten Fragen der
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Missionspolitik: nämlich Selbstregierung, Selbsterhaltung und Selbstausdehnung. Die christlichen Studenten in Indien müssen selbst die Leitung ihrer Kirche übernehmen und über alle schönen Rufe, die sie in lohnende und ehrende Stellungen versetzen, müssen sie die Verantwortlichkeit für ihre unabhängige christliche Kirche in Indien fühlen. Meine Arbeit besteht in Visitationen, in Schriftstellerei, in der Einrichtung von Studentenversammlungen und in persönlichem Contakt mit den christlichen Studenten im Land. Große Verantwortlichkeit ist in dieser Arbeit. Ich hoffe, einige von Euch werden mir dabei helfen." Dieser Brief malt vorzüglich die Weltweite und die religionspolitische Art der Y. M. C. A.-Studenten-Mission! Wichtig ist, daß zwei andere Männer vom Union Theological Seminary jetzt mit 'dem Studentensekretär in Indien arbeiten. So wird eine Theologenschule schier heimisch auf bestimmtem Missionsfeld. Und nun noch ein Dokument, aus China. Der Missionar dort hat seine Studien im Union Theological Seminary unterbrochen, ist drei Jahre in Canton am christlichen College gewesen, und nun ist er nach New York zurückgekehrt. Dem theologischen Studium ist derartige Unterbrechung natürlich schädlich. Aber man kann sich denken, welchen aufweckenden Einfluß solch ein Student mit seinen Lebenserfahrungen auf seine Kameraden hat, und welche Kraft er selbst für seine theoretische Arbeit mitbringt. Ein Mann mit dieser Vergangenheit weiß, was Religionsgeschichte und Religionspsychologie in praxi zu bedeuten haben, und er arbeitet mit rastloser Hingabe, um das beste Handwerkszeug für die neue Arbeit draußen zu bekommen. „Meine Arbeit in Canton war sehr interessant. Ich hatte sehr viel Unterricht zu g e b e n : das ist stets anziehend. Aber die schönste Arbeit war doch das Leben mit den Studenten. Die athletischen Sportbetätigungen der Schule standen unter meiner Aufsicht, auch die Musik und das Gesellschaftsleben der Schule. Da ich im Dormitory mit den Studenten wohnte, habe ich viel vom Chinesen gelernt. Aber wie ist nun wirklich ein chinesischer Knabe seelisch beschaffen ? Ich kann's nicht sagen 1 Vollkommene Rätsel II"
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Warum habe ich Ihnen diese bunten Missionsbilder vorgeführt und Ihnen gezeigt, wie die Missionsarbeit sich in diesen Köpfen spiegelt? Nun um Sie die große Verschiedenheit unseres deutschen und des amerikanischen religiösen Temperaments begreifen zu lassen. Sie werden aus den Briefstücken gemerkt haben: die Schreiber sind wohlgebildete Theologen, die in der Quantität und Qualität des Wissens nicht sehr hinter einem Marburger Kandidat der Theologie zurückstehen. Ferner aber wird Ihnen aufgefallen sein, daß sich diese Männer wahrlich nicht die bequemste Lebensarbeit gesucht haben, sondern daß gerade die besondere Schwierigkeit einer Missionsaufgabe sie anzog. Es ist Unternehmungsgeist und Aufopferungsfreude, die die besten Köpfe der jungamerikanischen Theologenschaft in die Missionsarbeit treibt; an der großen Aufgabe wollen sie sich versuchen. Ein kleines Ziel erniedrigt den Menschen, das große hebt ihn. So stürzt sich der Wagemut gerade auf die gefährlichste Arbeit. In Unternehmungsgeist und Aufopferungsfähigkeit sehe ich nun allgemein die seelischen Wurzeln amerikanischen Missionseifers. Und diese Wurzeln gründen nicht nur im Calvinismus, seiner praktisch tätigen und christlich aktiven Art, wie sie die Pilgerväter drüben in Amerika anwendeten, sondern auch in den eigentümlichen Verhältnissen des großen Landes, in dem die Mission einfach Lebensfrage des amerikanischen Volkes wurde. Wie sollten die Indianer gewonnen werden? Wie sollten die ungeheuren Strecken des westlichen Landes besiedelt und kultiviert werden? Wie sollte Ordnung unter die Negersklaven, unter die Einwanderer kommen? Nur durch Religion, durch Christentum war diese beschleunigte Colonisationsarbeit möglich, wenn nicht der äußere Aufschwung des Lebens eine Vernichtung der Seelenkultur bedeuten sollte. So hat der amerikanische Christ von Anfang an „Home Mission" getrieben, aber das war wirklich auch äußere Mission, mit der er in Amerika selbst bis 1800 alle Hände voll zu tun hatte. Von Anfang an bedeutet daher in Amerika Missionsarbeit Selbsterhaltungsarbeit an Volk und Staat. Aus den großen seelischen Nöten der völkischen Lage heraus und unter dem Einfluß alter Traditionen hat sich die amerikanische Christenheit daran gewöhnt, Mission als einen
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notwendigsten Faktor der Volkserhaltung und Ordnung anzusehen. Und es hat nie an religiösem Eifer gefehlt, der unter Umständen einen Glaubensfeldzug durch Stadt und Land Amerikas unternahm, um die vielen Tausende Abgefallener zu Christus zurückzuführen. Die periodischen Erweckungskreuzzüge des 18. und 19. Jahrhunderts beweisen die Stärke, mit der die religiösen Führer diese Missionsaufgaben empfinden. Das neuerdings mit Hülfe der Y. M. C. A. begonnene „Men and Religion Forward Movement", das jetzt von den Kirchen weitergeführt wird, ferner das. viel umfassendere „Laymen's Missionary Movement", das ganz Nordamerika gleichsam in eine religiöse Nationalbewegung einschließt und durch Erweckungsfeldzüge das Christentum verbreiten will, dann die Wanderausstellungen für äußere Mission „The World in Boston, in Chicago", an denen sich ganze Bevölkerungskreise aktiv beteiligen, beweisen dieses anhaltende Missionsinteresse. Dabei ist wichtig, daß in der Tat das akademisch gebildete Element in der Geschichte der amerikanischen Missionsbewegung eine ausschlaggebende Rolle spielt. Zweimal haben die Studenten in die amerikanische Missionsgeschichte entscheidend eingegriffen. Das erste Mal im Jahre 1810. Damals war das amerikanische Volk auf dem Wege, seine Missionsarbeit in Amerika erfüllt zu haben. Da tat sich in Williamscollege in Massachussets, einem wunderschön in den Berkshirehills gelegenen College, eine Gruppe kongregationalistischer Studenten zusammen und bot sich ihrer Kirche als Heidenmissionare an. Im Park des freundlichen Colleges steht auf der Wiese ein Denkmal, wo sich die jungen Leute nach einet begeisterten Missionspredigt zu dem aufopfernden Plan zusammenschlössen. Sehr wichtig ist: es waren keine studierenden Theologen, sondern es waren Studierende, die noch in allgemeinen Bildungsstudien steckten; sie faßten diesen Entschluß. Und noch heute sind nicht die theologischen Seminare, sondern die Colleges, wo noch keiner einen bestimmten Beruf ergriffen hat, die Stätten, wo die große Missionsbegeisterung entsteht und gepflegt wird. Seit diesem echt amerikanischen Entstehen der Heidenmissionsbewegung aus einer Gruppe Studenten haben im Lauf des 19. Jahrhunderts alle amerikanischen Kirchen und Denomi-
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nationen ihre Missionsorganisationen geschaffen, wählten sich besondere Missionsgebiete und sandten Missionare aus. Die Kirchen waren sehr opferbereit für diese Arbeit; sie empfingen aus dem Kontakt mit ihren Missionaren große religiöse Kraft, und sie hielten diese Berührung ganz persönlich dadurch fest, daß sie gerade angesehene Mitglieder der Gemeinden ausschickten. Ich habe erlebt, wie ein Hülfspfarrer der kleinen Disciples-Gemeinde an der Universität Chicago als Missionar nach Japan entsandt wurde: das war ein Familienfest, wo der eine Freund für eine Weile in die Welt hinauszog, um für den Glauben und für die Menschheit etwas zu leisten, sich zu bewähren und als ein tauglicherer Pfarrer einst zurückzukehren. Die Vorstellung, daß es überhaupt keine weiten Entfernungen mehr gibt, läßt den Amerikaner die Abwesenheit von der Heimat nicht sehr empfinden. Wagemut und Opferfreudigkeit zusammen mit dem nüchternen Interesse an der eigenen Lebenserweiterung und der Erhöhung des eigenen Lebenswertes durch Reisen und Arbeit in der Fremde lassen die Mission dem jungen Mann als lockende Lebensarbeit erscheinen. An dieser kirchlichen Missionsarbeit, die ja auch nichtchristliche Denominationen und Sekten auf Grund der neutralen Seelenbasis: Aufopferungsmut und Wagemut mit gleichem Eifer in Angriff nahmen, z. B. Mormonen, Christian Science, hatte die amerikanische Jugend kein Genüge. Gerade die akademische Jugend erfaßte den Gedanken, daß sich das Christentum der Gebildeten wie im eigenen Lande so auch in der Welt bewähren müsse. Und wieder waren es Studenten, an denen die Bewegung Halt gewann. Im Jahre 1886 berief der bekannte amerikanische Erweckungsprediger Dwight L. Moody studentische Delegierte verschiedener Colleges und Universitäten nach Northfield, um über die Belebung des christlichen Geistes in der studierenden Jugend und über Missionsarbeit zu verhandeln. 250 Vertreter von 80 Unterrichtsanstalten fanden sich ein; einundzwanzig dieser jungen Männer waren schon entschlossen, Missionare zu werden und am Ende der Tagung waren hundert zur Missionsarbeit bereit. Man beschloß, eine Deputation an die meisten höheren Lehranstalten der Union und Canadas zu schicken, um christliches Leben, Bibelstudium und Missions-
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interesse an ihnen zu organisieren. Dieses Unternehmen hatte unerwarteten Erfolg und bewies damit, wie sehr der religiöse Gemeingeist gerade auch in der Bildungsschicht für einen solchen Appell vorbereitet war. Man kann nicht sagen, daß diese „Freiwillige Studentenbewegung für Heidenmission" künstlich gemacht sei; wenn sich in Amerika auch mancherlei organisatorisch in Szene setzen läßt, so doch keine anhaltende religiöse Erregung, es sei denn, sie entspricht einem wirklichen Bedürfnis. Und schnell haben sich für dieses akademische Religions- und Missionsbedürfnis die geeigneten Führer gefunden, von denen John R. Mott weltbekannt geworden ist. Die große Idee flammt auf, die Welt für Christus noch in unserem Zeitalter zu gewinnen und führt zu der Forderung, daß in jedem Land das Evangelium verkündet werde. Das Beispiel der ersten Studentengruppe in Northfield, die sich auf die Formel verpflichtete „Es ist mein Vorsatz so Gott will ein Heidenmissionar zu werden", wird vorbildlich für alle Üniversitäten und Colleges, an denen sich eine „Volunteer-Band" bildet. Das eigentliche Ziel wird die Missionsarbeit in der Fremde. Die heutige studentische Missionsbewegung in Amerika zeigt ihre Bedeutung allein durch die Tatsache, daß sie bis 1. Januar 1912 5194 Gebildete im Dienste der verschiedenen Kirchen und Denominationen zur Missionsarbeit ausgesendet hat, davon zwei Fünftel Frauen. Denn eine gleiche Missionsorganisation hat sich an allen höheren Frauenschulen gebildet. In der Young Men's Christian Association, die seit 1844 in England, später in Amerika mächtigen Aufschwung nahm und wohltätigste christlich-soziale Wirksamkeit fand, und ihrem Seitenstück, der Young Women's Christian Association hat dieses Student Volunteer Movement seinen akademischen und außerakademischen Rückhalt. An der amerikanischen Studenten-Missionsbewegung, die an keine Denomination gebunden die Ausbreitung des Christentums zu Hause und in der Fremde verfolgt, sind zwei Momente sehr auffallend, die die Weite und naive Ursprünglichkeit der Bewegung kennzeichnen. Einmal spielt der theologische Student in ihr eine Nebenrolle. Die Missionsbegeisterung hat ihre Stätte unter den Nichtgraduierten der Colleges, und nicht alle von denen, die sich der Missionsarbeit widmen wollen, werden Theologen.
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Viele werden Lehrer oder ergreifen technische Berufe, mit denen sie einst im Ausland sich tüchtig erweisen können. Dementsprechend herrscht zuweilen sogar ein ungünstiges Vorurteil gegen theologisches und besonders dogmatisches Denken. Man interessiert sich sehr wenig für intellektualistische Glaubensfragen: der Jesusglaube eines Mott ist denkbar untheologisch, ganz impulsiv und lebensvoll, aber ohne dogmatische Geschlossenheit. Die Theologen um ihn empfinden das wohl, und er selbst gibt es gern zu. Aber wozu über Jesus disputieren, wenn man ihn hatl Bei dieser positiv-lebendigen Art, den persönlichen Glauben in einfachem Bibelstudium zu pflegen, können nun die verschiedensten Glaubensüberzeugungen neben einander Platz haben. Natürlich ist der Glaubenstypus der Y. M. C. A. gewöhnlich unter pietistischem Einfluß recht buchstabengemäß und konservativ im guten Sinn. Aber unter den nichttheologischen Studentenmissionsgruppen findet man doch auch solche von erheblichem Radikalismus. Die Führer und Teilnehmer der Missionsgruppe in der Universität Chicago z. B., die baptistisch beeinflußt die ernstesten und enthusiastischsten Mitglieder hat und auf dem Missionsfeld Bedeutendes leistet, haben die Gottheit Christi, die Sühnopfertheorie, die Jungfrauengeburt und allen Wunderglauben abgelehnt. Eine Studentin von schwedischer Herkunft trat in dieser Gruppe besonders hervor; sie war vorher an keine Kirche angeschlossen gewesen, und nur ihre Begeisterung für die Menschheit und ihre Liebe, Gott im weitesten Verstände zu dienen, brachte sie in das Volunteer-Movement. Sie leistete in der Vereinigung Vorzügliches durch ihre Tatkraft und unerschöpfliche Aufopferung, und ihr, ihrem Werk und der Chicago-Gruppe hat ihr ganz impulsiv-naiver dogmatischer Radikalismus keineswegs geschadet. Eine Anzahl Mitglieder jener Gruppe sind Missionare und Pfarrer geworden. Und das Schönste war, daß auch orthodoxe Studenten an ihren Versammlungen teilnehmen und daß Orthodoxe und Radikale harmonisch zusammen beten und arbeiten konnten. Welch ein Segen geht von solcher toleranten christlichen Gemeinschaft aus! Die Studenten bewährten hier, daß Glaubensmeinungen frei sind; der praktische Beweis des Geistes und der Kraft gilt.
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Die Kirchen und theologischen Seminare können begreiflicherweise diese dogmatische Unterschiedslosigkeit nicht aufbringen. Die amerikanische Universität aber bewahrt sich die Freiheit, religiöse Betätigung ihrer Glieder ohne Unterschied der Richtungen durch das eine Gemeinschaftsgefühl, das aus der Bibel wirkt, zusammen zu fassen. Zwei junge, sehr tüchtige Theologen, die in die Mission gehen wollten, bekamen von ihrer presbyterianischen Kirche ernstliche Schwierigkeiten bereitet, weil sie die Jungfrauengeburt ablehnten. Und die Y. M. C. A. war sofort bei der Hand, den bekannt tüchtigen Leuten durch ihre Vermittlung die Missionslaufbahn zu öffnen. Der eine wurde sofort ausgesandt. Den anderen hielt seine presbyterianische Kirche, die den Mann nicht verlieren wollte, fest, fand sich mit der Ablehnung des strittigen Dogmas ab und sandte ihn als ihren Missionar aus. Dieser Verlauf ist typisch amerikanisch: Die Leistung gilt allein, der Glaube wird dann schon recht sein und sich akkomodieren. — Gewiß gibt es bei diesem Verfahren auch Karikaturen, und wenn bei einem christlichen Fußballspieler mehr auf das Fußballspiel als auf das Christentum gesehen wird, so ist das weniger erfreulich. Und doch steckt Kraft in der Überzeugung, daß ein tüchtiger Mensch seine Tüchtigkeit gewiß guten Ansichten, gutem Glauben verdanke. Auch konfessionelle Verständigung wird mit solchen Grundsätzen ermöglicht: In Philadelphia z. B. arbeitet die Y. M. C. A. der Universität im Austausch mit Katholiken und Juden. Und noch ein Beispiel für die Weitherzigkeit der studentischen Mission. In Boston war ich vom Twentieth Century Club zu einer Sitzung geladen: zahlreiche gelehrte und sozial interessierte Intellektuelle Bostons waren versammelt, viele Unitarier. Dort hielten zwei Missionare, der eine aus China, der andere Ingenieur an der Bagdadbahn, Vorträge. Und gerade der Ingenieur war der Bedeutende: er war von der Y. M. C. A. ausgesandt und hielt nun vor dieser ihm theologisch und intellektuell recht fremden vielleicht unlieben Gruppe sein höchst interessantes Referat über die soziale und religiöse Lage der Arbeiter an der Bagdadbahn. So sucht die studentische Mission ihre Freunde in allen Kreisen und stößt sich nicht an Glaubensunterschieden. Damit haben wir auch das zweite auffallende Moment der Bornhausen, Religion in Amerika
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amerikanischen Studenten-Mission: sie geht schlechterdings nicht nur auf die Ausbildung theologischer Missionare aus, sondern sie wünscht die philanthropische und kulturelle Arbeit aufs engste mit der religiösen zu verbinden. So kommt es, daß Männer jeden Berufs, Kaufleute, Techniker, Lehrer, Ärzte in die Mission gehen können; haben sie Begeisterung für die Verbreitung der christlichen Gedanken, so findet das Missionskomitee auch einen geeigneten Platz für sie. Denn nur solche Missionsarbeiter, die das ganze Leben des fremden Volkes fassen und auf höhere Stufen heben, bringen mit der höheren Kultur auch die unwiderstehlichen Mächte der Religion. Das Christentum, isoliert in das japanische Volksmilieu gesetzt, verkümmert und entartet: das wissen wir alle längst. Als Kultivator der Welt muß das Christentum kommen, und das kann es. In Union Theological Seminary liegt im Gesellschaftszimmer ein wundervoller Teppich; er ist in einer Fabrik in der asiatischen Türkei gemacht, der ein Missionar aus dem Seminar vorsteht: ein Symbol dafür, daß nicht der Teppich das Wichtige ist, sondern die Menschen, die in ihm ihre Kultur verwoben. Daher wird die soziale Lage der fremden Völker in Amerika eifrig studiert; immer wieder gehen Kommissionen nach Asien, um das ökonomische und Erziehungsproblem daselbst zu erfassen; ein Professor von Chicago, Ernest D. Burton, war von der Universität ein Jahr lang nach dem Osten geschickt zu solchen Studien. Ihm folgen dann die Studenten aus den großen Landwirtschaftsschulen, aus Laboratorien und Maschinenwerkstätten hinaus in die Welt, nach China, Japan und Indien. Es ist nicht unwesentlich, zu bedenken, wo die Studentenmission Amerikas vorzugsweise missioniert! Verteilen wir die oben erwähnte Gesamtzahl der ausgesandten Missionare auf Länder, so fallen auf Afrika 557, auf Indien, China, Japan 3163. Nun ist es allerdings richtig, daß in den alten und übervölkerten Staaten Asiens der christlichen Kultur mehr und dringendere Arbeit zu tun bleibt als in Afrika. Aber offenbar spielt doch bei der Wahl des Amerikaners auch sein Interesse an dem kulturfähigen Volk eine Rolle. Mag die Arbeit in Indien oder unter dem Islam nach intellektueller Seite hin schwer sein, hier lockt gerade der Wettstreit mit einer entwickelten Religion, und die Größe der Aufgabe läßt das Herz höher schlagen. Gewiß wird
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die entsagungsreichste Arbeit unter völlig unzivilisierter Bevölkerung, bei der jede Kulturanknüpfung fehlt, nicht vergessen. Aber man fördert doch vor allem die Mission in den Ländern, wo ein eigenes Erwachen des Volks dem Christentum entgegenkommt und schnellen Fortschritt verspricht. Das Ideal der Christianisierung der asiatischen Weltvölker und die Ansätze zur Erreichung dieses Ziels haben eine suggestive Gewalt über Jungamerika. Diese Bevorzugung der asiatischen Missionsgebiete schließt mancherlei Vorteile in sich. Vor allem wird die Aufopferungsfreudigkeit des Missionars sogleich an einer Stelle eingesetzt, wo er seine Bildung und seine Gaben in vollem Umfang verwerten kann und die Wahrscheinlichkeit des Erfolges die größte ist. Auch in der Mission ist der Satz von der sparsamsten Verwertung der Kräfte gültig. In der Arbeit aber, bei der der Gebildete seine Persönlichkeit voll zur Verwendung bringen kann, wird er sich auch glücklich fühlen. Wird in dieser Weise der christliche Idealismus nicht verschwendet und enttäuscht, so führt er auch zu praktisch-weltpolitischem Ende. Die christliche Bildungsarbeit, die die amerikanische Studentenmission leistet, erreicht nicht nur eine außerordentliche Selbstausweitung des amerikanischen Christentums überhaupt, sondern auch eine Ausbreitung des amerikanischen Bildungs- und Volksgeistes in der Welt. Gewiß ist das in keiner Weise die Absicht der Mission. Aber es ist ganz unvermeidlich, daß im Gefolge der christlichen Religion auch die Kulturgüter des missionierenden Volks Einfluß gewinnen. Daran ist nichts zu verachten: vielmehr ist es nur der unerwartete Lohn großzügiger christlicher Aufopferung. Weltmission kommt stets in Verbindung mit Weltpolitik; sie muß sich nur davor hüten, daß der politische Nebenertrag nicht etwa Zweck der Mission werde. Durch ihre gedankenreiche und weltumspannende Kulturarbeit hat nun die amerikanische Studentenmission sich einen starken Rückhalt in der Heimat gewonnen: große finanzielle Mittel. Die Laien bringen bereitwillig die größten Summen auf, wenn es gilt die Ausbreitung des Christentums u n d - d e r amerikanischen Tüchtigkeit in der Welt zu fördern; für Kirchen, Schulen, Spitäler und Fabriken ist das Geld gleichermaßen zu haben. Ein weit7*
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sichtiger Kaufmannstand weiß, daß er Kapital für solche Missionsarbeit ideal und praktisch gleich gut verwendet. Diese unbegrenzten Mittel wirken aber auf das vorteilhafteste auf das Missionswerk selbst. Nicht daß der amerikanische Missionar großes Gehalt bekäme; er bekommt wie bei uns nur einen Mindestgehalt von etwa $ 600, und alle Missionare sind ungeachtet ihrer Stellung im Ganzen gleich bezahlt. Daß für ihre Frauen und Kinder gesorgt wird, ist dann selbstverständlich. Aber wichtiger ist doch dies: ein Missionar in Amerika kann viel leichter aus der Fremde in die Heimat zurück, findet in der Heimat schnell eine gute Position und geht bei geeigneter Gelegenheit dann wieder hinaus. Im allgemeinen wird der Missionar für eine Periode von acht Jahren ausgesandt. Die Y. M. C. A. rechnet aber mit viel kürzeren Fristen. So war einer meiner Freunde ein Jahr lang Lehrer des Englischen in Tokio, dann ging er zurück nach Amerika, war Pfarrer in Hartford, Conn., heiratete und ist jetzt wieder von der Y. M. C. A. nach Japan geschickt worden. Diese Beweglichkeit und die Möglichkeit, daß der Missionar nicht endlos lang im Ausland bleibt und der Heimat ganz entwächst, bedeutet eine große Erleichterung; sie entspricht unseren heutigen Kulturanforderungen, ist aber nur möglich, wo so bedeutende Geldmittel vorhanden sind. Reisen gehört im amerikanischen Bewußtsein einfach zu den primitivsten Lebensbedingungen; und das Geld dafür muß dasein. Nun können Sie sich denken, daß um die Kosten dieses studentischen Missionswerks aufzubringen doch eine große Organisation, eine gewaltige Arbeitsleistung nötig ist. Was tragen zu ihr die Studentengruppen bei, die nicht selbst ins Missionswerk gehen? Die für das Missionswerk begeisterten Studenten schließen sich an den Colleges und Universitäten zu engen Freundschaftsbünden zusammen. Wöchentlich vereinigen sie sich zum Gebet und Missionsstudium. Von da aus suchen sie unter den anderen Studenten für ihre Missionssache zu werben, verschreiben Redner für die Stadt, in die Vereinigungen junger Männer, in die Klubs, für die Kirchen und suchen so das Interesse nie erlahmen zu lassen. Ein Prinzip ist, immer etwas in petto zu haben, immer tätig zu sein und Aufmerksamkeit zu erregen. Gerade für diese Missionsarbeit gilt das amerika-
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nische Sprüchwort: „Der beste Weg, warm zu halten, ist glühend machen." Zu dieser Verbreitung des Missionsinteresses kommt noch die wichtige Arbeit der Beschaffung von Geldmitteln. Ist ein College, eine Universität groß genug, so ist es Ehrensache, daß die Studentenmissionsgruppe dort eine eigene Missionsarbeit treibt, einen oder mehrere Missionare draußen erhält. Der engste Kontakt besteht dann zwischen diesem Missionsgebiet und der Universität. Überall fand ich kleine Museen in den Colleges, wo alle möglichen Gegenstände aus der eigenen Missionsarbeit gesammelt werden: Fahnen, Geräte, Geld, Schriften und anderes. Dort hält die Missionsgruppe auch ihre Versammlungen. Die Princeton University hatte ein eigenes reizendes Gebäude dafür, Harvard das Phillips Broqks-House. Natürlich stellt eine solche eigene Missionsarbeit große Anforderungen an die Universitätsmissionsgruppe; eine erhebliche Verantwortung liegt auf den jungen Leuten, wenn sie wissen: draußen arbeitet einer ihrer Freunde fürs Reich Gottes, und sie müssen ihn ernähren. Unvergeßlich ist mir eine Sitzung im Union Theological Seminary, wo alle Montag in einem Auditorium eine interessante Verhandlung über eine innere oder äußere Missionsfrage war; in ihr trug der Vorsitzende, unterstützt vom Präsidenten des Seminars, die Bitte vor, ihrem Missionar in Indien das Gehalt zu erhöhen, und zwar um $ 150. Es sind etwa 250 Studenten, die dafür aufkommen müssen; sie sind nicht reich; die meisten verdienen sich ihr Studiumsgeld und ihren Unterhalt selbst als Vikare oder durch andere Arbeit. Keine Kleinigkeit, daß jeder $ 1 mehr jährlich zahlen soll. Und der Ernst und die Nüchternheit, mit der sie ihrem Freund diese Lebensverbesserung zuschlugen, war ergreifend: das war selbstbewußte Reife und pflichtmäßiges Handeln ohne allen Gefühlsüberschwang. Jetzt kommt mir die Nachricht zu, daß die Studenten dort beschlossen haben, einen zweiten früheren Mitschüler als Missionar in Indien zu erhalten. Die aufzubringende Summe beträgt alsdann $ 1000. Die Professoren haben abgeraten, aber die Studenten wollten es. Es ist ein asketisches Opferbedürfnis bei diesen jungen Leuten wirksam: wenn ihr Freund sich in der Ferne für die Mission opfert, so wollen sie zu Hause auch etwas leisten, was
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ihnen schwer wird. Und so gehen sie bis an die äußerste Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit: ein edler Zug dieser theologischen Jugend. Natürlich reichen die $ 1000 für zwei Missionare nicht; die Y. M. C. A. bezahlt einen Betrag in gleicher Höhe dazu. Nun einige Zahlen der Y. M. C. A., die doch als Maßstab für die Opferwilligkeit des amerikanischen Studenten wichtig sind. Ich wähle aus der Statistik von 1911—12, die 116 Lehranstalten mit ihrem Missionsbeitrag aufführt, wenige Beispiele. Oberlin College 800 Studenten $ 2225 1433 Studentinnen „ 3557 Wellesley College Union Theological Seminary . . . 260 Studenten 750 B Princeton Theological S e m i n a r y . . 145 „ „ 750 Rochester Theological S e m i n a r y . . 35 „ „ 548 Da ich nur die Anzahl der beisteuernden Studenten genannt habe, trifft im Rochester-Seminar für das betreffende Jahr den Einzelnen ein Betrag von über $ 15, doch eine Ausnahme. Zu diesen Studentenbeiträgen kommen dann noch die Sammlungen im Lehrkörper, die oft recht hohe Summen ergeben. Tritt eine unerwartete Not in dem Missionsgebiet, Hunger, Krieg ein, so wird besonders gesammelt; dann ist es Ehrensache, daß der Student auch dazu seine Hülfe beiträgt. Zwischen $ 1—10 schwanken daher gewöhnlich die Jahresbeiträge der Studenten, und es ist wohl zu behaupten, daß auch in Amerika nicht die reichen, sondern die armen Studenten mit kleinen regelmäßigen Gaben das umfangreiche Missionswerk im G a n g erhalten und vergrößern. Diese selbständige und selbstverantwortliche Einzelarbeit der Studentengruppen wird nun zusammengefaßt in einer glänzend arbeitenden Gesamtorganisation, deren Triebkräfte heute von John R. Mott ausgehen. In New York ist man über sämtliche StudentenVolunteer-Gruppen im ganzen Land von Boston bis San Francisco, von Halifax bis New Orleans orientiert; man weiß, wer in ihnen arbeitet und was gearbeitet wird. Der Sekretär für die Gruppe wird in New York bestätigt; Reisesekretäre informieren sich und die Gruppen dauernd über alle Vorgänge; das Missionswerk der einzelnen Universität wird von New York aus kontrolliert, Erweiterungen bestimmt, neue Hülfskräfte gefordert und
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ausgebildet. Das Präsidium in New York hält eng Fühlung mit den kirchlichen Missionswerken, weist den Kirchen die ausgebildeten Missionare zu und macht ihnen niemals Konkurrenz, sodaß die Studentenmission als Vorbereitung und Erziehung zum kirchlichen Missionsdienst sich einheitlich in den allgemeinen amerikanischen Missionsbetrieb einreiht. Eine ganz gewaltige Arbeit wird durch diese Zentralorganisation geleistet, deren Führer immer wieder die Missionsgebiete bereisen, um neuen Bedürfnissen sogleich mit neuer Hülfe entgegenzukommen. Mott ist vergangenen Winter wieder in der Türkei und in Indien gewesen; in China hat ihn dann im Frühj ahr 1913 die Aufforderung seines Freundes, des Präsidenten Woodrow Wilson erreicht, den Gesandtschaftsposten der Vereinigten Staaten in China zu übernehmen. Das ist für Amerika nicht so verwunderlich wie für uns, wo wohl kaum einem Missionar eine diplomatische Stelle von dieser Wichtigkeit angeboten würde. Wilson ist ein religiös sehr tätiger Mann, der zu kirchlichen und religiösen Fragen oft genug das Wort ergriffen hat.1) Außerdem kennt er die hervorragenden diplomatischen Eigenschaften Motts, die ihn für das Christentum wie für die amerikanische Politik in China gleich begehrenswert machen. Aber Mott urteilte anders: er lehnte das Angebot ohne Zögern ab. Die Diplomatie, die das Christentum verbreitet, kann nicht zugleich die der politischen Weltmacht sein, ja sie muß auch den Schein solcher absichtlichen Verbindung vermeiden. Und seine Aufgabe Führer und Organisator des Christentums im Osten zu sein, erscheint Mott viel größer als ein Gesandtschaftsposten. Diese Wahlentscheidung zwischen Religion und Politik ist ergreifend. Der religiösen Gewißheit und Begeisterung eines Mott ist sie allerdings leicht; mit rastloser Energie wirft er sich allein auf seine christliche Missionsaufgabe. Hübsch sagte mir einmal ein Freund und großer Verehrer Motts, daß, wenn sich das Himmelreich überhaupt mit Gewalt auf die Erde bringen ließe, Männer wie Mott das fertig bekämen. Nun läßt das Himmelreich das aber doch nicht zu, sondern es wächst langsam und unmerklich in den Menschenherzen. 1) Z. B. seine Rede über .Spiritual Leadership and Individual Responsibility" in Chicago, veröffentlicht in .Interior" 1910 und in ,The Intercollegian" No. 9 Juni 1910 Vol. XXXII S. 236 ss.
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Aber noch einen Versuch Motts, sein Kommen zu beschleunigen, müssen wir schildern. Aus den Studentengruppen sollen doch auch die neuen Missionskräfte für die Zentralorganisation hervorgehen, die nun die praktische Missionsarbeit leisten. Wie werden die praktischen Arbeiter für die Mission gewonnen? Auch das ist gut, zu gut organisiert: zu diesem Zweck finden jährlich in den Y. M. C. A. Lagern im Freien achtbis zehntägige Versammlungen statt, zu denen die Studentengruppen der einzelnen Colleges und Staaten Delegierte schicken. Das sind immer Leute, die sich durch Missionsinteresse hervorgetan haben und bei denen Hoffnung ist, sie für irgend ein Missionswerk in der Heimat oder im Ausland dauernd zu gewinnen. Auf diesen großen Versammlungen wird nun durch ein wohlorganisiertes Lehrerkorps die studentische Jugend in den religiösen Eifer gebracht, der sie dazu führt, wenn möglich als Freiwillige einzutreten und jene Karte zu unterschreiben: „So Gott will, bin ich entschlossen Missionar zu werden." Hat der Student dies getan, so ist das Zentralkomitee in New York orientiert, es behält den Studenten im Auge und sucht auf seine Entwicklung zum Missionar dauernd Einfluß zu haben; von Jahr zu Jahr fragt es an, ob und wann er in die Mission gehen wolle; die verschiedensten Posten werden ihm angeboten und ihm immer wieder ins Gewissen geschoben, daß er einst willig war. Und man verspricht doch gar leicht in der jugendlichen Begeisterung. Ich habe selbst eine solche Studentenversammlung mitgemacht, im Mittelwesten am Lake Geneva, Wisc. Etwa 800 Studenten waren anwesend: eine der kleinen Sommerversammlungen des Y. M. C. A. Student Volunteer Movement. Die Leitung lag in Händen eines enthusiastischen jungen Kaufmanns; Mott, Speer, der Vorsitzende des presbyterianischen Komitees der Äußeren Mission, und andere waren da, auch Pfarrer, Männer aus der kirchlichen Missionsarbeit. Und nun wurde die systematische Bearbeitung der Studentenseele in einer Weise vorgenommen, daß ich erschrocken war. So gut darf doch eine Organisationsmaschine nicht arbeiten, wenn es sich um Religion handelt. Durch Reden, Singen, Beten, erbauliche Ansprachen, an denen die Studenten teilnehmen mußten, wurde eine religiöse Atmo-
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Sphäre geschaffen, die alle Nüchternheit und Selbstbesinnung vermissen ließ, während doch Lebensentschlüsse gefaßt werden sollten. Und die geräuschvolle Erholung in Spiel und Sport am Nachmittag ist doch nicht das richtige Gegengewicht gegen solche Gemütserregungen. Ich habe Mott meine Bedenken gegen diese Methode gesagt; er gab mir einen interessanten Aufschluß über amerikanische Studentenpsychologie: der Student des Mittelwestens sei hitzköpfig und gutwillig, aber nicht energisch genug zum Selbstentschluß. Er müsse die Entscheidung durch Enthusiasmus erleichtert bekommen: das habe solche Versammlung zu erreichen. Ohne solche Arbeit müßten der Mission die Kräfte gebrechen; denn nur durch die Begeisterung für eine große ideale Lebensaufgabe ließen sich die letzten Einwürfe und das Zaudern des Studenten überwinden. Diese Antwort ist typisch für den Weltpolitiker Mott, der seine christlichen Truppen aushebt und führt ohne Rücksicht auf das Individuum. Aber mir bleiben Bedenken, ob dieses Verfahren der Würde des Geistesleben und vor allem der Studenten entspricht. Diese jungen Leute sind achtzehn bis zweiundzwanzig Jahre alt, und wenn der Amerikaner auch später moralisch reif wird als wir Deutsche, immerhin sollte er durch seine Bildung in diesem Alter schon weit genug sein, um solche Übereilung seines eigenen Entschließens zu verwerfen. Allerdings darf man bei der Beurteilung dieser amerikanischen Methode nicht vergessen, wie stark die Widerstände gegen die Missionsarbeit auch in der amerikanischen Jugend sind. Da ist das gewaltige politische und Handelsleben, das jeden Tüchtigen mit dem Versprechen von Ehre und Erfolg anzieht; da sind die Angehörigen, die dem jungen Mann klar zu machen wissen, daß jeder andere Berufszweig doch größere Lebensbefriedigung gebe als der des Missionars. Gerade in den gebildeten Kreisen wird gegen den idealistischen Lebensentschluß eines jungen Mannes der heftigste Widerstand geleistet; gerade für ihn ist die Verlockung des weltlichen Lebens und der reinen Äußerlichkeit in der amerikanischen Erfolgsjagd sehr stark. So ist es begreiflich, daß das Christentum mit kräftigen Mitteln arbeitet, daß heftige Gemütserregungen und ein unwiderstehlicher Appell zuletzt verwendet werden, um die Entscheidung
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für eine religiöse Lebensaufgabe zu erreichen. Wie hart muß es aber oft sein, diese gegen ruhige Überlegung und guten Rat zu verteidigen, wenn man eine wenn auch noch so unverbindliche Erklärung unterschrieben hatl Die Kritik an diesem Verfahren ist auch weder neu noch vereinzelt. Es ist mir wichtig hervorzuheben, daß schon Moody, dessen Verdienste um das Volunteer Movement gewiß unangezweifelt sind, gegen den Enthusiasmus der Führer, die junge Leute zu sehr innerlich drängten, Bedenken trug und ihr Verfahren tadelte. 1 ) Jedenfalls ist es Aufgabe gerade der Führer des Student Volunteer Movement, ihre Studenten zu wirklicher Selbständigkeit des christlichen Urteils zu führen und zu erziehen. Auch im Heere Christi ist der der beste Soldat, der gehorcht, weil er freiwillig von der Notwendigkeit seines Opfers überzeugt ist. Wehe, wenn ihn in der Not des Kampfes die Einsicht überfällt, daß er zu diesem Kriegsdienst nicht berufen ist! Und sind dann die, die solchen Enthusiasmusrausch hervorrufen und sein Resultat schriftlich festhalten, ohne Verantwortung? Ich weiß von einem schweren religiösen Gemütskampfe, den ein Freund mit Mott führen mußte, weil dieser ihn nach Tokio als Universitätslehrer bringen wollte. Und mein Freund ist viel notwendiger in Amerika als Pfarrer. Aber nicht Jeder hat die Kraft, einem Mott gegenüber seine Individualität und sein Lebensideal durchzusetzen. Und ist es nicht ein furchtbarer Ansturm auf das Gemüt, wenn die suggestive Persönlichkeit Motts einen jungen Menschen vor die Aufgabe stellt: Hier ist Gott, hier die Arbeit und hier Du. Diese drei Punkte müssen zusammen! Nun geh und mach' das mit deinem Gewissen ausl Die Arbeiter, die aus der Bildungsschicht ins Missionswerk gehen, müssen auch seelisch ganz freiwillig sein. Ich glaube nicht, daß es deswegen dem amerikanischen Missionswerk an Kräften fehlen würde; die amerikanische Seele ist prädestiniert für diese Arbeit und zu ihr getrieben durch die der Mission überaus günstige weltpolitische Lage Amerikas. Und die Qualität der Arbeit würde sicher besser, wenn auch der Schein vermieden wäre, daß dieser Entschluß für die schwerste Lebensarbeit nicht immer ganz selbständig gefaßt sei. 1) Vgl. W. R. Moody .The Life of D. L. Moody* Chicago 1900 S. 358.
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Ich bin zu Ende I Ich habe Ihnen nicht Ausdehnung und Methode der amerikanischen Studentenmissionsbewegung zeigen wollen, sondern aus welchen Triebkräften der amerikanischen Seele sie hervorgeht, wie sie sich ausgestaltet hat und wie wir sie in ihrer Eigenart und ihrem großartigen Umfang verstehen müssen. Ich habe mich jeden Vergleiches mit deutschen Studentenverhältnissen enthalten: es wäre unrecht gegen uns und unsre schwierige intellektuelle Geisteslage, unseren Kampf um Religion überhaupt. Mott sagte mir in der Lake-Geneva-Konferenz, Deutschland brauche eine studentische Missionsbewegung: das erst werde dem deutschen Geist seine größte Kraft geben. Bezeichnend, daß er das, was dlie deutsche Universität an ihrem akademischen Missionsverein hat, für eine „Bewegung" nicht hält. Während ich den Versammlungen der Konferenz beiwohnte, konnte ich nur die Unmöglichkeit behaupten, jemals Religion in dieser Weise in Deutschland zu organisieren: und das ist ein Glück! Nehme ich das Wort aber so wie es gemeint ist, daß die Zukunft des Protestantismus und Deutschlands Größe davon abhängt, mit welcher Gewalt die deutsche gebildete Jugend die großen Aufgaben deutsch-christlicher Kulturverbreitung in Angriff nimmt und mit Wagemut und Aufopferungsfreude sich in den Kampf mit der fremden Geisteswelt stürzt, um sie zu erobern und sich selbst stark, selbstgewiß und zukunftsfreudig zu machen, dann hat Mott dreimal recht. Zu diesem Ziel tue jeder unter uns das Seine.
Buchdruckerei Bauer, Marburg
Verlag von Alfred Töpelmatra (vormals J. Ricker) In Gleiten
Adolf Harnack =
REDEN UND AUFSAETZE = = Zwei starke Bände von 750 Seiten Umfang Zweite vermehrte Auflage erschienen 1906 Geheftet 10 Mk. — In Leinwand gebunden 12 Mk.
AUS WISSENSCHAFT UND LEBEN Zwei starke Bände von 750 Seiten Umfang Erschienen 1911 — Geh. 10 Mk. — In Leinwand geh. 12 Mk.
Beide Werke zeigen in hervorragender Weise die Universalität Harnacks. Was Harnack als Gelehrter für die Theologie aller Länder, was er für die Wissenschaft überhaupt bedeutet, braucht nicht mehr gesagt zu werden. Aber er hat $Uh nie für zu vornehm gehaltenr auch zu dem großen Kreis der Gebildeten zu reden, wenn die Stunde es erforderte, und er hat nie geglaubt, daß sein Werk getan wäre, wenn er in dicken Büchern und gewichtigen Abhandlungen den Ertrag seiner Studien den Fachgenossen vorlege. Er hat oft audi für die Tagespresse zur Feder gegriffen und ihr mit seinem klugen Urteil gedient. Es ist ein Verdienst, in das sich Verfasser und Verleger teilen, wenn in diesen Bänden ein großer Teil gerade dieser Aufsätze, die sonst kaum ein langes Leben gehabt hätten, vor dem Vergessenwerden bewahrt werden. (Aus einer ganz ausführlichen Besprechung).
Verlag von Alfred Töpelironn (vormals J. Ricker) ip Gießen
Francis G. Peabody Professor an der Harvard-.Universität In Cambridge
in autorisierten Übersetzungen von E^ Möllenhoff und C. Bruns:
Jesus Christus und die soziale Frage Geheftet 5 Mark
1903
Gebunden 6 Mark.
.Wir besitzen aber noch keine Arbeit* welche den überragenden Gegenstand in seiner ganzen Universalität so überlegen monumental und doch so lein behandelt wie dieser freisinnige Protestant' Das Hochland.
Die Religion eines Gebildeten Geheftet Mark L50
1905
Gebunden Mark 2.20
.Das Buch ist ein machtvoller Appell an das Gewissen unserer Gebildeten Möge das inhaltsschwere Buch von Vielen Gebildeten und mit Erfolg gelesen werden 1"
1905
Der Charakter Jesu Christi 60 pfg.
.Das Büchlein Wird vieles Suchenden ein Wegweiser sein aus dem Zwiespalt und der Schwachheit der Natur zur Einheit und Festigkeit des Charakters^
1905
Akademische Gegenseitigkeit 60 pfg.
.Antrittsvorlesung am 30, Okt. 1905 in der Aula der Kgl. Friedrich WilhelmsUniversität zu Berlin in Gegenwart Sr. Maj. des Kaisers gehalten."
Jesus Christus und der christliche Charakter Geheftet Mark 4.—
1906
Gebunden Mark 5.—
Vorlesungen aus AnlaS des deutsch*ametikaniscben Gelelutenaustausches in englischer Sprache gehalten an der Universität Berlin im Wintersemesters 1905/6.
Abendstunden.
Groß-Oktav
Religiöse Betrachtungen 1902 Kartoniert Mark 2.50
.Glücklich die Studenten, denen der Professor zugleich ein Seelsorger ist wie Peabody den seinigen. Möchten sich auch in Deutschland viele zu seinen Füflen setzen — und nicht nur Studenten.* Theologischer Literaturbericht.
Morgenstunden. Geheftet Mark 2.40
Religiöse Betrachtungen 1909 Gebunden Mark 3,25
.72 feinsinnige Betrachtungen mitten aus dem Leben und.so recht fürs Leben in schlichtem Gewand, so daß jedermann sich dran freuen kann." Christi. Freiheit.
Sonntagsgedanken. Geheftet Mark 2.80
Predigten für Gebildete 1913 Gebunden Mk. 3.50
.Wie unbefangen und frei dieser Mann den reichen Gelegenheiten des modernen Lebens gegenübersteht und wie er alles aufbietet, um die Religion als Weihe des täglichen Arbeits- und Forschungslebens der Gegenwart zu erhalten, das lehrt jeder Blick in diese Predigten. Möchten sie unter unseren Studenten und Gebildeten einen festen Kreis von verständnisvollen Hörern finden 1* Prof. Baumgarten, Kiel.