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German Pages 996 Year 2021
WoLF-DIETER HAuscHILD
Lehrbuch der Kirchenund Dogmengeschtchte BAND 2
Reformation und Neuzeit Fünfte Auflage
5. Auflage, 2021 Copyright ~ 1999 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, V ervielfii.ltigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachriebt durch den Rechteinhaber. ISBN 978-3-641-31052-3 www.gtvh.de
VORWORT Der erste Band hat bei den Studierenden und in den Rezensionen eine erfreuliche Resonanz gefunden. Später als beabsichtigt erscheint nun endlich dieser zweite Band, der im Umfang die ursprüngliche Planung erheblich überschritten hat. Dies liegt am Versuch, die differenzierte Kompaktheit des Stoffes möglichst so zu präsentieren, daß die großen Linien auf dem Hintergrund der vielfältigen Teilaspekte verständlich werden. Denn auch unter didaktischem Aspekt bietet der hier behandelte Zeitraum viele wichtige Einzelheiten. Deswegen sind die kleingedruckten Abschnitte vergleichsweise stark angewachsen. Gelegentlich sind Anfragen an die Konzeption des Buches hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte gestellt worden. In der Tat ergibt sich daraus eine Stoffaufteilung, die manchmal Zusammengehöriges zerreißt und an verschiedenen Stellen präsentiert. Das hat sich auch beim zweiten Band nicht vermeiden lassen. Die Orientierung an thematischen Längsschnitten ist hier allerdings stärker zurückgetreten, weil es sich empfiehlt, die grundlegend wichtigen Epochen für sich darzustellen. Die Bindung des Autors an die evangelische Konfession bedingt eine Konzentration auf das Reformationszeitalter sowie auf Grundprobleme des Protestantismus. Dem Titel des Buches gemäß wird neben der Kirchen- nur die Dogmengeschichte behandelt, d.h. die Vorbereitung und Entwicklung des Dogmenbildungsprozesses. Die Theologiegeschichte wird hier nur insofern berücksichtigt, als sie zur Vorgeschichte der solennen Lehrfixierung gehört oder einen unmittelbaren Bezug zu kirchengeschichtlichen Vorgängen aufweist. Daraus erklären sich viele Lücken, die man insbesondere zum 18.-20. Jahrhundert finden wird. Fast alle Rezensionen haben Vergleiche mit "dem Heussi", dem vorzüglichen Kompendium, angestellt. Mein Vorbild war allerdings eher das treffliche, früher viel benutzte Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende des Darpaters Johann Heinrich Kurtz (1849; 14.Aufl., 2 Bde., Leipzig 1906, bearb.v. N. Bonwetsch und P. Tschackert). Ich wollte ein Lernbuch schreiben, doch wo gelernt wird, muß zuvor gelehrt werden; deshalb darf man das Unternehmen vielleicht doch - ohne den Anspruch, den die großen Lehrbücher unseres Faches erheben können - ein Lehrbuch nennen. Es endet mit dem Zweiten Weltkrieg; die Kirchengeschichte nach 1945 werde ich in einem spezifischen Lehrbuch darstellen. Wie beim ersten Band so ist auch bei diesem die Druckvorlage von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminars für Kirchengeschichte I der EvangelischTheologischen Fakultät der Westfalischen Wilhelms-Universität Münster zusammen mit mir erstellt worden. Dafür weiß ich mich zu besonderem Dank verpflichtet: Frau Monika Bisping hat in bewundernswerter Präzision den gesamten Text auf dem Computer geschrieben. Dessen druckreife Gestaltung in optisch ansprechender Form erforderte eine erhebliche Anstrengung und sorgfältige Korrektu-
Vorwort I Benutzungshinweise
VI
ren. Diese Arbeit wurde unermüdlich geleistet von Frau Rebecca Frank, Frau Annette Gutsuz, Frau Vikarin Sabine Lebmann (als bewährter Chefkoordinatorin) und Herrn Frank Wiggermann, die auch die umfangreichen Register ersonnen und angefertigt haben. In der Schlußphase engagierten sich auch Frau Sirnone Klusmeier und die Herren Andreas Kursehat und Karsten Wernecke vielfach. Herr Wiggermann hat die Tabellen im Anhang produziert. Mit großer intellektueller und manueller Sorgfalt hat Frau Gabriele Demmer die meisten geographischen Abbildungen erstellt (aufgrundmeiner Entwürfe), und weitere Abbildungen haben Frau Klusmeier und Herr Kursehat intensiv erarbeitet. Durch fachlichen Rat hat Frau Dr. Anneliese Bieber die Entstehung des Buches gefördert. Der förmliche Dank an alle ist keine Formalie, sondern ein Hinweis darauf, mit welcher Kombination von historischem Interesse und technischem Sachverstand sich junge Menschen an diesem Unternehmen beteiligt haben. Münster, im April 1999
Wolf-Dieter Hauschild
BENUTZUNGSHINWEISE Bei der Lektüre ist stets zu beachten, daß es sich um die Differ~~ierung zwischen einem allgemeinen und einem speziellen Teil handelt: Zusätzlich zu dem Uberblickswissen wird ein Ergänzungswissen geboten, welches zwar die normalen Anforderungen übersteigt, aber hinter einer wissenschaftlich spezialisierten Beschäftigung mit der Kirchen- und Dogmengeschichte zurückbleibt (vielleicht zu dieser anregt). Die Doppelkonzeption wird dadurch äußerlich angezeigt, daß in allen zehn Paragraphen das in Kapitel gegliederte Grundwissen in einer größeren Drucktype erscheint. Wer nur dieses lernen will, sollte alle kleingedruckten Abschnitte weglassen, die für gelegentliches Nachschlagen nützlich sein wollen. Ein solches Verfahren ist durchaus möglich, weil der großgedruckte Text als in sich abgeschlossene Darstellung angelegt ist; er macht insgesamt nur ein Drittel des Buchumfangs aus. Die vor jedem Paragraphen eingefügten Problemskizzen und Übersichtstabellen sollen eine Einführung bieten und bei der Wiederholung helfen. Kursivschrift im Text der Darstellung bedeutet, daß es sich um Zitate (Begriffe, Sätze, WerktiteQ. handelt. Vor allem im speziellen Teil wird auf wichtige Textausgaben sowie auf deutsche Ubersetzungen hingewiesen. Das soll eine Aufforderung zur Befassung mit möglichst vielen Quellen sein, weil diese die unverzichtbare Grundlage historischen Ar~eitens bilden. Gute Dienste leisten die verschiedenen Auswahlausgaben in deutscher Ubersetzung. Die Abbildungen (geographischen Skizzen) sind als Orientierungshilfen auf die Inhalte der jeweiligen Paragraphen bezogen. Sie sollen die historischen Atlanten nicht ersetzen, auf deren Nutzung ausdrücklich verwiesen sei.
VORWORT ZUR
2. AUFLAGE
Die erfreulich große Nachfrage macht relativ schnell eine Neuauflage erforderlich. Bei dieser beschränke ich mich aus drucktechnischen Gründen auf die Korrektur einiger Versehen sowie auf wenige Literaturergänzungen. Für die Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage danke ich Frau Sirnone Klusmeier. Münster, im Januar 2001
Wolf-Dieter Hauschild
INHALT
Vorwort/Benutzungshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V § 11 Anfänge der Reformation in Deutschland
. . . . . . . . . . .
1. Grundprobleme der Reformationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 5
1.1 Das Wesen der Reformation - 1.2 Reformation als historische Epoche - 1.3 Kirchengeschichte und Sozialgeschichte - 1.4 Vielfalt und Einheit der Reformation
2. Außenpolitische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
2.1 Die europäische Rolle der Habsburgerdynastie - 2.2 Das Papsttum als Renaissancefürstentum
3. Reichspolitische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
3.1 Verfassungsrechtliche Schwäche des Reiches- 3.2 Verselbständigung der Einzelterritorien
4. Soziale und ökonomische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
4.1 Die ständische Gesellschaftsstruktur - 4. 2 Bürgertum und Bauerntum
5. Religiöse und kirchliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
5.1 Ambivalenz der vorreformatorischen Frömmigkeit - 5.2 Vorreformatorische Kirchenkritik und Antiklerikalismus
6. Geistige Vorbereitung: Der Humanismus
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
6.1 Neuorientierung von Bildung und Geistesleben - 6.2 PraktiJches Christentum und Kirchenkritik- 6.3 Bibelhumanismus bei Erasmus: "Philosophie Christi" und Kirchenreform
7. Martin Luther als Initiator der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
7.1 Luthers fundamentale Bedeutung für die Reformation - 7. 2 Programmatischer Kampf gegen die Scholastik - 7.3 Die 95 Ablaßthesen und ihre Wirkung
8. Luthers Ketzerprozeß und die Reichspolitik 1518-21
. . . . . . . . .. . . .
38
8.1 Der römische Prozeß und die politische Situation - 8.2 Vom Schriftsteller zum Reformator: Publizistische Breitenwirkung - 8.3 Reformationsverbot: Das Wormser Edikt 1521
9. Evangelische Bewegung und Reformationsbeginn 1521-25 . . . . . . . . . . 49 9.1 Reichspolitik und Reformkonzil - 9.2 Probleme der Neuordnung: Die Wittenberger Unruhen 1521/22 - 9.3 Die Ritterschaft zwischen evangelischer Bewegung und Reformation - 9.4 Von der evangelischen Bewegung zur Kirchenreformation
10. Lutherische Reformation und Humanismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 10.1 Humanistische Reformatoren- 10.2 Vorreiterrolle: Die Städtereformation in Süddeutschland - 10.3 Gegensatz zwischen Luther und Erasmus
11. Zwinglis Reformation in Zürich 1522-25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 11.1 Die Anfange: Evangelische Freiheit - 11.2 Neugestaltung von Gottesdienst und kirchlichem Leben - 11.3 Zwinglianischer Einfluß in Deutschland
12. Außenseitertum: Die "radikale Reformation" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 12.1 "Gemeindereformation" und "Bauernkrieg" - 12.2 Einheit und Vielfalt der "radikalen Reformation"
13. Apokalyptisch-revolutionäre Reformation: Thomas Müntzer . . . . 13.1 Mystik und Gerichtsprophetie - 13.2 Theokratische Gewaltanwendung
76
Inhalt
VIII
14. Spiritualistische Separation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
14.1 Nonkonformistische Gemeindeerneuerung - 14.2 Individualistisches Geistchristentum
15. Gemeindebildung der Heiligen: Das Täuferturn . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
15.1 Merkmale der Täuferbewegung - 15.2 Entstehung von Täufergemeinden in und um Zürich - 15.3 Spiritualistisch-apokalyptische Täufergruppen
16. Reformation und Revolution: Der "Bauernkrieg"
. . . . . . . . . . . . . . .
92
16.1 Bauernaufstände und Sieg der Fürsten - 16.2 Religiöse Elemente der Aufstandsbewegung
§ 12 Politische Reformation und konfessionelle Spaltung
Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reichseinheit und Religionsstreit
99
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
1.1 Nationale, universale oder partikulare Lösung? - 1.2 Begünstigung der Reformation durch die außenpolitische Situation - 1.3 Konfessionelle Spaltung der Reformation
2. Territorialer Reformationsbeginn seit 1526 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.1 Der Speyerer Reichstag 1526 und seine Folgen - 2.2 Visitationen und Neuordnung in Kursachsen - 2.3 Landesfürstliche Reformation in Hessen - 2.4 Strukturwandel in Franken und Niedersachsen
3. Konflikt um die Unterdrückung der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.1 "Protestanten" als ReligionspaneL Der zweite Speyerer Reichstag 1529 - 3.2 Scheitern von gesamtevangelischem Bündnis und Bekenntnis
4. Gescheiterter Verständigungsversuch: Der Augsburger Reichstag 1530 .. 116 4.1 Theologische Verteidigung der Reformation: Die Confessio Augustana - 4.2 Verfestigung des religiösen Gegensatzes
5. Etablierung des Protestantismus seit 1531132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1 Der Schrnalkaldische Bund als neuer Machtfaktor - 5.2 Begrenzte Duldung: Der Nürnberger Anstand 1532 - 5.3 Ablehnung des Konzils 1536/37
6. Ausbreitung der Reformation 1530-45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.1 Fürstenreformation und Städtereformation - 6.2 Protestantische Machtpolitik: Umschwung in Wüntemberg - 6.3 Verständigung in der Abendmahlslehre - 6.4 Konservative Reformation als Mittelweg - 6.5 Kritische Wende: Geistliche Fürstentümer
7. Nonkonformistische Minorität: Das Täuferturn . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 7.1 Die Deutung der Reformation als Endzeitereignis - 7.2 Chiliastisches Täuferturn und die Melchioriten - 7.3 Apokalyptische Revolution: Das Täuferreich von Münster 1534/35 - 7.4 Fonwirken des Täuferturns
8. Vergebliche Verständigungsversuche 1539-41
. . . . . . . . . . . . . . . . . 143
8.1 Verlängerung des "Friedstandes" 1539 - 8.2 Das Scheitern des Reichsreligionsgespräches
9. Religionskrieg und Konfessionsdiktat 1546-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 9.1 Politische Vorbereitung - 9.2 Der Schrnalkaldische Krieg 1546/47 - 9.3 Rekatholisierung: Das Augsburger Interim 1548 - 9.4 Kursächsischer Sonderweg und innerevangelischer Streit
10. Behauptung der Protestanten und Scheitern Kar1s V.
. . . . . . . . . . .
153
10.1 Widerstand gegen die Kaisermacht - 10.2 Der Augsburger Reichstag 1555
11. Reichsrechtliche Basis des konfessionellen Zeitalters: Der Augsburger Religionsfriede 1555 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Legitimierung der religiösen Spaltung des Reiches - 11.2 Grundlegung des späteren "Staatskirchentums" - 11.3 Sicherung der katholischen Reichskirche
157
Inhalt
IX
12. Konfessionalisierung von Kirche, Staat, Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 161 12.1 Strukturelle Konsolidierung des Luthertums - 12.2 Entstehung reformierter Territorien im Reich - 12.3 Rekatholisierung und Gegenreformation
13. Konfessionskonflikte im Reich bis 1618 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
13.1 Säkularisation von Kirchengütern- 13.2 Polarisierung der "Religionsparteien"
14. Der Dreißigjährige Krieg 1618-48
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
14.1 Habsburgs Sieg über Böhmen und die Pfalz 1618-23- 14.2 Kaisermacht in Norddeutschland 1623-29 - 14.3 Deutschland als europäischer Kriegsschauplatz seit 1630
§ 13 Reformation und Konfessionskonflikte in Europa . . . . .
181
1. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
1.1 Die politische Mächtekonstellation - 1.2 Staatliche Modernisierung und Kirchenregiment - 1.3 Monarchie und Ständestaat - 1.4 Renaissance und Humanismus 1.5 Unterschiedliche Reformationstypen
2. Reformierte Konfessionalisierung in der Schweiz
. . . .. . . . . . .
190
2.1 Zwingli und die Züricher Reformation bis 1530 - 2.2 Die Reformation in Bern und ihre Folgen - 2.3 Die konfessionelle Spaltung der Schweiz - 2.4 Heinrich Bullinger: Vater der refomierten Kirche - 2.5 Protestantismus in der Westschweiz
3. Calvins Wirksamkeit in Genf: Eine neue Epoche der Reformation . . . . . 197 3.1 Anfänge der Reformation in Genfbis 1538 - 3.2 Neuordnung unter Calvins Einfluß 1541142 - 3.3 Kämpfe um Kirchenzucht und kirchliche Integrität - 3.4 Einfluß in Europa
4. Der Calvinismus in Frankreich als geduldete Minorität . . . . . . . . . . . . 206 4.1 Unterdrückung und Ausbreitung des Protestantismus bis 1559 - 4.2 Behauptung der Hugenotten im Bürgerkrieg 1562-98 - 4.3 Das Toleranzedikt von Nantes 1598 und seine allmähliche Auflösung
5. Die Niederlande: Freiheitskampf und Religionskonflikt . . . . . . . . . . . . 214 5.1 Die evangelische Bewegung als verfolgte Minorität - 5.2 Politische und konfessionelle Elemente des Bürgerkriegs - 5.3 Calvinismus zwischen "Freikirche" und "Staatskirche"
6. Nationalkirchliche Reformation in England: Der "Anglikanismus" . . . . . 220 6.1 Reformation als legislatorische Revolution- 6.2 Religionspolitische Wirren 1547-58 - 6.3 Die Etablierung des "Anglikanismus" unter Elisabeth I.
7. Fortdauer der Religionskonflikte in "Großbritannien" . . . . . . . . . . . . . 227 7.1 Evangelische Kirchenerneuerung: Der frühe Puritanismus- 7.2 Calvinismus/ Presbyterianismus in Schottland -7.3 Die konfessionelle Verschärfung der Spaltung Irlands
8. Das Jahrhundert der Revolution in "Großbritannien" . . . . . . . . . . . . . 233 8.1 Kampf gegen Absolutismus und Bischofskirche - 8.2 Bürgerkrieg und Puritanerherrschaft - 8. 3 Restauration der Staatskirche und konfessionelle Pluralität
9. Evangelisch-lutherische Nationalkirchen in Nordeuropa . . . . . . . . . . . . 241 9.1 Dänisches Reich: Lutherische Reformation und königliche Staatskirche- 9.2 Politische Reformation und lutherische Bischofskirche in Schweden - 9.3 Konservative Reformation in Finnland
10. Luthertum in Preußen und im Baltikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10.1 Lutherische Landeskirche im Herzogtum Preußen - 10.2 Evangelische Städte im polnischen Preußen - 10.3 Gemeindebildung im Baltikum
11. Evangelische Minderheiten in Polen-Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 11.1 Ausbreitung und Differenzierung des Protestantismus - 11.2 Die Polnischen Brüder (Sozinianer) - 11.3 Katholische Erneuerung und Gegenreformation - 11.4 Orthodoxe Kirche und Union
Inhalt
X
12. Östliche Randgebiete des deutschen Reiches
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
12.1 Ständeherrschaft und Konfessionsvielfalt im Königreich Böhmen - 12.2 Erfolge der Reformation und Gegenreformation in Schlesien
13. Protestantismus und Katholizismus in Ungarn
. . . . . . . . . . . . . . . . . 264
13.1 Evangelische Gemeinden im westlichen Ungarn- 13.2 Pluriforme Reformation in Siebenbürgen - 13.3 Rekatholisierung und Fortbestand des Protestantismus
§ 14 Die Theologie der Reformatoren
. . . . . . . . . . . . . . . . 271
1. Wesensmerkmale reformatorischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
1.1 Personalismus und Christozentrismus - 1.2 Schriftauslegung und Lehre - 1.3 Zur Methodik der Darstellung
2. Luthers theologische Entwicklung zum Reformator . . . . . . . . . . . . . . 278 2.1 Mönch und Theologe 1505-12 - 2.2 Bibelauslegung: Ansätze einerneuen Theologie 1513-18
3. Luthers Christologie und Rechtfertigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3.1 Der Mensch vor Gott als Sünder- 3.2 Christi Person und Werk - 3.3 Rechtfertigung wegen Christus allein im Glauben
4. Luthers Lehre von Gott und Gottes Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.1 Der im Wort geoffenbarte Gott- 4.2 Der allwirksame Schöpfer- 4.3 Gottes Wort als Gesetz und Evangelium - 4.4 Die Heilige Schrift als Gottes Wort
5. Luthers Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 5.1 Wort und Gemeinschaft: Kirche als creatura evangelii - 5.2 Das Volk Gottes als Gemeinschaft der Heiligen - 5.3 Verborgenheit und Sichtbarkeit der Kirche
6. Luthers Sakramentenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 6.1 Wesen und Wirkung der Sakramente - 6.2 Leben aus Gottes Vergebung: Die Taufe - 6.3 Frühe Abendmahlslehre: Gemeinschaft und Verheißung - 6.4 Anti-Spiritualismus: Christi Realpräsenz im Abendmahl
7. Luthers Lehre vom Leben in der Welt (Ethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 7.1 Die Unterscheidung der beiden Regimente/Reiche- 7.2 Leben in den "Ständen" als Gottes Ordnungen
8. Melanchthons Systematisierung lutherischer Theologie . . . . . . . . . . . . 316 8.1 Verbindung von reformatorischer Theologie und Humanismus - 8.2 Anthropologie und Pneumatologie - 8.3 Rechtfertigung als forensischer Akt und Heiligung als Geistwirkung - 8.4 Ekklesiologie und Sakramentenlehre
9. Zwinglis theologische Entwicklung zum Reformator
. . . . . . . . . . . .
325
9.1 Bibelhumanismus und evangelische Heilslehre - 9.2 Reformatorische Theologie
10. Zwinglis Gottes- und Heilslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
10.1 Gottes Freiheit als Schöpfer, Offenbarer und Geist - 10.2 Unfreiheit und Sündhaftigkeit des Menschen - 10.3 Gottes Offenbarung: Wort und Geist - 10.4 Gottes Heilshandeln in Christus - 10.5 Die Heilszueignung im Glauben und Geist
11. Zwinglis Lehre von der Heiligung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
11.1 Erneuerung des Lebens in der Kraft des Geistes - 11.2 Kirche als heilige Schar der Erwählten - 11.3 Sakramente als Bekenntniszeichen - 11.4 Kirche und "Staat", göttliche und menschliche Gerechtigkeit
12. Calvins theologische Entwicklung zum Reformator . . . . . . . . . . . . . . 341 12.1 Humanismus, Bekehrung, Emigration 1531-35 - 12.2 Der evangelische Systematiker seit 1536 - 12.3 Der reformatorische Lehrer 1538-41
13. Gott und Mensch in der Theologie Calvins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 13.1 Erkenntnis Gottes als Grund und Ziel der Theologie - 13.2 Die Sündhaftigkeit des Menschen - 13.3 Der Mittler Jesus Christus
Inhalt
XI
14. Calvins Lehre von Rechtfertigung und Heiligung . . . . . . . . . . . . . . . 353 14.1 Gemeinschaft mit Christus im Glauben- 14.2 Wiedergeburt und neues Leben im Heiligen Geist - 14.3 Die Prädestinationslehre: Heilsgewißheit und Erwählung 14.4 Ethik: Verherrlichung Gottes durch Gehorsam
15. Calvins Ekklesiologie und Sakramentenlehre . . . . . . . . . . . . . . .
359
15.1 Unsichtbare und sichtbare Kirche als Leib Christi - 15.2 Sakramente: Gemeinschaft mit Christus - 15.3 Abendmahl: Gemeinschaft mit dem im Geist gegenwärtigen Christus - 15.4 Die Königsherrschaft Jesu Christi
§ 15 Bekenntnisschriften, Orthodoxie und Aufklärung . . . . . 367 1. Bekenntnis, Dogma und Lehre in der Reformation
............ .
371
1.1 Evangelisches Bekenntnisverständnis - 1.2 Wertung der altkirchlichen Dogmen 1.3 Bibel und evangelische Bekenntnisschriften - 1.4 Abgrenzung gegen Irrlehren 1.5 Lehrverpflichtung als formales "Dogma"
2. Die Anfänge reformatorischer Bekenntnisbildung
............. .
375
2.1 Kirchliche Neuordnung und Bekenntnis- 2.2 Theologische Verständigungsversuche 1529 - 2.3 Grundlegendes lutherisches Bekenntnis: Die Confessio Augustana - 2.4 Die Apologie der Confessio Augustana - 2.5 Zwinglianisch-reformierte Bekenntnisse 2.6 Antirömische Abgrenzung 1536/37
3. Lutherische Lehre nach der Confessio Augustana . . . . . . . . . . . . . . . 382 3.1 Heilige Schrift und altkirchliche Dogmen - 3.2 Die gnädige Rechtfertigung des sündigen Menschen - 3.3 Das Wesen der Kirche und die kirchliche Ordnung - 3.4 Sakramente als Heilsmittel - 3.5 Geistliches und weltliches Regiment
4. Konfessionelle Spaltung: Lutheraner und Reformierte . . . . . . . . . . . . . 388 4.1 Die Anfange des Ersten Abendmahlsstreits - 4.2 Die Kontroverse zwischen Luther und Zwingli 1526-29 - 4.3 Die sog. Wittenberger "Konkordie" 1536 - 4.4 Bekräftigung der Konfessionstrennung im Zweiten Abendmahlsstreit
5. Die Katechismen als Popularisierung kirchlicher Lehre . . . . . . . . . . . . 397 5.1 Leitfaden des Luthertums: Luthers Katechismus - 5.2 Calvins Katechismus als Laiendogmatik - 5.3 Der Heidelberger Katechismus
6. "Inkubationszeit": Neuzeitliche Subjektivität und Dogmenkritik
. . . . . . 401
6.1 Dogmenrelativierung durch Geistmetaphysik und Naturphilosophie - 6.2 "Häretischer" Humanismus und Antitrinitarismus - 6.3 Humanistische Ethik und undogmatisches Christentum
7. Lutherische Konfessionsbildung nach 1548 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 7.1 Dogmatische Fixierung evangelischer Konfessionalität - 7.2 Das Autoritätenproblern: Luther und Melanchthon - 7.3 Reformation und Orthodoxie- 7.4 Grundlegende Bedeutung des Interimistischen (Adiaphoristischen) Streites
8. Theologie und Dogma: Konflikte um die Rechtfertigungslehre . . . . . . . 413 8.1 Versöhnungswerk Christi und Rechtfertigung als Sündenvergebung: Kampf gegen den "Osiandrismus" - 8.2 Rechtfertigung und Heiligung: Der Majoristische Streit um die Heilsbedeutung der guten Werke - 8.3 Die Bedeutung des Gesetzes: Der sog. Antinomistische Streit - 8.4 Erbsünde und Willensfreiheit: Der Synergistische Streit
9. Das lutherische Konkordienwerk 1577/80 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 9.1 Lehrdifferenzen und Corpus Doctrinae - 9.2 Konkordienformel 1577 und Konkordienbuch 1580 - 9.3 Konkordienwerk und Frühorthodoxie - 9.4 Abgrenzung gegen das Reformiertenturn
10. Reformierte Bekenntnisschriften.
429
10.1 Calvin und die westeuropäischen Bekenntnisse - 10.2 Deutschland und Schweiz
11. Das Zeitalter der Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 11.1 Offenbarung und Vernunft, Theologie und Philosophie - 11.2 Das Dogma von der Verbalinspiration der Bibel - 11.3 Grundproblem: Zusammenhang von Lehre und Leben
XII
Inhalt
12. Orthodoxe Lehrfixierung im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 12.1 Merkmale und Hauptvertreter - 12.2 Christologie und Satisfaktionsdogma 12.3 Rechtfertigung und Heilsaneignung - 12.4 Konflikt um die Fundamentalartikel
13. Die reformierte Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
446
13.1 Merkmale und Hauptvertreter - 13.2 Die Dogmatisierung der absoluten Prädestination - 13.3 Die Föderaltheologie
14. Die Neuzeit als geistiger Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 14.1 Neuzeitliche Subjektivität und Emanzipation - 14.2 Naturwissenschaft und Natürliche Theologie - 14.~ Erkenntnistheorie: Rationalismus und Empirismus - 14.4 Vernünftige Religion als Uberwindung des Dogmatismus
15. Das Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 15.1 Synthese von Vernunft und Offenbarung bei frommen Frühaufklärern - 15.2 Dogmen- und Bibelkritik im Deismus - 15.3 Radikale Christentumskritik im französischen Rationalismus
16. Aufklärungstheologie in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 16.1 Übergang von der Orthodoxie zur Aufklärung - 16.2 Neologie: Kritischer Umbau der Glaubenslehren - 16.3 Neufundierung der Theologie durch Semler - 16.4 Vernunft und Moral statt Dogma: Lessing und Kant
§ 16 Römischer Katholizismus als Konfessionskirche
. . . . . . 475
1. Das Papsttum als Herrschaftszentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
1.1 Definitiver Sieg des Papalismus - 1.2 Kirchenstaat und Machtpolitik - 1.3 Rom als Kirchenhauptstadt und Kulturmetropole
2. Erneuerungsbewegungen und Reformkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 2.1 Humanismus, Evangelismus, Reformkatholizismus - 2.2 Neue Religiosität im Ordensleben - 2.3 Ignatius von Loyola und der Jesuitenorden
3. Konzil von Trient 1545-63: Ketzerabwehr und Kirchenerneuerung . . . . . 493 3.1 Erste Tagungsperiode 1545-47: Abbruch nach erfolgreichem Beginn- 3.2 Die zweite Tagungsperiode 1551/52 als Episode - 3.3 Mühevoller Abschluß: Dritte Tagungsperiode 1562-63
4. Die tridentinischen Dekrete als dogmatische Basis . . . . . . . . . . . . . . . 498 4.1 Miteinander von Schrift und Tradition - 4.2 Sünde, Gnade und Rechtfertigung 4.3 Gnadenmitteilung durch die Sakramente - 4.4 Das geistliche Amt
5. Intensivierung des kirchlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 5.1 Katholische Erneuerung und Gegenreformation - 5.2 Umsetzung der tridentinischen Reformen: Römische Uniformität - 5.3 Neuprägung der Volksfrömmigkeit
6. Theologische Konflikte und konfessionelle Identität . . . . . . . . . . . . . . 512 6.1 Erneuerung der Scholastik - 6.2 Der Gnadenstreit der Thomisten und Molinisten 6.3 Kontroversen um die Morallehre - 6.4 Grundsätzliche Bedeutung des Jansenismus - 6.5 Die erste Phase des Jansenistenstreits (bis 1669) - 6.6 Unterdrückung und Behauptung des Jansenismus
7. Mystik, Spiritualität und religiöse Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . 520 7.1 Spanische Mystik: Teresa, Johannes und die Karmeliter - 7.2 Gottes- und Nächstenliebe bei den Oratorianern - 7.3 Geistliches Leben und karitativer Dienst in Frankreich - 7.4 Kirchliche Verurteilung des Quietismus - 7.5 Wirkungsmächtiger Außenseiter: Blaise Pascal
8. Ausbreitung außerhalb Europas -der Weg zur Weltkirche . . . . . . . . . . 527 8.1 Lateinamerika: Mission und Kirchenorganisation im Schatten der spanischen Kolonisation - 8.2 Pioniermission und kulturelle Akkommodation in Ostasien - 8.3 Versuche päpstlicher Lenkung der Mission
Inhalt
XIII
9. Papsttum und europäische Staaten im 17./18. Jahrhundert . . . . . . . . . . 532 9.1 Innerkirchliche Herrschaftszentralisierung - 9.2 Die Päpste und die Politik im 17. Jahrhundert - 9.3 Der Gallikanismus: Staatliche Kirchenhoheit - 9.4 Säkularistisches Staatskirchenturn im 18. Jahrhundert
10. Konfessionell-kirchliche Regeneration nach 1815
. . . . . . . . . . . . . . . 538
10.1 Die Napoleonische Ära als Wende - 10.2 Politische Restauration und Neuaufstieg des Papsttums - 10.3 Erneuerung des kirchlichen Lebens
11. Konfessionelle Abgrenzung als katholisches Profil nach 1848 . . . . . . . . 543 11.1 Das Erstarken des Ultramontanismus - 11.2 Der Kampf um den Kirchenstaat als politisches Kontinuum - 11. 3 Frömmigkeit und Theologie
12. Marialogisches Dogma und kirchliche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 12.1 Zur Entwicklung der Mariologie - 12.2 Volkstümliche Marienverehrung 12.3 Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis 1854 - 12.4 Dogmatisierung der Himmelfahrt Marias 1950
13. Erstes Vatikanisches Konzil 1869-70: Papstdogma . . . . . . . . . . . . . . . 554 13 .1 Zur Entwicklung der Infallibilitätslehre - 13.2 Vorgeschichte des Konzils: Kampf gegen die Modeme - 13.3 Verlauf und Ergebnis des Konzils - 13.4 Die historische Bedeutung des Vaticanum I
§ 17 Kirche und Religion im neuzeitlichen Staat . . . . . . . . . . 561 1. Evangelische Kirche als Teil des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
565
1.1 Ausbau der Staatlichkeit: Zeitalter des Absolutismus - 1.2 Die Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments - 1.3 Historische Bedeutung des landesherrlichen Kirchenregiments - 1.4 Theologischer Widerspruch gegen den staatlichen Absolutismus
2. Frühneuzeitliche Staatslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 2.1 Der Staat als Gottes Ordnung - 2.2 Der verantwortliche Staat als menschliche Rechtsordnung - 2.3 Autonomer Machtstaat und monarchischer Absolutismus
3. Der Westfälische Frieden (1648): Grundordnung des Reiches . . . . . . . . 582 3.1 Einfluß der europäischen Mächte - 3.2 Konservierung des dualistischen Reichsverbandes - 3.3 Geregeltes Nebeneinander der Konfessionen
4. Religion und Gesellschaft im Umbruch
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
4.1 Das 17. Jahrhundert als Krisenzeitalter - 4.2 Fürstlicher Absolutismus und Wiederaufbau nach dem Krieg
5. Kampf gegen den Teufel: Die Hexenverfolgungen . . . . . . . . . . . . . . . 592 5.1 Theologische Voraussetzung: Hexenlehre und Teufelsglaube- 5.2 Die Hexenprozesse im 17. Jahrhundert- 5.3 Kampfgegen Hexenverfolgung: Humanität und Vernunft
6. Gesellschaftliche Randposition der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 6.1 Soziale und politische Ausgrenzung im 16. Jahrhundert - 6.2 Neuansätze in der Zeit des Absolutismus
7. Bemühungen um Annäherung der Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . 602 7.1 Irenik gegen konfessionelle Polemik - 7.2 Die Religionsgespräche und der "Synkretistische Streit" - 7.3 Wiedervereinigung mit der katholischen Kirche? - 7.4 Die Beziehungen zu Rußland
8. Frühaufklärung und Entkonfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 8.1 Staatliche Zentralisierung und Toleranzpolitik- 8.2 Verwaltungsstaat und dienstbare Kirche - 8.3 Säkularistische Begründung der staatlichen Kirchenhoheit
9. Abwehr des Absolutismus: Menschenrechte und Rechtsstaat . . . . . . . . . 615 9.1 Staatsvertrag und Gewaltenteilung - 9.2 Toleranz, Menschenrechte, Trennung von Staat und Kirche - 9.3 Rechtsstaat, vernünftige Autonomie, Menschenwürde 9.4 Demokratie und Grundrechte
XIV
Inhalt
10. Rationalistisches Staatskirchenturn in Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 10.1 Toleranz und Aufklärung: Friedrich der Große - 10.2 Volkspädagogische Instrumentalisierung der Kirche - 10.3 Staatskirchliche Reaktion gegen die Aufklärung
11. Rationalistisches Staatskirchenturn in der Habsburgermonarchie . . . . . . . 628 11.1 Eingriffe in traditionelle Kirchenstrukturen - 11.2 "Josephinismus" und aufgeklärter Reformkatholizismus - 11.3 Toleranz für Nichtkatholiken
12. Trennung von Staat und Kirche in Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . 633 12.1 Eingeschränktes Staatskirchenturn in den Kolonien bis 1776 - 12.2 Demokratie und Menschenrechte
13. Die Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 13 .1 Instabile Neuordnung von Staat und Gesellschaft - 13.2 Säkularistisches Staatskirchenturn und katholische Widerstandskirche- 13.3 Dechristianisierung und Nationalkult als paradigmatische Episode - 13.4 Trennung von Staat und Kirche
14. Ende der Reichskirche und des Alten Reiches 1803-06 . . . . . . . . . . . . 645 14.1 Nationalkirchliche Reformtendenzen im 18. Jahrhundert- 14.2 Die große Säkularisation von 1803 und ihre Folgen
§ 18 Neuzeitliche Subjektivität: Frömmigkeit und Gemeinschaft 649 1. Die Orthodoxie: Lehre und Leben
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
1.1 Religiöse Krisenphänomene um 1600-50 - 1.2 Orthodoxie und Frömmigkeit 1.3 Das "Zeitalter des Barock"
2. Mystik und Spiritualismus als Antipoden der Orthodoxie . . . . . . . . .
658
2.1 Inneres Wort und Geistkirche bei Valentin Weigel - 2.2 Jakob Böhme: Theosophie, Chri.stusmystik, Naturmetaphysik - 2.3 Quietistische Mystik als überkonfessioneller Nonkonformismus - 2.4 George Fox und das Quäkerturn
3. Johann Amdt -Initiator der Frömmigkeitserneuerung . . . . . . . . . . . . 665 3.1 Das "Wahre Christentum" als epochales Erbauungsbuch- 3.2 Konflikt mit Teilen der Orthodoxie - 3.3 Die puritanische Erbauungsliteratur
4. Programme zur Reform von Kirche und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 670 4 .1 J. V. Andreae: Erneuerung der Gesellschaft durch Frömmigkeit - 4. 2 Weltverbesserung durch Pansophie: J.A. Comenius - 4.3 "Reformorthodoxie" und "Volkskirche"
5. Das geistliche Lied als Vehikel der Frömmigkeit
. . . . . . . . . . . . . . . 674
5.1 Dichtung in der Zeit der Orthodoxie - 5.2 Paul Gerhardt: Trost und Heilsgewißheit - 5.3 Kirchenmusik als Verherrlichung Gottes
6. Wesen und Bedeutung des Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 6.1 Frömmigkeitserneuerung und Kirchenreform - 6.2 Vorgeschichte und frühe Entwicklung - 6.3 Gemeinsame Merkmale
7. Der reformierte Pietismus und seine Vorgeschichte in den Niederlanden . 683 7.1 Die "Nadere Reformatie" und Gisbert Voetius - 7.2 Einfluß der Föderaltheologie auf den Pietismus - 7.3 Jean de Labadie und der "Labadismus" - 7.4 Theodor Undereyck und der Pietismus in Deutschland
8. Begründung des lutherischen Pietismus durch Philipp Jakob Spener .... 689 8.1 Kirchenreform durch Sammlung der Frommen- 8.2 Die "Pia Desideria" 1675 als Programmschrift - 8.3 Fördererund Patriarch der pietistischen Bewegung 1686-1705 - 8.4 Theologische Schwerpunkte: Wiedergeburt, Heiligung, Chiliasmus
9. August Hermann Francke und der hallische Pietismus
. . . . . . . . . . . . 695
9.1 Bekehrung, religiöser Aktivismus, Pädagogik - 9.2 Weltverbesserung durch Menschenveränderung - 9.3 Expansion durch Publizistik, internationale Kontakte, Mission
10. Der radikale Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 10.1 Wesensmerkmale- 10.2 Literarische Multiplikatoren- 10.3 Enthusiastisch-apokalyptische Gemeinschaften
Inhalt
XV
11. Zinzendorf und die Brüdergemeine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 11.1 Gemeinschaftsbildung in Herrnhut 1722-36 - 11.2 Von der philadelphischen Gemeinschaft zur Freikirche - 11.3 Christozentrische Theologie
12. Der württembergische Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 12.1 Die Anfange der pietistischen Bewegung - 12.2 Biblizismus: J .A. Bengel und seine Schüler - 12.3 Theosophische Systematik: F.C. Oetinger
13. Methodismus und angloamerikanische Erweckung . . . . . . . . . . . . . . . 715 13.1 Predigt- und Heiligungsbewegung in Großbritannien - 13.2 John Wesley als Theologe und Organisator - 13.3 Erweckungsbewegungen in Nordamerika
14. Deutsche Aufklärungstheologie als Frömmigkeitsbewegung . . . . . . . . . 721 14.1 Physikotheologie: Göttliche Harmonie der Welt - 14 .2 Vollkommenes Leben durch Religion - 14.3 Modernisierung und Pädagogisierung des kirchlichen Lebens
15. Kultur und bürgerliche Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 15.1 Sozietäten als Träger der Aufklärung - 15.2 Religiöse Elemente in der Literatur
16. Zeitenwende: Antirationalistische Frömmigkeitsformen . . . . . . . . .
731
16.1 Offenbarungsglaube und religiöse Erfahrung - 16.2 Religion als Gefühl und Transzendenzbezug - 16.3 Von der Aufklärung zur Erweckung
§ 19 Staatskirche und Vereinskirche im 19. Jahrhundert
737
1. Grundprobleme eines Jahrhunderts der Umbrüche . . . . . . . . .
741
1.1 Revolutionäre Veränderungen der Lebenswelt - 1.2 Die religiöse Frage: Dechristianisierung und Rechristianisierung - 1.3 Die kirchliche Frage: Kirche als Institution der gesamten Gesellschaft - 1.4 Die soziale Frage: Kirche und gesellschaftlicher Strukturwandel - 1.5 Die nationale Frage: Deutschlands Gott und die Ersatzreligion - 1.6 Die konfessionelle Frage: Bekenntnis als Identitätssicherung
2. Die Neuformation Deutschlands seit 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 2.1 Wiener Kongreß und Deutscher Bund 1815 - 2.2 Neue Staaten und Landeskirchen - 2.3 Die Restaurationszeit: Politische Stagnation
3. Staatskirche und Konfessionen: Die Unionsproblematik in Preußen 1817-34 755 3.1 Landeskirchlicher Neubau Preußens 1815-17- 3.2 Union als rechtliches und geistliches Problem 1817 - 3.3 Preußische Landeskirche und Kultusunion: Der Agendenstreit 1822-34 -3.4 Separation konfessionalistischer Lutheraner- 3.5 Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung 1835: historischer Ausnahmefall - 3.6 Schleiermacher und die "Unionstheologie"
4. Religiöser Neuautbruch: Die Erweckungsbewegung ca.l810-40
. . . . . . 765
4.1 Wesentliche Merkmale der Erweckungsbewegung - 4.2 Vorformen und Anfänge der Erweckungsbewegungen - 4.3 Missionarische Initiativen - 4.4 Erweckungsbewegungen in Deutschland: Zentren und Regionen- 4.5 "Erweckungstheologie" und "Konfessionalismus"
5. Soziales Engagement der frühen Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . 776 5.1 Das große Problemfeld der Armenfürsorge - 5.2 Jugendarbeit: Die "Rettungshaus "Bewegung - 5.3 Theodor Fliedner: Krankenpflege und Diakonissenamt
6. Kirche in Staat und Gesellschaft bis zur Revolution 1848/49 . . . . . . . . 782 6.1 Konservativismus und Liberalismus in der "Vormärzzeit" 1840ff- 6.2 Scheitern der Kirchenreformpläne - 6.3 Elend der Unterschichten: Der Pauperismus - 6.4 Die doppelte Revolution 1848/49 - 6.5 Evangelische Kirche und Revolution
7. Wichern und die Innere Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 7.1 Der Wittenberger Kirchentag 1848-7.2 Wicherns Konzept der "Inneren Mission" - 7.3 Der Erfolg von Wicherns Rechristianisierungsprogramm
8. Christliche Diakonie im Umbruch der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 797 8.1 Die Arbeit der Inneren Mission ca.1850-1900- 8.2 Friedrich von Bodelschwingh: Organisation der Barmherzigkeit - 8.3 Diakonie als Dimension der Kirche
XVI
Inhalt
9. Kirchliche Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage . . . . . . . . . . . . 802 9.1 Die Phase der Hochindustrialisierung nach 1870 - 9. 2 Vereinzelte Vorstöße zu Problemlösungen - 9.3 Sozialpolitik und Rechristianisierungsprogramm bei Adolf Stoecker - 9.4 Versuche zu politischer Einflußnahme
10. Religionspolitische Spaltung: Der Kulturkampf 1871-87 . . . . . . . . . . . 810 10.1 Grundsätzliche Bedeutung des Kulturkampfes - 10.2 Vorgeschichte: Der Kölner Kirchenstreit - 10.3 Der Ausbruch des Kulturkampfes 1871172 - 10.4 Kampfgesetze 1873-75: Eingriffe in das kirchliche Leben- 10.5 Ende und Ergebnis des Kulturkampfes
§ 20 Volkskirche und evangelische Identität im 20. Jahrhundert 819 1. Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 1.1 Kulmination des protestantischen Nationalismus - 1.2 Vom Kaiserreich zur Republik - 1.3 Christenverfolgungen als Zeichen einerneuen Zeit
2. Grundsätzliche Trennung von Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 2.1 Sozialistisches Programm und Volkskirchenbewegung 1918/19-2.2 Protestantismus und politische Parteien - 2.3 Die Weimarer Reichsverfassung 1919
3. Kirchliche Neuorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 3.1 Verfassungskonflikte in Preußen 1919-24 - 3.2 Gründung des Kirchenbundes 1922 - 3. 3 Theologie und Kirche
4. Internationale Kooperation: Die Ökumenische Bewegung . . . . . . . . . . . 841 4.1 Vorgeschichte im 19. Jahrhundert- 4.2 Vorstufe: Koordination der Mission 4.3 Praktisches Christentum: Die Stockholm-Konferenz 1925 - 4.4 Dogmatische Gespräche: Die Lausanne-Konferenz 1927 - 4.5 Konfessioneller Sonderweg: Lutherischer Weltkonvent seit 1923
5. Evangelische Kirche und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 5.1 Republikfeinde und Vernunftrepublikaner - 5.2 Dauerkonflikt um Schule und Kirche - 5.3 Partnerschaft: Die Staatskirchenverträge - 5.4 Kirche und Nation
6. Grundsätzliche Bedeutung der Epoche 1933-45 . . . . . . . . . . . . . . . . . 854 6.1 Staatliche Kirchenfeindschaft - 6.2 Nationalsozialistische Herrschaft: NS-Staat als "Drittes Reich" - 6.3 Der Begriff "Kirchenkampf" - 6.4 Kirchliche Identität und gesellschaftliche Relevanz
7. Die nationalsozialistische "Revolution" 1933134 . . . . . . . . . . . . . . . . 858 7.1 Der Nationalsozialismus vor 1933 - 7.2 Hitlers "Machtergreifung" durch Verfassungsumsturz - 7.3 Verhältnis zu Kirche und Christentum
8. Nationalsozialistische Gleichschaltung: Die Reichskirche 1933 . . . . . . . 864 8.1 Aufschwung der Deutschen Christen - 8.2 Kapitulation der Kirche vor dem NSStaat - 8.3 Die Machtergreifung der Deutschen Christen
9. Organisierte Opposition: Die Entstehung der Bekennenden Kirche . . . . . 872 9.1 Erste Widerstände gegen die deutsch-christliche Umgestaltung - 9. 2 Gründung der Bekennenden Kiche: Die Synode von Barmen 1934-9.3 Aufbau der Bekennenden Kirche
10. Die katholische Kirche im Konflikt mit dem NS-Regime.
. . . . . . . . . . 881
10.1 Da~. Reichskonkordat 1933: Hoffnung auf Bestandssicherung - 10.2 Verdrängung aus der Offentlichkeit im totalitären Staat
11. Institutionelle Zersplitterung der evangelischen Kirche . . . . . . . . . . . . 886 11.1 Staatsaufsicht: Reichskirchenministerium und Reichskirchenausschuß - 11.2 Definitive Spaltung der Bekennenden Kirche - 11.3 Vergebliche Neuordnungsversuche
Inhalt
12. Kirche im völkisch-totalitären Unrechtsstaat .
XVII
893
12.1 Verschärfung des Weltanschauungskampfes seit 1935 - 12.2 Unterdrückung und Behinderung der kirchlichen Arbeit - 12.3 Politische Verdächtigung der Bekennenden Kirche - 12.4 Kirche im Zweiten Weltkrieg - 12.5 Protest gegen die Staatsverbrechen an Behinderten
13. Evangelische Kirche und Judenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 13.1 Zurückhaltung angesichts staatlicher Maßnahmen - 13.2 "Novemberpogrom" 1938: Allgemeines Schweigen, einzelne Hilfsstellen - 13.3 Moralische Katastrophe der Christenheit: Die Judenvernichtung
Anhang Abkürzungsverzeichnis (bibliographisches/allgemeines)
911
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . .
915
Kaiser-, Herrscher- und Papstlisten
916
Register . . . . . . . . Namensregister Sachregister . . . . . . .
920 920 961
§ 11 ANFÄNGE DER REFORMATION IN DEUTSCHLAND
Bedeutung des Themas Zwischen ca.1520 und 1650 veränderte sich das abendländische Christentum fundamental, hauptsächlich durch die Profilierung eines neuartigen Kirchentyps gegenüber der bis dahin dominierenden römischen Papstkirche. Das Zeitalter der Reformation brachte somit eine tiefe kg. Zäsur. Die Anfänge der Veränderung lagen in Deutschland, als europäisches Phänomen reichte die Reformation jedoch bald darüber hinaus. In der Anfangszeit wurden Entwicklungstendenzen erkennbar, die keineswegs zur Kirchenspaltung führen mußten, sondern die allgemein erstrebte Erneuerung der ganzen Westkirche hätten bewirken können. Erst durch die politische Fixierung der Reformation entstand in Deutschland nach 1525 eine evangelische Kirche (s. § 12); und auch in den europäischen Ländern ergaben sich analoge Zustände (s. § 13). Eine Aufspaltung in unterschiedliche Konfessionskirchen gab es zwar schon früher (vgl. die orientalischen Nationalkirchen, die orthodoxen Kirchen in Byzanz und Rußland, das Schisma von 1054: § 4; 15.1-4; § 7; 8-9; § 8; 8.1). Aber nun führte sie in Europa, dem Hauptschauplatz der neuzeitlichen Geschichte, zu einem Dauerkonflikt gegensätzlicher Institutionen, die sich geographisch, politisch und kulturell berührten. Mit der Entstehung des Protestantismus bzw. der verschiedenen evangelischen Kirchen im 16.Jh. formierte sich ein dritter Typus von Christentum neben römischem Katholizismus und östlicher Orthodoxie, der über Europa hinaus dauerhafte Verbreitung fand. Weltgeschichtliche Wandlungen entwickeln sich meist allmählich und haben oft einen begrenzten Anfang, dem konstitutive Bedeutung zukommt. Derartiges gilt für die besonders mit Luthers Namen verbundene frühe Reformation, weswegen diese eine intensive Behandlung verdient. Sie war herausragender Kern einer evangelischen Bewegung in Deutschland (und strahlte von dort aus auf andere Länder, in denen eigene Triebkräfte die Entwicklung bestimmten). Sie war spezifisch profilierter Teil einer umfassenden Tendenz zur Reform der Kirche, die seit dem 14./15.Jh. allgemein gefordert wurde (vgl. § 8; 13.1-14.3). Sie ergab sich z. T. aus der als Humanismus bezeichneten kulturellen Erneuerungsbewegung. Sie verband sich mit sozialen und politischen Veränderungsbestrebungen. Ohne diese Vielfalt anderer Strömungen wäre Luthers Wirkung kaum so epochal geworden. Nur für die Frühzeit bis ca.1525 gilt, daß ihm eine singuläre Stellung zukommt. Seine neue Theologie bildete die Argumentations- und Motivationsbasis für die Absage an das bisherige kirchliche System der Heilsvermittlung, Sinnstiftung und Lebensnormierung. Bis ca.1525 waren die Konturen neuer Strukturen noch unpräzise, war der Abbruch des Alten noch stärker als der Aufbau von Neuem. Analoges galt für die sozialen und politischen Ordnungen, die mit den kirchlichen verzahnt waren. Die Anfänge der Reformation waren eine Umbruchphase von gros-
2
§ 11 Reformation in Deutschland
ser, z.T. diffuser Komplexität. Neben Luther und dessen Lehre spielten andere Gestalten und deren Konzeptionen eine unterschiedlich große Rolle. Bis ca.1525 waren die Dinge noch so im Fluß, daß die Entwicklung auch zur Erneuerung der einen Kirche im Abendland hätte führen können; daß sie zur Kirchenspaltung tendierte, war erst später manifest (s. § 12).
Hauptsächliche Probleme - Definition des Wesens der Reformation: Welches Gewicht kommt der Theologie bei der Veränderung von Religion, Kirche, Gesellschaft und Staat zu? - Verhältnis von evangelischer Bewegung (Predigt, Lehre, Kirchenkritik) und Reformation (definitiver Praxisänderung durch neue Ordnungen) - Kontinuität und Umbruch in der Beziehung von Reformation und Spätmittelalter (Frömmigkeit, Kirchenstrukturen) - Einfluß des Humanismus auf Mentalität und Lebensverhältnisse - Luthers Rolle bei der Entstehung von evangelischer Bewegung und Reformation - Einheit der Reformation und Vielfalt der Reformationstypen (Wittenberg Zürich/Straßburg - Täufer/Spiritualisten) - Soziale, ökonomische und kulturelle Gestaltungskräfte der Reformation - Erneuerung der Kirche im politischen Spannungsfeld des Reiches
HILFSMITIEL: W. DOTZAUER: Das Zeitalter der Glaubensspaltung (1500-1618) = W. Baumgart (Hg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd.1, 1987. - F. SCHNABEL: Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen in der Neuzeit. Teil1: Das Zeitalter der Reformation 1500-1550, 1931; ND 1972. - K. SCHOTTENLOHER: Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517-1585, 6 Bde., 2.A. 1956-58; Bd.7, 1966. - G. WOLF: Quellenkunde der deutschen Reformationsgeschichte, 3 Bde., 1915-22; ND 1965. -VERZEICHNIS der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, bisher 24 Bde., 1983-97 [= VD 16]. QUELLEN: H.J. HILLERBRAND: Brennpunkte der Reformation, 1967. - R. KASTNER (Hg.): Quellen zur Reformation 1517-1555, AQDGNZ 16, 1994. - H.A. ÜBERMAN (Hg.): Die Kirche im Zeitalter der Reformation, KTGQ 3, 3.A. 1988. - DEUTSCHE REICHSTAGSAKTEN unter Kaiser Kar! V. = DRTA.JR Bd.1-4, 1893-1905. LITERATUR (vgl. auch § 12!): P. BLICKLE: Die Reformation im Reich, 2.A. 1992. - TH.A. BRADY/H.A. ÜBERMAN/J.D. TRACY (Hg.): Handbook of European History 1400-1600, 2 Bde., 1994-95. - H.J. BILLERBRAND (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Reformation, 4 Bde., 1996. - E. lsERLOH: Die protestantische Reformation, HKG 4, 1967, 3-446. - DERS.: Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriß, 2.A. 1982. - P. JOACHIMSEN: Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte, 1951; ND 1970. - F. LAufE. BIZER: Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555, KIG III!Lfg.K, 2.A. 1969. - H. LUTZ: Reformation und Gegenreformation, OGG 10, 1979, 3.A. 1991. - B. MOELLER: Deutschland im Zeitalter der Reformation, DG 4, 1977, 3.A. 1988. - H. RABE: Deutsche Geschichte 15001600, 1991. - DERS.: Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, 1989. - L.v. RANKE: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde., 6.A. 1881/82; ND 1925/26. - ST. SKALWEIT: Reich und Reformation, 1967.
Wichtige Ereignisse, Personen, Sachverhalte I.
Voraussetzungen der Reformation Kirchenreformforderungen. Antiklerikalismus. Kritik am päpstlichen Finanz- u. Rechtssystem: "Gravamina der deutschen Nation" (seit 1456) 1497 u. 1518 erneuen
1519-56 Habsburgische Universalmonarchie unter Karl V.: Herzog von Burgund 1515, König von Spanien 1516, Römischer Kaiser 1519 1513-21 Leo X. als Repräsentant des Renaissancepapsttums: Dominanz der machtpolitischen Interessen, Abwehr von Reform und Konziliarismus 1495ff Sog. Reichsreform (Kaiser Maximilian I.): Stärkung der Territorialmächte. Reichskammergericht (Abschaffung der Fehde), Reichsregiment, Reichskreise 1502ff.1514ff Bauernaufstände (Oberrhein, Schwaben). Innerstädtische Konflikte ISOOff Verbreitung des Humanismus: Bildungsreform, Kirchenkritik, Nationalbewußtsein (z.B. Jakob Wimpfeling). Ulrich von Hutten seit 1515: Kampf gegen Papsttum 1514ff Erasmus (ca.1466/69-1536) Philosophie Christi -Reform von Gesellschaft u. Kirche
II.
Anränge und Verbot von Luthers Reformation 1517-1521 Martin Luther (1483-1546): Seit 1514 Ansätze einerneuen Rechtfertigungslehre 1517 (s. § 14; 2.2). Eröffnung des Ablaßstreites durch 95 Thesen (31.10.?) 1518 Beginn des Ketzerprozesses in Rom. Polit. Rabmen: Ringen um Nachfolge Kaiser Maxirnilians I. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen: Lutherschutzpolitik. Verhör Luthers durch Kardinal Cajetan. Populärer Schriftsteller seit 1518 seit 1518 Philipp Melanchthon (1497-1560) Prof. in Wittenberg: Humanist und Reformator 1519 Leipziger Disputation (Luther - J. Eck): Lehrautorität von Papst und Konzilien 1520 Luthers reform. "Programmschriften": Gravamina, Kirchenreform durch Laien. Kritik an röm. Sakramentenlehre und -praxis. Evangelische Rechtfertigungslehre und Ethik 1521 Folge der päpstl. Bannbulle: Kaiserliche Reichsacht gegen den Ketzer Luther, Verbot der luth. Reformation (Wormser Edikt). Luther im Versteck auf der Wartburg
III.
Reformationsbeginn: Evangelische Bewegung bis 1525 Einfluß der Luther-Schriften auf evang. Prediger und Laien: Verbindung v. Antiklerikalismus - Schriftprinzip, Sakramentenkritik (Meßopfer) - Rechtfertigungslehre 1521122 Thomas Müntzer in Zwickau. Konflikte, spiritualist.-apokalypt. Konventikel. Wittenberger Unruhen (Andreas Karlstadt u.a.): Radikale Reform, Bildersturm 1523ff Einführung der Reformation in Zürich: Ulrich Zwingli (1484-1531). Schriftprinzip, Illegitimität von Messe u. Bildern. Evangelische Gottesdienstordnung 1523 Nürnberger Reichstag: Konzilsforderung (Nationalkonzil). Scheitern des Pfaffenkriegs der Reichsritter (Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten) 1524ff Städtereformation in Süddeutschland, v.a. Nürnberg (Andreas Osiander) und Straßburg (Manin Bucer) 1525ff Bildung von Täufergemeinden in Zürich, Waldshut, Süddeutschland 1524/25 Kontroverse Erasmus-Luther betr. Willensfreiheit. Spaltung d. Humanisten (Rejormk.atholiken - Evangelische) 1524/25 Bauernkriege in Süddeutschland, Hessen u. Thüringen: Evangelium und Göttliches Recht. Totaler Sieg der Fürsten
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1. Grundprobleme der Reformationsgeschichte
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1. Grundprobleme der Reformationsgeschichte Als Periodenbezeichnung hat der Begriff Reformation einen Sinn, der über den ursprünglichen Bedeutungsgehalt reformatio hinausgeht. Seit dem 19.Jh. meint man damit ein Zeitalter der deutschen Geschichte (ca.1520-55), eine Übergangsphase oder einen Epochenbruch zwischen Mittelalter und Neuzeit. Viele damit verbundene Aspekte sind in der Forschung strittig. Ein allgemeiner Konsensus darüber, was als Wesen der Reformation und damit als entscheidendes Merkmal des Zeitalters gilt, besteht nicht. Das manifestiert sich schon äußerlich darin, daß es für die chronologische Abgrenzung der Reformationszeit unterschiedliche Lösungen gibt. Das zeigt sich sodann in einer unterschiedlichen Sicht der Beziehung zwischen dem Reformationszeitalter und dem Renaissancezeitalter bzw. der Zuordnung der Reformation zur Neuzeit oder zum Spätmittelalter. Die Komplexität jener Problematik erhöht sich, wenn man nicht allein auf die deutsche Geschichte blickt, sondern die Reformation als ein gesamteuropäisches Phänomen würdigt (ebenso wie die Renaissance, den geistes-und kulturgeschichtlichen Wandel zwischen ca.1400 und ca.1600). Unterschiedliche Forschungsperspektiven und Schwerpunktbildungen spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sich in dem als Reformation bezeichneten Vorgang verschiedene Aspekte verzahnten: religiöse, kirchliche, theologische, soziale, kulturelle, ökonomische, verfassungsrechtliche, innen- und außenpolitische Veränderungen. Die Reformation ist nicht bloß ein Thema der Kirchen-, Theologie- und Dogmengeschichte, sondern der gesamten historischen Wissenschaft. Doch in kg. Perspektive ergibt sich ein spezifisches Bild.
1.1 Das Wesen der Reformation Bei der kirchen-, theologie-und dogmengeschichtlichen Betrachtungsweise spielt die konfessionelle Bindung eine Rolle (z.B. bei Stoffeinteilung und Urteilsbildung), doch sind konfessionalistische Fixierungen in der Forschung seit längerem einer Annäherung der Perspektiven und Resultate gewichen. Da jene Sicht durch die besondere Gewichtung der religiösen und theologischen Aspekte bestimmt wird, ergibt sich als allgemeine Definition: Reformation ist die definitive, durch eine neue Theologie begründete Loslösung von der Papstkirche, bei der das herkömmliche System der kirchlichen Heilsvermittlung und der Hierarchie durch neue Formen von Kirche ersetzt wird. Tragende Funktion hat dabei der Rekurs auf das Evangelium, d.h. in inhaltlicher Hinsicht die Rechtfertigungslehre (allein wegen Christus -allein durch Glauben -allein aus Gnaden), in formaler Hinsicht das Schriftprinzip (allein die Bibel). Dieser theologische Impuls verändert zunächst die individuelle Frömmigkeit und schafft eine neue Mentalität, und daraus ergeben sich dann die äußeren Strukturänderungen. Deshalb empfiehlt es sich, zwischen den Anfangen der Reformation bzw. der evangelischen Bewegung und der definitiven Durchführung der Reformation zu unterscheiden. Erstere besteht in der Verbreitung von evangelischen Predigtinhalten und Gottesdienstfor-
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§ 11 Reformation in Deutschland
men, die als Zielsetzung kirchliche Veränderungen implizieren, diese aber noch nicht dauerhaft oder gar irreversibel vollziehen. Letztere ist erst dann gegeben, wenn eine - von der evangelischen Lehre bestimmte - Kirchenordnung fixiert wird, die durch dauerhafte Veränderungen der Rechts- und Besitzverhältnisse sämtliche Bereiche des kirchlichen Lebens erfaßt und die auch die damit zusammenhängenden weltlichen Einrichtungen wie Schule und Armenfürsorge neu normiert. Diese Durchführung der Reformation setzte erst nach 1525 ein (s. § 12). Ihre Anflinge in der Zeit davor sind als evangelische Bewegung auch dadurch charakterisiert, daß deren Konturen noch keine definitiven Grenzziehungen enthielten, daß eine Pluralität von Positionen nebeneinander bestand und daß erst die Konflikte zwischen diesen zu einer Klärung führten, welche sich in strukturellen Abgrenzungen niederschlug (s. § 11). In Deutschland war die Entwicklung wegen der spezifischen Verfassungsstruktur durch lange Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Partikularobrigkeiten, Reich und Territorien, bestimmt, die 1555 ein vorläufiges und erst 1648 ein abschließendes Ende fanden. Deswegen sind auch für die kg. Perspektive diese politischen Zusammenhänge ebenso wie die sozialen und kulturellen Aspekte ein integraler Bestandteil. 1.2 Reformation als historische Epoche Die traditionelle Unterscheidung zwischen Mittelalter und Neuzeit ist insofern problematisch, als sie vielfältige Phänomene des Übergangs und Elemente der Kontinuität ausblendet. Das gilt erst recht, wenn die Reformation in geschichtsphilosophischer oder -theologischer Betrachtung allein der Neuzeit zugerechnet oder wenn sie pragmatisch - wie in der heutigen Historiographie weithin üblich - als ein Teil der Frühen Neuzeit (der Geschichtsperiode von ca.1500 bis 1789) begriffen wird. Solche Periodisierungen sind letztlich willkürliche Abstraktionen, deren Plausibilität davon abhängt, inwiefern die Fülle der Einzelphänomene durch die Einfügung in chronologische Raster angemessen verstanden wird. Die historische Betrachtung konstatiert, daß in der Zeit zwischen ca.1500 und 1600 ein vielf"ältiger Umbruch stattfindet: Innovative Ideen verändern die Wirklichkeit, ältere Strukturen wandeln sich, neue Lebensverhältnisse bilden sich heraus. Doch sie registriert auch, daß neben dieser "Modernisierung" reaktionäre, regressive und traditionsgebundene Kräfte lebendig bleiben, daß das Neue in etlichen seiner Elemente eine Entwicklungsstufe ist, die Älteres aufnimmt, fortsetzt oder umwandelt. Dieser Kontinuitätsaspekt zeigt sich v.a. bei der Betrachtung der vorreformatorischen Situation, d.h. der strukturellen Voraussetzungen, welche die Ereignisgeschichte der Reformation mitbestimmt haben (s. dazu 2.1-6.3). 1.2.1 Im 15 .Jh. meinte der verbreitete Begriff reformatio zumeist - bezogen auf Mißstände in Kirche und Gesellschaft -eine Reinigung i.S. der Rückkehr zu guten alten Normen (z.T. bezogen auf das Ideal der apostolischen Zeit der Kirche). Dies Verständnis wirkte im 16.Jh. fort, v .a. in reformkatholisch-humanistischen Kreisen, welche die sittlichen Zustände in Kurie und Klerus bessern wollten. Mit ihm verwandt war der profane Sprachgebrauch z.B. in Verwaltung und Universität, wonach reformatio eine Veränderung i.S. von Erneuerung meinte. Stets war es also ein Wertbegriff, den Zeitgenossen bereits auf Luthers Werk und Wirkung anwandten. Bei Luther und seinen Mitstreitern wurde daneben ein theologisch-eschatologischer Sinn
1. Grundprobleme der Reformationsgeschichte
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leitend: Die Erneuerung der Kirche sei i.w. Gottes Werkangesichts des nahen Weitendes. Als kirchliche Selbstbezeichnung verbreitete sich ecclesia refonnatalrefonnierte Kirche/ eglise refonnee nach 1570 im calvinistischen Bereich. 1.2.2 Seit den Jubiläumsfeiern 1617 setzte sich der Begriff Refonnation konzentriert auf Luthers Werk- für die Zeit 1517-55 durch, seitdem 18.Jh. als Epochenbezeichnung. Gleichsam kanonisiert wurde er durch Leopold von Rankes Zusammenschau von Kirchen- und Reichsgeschichte (Deutsche Geschichte im Zeitalter der Refonnation, 6 Bde., 1839-47). Da Ranke die Periode nach 1555 als Zeitalter der Gegenreformation bezeichnete, bürgerte sich in vielen Darstellungen die Klassifikation Refonnation und Gegenrefonnation für die Zeit 1517-1648 ein. Die neuere katholische Historiographie hat den letzteren Begriff durch katholische Refonn ergänzt oder ersetzt (vgl. § 16; 2.1). 1.2.3 Die durchweg positiv stilisierte Einschätzung der Reformation als Abkehr vom angeblich finsteren Mittelalter v .a. in der Aufklärungstheologie und -philosophie des 18.Jh.s begründete deren Identifizierung mit dem Beginn der Neuzeit als Geschichte der Geistesfreiheit. Verstärkt wurde das durch den deutschen Idealismus und den Liberalismus (Freiheit von institutionellen Zwängen). So galt im 19.Jh. und noch weithin im 20.Jh. die Reformation als Anbruch eines Zeitalters der individuellen Mündigkeit. Eine Wende in der Beurteilung markierte die Interpretation durch Ernst Troeltsch: Er betonte für die lutherische Reformation die Verankerung in mittelalterlichen Traditionen, sah moderne Ansätze dagegen nur bei Humanisten und Nonkonformisten und wertete erst die Aufklärung des 18.Jh.s als Beginn der Neuzeit. Seitdem ist bei der EpochenklassifiZierung eine differenzierte Sicht verbreitet, welche die vieWiltigen geistes-, theologie-und sozialgeschichtlichen Aspekte in ihrer Modernität bzw. Traditionalität unterschiedlich würdigt.
1.3 Kirchengeschichte und Sozialgeschichte
Seit dem 15.Jh. zeigte die Reformdiskussion, wie dringlich, aber schwer realisierbar eine Erneuerung der Kirche war. (Vgl. das Schlagwort Reformatio ecclesiae in capite et membris!Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, d.h. der römischen Kurie und des gesamten Klerus und Mönchtum; s. § 8; 14.0.) In der damaligen Mentalität war eine unbestimmte Disposition für Strukturveränderungen vorhanden. Wenn sie sich konkret v .a. aufreligiös-kirchliche Probleme bezog, dann lag das einerseits daran, daß im Lebensgefühl die Transzendenzorientierung dominierte (Angst vor Tod und Gericht, Sicherung des ewigen Heils), andererseits daran, daß die Kirche als soziales System mit gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen verbunden war. Demgemäß hatten grundlegende Änderungen im kirchlichen Bereich weitgehende Konsequenzen für Staat und Gesellschaft. Und umgekehrt bewirkten der Mentalitätswandel (z.B. in Renaissance und Humanismus) sowie der Strukturwandel (z.B. in Wirtschaft und Staatsverwaltung) eine kritische Einstellung zur traditionellen Stellung der Kirche. Zwar blieb generell das Christentum die umfassende Gestaltungskraft der abendländischen Lebenswelt, wie sie sich im Mittelalter geformt hatte. Aber nun entwickelten sich Formen der Emanzipation von kirchlicher Reglementierung und eigenständige Züge einer individuellen Religiosität weiter, die als Kennzeichen der Neuzeit gelten können. 1.3.1 Die heutige Forschungslage kann nicht in einfachen Grundlinien erfaßt werden. Daß es kein einheitliches Verständnis der Reformation gibt, zeigt sich exemplarisch an der Kritik, die wechselseitig von kirchen- bzw. sozialgeschichtlich orientierten Forschern geübt wird. Sie läßt sich als Kontroverse über den Stellenwert von Religion und Theologie bei der Definition von Reformation verstehen. Eine kg. Sichtweise betont z.B. als entscheidenden Anstoß die aus einer evangelischen Verkündigung resultierende Glaubenserneuerung, sieht die Veränderung der
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kirchlichen Strukturen als deren Folge und leitet daraus die Neuformationen in Gesellschaft, Staat und Kultur (mit Hervorhebung der maßgeblichen Rolle einzelner Entscheidungsträger wie Luther, Zwingli u.a.) als Konsequenzen ab. Eine sozialgeschichtliche Sichtweise hält es z.B. für ausschlaggebend, daß bereits vor 1517/20 ein umfassender Wandlungsprozeß stattfand, der fast alle Lebensbereiche erfaßte, und versteht die Veränderungen in Frömmigkeit und Kirchenverfassung als einen Teil desselben; sie konzentriert sich auf die Beschreibung von Strukturen und kann dabei die Bedeutung der Einzelpersonen als gestaltender Faktoren zurücktreten lassen. Kontrovers betrachtet wird bei diesen Positionen u.a. auch die Grundsatzfrage: Gilt die Reformation als epochale Zeitenwende oder als religiös-kirchlicher Sektor des kontinuierlichen sozialen Wandels? 1.3.2 Eine kg. Betrachtung betont nicht aus ideologischer Selbstbehauptung, sondern wegen der historischen Wahrheit das Eigenrecht und sachliche Gewicht der religiös-theologischen Elemente. Sie wirdjedoch die Relevanz sozialer, politischer und kultureller Determinanten nicht vernachlässigen dürfen. Reformation meint auch in kg. Perspektive nicht nur das Werk Luthers, Zwinglis etc., sondern den durch die religiöse Neuformation ausgelösten bzw. begleiteten Wandel der Lebensverhältnisse bis ca.1600. Das neuzeitliche Christentum, dessen Geschichte im 16.Jh. beginnt, kann nicht auf seine kirchlich verfaßten und theologisch-konfessionell bestimmten Formen eingeengt werden, auch wenn diese unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt größere Beachtung verdienen.
1.4 Vielfalt und Einheit der Reformation Wichtig bei der Darstellung der Reformation ist die Frage nach deren Einheit. Es geht um die Lösung für komplexe Teilprobleme: die Kontinuität mit Vorformen bzw. die Determinierung durch Voraussetzungen; die Bedeutung Luthers als eines bloßen Auslösers oder des wesentlichen Gestalters der reformatorischen Entwicklung; das historische Gewicht der heterogenen Typen der Wittenberger, Züricher und Straßburger Reformation sowie der sog. radikalen Reformation der Täufer und Spiritualisten; die Entwicklung von einer basisnahen Erneuerung (Volksbewegung, Gemeindereformation o.ä.) zu einer reglementierten Institutionalisierung (Fürstenreformationo.ä.); das Verhältnis der Frühformen zu den Veränderungen nach 1555, der Spätreformation bzw. Konfessionalisierung; das Verhältnis der katholischen Reform zur evangelischen Reformation. Man wird grundsätzlich unterscheiden müssen: die kurze, aber einflußreiche und von i. w. übereinstimmenden Impulsen geprägte Anfangsphase bis ca.1525 (s. § 11) und die verschiedenen theologischen Grundpositionen und kirchlich-gesellschaftlichenFormen in der Zeit bis 1555/1618 (s. § 12). Zwar war die Reformation schon in der Frühzeit kein uniformes Phänomen hinsichtlich Motivation und Praxisgestaltung. Aber sie war insofern eine einheitliche Bewegung, als bei allen Neuerern die Wendung gegen das bisherige kirchliche System durch Luthers Lehre veranlaßt war. In der Folgezeit entwickelten sich - v. a. durch die praktischen Veränderungen des Kirchenwesens - die unterschiedlichen Positionen zu manifesten Differenzen. Gemeinsam blieb jedoch allen der Gegensatz gegen die römisch-katholische Papstkirche, so daß der evangelische Ansatz von Lehre und Kirchenstruktur auch später durch antikatholische Elemente geprägt war. 1.4.1 Eine evangelische Kirchengeschichtsbetrachtung kann einerseits nicht voraussetzungslos sein, weil sie von einer generellen Übereinstimmung mit der Sache der Reformation herkommt. Sie ist andererseits aber als Historiographie einer umfassenden Wirklichkeitsdeutung verpflichtet und muß neben den theologischen Aspekten die unterschiedlichen Interpretations-
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ansätze der Geschichtswissenschaft berücksichtigen. In der Akzentsetzung und Stoffauswahl kann zwar eine lutherische, calvinistische, allgemein-evangelische oder sonstig-religiöse Einstellung leiten, aber dabei sollten grundsätzlich die begrenzte Reichweite der Urteilsbildung und die mangelnde Allgemeingültigkeit der Darstellung bewußt bleiben. 1.4.2 Wenn man die Reformation als die aus einer grundsätzlich neuen Lösung der Heilsfrage erwachsende Veränderung der traditionellen kirchlichen Strukturen versteht, dann stellt sich im Blick auf die Anfangszeit für das Problem Einheit-Vielfalt die Grundfrage: Haben sich neben der unbestreitbar innovatorisch wirksamen Lehre Luthers unabhängige Positionen mit entsprechender Wirkkraft entwickelt? Diese Frage zergliedert sich in folgende weitere: a) Welche systemsprengenden Kräfte wirkten im Humanismus, aber auch in der Devotio moderna und in der Mystik? b) Welche reformatorischen Neuformationen wuchsen aus diesen drei Einflußbereichen heraus? c) Welche reformatorische Dynamik besaß die bereits vor 1517 begegnende Kirchenkritik? d) Welche Wirkungsgeschichte hatte die reformatorische Entwicklung Ulrich Zwinglis (von und in Abhängigkeit gegenüber Martin Luther)? - Zwar war ein vielfältiges Innovationspotential vorhanden, aber faktisch kam die breite Neuerungsbewegung erst durch Luthers Anstöße - z.T. durch seinen direkten Einfluß - in Gang. Analoges galt für die politische Entwicklung (Einfluß der Obrigkeiten auf das Kirchenwesen, Säkularisation von Kirchengut) und für soziale Sachverhalte (Bauernunruhen, innerstädtische Konflikte). 1.5 Literatur H.R. GUGGISBERG/G.G. KRODEL (Hg.): Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, 1993. - B. HAMM/B. MOELLER/D. WENDEBOURG: Reformationstheorien, 1995. - H. JUNGHANS: Reformation, EKL 3 (1992) 1470-1492. - W. MAURER: Reformation, RGG 3 5 (1961) 858-873. DERS.: Gegenreformation, RGG 3 2 (1958) 1254-1262. - B. MOELLER/S.E. BUCKWALTER (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, 1998. - H. RÜCKERT: Die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation, ZThK 52 (1955) 43-64. - G. SEEBAß: Reformation, TRE 28 (1997) 386-404 (Lit.). R. WOHLFEIL: Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, 1982. - E. WOLGAST: Reform, Reformation, GGB 5 (1984) 313-360.
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2. Außenpolitische Voraussetzungen Aufgrund der seit dem Mittelalter bestehenden Verbindung von weltlicher und geistlicher Gewalt im europäischen Staatengefüge (vgl. Bd.l, 475t) spielten bei der Entwicklung der Reformation in Deutschland außer innenpolitischen auch außenpolitische Determinanten eine wesentliche Rolle. Grundlegend dafür waren: a) der Anspruch des Kaisers auf christliche Universalmonarchie und Verantwortung für den Schutz der Christenheit; b) die Politisierung des Papsttums durch Dominanz der Macht- und Finanzinteressen. Hinzu kamen die unterschiedlichen Kontakte der übrigen europäischen Staaten zum Reich und deren jeweiliges Verhältnis zum Papsttum (s. § 13). Zwar stimmten Kaiser und Papst im Kampf gegen die Reformation grundsätzlich überein, aber ihre machtpolitische Konfrontation verhinderte das für einen Erfolg nötige gemeinsame Handeln. Das hat die religiöskirchlichen Veränderungen in Deutschland lange Zeit begünstigt.
2.1 Die europäische Rolle der Habsburgerdynastie Die besondere Position des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (s. § 9; 11.2; nur mit vereinfachender Abbreviatur unhistarisch als deutsches Reich bezeichnet) führte dazu, daß Einflüsse von außen seine Geschichte mitbestimmten. Auch wenn das Wahlkönigtum grundsätzlich beibehalten wurde, regierten als Könige/Kaiser seit 1438 Habsburger (mit einer kurzen Unterbrechung bis zum Ende des Reiches 1806). Da ihr Territorialbesitz weithin außerhalb des Reiches lag, waren sie ständig in die europäischen Machtkämpfe verwickelt, und das wirkte sich auf das Reich aus. Die grundsätzlich universale Orientierung des Kaisertums, die sich u.a. im ideellen Gegenüber zum Papsttum bekundete, verband Maximilian I. seit 1493 mit realpolitischer Großmachtstellung. Seine Neukonzeption realisierte Karl V. (1519-56) durch die Verbindung der habsburgischen Erblande mit Spanien; und die Neuordnung der spanischen Herrschaftsverhältnisse, einschließlich der transatlantischen Kolonialpolitik, beanspruchte sein Engagement derart lange und intensiv, daß darunter seine im Reich nötige Präsenz litt. Andererseits verfügte er mit dem konsolidierten spanischen Nationalstaat über eine Machtbasis, die ihm nach 1540 ein kraftvolles Eingreifen in Deutschland ermöglichte. Ständige militärische Auseinandersetzungen (in fünf Kriegen 152156) mit Frankreich und der Dauerkonflikt mit dem Papst u.a. wegen der Herrschaft in Italien bestimmten sein Handeln auch in der Religionsfrage. Machtpolitische Interessen überlagerten speziell in Deutschland die kirchlichen Erfordernisse, was lange Zeit zu Kompromissen mit den reformationsbereiten Fürsten führte. Frankreich, das sich durch die habsburgische Umklammerung an all seinen Grenzen bedroht sah, griff seit Beginn des 16.Jh.s immer wieder in die deutschen Angelegenheiten ein. Fortan bestimmte der französisch-habsburgische Gegensatz die deutsche Geschichte, was auch kg. Auswirkungen hatte. Die Niederlande als wichtigsten Teil des habsburgischen Burgund-Erbes, ein ökonomisch und kulturell blühendes Gebiet, baute Karl V. zum Stützpfeiler seiner Hausmacht aus; daraus
2. Außenpolitische Voraussetzungen
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ergab sich von vornherein ein Machtgegensatz zu den reformatorischen Tendenzen dort sowie in den Nachbargebieten West- und Nordwestdeutschland. Die Herrschaft in den Österreichischen Landen überließ Karl seit 1521 seinem Bruder Ferdinand, der außerdem im Reich als sein Stellvertreter fungierte und seit 1526 König von Böhmen und Ungarn war. Eine besondere Gefahrdung ergab sich dort durch die Angriffe des osmanischen Türkenreiches (vgl. § 9; 10.3). In deren Abwehr seit 1526/29 sollten auch - nach Maximilians vergeblicher Kreuzzugsplanung von 1518 - die deutschen Reichsstände eingeschaltet werden. Das war ein weiterer Grund für die großen Kompromisse in der Reformationsfrage, weil der Kaiser die militärische und finanzielle Hilfe der evangelischen Fürsten benötigte. 2.1.1 Habsburgs Besitz wurde im 16.Jh. als Personalverband zu einer europäischen Großmacht, war allerdings kein Nationalstaat wie Frankreich, England oder Spanien. Unter Kaiser Friedrich Ill. (1440-93) trat eine europäisch orientierte Politik zurück zugunsten einer Konzentration auf die Stärkung der bislang geringen Österreichischen Hausmacht. Friedrichs Sohn Maximilian I. (1493-1519), seit 1486 römischer König, baute diese durch Zugewinn u.a. von Tirol und Verwaltungsreformen aus, um von dieser Basis aus imperiale Ansprüche zu erneuern. Das wirkte sich v.a. in seiner Italienpolitik aus, die formal an die traditionellen Rechtsansprüche und faktisch an die hochmittelalterliche Kaiserkonzeption anknüpfte (vgl. § 9; 7.2 und 11.2.1-2). Der dadurch bewirkte Gegensatz gegen Frankreich und das Papsttum gab den italienischen Konflikten eine europäische Dimension mit Rückwirkung auf Deutschland. 2.1.2 Der Gegensatz zu Frankreich verschärfte sich massiv durch das beiderseitige Interesse am burgundischen Erbe: Das neuformierte Herzogtum Burgund, ein - von der Rhöne bis zur Rheinmündung diverse Fürstentümer vereinigender - mächtiger Staatenbund mit modernen Strukturen, war nach dem Tode Karls des Kühnen 1477 zerfallen. Da Maximilian mit dessen Tochter Maria verheiratet war, erhielt das Haus Habsburg für ihren Sohn Philipp (den Schönen) nach schweren Konflikten um das Erbe bis 1492 auf Dauer bedeutende Gebiete: v.a. die Niederlande (Holland, Brabant, Flandern), Artois, Hennegau, Luxemburg, die Freigrafschaft Burgund, z.T. alte Reichslehen. Frankreich bekam das ihm traditionell verbundene alte Herzogtum Burgund und die Picardie, beanspruchte aber weitere Teile, v.a. Artois und Flandern. Seit den deswegen mit Maximilian nach 1477 geführten Kriegen entstand ein Spannungsfeld für potentielle militärische Auseinandersetzungen. 2.1.3 Die frühneuzeitlichen Monarchien waren so etwas wie Familienbetriebe, die sich aus national und kulturell unterschiedlichen Ländern nurkraftdynastischer Verbindungen zusammenfügten. Das zeigte sich exemplarisch an der Beziehung zwischen Habsburg und Spanien, die Maximilian I. und Ferdinand von Aragon (1479-1516) v.a. wegen des gemeinsamen Gegensatzes gegen Frankreich 1496 durch die Heirat zwischen Philipp dem Schönen (1478-1506) und Johanna-Juana (1479-1555, der Wahnsinnigen), der Erbin der Königreiche Kastilien und Aragon, begründeten. Für deren ältesten Sohn Karl, den späteren Kaiser (s. 8.3.1), ergab sich damit ein immenses Erbe, aber auch die Verwicklung in die europäischen Territorialkonflikte: die vereinigten Reiche Spaniens, das von Aragon beherrschte Sizilien mitsamt Neapel, Burgund/Niederlande und die Österreichischen Erblande (die allerdings an den zweiten Sohn, Ferdinand, fielen). Diese Machtkonstellation verschärfte den wegen Burgund und Italien bestehenden Gegensatz zu Frankreich enorm.
2.2 Das Papsttum als Renaissancefürstentum Zu den grundlegenden Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der Reformation gehörte die "Verweltlichung" des Papsttums. Deren vielfältige Aspekte hatten seit längerem zu einer Degeneration der geistlichen Institution geführt: das auf ein kompliziertes Kirchenrecht und Finanzsystem konzentrierte Herrschaftsinstrumentarium (s. § 8; 12.0-3), die Bindung an den sog. Kirchenstaat und die dar-
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aus resultierende Verwicklung in die inneritalienischen Machtkämpfe (s. § 16; 1.2), die Einmischung in die innen- wie außenpolitischen Belange der europäischen Staaten. All das verstärkte sich nach 1460 durch den Einfluß der Renaissance mit ihrer Säkularistischen Mentalität, die allerdings auch die enorme Blüte der Kunst v.a. in Rom hervorbrachte. Die Päpste unterschieden sich in ihrer prunkvollen Amts- und Lebensführung nicht von anderen großen Renaissancefürsten in Italien, so daß Geldbeschaffung und -ausgabe, Kriegsführung und Staatsverwaltung die Determinanten ihrer Herrschaftspraxis wurden und ihr Privatleben der allgemeinen moralischen Laxheit entsprach. Die notorische, manifeste Sittenlosigkeit der Päpste, der Kardinäle und des Kurienpersonals trug in einer zunehmend von der humanistischen Betonung des menschlichen Individuums geprägten Zeit dazu bei, daß das Urteil über die Institution sich nach deren einzelnen Trägern richtete. Und diese waren fast ein Jahrhundert lang ununterbrochen unwürdig, wenn man die geistlichen Normen des Amtes zum Maßstab machte. Doch für Päpste, die sich als italienische Fürsten verstanden, galten diese Normen eben nicht mehr. Der traditionelle Nepotismus (s. § 8; 11.2) nahm nunmehr -besonders ausgeprägt unter Alexander VI. (1492-1503) mit der Borgiafamilie - Formen an, die das Papsttum fast als Familiendynastie wie bei weltlichen Potentaten erscheinen ließ. Demgemäß standen lange die Herrschaft über den Kirchenstaat und die europäische Machtpolitik im Zentrum päpstlicher Interessen unter Julius II. (1503-13), einem Soldaten im Priestergewand, und den beiden Medici-Päpsten, dem prachtliebend-gebildeten Kunstfreund Leo X. (151321) und dem dynastiepolitischen Taktiker Clemens VII. (1523-34). Noch bei Paul III. (1534-49) dominierte machtpolitisches Engagement gegenüber dem Interesse an einer Kirchenreform. So muß man konstatieren: In der kg. entscheidenden Periode allgemeiner Reformforderungen ca.1500-50 amtierten solche Päpste, die ihre geistlich-kirchlichen Aufgaben vernachlässigten. Diese Politisierung des Papsttums war ein wesentlicher Beitrag zur Förderung der Reformation bei deren Entstehung und Ausbreitung in Deutschland sowie darüber hinaus. Insbesondere seine Konzentration auf die Italienpolitik wirkte sich in jener Hinsicht aus, weil es dadurch seit 1494 in permanente Konflikte mit den beiden europäischen Mittelmeermächten Frankreich und Spanien geriet, die in Nord- wie in Süditalien ihren Einfluß zu behaupten bzw. auszuweiten strebten und deren Herrscher in kirchlicher Hinsichtpapsttreu waren. Die spanische Verbindung mit der Habsburgerdynastie hatte zur Folge, daß die Rückwirkungen der italienischen Machtkämpfe auf Deutschland auch für dessen kirchliche Situation belangvoll wurden. 2.3 Literatur J. BERENGER: Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273 bis 1918, 2.A. 1996, 139-241. - K. BRAND!: Kaiser Kar! V., 1937; 8.A. 1986. - R. BUCHNER: Maximilian 1., 1959; 2.A. 1970. - K.A. FINK: Päpste der Frührenaissance/Päpste der Hochrenaissance, HKG 3/2, 1968, 634-676. - A. KüHLER: Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa 1521-1648, EDG 6, 1990. - H. LUTZ (Hg.): Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V., 1982. - H. RABE: Kar! V., TRE 17 (1988) 635-644. - A. SCHINDLING/W. ZIEGLER (Hg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918, 1990. - F. SEIBT: Kar! V., 1990. - F.X. SEPPELT/G. SCHWAIGER: Geschichte der Päpste, Bd.4, 2.A. 1957. - A.A. STRNAD: Die Päpste der Früh- und Hochrenaissance, GKG 12, 1985, 39-52.
2. Außenpolitische Voraussetzungen I 3. Reichspolitische Voraussetzungen
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3. Reichspolitische Voraussetzungen Aufgrund der immer noch intensiven Integration von Herrschaft und Religion, Kirche und Gesellschaft bekam die spezifische Situation des Reiches grundlegende Bedeutung für die Reformation. Die verfassungsrechtliche Spannung zwischen zentraler Reichsgewalt und partikularen Territorialherrschaften erwies sich als besonders wichtig, weil sie die Tendenzen der Fürsten und Städte begünstigte, eine Mitbestimmung in Kirchenfragen zu beanspruchen. Das führte auf dem Hintergrund der außenpolitischen Lage seit 1521 dazu, daß das kaiserliche Reformationsverbot praktisch kaum realisiert wurde und daß die Entscheidung über eine Einführung der Reformation von den einzelnen Territorien je für sich getroffen wurde (vgl. § 12; 2.1-4).
3.1 Verfassungsrechtliche Schwäche des Reiches Der im Mittelalter fundierte Dualismus zwischen Reich und Einzelterritorien und die ausgeprägte Ständestrukturverfestigten sich im 16.Jh. weiter. Das Reich war nur in eingeschränkter Weise souverän und zu gemeinsamem Handeln befähigt. Repräsentiert wurde es durch den König/Kaiser und den Reichstag (die Versammlung der Reichsstände), also das Miteinander eines zentralen und eines föderalen Elements. Ursprünglich war der Reichstag als königlicher Hoftag die gelegentliche Versammlung aller Lehnsträger; im 15.Jh. entwickelte er sich zu einer ständigen Einrichtung, allerdings ohne Verwaltungsorganisation (nicht als Parlament im modernen Sinne) und mit geringen Beschlußkompetenzen. Einerseits waren die Entscheidungsmaterialien begrenzt (jedoch mit spürbarer Ausdehnung seit ca. 1490/1500), andererseits konnten Reichsstände und Kaiser sich kaum wechselseitig ihren Willen aufzwingen. So kamen Reichstagsbeschlüsse (Abschiede) meist nur durch Kompromiß zustande, was zur Folge hatte, daß bei fortbestehendem Dissensus oft wichtige Entscheidungen vertagt wurden. Das prägte die Entwicklung der Reformation. Bei dieser wirkten sich z. T. die seit 1495 beschlossenen Ansätze einer "Reichsreform" aus, die den Einfluß der Stände verstärkten: die formalisierte Organisation des Reichstages; die Errichtung eines Reichskammergerichts (neben dem kaiserlichen Hofgericht), das v.a. den allgemeinen Landfrieden sichern sollte; die Einsetzung eines Reichsregimentes, das zwischen den Reichstagen wichtige Angelegenheiten entscheiden sollte; die Bildung von Reichskreisen, welche der territorialen Zersplitterung durch regionale Absprachen und Gemeinschaftsaktionen begegnen sollte. Die Schwäche der zentralen Reichsgewalt zeigte sich nicht nur daran, sondern auch und besonders nachhaltig an der unterentwickelten Finanzkraft des Reiches infolge fehlender oder unzureichender Steuern. 3.1.1 Das Reich besaß einen Doppelcharakter, war regnum und imperium, wie es auch in der zweifachen Titulatur zum Ausdruck kam, wonach der deutsche König mit der Krönung durch den Papst in Rom zugleich römischer Kaiser war. Der König wurde gewählt (seit der Goldenen Bulle 1356 durch die sieben Kurfürsten; vgl. § 9; 11.2.3), und das Wahlkönigtum bedeutete eine prinzipielle Instabilität der Herrschaft, obwohl mit Albrecht II. und Friedrich Ill. seit 1438 bzw. 1440 das Haus Habsburg ständig den Thron besetzte. Auch die päpstliche translatio imperii schwächte prinzipiell die kaiserliche Macht (vgl. § 9; 7.2.2); doch sie wurde seit dem
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16.Jh. zur bloßen Theorie: Maximilian I. ließ sich wegen der Konflikte mit dem Papst nicht mehr von diesem krönen, sondern nannte sich seit 1508 erwählter römischer Kaiser, d.h. er war als König faktisch Kaiser. Kar! V. ließ sich letztmalig vom Papst krönen (1530), allerdings in Bologna und nicht in Rom. Seit Ferdinand I. 1558 fand die Kaiserkrönung ohne Beteiligung des Papstes in Deutschland durch die Kurfürsten statt. Wichtig für die Vermeidung von Thronwirren und Vakanzen wurde die Praxis, daß der älteste Sohn des jeweiligen Kaisers zu dessen Lebzeiten zum König gewählt, aber noch nicht gekrönt wurde. Er führte den Titel römischer König und wurde durch die Krönung deutscher König sowie virtuell römischer Kaiser (erstmals Maximilian I. 1486). Diese Verfassungsbesonderheit hatte beträchtliche Bedeutung für die Reformationsgeschichte. Denn die Wahl war stets mit politischen Zugeständnissen an die Kurfürsten verbunden, und in den sog. Wahlkapitulationen band sich der König/Kaiser an rechtliche Einschränkungen seiner Herrschaft zugunsten aller Reichsfürsten. 3.1.2 Reichsunmittelbar, also Stände des Reiches, waren -nicht als Staaten, sondern als personengebundene Herrschaften - drei Gruppen von abgestufter Dignität: a) 7 Kurfürsten, 3 geistliche (Trier, Mainz, Köln) und 4 weltliche (Böhmen, Sachsen, Rheinpfalz, Brandenburg); b) ca.300 geistliche und weltliche Fürsten: die 4 Erzbischöfe von Magdeburg, Salzburg, Bremen-Harnburg und Besan~on sowie 46 Bischöfe und 83 Reichsprälaten (insgesamt 133 geistliche Fürsten); 24 weltliche Fürsten wie Herzöge, Landgrafen etc. und ca.145 Grafen und Herren (auf dem Reichstag z.T. korporativ vertreten); c) die Bürgermeister/Räte von ca.60-70 Reichsstädten. Die unterschiedlichen Stände hatten dies gemeinsam, daß sie in ihren HerrschaftsgebietenObrigkeiten waren. Keine Reichsstände waren die mehr als 100 Reichsdörfer, im strikten Sinne auch nichtdie ca.350 Reichsritter (der reichsunmittelbare niedere Adel), deren Zusammenschluß 142211495 kaiserlich anerkannt war und politischen Einfluß gegenüber Fürsten und Grafen/Herren zu erringen suchte, weil die kleinen Herrschaftsgebiete der Ritter dem Zugriff der Territorialstaaten besonders ausgesetzt waren. 3.1.3 Die institutionelle Schwäche des Reiches war eine wichtige verfassungspolitische Ursache für die Durchsetzung der Reformation in weiten Teilen Deutschlands (entgegen Reichsrecht und kaiserlichem Willen). Der in der Forschung umstrittene Begriff "Reichsreform" darf nicht zu dem Mißverständnis verleiten, als hätte das Reich sich analog zur Entwicklung der westlichen Nationalstaaten erneuert. Vielmehr ging es um eine Ordnung der Machtbalance zwischen Kaiser und Ständen, bei der der Einfluß der Territorien gestärkt wurde. Der Kaiser sollte den Reichstag einmal jährlich in eine Reichsstadt einberufen und in einer Proposition, dem Reichstagsausschreiben, die Verhandlungsgegenstände benennen. Der Reichstag verhandelte getrennt in drei Kurien mit unterschiedlichem Gewicht. Den größten Einfluß besaß der Kurfürstenrat; in dem disparat zusammengesetzten Fürstenrat überwogen die Bischöfe und Prälaten; kein Stimmrecht bei Reichstagsbeschlüssen hatte dagegen der Städterat - ein für die Reformationsgeschichte nicht unerheblicher Sachverhalt. Der Kaiser nahm an den Verhandlungen nicht direkt teil, beriet sich separat mit Kurfürsten und Fürsten und verkündete zum Schluß den "Reichsabschied", Beschlüsse mit Gesetzeskraft, die ohne Zustimmung des Reichstages formell ungültig blieben. 3.1.4 In Konkurrenz zum kaiserlichen Hofgericht wurde 1495 eine Institution, auf die die Stände Einfluß nehmen konnten, geschaffen: das Reichskammergericht als oberstes Organ der Rechtsprechung (u.a. für Landfriedensbruch, Mißachtung der Reichsacht oder der Reichsgesetze, fiskalische Fragen des Reiches, Klagen gegen reichsunmittelbare Stände). In der Praxis arbeitete dies Gericht - mit Sitz seit 1527 in Speyer, seit 1693 in Wetzlar - unendlich langsam und uneffektiv, weil Exekutionsmöglichkeiten zur Durchsetzung der Beschlüsse fehlten. Die 1495 verordnete Abschaffung der Fehde als Rechtsinstrument (Ewiger Landfriede) nahm Ständen und Einzelpersonen das bisherige Recht zur Selbsthilfe und wies sie auf den Prozeßweg. In der Praxis funktionierte das zwar erst allmä~Jich während des 16.Jh.s und keineswegs generell, aber die grundsätzliche Bedeutung dieser Anderung für das frühneuzeitliche Staatswesen war beträchtlich. 3.1.5 Aufgrund vielfältiger Bemühungen der Fürsten um stärkeren Einfluß auf die Reichspolitik errichtete der widerstrebende Kaiser das sog. Reichsregiment (mit Sitz zunächst in Nürnberg), ein Kollegialorgan unter kaiserlichem Vorsitz. Da dessen Kompetenzen strittig blieben und eine Verwaltungsexekutive fehlte, scheiterte die Einrichtung bereits 1502, wurde aber auf dem
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Wormser Reichstag 1521 neu belebt. Ohne größere Effektivität übte es bis zur Auflösung 1530 eine eingeschränkte Mitwirkung an den Reichsgeschäften aus unter Leitung von Karls V. Bruder Ferdinand. Zur Durchsetzung des Landfriedens und zur Verbesserung der politischen Willensbildung wurde das Reich in Kreise entsprechend der landschaftlichen Struktur eingeteilt (zunächst 6 i.J. 1500, dann 10 seit 1512). Die Reichskreise tagten unregelmäßig je nach Bedarf unter Führung eines Kreisobersten, eines weltlichen Fürsten, und faßten Beschlüsse mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit für die Mitglieder. Diese Organisationsform erhielt Bedeutung für die spätere Reformationsgeschichte. 3.1.6 Die Reichsfmanzen lagen seit langem im argen, weil die meisten der verlehnten Reichsgüter dem Kaiser keine Steuern und Zölle mehr einbrachten, andererseits der Geldbedarf mit steigenden Aufgaben wuchs (v.a. Reichskammergericht und Reichskriege z.B. gegen Franzosen und Türken). Nur unvollkommen funktionierte das alte System des Römermonats, wonach jeder Reichsstand ein festes Kontingent an Reitern und Fußknechten für einen Monat (für den Zug zur Kaiserkrönung nach Rom) finanzieren mußte. Deshalb dekretierte der Reichstag 1495 den Gemeinen Pfennig als ständige Reichssteuer, deren Eintreibung aber auf große Widerstände stieß und nicht viel einbrachte. So manifestierte die notorische Finanzschwäche die geringe staatliche Potenz des Reiches.
3.2 Verselbständigung der Einzelterritorien Um 1500 bestand das Reich aus einer Fülle kleinerer und größerer Territorien, d.h. souveräner und halbsouveräner Herrschaften, die z.T. miteinander durch vielfaltige Rechte und Lehnsabhängigkeiten verflochten waren. Typisch für die Entwicklung im 16.Jh. wurde das Bemühen, durch Neuorganisation die verschiedenen Herrschaftsrechte i.S. einer konzentrierten Landeshoheit zu Staaten auszubauen. Dabei spielte der Einfluß auf das Kirchenwesen eine wichtige Rolle. Eine strukturelle Besonderheit bildeten die geistlichen Fürstentümer, die für die Reformationsgeschichte bis 1648 sehr wichtig waren. Die Bischöfe und Reichsäbte, ursprünglich königliche Lehnsmänner, hatten sich zwar aus dem Treueverhältnis gelöst, bildeten jedoch immer noch eine besondere Stütze der Reichsmacht (vgl. § 9; 6.6). Allerdings unterlagen sie wegen ihrer Bindung an den Papst einer doppelten Loyalität. Ihre Territorien konnten, weil sie nicht vererbt wurden, nicht geteilt werden; daher blieben sie relativ groß, wohlhabend und einflußreich. Geringeres verfassungsrechtliches und politisches Gewicht besaßen die Reichsstädte, doch sie bekamen als ökonomische und kulturelle Schwerpunkte des Reiches für die Reformationsgeschichte- zumal in den Anfängen- große Bedeutung (ebenso die nicht reichsfreien Städte). Das Gemeinschaftsbewußtsein und die Abwehr gegen äußere Bedrohungen machten die Bewahrung des Stadtfriedens zu einem wesentlichen Ziel allen politischen Handelns, und da die Identität von Bürger- und Christengemeinde im überschaubaren Raum erlebt wurde, bildeten die religiösen Fragen einen elementaren Bestandteil der städtischen Politik. Konflikte zwischen Bürgern und Klerikern um Schulaufsicht und Pfarrerwahlrecht waren seit dem 15.Jh. vielfach zu einem Dauerzustand geworden; der Anspruch der Bürger auf kirchliche Mitbestimmung war stärker als derjenige der Bauern, weil die Kirche als Teil der Stadtgemeinschaft beansprucht wurde und die Ratsobrigkeit vielerorts erheblichen Einfluß ausübte.
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3.2.1 Der Ausbau frühneuzeitlicher Staatlichkeit verlief in den deutschen Territorien unterschiedlich. Unter den größeren standen voran das Kurfürstentum Sachsen, die Herzogtümer Kleve und Bayern sowie die Landgrafschaft Hessen. In diesen Staaten blühte die Wirtschaft aufgrundbesonderer Bedingungen (Bergbau, Textilproduktion). Charakteristisch war auch der Aufbau von Universitäten zur Ausbildung des Verwaltungspersonals (Neugründungen Greifswald 1456, Freiburg 1457, Iogoistadt 1472, Tübingen 1477, Wittenberg 1502, Frankfurt/Oder 1506). Die Territorien bemühten sich um eine tendenzielle Monopolisierung öffentlicher Gewalt: durch Konzentration der Gerichtshoheit, durch Aufbau einer Zentralverwaltung für die Steuern und durch Sicherung des Landfriedens mit Hilfe militärischer Macht (einer Art Polizeitruppe geringen Umfangs). Diese Monopolisierung kollidierte allerdings mit den Rechten und Herrschaftsbefugnissender Landstände, d.h. der zu dem betreffenden Territorium gehörigen Grafen, Herren, Ritter, Prälaten, Klöster und Städte, die den jeweiligen Landtag im Gegenüber zum Fürsten bildeten. Das Verfahren der politischen Willensbildung in den Territorien entsprach i.w. demjenigen des Reiches, war also ebenfalls schwerfällig, wie sich z.T. auch bei der Einführung der Reformation zeigte. 3.2.2 Angesichts der institutionellen Schwäche erwies sich als besondere Möglichkeit zum Ausbau fürstlicher Landeshoheit die Ausweitung des Einflusses auf die Kirche. So entstanden Ansätze für ein "landesherrliches Kirchenregiment". Aus der Vergangenheit resultierte ein Einfluß auf den Grundbesitz der in den Territorien gelegenen Bistümer, Stifte, Klöster und Pfarreien durch Vogtei- und Patronatsrechte sowie durch familiäre Verbindungen (z.B. mit Dom- und Stiftskapiteln), Stiftungen und Privilegien. Diese Mitwirkungsrechte erweiterten regional unterschiedlich, meist mit vom Papst erkaufter Hilfe - die Landesherren im 15.Jh. z.B. durch Präsentationsrechte bei Bischofswahlen, Visitationen von Klöstern und Pfarreien, Einschränkung der klerikalen Steuerimmunität, Zurückdrängong der geistlichen Jurisdiktion, Genehmigung von Ablässen. Aufgrund der Tatsache, daß Herzog Adolf IV. von Kleve sein Gebietkraft einer päpstlichen Bulle 1444 von der Gerichtsbarkeit des Kölner Erzbischofs befreit hatte, entstand später (wohl erst im 17 .Jh.) das vielzitierte Diktum Dux Cliviae est papa in terris suis/Der Herzog von Kleve ist Papst in seinen Ländern (o.ä., auch auf andere Fürsten angewandt). Gerade in diesem umfangreichen Territorium - Kleve, Jülich, Berg, Mark, Ravensberg- zeigte sich im frühen 16.Jh., daß unabhängig von der Reformation ein landesherrliches Kirchenregiment entstehen konnte. 3.2.3 Die Städte bestimmten die politische Geschichte zwar weit weniger, als dies in Italien die großen Städterepubliken taten, weil nur einige eine gewisse Größe und Macht entwickelten (v.a. Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg, Köln, Lübeck). Aber die freien Reichsstädte waren ein deutsches Verfassungsspeziflkum, weil sie gegenüber den sie umgebenden Landesherren autonom waren und als selbständige Rechtssubjekte allein dem Kaiser unterstanden. Nach einer Blütezeit im 14.Jh. kündigte sich im 15./16.Jh. infolge der Ausbildung fürstlicher Landeshoheiten ein allmählicher Niedergang an. Bis ca.l560 blieben sie aber den Fürstenstaaten und Adelsherrschaften in der Finanzkraft überlegen, was sich u.a. darin auswirkte, daß sie zu den Reichssteuern überproportional herangezogen wurden. Deswegen suchten die Kaiser für möglichst viele Städte einen reichsunmittelbaren Status zu behaupten, den die betreffenden Landesherren aus dem gleichen Grund bestritten (so z.B. für Hamburg, Bremen, Braunschweig, Köln). Dieser Dissensus bedingte, daß die Zahl der tatsächlichen Reichsstädte im 16. Jh. nicht genau feststand. Ihre Hauptmasse lag im Süden und Südwesten, zumeist kleine Orte. 3.3 Literatur H. BOLDT: Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.1, 2.A. 1990, 149-288. - H. DucHHARDT: Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806, 1991, 13-141. - G. KÖBLER: Historisches Lexikon der deutschen Länder, 6.A. 1999. - H. NEUHAUS: Das Reich in der Frühen Neuzeit, EDG 42, 1997. - H. RABE: Deutsche Geschichte, 1500-1600, 1991, 13-40.103-147.- A. SCHINDLING/W. ZIEGLER (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 7 Bde, 1989-97. - G. SCHMIDT: Geschichte des Alten Reiches, 1999, 33-131.
3. Reichspolitische Voraussetzungen/4. Soziale und ökonomische Voraussetzungen
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4. Soziale und ökonomische Voraussetzungen Die Kirche als sozial differenzierte Institution war seit jeher vielfältig durch die Gesellschaftsstruktur beeinflußt. Auch das wirkte sich entscheidend auf den Verlauf der Reformation aus. Adel, Bürgertum und Bauerntum waren in spezifischer Weise mit der Kirche personell, organisatorisch und ökonomisch verbunden, so daß sie auf deren Gestaltung einwirken konnten. Deswegen war das seit dem 15. Jh. diskutierte Problem einer Kirchenreform keine bloß religiöse oder theologische Angelegenheit, konnte also nicht isoliert dogmatisch oder rechtlich gelöst werden. Bei der Reformation stellte sich auf beiden Seiten - bei den Neuerern wie bei den Verteidigern des Alten - die Frage, ob als Handlungsmotive jeweils Glaube und Lehre oder ökonomische Interessen die dominierende Rolle spielten. 4.1. Die ständische Gesellschaftsstruktur Die ständische Gliederung der Gesellschaft prägte Lebenswirklichkeit und Mentalität der Menschen. An der Spitze hinsichtlich des politischen Einflusses (auch auf die Kirche) und der sozialen Geltung stand der Adel, eine heterogene Schicht, die von den Fürsten der größeren Territorien über die Grafen und Herren mit Landeshoheiten bis zu den weniger begüterten Rittern reichte. Da die Lebens- und Herrschaftsgrundlage dieses obersten Standes agrarisch war, war der Bauernstand z. gr. T. von ihm abhängig. Dagegen war das ständisch differenzierte Bürgertum grundsätzlich zwar frei, stand aber trotz seiner großen Wirtschaftskraft an sozialer Geltung und politischer Mitwirkungsmöglichkeit dem Adel nach. Quer durch jene Schichten verlief die Zweiteilung der Gesellschaft in den weltlichen und den geistlichen Stand, die aufgrundder Verschränkungen beider in derselben Lebenswelt ein vielfältiges Konfliktpotential enthielt (vgl. 5.2). Die Ständeordnung wirkte sich hier u.a. in dem krassen Unterschied zwischen Adelskirche (in den geistlichen Fürstentümern, Stiften, Klöstern) und niederem Klerus aus. Für die Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht gab es eine ökonomisch begründete Durchlässigkeit bei der Bekleidung höherer Kirchenämter; ein sozialer Aufstieg war damit nur beschränkt gegeben, der generell in der Gesellschaft - mit Ausnahme der Stadtbevölkerung - kaum möglich war. 4.1.1 Die Bevölkerung in Deutschland betrug schätzungsweise ca.12 Mill. um 1500, ca.14 Mill. um 1550 (im Reich mit Böhmen und Niederlanden um 1500 ca.16 Mill.); sie lebte zu ca.80 Prozent auf dem Lande. Die ca.4.000 Städte waren z.gr.T. Kleinstädte oder Orte mit weniger als 1.000 Einwohnern, davon ca.l.OOO mit ca.l-2.000 Einwohnern (zumeist Ackerbürgern), ca.200 mit mehr als 2.000 und nur ca.25-40 mit mehr als 10.000 Einwohnern, darunter als größte Köln und Augsburg mit ca.40-60.000. Der starke Bevölkerungsanstieg bis 1550, verlangsamt bis 1618, und das - partiell unterschiedliche - Wirtschaftswachstum waren Indikatoren einer Umbruchszeit, in der jedoch die Masse der Land- und Stadtbewohner unter zunehmender Getreideverknappung und Preissteigerung (Teuerung) litt. Periodische Hungersnöte traten nach 1540 verstärkt auf. 4.1.2 Die gesellschaftliche Vorrangstellung und politische Macht des Adels ergab sich aus der geschichtlich bedingten Verteilung der Grundherrschaft seit dem Mittelalter (s. § 9; 1.1-3): Die meisten Ländereien gehörten - außer kirchlichen Institutionen wie Bistümern, Domkapiteln, Stiften, Klöstern - den Herzögen, Grafen, Herren und Rittern, bei denen es allerdings hin-
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sichtlich des Umfangs von Eigengütern und Lehnsbesitz beträchtliche Unterschiede gab. Diese wurden dadurch verstärkt, daß i. w. der Hochadel in seinen meist verstreut liegenden Gebieten eine organisierte Landeshoheit aufbaute, während der niedere Adel - v .a. die Ritterschaft durch den Wandel der staatlichen Verwaltung (Beamte) und des Kriegswesens (Söldnerheere) einen gesamtgesellschaftlichen Funktionsverlust erlitt. Die kg. Bedeutung dieses Sachverhalts liegt v.a. darin, daß der niedere Adel Einfluß auf das Kirchenwesen i.w. nur auf der Ebene des Patronats über Einzelgemeinden besaß, der Hochadel (Grafen und Fürsten) dagegen in weiterem Ausmaß (s. 3.2.2). 4.1.3 Anders als die freien Reichsstädte, die aristokratisch geführte Republiken (keine Demokratien) waren, unterstand die Mehrzahl der Städte einem geistlichen oder weltlichen Landesherren, besaß aber mehr oder weniger eine Selbstverwaltung: Die Ratsverfassung war ein typisches Merkmal der Stadt (kollegiale Leitung durch Ratsherren und Bürgermeister). Für deren Bürger bestand eine doppelte politische Bindung: eine vertikal-feudalistische an die Obrigkeit und eine horizontal-kommunalistische an die Gemeinde, die Gesamtheit der Bürger. Diese unterschieden sich durch das Bürgerrecht von den sonstigen Einwohnern, der Masse der Stadtbevölkerung, und standen durch den Bürgereid in einem besonderen Treueverhältnis zur Stadt und dessen Rat. Die Ratsobrigkeit entstammte zumeist der geschlossenen Gruppe der Patrizierfamilien; dagegen war die ökonomisch tragende Schicht der Kautleute und Handwerksmeister kaum an politischen Entscheidungen beteiligt. Der genossenschaftliche Charakter der Städte mit der spezifischen Integration von bürgerlichem und kirchlichem Leben erwies sich als wichtiger Ansatzpunkt für die Entwicklung der Reformation, zumal dann, wenn - wie vielerorts im 14./15.Jh. -soziale und politische Spannungen zwischen Rat und Gemeinde bestanden, d.h. der in Zünften organisierten Bürgerschaft, die bei bestimmten Grundsatzfragen wie z.B. Steuererhöhungen dem Rat als korporative Gesamtheit gegenübertrat. (Den Handwerkerzünften und Kaufmannsgilden entsprachen auf religiösem Gebiet die zahlreichen Bruderschaften; s. 5.1.3). Da eine Stadt wegen der Gefährdung ihrer Selbständigkeit durch Eingriffe von außen in besonderer Weise auf den inneren Frieden angewiesen war, konnten die Bürger durch Unruhen den Rat zu Konzessionen bewegen, oft sogar zu vermehrter Mitbestimmung. Dies war ein wesentlicher Faktor bei der Ausbreitung der reformatorischen Bewegung, die an traditionelle Konflikte der Stadtgemeinschaft mit dem Klerus (s. 5.2.3) anknüpfen konnte und durch die Konvergenz zwischen evangelischer Ekklesiologie (Gemeindeprinzip) und politischem Gemeindebegriff gestärkt wurde.
4.2 Bürgertum und Bauerntum Deutschland war im 16.Jh. noch weithin ein Agrarland, doch in Wirtschaft und Kultur dominierten die Städte. Das wirkte sich darin aus, daß die reformatorische Bewegung primär in den Städten entstand und in den ersten Jahren ihr Profil gewann, sekundär dann dorther auf die ländlichen Regionen ausstrahlte. Allerdings war die Landbevölkerung, zu der auch weite Teile des Adels und der Klöster gehörten, relativ früh beteiligt, wie sich signifikant im Bauernkrieg 1524/25 zeigte. Deswegen ist die zugespitzte Formulierung, die Reformation sei ein städtisches Geschehnis (urban event) gewesen, nur eingeschränkt zutreffend; sie stimmt insofern, als die Städte die Bildungs- und Kommunikationszentren waren und die führenden Köpfe der Bewegung stellten. Ihre ökonomische Bedeutung als Handelszentren - mit Kapitalkonzentration und Verfügung über Geld, das dem Adel weitgehend fehlte - verstärkte bei den größeren Städten Ausstrahlungskraft und Multiplikatorenfunktion: so v.a. Nürnberg neben Augsburg und Ulm als Brücken zwischen Italien/Süddeutschland und Norddeutschland sowie Nordosteuropa, ferner Straßburg als Angelpunkt zwischen Südwestdeutschland und den Niederlanden. Im Zeitalter des sog. Frühkapitalismus nahm Deutschland ca.1480-1550 eine ökonomische Spitzenposition in Buropa ein infolge der tech-
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nisch herausragenden Ausbeutung der Bodenschätze, der Geldgeschäfte und der Rationalisierung der Warenproduktion. Allerdings galt diese Prosperität nur für einige Regionen. Doch auch die Landwirtschaft erlebte seit 1500 einen Aufschwung, der aber hauptsächlich den adligen Grundherren zugute kam und zusammen mit der starken Bevölkerungsvermehrung - die Existenzprobleme der Bauern und des Landproletariats verschärfte. Als Folge der ökonomischen Situation ergaben sich gesellschaftliche Krisen: einerseits Konflikte zwischen der arbeitenden Landbevölkerung und den Grundherrschaften (Adel, Kirche/Kloster), die sich seit ca.1500 vermehrt in Bauernaufständen äußerten, andererseits Unruhen in den Städten durch Spannungen zwischen Handwerkern und Kaufleuten sowie zwischen diesen und der Ratsaristokratie. Durch die Verbindung mit der evangelischen Bewegung erhielten vielerorts die Krisen eine politische Bedeutung für den Verlauf der Reformation, die verstärkt wurde durch den gemeinsamen Gegensatz von Bauern und Bürgern gegen den privilegierten Klerus. Ein weiteres, ganz anders geartetes Element, das eine instrumentelle Voraussetzung für die Entwicklung der Reformation zur Massenbewegung bildete, war die Buchproduktion als ökonomisch relevanter wie als sozial prägender Faktor. Denn durch die Verbreitung des Buchdrucks ergab sich zunehmend die Möglichkeit, religiöse Inhalte einem größeren Publikum als bisher -freilich immer noch einer elitären Minderheit der Gesellschaft, die zumeist aus Analphabeten bestand - zu vermitteln. 4.2.1 Ökonomisch dominierten die Städte, obwohl die Landwirtschaft für das Alltagsleben der Mehrheit die größte Bedeutung besaß. Das war begründet in der Expansion und Effizienz der Geldwirtschaft gegenüber der Naturalwirtschaft. Diese basierten auf drei Faktoren, die die Bezeichnung Frühkapitalismus für das 16./17 .Jh. rechtfertigen: a) Durch technische Neuerungen in Bergbau und Hüttenwesen wurde die Gewinnung von Eisen, Blei, Kupfer und Silber in bestimmten Regionen - v.a. Sachsen, Thüringen, Böhmen, Tirol - im großen Umfang möglich, die wegen der enormen Kosten durch neuartige Kapitalgesellschaften getragen wurde; sie führte zu einer in Europa einmaligen Ausdehnung der Metallindustrie, die Deutschland viel Silber, Grundlage der nun vorherrschenden Geldwährung, und entsprechende Exportmöglichkeiten brachte. b) Die Verarbeitung dieser reich vorhandenen Rohstoffe sowie weiterer Produkte (v.a. Textilien) erfolgte zunehmend konzentriert in einer Gewerbe-Neuorganisation, dem sog. Verlagswesen, d.h. einer Kombination von Herstellung in koordinierten Handwerksbetrieben und Vertrieb durch Handelsunternehmen; die dadurch ermöglichte, von großen Kapitaleignern finanzierte Massenproduktion stieß auf eine durch das Bevölkerungswachstum gesteigerte Nachfrage. c) Der Handel erlebte durch die Verbesserung der Verkehrswege und durch die Zunahme der Geldgeschäfte (Ausbau des Bankwesens mit Krediten, Wechseln etc.) einen kräftigen Aufschwung, gefordert u.a. durch den steigenden Geldbedarf der Territorialfürsten z.B. für die Finanzierung von Söldnerheeren. Der Schwerpunkt der europäischen Finanzgeschäfte verlagerte sich ca.1500-50 von Norditalien nach Süddeutschland; die Handelsund Bankhäuser der Fugger und Weiser in Augsburg entwickelten sich zu ökonomischen Monopolen mit großem politischem Einfluß. Exemplarisch-historische Bedeutung für diesen Frühkapitalismus bekam Jakob Fugger (der Reiche, 1459-1525). -Unter kg. Aspekt sind die skizzierten Faktoren deswegen wichtig, weil sie zusammen mit anderen die ökonomische Basis einerneuen Epoche (einer allgemeinen Modernisierung) bildeten, deren Mentalitätswandel sich u.a. in der Reformation ausdrückte. 4.2.2 Die Situation der Bauern war entsprechend der jeweiligen Agrarverfassung regional sehr unterschiedlich, jedoch weithin durch ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung seitens der adligen Grundherren bzw. Gutsherren gekennzeichnet, die ihre im Feudalsystem begründeten Rechtsansprüche auf Abgaben und Dienste verstärkten. Ein freies, z.T. wohlhabendes Bauerntum gab es nur in einigen Regionen, z.B. Holstein, Nordwestdeutschland, All-
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gäu, Bayern, Tirol. (Auch die Rechtsform der Meier-Pächter auf Fronhöfen ermöglichte dort bessere Lebensbedingungen.) Am ungünstigsten verlief die Entwicklung seit dem 15.Jh. im Nordosten (Mecklenburg, Brandenburg, Pommern, Preußen u.a.), wo sich - im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Prosperität - der Typ der Gutsherrschaft herausbildete, der auf geschlossenem Großgrundbesitz die Leibeigenschaft der Bauern rigoros verstärkte und durch öffentlich-rechtliche Funktionen (v .a. Gerichtsherrschaft) die grundherrschaftliehen Rechte ergänzte. Der in Mittel- und Süddeutschland am stärksten verbreitete Typ der traditionellen Grundherrschaft weltlicher und geistlicher Herren ließ zwar den Bauern mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Er expandierte aber - mit dem Bemühen um Arrondierung des Streubesitzes und um Ausbau der öffentlichen Hoheitsrechte (Gericht, Polizei, Steuer) zur Territorialhoheit - seine Ansprüche, so daß es gerade in diesen Gebieten zu vielfältigen Konflikten kam: u.a. wegen Neubelebung der Leibherrschaft z.B. durch Einschränkung der Freizügigkeit und des Erbrechts (verstärkt durch die Realteilung, die zu unrentablen Kleinbetrieben führte), Ausdehnung der Zehntabgaben und Steuern, Abbau der genossenschaftlichen Selbstverwaltung in den Dörfern. Das Verbot der allgemeinen Nutzung der Wälder (für Bau- und Brennholz sowie Waldweide) und des Fischfangs in den Gewässern traf zumal die armen Kleinbauern und die grundbesitzlosen Unterschichten. Die Folge waren Bauernunruhen und -aufstände: so z.B. seit 1476 im Taubertal unter Hans Behem/Böhm, dem Pfeifer von Niklashausen, seit 1493/ 1502 am Oberrhein mit dem Bundschuh, seit 1514 in Schwaben mit der Bewegung des Armen Konrad. Man forderte größere Freiheit durch Rückkehr zum alten Rechtszustand unter Berufung auf die göttliche Gerechtigkeit (d.h. die Gleichheit aller). Diese Mentalität und der - aus der Ausbeutung durch Klöster und geistliche Herren resultierende - Antiklerikalismus schufen in weiten Kreisen eine Disposition für die Reformation. 4.2.3 Mit der Erfindung des Buchdrucks in beweglichen Lettern durch Johann Gutenberg (ca.l397-1468) in Mainz um 1445/50 veränderte sich die für Religiosität und Wissenschaft wichtige Buchproduktion radikal. Statt in geringer Anzahl durch Skriptorien - meist in Klöstern - konnte nunmehr die Literatur in größeren Stückzahlen kostengünstiger vervielfältigt werden. Neben Deutschland entwickelte sich Italien zum technisch führenden Produktionsgebiet, v.a. unter dem Einfluß des Humanismus, der die Buchverbreitung sehr förderte. Da die OffiZinen - zugleich Druckereien, Verlage und geistige Zentren -großen Kapitaleinsatz für Material und Technik sowie einen weiten Absatzmarkt erforderten, entstanden sie zumeist in größeren Handelsstädten (v .a. Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Basel, Lübeck); sie bildeten einen expandierenden Wirtschaftszweig. In der Frühzeit bis 1500 (der sog. Wiegendrucke/ Inkunabeln: ca.25-30.000 Werke in Millionen Stück) dominierten - bei meist traditionellen Texten und großen Formaten/Folianten - lateinische Bücher für Gelehrte und Kleriker; doch die volkssprachliche Erbauungsliteratur für Laien wuchs kontinuierlich an. Durch die Zunahme kleinformatiger, billigerer Ausgaben seit 1500 wurde das Buch zur Handelsware, die von reisenden Buchführern aufMessen und Märkten in den Städten vertrieben wurde. Es wurde aber auch zum bildungsgeschichtlich wichtigen Anreiz, die Lesefähigkeit zu verallgemeinern, was allerdings auf die Städte mit ihrem Schulwesen beschränkt blieb. Zum Massenmedium entwickelte sich das Buch erst mit dem gewaltigen Einfluß von Luthers Schriften seit 1518. 4.3 Literatur P. BUCKLE: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800, EDG 1, 1988. - R. VAN DÜLMEN: Kultur und Alltag in der Friihen Neuzeit, Bd.1-2, 1990-92. - R. ENDRES: Adel in der frühen Neuzeit, EDG 18, 1993. - F. MATHIS: Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, EDG 11, 1992. - B. MOELLER (Hg.): Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, 1978. - C. PFISTER: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500-1800, EDG 28, 1994. - H. RABE: Deutsche Geschichte (s. 3.3), 41-102. - H. SCHILLING: Die Stadt in der Friihen Neuzeit, EDG 24, 1993.
4. Soziale und ökonomische Voraussetzungen I 5. Religiöse und kirchliche Voraussetzungen
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5. Religiöse und kirchliche Voraussetzungen In der Zeit zwischen ca.1490 und 1520 kündigten sich vielfältige Umbrüche an. Es gab in Kirche und Religion mancherlei Krisenelemente, denen allerdings ein beträchtliches Potential an Stabilität und Kontinuität gegenüberstand. Gerade die kirchliche Situation war durch Widersprüchlichkeiten bestimmt: Kritik an Papst und Klerus stand neben grundsätzlicher Kirchentreue, Individualisierung und Moralisierung der Frömmigkeit neben sakramental-kultischer Institutionenbindung, starke Transzendenzorientierung neben lustvoller Diesseitigkeit. Zwar erlitt das traditionelle System kirchlicher Heilsvermittlung einen Plausibilitätsverlust, aber es wurde höchstens von wenigen Außenseitern grundsätzlich in Frage gestellt. Die religiöse Hochkonjunktur, die sich in einer imposanten Fülle kirchlicher und privater Frömmigkeitsformen äußerte, implizierte objektive Mangelerscheinungen und subjektive Insuffizienzempfindungen. Die Menschen jener Epoche wurden beunruhigt von tiefer Angst vor Tod und Gericht und waren weithin gequält durch konkrete Nöte. Andererseits entfalteten sie auch im religiösen Bereich einen kräftigen Aktivismus. Die Weltzuwendung jener Epoche fand ihre bedeutsamste Ausformung in Renaissance und Humanismus.
5.1 Ambivalenz der vorreformatorischen Frömmigkeit Weiche Gestaltungskraft die christliche Religion mit ihrer Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten - auch durch weitgehende Integration in die Institution Kirche bot, zeigte das Nebeneinander von individuellen und rituellen Frömmigkeitsformen. Es wäre verfehlt, jene Epoche als Verfallszeit zu klassifizieren; vielmehr kann man das Vorreformatorische an ihr als eigentümliche Mischung von Veräußerlichung und Verinnerlichung, Degeneration und Innovation, Sinnentleerung und Relevanzbemühung verstehen. Es war eine lnkubationssituation, in der die alten Formen eine generelle Disposition für Neues enthielten. Das auffälligste Merkmal bei fast allen religiösen Äußerungen war die Bestimmung des Menschen als des entscheidenden Handlungssubjekts, das sein Heil durch Anhäufung frommer Leistungen erstrebte. Dies entsprach der dogmatischen Überbewertung der von Gott geforderten guten Werke als der Verdienste, die das ewige Seelenheil erwerben konnten. Man hat deshalb von einer religiösen Leistungsgesellschaft gesprochen. Doch in dieser Mentalität steckte z. T. die Tendenz zur Frustration: Gerade die massierte Häufung religiöser Aktivitäten erzeugte das Gefühl, nicht genug zu leisten, um vor dem göttlichen Gericht bestehen zu können, so daß man sich um immer mehr gute Werke bemühte. Das machte sich, differenziert nach persönlicher Leistungsfähigkeit, auf verschiedenen Gebieten bemerkbar. Ein weites Betätigungsfeld boten die frommen Stiftungen, zumal für die Wohlhabenden; sie umfaßten den ganzen Bereich der religiösen Architektur und Kunst (z.B. Seitenkapeilen und Nebenaltäre in den großen Kirchen, Heiligenstatuen, Tabernakel und Gestühl, Meßgeräte und Leuchter), in geringerem Umfang auch die Armenfürsorge. In den Städten traten als Stifter neben reichen Familien die verschie-
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denen Bruderschaften hervor, die damit die religiöse Orientierung ihrer ansonsten diesseitigen Geselligkeit ausdrückten; auf diese Weise konnten sich auch ärmere Gesellschaftsschichten an großen Stiftungen beteiligen. Die religiöse Basis der meisten Stiftungen war die Praxis der Seelenmessen, die in der Verbindung von Meßopfer- und Fegfeuerlehre begründet war (s. § 5; 12.2). Für jedermann boten die Wallfahrten vielfältig gestufte Möglichkeiten des religiösen Engagements - je nach Entfernung des Pilgerziels mit unterschiedlichen Mühen verbunden - und Belohnung dafür durch Ablässe. Das Ablaßwesen besaß hier seinen eigentlichen Sitz im Leben, doch es war durch die ausufernde Praxis der Kaufablässe entstellt worden. (Näheres dazu s. § 8; 12.3.) Die Sorge um das ewige Seelenheil, die auch das Stiftungswesen fundierte, war in einer Zeit wachsender Bedeutung des Geldes das Motiv, welches zur Verbreitung der Möglichkeiten beitrug, sich transzendente Sicherheit zu erwerben. Eine derartige Verlagerung vom persönlichen Einsatz auf verdinglichte Automatismen machte sich auch im Heiligen- und Reliquienkult bemerkbar. Es gab für alle Bereiche und Probleme des täglichen Lebens Heilige, die man als Beschützer, Helfer und Fürsprecher bei Gott anrief. Die Heiligenbilder waren mit Reliquien verbunden, auch unabhängig davon blühte der Reliquienkult (z.B. die Verehrung von Partikeln des Kreuzes Christi), der von einer naiv-massiven Wundersucht und vom Ablaßglauben lebte. All diese Formen von Veräußerlichung unterlagen zunehmender Kritik, welche statt der kultischen Konzentration der Frömmigkeit eine moralische und meditative forderte. Es gab seit dem 15.Jh. starke Strömungen einer individualisierten Religiosität, nicht nur in den Kreisen der Devotio moderna (s. § 6; 16.3), sondern auch in bestimmten Schichten des Bürgertums und Adels. Diese pflegten anhand verbreiteter Erbauungsliteratur, v. a. seit dem Aufschwung des Buchdrucks, eine persönliche Religiosität im Privatbereich, ohne sich der institutionellen Heilsvermittlung zu entziehen. Inhaltlich handelte es sich weithin um eine Passionsund Marienfrömmigkeit. Gerade die Blüte der Marlenverehrung gab ein instruktives Beispiel für die Ambivalenz der vorreformatorischen Frömmigkeit, weil hier veräußerlichter Ritualismus (z.B. in der Häufung der Kultbilder und der Andachtsformen) und persönliche Herzensfrömmigkeit besonders stark neben- und ineinander lagen. 5.1.1 Neben dem allgemeinen Meßgottesdienst bildeten die zahlreichen Privatmessen den Kern des kirchlichen Lebens. Deren Praxis war dadurch bestimmt, daß wohlhabende Gläubige einer Kirche ein beträchtliches Kapital stifteten oder testamentarisch vermachten, damit dort nach ihrem Tod zu genau fixierten Zeiten für sie privat eine Seelenmesse gehalten würde, die ihnen durch rekonziliatorisches Opfer und Fürbitte den Weg aus dem Fegfeuer (dem jenseitigen Ort der Reinigung von Sünden und der Tilgung von Strafen) in die ewige Seligkeit verkürzen sollte. Diese Messen hielten Priester/Altaristen - zumeist Vikare, Offizianten und Kommendisten -, die dafür aus den Kapitalzinsen eine Vergütung erhielten. Das hatte zur Folge, daß sich mit der Häufung von Meßstiftungen (Vikarien!Memorien) und Seitenaltären im 15.Jh. die Zahl dieses recht armen niederen Klerus, der keine regulären Pfründen besaß, kräftig vermehrte (sog. Meßpfaffen). An jedem größeren Gotteshaus, wo den ganzen Tag solche Stillmessen gelesen wurden, amtierten Dutzende dieser Priester, z.B. 78 in der Lübecker Marienkirche an 38 Privataltären oder 122 an den 47 Altären derBreslauer Elisabethkirche; in allen Kölner Kirchen und Kapellen z.B. gab es täglich ca.l.OOO Privatmessen, in der Wit-
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tenberger Schloßkirche immerhinjährlich fast 9.000. Weniger Wohlhabende stifteten geringere Summen, um während der regulären Messe im Fürbittengebet - dem Totengedächtnis/der commemoratio mortuorum - namentlich oder pauschal genannt zu werden. Oder sie nutzten die Möglichkeit, im Rahmen einer Bruderschaft an einer Kollektivstiftung beteiligt zu sein. 5.1.2 Aus der Meßfrömmigkeit und aus dem blühenden Heiligenkult resultierten i. w. der gewaltige Ausbau und die kunstvolle Ausschmückung der Kirchengebäude, die noch um 1500/20 zahllosen Handwerkern Beschäftigung boten, also auch - wie die Dotierung der Meßpfaffen - ein wichtiger Wirtschaftsfaktor waren. Die heutigen Reste dieser kirchlichen Kunst vermitteln noch eine Vorstellung von jener Blüte der Volksfrömmigkeit. Da für diese Gott v.a. als ferner Weltenlenker und Christus v.a. als Weltenrichter galten, deren Zorn man fürchtete, gewannen die Heiligen als Mittlerinstanzen/Fürsprecher ebenso wie als Lebensbegleiter große Bedeutung, zumal sie mit allen Getauften als Namenspatrone persönlich verbunden waren. Sie standen dem Alltag nahe, wie sich u.a. auch an ihrer Tracht zeigen konnte. Sie vermittelten Unterstützung in konkret-diesseitigen Fällen z.B. bei Krankheit, Ernte, Feuers- oder Wassersnot (insbesondere die 14 Nothelfer, deren Verehrung sich im 15.Jh. stark verbreitete). Eine Zentralstellung nahm die Marienverehrung ein. Das zeigten z.B. die zahlreichen Madonnenstatuen und die Fülle von Marienandachten und -festen, marianischen Hymnen und Gebeten, kirchlichen und privaten Kultbildern. Als verbreitetster volkstümlicher Gebetstyp trat neben das Vaterunser das AveMaria, eine Kombination von Lk 1,28 und 1,42 mit dem bedeutsamen Zusatz Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Mit ihm verband sich als spezifische Praxis zum Gedächtnis der Erlösung das Rosenkranzgebet/rosarium mit i.d.R. 59 Perlen, in dem die Rose als Ausdruck der Lebensfreude und Heilkraft zum Symbol Marias als Spenderin himmlischer Freude und Begnadung wurde. Maria repräsentierte für die allgemeine Mentalität als Himmelskönigin die göttliche Zuwendung in Barmherzigkeit; sie galt als die wichtigste Fürsprecherin bei Gott/Christus. Als Annex ihrer Verehrung entwickelte sich der Annakult so enorm, daß Marias Mutter zutreffend als die Modeheilige des 15.Jh.s bezeichnet worden ist; denn sie verkörperte Mütterlichkeit und Menschlichkeit im Kontakt zur göttlichen Sphäre, wie es v.a. die beliebten Andachtsbilder der Anna seihdritt (mit Maria und Jesus) darstellten, und sie galt als Helferin in vielerei Nöten. 5.1.3 Die extensive Religiosität des späten 15.Jh.s äußerte sich auch in einem Phänomen, das sowohl aus gesellschaftlichen Bedürfnissen als auch aus der Sorge um das Seelenheil resultierte und mit Meßstiftungen sowie Heiligenkult zusammenhing: in den zahlreichen, nach Ständen und Berufen differenzierten Bruderschaften, die v .a. in den Städten entstanden. Es waren Zusammenschlüsse meist von Handwerkern und Kaufleuten in Entsprechung zu Zünften und Gilden (aber auch von Klerikern). Sie dienten v .a. dem feierlichen Begräbnis und gottesdienstlichen Totengedächtnis der Mitglieder (um 1500 z.B. in Harnburg ca.100, in Lübeck ca.70-80). Sie wählten sich einen Heiligen als Patron und waren an einer Pfarr- und Klosterkirche domiziliert, die sie für die von ihnen gestifteten Messen mit Altären und anderen Kunstwerken/Kultgegenständen ausstatteten. Ihre soziologische Bedeutung lag u.a. darin, daß hier auch die kleinen Leute wie Handwerksgesellen kirchlich aktiv werden konnten, daß ein spezifisches Gemeinschaftsbewußtsein gepflegt wurde, welches sich z.B. in Unterstützungskassen für Hinterbliebene und Kranke ausdrückte, und daß z.T. eine über die Bruderschaft hinausreichende Armenfürsorge praktiziert wurde. 5.1.4 Für die Volksreligion im spezifischen Sinne, d.h. die sozialgeschichtlich relevante, nicht eindeutig christliche Frömmigkeit am Rande der Institution Kirche spielten Wundersucht und Aberglaube eine große Rolle. Diese verbanden sich z.B. mit dem ausufernden Reliquienkult, wo Devotion und Betrug ineinandergriffen. Bevorzugte Reliquien/ Heiltümer waren - neben den zahllosen Gebeinen der Heiligen/Märtyrer - Partikel von Christi Kreuz, Rock, Dornenkrone, Blut und Schweiß, aber auch von der Muttermilch Marias, der Krippe und den Windeln Jesu. Da sie ein teures Handelsobjekt waren, stellte man sie in kostbaren Monstranzen aus. Begüterte Kirchen, Klöster und Fürsten legten sich umfangreiche Sammlungen zu, so der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der in Wittenberg bis 1520 ca.19.000 Reliquienpartikel sammelte. Der damit verbundene religiöse Zweck war der Ablaß, den man durch andächtiges Beschauenjeder Reliquie erwerben konnte (i.d.R. 40 oder 100 Tage Nachlaß der unbekannten Dauer des Aufenthalts im Fegfeuer). Je mehr Reliquien ein Kirchengebäude besaß, desto
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größer war die Möglichkeit, dort Ablässe - meist ohne Kauf, für Gebet und milde Gaben gehäuft zu erhalten. Die zahlreichen Wallfahrtsorte, die überall für Pilger mit geringer Anreise zu erreichen waren, verdankten meist ihren Reliquien die Anziehungskraft; größte Attraktivität besaßen einige Orte mit besonders wunderkräftigen oder ablaßhaltigen Reliquien wie z.B. Wilsnack/Mark Brandenburg mit dem heiligen Blut, d.h. Wunderhostien, oder Trier mit dem heiligen Rock Christi. 5.1.5 Demgegenüber blieb die private Frömmigkeitspflege mit Hilfe der Erbauungsliteratur - neben der Kunst, z.B. Andachtsbildern und Hausaltären - auf die kleinen Kreise der Lesekundigen beschränkt. Doch sie war ein Indikator für allgemein verbreitete Bedürfnisse. Einige Beispiele seien genannt. Große Verbreitung fanden - zumal seit den Druckausgaben - die Heiligenlegenden als Anleitung und Vorbild für ein religiöses Leben, v .a. die Legenda aurea des Jakobus de Voragine von ca.1263-73. Entsprechendes galt für die auf Jesus Christus bezogene Passions- und Demutsfrömmigkeit (v .a. die Nachfolge Christi des Thomas a Kempis; s. § 6; 16.3.1-2) sowie für die poetischen Darstellungen des Marienlebens und die Marienlegenden. Der geistlichen Selbsterkenntnis und moralischen Läuterung diente die verbreitete Gattung des Spiegellspeculum, z.B. Spiegel der Tugenden, ebenso die reiche Meditationsliteratur (vgl. dazu z.B. § 6; 16.3.3). Vielgestaltig war die Trostliteratur für Nöte und Anfechtungen, insbesondere die verschiedenen Texte der Ars moriendi, der Vorbereitung auf das rechte Sterben. Für die häusliche Andacht gab es Gebetssammlungen, Perikopenbücher!Plenarien und zahlreiche Bibel-Teildrucke, v.a. des Psalters. Aus der Zahl der Druckauflagen kann man folgern, daß es für solche Literatur ein relativ großes Lesepublikum gab - ein Anknüpfungspunkt für die erstaunliche Verbreitung von Luthers frühen Schriften, der auf die Frömmigkeitspraxis bezogenen Sermone. 5.1.6 Dem entsprach in der Praxis die wachsende Beliebtheit der volkstümlichen Predigt. Die Zahl der Predigtstiftungen und Prädikantenpfründen in den Städten nahm zu, damit auch die Zahl spezieller Predigtgottesdienste. Art und Inhalt der Predigten befriedigten zwar meist nicht die religiösen Interessen der Laien, aber sie zeigten, daß diese als kritische Hörerschaft eine neue Form von Öffentlichkeit bildeten, der die Konzentration auf kultischen Ritualismus nicht mehr genügte - eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung der reformatorischen Verkündigung. Einer der bedeutendsten vorreformatorischen Prediger war der humanistisch geprägte Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510), der seit 1478 am Straßburger Münster wirkte, starken Zulauf fand und durch posthume Drucke in die Breite wirkte. Auf große Nachfrage stieß die Predigtliteratur, die sich z. T. auf spezielle Themen konzentrierte, z.B. Passion, Sünden und Tugenden, Gebote, Vaterunser, Credo.
5.2 Vorreformatorische Kirchenkritik und Antiklerikalismus Die offenkundigen seit langem monierten Mißstände (vgl. § 8; 13.0; 14.0) bildeten ein zentrales Thema der verbreiteten, auf Reformen zielenden Kirchenkritik. Diese attackierte - z. T. mit großer Schärfe - das persönliche Fehlverhalten der verweltlichten Geistlichkeit, berührte mit der Benennung genereller Mängel auch Strukturprobleme, tangierte jedoch nicht die ekklesiologischen Grundlagen: die Leitungsgewalt des Papstes und der Bischöfe, die Amtsheiligkeit der Priester, die Wirksamkeit der durch diese verwalteten Sakramente, die prinzipielle Gültigkeit des Kirchenrechts. Die sog. "Gravamina der deutschen Nation", Kataloge von Beschwerden über die finanzielle Ausplünderung durch die Kurie und die Willkür der kirchlichen Gerichtsbarkeit, standen im Blick auf das Papsttum im Vordergrund. Beim hohen und niederen Klerus kritisierte man die systematische Vernachlässigung des Eigentlichen: Die Bischöfe und Prälaten kümmerten sich nur noch um ihre weltliche Herrschaft, nicht aber um die Aufsicht über Klerus und kirchliches Leben; die Pfarrer wären i. w. nur noch Pfründenfresser ohne Betätigung in Kultus und Seelsorge, die übrigen Kleriker ungebildete, geldgierige
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Meßpfaffen. Der Vorwurf der allgemeinen Unmoral traf außer den vielen Weltklerikern, die im Konkubinat lebten, auch die Ordensleute, die es weithin an monastischer Zucht, klösterlichem Gemeinschaftsleben und persönlicher Armut fehlen ließen. Mannigfaltig ertönten Klagen über die finanzielle Ausbeutung durch den Pfarrklerus (z.B. erhöhte Zehntabgaben und Stolgebühren) sowie über das gesellschaftliche Parasitenturn des viel zu zahlreichen geistlichen Standes. Die Träger der Kritik waren meistens selbst Kleriker oder Mönche, nur im geringeren Maße Laien. Zu einer generellen Ablehnung des kirchlichen Systems wuchs dieser stark verbreitete Antiklerikalismus vor 1520 nicht an, jedoch war er ein wichtiges Element, das in der allgemeinen Mentalität eine Disposition für die reformatorische Kritik vorbereitete. 5.2.1 Im Zusammenhang der Kirchenreformbemühungen des 15.Jh.s spielten die Gravamina, die Beschwerungen der Reichsstände durch das Papsttum, seit 1456 eine wichtige politische Rolle (vgl. § 9; 11.2.4): u.a. die päpstlichen Stellenreservationen und Eingriffsmöglichkeiten bei Bischofswahlen, die Pfründenvergabe und Gebührenpraxis (z.B. Annaten), die römische Zentralisierung vieler Prozesse gegen Geistliche. (Zum Ganzen s. auch § 8; 11.1.2; 12.1.1.) Kaiser Maximilian I. benutzte seit 1497 die Gravamina als Druckmittel in seinem Kampf gegen den Papst, die Humanisten machten sie zum Gegenstand ihrer antirömischen Propaganda. 1518-26 waren sie ein Dauerthema bei den Reichstagsverhandlungen; 1521 stellten in Worms die weltlichen Stände 102 Artikel zusammen, welche erstmals unter den Mißbräuchen auch die Auswüchse der geistlichen Gerichtsbarkeit und der Kirchenstrafen in Deutschland, die Geldgier und Unmoral des hohen und niederen Klerus aufführten. Luthers Aufnahme dieser Thematik in sein reformatorisches Programm 1520 (s. 8.2) trug erheblich zur Popularisierung bei und gab der Reformation einen kirchenpolitischen Akzent. 5.2.2 Zahlreiche Quellen belegen, daß Antiklerikalismus seit ca.1500 verbreitet war. Wenn Forscher in ihm eine wesentliche Wurzel der Reformation sehen, dann ist das nur z.T. zutreffend. Die reformatorische Kritik an der Papst- und Klerikerkirche war nicht Ausgangspunkt, sondern Folge der evangelischen Verkündigung (Rechtfertigung allein wegen Christus, allein durch den Glauben). Sie hat dieser aber - zusammen mit der Anwendung des Schriftprinzips - bei der Veränderung des kirchlichen Lebens eine konkretisierende Dynamik gegeben. Erst die grundsätzliche Ablehnung des traditionellen Sakraments- und Amtsverständnisses, zumal der Kampf gegen das Meßopfer, die im vorreformatorischen Antiklerikalismus nicht präformiert waren, gaben der Klerikerkritik eine Wendung zur generellen Institutionenkritik. Umgekehrt verstärkte das seit längerem vorhandene Unzufriedenheitspotential die Durchschlagskraft der reformatorischen Argumentation, so daß man den Antiklerikalismus - unterschiedlich motiviert und ausgeprägt bei Bürgern, Bauern und Fürsten - als wichtige sozialgeschichtliche Voraussetzung und Verstärkung für die theologischen Impulse der Reformation werten muß. 5.2.3 Für die Anfänge der reformatorischen Bewegung in vielen Städten war wichtig, daß es dort seit dem 15 .Jh. immer wieder Konflikte um das Pfarrerwahlrecht, die Schulträgerschaft und die Klerikerimmunität (Befreiung von städtischen Steuern, Lasten, Gerichtsbarkeit) gab zwischen Bürgern und Geistlichkeit. Da diese Konflikte wesentliche Strukturen des traditionellen Kirchenwesens betrafen, machte in vorreformatorischer Zeit der Klerus nur ausnahmsweise Konzessionen. Anders stand es mit den Klagen über moralische DefiZite, die die Laien wegen des Widerspruchs zwischen Theorie und Realität für relevant ansahen (heimlicher oder öffentlicher Konkubinat einschließlich Kinderzeugung, Trunksucht, Verweltlichung des Lebensstils, Unbildung), sowie mit den Klagen über die Pflichtenvernachlässigung der Pfarrer (mangelnde Präsenz, permanente Vertretung durch Vikare/OffiZianten, Verkümmerung von Predigt und Seelsorge/Beichte). Hier versprachen Diözesansynoden und andere Leitungsorgane fast ständig Reformen, doch deren Verwirklichung blieb aus.
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5.2.4 Schweren Anstoß nahm man an der allgemeinen Ämter- und Pfründenkumulation im hohen wie im niederen Klerus. Diese institutionalisierte Form des sprichwörtlichen Geizes/der Geldgier der Kirche offenbarte die Verweltlichung (geistliches Amt als einträgliches Geschäft) besonders kraß. Dem Adel und dem bürgerlichen Patrizierturn blieben die großen Pfründen vorbehalten (Bistümer, Domkapitel, Stiftspropsteien, Abteien etc.). Der im weltlichen Bereich üblichen Nutzung mehrerer Grundherrschaftsbezirke, Territorien, Ländereien oder Kapitalbeteiligungen entsprach die Vereinigung verschiedener Pfründen/Präbenden in der Hand eines geistlichen Fürsten, z.B. mehrerer Domherrenstellen oder gar Bistümer (vgl. 7.3 .1 zu Albrecht von Mainz). Auf der Ebene darunter sammelten Kleriker gut dotierte Pfarrstellen und Vikarien, wobei sie die damit verbundenen Amtspflichten schlecht bezahlten Vertretern übertrugen. Die unterste Ebene bildeten derartige Meßpfaffen, die nur durch die Wahrnehmung mehrerer schlecht bezahlter Vikarien und kleiner Meßstipendien (s. 5 .1.1) existieren konnten, ein immer zahlreicher werdendes Klerikerproletariat, das in den Städten zusammen mit den Bettelorden oft ein Zehntel der Bevölkerung ausmachte. 5.3 Literatur A. ANGENENDT: Heilige und Reliquien, 1994, 123-235. - DERS.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 1997. - P. DINZELBACHERID.R. BAUER (Hg.): Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, 1990. - R. VAN DÜLMEN: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd.3: Religion, Magie, Aufklärung, 1994, 55-106. - H.J. GOERTZ: Antiklerikalismus und Reformation, 1995. - DERS.: Pfaffenhaß und groß Geschrei, 1987, 15-68. - J. LORTZ: Die Reformation in Deutschland, 6.A. 1982, 69-138. - B. MOELLER: Frömmigkeit in Deutschland um 1500, ARG 56 (1965) 5-31; abgedr. in: Ders.: Die Reformation und das Mittelalter, 1991, 73-85.
6. Geistige Vorbereitung: Der Humanismus Der Humanismus hat den Verlauf der Reformation wesentlich beeinflußt, weil er in wichtigen Bevölkerungsgruppen eine vorbereitende Disposition geschaffen hat. Sein Kommunikationsnetzwerk trug in der Frühzeit entscheidend zur Verbreitung reformatorischer Ideen sowie zum Aufbau eines Multiplikatorenkreises bei. Durch ihn waren zahlreiche Reformatoren geprägt, die in deutschen Städten und Territorien den Umschwung vorantrieben. Allerdings war er eine komplexe Größe, was schon daran deutlich wird, daß viele Humanisten sich nicht der Reformation anschlossen. Er war eine von programmatischen Grundgedanken ausgehende Bewegung, die sich zunächst v.a. auf Literatur und Bildung konzentrierte, dann z.T. eine neue Praxisgestaltung in Staat, Gesellschaft und Kirche intendierte. Sein Trägerkreis war eine Elite von Gelehrten und Gebildeten in vielen Städten, an einigen Universitäten und Fürstenhöfen. Sozialgeschichtlich hing er eng mit dem Bürgertum zusammen, kulturgeschichtlich war er ein Teil der Renaissance. Die charakteristische Parole "Ad fontes/Zu den Quellen!" drückte nicht nur das historisch-philologische Interesse der Humanisten aus, sondern eine Grundeinstellung: In der griechischen und römischen Antike liegen die Quellen des abendländischen Geisteslebens, die in der Gegenwart neu zum Sprudeln gebracht werden müssen.
6.1 Neuorientierung von Bildung und Geistesleben In Italien verbreitete sich seit dem 14.Jh. mit der Renaissance eine Mentalität, welche einerseits durch neue Diesseitsorientierung und Weltlichkeit, andererseits durch Wiederentdeckung der antiken Literatur, Bildung und Kunst die für das mittelalterliche Leben typische kirchlich-christliche Prägung hinter sich ließ. Sie
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erfaßte weite Teile Europas und war dort - wie in Deutschland - eine wesentliche Voraussetzung der Reformation (s. § 13; 1.4). Ihre Auswirkungen zeigten sich signifikant darin, daß man sich intensiv mit den Texten des griechischen und römischen Altertums - zumal Platons und Ciceros - ohne die bis dahin dominierende christliche Adaption befaßte. Italienische Einflüsse wirkten seit Mitte des 15.Jh.s in Deutschland auf einzelne Denker. Die frühe humanistische Bewegung begann sich hier seit ca.1480 als progressives Kommunikationsnetz zu formieren (in Freundeskreisen und durch planmäßige Korrespondenz). Sie wollte ein neues nichttheologisches Bildungsprogramm in die Praxis umsetzen: v.a. eine Reform der lateinischen Sprache und die Beschäftigung mit Philologie, Rhetorik, Philosophie, Geschichtswissenschaft sowie Poetik. Etliche Lateinschulen und einige Universitäten öffneten sich seit 1500 verstärkt dem neuen Ideal, das in Nürnberg, Augsburg und Straßburg ein geistiges Klima mit großer Ausstrahlungskraft schuf und über das neue Massenmedium des Buchdrucks breitere Kreise beeinflußte. Von Anfang an spielte - gerade im Gegenüber zu Italien - die Pflege des deutschen Nationalbewußtseins bei einigen Repräsentanten der Humanistenbewegung eine Rolle. Das verband sich mit den Gravamina (s. 5.2) und wurde für die Ausbreitung der Reformation wichtig, als man hier Luther zunächst als deutschem Nationalhelden im Kampf gegen das Papsttum folgte. Seit ca.1500 wurde neben der vorwiegend gelehrt-literarischen Betätigung als zweite Tendenz das praktische Engagement im politischen Bereich, zumal in den Reichsstädten, einflußreich. 6.1.1 Erst seit dem 18.Jh. ist Humanismus als allgemeiner Begriff, seit dem 19.Jh. als Epochenbezeichnung verwandt worden. Wesen und geistesgeschichtliche Herleitung dieses - von späteren humanistischen Positionen zu unterscheidenden - Renaissancehumanismus sind von der Forschung unterschiedlich bestimmt worden. Gemeinsam war die zentrale Bedeutung der studia humanitatis bzw. studia humaniora (s. § 13; 1.4). Am Anfang der Bewegung stand in Deutschland der - nach langem Italienaufenthalt - u.a. an der Heidelberger Universität wirkende Pädagoge Rudolf Agricola (1444-85), der sich gegen die scholastische Lehrmethode wandte. Der Humanismus fand gegen die scholastische Herrschaft an den im Bildungswesen dominierenden Universitäten nur mühsam und partiell nach 1500 einen Platz, v.a. durch neue Lehrstühle für lateinische und griechische Sprache, Poetik und Rhetorik. In diesem Sinne propagierte Agricolas Schüler Conrad Celtis (1459-1508), der ebenfalls in Italien humanistische Impulse erhielt, zunächst als Wanderlehrer in Deutschland das neue Bildungsideal gegen die herrschende Barbarei der Scholastiker. Er organisierte Kontakte von dessen Anhängern in gelehrten Genossenschaftenlsodalitatesund wirkte als Professor für Poetik und Rhetorik in Ingolstadt und seit 1498 in Wien, wo er - unterstützt durch Kaiser Maximilian I. - in Konkurrenz zur Universität ein humanistisches Collegium gründete. Er war hauptsächlich ein Dichter (z.B. der Amores/Liebesgedichte 1502) und Repräsentant eines dem Christentum abgekehrten Humanismus. Der Wiener Humanistenkreis blieb unter seinem Nachfolger Johannes Cuspinianus (1473-1529), einem Rhetor und Historiker, der im Dienste Maximilians auch politische Missionen in Ungarn und Polen übernahm und dort die Ausbreitung des Humanismus forderte, führend in der Gesamtbewegung. 6.1.2 Ein zweites Zentrum bildete sich mit dem Elsässer Humanistenkreis in Südwestdeutschland um den Theologen, Pädagogen und Geschichtsschreiber Jakob Wimpfeling (1450-1528) in Schlettstadt und Straßburg. Dieser propagierte noch stärker als Celtis die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte und Literatur und vertrat damit eine erste Form des humanistischen Nationalismus. Außerdem polemisierte er gegen die römische Kurie sowie die unmoralischen, ungebildeten Kleriker und faßte 1511 im Auftrag Maxirnilians I. die deutschen Gravamina zusammen. Wie er setzten sich seine Freunde literarisch für eine sittliche Verbesserung der Ge-
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sellschaft ein. Durch scharfe Sozialkritik trat neben dem Straßburger Prediger Geiler von Kaysersberg (s. 5.1.6) der populäre Schriftsteller Sebastian Brant (1457-1521) in Basel und Straßburg hervor, welcher neben zahlreichen Flugschriften mit seinem satirischen Narrenschiff (1494/97; versch. dt. Ed., z.B.: F. Zarncke, 1854; ND 1964) in die Breite wirkte und z.T. der Rezeption reformatorischer Kritik an Mißständen vorarbeitete. 6.1.3 Die süddeutschen Reichsstädte als drittes Zentrum, voran Nürnberg und Augsburg, machten deutlich, wie stark die geistig-kulturelle Ausstrahlung mit der ökonomischen Leistungsfähigkeit des Bürgertums zusammenhing. Hier wie - weniger kompakt - in anderen Städten waren die humanistischen Reformideen mit der politischen und administrativen Realität verbunden, einflußreich v.a. im Schulwesen und in der Publizistik. Charakteristisch für die Humanistenzirkel in ganz Deutschland war das Bemühen, durch systematischen Briefwechsel, der z.T. für die Publikation gedacht war, enge Kontakte durch den Gedankenaustausch über Wissenschaft und Bildung zu pflegen. Conrad Peutinger (1465-1547), in Italien als Jurist ausgebildet und von der Renaissance beeinflußt, als Stadtschreiber in Augsburg ein einflußreicher Politiker, Theoretiker des Frühkapitalismus, gelehrter Sammler und Editor (z.B. von germanischen Geschichtsquellen und römischen Inschriften), koordinierte die Kontakte der Humanisten im oberdeutschen Raum. Noch bedeutsamer wirkte der ebenfalls in Italien ausgebildete Nürnberger Patrizier und Ratsherr Willibald Pirckheimer (1470-1530), um den sich ein weites humanistisches Kommunikationsnetz in Süddeutschland spannte. Seine Kritik an den kirchlichen Mißständen machte ihn zunächst zum Sympathisanten der Reformation; zu Kirche und Dogma stand er in tiefer Distanz. Seine gebildete, fromme Schwester Caritas Pirckheimer (1467-1532), Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters, korrespondierte mit etlichen Humanisten. Zum Pirckheimerkreis gehörte auch der seit 1495 in Nürnberg wirkende Maler und Graphiker Albrecht Dürer (14 71-1528), dessen Kunst und theoretisches Schrifttum das humanistische Menschenbild mit herausragendem Profil reflektierten (vgl. 9.4.7). 6.1.4 Als Träger des humanistischen Reformpotentials spielten seit 1500 Universitäten zunehmend eine Rolle. Neben Wien, Basel und Freiburg bildete der Erfurter Humanistenkreis ein Zentrum, vereinzelt fand die neue Bewegung auch andernorts Vertreter, insbesondere an der 1502 gegründeten Universität Wittenberg. In Erfurt wirkten zunächst humanistische Wanderlehrer im Geist der italienischen Renaissance; sie beeinflußten Juristen und Mediziner und regten in der philosophischen Fakultät das Studium der alten Sprachen an. Dieses intensivierte seit 1500 im bewußten Gegensatz zum scholastischen Lehrprogramm Nikolaus Marschalk (gest. 1525), der 1502-05 in Wittenberg lehrte. Geistiger Anreger eines für die heidnische Antike engagierten Bundes wurde seit 1505 der in Gotha tätige Rhetoriklehrer Conrad Mutianus (gen. Rufus, 1470-1526), der über Erfurt hinaus wirkte und neben Reuchlin und Erasmus als Humanistenführer großes Ansehen genoß. Bobanus Hessus (1488-1540) leitete seit 1511 den Kreis, dessen Ideen z. T. auch die philosophische Fakultät beeinflußten, v .a. Jodokus Trutfetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen, die Lehrer Luthers (s. § 14; 2.1.2).
6.2 Praktisches Christentum und Kirchenkritik Zum humanistischen Reformprogramm gehörte seit ca.1500 die Auseinandersetzung mit den Mängeln des Kirchensystems und mit der Lebensfremdheit der scholastischen Dogmatik. Allerdings blieb der deutsche Humanismus im Unterschied zum italienischen zumeist stärker der christlichen Tradition verbunden, auch wenn seine Haltung zu Kirche und Theologie nicht einheitlich war. Etliche Humanisten standen der Devotio moderna (s. § 6; 16.0-3) nahe. Während der Frühhumanismus eine Ergänzung zur Scholastik bieten wollte, erstrebte man seit Beginn des 16.Jh.s ihre Ablösung und bekämpfte sie als unwissenschaftlich und lebensfremd. Die programmatische Orientierung an der heidnischen Latinität und Gräzität machte das Verhältnis von Antike und Christentum für viele zu einem Grundproblem. Eine Überbrückung des Gegensatzes wurde durch die optimistische Anthropologie und die daraus abgeleitete Konzentration auf die Ethik möglich: Der Mensch
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besitzt natürliche Anlagen, die ihn ohne Einschränkung zur Erkenntnis des Wahren und Guten (damit auch Gottes) sowie zu deren Umsetzung in moralisches Handeln befähigen. Dieser Ansatz machte die Erbsündenlehre obsolet und sah das Entscheidende am Christentum - und dessen Übereinstimmung mit den antiken Geistesgrößen - in einer humanitären Moral. Die ethische Orientierung fundierte die Kirchenkritik, die i.w. Rom- und Kleruskritik war (vgl. 5.2); sie führte zu einer Aufwertung des Laien als eines Individuums, welches das Wesen des Christentums durch entsprechende Praxis realisiert. In dem die gelehrte Welt erregenden Streit Reuchlins mit den Kölner Dominikanern und Universitätslehrern seit 1510/11 um die jüdische Literatur ging es gerade für die jüngeren Humanisten über den unmittelbaren Anlaß hinaus um einen grundsätzlichen Kampf für wissenschaftliche Freiheit gegen kirchlichen Dogmatismus. Für viele bildete der Konflikt eine Überleitung zum Engagement für die frühe reformatorische Bewegung. Das lautstärkste Beispiel dafür gab der Publizist Ulrich von Hutten. Von zukunftsträchtiger Bedeutung wurde die Bemühung um eine -nur an wenigen Orten erfolgreiche - Universitätsreform, die außer der Pflege der alten Sprachen und der antiken Literatur in der Artistenfakultät auch die theologische Fakultät verändern wollte, indem dort an Stelle der scholastischen Methodik und Lehrbücher die Bibelexegese und Kommentierung von Kirchenvätertexten treten sollte. 6.2.1 Die grundsätzliche Orientierung am griechisch-römischen Altertum als Quelle des Geisteslebens (vgl. die Parole Adfontes!) schloß bei vielen Humanisten die Beschäftigung mit den Kirchenvätern ein, bei denen sie eine Vermittlung von Antike und Christentum sahen. Entfaltet wurde diese Konzeption schon von dem kirchenkritischen Philologen Laurentins Valla (1407-57) in Neapel und Rom, der u.a. eine Textkritik der Vulgata veröffentlichte und gegen die Papstherrschaft die sog. Konstantinische Schenkung als Fälschung erwies (s. § 8; 5.2.3), was die Reformanhänger sehr beeindruckte. Seit 1470/80 veröffentlichte man Texte antiker Autoren und Kirchenväter in Druckausgaben, in starkem Maße auf Handschriften basierend, die vor und nach 1453 von Byzantinern importiertwurden (v .a. von dem gelehrten Humanisten Bessarion, der seine reiche Bibliothek in Venedig deponierte; vgl. § 8; 8.2.3). Durch Erasmus erhielt jener Ansatz eine programmatische Ausgestaltung (s. 6.3.2-3). 6.2.2 Nahm die Pflege der griechischen Sprache aufgrundder humanistischen Bildungsreform bei den Gelehrten allmählich zu, so blieb die - ebenfalls fiir den Rückgang auf die Quellen, den biblischen Urtext, unverzichtbare - Hebräischkenntnis wenigen vorbehalten. Einen Durchbruch brachte hier der Philologe Johannes Reuchlin (1455-1522; v.a. in Stuttgart tätig) mit seinem Lehrbuch De rudimentis Hebraicis 1506, das er dem religiösen Ziel einer Erfassung des authentischen Gotteswortes zuordnete. Er hatte sich außer mit antiker Philosophie intensiv mit der jüdischen Kabbala befaßt und entwickelte die Konzeption einer "Geheimphilosophie". Diese schaute die als Theosophie verstandene christliche Lehre i. w. mit der pythagoräischen Philosophie und der kabbalistischen Geheimwissenschaft zusammen und sah deren Übereinstimmung v.a. in den Namen und Symbolen (De verbo mirifico!Vom wundertätigen Wort, 1494 und De arte cabbalistica 1517; ND 1964). Das war ein frühes Beispiel dafiir, daß auch in Deutschland wie in Italien einige humanistische Positionen zu einer spekulativen Religionsphilosophie tendierten, die abseits des kirchlichen Christentums stand. 6.2.3 Der sog. Reuchlin-Streit betraf zunächst - auf dem Hintergrund vielfältiger Versuche, die Juden im Reich zur Konversion zu zwingen - die Frage, ob die jüdischen Schriften, insbesondere der Talmud, im christlichen Deutschland toleriert werden dürften. In Köln propagierte seit 1507 der KonvertitJohannes Pfefferkorn die Zwangsbekehrung aller Juden und die Vernichtung ihrer religiösen Bücher. Ein kaiserliches Mandat 1509 übertrug ihm die Konfiskation aller gegen das Christentum gerichteten jüdischen Schriften; angesichts des Widerstands
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dagegen forderte Maximilian I. 1510 Gutachten von verschiedenen Autoritäten an, u.a. von Reuchlin als dem berühmtesten Hebraisten. Da dieser die meisten Schriften - v .a. Talmud, Bibelkommentare, philosophische und kabbalistische Texte - als erhaltenswert und auch für Christen nützlich deklarierte, attackierte ihn Pfefferkorn 1511 publizistisch, unterstützt durch die Kölner Theologenfakultät und die Dominikaner als Inquisitionsinstanz unter Leitung des gelehrten Jakob von Hoogstraeten (ca.1460-1527, seit 1519 eines scharfen Luthergegners). Durch seine Gegenschrift machte sich Reuchlin viele Feinde in der Kirche; 1520 wurde sie von der römischen Kurie verurteilt. 6.2.4 Die grundsätzliche Bedeutung des Reuchlinschen Streites seit 1511 bestand in zweierlei: Nunmehr engagierte sich ein Großteil der Humanisten in kirchlichen Fragen und stritt gegen Intoleranz und Scholastik; e~~tmals wurde deutlich, daß durch die Publizistik in Deutschland so etwas wie eine kritische Offentlichkeit entstand. Allgemeines Aufsehen und Gelächter erregten die im Erfurter Humanistenkreis (s. 6.1.4), v .a. von Johannes Crotus Ruheanus (ca. 1480-ca.1545) verfaßten "Dunkelmännerbriefe"/Epistolae obscurorum virorum 1515, denen 1517 ein zweiter, i.w. yon Ulrich von Rutten verfaßterTeil folgte (Text hg.v. A. Bömer, 2 Bde., 1924; ND 1978; Ubers.: P. Amelung, 1964). Diese Parodien der humanistischen Briefliteratur brachten eine satirische Kritik der Unwissenschaftlichkeit scholastischer Theologen und der Dummheit der Kirchenmänner von Köln; sie bekundeten die Distanz einiger Humanisten zur Institution Kirche. 6.2.5 Zu einem radikalen Kirchenkritiker und partiellen Wegbereiter der Reformation entwickelte sich der fränkische Reichsritter Ulrich von Hutten (1488-1523), ein unsteter Literat von großer Genialität und SelJ?.stüberschätzung, dessen Gedichte und Schriften seit 1517 Beachtung in der humanistischen Offentlichkeit fanden (Text: Opera, hg.v. E. Böcking, 7 Bde., 1859-69; ND 1963). Im Kampf gegen das Papsttum propagierte Rutten seit 1515, wie der Wiener Humanistenkreis, unter Rückgriff auf ein stilisiertes Germanenbild (mit Arminius als Symbolfigur) ein deutsches Nationalbewußtsein, das i. w. ein Freiheitsideal war. Unter Erasmus' Einfluß verband er das seit 1515 mit dem - theologisch kaum reflektierten, plakativen - Programm einer Kirchenreform durch Rückkehr zum einfachen, praktischen Christentum gemäß Bibel und Kirchenvätern. Das war der Ansatz, von dem her er seit 1519 publizistisch für Luther und dessen Reformation kämpfte (s. 8.2.2).
6.3 Bibelhumanismus bei Erasmus: "Philosophie Christi " und Kirchenreform Überragende Bedeutung für die Durchsetzung einer profilierten Reformmentalität bekam seit ca.1515 das Werk des in Deutschland als Humanistenfürst verehrten Niederländers Erasmus von Rotterdam (ca.1466/69-1536). Seine Kontakte und die Ausstrahlung seiner Schriften machten ihn zu einer Geistesgröße von europäischer Dimension und weitreichendem Einfluß. Sein Konzept empfanden um 1515-20 viele Humanisten als Befreiung von der drückenden Last des traditionellen kirchlichen Systems. So wurde er durch die enorme Verbreitung und die Überzeugungskraft seiner Publikationen der geistige Anreger für Teile einerseits der deutschen und europäischen Reformation, andererseits für Teile des Reformkatholizismus. Seine Breitenwirkung in Deutschland wurde seit 1520 durch den Erfolg von Luthers Erneuerungswerk beeinträchtigt, doch bis dahin dominierte sie, wie sich z.B. daran zeigte, daß zahlreiche jüngere Humanisten von ihm her den Weg zu Luther fanden. Seine Konzeption war eine Synthese von antiker Philosophie und christlicher Lehre, die in der Orientierung an Bibel und Kirchenvätern die Ethik ins Zentrum stellte und mit dieser Rückkehr zu den Quellen eine Erneuerung des ursprünglichen Christentums bewirken sollte. Typisch humanistisch daran waren die exakte philologische Exegese jener Urtexte und die reduktionistische Konzentration der Lehre auf die "Philosophie Christi". Diese wollte keine theoretische
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Spekulation, sondern praktische Weisheit, nämlich Anleitung zu rechter Lebensgestaltung sein: zum Kampf des Geistes gegen das sündige Fleisch, zum Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, zur Veränderung des Lebens durch die Nachfolge Jesu Christi als des beispielgebenden Lehrers der wahren Tugenden. Aus dieser Konzeption resultierten eine Ablehnung des kirchlichen Dogmatismus und Sakramentalismus sowie eine schroffe Polemik gegen die Scholastik. Waren Moralismus und Spiritualismus die Form der erasmianischen Heiligungstheologie, so waren deren Inhalt die von Jesus gelehrten Tugenden wie z.B. Liebe, Barmherzigkeit, Herzensreinheit, Geduld, Selbstbescheidung in Armut und Demut. Diese Theologie begründete einerseits eine massive Kirchenkritik (bezogen auf die Verweltlichung und Verrechtlichung der Institution, auf die Veräußerlichung der Frömmigkeit der Massen), andererseits ein Reformprogramm für Kirche, Staat und Gesellschaft, d.h. die Christenheit in all ihren Lebensbezügen, die Respublica Christiana als Bildungs- und religiöse Lebensgemeinschaft. Das göttliche Gesetz sollte maßgebend sein für ein allgemeines Leben in Frieden und Eintracht, Einfachheit und Natürlichkeit, Dienst und Hilfsbereitschaft. Dabei kam der Kirche eine Schlüsselstellung zu als einer moralischen Erziehungsmacht, nicht einer kultischen Heilsanstalt. Der pragmatische Pazifist Erasmus intendierte mit diesem Programm keinen revolutionären Neubau, sondern eine evolutionäre Umgestaltung der Kirche, weil er - in Ablehnung jeder Form von Aufruhr - nicht die äußerliche Strukturveränderung, sondern den innerlichen Mentalitätswandel für entscheidend hielt. Deswegen lag es in der Konsequenz des Ansatzes, daß er sich gegen die lutherische und die zwinglianische Reformation wandte (s. 10.3). 6.3.1 Als der in Rotterdam geborene Desiderius Erasmus 1514 durch persönliche Kontakte und seinen Aufenthalt in Basel (wo er 1514-16 und 1521-29lebte) verstärkten Einfluß auf die deutschen Humanistenkreise bekam, war er bereits eine europäische Berühmtheit als kritischer Literat und eloquenter Latinist. Er war in seiner Jugend bei den Brüdern in Deventer durch die Devotio moderna beeinflußt worden, war Mönch und Priester geworden und hatte 1495-99 in Paris Theologie i.S. des Nominalismus studiert, wobei er seine hinfort grundlegende Aversion gegen die Scholastik entwickelte. Sein unstetes Wanderleben (u.a. Aufenthalte in England 1499/1500, 1505/6, 1509-14 und in Italien 1506-09) brachte ihn in engere Berührung mit dem Humanismus. Seinen Rufals Reformtheologe begründete er durch das 1503 erstmals gedruckte, aber erst seit der Ausgabe von 1515 publikumswirksame Enchiridion militis christianil Handbüchlein (bzw. Handdolch) des christlichen Soldaten sowie durch das 1511 veröffentlichte, 1514 erweiterte Moriae Encomium!Lob der Torheit. (Texte/Übers.: Ausgew. Schriften, hg.v. W. Welzig, Bd.1, 1968, 56-375; Bd.2, 1975, 2-211.) In diesen beiden Ratgebern bzw. Anleitungen für ein echtes Christentum, die wie andere Erasmusschriften hohe Auflagen und damit weite Verbreitung erfuhren, entfaltete er erstmals das Programm, das er seit 1515 in dem Begriff "Philosophia Christi" zusammenfaßte. Er zog sich damit, aber auch wegen seiner Kirchenkritik und seiner ironisch-satirischen Darstellungsweise, den Zorn etlicher Theologen zu, denen er seitdem als verdächtiger, subversiver Neuerer galt. Der glänzende lateinische Stil ebnete dagegen vielen Humanisten den Zugang; das galt auch für die als Bestseller erfolgreichen, aus Stilübungen erwachsenen Handbücher mit christlichen Lebensregeln und kirchlichgesellschaftlichen Reformvorschlägen: die bereits 1500 verfaßten Adagia!Sprichwörter in der Druckfassung von 1515 und die 1518 publizierten ColloquiafamiliariaNertraute Gespräche. (Texte/Übers.: Ausgew. Schriften, hg.v. W. Welzig, Bd.7, 1972, 358-633; Bd.6, 1967.) 6.3.2 Im Unterschied zu den italienischen Humanisten, von denen er viel lernte, wollte Erasmus seit ca.1500 dezidiert Theologie betreiben und sie - die sacrae litterae als Bibelexegese - mit dem Studium der antiken Literatur, den bonae litterae, verbinden. Zur Lebensaufgabe
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wurde ihm die Synthese von Humanismus und Theologie; er fand sie bei den lateinischen und griechischen Kirchenvätern ausgeprägt. Er entwickelte erstmals systematisch eine Anwendung der Philologie, der neuen wissenschaftlich-kritischen Methodik, auf die Theologie, was ihn in einen prinzipiellen Gegensatz zur Scholastik brachte: Die wahre Form des Christentums liegt in dessen Ursprung in der Lehre Jesu Christi; deren authentische Interpretation haben die Kirchenväter - v .a. Origenes und Hieronymus - fixiert, weswegen die theologische Arbeit sich den Texten der christlichen Frühzeit zuwenden muß (Adfontesl). Diese programmatische Orientierung an der Bibel (d.h. am NT- das AT galt ihm als i.w. überholt) und an den Kirchenvätern, die der Erneuerung der Christenheit dienen sollte, bezeichnet die neuere Forschung z.T. als Bibelhumanismus. 6.3.3 Seit 1516 gewann Erasmus' Programm deutliche Kontur durch zwei lang geplante Werke, die er fiir seine wichtigsten - weil eine neue kg. Epoche fundierend - hielt: Aufgrund von Handschriften publizierte er Editionen des Neuen Testamentes mit griechischem Urtext und korrekter lateinischer Übersetzung sowie der Schriften des Hieronymus, den er als Bibelübersetzer und -ausleger, Kenner der Antike, lateinischen Stilisten und Lehrer des geistlichen Lebens besonders schätzte. Der humanistisch gebildete Basler Drucker Johannes Frohen (ca. 1460-1527), Begründer der bedeutendsten deutschen Offizin und eigentlicher Verleger des Erasmus, hatte diesen zur Veröffentlichung gedrängt, um der seit 1514 in Alcalä/Spanien vorbereiteten Bibeledition (der sog. Complutensischen Polyglotte) zuvorzukommen. Das Novum Instrumenturn - in der zweiten Auflage 1519 als Novum Testamenturn bezeichnet - enthielt nicht nur den griechischen NT-Text und eine genauelateinische Übersetzung als Interpretationshilfe, sondern auch drei grundsäy:liche Einleitungen über die religiöse Bedeutung und die Methodik des Bibelstudiums (Text/Ubers.: Ausgew. Schriften Bd.3, 1967); ferner enthielt es p_hilologische Annotationes!Anmerkungen zu schwierigen Textstellen. Es waren v.a. Erasmus' Ubersetzung, Methodenlehre und Philosophie Christi, die in der humanistischen Gelehrtenwelt Aufsehen und bei konservativen Dogmatikern Bedenken erregten. In den folgenden Jahren übten sie samt den sprachlichen Erläuterungen starken Einfluß auf die junge Theologengeneration aus und haben bei etlichen der Reformation vorgearbeitet. 6.3.4 Die Ethik war fiir Erasmus das entscheidend Christliche und wahrhaft Humane und galt ihm als das mit der antiken Philosophie Harmonierende (vgl. sein berühmtes Diktum Sancte Socrates, ora pro nobis/Hl. Sokrates, bitte für uns.'). Sie prägte seine Heiligungstheologie und Kirchenkritik und begründete deren Plausibilität fiir breite, humanistisch beeinflußte Kreise. Christentum muß danach auf die Moral, nicht auf Dogma und Kultus gegründet sein. Sein Ziel ist die Vollkommenheit des Menschen in der durch Jesus als Lehrer der Vollkommenheit vermittelten Verbindung mit Gott. Diese ist grundsätzlich möglich, weil der menschliche Geist mit dem göttlichen verwandt ist und weil Christus die durch die Sünde verdorbene menschliche Natur durch seinen Geist als Zusammenfassung aller Tugenden auf dem Weg der Belehrung heilt. Kraft dieser Philosophie Christi, die der Welt als Torheit erscheint, überwindet man die Welt mit ihren Äußerlichkeiten und Eitelkeiten im permanenten Kampf gegen die Sünden durch Gebet, Gotteserkenntnis und Selbstheiligung. Die konkrete Anleitung dazu kann man allein der Bibel entnehmen; Erasmus' christozentrisches Schriftprinzip ist nicht primär historisch-kritisch, sondern theologisch begründet. Aus der Konzentration auf die Heiligung ergibt sich seine - z.T. mit satirischer Schärfe zugespitzte, ungemein publikumswirksame Polemik gegen die Veräußerlichung der Frömmigkeit im kirchlichen System: den verbreiteten Aberglauben des Kirchenvolkes, v .a. die massive Wundersucht der Heiligen- und Reliquienverehrung; die geistlose Selbsttäuschung durch Wallfahrts-und Ablaßwesen; die widergöttliche Anhäufung von kirchlichen Geboten (Fasten etc.), Sanktionen und Zeremonien; den mechanisierten Kult mit seinem oberflächlichen Sakramentsvollzug; den geldgierigen, sittenlosen Klerus und das habsüchtige Finanzsystem der Kirche. Immer wieder attackierte Erasmus (selber Priester und Mönch/ Augustinerchorherr bis zur Entbindung vom Gelübde 1517) das Mönchtum als Inbegriff von Dummheit und Faulheit. Doch er stellte es ebensowenig grundsätzlich in Frage wie das wegen seiner Verweltlichung angeprangerte Papsttum, weil er nicht die Institution, sondern die einzelnen Amtsträger kritisierte (z.B. 1513114 in seiner Satire über den von Petrus aus dem Himmel ausgeschlossenenlulius II., den Bauherrn und Kriegsmann; Text/Übers.: Ausgew. Schriften Bd.5, 1968, 6-109).
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6.4 Literatur C. AUGUSTIJN: Erasmus von Ronerdam. Leben -Werk -Wirkung, 1986. - DERS.: Erasmus. Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, 1996. - DERS.: Erasmus, TRE 10 (1982) 1-18. - G.A. BENRATH: Die Lehre des Humanismus und Antitrinitarismus, HDThG 3, 1984, 1-70. - H. DÜFEL: Dürer, TRE 9 (1982) 206-214. - L.E. HALKIN: Erasmus von Ronerdam, 1989. - H. HOLBORN: Ulrich von Hunen, 1929; 2.A. 1968. - H. JUNGHANS: Der junge Luther und die Humanisten, 1985. - E.W. KOHLS: Die Theologie des Erasmus, 2 Bde., 1966. - S. RAEDER: Johannes Reuchlin, GKG 5, 1981, 3351. - G. RITTER: Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus, HZ 127 (1923) 393-453; ND 1963. - ST. SKALWEIT: Hunen, TRE 15 (1986) 747-752. - L.W. SPITZ: Humanismus/Humanismusforschung, TRE 15 (1986) 639-661. - R. STUPPERICH: Erasmus von Rotterdam und seine Welt, 1977.
7. Martin Luther als Initiator der Reformation Nicht der allseits berühmte Erasmus gab den Anstoß zur grundlegenden, umfassenden Kirchenerneuerung; dazu war seine Theologie zu wenig revolutionär. Durch den bis 1518 weithin unbekannten Mönch und Theologieprofessor Martin Luther (1483-1546) wurden die Grundlagen des religiösen und kirchlichen Lebens neu definiert. Daß diese Leistung epochale praktische Folgen zeitigte, war ein kontingentes Geschehen, beginnend abseits der politischen, ökonomischen und kulturellen Zentren Deutschlands in Wittenberg mit Luthers Kritik an Scholastik und Ablaß. Erst durch den zum Politikum anschwellenden Ketzerprozeß (s. 8.1) kam die Reformation insofern in Gang, als eine evangelische Bewegung entstand, welchetrotzder Vielfalt ihrer Elemente und Unklarheit ihrer Konturen in Luthers Person und Schrifttum einen Bezugspunkt besaß. 7.1 Luthers fundamentale Bedeutung für die Reformation Kirchliche Veränderungen wurden allgemein als unabweisbar empfunden, doch die Situation vor 1520 war nicht vorrevolutionär i.S. einer zum Umsturz tendierenden kirchlichen oder gesamtgesellschaftlichen Krise. Reformideen verschiedener Art waren ohne durchgreifende Folgen geäußert worden; als entscheidend erwies sich, daß Martin Luther eine systemsprengende Lehre vortrug. Seine Schriften motivierten all diejenigen, welche für eine Erneuerung eintraten, zu einschneidenden Veränderungen, die früher undenkbar erschienen. Ohne seine theologische Konzeption hätte es demnach die Reformation in der Weise, wie sie sich ereignete, nicht gegeben; doch sie ist als komplexer Vorgang nicht auf seine Wirkungen beschränkt. Sie war primär ein religiöses Ereignis, das aus einer theologischen Revolution resultierte; aber von großer praktischer Bedeutung für die Strukturveränderungen war die Verstärkung durch soziale, politische, ökonomische und institutionelle Umstände (s. 2.1-4.2). Luther gab eine grundsätzlich neue Lösung von allgemeiner Plausibilität für das religiöse Zentralproblem jener Zeit: die Erlangung von transzendenter Erlösung und diesseitiger Heilsgewißheit (vgl. 5.1). Hatte man dafür bisher auf die Kirche als sakramentalen Lebensraum und objektive Heilsvermittlerin verwiesen, so stellte Luther gerade diese Institutionalisierung in Frage. Damit wirkte er deshalb so stark, weil das religiöse Bewußtsein z. T. einen Weg außerhalb der kirchlichen Heilsvermittlung suchte und weil die Kirche wegen der in ihr herrschenden Mißstände zunehmender Kritik ausgesetzt war (vgl.
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5.2). Also kann die Reformation zwar insgesamt nicht als Werk dieses einzelnen Mannes verstanden werden, aber ihm kam eine singuläre Schlüsselfunktion in der Anfangsphase zu; und seine theologische Grundlegung blieb noch etliche Zeit danach für die praktische Neugestaltung weithin ausschlaggebend. Der entscheidende Umschlag lag darin, daß er seit dem Ablaßstreit 1517/18 seine Einsichten erstmals in literarischer Form zu allgemeiner Wirkung brachte, indem er die Möglichkeiten einer öffentlichkeitswirksamen Predigt vermittels des Buchdrucks nutzte. Er sprach das aus, was vielen Zeitgenossen unmittelbar einleuchtete. Er nahm die vorhandene Kirchenkritik ebenso wie die Reformvorschläge auf. Er entsprach einer verbreiteten Passionsfrömmigkeit, die das Heil in der Hingabe an den leidenden Erlöser Jesus Christus sah. Er vertiefte das v.a vom Humanismus gegen die Scholastik propagierte Schriftprinzip. Diese Aspekte erhielten in seiner Theologie eine eigene Ausprägung, weil sie sich von der Rechtfertigungslehre her zu einem neuen System zusammenfügten (vgl. § 14; 3.0). Daher wurde die durch ihn angestoßene Reformation nicht eine Reformbewegung wie andere, sondern brachte eine Erneuerung der abendländischen Christenheit in Gang. Dieser Sachverhalt begründete seine überragende historische Bedeutung am Schnittpunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit, die derjenigen Augustins vergleichbar ist (s. § 5; 4.0-1). 7.2 Programmatischer Kampf gegen die Scholastik Luthers Biographie ist seit 1517/18 eng mit der allgemeinen Reformationsgeschichte verwoben. (Zur Frühzeit s. § 14; 2.1.) Seit 1513 entwickelte er in seinen Vorlesungen über die Psalmen und den Römerbrief Ansätze einerneuen Theologie, deren Kern ein spezifisches Verständnis von Rechtfertigung des sündigen Menschen durch Gott war. (Vgl. zur sog. reformatorischen Wende Luthers § 14; 2.2.) Damit wandte er sich nicht nur von der traditionellen Methodik, sondern zunehmend auch von den scholastischen Lehrinhalten ab. Als normativ sah er die Rechtfertigungslehre des Paulus an, und bei deren Interpretation orientierte er sich an Augustin. Diese - neben dem Humanismus eigenständige - Konzeption machte er 1516/17 zum Programm der Wittenberger Universitätsreform; die damit verbundene Kritik am Nominalismus wurde auch für eine Veränderung des Lehrbetriebs in der philosophischen Fakultät maßgeblich. Anhänger fand er u.a. bei Humanisten, und es gelang ihm, seine theologischen Kollegen Nikolaus von Amsdorffund Andreas Karlstadt von ihren scholastischen Positionen abzubringen. Seit 1516 sprach er mit seinem Konzept auch ein wissenschaftliches Publikum außerhalb Wittenbergs an und im September 1517 propagierte er in scharfen Thesen die Abkehr von der aristotelischen Philosophie als der bisherigen Grundlage der Theologie. Das machte deutlich, daß seine reformatorische Tätigkeit ursprünglich auf eine theologische Wende zielte und insofern begrenzt war. Breitere Kreise der Theologenschaft machte Luther auf sein Programm aufmerksam durch die Heidelberger Disputation im April 1518; dort beeinflußte er zahlreiche jüngere Theologen, die später ihrerseits die Reformation in Deutschland voranbrachten. Wittenberg wurde zum Zentrum einer neuen Theologie und zog große Stu-
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dentenscharen an, die - der Scholastik überdrüssig - nach einem an Bibel und Kirchenvätern ausgerichteten Studium verlangten. Luthers Position, deren Attraktivität der Zustrom junger Leute zu verdanken war (alsbald wichtiger Multiplikatoren der neuen Lehre durch Kontakte zu ihren Heimatorten), verband sich insofern mit dem humanistischen Ansatz, als die alten Sprachen Griechisch und Hebräisch neben der lateinischen Literatur besonders gepflegt wurden. Mit Philipp Melanchthon ( 1497-1560) erhielt die Artistenfakultät seit Herbst 1518 dafür eine wissenschaftliche Koryphäe. Dieser erlangte neben und zusammen mit Luther auch theologisch für die weitere Entwicklung der Wittenberger Reformation größte Bedeutung (vgl. § 14; 8.0). 7 .2.1 Luthers Ablehnung der Scholastik, die seit der Römerbriefvorlesung feststand, berührte sich zwar mit der Einstellung vieler Humanisten, war aber anders, nämlich rechtfertigungstheologisch begründet. Insofern traf sie auch humanistische Positionen wie z.B. die moralistische Philosophie Christi des Erasmus, die er seit 1516 zunehmend kritisierte. Zunächst richtete sich seine Kritik gegen den Scotisten Nikolaus von Amsdorff (1483-1565, Staupitz' Neffen), und den ThomistenAndreas l{arlstadt (s. 9.2.1). Beide konnte er 1516/17 nach längeren Diskussionen - ebenso wie den weniger bedeutenden Thomisten und Aristoteliker Petrus Lupinus (gest. 1521) - für sein Programm "Paulus und Augustin" gewinnen; sie wurden fortan in unterschiedlicher Weise entschiedene Vorkämpfer der Reformation. Luthers Schüler Bartholomäus Bernhardi (1487-1551, seit 1512 wichtiges Mitglied der Artistenfakultät) vertrat im September 1516 seine in der Römervorlesung vorgetragene Sündenlehre (s. § 14; 3.1) gegen die nominalistische Lehre von Willensfreiheit und Synergismus unter Berufung auf Augustin in spektakulären Disputationsthesen. Luther selbst verschärfte diesen Angriff am 4. 9.1517 in seiner Disputatio contra scholasticam theologiam, in der die nominalistische Sünden- und Gnadenlehre als Pelagianismus attackiert wurde (98 Thesen; Text: WA 1, 224-228; BoA 5, 320326). Außerhalb Wittenbergs, z.B. in Erfurt und Nürnberg, blieb die erhoffte Resonanz aus. 7.2.2 Erst durch das allgemeine Aufsehen, das Luther mit dem Ablaßstreit 1517/18 erregte, fand seine Theologiereform breitere Aufmerksamkeit: mit der Heidelberger Disputation am 26.4.1518. Beim Ordenskapitel der Augustiner-Eremiten in Heidelberg trug er einer großen Versammlung 28 theologische und 12 philosophische Thesen gegen die Scholastik -wohl mit ausführlicher Begründung -vor (Text: WA 1, 353-374; WA 59, 409-426; StA 1, 190-218; Übers.: MA 1, 125-139). Den scholastischen Ansatz, aus Vernunft und freiem Willen des Menschen eine Fähigkeit zu natürlicher Gotteserkenntnis und Gebotserfüllung abzuleiten, bezeichnete er als falsche Theologie der Verherrlichung des Menschen (theologia gloriae). Dagegen stellte er seinen augustinischen Paulinismus mit der radikalen Sündenlehre und der christologisch begründeten Betonung, daß Gott allein durch Kreuz und Leiden zur Gerechtigkeit führt (theologia crucis). Die philosophische Orientierung an Aristoteles erklärte er für verderblich, weil sie mit der Vernunft die Weltweisheit an die Stelle der - für die Welt törichten - Weisheit Christi setze. Mit dieser systemkritischen Position begeisterte Luther etliche jüngere Theologen für seine Sache: z.B. Martin Bucer, Johannes Brenz, Erhard Schnepf, Theobald Billicanus und Martin Frecht, die alsbald öffentlich für die neue Theologie eintraten. 7 .2.3 Für den Ausbau der Universität Wittenberg setzte sich Luther zusammen mit dem juristisch und humanistisch gebildeten Georg Spalatin (1484-1545) bei Kurfürst Friedrich dem Weisen erfolgreich ein, dem ohnehin an der Attraktivität seiner nunmehr berühmten Leucorea (gräzisiert für Wittenbergisch) gelegen war. Seit 1518 betrieb man den Umbau der philosophischen Fakultät durch Konzentration auf alte Sprachen, antike Rhetorik, Naturkunde und Mathematik. Dadurch kamen Humanisten in den Einflußbereich der Reformation, als wichtigster Philipp Melanchthon (gräzisiert nach humanistischer Art aus Schwarzerdt, 1497-1560) auf der Griechischprofessur, für die er sich durch eine soeben veröffentlichte Grammatik qualiftziert hatte (Text: CR 20, 193-336). In seiner Antrittsrede vom 29.8.1518 De corrigendis adolescentiae studiis/Über die Verbesserung des Studiums für die Jugend skizzierte der junge Magister das Programm einer bibelhumanistischen Reform i.S. des Erasmus, welche durch Pflege der
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klassischen Literatur der Ausbildung zur Humanität dienen und durch die philologische Beschäftigung mit den Lehren Christi und der Apostel den Weg zum Evangelium bahnen sollte (Text: CR 11, 15-25; StA 3, 30-42). Durch den intensiven Kontakt mit Luther verbesserte dieser seine Griechischkenntnisse und eignete Melanchthon sich selbständig dessen evangelische Theologie an, so daß er fortan als zweitwichtigster Wittenberger Reformator starken Einfluß ausübte. Seit 1519 hielt er als Baccalaureus biblicus exegetische Vorlesungen in der theologischen Fakultät, ohne je deren Vollmitglied als Doktor zu werden. Vorübergehend lehrte er auch Hebräisch. Die Anwendbarkeit der antiken Rhetorik auf die biblische Sprache zeigte sein Lehrbuch De rhetorica 1519 (Text: CR 20, 693-698).
7.3 Die 95 Ablaßthesen und ihre Wirkung Im Ablaßwesen (s. § 8; 12.3), das schon im 15.Jh. wegen seiner problematischen theologischen Begründung und seiner bedenklichen Folgen für die Frömmigkeit kritisiert worden war, stellte sich das System der kirchlichen Heilsvermittlung i. V. mit papalistischen Herrschaftsinteressen besonders drastisch dar. Deswegen wurde es nicht zufällig zum Auslöser einer umfassenden Kirchenkritik, die ihre Sprengkraft aus Luthers neuartiger theologischer Fundierung erhielt. Wie wichtig es für das kirchliche Finanzwesen war, zeigte der sog. Petersahlaß für den monumentalen Neubau des römischen Petersdomes. Seit 1516 wurde dieser in Deutschland durch Erzbischof Albrecht von Mainz/Magdeburg - auch zur Tilgung seiner immensen Schulden- organisiert. Als dessen Ablaßkommissar erregte der Dominikaner Johann Tetzel durch agitatorische Predigt in den Stiften Magdeburg und Halberstadt Anstoß. Um eine theologische Klärung voranzutreiben, verfaßte Luther für die gelehrte Diskussion 95 lateinische Thesen, die vom Rußverständnis her in moderater Weise den Sinn und die Wirkung der Ablässe bezweifelten, aber noch keineswegs eine reformatorische Position bekundeten. (Der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 an der Tür der Wittenberger Schloßkirche ist als historisches Faktum nicht so gesichert, wie die traditionelle Sicht gemeint hat.) Die durch Druckausgaben v.a. in Humanistenkreisen verbreiteten Thesen machten Luther an vielen Orten seit Ende 1517 berühmt. Zunächst ergriff die Kirche keine offiziellen Sanktionen gegen ihn, allerdings ließ der zuständige Mainzer Erzbischof, dem er die Thesen zur Begutachtung zugeschickt hatte, prüfen, ob ein Häresieverdacht gegeben sei, und er informierte außerdem die römische Kurie. Im Frühjahr 1518 entstand eine literarische Kontroverse nach der Publikation von Luthers volkstümlichem Ablaßsermon. (Die Disputation beim Heidelberger Ordenskonvent verstärkte die Publizität; s. 7. 2.) Eine Ausweitung des Streits kündigte sich damit an, daß der bekannte Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck die Ablaßkritik als häretischen Angriff auf die Kirche interpretierte. Mit Eck trat einer der klügsten Gegner auf, der in der Folgezeit hartnäckig für Luthers Verurteilung plädierte. 7.3.1 Im 15.Jh. hatte sich der Ablaßlindulgentia, den es in verschiedenen Formen gab und dessen theologisches Lehrfundament in vielem ungeklärt war (vgl. 5.1.4; § 8; 12.3-3.2; 13.2.4), gewaltig entwickelt. Eine Spezialform des seit 1300/95 üblichen Jubilaeus war der von Julius II. 1506 ausgeschriebene Plenarablaß zugunsten des Neubaus der Petersbasilika (s. Abb.22), den Leo X. erneuerte. In Deutschland vertrieb ihn Albrecht von Brandenburg (1490-1545). Dieser für den Humanismus aufgeschlossene Hohenzoller, Bruder des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I., wartrotz mangelnden Alters 1513 Erzbischof von Magdeburg sowie
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Bischofsadministrator von Halberstadt geworden und erhielt 1514 mit dem Erzbistum Mainz die höchste reichsfiirstliche Position (daher meist als Albrecht von Mainz bezeichnet, Kardinal seit 1518). An Dispensen fiir die Ämterkumulation, die Servitien und die Palliengelder (s. § 8; 12.1.1) mußte er dem Papst 24.000 Dukaten bezahlen, die ihm das Augsburger Bankhaus der Fugger (s. 4.2.1) lieh. Durch die Beteiligung am Gewinn des Ablaßverkaufs erhielt er die Möglichkeit, jene enormen Schulden zu tilgen. Als sein Subkommissar betrieb der sächsische Dominikaner Johann Tetzel (ca.1465-1519, 1518 Doktor der Theologie), seit 1504 einer der rührigsten Ab1aßprediger, seit Anfang 1517 den Ablaßverkauf in der Kirchenprovinz Magdeburg. Dieser tat die theologisch bedenklichen Aspekte des Ablasses durch Vergröberungen kund, z.B. durch die Lehre, daß der Ablaß fiir Verstorbene keiner Reue/Beichte bedürfte (zusammengefaßt in dem populären Satz Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt). hn Kurfiirstentum wie im Herzogtum Sachsen war ihm das Auftreten verboten, das jeweils in den Städten mit feierlichem Zeremoniell erfolgte. 7.3.2 Die Tatsache, daß auch Wittenberger Gemeindeglieder bei Tetze1 Ablaßbriefe kauften, veranlaßte Luther seit Frühjahr 1517, in Predigten diese Praxis zu kritisieren. Wegen deren Autorisierung durch die erzbischöfliche Instruktion trug er seine Kritik in Briefen vom 31. Oktober Albrecht von Mainz (Text: WAB 1, 110-112) und dem fiir Wittenberg zuständigen Bischof Hieronymus Schulze von Brandenburg vor, indem er 95 Thesen über die Kraft der Ablässe beifiigte. Daß er diese Thesen an der Schloßkirche - wie bei einer akademischen Disputation üblich - angeschlagen haben soll, ist erst spät durch Melanchthon bezeugt. Zweifellos hat er sie fiir eine öffentliche Diskussion bestimmt; deswegen ist ein Thesenanschlag wahrscheinlich. Ob dieser am 31. Oktober, dem Tag des Briefes an Albrecht, oder etwas später erfolgte, muß offenbleiben. Die völlige Bestreitung des Thesenanschlags hat in der wissenschaftlichen Diskussion nur wenig Zustimmung gefunden. Das Problem ist ein instruktives Beispiel dafiir, welches Gewicht die z.T. ungeklärten Datierungsfragen haben können. Der Wittenberger Text der Thesen ist nicht erhalten, nur die Leipziger und Nürnberger Plakatdrucke und der Baseler Buchdruck von Ende 1517. Albrecht von Mainz schickte die Thesen nach Rom. Gegenthesen, über die man an der brandenburgischen Landesuniversität Frankfurt/Oder aufTetzels Veranlassung disputierte, zur Verteidigung der traditionellen Ablaßpraxis vom dortigen Theologieprofessor Konrad Wimpina (ca.1460-1531) verfaßt, wurden 1518 gedruckt. Wimpina profilierte sich als einer der ersten literarischen Luthergegner durch Traktate zu verschiedenen Themen. 7.3.3 Die 95 Ablaßthesen (späterer Titel: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiaruml Disputation zur Bestimmung der Kraft der Ablässe; Text: WA 1, 233-238; BoA 1, 3-9; Übers.: MA 1, 31-38) behandelten zunächst verschiedene Fragen der Ablaßpraxis, dann Probleme der Lehre. Luther forderte nicht ausdrücklich die Abschaffung des Ablasses, stellte aber dessen positive Bedeutung als gering dar; er wollte ihn als theologisch unbegründet und angesichts der zahllosen Mißstände im Blick auf die vermeintliche Heilssicherheit als schädlich hinstellen. Generell bekundete er eine Wertschätzung des Papstes, dessen Vergebungsvollmacht er anerkannte; doch er referierte auch die Kritik der Laien am Papsttum. Ansätze einer reformatorischen Theologie sind kaum erkennbar, auch nicht in der vielzitierten 1. These, deren BuBtheologie traditionell ist (Dominus et magister noster Jesus christus dicendo: Penitentiam agite etc. omnem vitam .fidelium penitentiam esse voluit/Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, als er sagte "tut Buße usw. ", daß das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei). Die neue Position zeigte sich v.a. in Aussagen über das Evangelium als wahren Schatz der Kirche (vgl. § 8; 12.3.2), der in Christi Verdiensten bestehe, welche die Kirche nicht verwalten könne. Die Wirkung der Thesen beruhte auf der Aufnahme populärer Ablaßkritik und auf einigen Reformvorschlägen. 7 .3.4 Die im Zusammenhang mit dem Ablaßstreit erfolgende Namensänderung Luder - Luther (s. § 14; 2.1.1) machte deutlich, welch grundsätzliche Bedeutung fiir Luther persönlich damit verbunden war. Schon im Februar 1518 verfaßte er fiir die wissenschaftliche Diskussion ausfiihrliche Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute/Erläuterungen der Thesen über die Kraft der Ablässe, die erst im August gedruckt wurden (Text: WA 1, 530-628; BoA 1, 16147; Übers.: MA 1, 150-338). Verbreitung in Deutschland fand sein im März 1518 veröffentlichter kurzer Sermon von dem Ablaß und Gnade, der auf eine generelle Ablehnung des Ablasses hinauslief und seine Kritik erstmals einem breiten Publikum bekannt machte (Text:
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WA 1, 243-246; BoA 1, 11-14). Gegen den Häresievorwurf in Johann Tetzels Vorlegung!Widerlegung verteidigte Luther im Juni 1518 seinen Sermon mit einer weiteren Druckschrift (WA 1, 383-393). 7.3.5 Der Schwabe Johannes Eck (1486-1543), ein begabter Theologe nominalistischer Prägung, seit 1510 Professor an der Universität Ingolstadt und Domherr in Eichstätt, zunächst in freundlichem Kontakt mit Luther, engagierte sich seit 1518 gegen diesen in entschiedenem Kampf. Seine erste Reaktion auf die Ablaßthesen war eine nicht im Druck veröffentlichte, an seinen Eichstättee Bischof gerichtete Schrift mit dem Titel Obelisci, d.h. Spieße (textkritische Zeichen zur Bezeichnung unechter Stellen, übertragen als Tilgung ketzerischer Aussagen gemeint). Eck wertete Luthers Ablaßkritik als Aufruhr und verglich sie mit der Position der Hussiten, wertete sie also als Infragestellung der Heilsanstalt Kirche. (Vgl. § 8; 13.2.4-5.) Darauf replizierte Luther im Mai 1518 stilgerecht unter dem Titel Asterisci, d.h. Sternchen (textkritischen Zeichen zur Markierung des jeweils besseren Textes, also als Bekräftigung der Wahrheit). Diese literarische Kontroverse sollte im engeren Zirkel der Gelehrten ausgetragen werden, zog aber bald weitere Kreise. 7.4 Literatur QUELLEN: Luthers Werke (s. § 14; 2.3.1). - K. HONSELMANN: Urfassung und Drucke der Ablaßthesen Martin Luthers und ihre Veröffentlichung, 1966. - W. KöHLER (Hg.): Dokumente zum Ablaßstreit von 1517, 2.A. 1934. K. BAUER: Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der deutschen Reformation, 1928. H. BORNKAMM: Thesen und Thesenanschlag Luthers, 1967. - M. BRECHT: Martin Luther Bd.1, 1981; 3.A. 1989, 160-230. - L. GRANE: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel..., 1962. - DERS.: Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (15151518), 1975. -I. Höss: Georg Spalatin 1448-1545, 2.A. 1989. - E. ISERLOH: Luther zwischen Reform und Reformation, 1966; 3.A. 1968. - R. SCHWARZ: Luther, KIG 3/Lfg.l, 1986, 32-52, 2.A. 1998.
8. Luthers Ketzerprozeß und die Reichspolitik 1518-21 Erst der Konflikt mit der Institution Kirche brachte Luthers Theologie zu ihrer reformatorischen Wirkung. Der vorhandene Ansatz einer systemkritischen Lehre entfaltete durch die Konfrontation mit einem konkreten Mißstand, dem Ablaßwesen, seine revolutionäre Potenz: In Reaktion auf den Häresievorwurf und in der Auseinandersetzung mit Verfechtern der kirchlichen Tradition entwickelte Luther aus seiner Rechtfertigungslehre und seinem Schriftprinzip grundlegend Neues in Sakramentsverständnis und Kirchenbegriff. Die Tatsache, daß er 1518-20 dafür als publizistisches Genie durch populäre Traktate eine "Öffentlichkeit" gewinnen konnte und daß er gleichzeitig durch die politischen Umstände begünstigt wurde, ließ ihn zum maßgeblichen Theoretiker kirchlicher Veränderung werden. Die latente Reformbereitschaft erhielt in ihm eine wegweisende ldentifikationsgestalt, doch ohne die besondere politische Konstellation jener Zeit wäre es kaum zu dieser Breitenwirkung gekommen, weil er relativ bald als Ketzer verurteilt worden wäre: In der Krisensituation einer Neuformation der europäischen und deutschen Machtverhältnisse (des Übergangs der Kaiserwürde von Maximilian I. auf Karl V.), konnte er gut drei Jahre lang ungehindert seine Ideen verbreiten. Mit der Entstehung einer neuen Mentalität ergab sich eine Disposition für praktische Veränderungen, die nach 1521 wirksam wurden. Seine Verurteilung als Ketzer durch Papst und Kaiser 1520/21 erfolgte zu spät, um die Entwicklung noch stoppen zu können. Erst danach kam die eigentliche Reformation in Gang, vorbereitet
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durch die Verbindung von religiösen und politischen Faktoren in Luthers Konflikt mit Rom, der zur Ablösung von der Papstkirche hinsichtlich Lehramt, Tradition, Dogma und Recht führte.
8.1 Der römische Prozeß und die politische Situation Die Kurie eröffnete im Sommer 1518 gegen Luther das lnquisitionsverfahren, das zur Feststellung seiner Häresie wegen Bestreitung der Papstautorität und des Ablaßwesens führen sollte. Eine Vorladung nach Rom lehnte Luther ab; er wollte die Sache vor dem Gericht deutscher Bischöfe verhandelt wissen, was den seit dem 15.Jh. üblichen Gravamina entsprach. Von seinem Freund Georg Spalatin, dem Sekretär des sächsischen Kurfürsten, wurde Friedrich der Weise in diesem Sinne beeinflußt. Durch dessen konsequent verfolgte Lutherschutzpolitik geriet der Prozeß (die causa Lutherilder Fall Luther) in den Zusammenhang der Reichspolitik: Da Kaiser Maximilian I. die Wahl seines Enkels Karl zum römischen König betrieb, Papst Leo X. aber die Wahl und damit die Umklammerung des Kirchenstaates durch die Habsburgerstaaten verhindern wollte, mußte dieser Rücksicht auf den einflußreichen sächsischen Kurfürsten nehmen. Leo konzedierte also, daß Luther von seinem zum Augsburger Reichstag entsandten Legaten angehört würde. (Dieser Reichstag von 1518 brachte übrigens die romfeindliche Stimmung vieler Reichsstände zum scharfen Ausdruck mit der erneuten Betonung der Gravamina deutscher Nation.) Kardinal Cajetan, gelehrter Theologe und Kopf der römischen Reformpartei, forderte schlicht einen Widerruf der Ablaßthesen und ihrer Erläuterungen, wohingegen Luther eine dogmatische Sachdiskussion führen wollte. So erbrachte das Verhör in Augsburg vom Oktober 1518, bei dem es letztlich um die Autorität der Kirche ging, keinen Fortschritt. Allerdings führte es bei Luther, der nun an ein Konzil appellierte (um sich dem Urteil des Papstes zu entziehen), zu klarerer Reflexion über den Zusammenhang von Kirche und Rechtfertigung: Gegen den Wahrheitsanspruch des kirchlichen Lehramtes und die sakramentale Heilsvermittlung der Institution setzte er seine Lehre von der persönlichen, im Wort Gottes gegründeten Glaubensgewißheit Daß der Ketzerprozeß trotz Cajetans Auslieferungsbegehren nicht zum raschen Abschluß kam, daß stattdessen beide Seiten eine Verständigung auf dem Verhandlungswege suchten, lag an der weiteren Zuspitzung der politischen Situation. Infolge von Maximilians Tod im Januar 1519 setzte ein diplomatisches Ringen um seine Nachfolge ein, in dem Friedrich der Weise eine Schlüsselrolle spielte. Somit erhielt Luther die Gelegenheit, längere Zeit seine neuen Lehren zu verbreiten, v.a. durch die populär-erbaulichen Sermone von 1518/19. Große Publizität erlangte er im Sommer 1519 durch die Leipziger Disputation mit Johannes Eck, bei der er erstmals die absolute Geltung der Lehrautorität des Papstes und der Konzilien von seinem reformatorischen Schriftprinzip her bestritt. Dieses Ereignis bekam für die weitere Entwicklung grundlegende Bedeutung. Nachdemtrotz Leos Verhinderungsversuchen der junge Habsburger Karl V. im Juni 1519 zum Kaiser gewählt worden war, veränderten sich die politischen Voraussetzungen. Nun kam der römische Prozeß allmählich
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neu in Gang; er endete im Juni 1520 mit der Feststellung von Luthers Häresie in der kg. bedeutsamen Bannandrohungsbulle. Den dort vorgesehenen Widerruf seiner Irrtümer lehnte Luther ab, welcher die Zwischenzeit für grundsätzliche Veröffentlichungen genutzt hatte, die seine Abkehr von der Papstkirche manifestierten (s. 8.2). So erwies er sich definitiv als Ketzer, wie die abschließende Bannbulle vom Januar 1521 feststellte (die nur geringe Resonanz fand). Doch die Exekution des Urteils wurde wieder durch politische Umstände verhindert. 8.1.1 Aufgrund der Anzeige Albrechts von Mainz bzw. der deutschen Dominikaner um Tetzel und Wimpina begann das päpstliche Untersuchungsverfahren gegen Luther wohl im Juni 1518 mit einem anklagenden Gutachten des Kurientheologen Prierias, eines Dominikaners (Silvester Mazzolini aus Prierio). Auf dessen wenig später gedruckte Streitschrift über die Gewalt des Papstes reagierte Luther mit einer Gegenschrift (WA 1, 647-686); diese literarische Auseinandersetzung fand weiterhin noch Fortsetzungen. Der Vorladung nach Rom wegen Häresie und Ungehorsam (August 1518) begegnete Luther durch Einschaltung seines Landesherrn, des sächsischen Kurfiirsten. 8.1.2 Angesichts des Machtdualismus im Reich war es fiir die Herrschaftsstabilisierung wichtig, daß zu Lebzeiten des amtierenden Kaisers dessen Nachfolger gewählt wurde (s. 3.1.1). Seit 1516 bemühte sich Maximilian um die Krönung seines Enkels Kar! (s. 2.1.3). Papst Leo X. und Franz I. von Frankreich sowie etliche deutsche Fürsten opponierten dagegen angesichts der bedrohlichen Perspektive einer habsburgischen Machtkonzentration (vgl. 2.1.1). Besonderes Gewicht erhielt in diesem Konflikt der sächsische Kurfürst Friedrich (1486-1525, geb. 1463), der Weise, wie man ihn schon zu Lebzeiten wegen seiner ausgleichenden Besonnenheit nannte. Das alte Herzogtum Sachsen (Wittenberg), seit 1356 Kurfiirstentum, seit 1422/23 mit der Markgrafschaft Meißen unter den Wettinern verbunden und um andere Gebiete erweitert, das größte deutsche Territorium, wurde 1485 unter den Brüdern Ernst und Albert aufgeteilt: Kurfürstentum unter den Ernestinern mit Zentren Torgau/Wittenberg/Weimar/Gotha, regiert von Friedrich und dessen Bruder Johann; Herzogtum unter den Albertinern mit Zentren Dresden/Leipzig, regiert 1500-39 von Georg dem Bärtigen bzw. dem Reichen. Der um den Landesausbau bemühte Friedrich, von Maximilian I. zum Generalstatthalter des Reiches ernannt, verband in seiner auf Vermittlung bedachten Politik Reichstreue mit fiirstlicher Souveränität. Landesherrliche Fürsorge, Sympathien fiir den Humanismus, Frömmigkeit und Engagement fiir die attraktive neue Universität fundierten seine seit 1518 konsequent betriebene Lutherschutzpolitik, ohne daß er sich förmlich zur Reformation bekannte. Persönliche Kontakte zu Luther vermied er aus politischer Vorsicht zeitlebens. Als Verbindungsmann gewann sein Geheimsekretär und Hofprediger Georg Spa1atin (1484-1545) große Bedeutung fiir den Verlauf der causa Lutheri seit 1518 und der sächsischen Reformation seit 1522; er beeinflußte in der Frühzeit die religionspolitischen Entscheidungen des Kurfiirsten maßgeblich. 8.1.3 Ergebnis von Friedrichs Bemühungen war, daß Luther von dem zum Reichstag nach Augsburg entsandten päpstlichen Legaten Cajetan (Thomas de Vio aus Gaeta; 1469-1534, Dominikaner, seit 1517 Kardinal) verhört werden sollte. Dieses Augsburger Verhör am 12.14. Oktober 1518 bildete insofern einen Markstein, als es die Gegensätze deutlich machte. Gegen den römischen Repräsentanten der Heilsanstalt Kirche stand der deutsche Mönch mit seinem Beharren auf der religiösen Subjektivität, der Exeget gegen den Dogmatiker, der Nominalist gegen den Thomisten. Cajetan begründete seine Auffassung, daß Luthers Thesen häretisch wären, formal damit, daß sie dem Papst und dem kirchlichen Lehramt - v.a. der Bulle von 1343 (s. § 8; 12.3.2) -widersprächen; inhaltlich irre Luther, wenn er als Voraussetzung fiir den rechten Sakramentsempfang die Glaubensgewißheit hinsichtlich der Rechtfertigung durch Gott fordere, weil er damit die Objektivität der sakramentalen Wirkung leugne. Dagegen betonte Luther, daß der Glaube eine persönliche Beziehung zu Gott unter Ausschaltung der kirchlichen Vermittlung herstelle, wobei die Gewißheit nicht im subjektiven Akt des Glaubens, sondern in dessen Gegenstand - Christus und seiner Zusage - basiere. Mit dieser Begründung der Glaubensgewißheit auf Gottes Wort war in Luthers Theologie ein entscheidender Entwicklungsschritt getan. Seit 1518 fand sich klar die Korrespondenz vonfides und
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verbumlpromissio. Er setzte diese Lehre gegen die traditionelle Begründung der Heilsgewißheit von Kirche und Sakrament her und konzipierte damit im Ansatz eine neue Ekklesiologie. In den sog. Acta Augustana vom Dezember 1518 führte er das breiter aus, einem für die Gelehrtenwelt publizistisch aufbereiteten Protokoll des Verhörs (Text: WA 2, 6-26; Übers.: MA 1, 58-87). Gegen das kirchliche Lehramt stellte er die Heilige Schrift; er kritisierte die Lehre von der Wirkung der Sakramente ex apere operato, indem er die Bedeutung des Glaubens betonte; er bestritt die Lehre vom Schatz der Kirche und der kirchlichen Heilsvermittlung mit dem Argument, daß der alleinige Heilsmittler Jesus Christus sein Verdienst den Gläubigen unmittelbar durch den Heiligen Geist mitteile. In Augsburg legte Luther gegen die vorhersehbare Exkommunikation das Rechtsmittel der Appellation an den besser zu informierenden Papst ein (Text: WA 2, 28-33) und am 28.11.1518 appellierteer-trotz des päpstlichen Verbots von 1460 (s. § 8; 14.3.2) - an ein Konzil als Entscheidungsinstanz, womit er Sympathien bei den Konziliaristen weckte (gedruckt als Flugschrift; Text: WA 2, 36-40). Cajetan erwirkte von Leo X. die Verkündigung eines von ihm entworfenen Dekrets über den Ablaß am 9.11.1518, das ohne theologische Begründung die Vergebungsgewalt des Papsteskraft des Schatzes der Verdienste Christi und der Heiligen sanktionierte und damit die Lehrgrundlage für den Lutherprozeß präzisierte (Text/Übers. z.T.: DH 1447-49). 8.1.4 Wegen der Unterstützung Luthers durch seinen einflußreichen Landesherrn vermied der Papst eine zügige Entscheidung in dem an sich klaren Prozeß. Mit Duldung der Kurie bemühte sich der sächsische Adlige und päpstliche Kammerjunker Kar! von Miltitz 1518/19 um eine gütliche Beilegung im Zusammenhang des Versuchs, Friedrich den Weisen durch Gunstbezeugungen (Ablaßprivilegien, Überreichung der Goldenen Rose bzw. Tugendrose, einer römischen Auszeichnung für fromme weltliche Fürsten) aufdie päpstliche Seite zu ziehen. Am 5./6. Januar 1519 handelte er mit Luther in Altenburg einen Kompromiß aus: Dieser sollte hinfort wie seine Gegner - zum Ablaßstreit schweigen und dem Papst eine Unterwerfungserklärung abgeben; sein Verfahren sollte statt in Rom vor einem deutschen Erzbischof verhandelt werden. Luther veröffentlichte daraufhin den mäßigenden Unterricht auf etliche Artikel, die ihm von seinen Abgönnern aufgelegt und zugemessen werden (WA 2, 69-73; BoA 1, 149-153: u.a. über Ablaß, Fegefeuer, Heiligenverehrung), der die Hoheit der römischen Kirche und des Papstes anerkannte. Leo X. schrieb an ihn als geliebten Sohn und freute sich - infolge eines Mißverständnisses -über seine Bereitschaft zum Widerruf. Miltitz blieb 1519 weiterhin aktiv; in Absprache mit Cajetan bot er eine Verhandlung der Luthersache vor dem Gericht des Trierer Erzbischofs an, und dieser verständigte sich mit Kurfürst Friedrich entsprechend, das Verhör auf dem nächsten Reichstag durchzuführen (vgl. 8.1.3). Auch nach Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle bemühte sich Miltitz um einen Ausgleich Luthers mit dem Papst (s. 8.1.7). 8.1.5 Während der politischen Ereignisse auf Reichsebene fand nach längeren, sorgfaltigen Vorbereitungen in Leipzig vom 27. Juni bis 15. Juli 1519 -unter dem Protektorat des albertinischen Herzogs Georg von Sachsen - eine Disputation zwischen Luther (sowie Karlstadt) und Johannes Eck statt. Deren Ziel war eine wissenschaftlich verbindliche Klärung der bisher strittigen Themen (z.B. Sünde, Willensfreiheit, Buße, Ablaß, Fegefeuer). Zum Zentralthema wurde jedoch die Autorität des kirchlichen Lehramtes. Luthers Kritik am päpstlichen Primat und seine - historisch und kirchenrechtlich fundierte - These, daß auch Konzile irren könnten, stellten die Grundlage der traditionellen Ekklesiologie in Frage, auch wenn er das Papsttum nicht generell ablehnte; sie erwies ihn für Eck als Ketzer im Sinne der Hussiten. Damit hatte Eck sein Ziel erreicht und gab entsprechende Informationen sogleich nach Rom weiter. Die Leipziger Disputation erhielt große Publizität (v .a. durch viele Flugschriften; lat. Bericht Luthers: WA 9, 207-212; vgl. MA 1, 96-108). Luthers gelegentlich geäußerter Verdacht, der gegen das Wort Gottes streitende Papst könnte der Antichrist sein (als Institution, nicht als Person), verdichtete sich fortan im Zusammenhang seiner apokalyptischen Situationsdeutung zu einer festen Überzeugung (vgl. dazu v.a. seine Flugschriften von 1520 gegen die Bannandrohungsbulle Adversus execrabilem Antichristi bullam und Wider die Bulle des Endchrists; WA 6, 597-612; 614-629). Zu den politischen Folgen der Disputation gehörte außer der unerbittlichen Gegnerschaft Georgs von Sachsen die Parallelisierung von Luthertum und Hussitenturn bei konservativen Kräften, was deren Abwehrhaltung verschärfte. Unter Luthers Kritikern profilierte sich nun Georgs Berater und ehemaliger Hofkaplan Hieronymus Emser
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(1478-1527) durch heftige Streitschriften im albertinisch-sächsischen Kampf gegen die Reformation zu den Themen Schrift-Tradition, Papsttum-Priesteramt, Messe-Sakrament. 8.1.6 Nach der Kaiserwahl Karls V. konnte Leo X. die politische Rücksicht im Lutherprozeß fallenlassen, der Anfang 1520 eine Neuaufnahme mit zusätzlichem Belastungsmaterial erfuhr. Nach längeren Kommissionsberatungen, an denen Eck als Scharfmacher mitwirkte, wurde am 15. Juni 1520 die Bannandrohungsbulle "Exsurge Domine" verabschiedet. Der Titel des im Druck publizierten Textes nahm Ps 74,22 auf: Erhebe dich, Herr [nämlich gegen deine Feinde]. Dessen Inhalt bestand i.w. aus 41 Sätzen (errores!Irrtümem), die aus Luthers Schriften zitiert und als häretisch verworfen wurden (zu den Themen Ablaß und Buße, Lehramt und Wesen der Kirche); zudem wurden Luthers Schriften verboten, ihm selber 60 Tage Frist zum Widerruf eingeräumt (Text: QGPRK 789; Text/ Übers. z.T.: DH 1451-92). Die Verwerfungen bekamen theologiegeschichtliche Bedeutung, weil sie offiZiell die lutherischen Lehrabweichungen markierten. Die amtliche Verkündung der Bulle in Deutschland, die für deren Rechtswirksamkeit nötig war, übertrug Leo X. den Theologen Girolamo Aleandro/Aieander und Johannes Eck als päpstlichen Nuntien. Eck weitete die Promulgation der Bannandrohung auf Luthersympathisanten wie Lazarus Spengler, Willibald Pirckheimer, Johannes Silvius Egranus, Andreas Karlstadt u.a. aus, hatte aber - anders als Aleander in den Niederlanden - in Mitteldeutschland wenig Erfolg. 8.1.7 Lother reagierte mit einer polemischen Flugschrift Von denneuenEckischen Bullen und Lügen (W A 6, 579-594), den Antichrist-Büchern (s. 8.1.5) und einer Erneuerung seiner Konzilsappellation (Text: WA 7, 75-82), schließlich mit einer Widerlegung der Bulle für Gelehrte und Laien (1520/21 gedruckt: Assertio omnium articulorum .. ./Grund und Ursach aller Artikel ... ; WA 7, 94-151/308-457; BoA 2, 60-132). Eine nochmalige Vermittlung Karls von Miltitz hatte vorher dazu geführt, daß Lother im Oktober 1520 einen Sendbrief an Leo X. mit Widmung des unpoiemischen Freiheitstraktats (s. 8.2.5) richtete. Seine Ablehnung des Widerrufs verband er mit der schon länger geplanten Verwerfung des päpstlichen Kirchenrechts: Demonstrativ verbrannte er - als Reaktion auf die von Aleander veranlaßte Verbrennung seiner Schriften in Löwen, Lüttich, Köln und Mainz - am 10.12.1520 in einem solennen Akt vor Universitätsmitgliedern bei der Heiligkreuzkapelle vor dem Elstertor u.a. Kirchenrechtshandbücher und die Bulle. (Vgl. dazu seine Rechtfertigungsschrift Warum des Papsts und seiner Jünger Bücher ... verbrannt sind; WA 7, 161-182; BoA 2, 28-37.) Bücherverbrennung als mittelalterliche Sitte stellte den symbolischen Rechtsakt der Austilgung von Falschem dar. Die Folge war, daß Lother als notorischer Ketzer galt. Dies deklarierte die Bannbulle Decet pontificem Romanum vom 3.1.1521, indem sie ihn definitiv exkommunizierte, alle seine Anhänger mit Bann und Interdikt bedrohte, die Verbreitung seiner Bücher verbot und zu einer kirchlichen Gegenpropaganda aufrief (Text: QGPRK 790). Ein päpstlicher Begleitbrief nannte als Schuldige neben Lother die Nürnberger Spengler und Pirckheimer sowie Dirich von Rutten.
8.2 Vom Schriftsteller zum Reformator: Publizistische Breitenwirkung Luthers singulärer Einfluß auf eine sich formierende neue - evangelische bzw. reformatorische - Mentalität ergab sich seit 1518 aus der Wirkung seiner theologischen Druckschriften, die sich bis 1521 gewaltig steigerte. Während seine lateinischen Abhandlungen von Humanisten und Gebildeten (v.a. Klerikern und Mönchen) gelesen und z.T. rezipiert wurden, sprachen seine deutschen Traktate und Sermone ein breiteres Lesepublikum an. Er war in jener Phase der Erfolgsautor schlechthin als Ratgeber für religiöse Probleme (z.B. Buße/Beichte, Gebet, Taufe, Abendmahl, Passionsfrömmigkeit) und zunehmend auch für praktische Lebensfragen (z.B. Ehe, Wucher). Allmählich entstand dadurch zu bestimmten Streitfragen eine von ihm beeinflußte öffentliche Meinung, und das wirkte sich auf seinen Konflikt mit der römischen Kirche aus, weil sich Viele mit seiner Sache identifizierten, v.a. die intellektuellen Multiplikatoren, die den Inhalt seiner Schriften durch Predigten oder in eigenen Flugschriften weitergaben. Die allgemeine Aversion
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gegen Rom machte ihn zum Nationalhelden, zum Verteidiger deutscher Interessen (so v.a. durch Ulrich von Rutten propagiert). Besonderes Gewicht erhielten seine programmatischen Schriften von 1520, in denen sich der Übergang von der Luthersache und der Erneuerung individueller Frömmigkeit (als evangelischer Bewegung) zu einer allgemeinen Reformation mit praktischen Konsequenzen ankündigte: Nach Luthers Sermonen über das Abendmahl (u.a. mit Forderung des Laienkelchs und der Reform der Bruderschaften), über den Bann und das Papsttum (u.a. mit Betonung der geistlichen Gemeinschaft gegenüber der sichtbaren Kirche) faßte der Traktat An den christlichen Adel deutscher Nation Kirchenkritik und Ekklesiologie mit den humanistischen Reformvorstellungen und den allgemeinen Gravamina zusammen. Diese sog. Adelsschrift machte Luther in weiten Kreisen populär, weil sie den verbreiteten Antiklerikalismus und viele der bisherigen Reformforderungen aufnahm. Die evangelische Bewegung erhielt hier gleichsam ihr Programm, doch dieses war recht weitläufig, und die für Luther spezifische theologische Neubegründung konnte bei manchen Lesern hinter den praktischen Konkretionen zurücktreten, so daß sich in ihm unterschiedliche religiöse Konzeptionen wiederfinden konnten. Den wichtigsten Anstoß bot Luther mit der Aufforderung an die Laien, sie sollten die Träger der Reformation sein (und nicht -wie bisher erwartet - die Repräsentanten der Kirche), und mit der ekklesiologischen Legitimation durch die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Das konnte so verstanden werden, als sollte die Gemeinde, das gesamte Kirchenvolk im bisherigen Sinne, die Veränderungen betreiben. In der Tat knüpften die bürgerlichen und bäuerlichen Basisbewegungen weithin daran an i.S. einer Gemeindereformation (s. 12.1). Doch Luthers Aufforderung erging konkret an die Obrigkeiten; insofern war sein späterer praktischer Ansatz hier präformiert (vgl. § 12; 2.2). Das theologische Fundament seiner Konzeption entfaltete Luther in allgemein verständlichen Darstellungen der Ethik (Von den guten Werken) und Rechtfertigungslehre (Von der Freiheit eines Christenmenschen). So wurde für ein breites Lesepublikum das Spezifikum der lutherischen Position manifestiert: die Lehre von der Rechtfertigung nicht durch Werke, sondern allein durch Glauben. Das wurde eine Parole, die das Bewußtsein vieler Menschen - vermittelt durch Predigten, Flugschriften und Lieder - seit 1520 nachhaltig prägte. Sie wirkte sich wie die andere öffentlichkeitswirksame Parole allein die Schriftlsola scriptura in den kirchenkritisch-praktischen Programmen aus. Eine an die Gelehrten gerichtete, aber dennoch indirekt in die Breite wirkende Grundsatzkritik der Sakramentenlehre bot das umfangreiche Buch Über die babylonische Gefangenschaft der Kirche (De captivitate Babylonica ecclesiae), über das schriftwidrige Zwangssystem einer Verfälschung der Sakramente. Hier bestritt er die theoretische Grundlage der kultischen Praxis, welche das alltägliche Leben eminent prägte. Wenn er v.a. die Lehre von der Messe als Opfer der Kirche attackierte (als größten und schrecklichsten Greuel, nämlich als Verkehrung des einmaligen Opfers Christi und Geschenkes Gottes in ein menschliches Werk), dann wurde daran deutlich, daß die evangelische Bewegung nun zu einer praktischen Reformation im
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eigentlichen Sinne tendierte: Neben der evangelischen Predigt begann der Kampf gegen die Meßpraxis und ihre Konsequenzen für das religiöse Leben (vgl. 5.1). Der methodische Ansatz, nur das gelten zu lassen, was unzweifelhaft in der Bibel begründet sei, entsprach humanistischen Ansätzen und populären Vorstellungen. Das reformatorische Schriftprinzip wirkte alsbald durchschlagend bei der Umgestaltung des kirchlichen Lebens, zumal es sich in der Praxis mit der allgemeinen Forderung nach evangelischer, d.h. schriftgemäßer Predigt verband. 8.2.1 Luthers Entwicklung vom beachteten Kritiker und viel gelesenen Erbauungsschriftsteller zum dominierenden reformatorischen Meinungsführer wäre ohne die Verbreitung seiner Ideen durch den Buchdruck (vgl. 4.2.3) nicht eingetreten. Die Möglichkeiten dieses neuen Massenmediums nutzte er virtuos durch sein herausragendes schriftstellerisches Können. Die Multiplikation durch Prediger kam ergänzend und zunehmend wirkungsvoll hinzu. In den Jahren 1518 und 1519 veröffentlichte er 45 Schriften, davon 20 in deutscher Sprache, die durch Nachdrucke im ganzen Reich mit ca.130 Ausgaben in etwa 250.000 Stück verbreitet wurden. 1520 schwoll die Produktion durch weitere Auflagen und durch 27 neue Schriften an, wobei das durch den Ketzerprozeß erregte öffentliche Interesse den Absatz steigerte und nun die populären deutschen Texte überwogen. 8.2.2 Ein von der römischen Kurie besonders gefürchteter Opponent gegen das kirchliche System war der Humanist Ulrich von Hutten (s. 6.2.5), der sich - wie für Reuchlin im Streit mit den Dominikanern (s. 6.2.4) - seit 1520 auch für den als Ketzer angeklagten Luther einsetzte. Er wollte Luthers theologische Kritik an der Papstkirche durch seine - in nunmehr deutschsprachigen Flugschriften propagierten - politisch-publizistischen Aktionen gegen Rom, die Romanisten und Kurtisanen, flankieren (Deutsche Schriften, 2 Bde., hg.v. H. Mettke, 1972-74). Bezeichnenderweise traf der päpstliche Bann gegen die Lutheranhänger 1521 ihn mit (s. 8.1.7). Die Gravamina und die Klerusreform waren ihm die wichtigsten Anliegen einer Erneuerung, die v.a. die Freiheit von der Priesterherrschaft bringen sollte. Für das religiöse Anliegen oder gar für die theologische Tiefe Luthers besaß er kein Sensorium. Er verfolgte vage, hochfliegende Pläne für eine nationalkirchliche Reform, die - auf der Basis einer Säkularisierung der geistlichen Fürstentümer - mit einer Reichsreform verbunden sein sollte. Und als wichtigsten Trägerkreis dieser Reform sah er die Reichsritter, seinen eigenen Stand, an (s. 9.3). Dementsprechend bewog er den mächtigen Franz von Siekingen nicht nur zu materieller Hilfe für Reuchlin, sondern auch im Frühjahr 1520 zu einem Schutzangebot an den gefahrdeten Luther. Diesen stilisierte er zum Nationalhelden, welcher gegen Rom die deutsche Freiheit verteidige. Das wirkte in humanistischen Kreisen des Adels und Bürgertums, denn Hutten war damals neben Luther der einflußreichste Publizist Deutschlands. 8.2.3 Sein reformatorisches Kirchenverständnis entwickelte Luther in der Auseinandersetzung mit Papsttum und römisch-katholischen Theologen (vgl. 8.1.3-5). Gegen den Leipziger Franziskaner Augustin von Alveldt (ca.1480-ca.1535) bekräftigte er es in der Schrift Von dem Papsttum zu Rom ... (Juni 1520; Text: WA 6, 285-324; BoA 1, 324-361). Er verstand Kirche primär als geistliche, verborgene Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus als Haupt, die er von der leiblichen, äußerlichen Christenheit, der Institution Kirche, unterschied. Die im August 1520 veröffentlichte Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (WA 6, 404-469; BoA 1, 363-421) war adressiert an Kaiser, Reichsfürsten und Ritter, welche Luther aufforderte, die notwendige Erneuerung der Kirche zu bewerkstelligen. Dabei sollten sie gegen die drei Mauern der Romanisten, d.h. der Kurie und der Kirchenrechtslehrer, vorgehen, welche bisher das Reformengagement behindert hatten: 1. die Behauptung der Superiorität der geistlichen Gewalt über die weltliche; 2. die Reservierung authentischer Schriftauslegung durch den Papst; 3. den Alleinanspruch des Papstes auf Einberufung eines Konzils. Nun opponierte Luther in aller Schärfe gegen die Papstkirche auf der Basis seiner Lehre vom aUgemeinen Priestertum aller Gläubigen, mit der er die Berechtigung der Laien legitimieren wollte, derart in kirchliche Belange einzugreifen. Reformforderungen waren z.B.: radikale Änderung der Kurie, Abstellung der Gravamina (Annaten, Reservationen, Palliengelder; s. 5.2.1), Bildung einer deutschen Nationalkirche i.S. Wimpfelings und Huttens (s. 6.1.2; 6.2.5), weitgehende Aufhebung der Bettelorden, Umwandlung der Klöster in Schulen; Pfarrerwahl durch die Gemeinden, Umwandlung des privilegierten Klerus in einen gesell-
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schaftlieh integrierten Predigerstand, Aufhebung des Zölibats; Abschaffung oder Reduktion der Seelenmessen und Meßstiftungen; Beschränkung der kirchlichen Feste, Wallfahrten und Ablässe; Reform der Armenpflege, Bruderschaften und Universitäten. Das entsprach populären Meinungen und gab der Adelsschrift große Durchschlagskraft. Sie erfuhr mit 15 Ausgaben weite Verbreitung; die Wittenberger Erstauflage von 4.000 Stück war in fünf Tagen vergriffen. 8.2.4 Da kirchliches Leben und allgemeine Religiosität zutiefst durch die Sakramentenpraxis bestimmt waren, befaßte sich Luther in volkstümlichen Schriften 1518-19 häufig damit. Die Abendmahlslehre entfaltete er im Sermon von dem neuen Testament (Juli 1520; WA 6, 353378; BoA 1, 299-322): Gegen die scharf kritisierte Lehre von der Messe als Opfer der Kirche sah er das Wesen dieses Sakraments in der göttlichen Zusage der Sündenvergebung, in Jesu Einsetzungsworten als Testament. Einen Neuansatz für die gesamte Sakramentenlehre bot der am 6.10.1520 erscheinende umfangreiche TraktatDe captivitate Babylonica ecclesiae praeludium!Vorspiel über die babylonische Gefangenschaft der Kirche (Text: WA 6, 497-573; BoA 1, 426-512; Übers.: MA 2, 153-254): Die Siebenzahl lehnte er ab, ebenso die Transsubstantiationslehre und die Praxis des Abendmahls unter einer Gestalt sowie die Entartung der Buße durch Ohrenbeichte und Werkerei (vgl. § 14; 6.1.1; 6.2.2; 6.3.3). 8.2.5 Längere Zeit arbeitete Luther an seiner Darstellung einer evangelischen Ethik als Auslegung des Dekalogs, dem Sermon von den guten Werken (veröffentlicht Anfang Juni; WA 6, 202-276; BoA 1, 227-298). Vom ersten Gebot her bestimmte er den Glauben, das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, als Quelle für alle von Gott geforderten Taten. Eine einprägsame, rhetorisch gestaltete Ausformung der Rechtfertigungslehre verfaßte er im Oktober 1520 zusammen mit seinem Sendbrief an Leo X. (s. 8.1.7): Von der Freiheit eines Christenmenschen, aufgrund einer erweiterten lateinischen Fassung De libertate Christiana (Texte: StA 2, 264-309; WA 6, 20-38/49-73; vgl. BoA 2, 2-27). Wie die Adelsschrifterzielte auch der Freiheitstraktateine große Öffentlichkeitswirkung. Er begründete den Zusammenhang von Glaube und Liebe mit einer paradoxen Doppelthese: Der Christenmensch sei ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan (nämlich im rechtfertigenden Glauben an Christus, der von allen Zwängen befreie), sei aber zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge undjedermann untertan (nämlich in der Liebe als Frucht des Glaubens, die zum Dienst antreibe).
8.3 Reformationsverbot: Das Wormser Edikt 1521 Da nach mittelalterlichem Ketzerrecht die Exekution einer Häretikerbannung der weltlichen Gewalt oblag (s. § 8; 10.3.2), mußte der päpstlichen Verurteilung seitens des Kaisers die Reichsacht folgen, die zur physischen Vernichtung führen sollte. Dochaufgrund der Verzahnung von Lutherprozeß und Reichspolitik funktionierte diese Automatik nicht. Karl V. , der den Reichsständen in seiner W ahlkapitulation manche Zugeständnisse gemacht hatte und auf seinem ersten Reichstag 1521 in Worms Maßnahmen der Reichsreform (s. 3.1) beschließen lassen wollte, gab deshalb dem Drängen Friedrichs des Weisen nach, vor der endgültigen Verurteilung eine Anhörung Luthers unter Zusicherung freien Geleits durchzuführen. Das war zwar ein schwerer Verstoß gegen geltendes Recht und ein Bruch mit mittelalterlicher Denkweise, war aber begründet in Karls Verständnis der Universalgewalt, das ihn als Schutzvogt der Christenheit nun zum Schiedsrichter zwischen Papst und deutscher Opposition werden ließ, sowie in seiner W ahlkapitulation gegenüber den Fürsten. Luthers Reise nach Worms im April 1521 gestaltete sich zu einem Triumphzug in etlichen Städten und offenbarte die breite Zustimmung der Bevölkerung. Doch der Reichstag hatte kein Interesse daran, seine Sache völlig neu zu verhandeln, und da Luther den geforderten Widerruf ablehnte, blieb es bei der päpstlichen Verurteilung. Der Kaiser verhängte als Schützer der kirchlichen Ordnung die Reichsacht über ihn und seine Anhänger. Der nun-
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mehr mit dem Tod bedrohte Luther konnte - anders als Jan Hus 1415 (s. § 8; 13.2) - ungehindert nach Hause reisen. Das Wormser Edikt bildete fortan die reichsrechtliche Grundlage für das Verbot der lutherischen Reformation und blieb bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 gültig. Damit schien die Neuerungsbewegung durch Gewalt ausgelöscht werden zu können; doch das war ein Irrtum, weil die meisten Reichsstände sich bei der Durchführung des Edikts in ihren Territorien wegen befürchteter Unruhen zurückhielten. Die evangelische Bewegung war ja inzwischen über den Kreis der unmittelbaren Luthersympathisanten hinaus angewachsen und erhielt weiterhin neuen Auftrieb. Luther selber verschwand spurlos für die deutsche Öffentlichkeit, weil Kurfürst Friedrich ihn auf der Rückreise nach Überschreiten der sächsischen Grenze am 4. Mai 1521 durch einen Scheinüberfall ins Versteck auf der Wartburg entführen ließ. Der Kaiser konnte sich um die Durchführung des Edikts nicht kümmern, weil er im Winter 1521122 Deutschland verließ und - wegen der Beanspruchung durch die spanische und europäische Politik - erst 1530 wieder im Reich erschien, dessen Regierung er seinem Bruder Ferdinand als Statthalter übertrug. Für Karl V. war vordringliches Problem der Krieg mit Frankreich um Italien und Burgund, die deutsche Reformation nur ein Randproblem. Sein Konzept einer Weltmonarchie, die über die mittelalterliche Universalidee hinaus durch eine gesamteuropäische Dominanz und durch Einbeziehung der neuen Welt verwirklicht werden sollte, setzte Ruhe in Deutschland voraus, die er langfristig durch Unterordnung der Reichsstände erreichen wollte. Doch die Verbindung von territorialer Autonomietendenz und Reformation bedrohte seit 1521 diese Voraussetzung. 8.3.1 Der am 24.2.1500 in Gent geborene, in Flandern und Brabant aufgewachsene Kar! V. (seit 1515 Herzog von Burgund, seit 1516 König von Spanien), marginal durch spanische Reformreligiosität und niederländischen Humanismus beeinflußt, wurde zum wichtigsten Gegner der Reformation. Er war an der traditionellen Kirchlichkeit orientiert, die er mit seiner Rolle als weltlichem Oberhaupt der Christenheit verband. Er erstrebte zusammen mit dem Ausbau seines Reiches eine Erneuerung der Kirche. Damit aber lehnte er bis zum Ende seiner Herrschaft 1556 die deutsche Reformation grundsätzlich ab, weil diese für ihn nicht nur antikatholische Häresie, sondern auch antikaiserliche Revolte war. Sein universales Herrschaftskonzept wurde i.w. von seinem Großkanzler, dem humanistisch gebildeten Piemonteser Mercurino de Gattinara entworfen, der bis zu seinem Tod 1530 Karls Politik beeinflußte. Wegen der innenpolitischen Unruhen in Spanien kam Kar! erst im Oktober 1520 ins Reich zur Aachener Kaiserkrönung und zur Abhaltung eines Reichstages. 8.3.2 Den Reichsständen hatte Kar! 1519 Zugeständnisse machen müssen, die seine Regierungshoheit begrenzen, spanisch-burgundische Einflüsse fernhalten und die Freiheiten der Fürsten sichern sollten; ersttnals wurden sie förmlich in einer Wahlkapitulation fixiert, was seitdem bis 1806 die Verfassungswirklichkeit des Reiches bestimmte. Auf diesem Hintergrund sowie im Zusammenhang mit der Gravamina-Diskussion (s. 5.2.1) bestand Friedrich der Weise, unterstützt durch andere Fürsten, darauf, daß man in der Luthersache nicht einfach das päpstliche Urteil übernehmen dürfte, sondern selber eine Untersuchung durchführen müßte. Das lag auf der Linie nationalkirchlicher Tendenzen, widersprach aber der Rechtslage und Karls kaiserlichem Rollenverständnis, der erst nach zähen Verhandlungen zu Beginn des am 27./28.1.1521 eröffneten Reichstages in Worms trotzder Proteste des päpstlichen Nuntius Aleander einwilligte. Die Erinnerung an den Hus-Skandal1415 (s. § 8; 13.2.6) führte dazu, daß das kaiserliche Vorladungsschreiben vom 6.3.1521 Luther freies Geleit für An- und Abreise garantierte und daß Kar! diese Zusage trotz gegenteiliger Ratschläge einhielt. Die Luthersache war kein Verhandlungsgegenstand des Reichstages, vielmehr ging es auf diesem um Kompro-
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misse bei der Besetzung des Reichskammergerichts, der Neuetablierung des Reichsregiments und der Verbesserung der Reichsfinanzen (vgl. 3.1.4-6). 8.3.3 Das offiZielle Luther-Verhör (das nicht auf einer Reichstagssitzung, sondern im kaiserlichen Wohnquartier stattfand) führte der OffiZial/Gerichtsherr des Trierer Erzbischofs, Johann von der Ecken, am 17.4.1521 durch (Texte: RTA 2, 545-569. 588-594; WA 7, 825-857). Entgegen Luthers Erwartung ging es keineswegs um eine Verhandlung über seine Position. Es bezog sich der Vorladung gemäß lediglich auf die Doppelfrage, ob die vorgelegten Bücher von ihm verfaßt worden wären und ob er bei den darin formulierten Lehren bleiben oder sie widerrufen wollte. Nach einem Tag Bedenkzeit erläuterte Luther die Intentionen seines Schrifttums (Befreiung von Mißständen und päpstlicher Tyrannei) und begründete seine Ablehnung eines Widerrufs mit der Berufung auf sein durch Gottes Wort gebundenes Gewissen. Er hoffte weiterhin auf eine öffentliche Disputation, was wohl hinter der berühmten abschließenden Antwort auf die Widerrufsfrage stand: Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde (denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststeht, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben), so bin ich durch die von mir angefii.hrten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen. (Text: WA 7, 838.876). Das oft zitierte Wort Ich kann nicht anders, hier stehe ich findet sich erst in einem späteren Druck. 8.3.4 Kar! V., vom ganzen Vorgang enttäuscht, legte am 19. April den Reichsständen ein eigenhändig (französisch) verfaßtes Bekenntnis vor: zur Verteidigung des katholischen Glaubens, des traditionellen Kultes und Kirchenrechts und zur Unterdrückung der Ketzerei. Allerdings zogen sich die Verhandlungen über das weitere Vorgehen etwas hin; das von Nuntius Aleander entworfene, am 8.5. beurkundete, am 26.5.1521 veröffentlichte Edikt zur Reichsacht dekretierte im Namen des Kaisers: 1. Als verurteilter Ketzer war Lother vogelfrei, durfte von niemandem aufgenommen oder unterstützt werden, sondern sollte dem Kaiser zugeführt werden. 2. Seine Anhänger wurden gemäß der Reichsacht mit Gefängnis und Güterkonfiskation bedroht. 3. Seine Schriften wurden verboten, durften von niemandem gekauft, gelesen, verkauft oder abgeschrieben werden. 4. Im ganzen Reich sollte y 4: GralsdWt MANfeld (z.T. unter lcursöchsischer Lehnshoheit) 5: Allstedt (unter kurlichsischer Hernchoft) 6: Hochstift Merseburg 7: Stift Wurzen (zum Hochstift MeiBen gehörig) 8: Reichsstadt Mühlhausen mit Landgebiet 9: Hochstift Naumburg-Zeitz 10: Erzstift Mainz (Eichsfeld, Erfurt mit Londgebiet) 11: HernciWt Sc:lunalkalden (z.T. selbstlindig, z.T. unter Hessens Herl'SCNft) 12: GrafodWten Henneberg 13: Grafschotten Schwarzhausen (unter sächsischer Oberhoheit) 14: Grafschotten/Vogteien ReuB
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Abb. 30: Sächsische Territorien (Wettiner) um 1520 ~ Kurfürstentum Sachsen (emestinisch) D Herzogtum Sachsen (albertinisch)
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9. Evangelische Bewegung und Reformationsbeginn 1521-25 In kirchlicher, sozialer und politischer Hinsicht ergab sich bis 1525 eine beträchtliche Destabilisierung. Aufgrund der seit 1518 angebahnten Mentalitätsveränderung kam es nach 1521 allmählich, unsystematisch und nur mancherorts zu strukturellen Neuerungen. Das Ganze war zunächst eine evangelische Bewegung, d.h. eine kaum organisierte, von einigen Multiplikatoren- v.a. Predigern, aber auch Adligen und Bürgern - getragene Abweichung vom herkömmlichen Leben. Sie vollzog sich als Ausbreitung der evangelischen Predigt (d.h. der neuen Lehren) und als Kampf gegen die Opfermesse (mit partieller Umgestaltung des Gottesdienstes), zunehmend auch durch den Klosteraustritt von Mönchen/Nonnen und durch Bruch des Zölibats, ansatzweise durch Reform des Klerus, der Armenfürsorge und des Schulwesens. Keine der Änderungen war politisch oder rechtlich abgesichert. Im Reich galt das Reformationsverbot des Wormser Edikts. Es war allerdings überlagert durch eine relativ breite Reformdiskussion und blieb wenig wirkungsvoll wegen des reichspolitischen Attentismus. Nur wenige Territorien, Ritter und Städte förderten offiziell die Neuerungen, schufen damit jedoch Tatsachen, die - wenngleich sie durch eine antievangelische Reaktion jederzeit rückgängig gemacht werden konnten - mittelfristig den allgemeinen Strukturwandel begünstigten. Das galt besonders, wenn die Neuerungen mit Änderungen der kirchlichen Eigentums- und Rechtsverhältnisse verbunden waren; doch solche ergaben sich bis 1525 eher selten. Jene Zeit war eine lebenskräftige Krisenepoche, in der Neuaufbrüche und alte Verhältnisse kollidierten. Das zeigte sich z.B. in städtischen Konflikten und Unruhen der Reichsritter. Stärksten Ausdruck fand dieses Charakteristikum im sog. Bauernkrieg (s. 16.1-2). Die Differenzierung des Erneuerungsprozesses zeigte sich auch daran, daß neben dem dominierenden Einfluß von Luthers Konzeption sich andere reformatorische Typen entwickelten, die bis ca.1525 zum scheinbar einheitlichen Gesamtbild der evangelischen Bewegung gehörten: die humanistische Stadtreformation in Süddeutschland, die durch Zwingli geprägte, von Zürich ausstrahlende Stadtreformation, die revolutionäre Konzeption Müntzers, die radikale Gemeindereformation der Täufer und die spiritualistische Separation (s. 10.1-15.3).
9.1 Reichspolitik und Reformkonzil Die Beseitigung der seit langem kritisierten kirchlichen Mißstände, zumal der Gravamina, blieb unabhängig von der Luthersache (seit 1521 jedoch faktisch von dieser nicht ablösbar) ein Thema der Reichspolitik. Trotz Karls V. Abwesenheit entfalteten die Stände auf drei Nürnberger Reichstagen 1522-24 und im wiedererrichteten Reichsregiment mancherlei Aktivitäten, die allerdings primär nicht der Religionsfrage, sondern der Finanzreform und der Türkenabwehr galten. Die ständische Vertretung im Reichsregiment gab einigen fürstlichen Räten neue Einflußmöglichkeiten, die auch die Diskussion um die Kirchenreform voranbrachten. Als der neue, reformbereite Papst Hadrian VI. von seinem Nuntius auf dem
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Nürnberger Reichstag 1523 im Zusammenhang mit der Aufforderung zu kirchlicher Erneuerung und Ketzerbekämpfung ein Schuldbekenntnis vortragen ließ, reagierte der Reichstag i.S. konziliaristischer Programmatik mit der Forderung nach Einberufung eines freien, d.h. vom Papst unabhängigen Konzils. Fortan bestimmte die Konzilsforderung die Reichspolitik, vorgetragen sowohl von Anhängern als auch von Gegnern der evangelischen Bewegung. In ihr bündelten sich alte Hoffnungen auf Erneuerung. Da der starke Widerstand der Kurie und des Hadriannachfolgers Clemens VII. ein allgemeines Konzil zu verhindern drohte, beschlossen die Reichsstände, im Herbst 1524 eine Versammlung zur Ordnung der kirchlichen Verhältnisse abzuhalten, quasi ein deutsches Nationalkonzil Zugleich übten sie hinsichtlich der Durchführung des Wormser Edikts weiterhin Zurückhaltung aus Sorge vor Aufruhr im Volk. Beides förderte zusammen mit den Reformhoffnungen die evangelische Bewegung beträchtlich. Doch Karl V. verbot von Spanien aus jene Nationalversammlung; das hatte zur Folge, daß die Verhinderung der sich anbahnenden Kirchenspaltung weiterhin aufgeschoben wurde und daß die lutherische Ketzerei sich in einigen Teilen des Reiches stärker ausbreiten konnte. Um sich dagegen zu wehren und zugleich konservative Reformen durchzusetzen, schlossen süddeutsche Fürsten 1524 das sog. Regensburger Bündnis. Der Religionsstreit erhielt seitdem durch partikulare Bündnisse eine neue politische Komponente (s. § 12; 1.1). Auf dem Hintergrund allgemeiner, in den Bauernaufständen kulminierender Unruhen drohten die religiösen Gegensätze in bewaffnete Konflikte umzuschlagen; diese Problemkonstellation bestimmte die weitere Entwicklung. Seit 1524 trat neben den sächsischen Kurfürsten ein weiterer, für die Reformation engagierter Reichsfürst, der die Politisierung vorantrieb: Landgraf Phitipp von Hessen (s. § 12; 2.3). 9.1.1 In dem mit geringer Exekutivgewalt ausgestatteten Reichsregiment (s. 3 .1.5), das bis 1524 in Nürnberg tagte, spielten zwei Politiker eine religionspolitisch wichtige Rolle, die für Luthers Position aufgeschlossen waren und geschickt eine Exekution des Wormser Edikts verhinderten: der kursächsische Rat Hans von der Planitz (1473/4-1535), der die Schutzpolitik Friedrichs des Weisen hartnäckig und klug verteidigte, und der bambergische Hofmeister Johann von Schwarzenberg (1463-1528), ein gebildeter Humanist und einflußreicher Jurist. Angesichts der Wittenberger Unruhen (s. 9.2) erwirkte der albertinische Herzog Georg von Sachsen (s. 8.1.2) im Januar 1522 ein Mandat des Reichsregimentes, das den sächsischen Fürsten und Bischöfen ein Einschreiten gegen alle Neuerungen befahl. Planitz und Schwarzenberg argumentierten mit dem Hinweis aufmöglichen Aufruhr und aufLuthers mäßigende Position (s. 9.2.5) gegen eine Unterdrückung der evangelischen Bewegung. Welche Gefahr dem renitenten Kursachsen vom Reich her drohen konnte, zeigte auch die Tatsache, daß Georg Spalatin für Friedrich den Weisen von Luther, Melanchthon, Bugenhagen und Amsdorff im Februar 1523 Gutachten zum Recht auf bewaffneten Widerstand gegen Gewaltanwendung anforderte. Dies Thema blieb seitdem relevant (s. § 12; 3.2.5). 9.1.2 Die mit der Arbeit des Reichsregimentes verbundenen Nürnberger Reichstage brachten eine Weichenstellung durch Zurückhaltung bei der Eindämmung der evangelischen Bewegung, die nicht zuletzt wegen des für die Türkenhilfe wichtigen kursächsischen Finanzbeitrages erfolgte. Damit entstand ein politisches Junktim, das in den nächsten Jahren eine große Rolle spielte. Reformhoffnungen richteten sich auf den Pontifikat des Niederländers Hadrian VI., eines gelehrten Theologen und Erziehers Karls V. Dessen Nuntius Francesco Chieregati verband vor dem Reichstag am 3.1.1523 die Forderung nach Türkenhilfe und Ketzerunterdrückung mit dem Eingeständnis, daß die kirchlichen Schäden und v.a. die Mißstände im
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Papsttum die Verbreitung der lutherischen Sekte begünstigt hätten (Text z.T.: KTGQ 3,92-94). Dadurch bewirkte er aber, daß sich Lothersache und deutsche Gravamina verbanden: Der Reichstag verlangte ein umgehend abzuhaltendes frei christlich Konzil in deutschen Landen und beschloß, daß die Prediger bis dahin das Evangelium gemäß der Heiligen Schrift entsprechend der Kirchenväterauslegung lehren sollten (beides eine unbeabsichtigte Förderung der evangelischen Bewegung). Der nächste Reichstag erneuerte im April1524 die Konzilsforderung und verknüpfte den Plan für eine Nationalversammlung in Speyer mit der Auskunft, dem Wormser Edikt soweit als möglich nachzuleben (Text: AQDGNZ 16, 492t). Das konnte durchaus als Relativierung verstanden werden. In einigen reformatorischen Territorien bereiteten sich die Prediger mit theologischen Ratschlägen auf das Nationalkonzil vor, was die konfessionelle Selbstklärung förderte (s. § 15; 2.1.2). Den ganzen Plan lehnte Kar! V. als anmaßenden Eingriff in kaiserliche Hoheit und päpstliche Kirchengewalt ab. 9.1.3 Auf Betreiben des päpstlichen Legaten Lorenzo Campeggio trafen im Juni 1524 altgläubige Reichsstände in Regensburg Büngnisabsprachen zur Durchsetzung des Wormser Edikts in ihren Territorien: Ferdinand von Osterreich, die Bayernherzöge und die Bischöfe von Salzburg, Augsburg, Passau, Speyer. Bayerndrängte aufkirchliche Reformen zur Beseitigung der Mißstände, um die evangelische Bewegung damit aufzuhalten; doch die Praktizierung der beschlossenen Formula reformationis scheiterte an dem Desinteresse der geistlichen Fürsten. (Zum Dessauer Bund s. § 12; 1.1.1.)
9.2 Probleme der Neuordnung: Die Wittenberger Unruhen 1521122 Luthers Theologie führte in Verbindung mit der allgemeinen Kritik am kirchlichen System teilweise zu Strukturveränderungen. Die in der Bevölkerung verbreitete Forderung nach Predigt des reinen Evangeliums traf das Gottesdienstwesen zentral: v.a. die Bedeutung des Meßopfers und die komplexe Praxis der Privatmessen, damit verbunden die lateinische Liturgiesprache und die Beteiligung der Gemeinde. Strukturelle Probleme ergaben sich aus der Tatsache, daß zahllose Meßstiftungen mit Pfründen oder Dotationen für Priester aller Art zusammenhingen (s. 5. 1). Die Kritik an der Heiligenverehrung traf das Inventar der Kirchengebäude ebenso wie die religiöse Existenzgrundlage der Bruderschaften. Die Ablehnung des Zölibats führte wegen der Mißstände dazu, daß seit 1521 viele Kleriker heirateten. Der Austritt zahlreicher Mönche und Nonnen aus den Klöstern wurde durch Luthers grundsätzliche Ablehnung des Mönchtums gefördert, vorbereitet durch die humanistische Kritik an der religiös-gesellschaftlichen Nutzlosigkeit der Klöster (Forderung nach Ersatz durch relevante Aufgaben in Schul-, Armen- und Krankenwesen). Wegen der besonderen Stellung Wittenbergs innerhalb der evangelischen Bewegung wirkten die dortigen Vorgänge paradigmatisch. Während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg kam es dort seit Herbst 1521 zu tumultuarischen Umgestaltungsversuchen. Als Wortführer einer radikalen Neuerung profilierte sich - neben dem Augustinermönch Gabriel Zwilling - der Theologieprofessor Andreas Karlstadt, der zunächst gegen Zölibat und Mönchtum, dann gegen Messe und Heiligenbilder polemisierte. Die ersten evangelischen Abendmahlsfeiern signalisierten für die Gemeinde einen Dammbruch. Die Unruhe verschärften die sog. Zwickauer Propheten, die sich für ihre Forderungen auf unmittelbare Erleuchtung durch den Geist beriefen. (In Zwickau gab es ebenfalls innerevangelische Konflikte um die Neuordnung; vgl. zu Müntzer 13.1.2.) Philipp Melanchthon und andere konservative Reformer waren nicht in der Lage, einen gemäßigten Gegenkurs zu steuern. Eine von Karlstadt inaugurierte Kirchenordnung
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intendierte erste evangelische Strukturreformen; unter seiner Führung kam es im Januar/Februar 1522 zum Bildersturm, der die traditionellen Kultgegenstände vernichten sollte, sowie zur Aufbebung des Universitätsbetriebes. Nun griff Luther ein, verließ die schützende Wartburg und mobilisierte im März 1522 durch die Invokavitpredigten die Wittenberger Gemeinde, indem er den Grundsatz einschärfte, aus Rücksicht auf die Schwachen, d.h. die Konservativen in Sachsen, müßte man bei Neuerungen behutsam vorgehen. Karlstadt wurde durch den Stimmungsumschwung isoliert, Zwilling trat auf Luthers Seite, und die Zwickauer Propheten verließen die Stadt; die Ruhe war wiederhergestellt. Mit der Maxime, daß eine Reformation sich in gemäßigter Form entwickeln sollte, setzte Luther allgemein akzeptierte Maßstäbe. Auch andernorts orientierten Neuerer sich an dem strukturkonservativen Wittenberger Modell: Entscheidend sollten die evangelische Predigt und der durch sie bewirkte Mentalitätswandel sein; aus diesem sollten organisch Veränderungen der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse herauswachsen. Dazu verfaßte Luther populäre Flugschriften; für das Anwachsen der evangelischen Bewegung in Deutschland gewann seine Übersetzung des Neuen Testamentes von 1522 größte Bedeutung. 9.2.1 Im engen Raum Wittenbergs zeigte sich exemplarisch die Vielgestaltigkeit der evangelischen Bewegung, welche nicht allein durch Luthers Theologie geprägt war. Repräsentant einer eigenständigen Konzeption war Andreas Karlstadt, d.h. Andreas Bodenstein aus Karlstadt (1486-1541), ein bedeutender Theologe und Jurist, der 1511 mit dem Archidiakonat am Wittenberger Allerheiligenstift eine Professur an der Universität übernommen hatte und seit 1518 zu den Reformern gehörte (s. 7 .2.1). Dabei machte sich auch der Einfluß der deutschen Mystik bemerkbar, den ihm seit 1517 die Lektüre der Schriften Johann Taulers vermittelte. Seine reformatorische Position war bestimmt durch eine eigentümliche Verbindung von Spiritualismus und Literalismus, wörtlicher Anwendung der Schriftaussagen und enthusiastischer Relativierung der Wirklichkeit. Der daraus resultierende Rigorismus prägte die Wittenberger Unruhen 1521/22. 9.2.2 Die Veränderung des Kirchenwesens fing damit an, daß einige Priester heirateten, viele Augustinermönche ihr Schwarzes Kloster verließen und Melanchthon mit Studenten die Eucharistie unter beiderlei Gestalt feierte. Als Agitator für eine radikale Erneuerung trat neben Karlstadt v .a. der Augustinermönch Gabriet Zwilling (ca.1487-1558) hervor, ein mitreißender Prediger, der für die Abschaffung der Meßfeier im Schwarzen Kloster sorgte und selber aus dem Orden austrat. Karlstadts Kritik zielte v .a. auf die Beseitigung der Privatmessen. Anfang Dezember unterbanden Bürger und Studenten gewaltsam deren Abhaltung in der Stadtkirche und im Grauen Kloster der Franziskaner. Demonstrativ feierte Karlstadt zu Weihnachten in der Schloßkirche wie in der Stadtkirche eine Art evangelischer Messe (mit Austeilung des Kelches an die Laien) in bürgerlicher Kleidung. Da in Zwickau die Reformbewegung schon 1520 im fundamentalkritischen Sinne vorangeschritten war (s. 13.1.2), kamen die dort ausgewiesenen Enthusiasten -von Lother "Zwickauer Propheten" genannt, Ende Dezember 1521 nach Wittenberg: die beiden Tuchmacher Nikolaus Storch (ein gebildeter, redegewandter Bibelkenner) und Thomas Drechsel sowie der ehemalige Student Markus Thomae, gen. Stübner. Ihr Spiritualismus verunsicherte Melanchthon, für den das Verhältnis zwischen Geist und Wort Gottes damals noch unklar war (s. § 14; 8.3.1) und der deshalb ihren Weisungen nichts entgegnen konnte. 9.2.3 AufKarlstadts Initiative hin erließ der Rat am 24.1.1522 eine Ordnung der Stadt Wirtenberg zur Reform des Gottesdienstes, des kirchlichen Inventars, der Stiftungen und Finanzen, der Armenfürsorge, des Bettel- und Dirnenwesens -ein erstes Beispiel dafür, wie die religiösen Veränderungen sich im sozialen Bereich auswirkten (Text: EKO 1/1, 697f; KTGQ 3,8284). Trotz des Widerstands im Rat kam es am 6.2.1522 zum Bildersturm unter Karlstadts
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Führung, dem ein Teil der Einrichtung der Stadtkirche zum Opfer fiel. Karlstadt hatte das theoretisch vorbereitet durch seine Schrift Von Abtuhung der Bylder, die auf große Resonanz auch außerhalb Wittenbergs stieß (Text hg.v. H. Lietzmann, 1911; Flugschriften ... , hg. v. A. Laube u.a., Bd.1, 1983, 105-127; z.T. KTGQ 3, 89t). Seine Ablehnung jeglicher höheren Bildung, die sich bei ihm aus Biblizismus und Wertschätzung der Laien ergab, führte dazu, daß die städtische Lateinschule mitsamt der Kantorei aufgehoben wurde und viele Studenten die Universität verließen, um ein Handwerk auszuüben. Kurfürst Friedrich ließ die Entwicklung - abgesehen von einem Verbot, die Messe generell abzuschaffen -zunächst laufen. Im Februar 1522 verbot er allerdings die Ausführung der neuen Kirchenordnung sowie weitere Änderungen, doch Karlstadt und seine Anhänger hielten sich nicht daran. 9.2.4 Während des Aufenthalts als Junker Jörg auf der Wartburg zum Schutz vor Vollstrekkung der Reichsacht verfaßte Luther einige bedeutende Werke v .a. für die kirchliche Praxis. Als Handbuch für Prediger stellte er eine lateinische Kirchenpostille zur Advents- und Weihnachtszeit zusammen (zum Begriffs.§ 10; 17.3.2), die Grundlage seines späteren, für die evangelische Pfarrerschaft wichtigen Postillenwerks (Text: WA 10 U1-2; Übers. z. T.: MA, Erg.bd.4). In zwei Schriften befaßte er sich mit dem Problem des Mönchtums (s. 9.4.2), ferner mit der Abschaffung der Privatmesse (De abrogranda missa privata; Text: WA 8, 411476; dt.: Vom Mißbrauch der Messen, WA 8, 482-563). Das wirkungsgeschichtlich wichtigste Werk war die Übersetzung des Neuen Testaments, deren erster Druck im September 1522 erschien (daher Septembertestament). Fortan widmete sich Luther der AT-Übersetzung mit großer Beharrlichkeit, immer wieder durch verschiedene Tagesgeschäfte unterbrochen. Das Neue Testament deutsch (Text: WADB 6-7) -eine geniale Sprachschöpfung, Luthers größter Bucherfolg mit vielen Nachdrucken und einer von ihm revidierten Neuauflage (sog. Dezembertestament) - war ein entscheidender Beitrag zur Ausbreitung der Reformation, weil das allgemeine Interesse an der ~eschäftigung mit Gottes Wort eine neue Grundlage erhielt. Seitdem arbeitete Luther an der Ubersetzung des Alten Testaments, die ab 1523 in Teilausgaben erschien; erst mit dem Druck der ersten Vollbibel 1534 war das kg. bedeutende Werk, ein Beitrag auch zur deutschen Kultur- und Geistesgeschichte, abgeschlossen (Biblia; Text: ND 1935/2.A.1983; 2 Bde.). 9.2.5 Nachdem seine Flugschrift Vermahnung .. ., sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung nur wenig bewirkt hatte (Text: WA 8, 676-687; BoA 2, 300-310), kam Luther nach Wittenberg zurück, um sein öffentliches Predigtamt für die Aufklärung der Gemeinde einzusetzen. Er hielt täglich Predigten in der Woche nach Invokavit 9.-16.3.1522 (als Nachschrift gedruckt, z. T. einzeln. Text: WA 10 Ill, 1-64; BoA 7, 362-387): über die Freiheit des Evangeliums u.a. im Blick auf Abendmahlsfeier, Bilder, Fasten, Beichte, Klosteraustritt Revolutionäre Veränderungen oder gar Gewaltanwendung zu verhindern, war sein vordringliches - in jener unruhigen Zeit auch politisch bedeutsames - Ziel. Karlstadt, der gegen Luthers Maxime einer Schonung der Schwachen die Notwendigkeit der Durchsetzung des göttlichen Rechts betonte, mußte sich hinfort auf seine universitäre Tätigkeit beschränken, distanzierte sich aber zunehmend davon und sah seine Aufgabe in der Aufklärung des gemeinen Volkes. (Zu ihm s. 14.1.2.) Zwilling erhielt Predigtverbot in Wittenberg, förderte aber seit 1523 als Prediger in Torgau die Einführung der Reformation im gemäßigten Sinn, seit 1529 als Superintendent.
9.3 Die Ritterschaft zwischen evangelischer Bewegung und Reformation Die Pluriformität der evangelischen Bewegung mit den unterschiedlichen Zielvorstellungen hinsichtlich einer Erneuerung von Kirche und Gesellschaft zeigte sich exemplarisch an der profilierten Rolle der Reichsritter, des Niederadels. Dieser durch prinzipielle Unabhängigkeit von den Territorialfürsten und durch Lehnsbindung an den Kaiser definierte Stand befand sich infolge der politischen und ökonomischen Veränderungen in einer existentiellen Krise, die sich v.a. darin ausdrückte, daß seine Herrschaftsrechte und Einflußmöglichkeiten durch die aufblühende fürstliche Landeshoheit immer mehr eingeschränkt wurden. (Analoges galt für die nicht-reichsunmittelbaren, landsässigen Ritter in den geistlichen
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und weltlichen Territorien.) Der allgemeine geistige und soziale Umbruch, der mit der evangelischen Bewegung einherging, bekam für diesen Stand z. T. eine spezifische Bedeutung. Einerseits war es für ihn attraktiv, durch den Anschluß an die kirchlichen Neuerungen in den jeweiligen kleinen Herrschaftsgebieten die Kirchenhoheit über die Parochien gegenüber Klöstern, Prälaten, Bischöfen etc. als eigenes Recht zu gewinnen. Andererseits entzog ihm die Forderung nach Säkularisierung der Kirchengüter die materielle Existenzbasis vieler seiner Angehörigen, die in Dom- und Stiftskapiteln o.ä. bisher lukrative Positionen innehatten. Etliche Ritter schlossen sich schon früh der evangelischen Bewegung an. Sie führten in ihren Burgen und Dörfern evangelische Predigt und Gottesdienst (Abendmahl unter beiderlei Gestalt) ein. Sie schienen eine besondere Stütze der Reformation werden zu können, und viele hofften, den Kaiser für ihre Erneuerungspläne gewinnen zu können. Humanistisch gebildete Ritter warben in Flugschriften für die Kirchenreform, herausragend unter ihnen Ulrich von Hutten (s. 8.2.2). Rutten gewann 1520 den bedeutendsten Reichsritterführer, den Pfälzer Franz von Sickingen, für die Sache Luthers und für sein nationalkirchliches Reformprogramm. Dieses Beispiel zeigte, wie in der evangelischen Bewegung die religiösen Motive durch politische Interessen umgeformt werden konnten. Denn Siekingen wollte 1522/23 die Stellung der Reichsritterschaft durch die - mit dem Evangelium begründete - Säkularisierung der geistlichen Fürstentümer stärken, doch er unterlag in seiner Fehde gegen den Erzbischof von Trier (die kein allgemeiner Reichsritteraufstand war). Das war ein Signal für den definitiven Niedergang der Reichsritterschaft als politischer Kraft; diese trat nun ganz hinter dem Territorialfürstentum zurück. 9.3.1 Die Sickingenfehde verdeutlichte die Instabilität der politischen Situation im Zusammenhang mit der evangelischen Bewegung. Der weit begüterte pfälzische Reichsritter Franz von Siekingen (1481-1523), ein in zahlreichen Fehden erfolgreicher Söldnerführer, spielte in der Reichspolitik zeitweise eine einflußreiche Rolle. Von Rutten 1519 für Humanismus und Luthers Position gewonnen, verband er seinen Kampf für die alten Rechte der Reichsritter mit der Reformation als nationaler und antiklerikaler Freiheitsbewegung. Seine Ebernburg verstand er als Herberge der Gerechtigkeit, wo er verfolgte Evangelische wie Martin Bucer und Johannes Oekolampad aufnahm. Als Bundeshauptmann der vereinigten südwestdeutschen Ritterschaft wollte er 1522 i.V. mit fränkischen Reichsrittern die Abwehr gegen den Ausbau der fürstlichen Territorialmacht (s. 3.1.2; 3.2.3) organisieren. Sein Angriff auf das Erzbistum Trier scheiterte jedoch, und der Gegenschlag der Fürsten (Trier, Pfalz, Hessen) sowie des Schwäbischen Bundes vernichtete nicht nur ihn, sondern auch alle Pläne, den niederen Adel in der Reichsverfassung stärker zur Geltung zu bringen. Gleichwohl blieben viele Reichsritter Anhänger der Reformation und trugen zu deren Konsolidierung nicht unwesentlich bei. 9.3.2 Ulrich von Hutten (s. 8.2.2) wollte wie die meisten Ritter das alte Rechtsmittel der Fehdetrotz des Verbots von 1495 (s. 3.1.4) weiterhin gegen Kleriker, Städte und Fürsten einsetzen. Darum führte er nach dem Wormser Edikt 1521 (enttäuscht in seiner Hoffnung auf Karls V. Unterstützung für die evangelische Bewegung) einen privaten "Pfaffenkrieg" gegen Klöster und Priester. Diesen stellte er publizistisch als Signal zum allgemeinen Aufstand gegen die geistlichen Fürstentümer dar, doch es war nur ein klägliches Raubrittertum. Siekingens Niederlage bedeutete für seine hochfliegenden Pläne das Ende. Von der Reichsacht bedroht, floh er in die Schweiz und fand mit Zwinglis Hilfe Zuflucht auf der Insel Ufenau, wo er 1523 starb. Er war eine bedeutende Gestalt der frühen Reformationsgeschichte.
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9.3.3 Der niedere Adel gehörte unter den Laien zu den wichtigsten Multiplikatoren der evangelischen Bewegung. Dieser schloß sich z.B. fast die gesamte Ritterschaft im Kraichgau (zwischen Neckar und Rhein) an. In Ostfriesland wirkte der mächtige Dirich von Dornum fiir die Einfiihrung der Reformation ebenso wie im Herzogtum Liegnitz Kaspar von Schwenckfeld (s. 14.2.1), deren Sympathien fiir die radikale Reformation die Heterogenität der evangelischen Bewegung um 1522/23 verdeutlichten. Unter den ritterlichen Flugschriftenautoren gewann Hartmut von Kronberg (1488-1549), der in Siekingens Katastrophe hineingezogen wurde, besonderes Profil (Texte z.T.: K!Prot 3, 280-288; Flugschriften hg.v. A. Laube Bd.2, 748-760). Humanistische Reformideen fiihrten den Westfeilischen Ritter Hermann von dem Busche (ca. 1468-1534) auf Luthers Seite, desgleichen den Augsburger Domherrn Bernhard Adelmann von Adelsfelden (1459-1523). 9.3.4 Besonderes Aufsehen in ganz Deutschland erregte der literarische Kampf einer Frau aus dem landsässigen bayerischen Adel: Argula von Grumbach (1492-ca.1554/63) griff in den Konflikt der Universität Ingolstadt mit einem jungen lutherischen Magister 1523/24 mit acht Flugschriften ein, die außergewöhnlich starke Verbreitung fanden (Texte z.T.: K!Prot 3, 289299). Sie zeigte, welche Bedeutung das Schriftprinzip und die Rechtfertigung solafide fiir die evangelische Bewegung in ihrem Widerspruch gegen das alte System besaßen. Weniger breitenwirksam waren die Flugschriften der adeligen Damen Ursula von Münsterberg und Florentina von Oberweimar 1524, Apologien ihrer Flucht aus dem Kloster.
9.4 Von der evangelischen Bewegung zur Kirchenreformation Die Vorbereitung der entscheidenden Strukturveränderungen ging hauptsächlich von Predigern in den Städten aus, durchweg jungen Leuten. Zunächst entstand in weiten Teilen Deutschlands seit 1522 eine evangelische Predigtbewegung, die deswegen breite Resonanz fand, weil -wegen der Kritik an der kultischen Konzentration des kirchlichen Lebens - die Parole, das "reine Evangelium" bzw. "Wort Gottes" zu verkündigen, allgemeine Plausibilität beanspruchen konnte. Sie richtete sich gegen das hypertrophe Regulierungssystem der Papstkirche als menschliche Tradition. Die inhaltliche Ausgestaltung differierte; viele Prädikanten orientierten sich an Luthers Schriften, etliche verbanden das mit konservativen Positionen, nur wenige vertraten radikalere Auffassungen. Einige Obrigkeiten übertrugen programmatisch Pfarrstellen, über die sie verfügen konnten, evangelischen Predigern. Mancherorts übten Wanderprediger, v.a. entlaufene Mönche, starken Einfluß aus. Zunehmend wichtig für die Popularisierung der evangelischen Verkündigung wurden die geistlichen Lieder, deren Sitz im Leben nicht bloß der Gottesdienst war. Luther hat nicht gezielt für eine Verbreitung der Reformation gearbeitet, sondern diese der Selbstdurchsetzung von Gottes Wort überlassen, was faktisch zu einer regional eigenständigen Entwicklung führte. Bemerkenswert zurückhaltend verfuhr man meist mit der Umgestaltung des Gottesdienstes zu einer evangelischen Messe in deutscher Sprache. Vor 1526 wurde diese lediglich an einigen Orten praktiziert. Noch seltener waren Änderungen im kirchlich dominierten Schulwesen und in der weithin privat organisierten Annenfürsorge. Doch nach 1525 gewannen diese beiden Überschneidungsbereiche von Christlichkeit und Bürgerlichkeit große Bedeutung bei der Durchführung der Reformation. Ermöglicht wurden entsprechende Reformen v. a. aufgrund der materiellen Absicherung durch Klostersäkularisationen. Denn im Zuge der evangelischen Bewegung verließen immer mehr Mönche und Nonnen - meist aus den Bettelorden - ihre Klöster (vgl. 9.2); sie stellten ein erhebliches innovatorisches Potential dar, indem
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sie die Veränderung der Kirchenstrukturen von ihrem bisherigen Konzept (der Realisierung entschiedener Christlichkeit im Konvent) her i.S. des evangelischen Gemeindeideals betrieben. Die Obrigkeiten in den Städten und in einigen Territorien betrieben seit 1524 systematisch die Auflösung von Klöstern und die Umwidmung von Klostergut für weltliche Zwecke der Gemeinschaft. Im Bildungsbereich erbrachte die Verbindung von Luthers Impulsen mit den humanistischen Interessen längerfristig eine Umgestaltung, welche die Prägung gesellschaftlicher Eliten im evangelischen Geist vorantrieb. Der kirchliche Strukturwandel vollzog sich bis 1525/6 in einigen Zentren, v .a. in den Städten Kursachsens, in den einflußreichen Reichsstädten Nürnberg und Straßburg sowie in Zürich. Besonders rasch verfestigte sich die Reformation in einem Randgebiet des Reiches, im Deutschordensstaat Preußen (s. § 13; 10.1). 9.4.1 Die moderate Wittenberger Reformation nach 1522 behielt das lateinische Meßformular (unter Tilgung der Opferthematik im Kanongebet), die Meßgewänder, die Elevation der Hostie nach der Konsekration und die Brotkommunion zunächst allgemein bei (mit fakultativer Zulassung der Kelchkommunion). Die Reform der Messe blieb eine wichtige Aufgabe für die nächsten Jahre und vollzog sich in allmählichem Wandel. Seit 1523 sollte es nur noch die Kommunion unter beiderlei Gestalt und statt der täglichen Messen Wortgottesdienste geben (vgl. dazu Luthers Schrift Von Ordnung Gottesdiensts in der Ge_l}leinde, WA 12, 35-37; BoA 2, 424-426). Luther fixierte sein konservatives Prinzip mit Ubernahme von Aufbau und Wortlaut der alten Meßliturgie ohne Opferdarbringung 1523 in der Fonnula missae et communionis (Text: WA 12, 205-220; BoA 2, 427-441; Übers.: MA 3, 111-127). Das erregte z.T. Kritik, zumal andernorts die Messe völlig in deutscher Sprache gehalten wurde (s. z.B. 10.2.6-7; 11.2.2). Die Taufe dagegen sollte deutsch, aber weithin in der alten Form erfolgen (Das Taufbüchlein verdeutscht 1523; WA 12, 42-48). Starke Verbreitung fand Luthers Betbüchlein von 1522, das für die private Andacht Anweisungen zum rechten Beten bot (Text: WA 10 II, 376-501). Die Privatbeichte als Voraussetzung für das Abendmahl galt weiterhin. Priesterehe und Klosteraustritt wurden freigestellt. Der Unterricht in Schule und Universität wurde restituiert. So betrieb Luther den allmählichen Aufbau einer evangelischen Gemeinde. Dazu gehörte auch, daß der Einfluß des Wittenberger Allerheiligenstifts, dem die Stadtpfarrkirche inkorporiert war, beseitigt wurde, wobei dessen Propst, der humanistische Jurist und Theologe J ustus J onas ( 1493-1555), Luther unterstützte. Unter Umgehung der Patronatsrechte des Stifts setzte dieser im Herbst 1523 Johannes Bugenhagen (s. 10.1.2) als Pfarrer ein, der fortan erheblich zur kirchlichen Neuordnung beitrug. Theoretisch hatte Luther diesen revolutionären Akt mit seiner Schrift vom Mai 1523 legitimiert Daß ein Christliche Versammlung
oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Grund und Ursach aus der Schrift (Text: WA 11, 408-416; BoA 2, 395-403). An dieser Maxime orientierten sich manche Städte in Sachsen und im Reich. 9.4.2 Die Reduktion der Klöster durch Austritt der Mönche und Nonnen entwickelte sich seit 1521 weit über Wittenberg hinaus, wobei neben sozialen Aspekten der Fortfall der theologischen Grundlage entscheidend wirkte. Luthers Kritik am Mönchtum bekam eine orientierende und legitim_jerende Funktion. Eine umfassende Begründung gab er in dem GutachtenDe votis monasticis!Uberdie Mönchsgelübde vom November 1521: Nichtigkeit der Gelübde, Sinnlosigkeit eines besonderen Standes der Vollkommenheit und Heiligkeit (Text: WA 8, 573-669; BoA 2, 188-298; Übers.: W 19, 1500-1665). Besonders rasch zerfiel die Kongregation der Augustiner-Eremiten seit 1522, weil viele Konvente sich auflösten. Luthers Freund Wenzeslaus Linck (1483-1547), Staupitz' Nachfolger als Generalvikar, heiratete 1523 und wurde Prediger in Altenburg, seit 1525 in Nürnberg, wo er bei der Durchführung der Reformation mitwirkte. Ein spektakuläres Beispiel für die häufigen Fälle weiblicher Klosterflucht bot 1523 im Herzogtum Sachsen die Adelige Katharina von Bora (1499-1552), die samt elf Nonnen - mit Luthers Hilfe - den Zisterzienserinnenkonvent in Nimbschen (bei Grimma) verließ und in Wittenberg Zuflucht fand. Luther sorgte für die verarmte, gesellschaftlich desintegrierte Frau
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und heiratete sie schließlich im Juni 1525 - zur Demonstration des evangelischen Eheverständnisses. 9.4.3 Das breite Interesse an der Predigt konnte in vielen Städten an vorreformatorische Gegebenheiten anknüpfen (s. 5.1.6). Zahlreiche Prediger schufen in ganz Deutschland die geistige Disposition für eine allgemeine Reformation, oft durch evangelische Gruppenbildungen in den Gemeinden begleitet. Einige Beispiele für Kursachsen und Norddeutschland seien hier genannt. In Zwickau (s. 13.1.2) wirkte seit 1521 Nikolaus Hausmann tatkräftig an der Einführung der Reformation, in Altenburg seit 1523 Wenzeslaus Linck, beides gute Freunde Luthers; in Leisnig tat dies v.a. die Gemeinde selber. In Eisenach trieb Jakob Strauß den Umbau des Kirchenwesens voran. An vielen sächsischen Orten dauerte es dagegen mit der Neugestaltung des Gottesdienstestrotz evangelischer Predigt noch länger, so z.B. in Gotha und Weimar. Allstedt war 1522/23 weithin evangelisch, die Reichsstadt Nordhausen wenig später. Zu einem wichtigen Zentrum der evangelischen Bewegung - auch durch die Buchdruckereien - entwickelte sich die Stadt Magdeburg im steten Kampf mit Erzbischof, Dornkapitel und altgläubiger Bevölkerung. Nikolaus von Amsdorff (s. 7 .2.1) betrieb als Superintendent seit 1524 die Einführung der Reformation, nachdem die Bürgerschaft die Abschaffung der Messen und Klöster gefordert hatte und der Rat mit der Begünstigung der evangelischen Lehre und mit einer Armenordnung dafür Voraussetzungen geschaffen hatte (Texte: EKO 2, 448-450). 9.4.4 Die Bedeutung der Wanderprediger zeigte sich z.B. in Bremen, wo der in Antwerpen verfolgte niederländische Augustiner Heinrich von Zütphen 1522-24 durch seine Verkündigung Teile von Bürgerschaft und Rat gewann. (1524 erlitt er bei der Predigttätigkeit in Dithmarschen das Martyrium.) Sein Freund und Ordensbruder, der Lutherschüler Jakob Propst (ca. 1490?-1562) erhielt 1524 in Bremen ein Pfarramt und förderte die Reformation; so auch der Amsterdamer Johann Timann (ca.1500-57). 1525 schaffte der Bremer Rat den katholischen Gottesdienst ab. Die evangelische Bewegung in Harnburg und Lübeck erhielt durch Wanderprediger seit 1522 Auftrieb; sie verbreitete sich im Ostseeraum bis nach Danzig und Königsberg. In Stralsund verabschiedete der Rat 1525 die erste evangelische Kirchenordnung mit Regelung des Predigtamtes, des Schul- und Armenwesens sowie mit dem Verbot der römischen Messe, verfaßt von Johannes Aepinus (1499-1553; Text: EKO 4, 542-545). Damit nahm man Anregungen auf, die Luther in zwei einflußreichen Schriften publiziert hatte: für die Armenfürsorge durch die Ordnung eines gemeinen Kasten von 1523 (Text: WA 12, 11-37; BoA 2, 404-426) und für die Neuorganisation der Schulen in städtischer Trägerschaft - unter Beseitigung des kirchlichen Monopols - durch den Sendbrief von 1524 An die Ratsherrn aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (Text: WA 15, 27-53; BoA 2, 442-464). 9.4.5 Etliche humanistisch geprägte Theologen setzten sich mit populärer Publizistik in den sog. Flugschriften für die Reformation ein, andere polemisierten mit diesem Medium gegen dieselbe. Mit jenem nicht genau definierten Begriff bezeichnet man die Fülle billiger, meist kurzer deutschsprachiger Drucke, die sich - oft anonym oder mit pseudonymer Verfasserangabe - in propagandistischer Absicht an weite Bevölkerungskreise (den "gemeinen Mann") richteten und 1521-24 massenhaft erschienen. Sie beeinflußten die Entstehung einer öffentlichen Meinung, wie sich z.B. beim sog. Bauernkrieg zeigte. Ein großer Teil von Luthers Drucken gehörte zu diesem Genus (zu Hutten s. 9.3.2). Kirchen- und Sozialkritik bestimmten v.a. die Inhalte. Johann Eberlin von Günzburg (ca.1465-1533) publizierte 1521 einen einflußreichen Flugschriftenzyklus, die 15 Bundesgenossen, mit einem umfassenden sozialpolitischen Programm (Text: Sämtl. Schriften, hg.v. L. Enders, 3 Bde., 1896-1902). Unter seinem Einfluß schrieb Heinrich von Kettenbach (gest.ca.1524?) 1522/3 etliche Flugschriften mit scharfer Kleruskritik (Text: Flugschriften/Clemen Bd.2,5-244). Beide engagierten sich in Ulm als evangelische Prediger für die Reformation. Der Nürnberger Lazarus Spengler, der Ritter Hartmut von Kronberg, andere Humanisten wie z.B. Haug Marschalck sowie viele Theologen verfaßten Flugschriften. Der gemeine Mann als Ankläger gegen das alte kirchliche System erschien in Gestalt des Bauern Karsthans (Text: Flugschriften/Clemen Bd.4,75-120).
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9.4.6 Als Verstärkung der Predigt prägte das evangelische Liedgut die allgemeine Mentalität, gerade bei den ungebildeten Bevölkerungsschichten, in besonderem Maße. ~s transportierte die Hauptaspekte der neuen Lehre in leicht faßlicher Gestalt. Die traditionelle Ubung, gelegentlich im Gottesdienst einfache deutsche Gesänge von der Gemeinde singen zu lassen, baute Luther 1523/24 systematisch aus durch Dichtungen und Melodien, meist in Anlehnung an ältere Vorformen oder Volkslieder bzw. in Umdichtung von Psalmen, womit er der bedeutendste geistliche Dichter der Reformationszeit wurde (Texte: AWA 4; vgl. WA 35). Diese Lieder erschienen meist in Einblattdrucken, seit 1524 zunehmend auch in Gesangbüchern für die Privatleute bzw. den Chor (zunächst kleinen Heften, die - erstmals in Nürnberg und Erfurt - Drucker zusammenstellten). Einflußreich wurde das 1524 von dem sächsischen Hofkapellmeister, seit 1526 Torgauer Kantor Johann Walter (1496-1570) für den Schulgebrauch zusammengestellte Wittenberger Chorgesangbuch. Neben Luther traten seit 1523 andere Choraldichter hervor: z.B. Paul Speratus, Michael Weiße, Johann Agricola, Justus Jonas, Nikolaus Decius, Elisabeth Cruciger. An das unter Luthers Namen publizierte Wittenberger Gesangbuch (Geistliche Lieder auffs new gebessert) von 1529 schlossen sich spätere Auflagen und mannigfache andere Unternehmungen an; es wurde die Grundlage der evangelischen Gesangbuchentwicklung. 9.4.7 Auch die bildende Kunst wurde für die Verbreitung der reformatoris~hen Anliegen eingesetzt, zunächst besonders durch Buchillustrationen. Lukas Cranach d.A. (1472-1553) in Wittenberg, mit Luther befreundet und eng zusammenarbeitend, setzte 1521 mit den Holzschnitten zu Luthers polemischem Passional Christi und Antichristi (WA 9, 701-715 und Anhang) das Bild gegen das Papsttum als populäres Kampfmittel ein, auch mit den Illustrationen zur Apokalypse in Luthers Septembertestament 1522 und in dem Papstese/1523 (W A 11, 369-385). Mit seinen Reformatorenporträts begründete er eine lutherische Ikonographie. Seit 1524 spielten Bibelillustrationen eine zunehmende Rolle, z.B. auch bei Hans Holbein d.J. und Hans Baidung Grien. Albrecht Dürer (s. 6.1.3) in Nürnberg, ein entschiedener Lutheranhänger (vgl. seine Klage um den verschwundenenLuther vom Mai 1521; KTGQ 3, 66f), brachte in seinen Bildern kaum aktuelle Bezüge, gestaltete aber sein großes Apostelgemälde bewußt im evangelischen Sinne. Ein Sympathisant der evangelischen Bewegung war auch Mathis Gothart bzw. Neithart (ca.1475/80-1528), seit dem 20.Jh. Mattbias Grünewald genannt, der in seiner Malerei biblische Theologie eindrucksvoll darstellte. Dagegen zeigte der bedeutendste Bildschnitzer jener Zeit, der Würzburger Ratsherr Tilmann Riemenschneider (ca .1460-1531), trotz seiner Parteinahme für den Bauernaufstand 1525 kein Engagement für die neue Religiosität. 9.5 Literatur QUELLEN: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, hg.v. 0. Clemen, 4 Bde., 1907-11; ND 1967. - Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518-1524), hg.v. A. Laube u.a., 2 Bde., 1983. M. BRECHT: Martin Luther, Bd.2, 1986, 11-138.194-234.- S.E. BUCKWALTER: Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, 1998. - H. FLACHMANN: Martin Luther und das Buch, 1996. - C. GRIMM u.a. (Hg): Lucas Cranach, 1994. - B. LOHSE: Mönchtum und Reformation, 1963. - B. MOELLER: Flugschriften der Reformationszeit, TRE 11 (1983) 240-246. - DERS./K. STACKMANN: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation, 1996. - N. MÜLLER: Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, 2.A. 1911. - H. RABE: Deutsche Geschichte (s. 3.3), 219-301. - H. REINITZER: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, 1983. - R. SCHWARZ: Luther, KIG 3/1, 1986, 109-131. 149-156. - B. SCRIBNER (Hg.): Bilder und Bildersturm im Spättnittelalter und in der frühen Neuzeit, 1990. - H. VOLZ: Martin Luthers deutsche Bibel, 1978. - CH. WEIMER: Luther, Cranach und die Bilder, 1999.
9. Reformationsbeginn 1521-25 I 10. Lutherische Reformation und Humanismus
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10. Lutherische Reformation und Humanismus Die humanistische Bewegung verband sich vielfach mit der evangelischen und trug in der Frühzeit zu deren rascher Ausbreitung erheblich bei. Viele jüngere Humanisten wurden Anhänger Luthers und übernahmen mehr oder weniger dessen Theologie. Andere waren ihm in der Sache verbunden, formtenjedoch eigenständige Konzeptionen aus. Wiederum andere aber blieben der römischen Kirche treu. Fast alle Reformatoren kamen, anders als Luther, in ihren Konzeptionen vom Humanismus her und blieben z. gr. T. von dessen Intentionen bestimmt. Diese Verbindung wirkte sich - außer im niederen Adel (s. 9.3) - besonders stark in den süddeutschen Reichsstädten aus, welche 1521 und 1526 eine führende reformationspolitische Rolle als Antriebskraft für Strukturänderungen spielten, voran als mächtigste Nürnberg und Straßburg. Die evangelische Bewegung erstarkte im Bürgertum so sehr, daß die städtischen Obrigkeiten in einen Konflikt zwischen grundsätzlicher Kaisertreue und praktischen Reformerfordernissen gerieten. Die Hoffnung auf ein deutsches Nationalkonzil stützte diese Entwicklung, die 1524 beim Scheitern der entsprechenden Pläne (s. 9.1) vielerorts schon zu weit gediehen war, als daß sie hätte rückgängig gemacht werden können. Begleitet wurde das durch den theologischen Klärungsprozeß in Humanistenkreisen (die Trennung zwischen Lutheranhängern und katholischen Reformern). Dazu trug 1524/25 die große literarische Kontroverse zwischen Erasmus und Luther über das Problem der Willensfreiheit wesentlich bei. 10.1 Humanistische Reformatoren Das breite Spektrum der evangelischen Bewegung zeigte sich in der unterschiedlichen Weise, wie humanistisch orientierte Theologen sich für die Durchführung der Reformation engagierten. Dabei gab es mancherlei Unterschiede, gelegentlich auch Gegensätze. Zutage traten sie v.a. bei der Gottesdienstreform, insbesondere bei der Gestaltung und Deutung des Abendmahls, und bei der inhaltlichen Ausformung der religiösen Umerziehung der Bevölkerung, v.a. bei den Katechismen. So konkretisierte sich die Pluriformität der evangelischen Bewegung auch hier in verschiedenen Reformationstypen. Bei Phitipp Melanchthon machte sich die humanistische Prägung überall in der Theologie und im praktischen Wirken bemerkbar (vgl. § 14; 8.14). Er hat das evangelische Bildungswesen in Universität und Schule geformt und dabei großen Einfluß in ganz Deutschland und in Teilen Europas ausgeübt. Er repräsentierte herausragend das, was als Gestaltungsfaktor für die weitere Geschichte - über den kirchlichen Bereich hinaus - wichtig wurde: die Kulturbedeutung der Reformation. Für deren kirchenpolitische Durchsetzung engagierte er sich seit 1527 in Kursachsen und seit 1530 im Reich (vgl. § 12; 2.2; 4.1; 8.2 u.ö.), wobei er dem erasmianischen Konzept von historischer Katholizität und Einheit der Christenheit verpflichtet blieb, diesem aber einen evangelischen Akzent gab. Seine Integration von Reformation und Humanismus begründete innerhalb des Luthertums eine charakteristische Richtung, die bis
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ins 17 .Jh. hinein dominierte, die allerdings auch zu dogmatischen Konflikten mit anderen Formen des Luthertums führte (vgl. § 15; 7.2). Anders als Melanchthon ging dessen Wittenberger Freund Johannes Bugenhagen einen solchen Weg vom Humanismus zur Reformation, der zur Ablösung der erasmianischen Form einer ethisch orientierten Theologie durch die fast völlige Übernahme von Luthers Lehren führte. Der humanistische Einfluß zeigte sich bei Bugenhagen, dem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Mitarbeiter Luthers und Reformator des niederdeutschen Kirchenwesens, v .a. in formaler Hinsicht bei der Schulreform und in der Bibelexegese. Unter den süddeutschen Reformatoren, die vom Humanismus her Luthers Theologie rezipierten, ragten Johannes Brenz und Andreas Osiander (s. 10.2) hervor. Den deutlichsten Gegenpol zum lutherischen Typ bildete Zwinglis Reformation (s. 11.1-2). Zwischen beiden stand die Konzeption des Straßburger Reformators Martin Bucer, der seit der Begegnung mit Luther während der Heidelberger Disputation 1518 für dessen Position gewonnen war, aber diese i. V. mit der stark humanistischen Orientierung eigenständig weiterentwickelte (vgl. 10.2). 10.1.1 Für eine an der Bibelexegese orientierte Studienreform wirkte Philipp Melanchthon (s. 7.2. 3) von Wittenberg aus durch zahlreiche Bücher, Gutachten und Briefe bei der Neuorientierung älterer und der Gründung neuer Universitäten. Sein Bildungsprogramm bestimmte auch die zahlreichen Lateinschulen/Gymnasien, die im Zuge der Reformation von den Städten eingerichtet wurden. Die Nachwelt zeichnete ihn deshalb zu Recht mit dem Ehrentitel Praeceptor Germaniae/Lehrer Deutschlands aus. Insbesondere hat er die Theologenausbildung geprägt durch sein grundlegendes Lehrbuch, die Loci communes (s. § 14; 8.1.2). Deren Methodik, die Zusammenstellung zentraler Begriffe für die Grundwahrheiten einer Wissenschaft, übernahm er aus dem Humanismus; damit formte er eine theologische Literaturgattung, die im akademischen Unterricht bis weit ins 17.Jh. dominierte. 10.1.2 Eine intellektuelle Bekehrung löste Luthers Schrift gegen die katholische Sakramentenlehre (s. 8.2.4) 1520 bei Johannes Bugenhagen (1485-1558) aus, der als humanistischer Schulrektor in Treptow/Pommern sich an Erasmus' Philosophia Christi orientiert hatte. Als Wittenberger Stadtpfarrer (s. 9.4.1) hielt er exegetische Vorlesungen an der dortigen Universität. Seine seit 1524 publizierten Bibelkommentare machten ihn wegen der philologischen Genauigkeit und der Umsetzung lutherischer Theologie in ganz Deutschland als Exegeten berühmt. Seine Passionsharmonie, welche im humanistischen Sinne den historisch zutreffenden Ablaufvon Jesu Leidensgeschichteaufgrund aller vier Evangelien und deren Bedeutung für die Frömmigkeit darstellte, war ein bis zum 17 .Jh. verbreitetes Erbauungsbuch. Ansonsten basierte seine beträchtliche Wirkungsgeschichte auf den fiir den niederdeutschen Sprachraum wichtigen Kirchenordnungen (vgl. § 12; 2.4.4; 6.1.4). 10.1.3 Gleichsam das süddeutsche Pendant zu Bugenhagen als vom Humanismus herkommender treuer Lutherschüler (seit 1518), bedeutender Exeget und einflußreicher Gestalter von evangelischen Kirchenordnungen war der Schwabe Johannes Brenz (1499-1570), jedoch theologisch viel eigenständiger und reichhaltiger. 1522 wurde er Prädikant in der Reichsstadt Schwäbisch Hall und setzte dort 1524-26 evangelische Lehre und Gottesdienstordnung durch. Er trug wesentlich dazu bei, daß die humanistisch beeinflußten Evangelischen Oberdeutschlands z.gr.T. sich nicht der Züricher und Straßburger, sondern der Wittenberger Reformation anschlossen, d.h. nicht der Position Zwinglis und Bucers, sondern derjenigen Luthers. Der Abendmahlsstreit seit 1524/25 bildete dazu den Auftakt (s. 11.3), doch diese Thematik begleitete Brenz' Leben: Von der Abendmahlslehre her hat er die Christologie im Anschluß an Luther als Fundament der ganzen Theologie und als Modell der Erlösungslehre verstanden: als reale Gegenwart Gottes im Menschen Jesus, deren Wirkung sich der ganzen Menschheit mitteilt (s. § 15; 9.4.2; vgl. § 14; 3.2). Er kooperierte intensiv mit den Reformatoren in Nürnberg und Ansbach-Bayreuth und beeinflußte die Reformation in anderen Reichsstädten. Er vertrat produktiv ein konservatives Luthertum u.a. gegen Täufer und Spiritualisten. Trotz intensiver
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Kontakte mit Melanchthon seit 1530 hat er gegenüber dessen Form der Rechtfertigungs- und Abendmahlslehre seine Selbständigkeit im Anschluß an Luthers Position behauptet. Humanistisches Erbe wirkte sich u.a. in umfangreichen, gelehrten Bibelkommentaren sowie in seiner Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments und der Sittenzucht aus. 10.1.4 In seinen Anfängen war der Elsässer Martin Bucer (urspr. Butzer; 1491-1551, aus Schlettstadt stammend) von Erasmus, dannjedoch stärker von Luther geprägt, allerdings unter Beibehaltung der humanistischen Grundposition. Er entwickelte eine eigenständige Theologie zwischen Luthertum und Zwinglianismus, was ihn zu einem der Väter der reformierten Kirche machte (in manchem mit Melanchthon verwandt). Er war eher ein praktischer als ein systematischer Theologe, aber ein gründlicher Gelehrter. Der Dominikaner studierte seit 1517 in Heidelberg, trat 1521 aus dem Orden aus, wurde Kaplan bei Pfalzgraf Friedrich und -durch Vermittlung Franz von Siekingens - Pfarrer in LandstuhL Mit der Heirat 1522 bekundete er demonstrativ seine Abwendung von der alten Kirche. Wegen der Verstrickung in die politischen Händel Siekingens (s. 9.3.1) floh er 1523 nach Straßburg und wirkte dort als evangelischer Prediger mit zunehmendem Einfluß. Erst stand er hinter dem Pionier-Reformator der Stadt, Mattbias Zell, und dem gebildeten Humanisten Wolfgang Capito, zurück (s. 10.2.7). Seit 1529 wurde er ein wichtiger Führer der Reformation in Deutschland, später sogar mit Ausstrahlungskraft in England, Frankreich, Böhmen, Ungarn u.a. Durch seinen Ideenreichtum und seine Vermittlungsfähigkeit gab er nach vielen Seiten hin Anregungen durch populäre und wissenschaftliche Schriften, Bibelkommentare, Gutachten, Kirchenordnungen und Briefe. (Zu seinem Einfluß auf Calvin s. § 14; 12.3-3.5.) Theologisches Fundament war ihm die reformatorische Rechtfertigungslehre mit der Betonung des solajide und der Neuwerdung des Menschen durch das Wirken des Heiligen Geistes, die sich in guten Werken ausdrückt und so Heils- und Erwählungsgewißheit ermöglicht. Die biblische Pneumatologie war ein Zentrum all seiner Einzellehren; von ihr her formte er seinen humanistischen Spiritualismus und Moralismus im evangelischen Sinne um. Seine Betonung der religiösen Erfahrung und des entschiedenen Christentums als Grundlage der zu erneuernden Kirche wirkte nachhaltig fort, u.a. im Pietismus.
10.2 Vorreiterrolle: Die Städtereformation in Süddeutschland Die politische und geistige Elite in den oberdeutschen Reichsstädten, zumal in den großen Handels- und Kulturzentren, war stark vom Humanismus bestimmt. Ohne aus dieser pluriformen Bildungsmacht eine einheitliche religiös-kirchliche Konzeption beziehen zu können, öffnete sie sich vielfach für die evangelische Bewegung: für deren Bibelorientierung, Kirchenkritik, Reformimpulse im Blick auf Glauben und Leben. Zu stärkerer Klärung, damit aber auch zu Kontroversen kam es seit ca. 1522, als aus der neuen Mentalität heraus Strukturänderungen gestaltet werden sollten. 1524 erhielten diese in etlichen Städten erste Fixierungen, v.a. durch evangelische Gottesdienstordnungen seitens der Obrigkeiten. Mit den Entscheidungen v.a. in Nürnberg, Straßburg, Ulm, Nördlingen, Schwäbisch Hall, Reutlingen und Memmingen wurde die Städtereformation zum Motor der weiteren Entwicklung. Sie war von Luthers Theologie wie vom Humanismus inspiriert. (Zur zwinglianischen Städtereformation in Zürich und Konstanz s. 11. 1-3.) Die fürstlichen Territorien folgten bald darauf mit ihren reformatorischen Maßnahmen. Die humanistische Grundposition entsprach der reichsstädtischen Situation insofern, als dort der Gemeinschaftsbezug der Religion eine einheitliche Prägung der ganzen Stadtgesellschaft implizierte. Dadurch trat die Verbindung von evangelischem Schriftprinzip und Rechtfertigungslehre mit einer evangelischen Praxisgestaltung deutlich hervor. Es ging um die Heiligung des Lebens zur Ehre Gottes: durch Reinigung des Gottesdienstes und der sonstigen kultischen Vollzüge vom Aberglauben, durch eine evangelische Ethik und Erziehung, durch eine bibelge-
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mäße Sittenzucht und Armenfürsorge. Das zeigte sich exemplarisch bei der Reformation in Nürnberg, einer der Hauptstädte des Reiches, wo Luthers Lehren seit 1518 in Humanistenkreisen rezipiert worden waren. Diese wirkten sowohl auf die Politik der Ratsaristokratie als auch auf die Mentalität der Bürger im evangelischen Sinne ein. An führender Stelle agierten der Ratsschreiber (d.h. Chef der städtischen Verwaltung) Lazarus Spengler, der auch mit Flugschriften öffentlich für die Reformation eintrat und die anderen süddeutschen Reichsstädte beeinflußte, und der Prediger Andreas Osiander, der mit theologischen Gutachten die Neuordnung begründete. Nürnberg wurde damit zu einem bedeutenden Zentrum der lutherischen Reformation. Unter seiner Führung protestierten einige Städte gegen den Reichstagsbeschluß von 1524, der sie zur Beachtung des Wormser Edikts verpflichten wollte; erstmals machten sie geltend, daß ihre Treue zum Kaiser begrenzt würde durch den Gehorsam gegen Gottes Wort. Damit begann eine Entwicklung, die 1529 zur Protestation von Speyer führte (vgl. § 12; 3.1). Neben Nürnberg spielte als zweite evangelische Reichsstadt in der Religionspolitik des Reiches Straßburg eine zunehmend wichtige Rolle. Doch dieses weitere Zentrum des Humanismus bekam mit der Durchführung der Reformation ein konzeptionelles Eigengepräge, das wie in Nürnberg ein Politiker und ein Theologe repräsentierten: der humanistisch gebildete, weitsichtige Bürgermeister Jakob Sturm und der Prediger Martin Bucer, der seit 1530 zu den großen Reformatoren Deutschlands gehörte. 10.2.1 An den Nürnberger Humanisten kann man die Bandbreite des Verhältnisses zwischen Humanismus und lutherischer Reformation ersehen. Ihr Haupt war Willibald Pirckheimer, der zunächst fiir Luthers Position eintrat (vgl. 6.1.3; 8.1.6-7), sichjedoch seit 1523 davon distanzierte, weil er u.a. die praktischen reformatorischen Maßnahmen ablehnte. Seine Schwester Caritas (s. 6.1.3) blieb der alten Religion treu und verteidigte ihr Kloster tapfer gegen die Reformation. Beide waren verbunden mit einem der schärfsten Luthergegner, dem humanistischen Reformkatholiken Johannes Cochläus (1479-1552; 1510-15 Schulrektor in Nürnberg); dieser setzte sich seit 1520 in intensiver Publizistik mit Luthers Lehren auseinander und gehörte seit 1527 als theologischer Berater des sächsischen Herzogs Georg zu den Führern der Gegenreformation. Den anderen Pol der Spannbreite repräsentierten - neben den gottlosen Malern Sebald und Barthel Behaim, die 1525 vom Rat verurteilt wurden - die Spiritualisten Hans Denck (1523-25 Nürnberger Schulrektor; s. 14.1.3) und Sebastian Franck (s. 14.2.2). 10.2.2 Die Lutheranhänger unter den Nürnberger Humanisten bildeten sich aus dem StaupitzKreis im Augustinerkloster (vgl. § 14; 2.1.7) durch Lektüre der Lutherschriften seit 1517118; sie sorgten z.B. fiir die Verbreitung der 95 Thesen (s. 7 .3.2). Ihr theologischer Kopf war zunächst Wenzeslaus Linck (1483-1547), der in Wittenberg bei Luther studiert hatte, Staupitz' Nachfolger als Augustiner-Generalvikar wurde und nach kurzem Wirken in Altenburg seit 1525 als Nürnberger Prediger den Fortgang der Reformation maßgeblich mitbestimmte. Wegen seiner philologischen Gelehrsamkeit wurde der Franke Andreas Osiander (ca.14961552) 1520 Hebräischlehrer am Augustinerkloster, wo er durch Beschäftigung mit Luthers Schriften sich eine selbständige theologische Position erarbeitete. Seit 1522 übte er als Prädikant an St. Lorenz starken Einfluß auf die Verbreitung evangelischer Gedanken in der Bevölkerung und auf die Einfiihrung der Reformation (s. 10.2.3-4). Als fiihrender Nürnberger Theologe wirkte er mit bei der evangelischen Neuordnung der benachbarten Markgrafschaften Ansbach-Kulmbach (s. § 12; 2.4.1). Als einer der originellsten Köpfe der lutherischen Reformation war er an deren Durchsetzung in Süddeutschland seit 1529 beteiligt (vgl. § 12; 2.4.1; zum Osiandrischen Streit s. § 15; 8.1).
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10.2.3 Neben Osiander verbreiteten die evangelische Lehre v .a. die Prädikanten Dominikus Scheupier (St.Sebald) und Thomas Venatorius (Heilig-Geist-Spital); sie wurden von den Pröpsten der beiden Hauptkirchen unterstützt, welche - nachdem 1522 eine neue Armenordnung und 1523 die evangelische Abendmahlsfeier im Augustinerkloster eingefiihrt war - im Juni 1524 eine evangelische Gottesdienstordnung i.S. der lutherischen Messe erließen (Texte: EKO 11, 23-50). Damit begann die institutionelle Ablösung von der Jurisdiktion des Bamberger Bischofs, welcher sich vergeblich durch Verhängung von Kirchenstrafen wehrte. Entscheidend war die Unterstützung des Rates, dessen Mitglieder bereits überwiegend evangelisch gesinnt waren. 10.2.4 Der durch den Humanismus und Staupitz' Frömmigkeitstheologie geprägte Ratsschreiber Lazarus Spengler (1479-1534), der 1519 erstmals Luthers Lehre mit einer Flugschrift verteidigt hatte (vgl. 8.1.6-7), steuerte nun den durch reichspolitische Umsicht geprägten Kurs der Nürnberger Reformation. Aufeinem Städtetag in Ulm (6.-12.12.1524) koordinierte er die Reaktion mehrerer Reichsstädte - u.a. Nürnberg, Straßburg, Ulm, Konstanz, Schwäbisch Hall, Reutlingen -auf das kaiserliche Verbot der geplanten und von den Städten bereits intensiv vorbereiteten Nationalversammlung (s. 9.1.2): Gottes Ehre, die allgemeine Wohlfahrt und das Seelenheil der Untertanen geböten das Festhalten an der evangelischen Lehre, obwohl man in weltlichen Dingen dem Kaiser gehorsam sein wolle. Spenglers Konzeption bestimmte fortan die Religionspolitik Nürnbergs und anderer Städte (vgl. z.B. § 12; 3.2.5). Einen vorläufigen Abschluß fand die Einfiihrung der insgesamt konservativen Reformation in Nürnberg (samt dessen weitem Landgebiet mit ca.60 Gemeinden) im März 1525 mit dem Verbot des alten Kultus und mit der Aufkündigung der bischöflichen Jurisdiktion durch den Rat, nachdem dieser aufgrund einer Disputation zwischen Evangelischen und Altgläubigen unter Bezug auf Osianders Lehrartikel die Lehre der letzteren fiir häretisch erklärt hatte. Solche rechtsverbindlichen Religionsgespräche fiihrten in etlichen Reichsstädten zur offiziellen Entscheidung über die Reformation. Die Klöster lösten sich allmählich auf, eine Bilderstürmerei unterblieb; ein evangelisches Gymnasium wurde 1526 eröffnet unter Leitung des Melanchthonschülers Joachim Camerarius (1500-74), der fiir die deutsche Bildungsgeschichte bedeutsam wurde. 10.2.5 Das herausragende Beispiel fiir volkstümliche Dichtung, welche die Reformation propagierte, bot der humanistisch gebildete Schuhmacher und Meistersinger Hans Sachs (14941576) in Nürnberg. Mit seinem Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall 1523 und vier Dialogen 1524 (Texte hg.v. G.H. Seufert, 1974) setzte er sich fiir Luther ein und vertrat er einen dezidierten Antiklerikalismus. Er betonte v .a. die sozialen Konsequenzen der reformatorischen Lehre. Er schrieb bewußt als Laie fiir Laien, erzielte eine beträchtliche Breitenwirkung und verdeutlicht so das Interesse der Nichttheologen an den theologischen Problemen der Zeit. 10.2.6 Evangelische Prädikanten, die vom Humanismus herkamen, leiteten den Wandel auch in anderen süddeutschen Reichsstädten ein: so z.B. in Schwäbisch Hall Johannes Brenz (s. 10.1.3), in Waidshut Balthasar Hubmaier (s. 15 .2.2), in Memmingen Christoph Schappeier (s. 16.2.2), in Reuttingen Matthäus Alber (1495-1570). Relativ weit ging Nördlingen, wo unter dem Einfluß von Kaspar Kantz (ca.1480?-1544) und Theobald Billicanus (1491-1554) seit 1522 die evangelische Messe eingefiihrt wurde (Text: EKO 12, 285-288). Dinkelsbühl folgte. In Ulm setzte sich die evangelische Predigt gegen Widerstände bis 1524 durch, aber noch nicht die Reformation insgesamt. Harte innerstädtische Konflikte mit den Altgläubigen gab es auch in Rotbenburg und Schwäbisch Gmünd, so daß Strukturveränderungen sich verzögerten. In vielen Städten tobte ein turbulenter Kanzelkrieg zwischen beiden Parteien. 10.2. 7 Allgemeine Bedeutung bekam die Entwicklung in Straßburg, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum Südwestdeutschlands, wo der Humanismus eine entsprechende Mentalität vorbereitet hatte (vgl. 6.1.2). Die evangelische Lehre wurde seit 1520 durch Buchdruck und Prediger verbreitet: v.a. durch den humanistisch gebildeten Münsterpfarrer Mattbias Zell (1477-1548), einen Seelsorger und Praktiker, der 1523 in seiner Christlichen Verantwortung die Neuerungen verteidigte. Etwas später kamen die Prediger Wolfgang Capito (ca.14781540), Kaspar Hedio (1494-1552) und Martin Bucer (s. 10.1.4) hinzu. Unruhen entstanden, weil Verteidiger des alten Systems heftig opponierten, voran der scharfe Luthergegner Thomas Murner (OFM, 1475-1537), ein glänzender Satiriker und Verfechter eines christlichen Humanismus. Der um den inneren Frieden und um das Verhältnis zum Reich besorgte, seit 1524
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mehrheitlich evangelische Rat tolerierte reformatorische Predigt und deutsche Messe, Klerikerehen und Klosterauflösungen. Doch erst 1529 schaffte er den alten Kult ab. Der humanistisch gebildete Bürgermeister Jakob Sturm (1498-1553) förderte die evangelische Bewegung über Straßburg hinaus und wurde einer der politischen Führer der Reformation in Deutschland.
10.3 Gegensatz zwischen Luther und Erasmus Grundsätzliche Bedeutung für die Klärung der Unterschiede zwischen humanistischer und evangelischer Bewegung bekam die Tatsache, daß Erasmus sich 1524 deutlich gegen Luthers Theologie aussprach. Dessen Kirchenkritik hatte er in der Frühphase 1518-20 zwar gebilligt, aber nicht unterstützt. Erasmus' vorsichtige Neutralität wich nach 1521 - zumal wegen der Attackenaltgläubiger Theologen und Kirchenmänner gegen seine vermeintliche Begünstigung der lutherischen Ketzerei - einer Distanzierung von Luther. Dessen Sünden- und Rechtfertigungslehre war ihm zutiefst fremd; seine Philosphia Christi basierte auf einem optimistischen Menschenbild (s. 6.3). Er erstrebte eine Vermittlung der Gegensätze, und diesem Ziel diente eigentlich auch seine literarische Auseinandersetzung mit Luther, die als eine klärende wissenschaftliche Diskussion gedacht war: die Schrift über die Willensfreiheit. Sie behandelte allerdings ein kontroverses Kernthema der reformatorischen Lehre, an dem der kategoriale Unterschied beider Positionen zutage trat. Erasmus' Betonung des göttlich-menschlichen Synergismus im Heilsvorgang und seine humanistische Hermeneutik mit ihrer Synthese von Bibel und Kirchenvätern stießen auf Luthers scharfen Widerspruch. In einer polemischen Streitschrift legte dieser 1525 umfassend seine Anthropologie und Gotteslehre sowie sein Schriftprinzip so dar, daß hinfort eine Verständigung unmöglich war (Über den unfreien Willen): Der Mensch sei durch seine Sündigkeit unfrei vor Gott und könne zu seinem Heil nichts beitragen. Damit war der Gegensatz zum optimistisch-pädagogischen Menschenbild und zum Stellenwert der Ethik im erasmianischen Humanismus klar. 10.3.1 Mißfallen wegen der Gefahr eines Aufruhrs und Mißgunst wegen Luthers publizistischer Erfolge bestimmten den Humanistenforsten Erasmus von Rotterdam (s. 6.3 .1) in seiner Distanz gegenüber der evangelischen Bewegung. Da den Kern seiner Philosophie Christi die Befolgung der göttlichen Gebote bildete, lehnte er Luthers Behauptung, der Mensch könne keinen Beitrag zum Heil leisten, ab. Seit 1521 war beiden klar, daß ein unüberbrückbarer Gegensatz bei den Themen Willensfreiheit und Prädestination bestand, was sie in gelegentlichen literarischen Bemerkungen bekundeten. Erasmus war nicht bereit, sich öffentlich gegen Lother zu äußern, obwohl seine altgläubigen Anhänger ihn drängten, darunter auch Herzog Georg von Sachsen und König Heinrich VIII. von England, welcher 1521 in einer Schrift unter Mithilfe seiner Theologen - gegen Lother die katholische Sakramentenlehre verteidigt hatte (vgl. § 13; 6.1.3). Erasmus lag am Einsatz aller besonnenen Kräfte für das große Reformwerk, wobei er 1522/23 besondere Hoffnungen auf Papst Hadrian VI. setzte. Deswegen kritisierte er Luthers Schroffheit und fürchtete, daß die evangelische Bewegung in allgemeinen Aufruhr umschlagen könnte (vgl. auch 16.2.6). Um Lother zu einer literarischen Kontroverse über jene strittigen Themen zu bewegen und um seinen katholischen Freunden ein Zeichen zu geben, publizierte er im Sommer 1524 De Libero arbitrio Diatribe sive collatio!Gespräch bzw. Unterredung überdenfreien Willen (Text/Übers.: Erasmus. Ausgew. Schriften, hg.v. W. Welzig, Bd.4, 1969, 1-195). Den traditionellen Synergismus (Der Mensch vermag alles, wenn Gottes Gnade ihm hilft; also können alle Werke des Menschen gut sein; III, 13) begründete er mit Schriftbeweisen; Luthers Lehre lehnte er mit dem methodischen Hinweis auf unterschiedliche Bibelaussagen über menschliche Willensfreiheit und göttliche Prädestination ab.
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10.3.2 Erasmus' Diatribe war nicht die erwartete antilutherische Kampfschrift; reformatorische Humanisten wie Melanchthon sahen keinen tiefen Gegensatz zwischen den beiden Positionen. Luther zögerte mit einer Antwort, weil ihm andere Aufgaben wichtiger waren. Erst nach dem Bauernaufstand arbeitete er im Herbst 1525 an der Widerlegung der erasmianischen Argumente, die zu einer grundsätzlichen Entfaltung seiner Hermeneutik (Klarheit der Schrift; vgl. § 14; 4.4.2-3), Anthropologie und Gotteslehre (Willensfreiheit und Erwählung; vgl. § 14; 3.1.2; 4.1.2; 4.2.2) geriet: De servo arbitr!.o!Vom unfreien Willen, Ende 1525 veröffentlicht (Text: WA 18, 600-787; BoA 3, 94-293; Ubers.: MA Erg.bd.1). Die Distanz zwischen Luther und Erasmus war seitdem fiir die Gebildeten klar, zumal dieser im Frühjahr 1526 mit einer Replik reagierte: Hyperaspistes, d.h. Schildhalter zum Schutz der Diatribe, dazu ein zweiter Teil 1527. AlsErasmus 1534 versuchte, zwischen Altgläubigen und Evangelischen zu vermitteln, lehnte Luther scharf ab; fiir ihn gab es keine Verständigung mehr. 10.4 Literatur QUELLEN: MELANCHTHON: s. § 14; 8.5.2. - JOHANNES BRENZ: Werke, hg.v. M. Brecht/G. Schä~~r, Bd.1ff, 1970ff. - MARTIN BUCERS Deutsche Schriften Bd.lff, 1960ff. - ANDREAS ÜSIANDER d.A.: Gesamtausgabe, hg.v. G. Müller, Bd.lff, 1975ff. M. BEYER/G. WARTENBERG (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation, 1996. - A. BIEBER: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation, 1992. - M. Brecht: Martin Luther, Bd.2, 1986, 194-234. - DERS.: Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: Ders.: Ausgew. Aufsätze Bd.1, 1995,411-470. - DERS.: Brenz, TRE 7 {1981) 170-181. - M. GRESCHAT: Martin Bucer, 1990, 13-97. - B. HAMM: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, 1996. - H.-J. KÖHLER (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, 1981. - M. LIENHARD/J. WILLER: Straßburg und die Reformation, 2.A. 1982. - B. MOELLER/K. STACKMANN: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation, 1996. - B. MOELLER: Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, ZKG 70 (1959) 46-61. - DERS.: Flugschriften der Reformationszeit, TRE 11 (1983) 240-246. O.H. PESCH (Hg.): Humanismus und Reformation, 1985. - H.R. SCHMIDT: Reichsstädte, Reich und Reformation, 1986. - H.v. SCHUBERT: Lazarus Spengler und die Reformation in Nümberg, 1934. - G. SEEBAß: Stadt und Kirche in Nümberg im Zeitalter der Reformation, in: B. Moeller (Hg.): Stadt und Kirche im 16.Jh., 1978, 66-86. - DERS.: Osiander, TRE 25 (1995) 508-515. - L.W. SPITZ (Hg.): Humanismus und Reformation als kulturelle Kräfte in der deutschen Geschichte, 1981. - R. STUPPERICH: Bucer, TRE 7 (1981) 258-270.
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11. Zwinglis Reformation in Zürich 1522-25 Neben Wirtenberg bildete sich seit 1523 in Zürich infolge der von Ulrich Zwingli (1484-1531) ausgehenden Impulse ein zweites Zentrum der evangelischen Bewegung. Von dort aus beeinflußten die neuen Ideen in spezifischer Ausprägung nicht nur die Verhältnisse in der Schweiz, sondern strahlten auch nach Südwestdeutschland aus. Ihr Einfluß war zwar erheblich geringer als derjenige von Luthers Ideen, aber sie wurden für die Situation im Reich in mancher Hinsicht bedeutsam. Ein anderer Typ Reformation als der lutherische formierte sich: eine evangelische Bibeltheologie mit gewissen humanistischen Elementen als Grundlage einer bürgerlichen Religiosität, welche die Erneuerung der Kirche in die umfassenden politischen Bezüge des Gemeinwesens einordnete und die Rechtfertigung des Menschen durch Gott eng mit der Aufgabe der Heiligung zusammenschaute. Insgesamt muß Zwingli als eigenständiger Reformator gelten, der allerdings hinsichtlich der historischen Bedeutung hinter Luther zurückstand. Seine Besonderheit lag darin, daß er konsequenter als jener die strukturelle Umgestaltung betrieben hat. Seine Wirkungsgeschichte war v.a. deswegen eingeschränkt, weil infolge seines frühen Todes 1531 die unmittelbare Ausstrahlungskraft zurückging (s. § 13; 2.1-3). Seine Person und seine Schriften spielten nicht die gleiche Rolle wie Luther und dessen Werk als ldentifikationsgestalt, Anreger und Norm in der weiteren Entwicklung der Reformation. Andere Reformatoren nahmen seine Ansätze auf und führten sie selbständig weiter (s. § 13; 2.4). So entstand eine konfessionell unterschiedene Form von Reformation, die für die europäische Kirchengeschichte weitreichende Bedeutung bekam. Im Blick auf die Entwicklung im Reich seit 1525 wurde der Abendmahlsstreit mit Luther wichtig (s. § 12; 1.3), so daß Zwingli auch deswegen in der deutschen Reformationsgeschichte berücksichtigt werden muß. Die von ihm angestoßene Neugestaltung erfaßte zunächst nur Zürich. Dieser Stadtstaat steuerte einen Neutralitätskurs zwischen Frankreich und Habsburg, und das wirkte sich in einer Distanz zu den Konflikten des Reiches aus. Die evangelische Bewegung hier entwickelte sich unabhängig und griff erst später auf die Kantone Bern und Basel über, wobei auch dort der Humanismus als formendes Element wichtig war. Beim Vergleich mit Luthers Reformation ist die chronologische Differenz ein nicht unwichtiger Faktor: Zwingli verkündete öffentlich sein Programm für Strukturänderungen 2-3 Jahre später als Luther, und zu diesem Zeitpunkt war in Deutschland mancherorts der Umgestaltungsprozeß bereits in Gang gekommen; Zürich hat 1523 diese Entwicklung eingeholt und z.T. überholt. (Zur Theologie Zwinglis s. § 14; 10.0-11.4.) 11.1 Die Anfänge: Evangelische Freiheit Für Zwingli ging es um Erneuerung der Christenheit als Reinigung der Kirche und des politischen Gemeinwesens, weil Christen- und Bürgergemeinde ineinanderlagen. Der einflußreichste Prädikant Zürichs nützte seine Kontakte zum Rat, um diesen für die Umgestaltung zu gewinnen: Die Stadtgemeinschaft könne Got-
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tes Zorn nur entgehen, wenn sie sich allein auf die Bibel gründen würde; denn das Evangelium bezwecke den Frieden zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, so daß der Glaube an das Evangelium zum individuellen Heil führe und zugleich Fundament für das Gemeinschaftsleben sei. Da die kirchliche Herrschaft vom Konstanzer Bischof ausgeübt wurde, bedeutete Reformation auch die rechtliche Befreiung von diesem durch verstärkte Zuständigkeit des Rates für das Kirchenwesen, die sich aus der spezifischen Lage wie aus Zwinglis Verständnis der christlichen Gemeinschaft ergab. Anders als für Luther gehörte für ihn der Praxisbezug (das wirklichkeitsändernde Handeln) zum Wesen der reformatorischen Erneuerung. Diese begann nicht wie bei Luther als Konzentration auf einen Mentalitätswandel, dergegenüber die Strukturveränderungen von sekundärer Bedeutung waren und warten konnten. Vielmehr gehörte die Neuordnung der Lebensverhältnisse mit dem Wandel der religiösen Einstellung unlöslich zusammen. Dieser Unterschied im Ansatz bekundete sich im jeweiligen Beginn der Reformation: Für Luther war 1517/18 der Ablaß das entscheidende Paradigma, weil es ihm v. a. um das transzendente Heil (das personale Verhältnis zwischen Mensch und Gott) ging; bei Zwingli bildete 1522 der Bruch der Fastengebote den Anfang, weil es ihm v. a. um Frömmigkeit als Befolgung des Gotteswillens ging. Demgemäß bestand die von ihm initiierte Reformation in einer konsequenten Änderung der Kirchenstrukturen. Sie entwickelte sich in drei Phasen (Vorbereitung [11.1], Einführung und Durchführung [ 11. 2]). Die erste Phase begann 1522 mit dem Widerstand gegen das Kirchenrecht, einem demonstrativen Bruch des Fastengebots durch Zwinglis Anhänger als Folge von dessen kirchenkritischer Predigtweise. Nun verschärfte sich der Konflikt mit den Altgläubigen, v.a. den Chorherren und Bettelmönchen, um Streitfragen wie Priesterehe, Zehntabgaben, Klosterleben, Heiligenverehrung. In dieser Situation beanspruchte der Züricher Rat ein obrigkeitliches Entscheidungsrecht in Kirchenfragen und begann die Ablösung von der Hoheit des Bischofs. Zwingli unterstützte das durch eine theologisch-grundsätzliche Absage an jegliche Kirchenhierarchie einschließlich der Hoheit des - bald als Antichrist abgelehnten - Papstes. Da er für die Obrigkeit als maßgeblicher Pfarrer der Stadt galt, er aber wegen seiner Kirchenkritik ständig von den Altgläubigen attackiert wurde, führte der Rat durch eine offizielle Verhandlung im Januar 1523 eine Entscheidung herbei: Als Ergebnis der Ersten Züricher Disputation dekretierte er, daß einerseits Zwingli (der seine Predigtinhalte in 67 Artikeln zusammenfaßte) kein Ketzer wäre und die evangelische Predigt fortsetzen dürfte, daß andererseits alle Prädikanten sich hinfort nach dem Schriftprinzip richten müßten. Auch das war eine Usurpation bischöflicher Rechte. 11.1.1 Für Zwinglis reformatorische Wirksamkeit war die politische Situation zusammen mit seiner theologischen Position konstitutiv. Die aus 13 Orten bzw. Kantonen bestehende Schweizer Eidgenossenschaft hatte sich im europäischen Kräftefeld als selbständige politische Einheit behauptet, so daß sie zu Beginn des 16.Jh.s faktisch kein Teil des Reiches mehr war. (Näheres s. § 13; 2.1.1.) Das galt auch für die alte Reichsstadt Zürich, einen autonomen Stadtstaat, der seit 1521 nicht mehr zu den Reichssteuern herangezogen wurde, aber dennoch eine gewisse Bindung an den Kaiser bis 1648 behielt. Unter Kar! d.Gr. war das Großmünster als Reichsstift für Chorherren gegründet worden, doch im 14.Jh. geriet es unter starken Einfluß der Stadt,
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ebenso die Reichsabtei Frauenmünster. Zürich war eine mächtige, wohlhabende Stadt mit ca. 5.000 Einwohnern, zu der ein weites Gebiet von Landgemeinden gehörte. Deren bäuerliche Bevölkerung besaß - anders als in den Bauerndemokratien der inneren Schweiz - ebenso wie die städtischen Unterschichten keine Mitwirkung am Stadtregiment, das in der Hand des bürgerlichen Rates als Vertretung der Zünfte lag (des Großen Rates bzw. faktisch des Kleinen Rates mitsamt Bürgermeister). Kirchlich gehörte Zürich zu der riesigen Diözese Konstanz (insofern mit Verbindung zum Reich), doch zwischen Bischofund Rat gab es Rivalitäten um die kirchlichen Hoheitsrechte in der Stadt, und es bestanden Konflikte zwischen niederem Klerus und Bischof. Schon vor 1523 besaß die Stadtobrigkeit mancherlei Einfluß auf das kirchliche Leben, was ein wichtiger Ansatzpunkt für die Reformation wurde. 11.1.2 Seit 1519 amtierte Zwingli als Pfarrer am Großmünster in Zürich. (Zur frühen Biographie s. § 14; 9.1.14.) Seine Erfolge zeigten sich in der starken Resonanz, die er bei einer zahlreichen Hörerschaft fand, und in der Wertschätzung, die ihm der Rat entgegenbrachte. Sie weckten zugleich Widerstände bei Klerikern und Mönchen, worauf der Rat 1520 mit einem Mandat reagierte, das allen Prädikanten die schriftgemäße Verkündigung befahl. Das war noch nicht die Anwendung des evangelischen Schriftprinzips, aber ein bibelhumanistisch begründeter Schritt in diese Richtung. Die Situation wurde für Zwingli auch aus anderen Gründen kritisch: wegen der Gefahr, als Neuerer in den Sog der Bannandrohung gegen Luther und damit unter Häresieverdacht zu geraten, sowie wegen des Streits um die Züricher Militär- und Bündnispolitik. Letzterer betraf einen sozialgeschichtlich relevanten Komplex der bisherigen Schweizer Tradition: das sog. Pensionenwesen bzw. "Reislaufen", den Kriegsdienst im Sold auswärtiger Mächte. Infolge des Bevölkerungsüberschusses sahen seit langem die Obrigkeiten der Kantone eine Möglichkeit zur Entschärfung sozialer Konflikte und zur finanziellen Konsolidierung in der starken Nachfrage nach den besonders qualifizierten Schweizer Söldnern. Sie schlossen daher regelmäßig Verträge mit Frankreich, Venedig, Savoyen, Österreich, dem Papst u.a., die ihnen hohe Geldzuwendungen/Pensionen für den Solddienst im auswärtigen Feldzug (d.h. die reise) garantierten. Das förderte den Wohlstand beträchtlich. In die anwachsende moralistische Kritik an dieser Praxis brachte Zwingli eine neue theologische Note: Hatte er sie schon 1515 im Sinne des erasmianischen Pazifismus abgelehnt, so kämpfte er seit 1520 v.a. gegen die sozialen und politischen Folgen als Zeichen dafür, daß Gottes Zorn über dem Gemeinwesen läge. Praktisch wirkte sich diese Kritik schon 1521 insofern aus, als Zürich kein Bündnis mit dem französischen König Franz I. im Krieg gegen Kaiser Kar! V. abschloß. Bedeutsam war ferner, daß der immer noch grundsätzlich romtreue Zwingli vom Papst nicht mehr den üblichen Ehrensold, die Pension, annahm und daß er erfolgreich dafür eintrat, im Krieg um Italien auch dem Papst keine Söldner mehr zur Verfügung zu stellen. Im Januar 1522 dekretierte der Rat ein grundsätzliches Verbot des Söldnerdienstes in fremden Heeren. 11.1.3 In Zwinglis Predigttätigkeit vollzog sich der Übergang von der humanistischen Kirchenkritik an kultischen und moralischen Mißständen zu einer evangelisch-grundsätzlichen Absage allmählich. Daß teils dadurch, teils unabhängig davon in Zürich eine evangelische Bewegung entstand, zeigte sich im März 1522 beim Bruch der Fastenordnung durch mehrere Bürger, v.a. durch den fiir die Reformation engagierten Buchdrucker Christoph Froschauer: In dessen Werkstatt traf sich eine Gruppe zu einem Wurstessen, dem Zwingli nur als Zuschauer beiwohnte. Daraufhin kam es zu Unruhen in der Stadt, so daß der Kleine Rat mit den üblichen Strafen gegen die Gebotsübertreter einschritt, dagegen war der Große Rat fiir Zwinglis Position stärker aufgeschlossen. Zwingli verteidigte in einer Predigt jenen Akt als Ausdruck evangelischer Freiheit; den Text Von Erkiesen [d.h. Wählen] und Freiheit der Speisen (Text: Z 1, 74-136; Schriften Bd.1, 13-73) publizierte er bald darauf als seine erste reformatorische Schrift: Anders als Luther hielt er die äußere Ordnung für eine Entscheidungsfrage, weil es ihm darum ging, daß die Gemeinde nicht nach Menschensatzung, sondern nach dem Evangelium als Gesetz Gottes leben sollte. Wenn der Große Rat im April 1522 gegenüber einer Delegation des Konstanzer Bischofs - auf der Grundlage eines Gutachtens der Züricher Prediger - eine Mitverantwortung in kirchlichen Dingen beanspruchte, war das ein Hinweis auf mögliche Systemveränderungen. Es kam zur Kanzelpolemik zwischen Zwingli und Predigern der drei Mendikantenorden über die Heiligen- und Marienverehrung, woraufhin der Rat im Juli 1522 - mit abermaligem Eingriff in kirchliche Rechte - eine Disputation über die Streitfragen abhielt und die Altgläubigen zu schriftgemäßer Verkündigung verpflich-
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tete. Der schwache Konstanzer Bischof, Hugo von Hohenlandenberg, wehrte sich nicht. Da etliche Prediger inzwischen heimlich geheiratet hatten (auch Zwingli im Frühjahr 1522: die Witwe Anna Reinhart) und da der Bischof ihr Gesuch um Freigabe der Priesterehe ablehnte, reagierte Zwingli mit einer Bestreitung der bischöflichen Autorität in Fragen von Lehre und Ordnung (Apologeticus Archeteles/Erste und letzte Verteidigung; Z 1, 249-327). Erasmus nahm das als Beweis fiir Zwinglis Distanzierung vom humanistischen ReformmodelL 11.1.4 Die evangelische Partei in Rat, Bürgerschaft und Geistlichkeit wuchs. Als Pfarrer an St.Peter kam der Elsässer Humanist Leo Jud (1482-1542) nach Zürich, fortan einer der konsequentesten Mitstreiter Zwinglis. Zu diesen gehörten u.a. am Großmünster der Schulmeister Oswald Myconius (1488-1552, später Reformator in Basel) und der einflußreiche Chorherr Heinrich Utinger. Wortfiihrer der altgläubigen Opposition war der gebildete, angesehene Chorherr Konrad Hoffmann. Als geistig und politisch bedeutendster Widersacher, der die übrige Eidgenossenschaft gegen Zürich mobilisierte, trat der Konstanzer Generalvikar und Berater des Habsburgers Ferdinand hervor: J ohannes Fabri ( 1478-1541 ), ein Erasmianer und produktiver Kontroverstheologe, seit 1530 Bischof von Wien. Der Häresievorwurf gegen Zwingli wurde nun auch politisch gefährlich, weil die eidgenössische Tagsatzung Zürich durch ein Verbot der neuen Lehre zu isolieren suchte. Zur Klärung lud der Große Rat, in dem die Zwinglianhänger die Mehrheit besaßen, Vertreter der beiden Parteien zu einem Religionsgespräch ein. Daß auch Fabri als bischöflicher Repräsentant teilnahm, war ein folgenschwerer Fehler, weil damit implizit die Entscheidungsbefugnis der weltlichen Obrigkeit anerkannt wurde. Diese sog. Erste Züricher Disputation vom 29.1.1523 mit ca.600 Teilnehmern im Rathaus war keine formgerechte Disputation, weil keine echten Thesen zugrunde lagen, sondern Zwinglis Rechenschaftslegung über seine bisherige Lehre: die 67 "Artikel" (bzw. "Schlußreden", d.h. Folgerungen; Text: Z 1, 458-465; Hauptschriften Bd.3,3-11). Diese Liste der Streitpunkte (u.a. mit Kritik an Papsttum, Messe, Mönchtum, Heiligenverehrung, Zölibat) war keine reformatorische Programmschrift, sondern eine Ablehnung des kirchlichen Lehramts vom Schriftprinzip bzw. Evangelium her, wonach allein Jesus Christus mit seinem erlösenden Sühnetod maßgeblich sein müßte. Erst Zwinglis spätere Auslegung (s. § 14; 9.2.1) verdeutlichte die grundsätzliche Abkehr vom römischen Katholizismus. Die historische Bedeutung der Disputation ergab sich aus der Ratsentscheidung in inhaltlicher Hinsicht durch die allgemeine Verbindlichkeit des Schriftprinzips sowie in formaler Hinsicht durch die obrigkeitliche Regelung kirchlicher Konflikte.
11.2 Neugestaltung von Gottesdienst und kirchlichem Leben Mit der Entscheidung des Rates nach der Disputation vom Januar 1523 war der Weg zum Züricher Staatskirchenturn eröffnet und die zweite Phase der Reformation eingeleitet. Die weitere Entwicklung bestimmte Zwingli 1523 durch Publikation grundlegender Abhandlungen. Im Streit um die Abschaffung der Messe und der kultischen Bilder brachte die Zweite Züricher Disputation im Oktober 1523 sowohl eine theologische Grundsatzklärung (Illegitimität von Messe und Bildern) als auch einen obrigkeitlichen Verfahrenskompromiß (vorläufige Beibehaltung derselben). Letzterer führte dazu, daß die Spannungen innerhalb des evangelischen Lagers offen zutage traten, weil Radikale darin einen Verstoß gegen das göttliche Gesetz sahen. Die Abspaltung der Täufergemeinde kündigte sich an (vgl. 15.2). Doch die reformatorische Bewegung wuchs weiter durch kontinuierliche Reduktion der katholischen Gottesdienstelemente und Kirchenstrukturen. Der konsequente Umbau der Ordnung vollzog sich seit Sommer 1524 als dritte Phase der Reformation, begleitet von theologischer Vertiefung durch Zwinglis Veröffentlichungen: In der Stadt wurden die Bilder aus den Kirchen entfernt, die Klöster aufgelöst, die kirchlichen Zehntabgaben abgebaut, das Großmünsterstift reformiert, dort mit der Prophezei eine Bibelschule für den theologischen Unterricht
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eingerichtet, die bis 1530/31 eine eigene Bibelübersetzung erstellte (sog. Zürcher Bibel). Erst zu Ostern 1525 wurde die Messe definitiv abgeschafft durch eine evangelische Gottesdienstordnung: Reduktion auf Schriftlesung, Predigt und Gebet, Fortfall von Choralgesang und Orgelspiel in den kahlen Kirchenräumen, Abendmahlsfeier nur an 3-4 Sonntagen im Jahr. Der Unterschied zur Wittenberger Reformation wurde manifest. 1525 entstand mit dem Ehegericht eine Institution, welche die Ablösung der bischöflichen Jurisdiktion durch die Kirchenhoheit des Rates auf einem gesellschaftlich relevanten Gebiet festigte (bald durch Kompetenzerweiterung zu einem allgemeinen Sittengericht ausgebaut). Daran zeigte sich, daß - zwinglianischer Lehre entsprechend - das christliche Gemeinwesen sich zu einer neuzeitlichen "Staatskirche" entwickelte. 11.2.1 Stärker als die Kritik an der Messe erhitzte die Polemik gegen die Bilder die Gemüter (besonders scharf in Leo Juds Predigten und in Ludwig Rätzers Flugschrift Ein Urteil Gottes ... , beides von Zwingli gebilligt); sie führte im Herbst 1523 zu Unruhen wegen Bilderstürmerei. Zur Bewahrung des Stadtfriedens beraumte der Große Rat erneut eine - mit ca.900 Teilnehmern gut besuchte- Religionsverhandlung an: die Zweite Züricher Disputation vom 26.28.10.1523. Die v.a. von Zwingli und Jud vertretene evangelische Position war von vornherein überlegen, doch eine praktische Lösung wurde durch den Dissens über sofortige oder allmähliche Abschaffung erschwert. Eine radikalevangelische Gruppe um die Züricher Konrad Grebel und Sirnon Stumpf sowie den Waldshuter Pfarrer Balthasar Hubmaier (s. 15.2.2) forderte die konsequente Eliminierung allen widergöttlichen Kultes und bestritt die Entscheidungskompetenz des Rates in geistlichen Dingen. Doch dieser dekretierte, daß vorerst die Bilder und die Meßordnung unangetastet bleiben sollten und daß die Gemeinde durch verstärkte evangelische Predigt i.S. der Neuerungen argumentativ beeinflußt werden sollte, um das Konfliktpotentia,l abzubauen. 11.2.2 Die Entwicklung im Winter 1523/24 und Frühjahr 1524 bestätigte diese Taktik: Prozessionen, Fastenbräuche, Privatrnessen, Marienandachten, Heiligentage verloren an Akzeptanz. Am 15.6.1524 verfügte der Rat die geordnete Entfernung der Bilder aus den Stadtkirchen; doch mit der Abschaffung der Messe zögerte er weiterhin. Seine Hoheit in Kirchenfragen war inzwischen praktisch durchgesetzt- ein wesentliches Element der reformatorischen Umgestaltung. Das zeigte sich auch am 12.4.1525 bei der Genehmigung der Gottesdienstreform, die in rechtlicher wie in inhaltlicher Hinsicht die völlige Abkehr von der römisch-katholischen Kirche demonstrierte. Die von Zwingli entworfene deutsche Abendmahlsliturgie gab - anders als die lutherischen Ordnungen - den Grundriß der alten Messe und deren sakralen Charakter preis (schlichtes Gemeinschaftsmahl an Tischen mit normalem Geschirr statt Altar und vasa sacra). Die neue Taufliturgie formte Zwingli - über Leo Juds deutsche Ordnung von 1523 hinaus - nach seinem antikatholischen Sakramentsverständnis im Mai 1525 um. Vielleicht 1525, wohl aber erst 1528/9 erschien als Gesamtregelung die Ordnung der christlichen Kirche zu Zürich (Z 4, 671-717). In der zwinglianischen Reformation bekundete sich mit alledem ein pneumatologisch begründeter puritanischer Spiritualismus: Da die Begegnung mit Gott im Geist stattfindet, muß die wahre Frömmigkeit geistlich sein und alles Sinnliche ausschalten. 11.2.3 Die "staatskirchliche" Tendenz der Züricher Reformation zeigte sich v.a. in der Neuordnung der Ehegerichtsbarkeit seit Mai 1525, die einem aus vier Ratsherren und drei Geistlichen bestehenden Ehegericht bzw. Konsistorium übertragen wurde als Ersatz für das bisher zuständige Bischofsgericht Die kanonischen Ehehindernisse wurden eingeschränkt, Voraussetzungen für die Scheidung geregelt, Strafen für Ehebruch und Hurerei fixiert. Seit März 1526 übertrug der Rat jenem Gremium auch die allgemeine Aufsicht über die Sittenzucht, während Zwingli diese Aufgabe (den Bann) rein kirchlich organisieren wollte. Die Züricher Praxis fand andernorts Widerspruch in evangelischen Kreisen; sie wurde Teil einer obrigkeitlichen Sozialdisziplinierung und bekundete die Integration der Kirche in das bürgerliche Gemeinwesen.
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11.2.4 Aus der Umwidmung der Pfründen des Großmünsterstifts entwickelte sich durch die Anstellung von Lehrern seit Juni 1525 ein institutionalisiertes Bibelstudium in Vorlesungen mit Griechisch- und Hebräischunterricht, nach 1. Kor 14,26-33 "Prophezey" genannt (Grundstock der späteren Theologenschule und Vorbild für andere reformierte Kirchen). Teilnehmer waren v.a. die Geistlichen und älteren Lateinschüler Zürichs; als Exegeten waren Zwingli, Leo Jud, Oswald Myconius und der Elsässer Konrad Pellikan (14 78-1556), ein Erasmusschüler und bekannter Hebraist, tätig. Zwingli publizierte 1524 bei Christoph Proschauer ein von ihm glossiertes und z.T. neu übersetztes, an Luthers Werk (s. 9.2.4) orientiertes alemannisches Neues Testament. Mit den o.g. Gelehrten erarbeitete er Übersetzungen der atl. Bücher unabhängig von Luther. 1530 erschien die erste deutschsprachige VoUbibel. 1531 druckte Proschauer diese sog. Zürcher Bibel als Prachtausgabe mit Illustrationen u.a. von Hans Holbein (vgl. 9.4.7), die neben der Lotherbibel eine eigene, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich wichtige Tradition im Protestantismus begründete. An deren Vollendung wirkte mit der auf den atl. Lehrstuhl nach Zwinglis Tod berufene Theodor Bibliander (ca.1504-64), ein bedeutender Hebraist und Exeget.
11.3 Zwinglianischer Einfluß in Deutschland Die direkte Wirkung von Zwinglis Konzeption blieb zunächst begrenzt auf die praktische Neuordnung in Stadt und Kanton Zürich und auf eine literarischgeistige Ausstrahlung in der Schweiz und in Deutschland. Der Unterschied zu Luther war in dieser Hinsicht groß. Kaum zufällig führte die römische Kurie kein Ketzerverfahren gegen Zwingli durch; ihn traf implizit die Bannung der Lutheranhänger. Die altgläubigen Kräfte verurteilten ihn auf der eidgenössischen Tagsatzung in Baden/Aargau 1526, doch die Rechtsqualität der Entscheidung blieb hinter jener von 1520/21 gegen Luther zurück. Auch die katholischen Theologen polemisierten v.a. gegen Luther und behandelten Zwingli als zweitrangigen Häretiker. Bei der wirkungsgeschichtlichen Würdigung muß beachtet werden, daß der "Zwinglianismus" nicht eindeutig bestimmt werden kann, weil die Konturen sich nicht klar genug von den Positionen jener Theologen unterscheiden, mit denen Zwinglis Werk verbunden war. Das gilt in besonderem Maße wegen dessen Verflechtung mit der Züricher Reformation. Das gilt aber auch insofern, als eigenständige, ihm sachlich nahe Reformatoren wie Johannes Oekolampad in Basel und Ambrosius Blarer in Konstanz beträchtlichen Einfluß in Süddeutschland ausübten. Annäherungen ergaben sich zu den Straßburger Reformatoren (s. 10.2). Die Wechselwirkung der verschiedenen Positionen machte sich z.B. in Frankfurt/Main, Ulm und Augsburg bemerkbar, zeitweise mit stark zwinglianischer Prägung, ferner in Memmingen, Lindau und kleineren Städten. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß einige Aspekte von Zwinglis Konzeption bei Teilen der Täuferbewegung fortwirkten. Insgesamt kann man konstatieren: Seine Reformation als spezifischer Typ war verschränkt mit denjenigen Teilen der evangelischen Bewegung in Oberdeutschland, welche sich von Luthers Konzeption abhoben und ihre geistigen Zentren in Zürich und Konstanz, Basel und Straßburg besaßen. Dieser kg. wichtige Sachverhalt erklärt, warum die Reformation in Deutschland schon früh sich konfessionell differenzierte, so daß es zu keiner einheitlich geformten evangelischen Kirche kam. In der Schweiz drang die Reformation seit 1526 allmählich vor (s. § 13; 2.2). Für die Situation im Reich wurde wichtig, daß die sporadische Ausbreitung zwinglianischer Ideen sich seit
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1524/25 mit der Kontroverse um die Abendmahlslehre verband (s. § 15; 4.1-2). Der Streit trug auf dem Hintergrund von Bauernaufständen und Täuferbewegung dazu bei, daß insgesamt in Deutschland der direkte zwinglianische Einfluß gering blieb (auf einige südwestdeutsche Städte konzentriert), daß er sich aber mit einer stärker verbreiteten humanistisch-reformatorischen Strömung verband und so indirekt wirkte. Politische Bedeutung erhielt der Zwinglianismus dadurch, daß der 1519 aus Württemberg vertriebene Herzog Ulrich seit 1524/5 für ihn aufgeschlossen war und die Verbindung zwischen Zwingli und dem mächtigen Landgrafen Philipp von Hessen vermittelte. Deshalb spielte die Frage eines Bündnisses mit Zürich in der Politik der Protestanten nach 1529 eine Rolle (s. § 12; 3.2). 11.3.1 hn Kontakt mit der Züricher Reformation, aber selbständig entwickelte sich die Reformation in der Reichsstadt Konstanz und strahlte von dort durch zielstrebige politische und theologische Förderung in den schwäbischen Raum aus. Die Opposition gegen den Konstanzer BischofHugo, der 1526 aus der seit 1522 evangelisch gewordenen Stadt wich, und die Erneuerung des christlich-bürgerlichen Lebens waren wesentliche Motive der von Predigern und Rat gemeinsam geförderten Entwicklung. Maßgeblichen Einfluß übten die der Patrizierschicht entstammenden TheologenAmbrosius Blarer (1492-1564) undJohannes Zwick (ca.1496-1542), zumal deren Brüder Thomas Blarer und Konrad Zwick - und um sie eine progressive Führungselite - als Ratsherren die Umgestaltung förderten. Der von Zwingli beeinflußte Zwick, zuvor Pfarrer in Riedlingen, kam erst 1526 nach Konstanz und war seitdem - auch als Verfasser seelsorgerlicher und katechetischer Schriften - treibende Kraft der reformatorischen Umgestaltung. Größere Bedeutung für die systematische Verbreitung der Reformation in Oberdeutschland bekam der als Theologe weniger profilierte, an humanistisch-evangelischer Reformpraxis interessierte Blarer, seit 1525 Prediger in Konstanz. Er war trotz der frühen Begeisterung für Lotherschriften kein "Lutheraner" und trotz der Kontakte zu Zwingli kein "Zwinglianer". Er vertrat eine eigenständige Mittelposition, die sich in vielem mit derjenigen Bucers und der Straßburger Reformatoren berührte. 11.3.2 Eine Gestalt eigenen Gepräges war der durch philologische, exegetische und patristische Gelehrsamkeit herausragende Schwabe Johannes Oekolampad (gräzisiert aus Heusgenf Hausschein; 1482-1531). Dieser zunächst von Luthers Theologie beeinflußte Humanist, Schüler Reuchlins, hatte seit 1523 in Basel an der Universität eine Bibelprofessur inne, erarbeitete sich eine eigene Konzeption i. V. von evangelischem Ansatz und Kirchenvätertheologie. Er förderte durch theologische Beiträge die Reformation in Basel, ohne daß er als der entscheidende Reformator dieser Stadt gelten könnte, weil die dortige Entwicklung - 1529 mit definitiver Einführung der Reformation - von verschiedenen Kräften bt?.stimmt wurde. Mit Zwingli, der ihn z.T. beeinflußte, verband ihn außer kirchenpolitischer Ubereinstimmung die Ablehnung von Luthers Abendmahlslehre. Doch er vertrat auch hier eine eigene spiritualisierende Position. Er engagierte sich seit 1525 literarisch für deren Durchsetzung in Oberdeutsch1and. 11.4 Literatur QUELLEN: HULDREICH ZWINGLIS Sämtliche Werke, bisher 14 Bde., CR 88-101, 1905-59 [= Z]. ZWINGLI Hauptschriften, hg.v. F. Blanke u.a., 8 Bde., 1940-63. - HULDRYCH ZWINGLI: Schriften, hg.v. Th. Brunnschweiler/S. Lutz, 4 Bde., 1995. F. BLANKE: Zwingli, RGG3 Bd.6 (1962) 1952-1960. - P. BUCKLE u.a. (Hg.): Zwingli und Europa, 1985. - F. BüSSER: Huldrych Zwingli, 1973. - E. EGLI: Schweizerische ReformationsgeschichteBd.1, 1910. - 0. FARNER: Huldrych Zwingli, 4 Bde., 1943-60. - U. GÄBLER: Huldrych Zwingli, 1983. DERS.: Oekolampad, TRE 25 (1995) 29-36. - B. HAMM: Zwinglis Reformation der Freiheit, 1988. T. HIMMIGHÖFER: Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531), 1995. - W. KÖHLER: Huldrych Zwingli, 1943, 2.A. 1954; ND 1983. - G.W. LOCHER: Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischenKirchengeschichte,1979. - DERS.: Zwingli und die schweizerische Reformation, KlG Bd.3, Lfg. J 1, 1982. - DERS.: Huldrych Zwingli, GKG 5, 1981, 187-216. - H. RICH: Die Anfange der Theologie Zwinglis, 1949. - J. ROGGE: Anfänge der Reformation ... Der junge Zwingli 1484-1523, KGE II, 3-4, 2.A. 1985, 223-306. - H.C. RUBLACK: Die Einfiihrung der Reformation in Konstanz, 1971. E. STAEHELIN: Das theologische Lebenswerk Johannes Oekolampads, 1939.
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12. Außenseitertum: Die "radikale Reformation" Die disparate Vielfalt der evangelischen Bewegung (mit ihrer sozialen Komplexität und religiös-theologischen Differenziertheit) wurde in der Anfangszeit 1518-21 von der Mehrheit der Beteiligten kaum als Problem wahrgenommen, weil alle Unterschiede überbrückt und verdeckt wurden durch die eine große Gemeinsamkeit: die Opposition gegen das herkömmliche Kirchensystem und das allgemeine Streben nach Reform. Konflikte wurden unvermeidlich, als die Opposition praktische Konsequenzen zeitigte und es an die Gestaltung von Veränderungen ging. Das zeigten paradigmatisch die Wittenberger Unruhen innerhalb des an Luther orientierten Teils der Bewegung (s. 9.2), aber auch die deutlicher werdenden Differenzen zwischen diesem und den katholischen Humanisten um Erasmus (s. 10.3). Die Jahre nach 1522 brachten mancherlei Klärungen: einerseits erste organisatorische Fixierungen der von Luthers und Zwinglis Konzeptionen bestimmten Reformationsmodelle, andererseits - meist im Gegensatz dazu - eine stärkere Profliierung divergenter Positionen. Das war eine Entwicklung, die sich zwar über einen längeren Zeitraum hinzog (bis ca.1535/40), die aber in den Jahren um 1525 eine kritische Entscheidungssituation heraufführte, wie sich an mehreren Beispielen zeigte. Die Scheidung der Geister gab i.V. mit den Strukturveränderungen nach 1525/26 der Durchführung der Reformation in Deutschland ihr eindeutiges, nämlich überwiegend lutherisches Profil (vgl. § 12; 6.0). 12.1 "Gemeindereformation" und "Bauernkrieg" Zur morphologischen Unklarheit und positioneilen Vielfalt der evangelischen Bewegung gehörte von Anfang an die enge Verbindung der kirchlichen Reformforderungen mit sozialen und politischen Aspekten. (Vgl. z.B. zum niederen Adel 9.3.) Angestoßen durch die Lehren der Hauptreformatoren Luther und Zwingli sowie durch deren Verbreitung in den Predigten und Schriften der mancherlei Multiplikatoren, der lokalen und regionalen Reformatoren, wurde seit ca.1520 in denjenigen Städten und Territorien, wo die evangelische Bewegung zu Strukturänderungen führen sollte, der sog. "Gemeine Mann" als Trägerkreis zu einem wichtigen Element der Entwicklung. Es handelte sich um das bunte Spektrum derjenigen Gesellschaftsschichten, die von der politischen Herrschaft ganz oder weitgehend ausgeschlossen waren (mit z. T. erheblichen Unterschieden im Rechtsstatus): u. a. selbständige Händler und Handwerker, Iohnabhängige Gesellen und Arbeiter, freie Bauern und Leibeigene. Diese oft als "Gemeinde" bezeichneten Gruppen bezogen häufig das antiklerikale Gemeindeprinzip der Kirchenreformforderungen auf ihre politische Stellung, da es der herkömmlichen Integration von religiösen und sozialen Aspekten im Gemeinwesen als corpus christianum entsprach. In den Städten bot das alte genossenschaftliche Prinzip den ökonomisch wichtigen, jedoch politisch unterprivilegierten Gruppen die Handhabe, i. V. mit ihren kirchlichen Forderungen gegenüber der Ratsaristokratie (Obrigkeit) eine Partizipation am Stadtregiment zu verlangen (vgl. 4.1.3). Auf dem Lande und in den Dörfern ver-
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band sich die Beteiligung an der evangelischen Bewegung mit der ebenfalls älteren Kritik an der Ausdehnung feudalistischer bzw. frühabsolutistischer Herrschaftsrechte (vgl. 4.2.2). Der inderneueren Forschung verwandte Begriff Gemeindereformation bzw. die ältere Bezeichnung der Reformation als Volksbewegung o.ä. darf nicht zu der Annahme verleiten, als wäre dies ein eigenständiger Typus von Reformation neben dem von Luther bzw. Zwingli geprägten Typ der obrigkeitlichen Reformation bzw. Fürstenreformation. Denn in der Frühzeit lagen die für beide Formen charakteristischen Elemente ineinander, und zum Konflikt zwischen beiden kam es allgemein offenkundig nur mit dem sog. Bauernkrieg (s. 16.2). Dessen Katalysatorfunktion innerhalb der Entwicklung der evangelischen Bewegung bestand darin, daß die Unterscheidung zwischen deren religiös-kirchlichen und politisch-sozialen Elementen verdeutlicht wurde und die revolutionäre Gewaltanwendung als reformatorische Möglichkeit ausschied. Anders gesagt: Die praktische Überführung der evangelischen Bewegung in eine "radikale" Reformation (durch Beteiligung der Bauern am Kirchenregiment, Veränderung der Sozialstruktur, Abbau der Feudalrechte u. a.) scheiterte; fortan fixierte sich - abgesehen von der erstarkenden Unterdrückung der evangelischen Bewegung bzw. Gegenreformation in vielen Territorien - die Unterscheidung der Reformation als einer evangelischen Kirchenerneuerung von der Revolution als eines Umbaus des feudalistischen Gesellschafts- und frühabsolutistischen Herrschaftsgefüges. Diese Unterscheidung hatte Luther seitjeher von seinem Verständnis der Rechtfertigung und des Wortes Gottes her bekräftigt als Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Herrschaftsweisen Gottes im geistlichen und im weltlichen Bereich. (Zur sog. Zwei-Reiche-Lehre s. § 14; 7.1; eine ähnliche Position vertrat Zwingli: s. § 14; 11.4.) Daran orientierten sich die anderen Reformatoren und die vielen Multiplikatoren der evangelischen Bewegung, und das traf auch die Konzeptionen weiterer Teile der radikalen Reformation (s. 13.2; 15.1-3). In der Reformationsgeschichte bildete der Bauernkrieg also keine epochale Zäsur derart, daß die Reformation als Volksbewegung beendet wäre oder daß die Gemeindereformation durch die Fürstenreformation abgelöst würde. Denn die bisherigen Trägerkreise der evangelischen Bewegung (Prediger/geistige Multiplikatoren- Gemeinde/Volk - Obrigkeiten) kooperierten weiterhin bei der Durchführung der Reformation. Allerdings dominierte bei dieser rechtlichen Fixierung der Strukturveränderungen fortan aus reichspolitischen Gründen die jeweilige Obrigkeit (s. § 12; 1.1; 6.1).
12.2 Einheit und Vielfalt der "radikalen Reformation" Neben der lutherischen und der zwinglianischen Reformation gab es innerhalb der evangelischen Bewegung einige fundamental davon unterschiedene, jedoch in historisch-genetischem Zusammenhang damit stehende Konzeptionen. Erstmals traten diese 1521122 deutlich zutage bei Andreas Karlstadt in Wittenberg und Thomas Müntzer in Zwickau. Luther hat sich davon scharf distanziert und sie als Schwärmerei bzw. Rottengeisterei attackiert. Mit seiner polemischen Publizistik hat er die Urteilsbildung der Nachwelt über das sog. "Schwärmertum" - die
12. Außenseitertum: Die "radikale Reformation"
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nichtlutherischen Teile der evangelischen Bewegung - nachhaltig bestimmt. Die Forschung hat im 20.Jh. deren historische Bedeutung und programmatisches Profil durch differenzierende Untersuchungen herausgearbeitet. Sie hat sich jedoch nicht auf einen zusammenfassenden Begriff verständigen können; am meisten Zustimmung fand die Bezeichnung "radikale Reformation" (weniger dagegen Nonkonformisten, Dissidenten, Randströmungen oder Linker Flügel der Reformation). Jene Bezeichnung, die weder eine positive noch eine negative Wertung impliziert, kann nur mit zweierlei Einschränkung sinnvoll verwendet werden im Blick auf die in 13.1-16.2 dargestellten Positionen: a) Es handelte sich nicht um eine einheitliche Gruppierung bzw. um Gruppen mit gemeinsamer Konzeption; b) der vieldeutige, relative Begriff radikal muß jeweils konkret inhaltlich dahin bestimmt werden, inwiefern die üblichen Fundamente tangiert oder negiert wurden. Als ein eigener Reformationstyp erscheinen die radikalen Theologen und Gruppen zunächst insofern, als sie evangelische Minderheitspositionen vertraten, sich in Gegensatz (nicht nur zur römischen Papstkirche, sondern auch) zu den sich nach dem Wittenberger oder dem Züricher Modell etablierenden Reformationen stellten und deswegen als Aufrührer harte Verfolgungen erleiden mußten (in der Frühzeit z.T. im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg). Dieser Aspekt hing inhaltlich damit zusammen, daß sie sich - bei allgemein stärkerer Beeinflussung durch spätmittelalterliche Traditionen - meist in vier Grundfragen von der lutherischen und zwinglianischen Reformation unterschieden. 1. Sie wollten die wahrhaft reine Kirche der entschiedenen Gläubigen und Heiligen darstellen in Separation von der Masse der verweltlichten Christenheit (der Volkskirche); ihre Gemeindebildung war damit i. w. auf Kleingruppen beschränkt. - 2. Sie lehnten die objektiv-institutionelle Heilsvermittlung durch Wort und Sakrament (als Gottes Handeln verstanden) ab bzw. relativierten sie stark zugunsten einer gläubigen Subjektivität oder eines im Glauben erfahrbaren und praktizierten Christenlebens (oft auch mit beträchtlichen Unterschieden zur reformatorischen Rechtfertigungslehre). - 3. Sie standen mit ihrer Ablehnung der Volkskirche auch der traditionellen Gesellschaftsstruktur kritisch gegenüber und erstrebten ihre reformatorischen Veränderungen grundsätzlich (oder z.T. nur faktisch) ohne Verbindung mit den Obrigkeiten in Stadt und Territorium. - 4. Sie verstanden Reformation umfassend als Änderung der gesamten Lebensordnungen, der kirchlichen wie der weltlichen i.S. der traditionellen Vorstellung vom corpus christianum, unterschieden also nicht wie Luther und Zwingli die beiden Bereiche (vgl. 12.1). - Die vier Charakteristika begegneten allerdings nicht bei allen Vertretern einer radikalen Reformation oder nicht in gleicher Klarheit. Und man kann diese wegen der Vielfalt ihrer Positionen auch nur mit eingeschränkter Treffsicherheit hinsichtlich der historischen Realität in drei Teilen systematisierend erfassen: Apokalyptik, Spiritualismus, Täufertum. Dabei handelt es sich um eine schematisierende Nomenklatur für Gruppierungen i.S. der Bezeichnung von typischen Schwerpunkten (unbeschadet der Tatsache, daß bei einzelnen Vertretern sich alle drei Elemente oder jeweils zwei von ihnen mit unterschiedlicher Ausformung verbanden). Während
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die gewaltsame Ausschaltung der Radikalen in der evangelischen Bauernbewegung mit dem Ende des Krieges 1525/26 schlagartig erfolgte, blieb sie für jene Gruppierungen - trotz anfänglicher Konzentration der Verfolgung - ein dauerhaftes Problem. Auch darin bekundet sich deren kg. Bedeutung: Von ihnen gingen kontinuierlich, jedoch gleichsam "im Untergrund" oder "am Rande" der etablierten Kirchen religiöse Impulse aus, die in Deutschland wie in Buropa bei nonkonformistischen Gruppen bzw. Individuen während des 16./17. Jh.s fortwirkten (vgl. z.B. § 12; 7.4; § 13; 7.1; 11.2; § 18; 2-2.4). 12.3 Literatur QUELLEN: H. Fast (Hg.): Der linke Flügel der Reformation, KIProt 4, 1962. - Vgl. auch 13.3-16.3. P. BUCKLE: Gemeindereformation, 1985. - Ders.: Die Reformation im Reich, 1982, 65-133. - DERS.: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800, EDG 1, 1988. - H.-J. GOERTZ (Hg.): Radikale Reformatoren, 1978. - DERS.: Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, 1993. - G.H. WILLIAMS: Radical Reformation, 1962; 3.A. 1992. - DERS.: Radical Reformation, in: The Oxford Encyclopedia of the Reformation, hg.v. H.J. Hillerbrand, Bd.3, 1996, 375-384. - R. WOHLFEIL: Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, 1982, 90-93. 144-169.
13. Apokalyptisch-revolutionäre Reformation: Thomas Müntzer Die am stärksten umstrittene Gestalt der evangelischen Bewegung - ein Theologe mit eindrucksvollem Profil, doch mit schwer zu interpretierender Position - war der in Sachsen und Thüringen wirkende Prediger Thomas Müntzer (ca.14901525), der unabhängig von Luther und relativ früh eine eigene, andersgeartete Konzeption von Reformation entwickelte. Da er einen scharfen Kampf gegen die etablierte Kirche als Hort der Gottlosigkeit führte, kollidierte er während seiner kurzen Tätigkeit 1519-25 überall mit konservativen und gemäßigt-reformatorischen Kräften, insbesondere mit Luther, der in dem radikalen Außenseiter den Exponenten einer verkehrten Reformationskonzeption bekämpfte. Müntzer war kein "moderner" Theologe (z.B. war er kaum vom Humanismus beeinflußt), sondern grundlegend durch spätmittelalterliche Traditionen geprägt. Seine Verbindung von Spiritualismus und Apokalyptik machte ihn zu einem Theologen des Geistes und des Gerichts, des Gesetzes und der Gewalt. Seine geschichtliche Wirkung bestand darin, daß er einerseits für die etablierte Reformation als exemplarischer Schwärmer die Rolle eines Schreckgespenstes spielte, daß andererseits einige seiner Ideen von Randgestalten des Spiritualismus und Täuferturns aufgenommen wurden. Erst im 19.Jh. hat man ihn - v.a. im Marxismus - als Sozialrevolutionär neu entdeckt; im 20.Jh. hat man ihn in unterschiedlicher Weise als bedeutende Persönlichkeit neben den anderen Reformatoren gewürdigt.
12. Die "radikale Reformation" I 13. Thomas Müntzer
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13.1 Mystik und Gerichtsprophetie Das systematische Zentrum von Müntzers Position war wohl die Verbindung einer apokalyptischen Geschichtstheologie mit einem mystischen Spiritualismus. Darin berührte er sich mit anderen Apokalyptikern und Spiritualisten, unterschied sich von ihnen aber durch die Vielschichtigkeit seines Denkens und durch die Radikalität, mit der er dieses in Praxis umsetzen wollte: In der durch die Herrschaft des Antichristen bestimmten Situation des nahen Weltendes betrieb er die Sammlung der Auserwählten Gottes, um diese für die kommende Christusherrschaft als wahre Gemeinde gemäß dem Willen und der Ordnung Gottes zu organisieren. Dazu war die strikte Abgrenzung gegenüber der pervertierten Christenheit nötig. Gegen deren falschen Heilsweg einerseits der katholischen Gnadenvermittlung durch den äußerlichen Kult (Sakramente/ Amt) und andererseits der lutherischen Glaubensvermittlung durch das äußere Wort (Bibel/Predigt) betonte Müntzer als allein wahren Weg die Gleichförmigkeit mit Christus i.S. des Leidensweges, d.h. der Hingabe an Gottes Willen durch Preisgabe des menschlichen Eigenwillens: Nur Gottes Auserwählte können in den Anfechtungen durch die Welt so leben, weil sie in der Erleuchtung durch den Heiligen Geist sein inneres Wort vernehmen, weil sie statt des erdichteten Glaubens an den stellvertretenden Sühnetod Christi den wahren, innerlichen Glauben haben und deshalb die mystischen Stufen der geistlichen Läuterung gehen auf dem Weg des mitvollzogenen Christusleidens. Diese Lehre Müntzers unterschied sich signifikant von der reformatorischen Rechtfertigungslehre Luthers und Zwinglis. 13.1.1 Die Auseinandersetzung mit der marxistischen Historiographie (seit Friedrich Engels und Ernst Bloch) hat lange die Müntzerforschung geprägt. Eine populäre Sicht auch im westlichen, zumal westdeutschen Protestantismus nach 1968 machte ihn zur Identiftkationsgestalt einer politischen Theologie im Gegensatz zum konservativen Luther. Ihn primär als politischen Weltverbesserer zu verstehen, istjedoch falsch, auch wenn man zutreffend revolutionäre Züge in seinem Dertken erkennt. Nach allgemeiner heutiger Forschungsmeinung war er primär ein apokalyptisch-spiritualistischer Theologe, der die kirchliche Praxis vollkommen gemäß seinen Ideen gestalten wollte. Die Grundlinien und Einzelzüge seiner Theologie werden allerdings unterschiedlich interpretiert. Eine substantielle Beeinflussung durch Luthers Lehre wird weithin verneint; als wesendich gelten Einflüsse der Mystik und Apokalyptik. Müntzer hat nur einige Texte im Druck veröffentlicht (mit geringen Auflagen) und insofern als Schriftsteller kaum in die Breite gewirkt. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte muß man unterscheiden zwischen dem beschrärtkten Einfluß, den er im 16.Jh. (v .a. als Negativfolie seiner Kritiker) hatte, und seiner historischen Bedeutung, die ihm in der Literatur des 20.Jh.s zugewachsen ist. 13.1.2 Über Müntzers Frühzeit ist wenig bekannt. Geboren in Stolberg/Harz (1490 oder 1488/9?), studierte er 1506ff in Leipzig und 1512ff in Frartkfurt/Oder (dort Magister der Theologie). Er erhielt nach der Priesterweihe eine Pfründe in Braunschweig und studierte 1517-19 in Wittenberg wohl aus humanistischen Interessen, wie auch seine spätere Kirchenväterkenntnis bekundet. Kurze Zeit als Prediger in Jüterbog 1519 tätig, erregte er Aufsehen durch eine radikale Kirchenkritik, die zur Konstante seiner weiteren Tätigkeit wurde. Von Mai 1520 bis April1521 versah er eine Predigerstelle in der bedeutenden sächsischen Handelsund Tuchindustriestadt Zwickau, wo er sich engagiert an den Konflikten um die schon 1520 erfolgreiche evangelische Bewegung beteiligte: durch Polemik gegen die Franziskaner und durch Verbindung mit den enthusiastischen Konventikeln um den hussitisch beeinflußten Tuchmachermeister Nikolaus Storch (vgl. 9.2.2). In Zwickau formten sich erste Konturen seiner Konzeption auf der Basis von Traditionen eines mystischen Spiritualismus und eines apokalyptischen Chiliasmus. Sein Streit mit den Altgläubigen, mit dem eine erasmianische
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Kirchenreform vertretenden Johannes Sylvius Egranus (ca.1480/5-1535) und mit den Lutheranhängern, v.a. dem Stadtpfarrer Nikolaus Hausmann (1478/9-1538), und seine Kontakte zu aufrührerischen Tuchknappen spalteten die Stadt, weswegen ihn der Rat entließ. Sein erster Versuch einer Sammlung der Auserwähltenangesichts des erwarteten Endes war gescheitert. 13.1.3 Müntzer zog zu einem erneuten Ansatz nach Böhmen wegen der dortigen Vorbereitung durch das Hussitenturn (vgl. § 8; 13.3.2). Er fand aber in Prag keine öffentliche Resonanz und appellierte im November 1521 an die böhmische Christenheit mit einer theologischen Grundsatzerklärung, dem sog. "Prager Manifest", der ersten Zusammenfassung seiner Konzeption (in zwei dt. und einer lat. Fassung; nicht gedruckt; Texte: Schriften 491-511). Aus seiner Kirchenväterlektüre folgerte er, daß die reine apostolische Kirche schon früh verdorben sei, doch nun (in der eschatologischen zeit der ernte) von Böhmen aus wiederhergestellt werde durch Gottes Scheidung zwischen den Gottlosen, die auftuspüren und zu zerstören seien, und den Auserwählten, dem volk derer, die ganz auf Christus hören mit dem lebendigen Wort des Heiligen Geistes und dem im Leiden erfahrenen Glauben.
13.2 Theokratische Gewaltanwendung Nach dem Scheitern seiner Bemühung, 1520/21 seine reformatorische Konzeption in Zwickau durch entschieden evangelische Gruppenbildung zu verwirklichen und 1521 in Böhmen Anhänger zu finden, bot sich ihm in der Landstadt Allstedt 1523/24 eine bessere Möglichkeit. Dort erzielte er zunächst beachtliche Erfolge. Er führte eine Gottesdienstreform durch, die ganz auf die Mitwirkung der Gemeinde bezogen war und deshalb nur die deutsche Sprache zuließ; er sammelte die Gemeinde (bzw. deren entschiedenen Teil) in einem "Bund" der Bruderliebe, der die konsequente Christusnachfolgepraktizieren sollte. Angesichts der hartnäkkigen Gottlosigkeit der meisten Menschen, gegen die er eine zeichenhafte Gewaltanwendung propagierte, versuchte Müntzer 1524 vergeblich mit seiner sog. Fürstenpredigt, den kursächsischen Herzog Johann, Mitregenten Friedrichs des Weisen, für eine von der Obrigkeit mit Zwangsmaßnahmen durchzuführende Sammlung der Frommen und Ausscheidung der Gottlosen zu gewinnen. Von Luther als Aufrührer attackiert, von der Obrigkeit beargwöhnt, mußte er Allstedt verlassen. In Südwestdeutschland begegnete er den ersten Bauernaufständen (s. 16.1.2), die er als Zeichen des anbrechenden Weltendes deutete. Seit Anfang 1525 wieder in Thüringen tätig, verstand er nun die Bauern als die auserwählten Werkzeuge Gottes, die zur gewaltsamen Änderung der Herrschaftsstrukturen berufen wären. Christi Reich sollte Realität werden nicht nur in den Herzen der einzelnen, sondern auch in der Neuordnung der Gesellschaft, und zwar durch Integration beider Wandlungsvorgänge. So wurde Müntzer der religiöse Führer des Thüringer Bauernaufstands, nicht dessen Organisator. Die totale Niederlage gegen die Fürsten deutete er als Gericht Gottes, weil die Aufständischen nicht primär die Aufrichtung von dessen Reich, sondern den eigenen Vorteil angestrebt hätten. Der objektiv gescheiterte Prophet wurde hingerichtet; in diesem Ende sahen die lutherischen Polemiker das Gericht Gottes über seinen Aufruhr, sein Konzept einer revolutionären, apokalyptisch-enthusiastischen Gemeindereformation. 13.2.1 Nach einem unsteten Wanderleben v .a. in Thüringen, Nordhausen, Halle wurde er im Frühjahr 1523 Pfarrer in Allstedt, einer kursächsischen Exklave in der Grafschaft Mansfeld. Die Ackerbürgerstadt unter Leitung des Schössers/Amtmanns Hans Zeiß war schon weitgehend evangelisch. Für die noch ausstehende Reform des Gottesdienstes (der Messe und aller Kasu-
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alien) verfaßte Müntzer deutsche Liturgien und Lesungen in eigener Übersetzung und fand bei deren Praktizierung großen Zulauf in seinen volkspädagogisch gestalteten Gottesdiensten. (Druck vom Herbst 1523: Deutsch Kirchenamt; Schriften 25-155; Druck der Deutsch Evangelisch Messe im Sommer 1524; ebd. 161-206.) Da auch Untertanen des Grafen Ernst von Mansfeld nach Allstedt zogen und dieser das verbot, attackierte ihn Müntzer, der Knecht Gottes und Verstörerder Ungläubigen, wegen seines Widerstands gegen Gottes Willen. Programmatische Kurzfassungen seiner Theologie publizierte er Anfang 1524 in moderater Form als Flugschriften: Von dem gedichteten Glauben und Protestation oder Erbietung (Schriften 218-224.225240). Dieser Versuch, mit Luther ins Gespräch zu kommen, scheiterte ebenso wie spätere Versuche an dessen totaler Ablehnung von Müntzers Position. Die Schar der Auserwählten in Allstedt bildete einen Bund, um so mit Gottes Hilfe die Wahrheit gegen die Angriffe der Gottlosen zu verteidigen. Eine Symbolhandlung in diesem Kampf war im März 1524 die Zerstörung der dem benachbarten Naundorfer Kloster gehörenden Marienkapelle in Mallerbach: Gewaltanwendung galt Müntzer als legitim. 13.2.2 Diesen Endzeit-Kampf sollte v .a. die rechte christliche Obrigkeit im Dienste Gottes gemäß Röm 13 mit dem Schwert führen. Das empfahl Müntzer am 13.7.1524 Herzog Johann, dem Bruder Friedrichs des Weisen und späteren Kurfürsten, sowie dessen Sohn Johann Friedrich in einer Predigt im Allstedter Schloß über Daniel 2, die Abfolge der Weltreiche (Auslegung des andern Unterschieds Danielis, gleich danach als Druck veröffentlicht; Schriften 242263). Die von ihm geforderte gewaltsame Trennung zwischen Gottlosen und Frommen (ggf. mit Ausrottung) als Grundlage einer radikalen Reformation lehnten die Fürsten allerdings ab. Als Müntzers Bund die Führung in der Stadt übernahm, um eine Theokratie der Auserwählten zu praktizieren, ordnete Herzog Johann dessen Auflösung an. Dabei wirkte Luthers Kritik an dem Satan von Allstedt entscheidend mit, grundsätzlich entfaltet in dessen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist vom Juli 1524 (WA 15, 210-221): Die teuflische Häresie Müntzers mit ihrer Berufung aufunmittelbare Geistoffenbarung sollte nicht gewaltsam unterdrückt, sondern argumentativ überwunden werden (Man lasse die Geister aufeinanderplatzenl); doch dessen Gewaltanwendung in Mallerbach müßte als Aufruhr mit Landesverweisung bestraft werden. Müntzer reagierte darauf zunächst mit seiner Ausgedrückten Entblößung des falschen Glaubens ... (in erweiterter Fassung später gedruckt; Schriften 267-319), einer Darstellung seines mystischen Glaubensverständnisses und apokalyptischen Kirchenbegriffs als Auslegung u.a. des Magnifikats, v.a. Lk 1,51f. Scharfe Polemik brachte dann die Flugschrift Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wirtenberg ... (Schriften 322-343): eine Abrechnung mit Luthers Schriftprinzip/Wortverständnis und dessen Konzept einer obrigkeitlichen Reformation als Begünstigung der tyrannischen Unterdrückung der wahrhaft Frommen. 13.2.3 Müntzers Flucht aus Allstedt am 7./8.8.1524 und die anschließende kurze Tätigkeit in Mühlhausen markierten eine Wende in seinem Denken: die Absage an alle Fürsten als Tyrannen und Ausbeuter des armen Volkes, verbunden mit dem Konzept, daß die wahrhaft Gläubigen (die Armgeistigen) als Gottes auserwähltes Werkzeug selber mit Gewalt die Herrschaft der Gottlosen beseitigen müßten. Müntzer verstand sich selbst wie schon früher als endzeitliehen Propheten in Analogie u.a. zu Elia und Jeremia (Thomas Müntzer, mit dem Hammer; s. Jer 23,29: so die Selbstbezeichnung auf dem Titelblatt der Ausgedruckten Entblößung 1524). Im Herbst-Winter 1524/25 zog er nach Franken und an den Oberrhein, predigte den aufständischen Bauern im Hegau und Klettgau (s. 16.1.2) und gewann die Überzeugung, daß die Bauern nun als göttliches Werkzeug die Reinigung der Welt von den Gottlosen und die Gottesherrschaft auf Erden durchsetzen würden. Er kehrte nach Mühlhausen zurück, wo die sozialen und kirchlichen Spannungen zu innerstädtischen Konflikten - u.a. Bildersturm und Klosterzerstörung - geführt hatten. Ein neuer, unauflöslicher Ewiger Bund sollte Müntzers Reformationskonzept als Kampfgemeinschaft gegen die Gottlosen verwirklichen. 13.2.4 Als Mitte April auch in Thüringen die Bauernaufstände begannen und verschiedene Haufen sich sammelten, fungierte Müntzer als Prediger und Stratege des Mühlhäuser und dann des Frankenhäuser Haufens; er stellte sie unter Gottes Auftrag und unter die Bundesfahne (mit dem Regenbogen als göttlichem Bundeszeichen und mit der Losung Verbum Dei manet in aeternum/Gottes Wort bleibt ewig). Nur wenige mansfeldische Bergknappen schlossen sich an.
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Streit über das militärische Vorgehen schwächte die Stoßkraft der Bauernhaufen, doch zunächst errangen sie Erfolge: Zerstörungen von Klöstern und Schlössern, Auflösung von Grundund Gerichtsherrschaften des Adels, Einschüchterung verschiedener Grafen. Dem konzentrierten Angriff der beiden Fürstenheere unter Phitipp von Hessen und Georg von Sachsen erlagen sie rasch in einem fürchterlichen Gemetzel am 15.5.1525 bei Frankenhausen. Der verhaftete Müntzer (am 27.5.1525 mit dem Schwert hingerichtet) widerrieftrotz Folterung seine Position nicht; er bekannte allerdings, der Eigennutz der Bauern habe den Einsatz für die Rechtfertigung der Christenheit verdrängt, und er verstand auch seine eigene Niederlage als Gottes Fügung (Schriften 473f.544-549). Sein geistiges Erbe führte v .a. der apokalyptische Täufer Hans Hut weiter (s. 15.3.1). Luther deutete die Niederlage der Bauern und das Scheitern des mörderischen und blutgierigen Propheten geschichtstheologisch in dem stark verbreiteten Pamphlet Eyn Schrecklich geschieht und gericht Gotes uber Thomas Müntzer (gedruckt vor dem 27.5.; WA 18, 367-374). Auch andere Reformatoren sahen ihr Werk durch den kategorischen Unterschied zur radikalen Konzeption bestätigt und kritisierten Müntzer in Pamphleten. 13.3 Literatur QUELLEN: THOMAS MÜNTZER: Schriften und Briefe, hg.v. G. Franz, 1968. S. BRÄUER/H. JUNGHANS (Hg.): Der Theologe Thomas Müntzer, 1989. - S. BRÄUER/H.J. GOERTZ: Thomas Müntzer, GKG 5, 1981, 335-352. - A. FRIESEN/H.J. GOERTZ (Hg.): Thomas Müntzer, 1978. - H.J. GOERTZ: Thomas Müntzer, 1989. - B. LOHSE: Thomas Müntzer in neuer Sicht, 1991. - G. MARON: Thomas Müntzer als Theologe des Gerichts, ZKG 83 (1972) 195-225; ND: Friesen/Goertz (s.o.) 339-382. - G. SEEBAß: Müntzer, TRE 23 (1994) 414-436 (Lit.). - DERS.: Reich Gottes und Apokalyptik bei Thomas Müntzer, LuJ 58 (1991) 75-99. - G. VOGLER: Thomas Müntzer, 1989.
14. Spiritualistische Separation Die evangelische Bewegung verdankte ihren raschen Erfolg nicht zuletzt den personellen Verbindungen, welche ihre Häupter (v.a. Luther und Zwingli) zu potentiellen Multiplikatoren an möglichst vielen Orten Deutschlands pflegten. Ihre Differenziertheit zeigte sich auch daran, daß es neben dem Hauptstrom der theologischen und kirchenpolitischen Beeinflussung andere Kommunikationsnetze gab. Zu diesen gehörten einige, z. T. einflußreiche Persönlichkeiten mit spezifischem Profil, die schon früh eigene Reformationskonzepte entwickelten, denen es aber nicht gelang, die Strukturveränderungen in ihrem Sinne zu prägen. Es waren Menschen, die insofern keinen geschichtlichen Erfolg hatten (zumeist auch Verfolgung erleiden mußten). Doch ihre Ideen beeinflußten abseits der offiziellen Entwicklung zahlreiche einzelne, ohne diese zu einer entsprechenden Gruppenbildung zu bringen. Darin unterschieden sie sich von Thomas Müntzer, dem das partiell, aber nur temporär gelang, und von den Täufern, deren Gemeindebildungen ein wesentliches Element der Reformationsgeschichte wurden. Ihre originellsten Köpfe müssen schon deswegen als historisch bedeutsam beachtet werden, weil sie bei Außenseitern eine wirkungsgeschichtliche Relevanz bis ins 17 .Jh. behielten und damit die Vielschichtigkeit des neuzeitlichen Protestantismus vorbereiteten. Man kann sie etwas ungenau mit dem vieldeutigen Begriff "Spiritualismus" zusammenfassen. V.a. in der Ablehnung des lnstitutionalismus, d.h. der unabhängig vom gläubigen Subjekt verbürgten Heilsvermittlung durch das äußere Wort der Verkündigung und durch die Sakramente, bestand ihre Gemeinsamkeit. Anstatt des für den lutherischen Ansatz konstitutiven Personalismus (s. § 14; 1.1) er-
13. Thomas Müntzer I 14. Spiritualistische Separation
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schien hier ein Individualismus, der jegliche Form von Kirche im herkömmlichen Verständnis ausschloß. Im bewußten Unterschied zu Luther propagierten diese Einzelgänger einen eigenen Weg der Erneuerung der Christenheit, der sie ins kirchlich-gesellschaftliche Abseits führte. Auch wenn manche von ihnen zeitweise Kontakt zum Täuferturn hatten, unterschieden sie sich erheblich von diesem. 14.1 Nonkonformistische Gemeindeerneuerung Ein Reformator der ersten Stunde und ein eigenständiger Denker, der einen radikalen Bruch mit dem alten Kirchensystem propagierte, war der ehemalige Wittenberger Theologieprofessor Andreas Karlstadt. Sein diesbezüglicher Versuch war am Widerstand Luthers gescheitert (s. 9.2), der den Schwarmgeist immer wieder attackierte als Vertreter einer verwerflichen Form von Kirchenerneuerung. Spätmittelalterliche Denktraditionen, v.a. die Mystik Johann Taulers (s. § 10; 18.1), machten sich bei Karlstadt seit 1523 stärker bemerkbar und verschärften den kirchenpolitischen Gegensatz zu Luther, weil nun das unterschiedliche Profil seiner Theologie deutlich zutage trat: Die einzelnen Geistbegabten begriff er als die wahre Christenheit, und die Heilsbedeutung von äußerem Wort und Sakrament ersetzte er durch das innerlich-subjektive Wort der Erleuchtung. Er unternahm 1523/24 in dem thüringischen Ort Orlamünde/Saale einen zweiten Versuch, seine Reformvorstellungen - unter Verzicht auf seine Standesprivilegien wie ein Laie sich mit dem Volk solidarisierend - zu verwirklichen: Gemeindegattesdienst mit deutscher Liturgie, Entfernung aller Bilder, Abendmahl als gläubiges Gedächtnis, Ablehnung der Kindertaufe Uedoch keine Wiedertaufe). Die Werbung des mit ihm befreundeten Thomas Müntzer für dessen Bund (s. 13.2) lehnte er ebenso ab wie dessen apokalyptische Gewaltidee. Trotzdem betrachtete ihn Luther als Müntzers Parteigänger und betrieb beim Kurfürsten seine Ausweisung aus Sachsen. Damit schied Karlstadt definitiv aus dem Umfeld der lutherischen Reformation aus; er blieb hinfort einflußreich (v .a. in Südwestdeutschland) durch populäre Schriften zu den theologischen Gegenwartsthemen und war einer der bedeutendsten radikalen Reformatoren. Seit 1531 ordnete er sich in die Züricher Reformation ein und nahm somit Abstand von allen separatistischen Bewegungen. Zeitweise mit ihm verbunden war eine noch unruhigere, eigenwilligere Gestalt, der Laienprediger Melchior Hoffman. Er vertrat 1523-29, meist von Tumulten begleitet, u. a. in Estland und Holstein eine radikale Gemeindereformation mit Ablehnung der lutherischen Sakraments- und Amtslehre. Erst nach 1530 verband er sich aufgrundeiner konzeptionellen Wandlung mit dem apokalyptischen Täuferturn und erzielte dadurch größere historische Wirkung (s. § 12; 7.2). 14.1.1 Die vielfältigen, z.T. disparaten Positionen, die man dem Leitbegriff "Spiritualismus" subsumiert (eine nicht bestehende Einheit suggerierend), sind dadurch charakterisiert, daß der Geistbegriff bei ihrer Abkehr von allen etablierten Formen des Christentums eine tragende Funktion besaß. Jener Begriff meint im allgemeinen Sinne, daß die entscheidende Dimension der Wirklichkeit geistig ist. Philosophie- und theologiegeschichtlich deckt er v .a. neuplatonische, mystische und rationalistische Konzeptionen ab. Zur kg. Orientierung kann er insofern sinnvoll angewandt werden, als er die Position solcher Einzelgänger bezeichnet, die - in ihrer Opposition gegen Katholizismus und Luthertum - die an Sakrament und Wort gebundene
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Gnadenvermittlung bzw. Zuwendung Gottes negierten und die subjektive Frömmigkeit als Heilsweg betonten. Damit entsprachen sie Tendenzen von Mystik: und Humanismus, was ihren -allerdings aufkleine Kreise von Lesern ihrer Bücher beschränkten -Erfolg begründete. Da sie in verschiedenen Strömungen (z.B. Pietismus, Aufklärung) fortwirkten, kann man sie als eine Form des neuzeitlichen Protestantismus verstehen, weil sie von der Subjektivität des religiös engagierten Individuums her gegen die Äußerlichkeit der Kirche protestierten. Luthers Kennzeichnung dieser (und anderer) Denker als "Schwärmer/Schwarmgeister", d.h. als solcher, die gleich Insektenschwärmen vom Boden der Realität abgehoben sind, war nicht unzutreffend, wenngleich zu pauschal. Theologisch unterschieden sie sich von Luther i. w. darin, daß sie Gottes Inkarnation in Jesus Christus nicht zum Zentrum des Denkens machten. Ihre Berufung auf den Heiligen Geist unterschied sich von der nichtspiritualistischen Pneumatologie der Reformatoren, bei denen das Geistwirken stets eine sichtbare Form besaß bzw. an äußere Elemente gebunden war. 14.1.2 Seit Herbst 1524 führte Andreas Karlstadt (s. 9.2.1) ein unstetes Flüchtlingsleben in Süddeutschland, wo er einige Traktate veröffentlichte (v.a. zur Abendmahlslehre) und durch seine Tauflehre z.T. das entstehende Täuferturn beeinflußte. Als Prediger in Rotbenburg geriet er 1525 in den Taubertaler Bauernaufstand, lehnte zwar alle Gewalt ab, wurde aber als Aufrührer verfolgt und floh zu Luther, der ihm - nach Widerruf seiner Lehren und Verzicht auf Predigen und Schreiben -Asyl in der Nähe Wittenbergs verschaffte. Dem armseligen Leben als Bauer/Krämer und der zunehmenden Bedrohung entzog er sich 1529 durch Flucht nach Kiel zu Melchior Hoffman (s. 14.1.4). Nach kurzer reformatorischer Tätigkeit in Oldersum/ Ostfriesland erhielt er 1530 dank Zwinglis Hilfe eine Predigerstelle in Zürich. Wegen seines Rufs als Exeget wurde er 1534 Professor und Pfarrer in Basel, wo er seine humanistischen Interessen pflegen konnte. Sein geistiger Einfluß zeigte sich u.a. an der starken Verbreitung seiner ca.75-80 Schriften, die z.T. noch im 17.Jh. gelesen wurden (Textauswahl für 1523-25: hg.v. E. Hertzsch, 2 Bde., 1956-57). Sein Kirchenverständnis in der Zeit vor 1525/30 war insofern repräsentativ für den evangelischen Spiritualismus, als er die Heilsbedeutung der Sakramente bestritt und die innerliche Vergewisserung der Glaubenden als entscheidend betonte. Damit trat er in Gegensatz zu Luther wie zum römischen Katholizismus: Wahre Kirche ist für ihn die kleine Schar der geistlichen Menschen, die durch ihre mystischen Erfahrungen und durch ihre Erfüllung des göttlichen Gesetzes die Wirksamkeit des Heiligen Geistes bezeugen, welcher ihre natürliche Gottverbundenheit (die illUlgo Dei/das Bild Gottes) im Seelengrund herausbildet und sie so zum Heil führt. Folgerichtig bedürfen diese Erleuchteten für die Gemeinschaft mit Gott keiner äußeren Vermittlung, die - in Sakramenten, Bildern, Priesteramt etc. - als Götzendienst abzulehnen ist. 14.1.3 Die spiritualistisch-kirchenkritischen Ideen in Karlstadts Schriften von 1523-25 wurden z.T. auch von Hoffman, Schwenckfeld und Franck rezipiert, ferner von Theologen, die zeitweise dem Täuferturn angehörten wie Ludwig Rätzer (ca.1500-29) und Hans Denck (ca. 1500-27). Diese beiden kamen einerseits von der Mystik:, andererseits von der humanistischen Ethik: und Anthropologie her zu einer spiritualistischen Position, mit der sie sich gegen die katholischen wie gegen alle evangelischen Formen einer institutionellen Heilsvermittlung wandten. In Straßburg und Augsburg kollidierten sie mit den Vertretern der etablierten Reformation, v .a. Martin Bucer und Urbanus Rhegius. Denck bestritt nicht nur das reformatorische Schriftprinzip, sondern auch die Heilsbedeutung der Bibel durch seine Lehre vom inneren Wort Gottes. Dieses bewirkt als göttlicher Logos und Geist in den Auserwählten die Liebe zu Gott und vermittelt damit die- nicht an Verkündigung und Sakrament gebundene - Rechtfertigung, weil der Mensch auf dem Weg der Liebe die Erlösung erreicht. Dencks Schriften wurden noch im 17 .Jh. gelesen. Rätzer gehörte zu den ersten Kritikern des altkirchlichen Dogmas im evangelischen Bereich mit seiner Verwerfung des trinitarischen Personenbegriffs und der Gottheit Christi. (Vgl. zu den sog. Antitrinitariern § 15; 6.2.1.) 14.1.4 Von der Apokalyptik wie vom mystischen Spiritualismus geprägt, entwickelte sich der aus Schwäbisch Hall stammende Kürschner Melchior Hoffman (ca.1500-43) zu einem radikalen Reformator, der allerdings in der ersten Phase seines Wirkens bis 1529 um Verbindung mit der Wittenberger Reformation bemüht war. Er trat seit 1523 als evangelischer Prediger in der livländischen Stadt Wolmar sowie in Dorpat und Reval auf; er erregte - von Karlstadts Ideen beeinflußt - Unruhen durch scharfen Antiklerik:alismus, Bilderstürmerei und Ankündigung
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des nahen Weitendes. Um seine Position zu sichern, ließ er sich 1525 in Wittenberg durch Luther und Bugenhagen seine evangelische Legitimität bestätigen (u.a. wegen seiner Lehre über Rechtfertigung und unfreien Willen; s. WA 18, 426-430). Unter Berufung auf die unmittelbare Erleuchtung durch den Heiligen Geist kritisierte er aber das lutherische Schriftprinzip der übrigen livländischen Prediger und die verweltlichten Obrigkeiten. Nach der Ausweisung 1526 und nach Zwischenstationen in Stockholm und Lübeck, wo sein apokalyptischer Rigorismus Anstoß erregte, fand er eine neue Wirkungsstätte als Prediger in Kiel, wo er in einer eigenen Druckerei seine Flugschriften veröffentlichte. Der Kampf gegen den Katholizismus fiihrte ihn zur Polemik gegen die lutherische Sakramentslehre; mit seiner spiritualistischen Interpretation der Realpräsenzlehre geriet er in den großen Abendmahlsstreit jener Zeit. Angesichts der Unruhen unter den Predigern in Holstein und Schleswig veranstaltete Herzog Christian 1529 in Flensburg eine Disputation, die - unter dem Einfluß Bugenhagens - zu Hoffmans Verurteilung und Ausweisung fiihrte. Damit war ihm die Möglichkeit genommen, seine Ideen in den reformatorischen Aufbruch eines Territorialstaates einzubringen.
14.2 Individualistisches Geistchristentum Während Karlstadt und Hoffman insofern der Reformation verbunden waren, als sie ein Gemeinschaftsleben in einer von Grund auf erneuerten Kirche anstrebten, gab es innerhalb der evangelischen Bewegung solche Außenseiter, die sich in konsequentem Individualismus von allen institutionellen Gemeinschaftsformen abkehrten. Sie vertraten eine jeweils eigene Konzeption von Christsein außerhalb der Kirche (mit Relativierung oder Umformung der traditionellen gemeinchristlichen Dogmen), wobei sie betonten, daß der Lebenswandel gemäß Jesu Evangelium das Eigentliche an der evangelischen Bewegung sein müßte. Damit nahmen sie einerseits spätmittelalterliche Traditionen einer individualistisch-moralistischen Frömmigkeit auf, andererseits präludierten sie - beeinflußt durch den Humanismus - eine typisch neuzeitliche Position, wonach das spezifisch Christliche in der Ethik liege. Drei profilierte Gestalten repräsentierten das exemplarisch, jeweils mit so reichem Spektrum der Gedankenwelt, daß sie sich den üblichen Etikettierungen entziehen. Der geistreiche Schlesier Kaspar von Schwenckfeld, der in seiner Heimat schon früh erfolgreich eine evangelische Kirchenerneuerung betrieb, wußte sich zunächst Luthers Position verbunden, geriet jedoch seit 1525 in immer stärkeren Gegensatz zu dieser. Dabei spielten dogmatische Differenzen in der Sakraments- und Amtslehre eine Rolle, v.a. aber Schwenckfelds Abweichung von der lutherischen Rechtfertigungslehre: Seine Kritik an dem Fehlen einer moralisch-religiösen Erneuerung im Kirchenvolk bezog sich auf das falsche Evangeliumsverständnis der lutherischen Prediger. Dagegen setzte er seine Lehre, daß der sündige Mensch durch die Geistmitteilung eine reale Gerechtmachung erfahrt und die Neuwerdung in seinem Handeln (als Distanzierung von der Welt) bekunden muß. Begründet war diese Lehre durch Schwenckfelds - von der Mystik geprägte - Auffassung, daß es keine kreatürlich vermittelte Gottesbeziehung durch das äußere Wort und die Sakramente gegen könne. Schwenckfeld wirkte als Seelsorger nach 1529 v .a. in Straßburg, Ulm und anderen Städten Süddeutschlands durch persönliche Kontakte sowie zahlreiche Publikationen. Er fand vereinzelte Anhänger im gebildeten Bürgertum und Adel, die in Distanz zur offiziellen Kirchlichkeit, jedoch nur z. T. in Konventikeln lebten und meist durch Gedankenaustausch miteinander verbunden waren. Aufgrund unterschiedlicher Traditionen
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§ 11 Reformation in Deutschland
i. V. mit humanistischem Einfluß entwickelten sich nach 1530 Formen eines individualistischen Spiritualismus, die nur teilweise von den Impulsen der Reformation herkamen, aber einen eigenen Zweig der evangelischen Bewegung bildeten. Als bedeutendster Vertreter dieser Richtung kann der in Süddeutschland wirksame Literat Sebastian Franck gelten, der eine von aller kirchlichen Tradition und Institution abgekehrte Religion privatistischer Geistigkeit propagierte (mit Erfolg in kleinen Kreisen Gebildeter) und der durch seine Schriften bis zum 17.Jh. einen beachtlichen Einfluß ausübte. Durch seinen philosophischen Pantheismus nahm er einen wirkungsgeschichtlich bedeutenden Platz in der neuzeitlichen Geistesgeschichte ein, ebenso durch seine Geschichtsphilosophie. Analoge Bedeutung erlangte einer der genialsten und eigenartigsten Außenseiter: der Mediziner, Naturphilosoph und Theologe Paracelsus, der allerdings mit seinen im 16.Jh. gedruckten Schriften nur einen kleinen Teil seines gelehrt-spekulativen Wissens publizieren konnte. Seine Ideen wirkten v .a. in der mündlichen Tradition separatistischer Geistes- und Frömmigkeitszirkel bis ins 17 ./18.Jh. weiter. Er vertrat eine eigene, neue Form des Christentums jenseits der etablierten Konfessionen. 14.2.1 Unter dem Einfluß von Luthers Sermonen entwickelte der humanistisch gebildete Laie Kaspar von Schwenckfeld (1489-1561) seit 1519 aufgrundintensiven Bibelstudiums eine Art Erweckungstheologie mit mystischen Elementen. 1522-24 förderte er die Verbreitung der evangelischen Bewegung in Niederschlesien (s. § 13; 12.2.1). Er bekundete exemplarisch die Komplexität der frühen Reformation durch Profilierung einer eigenständigen Position bei grundsätzlicher Zustimmung zu Luthers Lehren. Seit 1525 vertrat er eine eigene - von Luther abgelehnte, z.T. von Karlstadt und Zwingli beeintlußte - Sakramentslehre, die seinen Gegensatz zur Wittenberger Reformation demonstrierte; sie basierte auf der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen. Seine Abwertung der Wassertaufe durch Betonung der Wiedergeburt und der Geisttaufe sowie seine Kritik der lutherischen Lehre durch die Auffassung, daß das Abendmahl im wesentlichen eine geistliche Speise für die Seele sei und nur von der wahren Kirche, der kleinen Schar der auserwählten Erneuerten, gefeiert werden dürfte, verbanden sich mit seinem individualistischen Kirchenverständnis: Kirche ist die in der Welt verstreute, äußerlich nicht organisierte Anzahl der mit Gott durch Christusmystik verbundenen Individuen, die keiner institutionellen Vermittlung bedürfen. Daher bemühte sich Schwenckfeld nach der Flucht aus Schlesien seit 1529 in Süddeutschland nicht um eine Kirchenreformation, sondern um die geistliche Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen. Mit seiner monophysitischen Christologie (Absorption der Menschheit Christi durch die Gottheit nach der Himmelfahrt durch Vergöttlichung des Fleisches) erregte er seit 1537 Streitigkeiten, die 1540 zu seiner Verurteilung durch einen Theologenkonvent in Schmalkaiden führten, so daß er für das Luthertum als Ketzer galt. Seine zahlreichen Schriften (Texte: Corpus Schwenckfeldianorum, 19 Bde., 1907-61; vgl. KTGQ 3, 153t) wurden noch im 17.Jh. gelesen und wirkten fort u.a. bei Valentin Weigel, Jakob Böhme, Johann Arndt und Philipp Jakob Spener. Seine Anhängerschaft, eine winzige Minorität, lebte v .a. in Niederschlesien (in dörflichen Gemeinschaften) und Süddeutschland; sie erlitt im 17./18 .Jh. schwere Verfolgungen. Eine Gruppe wanderte 1734 nach Pennsylvanien aus, wo die Schwenckfeldianer noch heute eine eigene Denomination bilden. 14.2.2 Auch bei dem stärker humanistisch geprägten Sebastian Franck (ca.1499-1542) begegnete seit ca.1525 eine spiritualistische Institutionenkritik, deren Wurzeln im Spätmittelalter (z.T. in der Mystik) lagen, die aber erst im Zusammenhang mit dem durch die Reformation ausgelösten Epochenbruch ihre Gestalt gewann. Von seinem radikal-ethischen Ansatz her verwarf der seit 1518/20 durch Luthers Kirchenkritik beeindruckte Franck auch das Luthertum, weil es keine moralische Besserung gebracht habe. Bis 1524 war er Priester in der Diözese Augsburg, 1525-29 evangelischer Prediger im Nürnberger Landgebiet, seitdem freier Schriftsteller und Buchdrucker u.a. in Esslingen, Ulm, Basel. Verstärkt wurde die Ablehnung aller
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empirischen Kirchentümer durch seinen Pantheismus, seinen spiritualistisch-rationalistischen Gottesbegriff (Gott als an den Menschen gebundener Geist) und durch seine pessimistische Geschichtsphilosophie (Zunahme der Kräfte des Bösen in dem Kampf zwischen Geist und Buchstabe): In der durch den Antichrist verwüsteten Christenheit gibt es die wahre Kirche nicht mehr, sondern nur noch Sekten und Ketzereien, welche geistlosen Dogmen und (so die Lutheraner) einempapierenen Papst, der Bibel als angeblicher Offenbarungsquelle, anhängen. Demgegenüber vertrat Franck eine Religion des Geistes ohne Bindung an Bibel und Bekenntnisse, die sich an der Einsicht in den Verlauf der Geschichte und an der individuellen Erkenntnisfähigkeit orientierte. Damit und mit dem Postulat der Toleranz war er ein typischer Repräsentant der beginnenden Neuzeit. (Wichtigste Schriften: Chronica Zeitbuch und Geschichtsbibel, 1531/36; Paradoxa 1534/ND 1966. - Sämtl. Werke Bd.1ff, hg.v. P. Knauer, 1992ff.) 14.2.3 Ähnliches gilt für eine der großen Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, den Arzt Theophrast von Hohenheim, latinisiert genannt Paracelsus (1493/4-1541 ), einen der produktivsten und originellsten Schriftsteller des 16.Jhs. Er verfaßte zahlreiche theologische Schriften, darunter ausführliche Bibelkommentare, die aber kaum gedruckt wurden, so daß sein religiöser Einfluß auf kleine Kreise beschränkt blieb. (Während se.i.nes konfliktreichen Wanderlebens wirkte er u.a. in Salzburg, Basel, Nürnberg, St. Gallen.) Offentlieh schloß er sich zwar nie der - mit Sympathie für Luther begleiteten - evangelischen Bewegung an und blieb insofern formal ein Glied der katholischen Kirche; aber mit seiner Konzeption gehörte er zu den Verfechtern einer radikalen Reformation. In der Tradition von Humanismus und mittelalterlichem Spiritualismus vertrat er seit 1524 einen schroffen Antiklerikalismus (mit Ablehnung der katholischen Heilsanstalt als Mauerkirche, der Messe, der Heiligenverehrung etc.) und eine gegen die Scholastik gerichtete Bibeltheologie. Gegenjede Institutionalisierung der Religiosität plädierte er für ein Geistchristentum der Erkenntnis und Erfahrung in der Bindung an Christus als Grund des Lebens, welcher zu Glaube und Liebe befähigt. Seine Gedanken beeinflußten über die Rezeption u.a. bei Philipp Nicolai und Johann Arndt, Johann Valentin Andreä und Jakob Böhme - im 17 .Jh. Pietismus, Theosophie und Naturphilosophie. (Texte: Theophrast von Hohenheim, gen.Paracelsus: Sämtliche Werke, 2.Abt., bisher 8 Bde., 1923-73.) 14.3 Literatur C. BAUMAN: The Spiritual Legacy ofHans Denck, 1991. - U. BUBENHEIMER: Karlstadt, TRE 17 (1988) 649-657 (Lit.). - K. DEPPERMANN: Melchior Hoffman, 1979. - DERS.: Melchior Hoffman, GKG 5, 1981, 323-334. - U. GAUSE: Paracelsus (1493-1541). Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie, 1993. - J.F.G. GOETERS: Ludwig Hätzer, 1957. - K. GOLDAMMER: Paracelsus in neuen Horizonten, 1986. - H.-P. HASSE: Karlstadt und Tauler, 1993. - F. KRIECHBAUM: Grundzüge der Theologie Karlstadts, 1967. - G. MARON: Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld, 1961. H. RUDOLPH: Paracelsus, TRE 25 (1995) 699-705 (Lit.). - A. SEGUENNY: Franck, TRE 11 (1983) 307312. - H. WEIGELT: Sebastian Franckund die lutherische Reformation, 1972. - DERS.: Spiritualistische Tradition im Protestantismus, 1973. - S. WOLLGAST: Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. Sebastian Franckund seine Wirkungen ... , 1972.
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15. Gemeindebildung der Heiligen: Das Täuferturn In der Frühgeschichte der Reformation - als Entwicklung mit noch nicht fixierten Strukturen - stehen die Täufer gleichsam am Ende; sie bieten ein weiteres Beispiel für die Komplexität der evangelischen Bewegung. Ihre Blütezeit fällt erst in die Jahre 1525-30. Hat man früher die Entstehung des Täuferturns aus Müntzers und Karlstadts Tätigkeit abgeleitet (nicht völlig unzutreffend, weil es personelle Kontakte und gedankliche Abhängigkeiten gegeben hat), so gilt heute als weitgehender Forschungskonsens folgendes: Nicht der einzige Ursprung, wohl aber der Anfang einer organisierten Täuferbewegung lag 1525 in Zürich und dessen Umkreis, d.h. im Einzugsbereich der zwinglianischen Reformation. Diese Bewegung ergab sich nicht allein aus einer Radikalisierung von Zwinglis Ideen, sondern aus verschiedenen anderen Einflüssen (s. 15.2). Weitgehend unabhängig davon entstand wenig später unter Müntzers Einfluß in Mittel- und Süddeutschland ein anders geartetes Täuferturn mit apokalyptischer Prägung, welches numerisch geringer war als das schweizerische (s. 15.3). In personeller und sachlicher Verbindung mit den Schweizern bildeten sich nach 1525 in Straßburg eigene Täufergruppen, die z. T. eine radikale spiritualistisch-apokalyptische Position vertraten (s. dazu § 12; 7.4). Diesen historischen Grundtypen mit je eigenständiger Entwicklung entsprachen weitere Täufergemeinden in Österreich, Mähren, Mittelund Nordwestdeutschland sowie in den Niederlanden. Insgesamt handelte es sich um eine eigene, pluriforme Gestalt von Reformation mit etlichen nichtreformatorischen Elementen. 15.1 Merkmale der Täuferbewegung Die morphologische Bestimmung und damit die Unterscheidung von anderen Teilen der radikalen Reformation ergibt sich hauptsächlich aus der Verwerfung der Kindertaufe und der Praxis der Glaubenstaufe als einer Kollision mit allen anderen Formen von Kirche (bzw. in der späteren Zeit mit der erstmaligen Taufe Erwachsener). Ansonsten sind wesentliche Übereinstimmungen mit anderen Vertretern eines kirchlichen Nonkonformismus zu verzeichnen. Man kann im Täuferturn drei inhaltliche Elemente als Schwerpunkte der Gruppenbildung unterscheiden, die allerdings nicht immer klar voneinander abgegrenzt waren: biblizistischfreikirchliche, spiritualistisch-individualistische, apokalyptisch-sozialkritische. (Da diese Elemente auch vermischt auftraten, belegt das die Komplexität der Bewegung.) Die Glaubenstaufe als Zeichen der Entscheidung für ein wahrhaft biblisches Christsein war gleichsam ein Fanal der Erneuerung, das etliche Kirchenkritiker aufgriffen. In der Taufpraxis begegnete nicht direkt das zentrale Anliegen der Bewegung, sondern es war ein allen gemeinsames äußeres Merkmal, auch wenn es unterschiedlich theologisch begründet wurde. Weil die normalerweise praktizierte Kindertaufe die Integration nicht nur in die Kirche, sondern auch in die Gesellschaft vollzog, galt die täuferische Praxis den Altgläubigen wie den Reformatoren als illegitime Wiedertaufe. Zentrales Motiv für den Bruch mit der
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Tradition war bei den Täufern ein radikal-reformatorischer Ansatz: das Streben nach konsequenter Heiligung des Individuums und fundamentaler Erneuerung von Kirche und Gesellschaft gemäß Gottes Wort, dem Evangelium bzw. göttlichem Gesetz. Dabei war der verbreitete Antiklerikalismus eine besonders starke Triebkraft. Die Täuferbewegung setzte die von Luther und Zwingli angestoßene Reformation voraus, auch wenn sie einerseits durch disparate theologiegeschichtliche Einflüsse sowie sozialgeschichtliche Impulse mitbestimmt war und sich andererseits wesenhaft von der Wittenberger und Züricher Reformation unterschied. Neben der Taufpraxis als dem auffälligsten Element entwickelten sich nicht überall gleich - andere Elemente, welche die Konfrontation mit der Kirche und Gesellschaft zu einem Wesensmerkmal werden ließen: die Absonderung in kleinen Gemeinden, die grundsätzliche Distanz zur Obrigkeit, die Ablehnung des Staats- und Kriegsdienstes sowie die Verwerfung des Eides. Letztere signalisierte angesichtsder grundlegenden Bedeutung der eidlichen Treuebindung für den Zusammenhalt des Gemeinwesens im 16.Jh., daß die Täufer sich außerhalb der allgemeinen Ordnung stellten. Gerade das begründete ihre scharfe Verfolgung als Aufrührer durch altgläubige und evangelische Obrigkeiten. Sie bildeten nur eine Minorität, keine größere Volksbewegung, doch in der Optik der Herrschenden waren sie subversive und daher gefährliche Gruppen. Der Unterschied zur diffusen Bewegung der Spiritualisten (s. 14.2), mit der sie sich ideell wie personell teilweise berührten, lag in ihrer Gemeinschaftsbildung: Die von ihnen erstrebte Heiligung - der Lebensstil einer unbedingten Christusnachfolge - sollte als Abkehr von der Welt, als Wandel im Geist oder als Orientierung am nahen Weltende in den Gemeinden praktiziert werden, deren Glieder ihren entschiedenen Glauben durch die Taufe als Bekehrungszeichen dokumentierten.
15.2 Entstehung von Täufergemeinden in und um Zürich Die Anfänge waren bezeichnend für die Täuferbewegung: einige Mitstreiter Zwinglis, die sich in Hauskreisen sammelten, vertraten einen militanten Antiklerikalismus und forderten einen radikalen Umbau der Kirchenstrukturen v.a. bezüglich Zehntabgaben, Messen, Bilder. Sie distanzierten sich seit Herbst 1523 von der obrigkeitlich gelenkten Reformation, weil diese für sie den biblischen Maximen zu wenig entsprach. Hinzu kam der Gegensatz der Landgemeinden bzw. der ausgebeuteten Bauern gegen die Herrschaft des Züricher Rates und der alten Klerikerkirche. Aus humanistischen, spiritualistischen und biblizistischen Elementen formte sich im Zusammenhang jener Konflikte die Konzeption der Züricher Radikalen: konsequente Umgestaltung der "Volkskirche" zu einem entschiedenen Christentum bzw. Separation als "Freikirche". Verschiedene Gruppen fanden sich zusammen im Protest gegen die bisherigen Kirchenstrukturen. Sie gerieten durch ihre Forderung nach totaler Beseitigung von Messe und Bildern (bzw. durch die Zehntenverweigerung in den Landgemeinden) in Opposition zum ZüricherRat und zu Zwingli, wie sich in den Unruhen des Sommers 1523 und bei der zweiten Disputation im Herbst zeigte (s. 11.1-2). Führer dieser Kreise waren die
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humanistisch gebildeten Züricher Bürger Konrad Grebel und Felix Mantz sowie die Landpfarrer Sirnon Stumpf, Wilhelm Reublin und Michael Sattler. Mit ihnen kooperierte der Waldshuter Pfarrer Balthasar Hubmaier, der theologische Kopf der Bewegung, welcher in mehreren Schriften die täuferische Position entfaltete. Angesichts ihrer Erfolglosigkeit, den allgemeinen Reformationskurs mitbestimmen zu können, demonstrierten die "Radikalen" ihr neues Ideal von Gemeindebildung erstmals im Januar 1525 durch die Bekehrungstaufe. Daraufhin entstanden erste Täufergemeinden in Dörfern des Züricher Landgebiets, eine weitere in der Stadt Waidshut (dort mit Zustimmung der Obrigkeit unter Leitung Hubmaiers); alles waren keine separierten Kleingruppen, sondern im täuferischen Sinne missionierte Volks/drehen. Dochangesichts des Drucks der äußeren Verhältnisse überwog die freikirchliche Konzeption schon bald; es kam zur Bildung r-usgegrenzter Gemeinden mit wenigen Mitgliedern. Vielerorts förderten die religiös-sozialen Motive der Bewegung die Verbindung mit den Bauernaufständen (s. 16.2). Die schweizerisch-südwestdeutschen Kreise orientierten sich hinfort an der strikten Scheidung zwischen der Welt und der Gemeinde, die in gläubiger Absonderung und heiliger Bußzucht absolut gewaltfrei leben wollte. So fixierten es die sog. Schleitheimer Artikel 1527, die gleichsam das Programm für diesen Teil der Täuferbewegung boten. Verfolgte Schweizer Täufer fanden seit 1525 Asyl im toleranten Straßburg. 15.2.1 Wortführer der auf gemeinsame Bibellektüre konzentrierten Konventikel in Zürich waren der Ratsherrensohn Konrad Grebel (ca.1498-1526), ein Humanist, sowie der Klerikersohn und ehemals eifrige Zwinglianhänger Felix Mantz (Manz, ca.1500-27). Zu ihnen gesellten sich Geistliche aus dem Züricher Oberland wie Ludwig Rätzer (s. 14.1.3) und Jörg Blaurock (Georg Cajakob, ca.1492-1529). Anders als für sie war in den Landgemeinden die Umwandlung der Zehntabgaben (statt der Bedrückung durch Stifte und Klöster) zunächst entscheidend, verbunden mit der Forderung nach freier Pfarrerwahl und ersten Verweigerungen der Kindertaufe als Protest gegen den katholischen Sakramentalismus. Als Opponenten gegen den Rat traten hier die Prediger Sirnon Stumpf, Wilhelm Reublin/Röubli und Johannes Brötli hervor. Die Protestgruppen besaßen kein einheitliches, klares Programm außer der radikalen Erneuerungsforderung, daß neben dem alten, toten Kirchenwesen die entschiedenen Anhänger des Evangeliums ihr Leben und ihren Gottesdienst allein nach biblischen Normen gestalten sollten. Seit 1524 rückte die Tauffrage in den Mittelpunkt der Diskussion mit Zwingli, der die KindertaufPraxis als Eingliederung in das Volk Gottes, die Gemeinde - analog zur atl. Beschneidung als Bundeszeichen - verteidigte. Der Grebelkreis schrieb einen programmatischen Sendbrief an Müntzer (Text: KIProt 4,12-27; z.T. KTGQ 3, 109-111) und trat in Kontakt zu Karlstadt. Er erstrebte eine durch die Glaubenstaufe markierte Gemeindebildung der kleinen Schar. Da eine vom Rat anberaumte öffentliche Disputation am 15.1.1525 keine Verständigung brachte, führten Grebel und Blaurock am 21. Januar privat die Glaubenstaufe in ihrem Züricher Hauskreis ein. Kurz danach bildete sich mit entsprechender Praxis in Zollikon unter Johannes Brötli die erste erweckte Täufergemeinde. Der Rat ließ daraufhin Mantz, Blaurock und weitere Wiedertäufer verhaften, später auch Grebel. Während dieser entkommen konnte, wurde zwecks Abschreckung Felix Mantz 1527 durch Ertränken hingerichtet - der erste von zahlreichen Märtyrern der Täuferbewegung. 15.2.2 In Verbindung mit den Zürichern stand der gelehrte Balthasar Hubmaier (ca.1480/51528), Ingotstädter Professor und Schüler Johann Ecks, zunächst Anhänger, dann Gegner Zwinglis. Durch ihn und durch die aus Zürich Vertriebenen gelangte das Täuferturn nach Süddeutschland. Als Pfarrer von Waidshut/Schwarzwald führte er 1524 dort die Reformation ein, was der Stadt harte Bedrängnis durch ihren Landesherrn, Erzherzog Ferdinand von Österreich, einbrachte, die sich infolge der Bauernaufstände verschärfte (s. 16.1.2). Kontakte mit Grebel
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und Reublin, Müntzer und Karlstadt bestärkten ihn, 1525 das täuferische Gemeindeideal auf die ganze Stadt zu übertragen. Er selbst sowie ein Großteil von Bürgerschaft und Rat empfingen die Glaubenstaufe und hielten das Abendmahl in der schlichten Form der Biblizisten. Im Unterschied zu den Züricher Täufern lehnte Hubmaierden Pazifismus ab und kooperierte mit der Obrigkeit. Gegen Zwingli verteidigte er die täuferische Position; er verfaßte 1525 die systematisch bedeutendste Tauflehre dieser Bewegung: Von dem Christenlichen Tauf! der gläubigen (Schriften, hg.v. G. Westin/T. Bergsten, QGT 9, 1962, 118-163). Wegen der Eroberung Waidshuts durch habsburgische Truppen flüchtete er 1526 nach Nikolsburg in der - offiziell zu Böhmen gehörigen, weithin freien - Markgrafschaft Mähren. Der dortige Fürst schloß sich seiner radikalen Reformation an, so daß erneut eine täuferische "Volkskirche" entstand, Zufluchtsort für viele verfolgte Glaubensangehörige. Da aber Ferdinand als neuer König von Böhmen 1527 auch dort die Täufer verfolgte, wurde Hubmaier verhaftet und 1528 in Wien wegen Aufruhr und Ketzerei verbrannt. Seit dem Untergang der Territorialkirchen in Waidshut und Nikolsburg gab es Täuferturn hinfort nur noch in abgesonderten, unterdrückten Personalgemeinden (mit Ausnahme Münsters 1533/34; s. § 12; 7.3.2-4). 15.2.3 Spiritualistische und Iibertinistische Strömungen gaben Anlaß, daß sich schweizerische und südwestdeutsche Täufer in Schleitheim (Schwarzwald, nordwestl. von Schafthausen) auf sieben Artikel verständigten, die hinfort zum Grundbekenntnis vieler Täufer wurden: die Brüderliche Vereynigung [d.h. Vereinbarung] etzlicher Kinder Gottes vom 27.2.1527 (Text: Kl Prot 4, 60-71; KTGQ 3, 140-143). Verfasser war der 1525 im Züricher Unterland, 1526 in Straßburg, dann in der Grafschaft Hohenberg/Rottenburg tätige ehemalige Benediktinerprior Michael Sattler. Die Artikel fixierten als Prinzipien von Lehre und Leben: Erwachsenentaufe, Gemeindezucht/Bann, Brotbrechen/Abendmahl als Gedächtnis, Hirtenamt der Prediger (durch Gemeindewahl übertragen) und v.a. die Absonderung von der Welt (Gegensatz von Gläubigen-Ungläubigen, Licht-Finsternis). Diese führte zu soziologisch bedeutsamen, theologisch mit Jesu Weisungen begründeten Folgerungen, nämlich zum Verzicht auf obrigkeitliche Schwertgewalt für die Gläubigen und zu der Eidesverweigerung. Der letzte Punkt markierte den entscheidenden Konflikt mit Staat und Gesellschaft, da alle Herrschaftsverhältnisse auf personaler Bindung basierten, die u.a. durch die Treueide der Untertanen konstituiert wurden. Als konsequente Eidesverweigerer stellten sich die Täufer außerhalb jeglicher Gemeinschaft, v .a. deswegen wurden sie gewaltsam verfolgt. Sattler erlitt im Mai 1527 den Märtyrertod durch Hinrichtung in Rottenburg. Eine blühende Täufergemeinde bildete sich 1527/28 in Esslingen unter dem in ganz Oberdeutschland intensiv missionierenden Schwaben Wilhelm Reublin (ca.1484ca.1559; vgl. 15.2.1); trotz Verfolgungen hielt sie sich lange Zeit. Auch in Reutlingen, Heilbronn, Schwäbisch Gmünd und Ulm entstanden Täufergemeinden des schweizerischen Typs.
15.3 Spiritualistisch-apokalyptische Täufergruppen Eine andersgeartete Täuferbewegung formte sich 1525/26 nach den Bauernaufständen im Anschluß an Karlstadts und Müntzers Ideen in Mitteldeutschland (Thüringen, Hessen) und besonders kräftig in Franken und Ostschwaben, Bayern und Österreich: eine Verbindung von mystischem Spiritualismus und Apokalyptik mit täuferischer Gemeindebildung. Die Anhänger kamen hauptsächlich aus den sozialen Unterschichten der Städte und Dörfer. Ihr geistiger Führer war der Müntzerschüler Hans Hut, ein charismatischer Prediger, der als zentrale Lehre verkündigte, daß die wahrhaft Gläubigen nur durch Leiden in der Nachfolge Christi den Weg zu Gott finden könnten. Die Täufer sollten die auserwählte Schar der gereinigten Heiligen bilden, die sich in leidender Christusnachfolge am nahen Weltende orientierten und die Taufe als apokalyptische Versiegelung für das Christusreich empfingen. Diese Gruppen - mit Zentrum in Augsburg - sammelten sich um ein eigenes Programm: die Aussendung von Missionaren, die angesichts des für 1528 errechneten Weltendes (des Gerichtes über die Gottlosen)
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planmäßig die Menschen in den süddeutschen Territorien bekehren sollten. Die Bewegung geriet bei den Obrigkeiten in den Verdacht, Aufruhr zu betreiben, und so erlitt sie in Süddeutschland und Österreich scharfe Verfolgungen. Auf Betreiben des Erzherzogs Ferdinand, Stellvertreters Karls V., beschlossen Fürsten und Städte für die Abwehr eine gemeinsame Rechtsgrundlage: Der Speyerer Reichstag 1529 dekretierte, daß das Täuferturn als Ketzerei sowie als Aufruhr strafbar sei und systematisch ausgerottet werden müsse. Da auch die evangelischen Obrigkeiten diese Linie vertraten, wurden seitdem im gesamten Reich die Täufer verfolgt; fast alle Führungsgestalten der Frühzeit verloren bis 1530 ihr Leben. 15.3.1 Die süddeutschen und Österreichischen Täufergruppen waren z.T. durch radikale Einzelgänger wie Hans Denck und Ludwig Rätzer beeinflußt. Doch die maßgebliche Prägung vermittelte ihnen der Buchhändler und Wanderprediger Hans Hut (ca.1490-1527), der 1525 zu Müntzers Gefolgschaft gehörte. Aufgrund des - nach seiner Deutung am Eigennutz der Aufständischen - gescheiterten Bauernkrieges folgerte er, daß Gott selber bald die Vernichtung aller Gottlosen, v.a. der geistlichen und weltlichen Herren, herbeiführen werde. Deshalb propagierte er die Sammlung der Frommen (der 144.000 von Apk 7,4, die er mit den Täufern identifizierte) durch die Taufe als VersiegeJung fiir das Gottesgericht; anband des Vordringens der Türken berechnete er das Ende auf 1528. Seit 1526 missionierte er in Oberfranken, wobei er keine feste Gemeindebildung intendierte, sondern die Rettung einzelner, die im Endgericht gewaltsam die Feinde Christi bekämpfen sollten. Im August 1527 trafen sich in Augsburg mit der dortigen Gemeinde zahlreiche Täufer aus Franken, Schwaben, Bayern und Österreich (u.a. Denck, Hätzer, Pilgram Marpeck). Diese sog. Augsburger Märtyrersynode akzeptierte Huts Endzeitberechnung sowie seine Abweichungen vom Schleitheimer Bekenntnis und beschloß die Aussendung von Aposteln in jene Länder. Der Augsburger Rat verhaftete daraufhin viele Täufer; Hut starb bei einem Fluchtversuch am 6.12.1527. Auch die Mitglieder des Schwäbischen Bundes, voran Österreich, intensivierten die Verfolgung. Als theologischer Kritiker profilierte sich der Augsburger Lutheraner Urbanus Rhegius (Rieger, 1489-1541) mit der Streitschrift Wider den neuen Tauforden ... 1527. 15.3.2 Insbesondere die altgläubigen Obrigkeiten bekämpften die Täufer als Aufrührer systematisch mit Hinrichtungen. Kursachsen, Hessen und evangelische Städte praktizierten dagegen eine mildere Bestrafung. Das Reichsregiment erließ 1528 ein Mandat, wonach die Täufer gemäß Ketzerrecht auszurotten wären. Der Speyerer Reichstag von 1529 bemühte sich um ein einheitliches Verfahren und beschloß, daß gegen Wiedertäufer generell mit der Todesstrafe vorzugehen sei, daß aber reuige Wiedertäufer nach ihrem öffentlichen Widerruf begnadigt werden sollten (Text: Goertz, Täufer 206f; vgl. KTGQ 3, 158). Nicht überall verfuhr man so, doch diese harte Rechtspraxis trug dazu bei, daß das Täuferturn allgemein im Reich geächtet war und sich nach 1530 nur noch vereinzelt in Randgebieten halten konnte. Bis 1530 gab es sehr viele Hinrichtungen. Unter den Theologen plädierten nur wenige gegen die Todesstrafe, und diese mit der Begründung, daß die Täufer nicht als Aufrührer, sondern als Ketzer behandelt werden müßten (so z.B. Johannes Brenz in Gutachten 1528 und 1530). 15.4 Literatur QUELLEN: Der linke Flügel der Reformation, hg.v. H. FAST, KlProt 4, 1962. -Quellen zur Geschichte der Täufer, 16 Bde., 1930-88. -Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, 4 Bde., 1952-74. M. BAUMGARTNER (Hg.): Die Täufer und Zwingli, 1993. F. BLANKE: Brüder in Christo. Die Geschichte der ältesten Täufergemeinde (Zollikon 1525), 1955. - H. FAST: Bemerkungen zur Taufanschauung der Täufer, ARG 57 (1966) 131-151. - H.-J. GOERTZ: Die Täufer, 1980; 2.A. 1988. - DERS. (Hg.): Radikale Reformatoren, 1978. - J.F.G. GOETERS: Ludwig Hätzer, 1957. - H.J. HILLERBRAND: Die politische Ethik des oberdeutschen Täufertums, 1962. - F.M. LlTTELL: Das Selbstverständnis der Täufer, 1966. - G. SEEBAß: Hut, TRE 15 (1986) 741-746. - C. WINDHORST: Balthasar Hubmaier, GKG 5, 1981, 217-231. - DERS.: Täuferisches Taufverständnis. Balthasar Hubmaiers Lehre ... , 1976. - J.H. YODER: Täuferturn und Reformation im Gespräch, 1968. - G. ZSCHÄBITZ: Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem großen Bauernkrieg, 1958.
15. Das Täuferturn I 16. Der "Bauernkrieg"
Abb. 31: Ausbreitung der Bauernaufstände ~ Aufstände 1524 ~ Aufstände bis Mitte März 1525 r::z:Lj Aufstände bis Ende April 1525 CJ Aufstände nach April 1525
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16. Reformation und Revolution: Der "Bauernkrieg" Die evangelische Bewegung war Bestandteil eines allgemeinen gesellschaftlichen und staatlichen Wandlungsprozesses. Das zeigte sich besonders deutlich an den Aufständen der Landbevölkerung, die man gemeinhin unter dem etwas problematischen Begriff Bauernkrieg zusammenfaßt Dieser kennzeichnet eine epochale, wenngleich sehr kurze Phase der deutschen Geschichte zwischen Herbst 1524 und Sommer 1525, die einen Schnittpunkt zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit markiert. Es war eine soziale Revolution, welche zwar scheiterte, aber deutliche Spuren im allgemeinen Bewußtsein hinterließ, insbesondere bei den Führungsschichten Furcht vor dem Aufruhr des Gemeinen Mannes als handlungsleitende Motivation befestigte. Insofern bekam sie Bedeutung auch für die Reformationsgeschichte. In der Forschung ist die Beziehung zwischen Bauernkrieg und Reformation unterschiedlich - als marginale, partielle Berührung oder als essentielle Verbindung - gewürdigt worden.
16.1 Bauernaufstände und Sieg der Fürsten Seit dem 15.Jh. gab es neben den mancherlei städtischen Unruhen auch verschiedengestaltigen Azqruhr unter der Landbevölkerung, der durch soziale Benachteiligung und ökonomische Verschlechterung verursacht war. Bereits mit den vorreformatorischen Aufstandsbewegungen in einzelnen Regionen Oberdeutschlands verbanden sich z. T. religiöse Aspekte wie die Berufung auf die göttliche Gerechtigkeit. Doch durch die evangelische Bewegung wurden diese zu einer wesentlichen Komponente fast aller Teile des sog. Bauernkrieges. Es handelte sich nicht um einen organisierten Krieg seitens der Bauern, sondern um einen sozialen Flächenbrand weiten Ausmaßes, um eine Anhäufung von Protestaktionen, die nicht von Anfang an und überall von Gewaltanwendung begleitet wurden. Beteiligt waren mancherorts außer der Landbevölkerung auch Angehörige der städtischen Unterschichten, zumal in den kleinen Ackerbürgerstädten, wo der soziologische Unterschied zu großen Dörfern gering war. Nach einzelnen Unruhen 1524 fand die Bewegung im März-Juni 1525 ihren Höhepunkt und ihr rasches Ende (in einigen Regionen Österreichs bis 1526). Erst ihre gewaltsame Niederschlagung durch die Fürsten war ein systematischer Krieg. Nur aus deren Perspektive bildeten die Aufstände eine Einheit als Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Sonst waren sie regional differenziert in einzeln agierende "Haufen" von unterschiedlicher Stärke und nur z.T. ideell miteinander verknüpft: mit Schwerpunkten am Oberrhein, im Schwarzwald, in Schwaben, Franken, Tirol und Thüringen. In Bayern, Nordwestund Norddeutschland gab es keine Aufstände. Da die unkoordiniert vorgehenden, schlecht ausgerüsteten Haufen der Aufständischen den fürstlichen Heeren strategisch und militärtechnisch unterlegen waren, siegten diese innerhalb kurzer Zeit: in Thüringen mit den Truppen Philipps von Hessen und Georgs von Sachsen im Mai 1525, im Süden v.a. mit den Truppen des Schwäbischen Bundes im Mai/ Juni. Zahllose Bauern verloren Leben und Güter, auch bei den anschließenden sy-
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Sternatischen Prozessen. Die Aufstände blieben zwar ohne jeden Erfolg, aber eine totale Katastrophe brachten sie für das Bauerntum - entgegen älterer Forschungsmeinung - nicht. Vielmehr erfuhr in der Folgezeit die Landbevölkerung z.T. durch Reformen eine Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation, weil die Obrigkeiten einer befürchteten neuen Erhebung des Gemeinen Mannes entgegenwirken wollten. Ein Ende der Reformation als Volksbewegung (wie früher vielfach behauptet) bedeutete der sog. Bauernkrieg keineswegs. Denn in den Städten setzte sich die reformatorische Bewegung ungebrochen fort unter zunehmender Beteiligung der Unterschichten, und eine resignative oder feindliche Abkehr der bäuerlichen Bevölkerung von der auch in den Landgemeinden rasch voranschreitenden Reformation gab es kaum. Allerdings steuerten hinfort überall die Obrigkeiten den Veränderungsprozeß. 16.1.1 Eine monokausale Erklärung des sog. Bauernkriegs ist unmöglich. Die gelegentlichen, regional begrenzten, seit 1502 sich vermehrenden Bauernaufstände waren Ausdruck eines strukturellen sozialen Konflikts, der sich v .a. aus der staatlichen Modernisierung in den kleinen und mittleren Grundherrschaften ergab und i.w. rechtliche und ökonomische Ursachen hatte. (Näheres dazu s. 4.2.2.) Sie waren Teil einer allgemeinen Unruhe, die im 14./15.Jh. verschiedene europäische Regionen in Stadt und Land erfaßte. (V gl. zu England und Böhmen § 8; 13.1.3; 13.2.1, wo religiöse Aspekte hinzukamen.) Die Aufstandsbewegung, die 1525 mit der Erfassung weiter Teile Oberdeutschlands neue Dimensionen erreichte, erhielt durch die partiell artikulierte Reformprogrammatik und durch die Verbindung mit der evangelischen Bewegung grundsätzliche historische Bedeutung. In der Historiographie hat dieser Bauernkrieg eine unterschiedliche Beurteilung erfahren. Marxistische Forscher verstanden ihn (seit Friedrich Engels' Darstellung 1850) als Teil einer frühbürgerlichen Revolution i.S. eines wirtschaftlich verursachten Klassenkampfes gegen die Feudalherrschaft. Andere sahen ihn dagegen v .a. als politische Rebellion gegen den Ausbau der Adels- und Fürstenmacht und den Abbau bäuerlicher Rechte, z. T. auch als Teil einer umfassenden Revolution des gemeinen Mannes, d.h. der Unterschichten in Land und Stadt. Manche Forscher betonten das religiöse Element stark und würdigten ihn als Teil der allgemeinen Reformation i.S. einer Glaubensrevolte bzw. als Abwehr der beginnenden Gegenreformation. Die gleichzeitigen Aufstände in Städten Westdeutschlands (von Frankfurt/Main über Köln bis Münster und Osnabrück) waren weder untereinander noch mit den Bauernaufständen verknüpft, trotzdem schon für die Zeitgenossen ein Signal der allgemeinen Unruhe. Sie basierten auf sozialer Unzufriedenheit der Unterschichten und aufpolitischen Mitwirkungswünschen der Handwerkerzünfte. Anders stand es dagegen mit den süddeutschen Kleinstädten, die z.T. eng mit der Bauernbewegung verbunden waren (nicht aber die Reichsstädte, die - mit Ausnahme Rothenburgs und Heilbronns - entsprechende Tendenzen ihres Proletariats abwehren konnten). Entsprechendes galt in Thüringen und Tirol für die Bergknappen, die gegen die Zustände im Bergbau und Hüttenwesen revoltierten. 16.1.2 Die Anfänge lagen im Mai/Juni 1524 bei lokalen Erhebungen im Südschwarzwald, wo die Bauern um St. Blasien und um Stühlingen gegen ungerechte Abgaben an das Kloster bzw. an den Grafen protestierten. Es folgten im Herbst 1524 Aufstände u.a. im Hegau, Klettgau, Markgräfler Land mit Ausweitung im April 1525. Eine religiöse Note erhielten sie nur durch die Verbindung mit der Stadt Waldshut, die gegen die Österreichische Landesherrschaft die Reformation durchsetzte. Balthasar Hubmaier (s. 15.2.2) gab den bäuerlichen Forderungen eine theologische Fundierung, vielleicht auch ein radikales Revolutionsprogramm (Text: Quellen 232t). Dadurch daß Herzog Ulrich von Württemberg mit Hilfe der Bauern die Rückeroberung seines Landes betrieb, rief er den Schwäbischen Bund auf den Plan, die effektivste politischmilitärische Organisation in Oberdeutschland (seit 1488/96 Kooperation von Habsburg und Bayern mit zahlreichen kleineren Fürsten und den Reichsstädten). Indem der Bund ein schlagkräftiges Heer unter Georg Truchseß von Waldburg, dem Bauemjörg (Sieger über den Armen Konrad 1514 und Herzog Ulrich 1519), aufstellte, schuf er die Voraussetzung für den Sieg; seiner Reiterei und Artillerie hatten die Bauern nichts entgegenzusetzen.
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16.1.3 In Oberschwaben begann der Aufstand ebenfalls mit einem lokalen Konflikt wegen der Unterdrückung bäuerlicher Rechte durch den Fürstabt von Kempten. Im Februar 1525 bildete sich im Allgäu eine Christliche Vereinigung, die sich in ihrer Bundesordnung auf das in der Bibel fixierte göttliche Recht berief. Sie verbündete sich mit den Bauern des östlichen Bodenseegebiets, dem Seehaufen, und des Gebiets südl. und östl. von Ulm, dem Haltringer Haufen und dem Leipheimer Haufen. In den zahlreichen Beschwerdeartikeln spielte u.a. die Forderung nach evangelischer Predigt und freier Pfarrerwahl eine Rolle. Geistiges Zentrum wurde die bisher in der evangelischen Bewegung führende Reichsstadt Memmingen, deren Reformatoren mit den Bauern sympathisierten. Hier entstanden die 12 Artikel (s. 16.2.2), ein maßvolles Programm, dem sich hernach die Haufen in den nördlichen Gebieten z.T. anschlossen. Man erstrebte eine gütliche Verständigung durch Schiedsgerichte. 16.1.4 Im März/April kam es zu einer kräftigen Ausdehnung der Aufstandsbewegung (mit ca. 300.000 Bauern) nördlich der Donau im schwäbisch-fränkischen Gebiet zwischen Neckar und Main, wo der Odenwälder Haufen und der Taubertalhaufen die stärksten Kräfte bildeten. Angesichts der militärischen Stärke des Seehaufens vereinbarte Georg Truchseß mit diesem für den Schwäbischen Bund eine gütliche Einigung im Weingartener Vertrag (Text: AQDGNZ 2, 216-220). Einige der Reformation nahestehende Ritter schlossen sich aus Überzeugung wie z.B. Florian Geyer oder aus Opportunismus wie z.B. Götz von Berlichingen an. Unabhängig davon agierten die Bauern im Ries, im Norden des Bistums Würzburg und im Bamberger Stiftsgebiet, in Thüringen, in der Pfalz und im Elsaß, in Tirol, Salzburg und Innerösterreich. Nun entstand die Vision einer allgemeinen Neuordnung der politischen Verhältnisse, konkretisiert in unterschiedlichen Programmen: z.B. in dem Plan eines Heilbronner Bauernparlaments, den der politisch klügste Führer, der Kanzler des Odenwälder Haufens Wendel Hipler, betrieb, oder in dem von dem Amtmann Friedrich Weigandt verfaßten Reichsreformentwurf, der die Macht der geistlichen Fürsten durch Enteignung brechen sollte (Text: Flugschriften 7379; Quellen 370-381). Gleichzeitig eskalierte der Konflikt durch systematische Plünderungen und Zerstörungen von Klöstern und Schlössern im schwäbisch-fränkischen Raum. Die Ohnmacht der isolierten Fürsten bekundete sich z.B. im Miltenberger Vertrag vom 7.5., mit dem für das Erzstift Mainz die Bauernforderungen erfüllt wurden. Doch die anwachsende Streitmacht des Schwäbischen Bundes vernichtete seit Mai 1525 in wenigen Schlachten die einzelnen Haufen. Fürstliche Heere siegten im Schwarzwald und Elsaß. (Zu Thüringens. 13.2.4.) 16.1.5 Die Bauernaufstände in den östlichen Alpenländern verliefen später (1525/26). Dem Erzbischof von Salzburg Matthäus Lang, der die Reformation in seinem Stiftsgebiet schon früh gewaltsam unterdrückte, half 1526 der Schwäbische Bund bei der Niederschlagung des Aufstands. In der Grafschaft Tirol und im Bistum Brixen besaßen die Bauern mit dem Kanzleischreiber Michael Gaismair (ca.1485-1532) einen politisch-strategischen Führer, der theologisch durch Zwingli beeinflußt - Unterstützung von Zürich erhielt. Doch Erzherzog Ferdinand gewann 1525 durch geschickte Verhandlungen einen Teil der Bauern- und Bergknappen, die anderen besiegten seine Truppen. Gaismair entwarf 1526 in seiner Landesordnung für Tirol den Aufbau einer christlichen Gesellschaft mit Gleichberechtigung aller Stände, Ersetzung des Landesherrn durch ein Ständeregiment, Aufhebung der Privilegien und Enteignung von Adel und Klerus, Umwandlung der Kirchengüter in Hospitäler und Schulen, Sozialisierung des Bergwerkswesen (Text: Flugschriften 139-143; Quellen 285-290). Diese Utopie besaß keine Realisierungschancen, machte aber die Zugehörigkeit Gaismairs zur radikalen Reformation deutlich.
16.2 Religiöse Elemente der Aufstandsbewegung Der Zusammenhang mit der von Luther, Zwingli und anderen ausgehenden evangelischen Bewegung (von den altgläubigen Zeitgenossen polemisch betont) war charakteristisch für die Aufstände 1524-25. Er bekundete sich nicht bloß äußerlich in der geistigen Führungsrolle zahlreicher Prediger, sondern auch programmatisch in der Berufung auf das mit dem Evangelium identifizierte göttliche Recht sowie in der Verbindung von bäuerlichem Gemeinschaftsbewußtsein und reformatorischem Gemeindeprinzip. In erheblichem Maße waren die Aufstände durch
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einen Antiklerikalismus motiviert, der in der reformatorischen Kirchenkritik eine theologische Begründung fand. Sie richteten sich nicht nur gegen die Grundherrschaft des weltlichen Adels, sondern auch - z. T. sogar stärker - gegen die Grundherrschaft der Bistümer, Stifte, Klöster etc. und gegen die Privilegien des hohen Klerus. Die in der Spätphase des Aufstands geübte Gewaltanwendung fand demgemäß in der Plünderung und Zerstörung von Klöstern - neben derjenigen von Burgen und Schlössern - signifikanten Ausdruck. Nimmt man diesen Aspekt und die religiöse Motivation als ein Wesensmerkmal der Aufstände neben den sozialen und politischen Ursachen, dann ist es angemessen, den sog. Bauernkrieg als Teil der radikalen Reformation zu verstehen (wenngleich er mehr war als eine kirchliche Reformation). Er gehörte in den Umkreis der evangelischen Bewegung (s. 12.1). Die evangelische Predigt erfaßte bis 1524 auch weite Teile der Landbevölkerung in Mittel- und Oberdeutschland und gab ihr ein neues Selbstbewußtsein gegenüber der kirchlichen Herrschaft und der bisherigen Rechtsungleichheit, indem sie auf das Priestertum aller Gläubigen und die Gleichheit aller Christen vor Gott hinwies. Sie lieferte kritische Argumente gegen die Ausplünderungsmechanismen des Klerus, speziell gegen den sog. kleinen Zehnt (Abgaben von der bäuerlichen Produktion), den sie als unbiblisch erwies, und gegen die Existenz der Klöster bzw. des Mönchtums generell. Sie verstärkte die - den städtischen Reformbewegungen entsprechende - Forderung nach freier Pfarrerwahl durch die Dorfgemeinde. Vor allem aber lieferte sie die grundsätzliche Parole von der evangelischen Freiheit, die mit konkreten Freiheitsforderungen verbunden wurde, welche schon seit längerem eine Rolle spielten (z.B. Befreiung von Leibeigenschaft, Frondiensten und ungerechten Abgaben; freie Nutzung von Wäldern und Gewässern). So nahmen die Bauern in ihrem Kampf für die Wiederherstellung des mit Gottes Willen identifizierten alten Rechts auch die reformatorische Forderung nach Durchsetzung des Wortes Gottes auf; demgemäß beriefen sie sich auf die Bibel als Grundlage ihrer Programme. Jedoch war die skizzierte inhaltliche Verbindung zwischen den Bauernprotesten und der evangelischen Bewegung nicht in allen Aufstandsgebieten gleichermaßen vorhanden. In manchen Gegenden standen lokalspezifisch begrenzte Forderungen ohne religiöse Komponente im Vordergrund. Die Verbindung mit theologischen Aspekten trat exemplarisch in den sog. Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauern vom März 1525 hervor, die eine weite Verbreitung bei anderen Bauerngruppen fanden, welche sich demgemäß z. T. als "christliche Vereinigungen" verstanden. Der um Stellungnahme gebetene Lother lehnte die Artikel ab, weil sie das Evangelium und die christliche Freiheit falsch verstünden, d.h. die sozialen Forderungen illegitim als Glaubensinhalte darstellten. Er betrachtete die Aufstände als Verletzung der göttlichen Ordnung, wonach Christenmenschen nicht - unter Mißachtung der für die Rechtswahrung zuständigen Obrigkeit - ihre eigenen Richter sein dürften, sondern Gott das Gericht überlassen müßten. Von entscheidender Bedeutung für den Fortgang der Reformation war, daß die Mehrheit der evangelischen Theologen in den betroffenen Gebieten die Aufstände schon im kritischen, für einen Erfolg durchaus offenen
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Anfangsstadium ablehnten und sich - ebenso wie die evangelischen Stadtgemeinden - nicht aus Opportunismus mit den Bauern verbündeten, sondern grundsätzlich loyal zu ihrer jeweiligen, oft hart bedrängten Obrigkeit standen. Die Erfahrungen mit dem Thüringer Aufstand und dessen apokalyptisch-theologischer Deutung durch Thomas Müntzer (s. 13.2) führten Luther zu ungerechter, verzerrter Urteilsbildung über die gesamte Bewegung. Publizistische Bedeutung und verhängnisvolle historische Wirkung bekam seine grobschlächtige Flugschrift vom Mai 1525 gegen die gewalttätigen Bauern, welche die Obrigkeiten zum Eingreifen aufforderte. Kritiker des Fürstenknechtes Luther haben dieses Pamphlet mit seinen z.T. fürchterlichen Aussagen stets als Beleg zitiert. Die Bauern waren enttäuscht, wandten sich aber keineswegs von Luther und der Reformation ab. 16.2.1 Die differenzierte Wirklichkeit der Bauernaufstände verwehrt es, sie in eine generelle Beziehung zur Reformation zu setzen. Doch in einigen Teilen gab es eine wesentliche Verbindung, nicht nur in der spektakulären Begleitung der Thüringer Aufstandsbewegung durch die radikale Theologie Thomas Müntzers (s. 13.2.3). Grundsätzlich schufen die evangelische Rechtfertigungslehre mit ihrem Freiheitsverständnis und die reformatorische Kirchenkritik bei vielen Bauern (zumal ihren gebildeten Führern) eine gewisse Disposition für einen Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse der Gesellschaft sowie der in diese integrierten Kirche. Das zeigte sich v.a. daran, daß die traditionelle Berufung auf das "alte Recht" (bezogen auf genossenschaftliche Rechtsformen der Dörfer) weithin überlagert wurde durch den Rekurs auf das "göttliche Recht". Dies war ein vieldeutiger Begriff, der auf Wyclif und die Hussiten zurückging (s. § 8; 13.1.1; 13.3.1) und schon in der Bundschuhbewegung 1493-1517 eine Rolle spielte (s. 4.2.2). Indem man dieses Recht als Konkretion der göttlichen Gerechtigkeit und als in der Bibel fixierte Anordnung verstand, näherte man sich scheinbar dem, was das Schriftprinzip und die Evangeliumsverkündigung der Reformatoren meinte - in einer sozialen und politischen Umdeutung unter Rekurs auf die göttliche Schöpfungsordnung. Man konnte das biblische Gesetzbuch den adligen und zumal den kirchlichen Grundherren als Norm entgegenhalten. Das radikal-reformatorische Element dieser Konzeption trat auch darin zutage, daß man gemäß dem göttlichen Recht eine neue Gemeinschaftsordnung nach dem Grundsatz christlicher Gleichheit/Brüderlichkeit errichten wollte. 16.2.2 Unter den zahllosen Beschwerdeartikeln mit nur z. T. programmatischem Charakter ragten die sog. Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben, zwischen 24.2. und 1.3.1525 abgefaßt, durch systematische Klarheit und weite Verbreitung hervor: Dye GrundtUchen und rechten haupt Artickel aller Baurschafft unnd Hyndersassen der Gaistlichen und Weltlichen oberkayten, von wölchen sy sich beschwert vermainen (Text: Flugschriften 26-31; Quellen 174179; vgl. KTGQ 3, 127-129). Sie brachten eine Zusammenfassung von mehr als 300 bäuerlichen Beschwerden, dazu eine biblische Begründung der Forderungen, verfaßt von dem Memminger Kürschner und Laienprediger Sebastian Lotzer (ca.1490-nach 1525), einem frühen Vorkämpfer der Reformation, Feldschreiber des Haltringer Bauernhaufens. Die Artikel gehörten mit der sog. Memminger Bundesordnung zusammen, welche die Durchsetzung des göttlichen Rechts zum Ziel der christlichen Vereinigung als eines neuen, gemäß dem Evangelium gestalteten Gemeinwesens erklärte (von Lotzer verfaßt? Text: Flugschriften 32-34; Quellen 195-197). Der evangelische Prediger Christoph Schappeier (1472-1551), Führer der Memminger Reformation, von Zwingli beeinflußter Humanist und scharfer Kirchenkritiker, verfaßte vielleicht die Einleitung zu den Artikeln. Diese waren kein revolutionäres Programm zum Umsturz der bestehenden Ordnung, sondern eine biblizistische - von Gedanken Luthers wie Zwinglis beeinflußte -Rechtfertigung des Protestes gegen bestimmte Verzerrungen der Ordnung mitsamt praktikablen Reformvorschlägen. An der Spitze stand nicht zufällig die Forderung nach freier Pfarrerwahl durch die Gemeinde und nach reiner Predigt des Evangeliums; darin konvergierten Bauernbewegung und Reformation. Die Aussage, daß Leibeigenschaft mit der Erlösung durch Christus unvereinbar wäre, war ein für Lotzer typischer Beitrag. Insgesamt argumentierte dieser vom Grundsatz her, daß auch die weltlichen Herren die Ordnungsprobleme nach der Norm christlicher Nächstenliebe im brüderlichen Einvernehmen mit den Bauern
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lösen sollten: z.B. die allgemeine Freiheit von Jagd, Fischerei und Holzeinschlag, die Befreiung von ungerechten Lasten wie dem kleinen Zehnt und der Todfallabgabe, die Einschränkung der Frondienste. Lotzers Artikel fanden bei den Bauern nicht nur breite Zustimmung, sondern auch Ablehnung wegen ihrer Mäßigung. Sie sind ein kg. bedeutsames Dokument, auch wenn sie keine dauerhafte Wirkung erzielten. 16.2.3 Mehrere Theologen wurden von der schwäbischen Bauernschaft um Gutachten dazu gebeten; Luther fand mit seiner grundsätzlichen Kritik größte Beachtung. Erst Mitte April 1525 erhielt er, der von der Bauernbewegung wenig wußte, die Zwölf Artikel und die Bundesordnung. Seine Auseinandersetzung damit fiel in die Zeit, als er auf einer längeren Reise in der Grafschaft Mansfeld dem - z.T. von Müntzer geprägten -gewalttätigen Aufstand der Thüringer begegnete. Er wollte zunächst beiden Seiten ins Gewissen reden mit einer generellen theologischen Klärung: der Ermanunge zumfride auf! die zwelffartikel der Bawrschafftynn Schwaben (gedruckt Anfang Mai; WA 18, 291-334; BoA 3, 47-68). Er ermahnte einerseits die Fürsten und Herren zur Berücksichtigung der z. T. billigen Forderungen und verurteilte andererseits die Berufung der Bauern auf das göttliche Recht sowie ihr Selbstverständnis als christliche Vereinigung: Sie hätten das Evangelium falsch verstanden, dürften als Christen keine Gewalt üben und sich nicht auf Gott berufen für ihre weltlichen Interessen. Den Artikel über die Abschaffung der Leibeigenschaft kritisierte er besonders: Das heißt, christliche Freiheit ganz fleischlich machen. Im übrigen erhielt sein seit 1521 stets vertretenes Axiom, daß Christen nicht ihre eigenen Richter sein dürften und daß die Obrigkeiten für Recht sorgen müßten, besondere Bedeutung auf dem Hintergrund des Reichsrechts, der 1495 beschlossenen Ablösung des Fehdewesens durch eine juristische Landfriedensordnung. Die weite Verbreitung von Luthers Flugschrift in Deutschland (mit gut 20 Ausgaben 1525) bezeugte ihren Einfluß. 16.2.4 Das hauptsächliche Interesse Luthers bestand darin, zu vermeiden, daß die evangelische Bewegung mit den Bauernaufständen identifiziert würde. Das lag auf der Linie seiner grundsätzlichen Abwehr von Aufruhr jeder Art (vgl. 9.2.5). Aufgrund seiner Begegnung mit den Aufständischen ergänzte er jene Grundsatzäußerung gleich nach der Rückkehr nach Wittenberg durch ein kurzes Pamphlet Wydder die sturmenden bawren, das zunächst mitsamt der in 16.2.3 genannten Schrift im Mai 1525 erschien, dann aber separat in vielen Städten nachgedruckt wurde: Auch Widder die reubischen und mördischen rotten der andem bawren (WA 18, 357-361; BoA 3, 69-74): Der Aufruhr unter Berufung auf das Evangelium sei Gotteslästerung; deswegen müßten die -weithin (wie z.B. Friedrich der Weise) zögernden -Obrigkeiten ihr von Gott aufgetragenes Schwertamt zur Wiederherstellung der Ordnung gebrauchen und die Aufrührer als Teufelswerkzeug wie tolle Hunde erschlagen: Steche, schlage, würge hier, wer kann! Freilich brauchten die militärisch überlegenen Fürstenheere solche Aufforderung bei ihrem blutigen Geschäft nicht; mit der Schlacht bei Frankenhausen am 15. Mai war der Aufstand in Thüringen beendet. Luther schrieb über Müntzers schreckliches Ende als Gericht Gottes (WA 18, 362-374), publizierte aber auch den Weingartener Vertrag zwischen Schwäbischem Bund und Bauern (s. 16.1.4) als Beispiel einer friedlichen Lösung (WA 18, 336-343). Angesichts der verbreiteten, z.T. harten Kritik an seinem Pamphlet verfaßte er im Juli 1525 einen rechtfertigenden, jetzt die Obrigkeiten zur Milde aufrufenden Sendbrief(WA 18, 384401; BoA 3, 75-93). Allerdings blieb in der Folgezeit das Verhältnis zwischen ihm und den Bauern distanziert. Für eine allgemeine Befriedung engagierte er sich nicht. 16.2.5 Fast alle Reformatoren nahmen Stellung zum Bauemkrieg. Ulrich Zwingli war besonders betroffen, weil auch die Bauern, die sich im Züricher Landgebiet erhoben, sich auf seine Kritik am Zehnten und auf sein Bibelverständnis (Gottes Wort als praktische Anweisung) beriefen. Das hielt er für eine falsche Anwendung, weil ihr Aufruhr nicht der göttlichen Ordnung entsprach. Wie Luther stand er auf der Seite der Obrigkeit, doch er kritisierte schärfer die selbstsüchtigen Ausbeuter unter den Herren als wahre Urheber des Aufstands (Wer Ursache gebe zu Aufruhr; Werke Bd.3, 355-469). Er plädierte in Gutachten gegenüber dem Züricher Rat für Abschaffung des kleinen Zehnt und der Leibeigenschaft (Werke Bd.4, 338-360), und zwar mit Erfolg. Aufgeschlossenheit gegenüber den bäuerlichen Nöten und differenzierte Urteilsbildung kennzeichneten die Voten von Johannes Brenz, der ebenfalls unmittelbar von den Aufständen berührt war. Doch in einer Flugschrift vom März 1525 warnte er die Bauern vor Aufruhr gegen die Obrigkeit und betonte die Unterscheidung zwischen Evangelium und weltli-
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chen Forderungen (Text: Flugschriften 285-292; vgl. KTGQ 3, 130-133). In seinem Gutachten über die Zwölf Artikel betonte er die soziale Verantwortung der Obrigkeit; nach dem Sieg der Fürsten mahnte er diese in mehreren Schriften zur Milderung (Text: Flugschriften 333-337. Zum Ganzen s. Brenz, Frühschriften Bd.1, 1970, 122-206). 16.2.6 Die a1tgläubigen Kritiker, Politiker wie Theologen, verstanden die Bauernaufstände als Konsequenz der Reformation und attackierten Luther sowie die evangelischen Prediger als deren geistige Urheber. (Vgl. z.B. Jakob Fugger: Das machen nun die neuen Prediger, die da predigen, man soll auf Menschengepott nit achten ... ; Quellen 592f.) Ihr Abwehrkampf erhielt neue Nahrung und wurde vielerorts zu einer systematischen Unterdrückung der evangelischen Bewegung. Erasmus wertete den Pfaffen- und Klosterkrieg der Bauern als logische Fortsetzung des von Luther angestifteten Aufruhrs. Wie er dachten etliche konservative Humanisten, z.B. der berühmte Freiburger Jurist Ulrich Zasius. Kontroverstheologen wie Hieronymus Emser (s. 8.1.5) und v .a. Johannes Cochläus (s. 10.2.1) veröffentlichten Pamphlete, die Luthers Haltung attackierten (Texte: Flugschriften 356-412). Für Erzherzog Ferdinand war der ganze Aufstand schlicht die luthrische Sache. 16.3 Literatur QUELLEN: Flugschriften der Bauernkriegszeit, hg.v. A. Laube u.a., 1975; 2.A. 1978. - Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg.v. G. Pranz, AQDGNZ 2, 1963. P. ALTHAUS: Luthers Haltung im Bauernkrieg, 1952; 4.A. 1971. - B. BUCKLE: Die Revolution von 1525, 1975; 2.A. 1981. - DERS. (Hg.): Der deutsche Bauernkrieg von 1525, 1985. - DERS.: Der Bauernkrieg, 1998. - M. BRECHT: Der theologische Hintergrund der Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben von 1525, ZKG 85 (1974) 174-208. - DERS.: Martin Luther Bd.2, 1986, 172-193. - H. BusZELLO/P. BLICKLE/R. ENDRES (Hg.): Der deutsche Bauernkrieg, 1984; 3.A. 1995. - G. PRANZ: Der deutsche Bauernkrieg, 1933, 12.A. 1984. - G. MARON: Bauernkrieg, TRE 5 (1980) 319-338. -1. MAURER: Prediger im Bauernkrieg, 1979. - B. MOELLER (Hg.): Bauernkriegs-Studien, 1975. - A. WAAS: Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit 1300-1525, 1964; 2.A. 1976. - R. WOHLFEIL (Hg.): Der Bauernkrieg 1524-26. Bauernkrieg und Reformation, 1975.
§ 12 POLITISCHE REFORMATION UND KONFESSIONELLE SPALTUNG DEUTSCHLANDS
Bedeutung des Themas Seit der durch Luther initiierten Bewegung war strittig, wie die Kirchenreform mit der Einheit der Kirche vereinbart werden könnte. Einerseits wollten die Anhänger des alten Glaubens, die Altgläubigen, zusammen mit der katholischen Wahrheit die Gestalt der Papstkirche prinzipiell beibehalten. Andererseits tendierte die evangelische Bewegung zu Strukturveränderungen, die - auf der Basis eines grundsätzlichen Wandels in Glaube und Lehre -eine neue Kirchenform produzierten. Diese Entwicklung nahm seit 1526/30 feste Konturen an, auch wenn das reichsrechtliche Reformationsverbot gültig blieb. Ihr determinierendes Element war die Rolle der Territorialfürsten: Sie organisierten die Neuordnung im Zusammenhang mit dem Ausbau ihres Staatswesens, und das bestimmte den weiteren Charakter der Reformation seit als politischen Vorgang. Der religiöse Konflikt verband sich mit dem reichspolitischen Grundproblem: der föderalistischen Differenzierung, dem Dualismus von Kaiserherrschaft und Territorialgewalten. Denn eine Kirchenspaltung (mit unterschiedlicher Sozialgestalt, Frömmigkeit und Kultur) mußte das Reichsgefüge tangieren, wenn die beanspruchte Christlichkeit des Heiligen Römischen Reiches faktisch nur in unterschiedlichen Konfessionen existierte. Darum versuchte jede der beiden Religionsparteien, unter Wahrung der Reichseinheit das gesamte Kirchenwesen nach ihrer Konzeption zu gestalten. Die evangelischen Stände waren zunächst eine existenzbedrohte Minorität von Protestanten, doch bis ca.1545 schien ihnen fast die Majorität in Deutschland zuzufallen. Dies verdankten sie u.a. ihrem Bündnis, welches neben der Territorialisierung das unterscheidend neue Element der Reformationsgeschichte seit 1526 war. Ihre reichsrechtliche Anerkennung erhielten sie im Augsburger Religionsfrieden 1555, nachdem Karl V. mit dem Versuch einer Ausrottung der Ketzerei (der seinem Konzept eines katholischen Universalkaisertums entsprach) gescheitert war. Damit kam die Reformation zu einem vorläufigen Abschluß. Deutschland wurde ein konfessionell gespaltenes Staatswesen mit einem katholischen Kaiser als Oberhaupt. Konfessionell i. w. einheitlich blieben dagegen die einzelnen Territorien, was deren Eigenstaatlichkeit förderte. Dieser Zustand war jedoch wegen der damit verbundenen politischen Gegensätze instabil, wie sich nach 1555 v.a. an den Auseinandersetzungen um die geistlichen Territorial- und Grundherrschaften zeigte. Jede Seite strebte danach, das Patt durch Positionsgewinne zu verändern. Das verband sich in den einzelnen Staaten mit einer Konfessionalisierung, d.h. mit der spezifisch evangelischen - bzw. nach ca.1560 der lutherischen und reformierten- oder katholischen Prägung von
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§ 12 Politische Reformation und konfessionelle Spaltung
Gesellschaft und Kultur. Der Konflikt zwischen kaiserlicher Zentralmacht und fürstlichen Partikulargewalten, in dem es u.a. um die "Gegenreformation" ging, führte 1618-48 zum großen Krieg. Dieser konnte jedoch ebensowenig wie der Religionskrieg von 1546/7 die Konfliktsituation beheben. Mit dem Westfälischen Frieden 1648 begann eine neue Periode (s. § 17; 3-3.3). Die konfessionelle Spaltung bestimmte hinfort das Schicksal des geschwächten Reiches. In der Forschung wird die Periode von 1555 bis 1648 wegen der Dominanz der Konfessionskonflikte als "Konfessionelles Zeitalter" bezeichnet. Die reichspolitische Verfestigung der Gegensätze 1548-55 markiert eine Zäsur, doch sie entwickelt sich bereits seit 1526, so daß man die seitherige Reformationsgeschichte als Vorbereitung des Konfessionellen Zeitalters verstehen kann.
Hauptsächliche Probleme - Verhältnis von politischen Interessen und religiösen Motiven bei der Durchführung der Reformation - Verhältnis von evangelischer Bewegung in der Bevölkerung (sog. Gemeindereformation) und obrigkeitlicher Reglementierung (sog. Fürstenreformation) - Verfassungsrechtlicher Status der evangelischen Kirchen im Reich - Reichseinheit, Kircheneinheit und kirchliche Erneuerung; nationale Entwicklung und allgemeines Konzil - Kaiserliche Zentralgewalt und landesfürstliche Autonomie-Tendenzen - Unterschiedliche Interessen von Kaiser und Papst; Deutschland im Zusammenhang der europäischen Machtpolitik - Katholische Reform und Gegenreformation; katholische Konfessionalisierung - Lutherische und reformierte Konfessionalisierung - Säkularisierung geistlicher Güter/Fürstentümer und Wandel des Reichsgefüges HILFSMITTEL/QUELLEN: Vgl. § 11.0. - DRTA.JR Bd.7-10, 1935-92. - A. Kahler (Hg.): Quellen zur Geschichte Karls V., AQDGNZ 15, 1990. LITERATUR: (Vgl. auch§ 11!) E. BlZER: Reformationsgeschichte 1532-1555, in: F. Lau/E. Bizer: Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555, KiG III, Lfg. K, 2.A. 1969, 67-170. A. KOHNLE/E. WOLGAST: Reichstage der Reformationszeit, TRE 28 (1997) 457-470 (Lit.!). - H. KLUETING: Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648, 1989. - H. LUTZ: Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung 1490-1648, PGD 4, 1983. - H. RABE: Deutsche Geschichte 1500-1600, 1991. - M. RITTER: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), 3 Bde., 1889-1908; ND 1962. - H. SCHILLING: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, 1988. - A. SCHINDLING/W. ZIEGLER (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 7 Bde., 1989-97. - M. VENARD/H. SMOLINSKY (Hg.): Die Zeit der Konfessionen (15301620/30), GCh 8, 1992. - E.W. ZEEDEN: Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden (1648), HEG 3, 1971, 445-580.
Wichtige Ereignisse, Personen, Sachverhalte I.
Politische Reformation durch evangelische Obrigkeiten 1526-1532 1526 1. Speyrer Reichstag: Lockerung des Reformationsverbots? Anfänge der kirchlichen Neuordnung in Hessen, Kursachsen, Nürnberg, Ansbach-Kulmbach, Straßburg, Braunschweig-Lüneburg 1529 2. Speyrer Reichstag: Bekräftigung des Wormser Edikts; dagegen Protestation der evangelische Fürsten und Städte. Bemühung um evangelisches Bündnis. Marburger Religionsgespräch 1530 Augsburger Reichstag. Confessio Augustana. Scheitern der Religionsverständigung Gegen kaiserliche Gewaltandrohung: Schmalkaldischer Bund seit 1531. Hauptleute: Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen 1532 Nürnberger "Anstand": Gewaltverzicht, vorläufige Duldung der Reformation
II.
Ausbreitung der Reformation. Evangelische Landeskirchen 1532-1545 Politisch-militärische Dominanz des Schmalkaldischen Bundes. Außenpolitischer Einfluß: Türken, Frankreich 1534ff Reformation u.a. in Württemberg, Pommern, Mecklenburg, Schleswig-Holstein 1534/5 Täuferreich in Münster: Katastrophe der radikalen Reformation 1536 Annäherung im Abendmahlsstreit: Wittenberger Konkordie (Luther-Bucer) Papst Paul III.: Einberufung eines allgemeinen Konzils. Ablehnung durch Schmalkaldischen Bund 1537 1539 Wegen Frankreich-Krieg und Türkengefahr: Frankfurter "Anstand" 1539/40ff Reformation im Herzogtum Sachsen und in Kurbrandenburg 1540/1 Religionsgespräche: Hagenau, Worms, Regensburg. Keine Einigung 1543-45 Reformationsversuche in geistlichen Fürstentümern: Osnabrück, Köln
III.
Scheitern der kaiserlichen Gegenreformation 1546-1555 154617 Schmalkaldischer Krieg: Unterwerfung der evangelische Gebiete in Süddeutschland, Sieg über Kursachsen und Hessen (Wittenberger Kapitulation) 1548 Augsburger Interim: Rekatholisierung der evangelische Gebiete; Konzession von Laienkelch und Priesterehe. Widerstand v.a. der evangelischen Theologen Moritz von Sachsen als Führer der Fürstenopposition: Krieg gegen Karl V. 1552 Passauer Vertrag: Waffenstillstand, Regelungen für evangelischen Besitzstand 1555 Augsburger Religionsfrieden: Toleranz für Anhänger der Confessio Augustana, Jus reformandi der Landesherren, Reservatum ecclesiasticum betr. geistliche Fürsten. Konfessionelle Spaltung des Reiches
IV.
Etablierung von lutherischen Kirchen, Ausbreitung der Reformierten, Kampf der Gegenreformation 1563ff Reformierte Konfessionalisierung: Kurpfalz. Weitere Territorien 1577-1613: u.a. Nassau, westfälische Grafschaften, Kurbrandenburg 1570-97 Gewaltsame Gegenreformation v .a. in Bayern, Würzburg, Salzburg, Österreich ca.1570ff Streit im Reich um die Säkularisation von Bistümern und Kirchengütern 1608 Evangelische Union: Defensivbündnis evangelischer Reichsstände. Katholische Liga unter Führung Bayerns (Maximilian). 1609-14 Erbfolgestreit um Jülich-Kleve 1618-48 Dreißigjähriger Krieg. Erste Phase 1618-23: Böhmen und Kurpfalz besiegt. Zweite Phase 1623-29: Kaiserliche Siege in Norddeutschland 1629 Restitutionsedikt Ferdinands 11.: Eindämmung des Protestantismus 1630-35 Dritte Phase: Eingreifen Schwedens (Gustav Adolf; gest.1532) und Frankreichs 1648 Westfallscher Friede (Münster/Osnabrück) als konfessionspolitisches Grundgesetz des Reiches (s. § 17; 3-3.3)
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Abb.32: Evang. Territorien und Reichsstädte um 1555 D. : Donauwörth H. : Heilbronn Ha.: Hagenau M. : Mühlhausen N. : Nümberg
No.: Nordhausen Nö.: Nördlingen R. : Reutlingen Re.: Regensburg Ro.: Rothenburg
S. : Speyer S.H.: Schwäbisch Hall W. : Weißenburg Wo.: Worms
Hzm. Lauenburg Gft. Ostfriesland Gft. Oldenburg Gft. Hoya Gft. Bentheim Gft. Teekienburg Hzm. BraunschweigCalenberg 8: Gft. Lippe 9: Fm. Anhalt I 0: Hzm. Sagan II: Fm. Liegnitz 12: Gft. Waldeck 13: Gft. Henneberg 14: Gft. Nassau 15: Fm. Bayreuth 16: Fm. Baden-Durlach 17: Pfalz-Neuburg
1. Reichseinheit und Religionsstreit
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1. Reichseinheit und Religionsstreit Nicht nur das Reichsbewußtsein, sondern auch eine reichsbezogene Politik war durch die Reformen von 1495ff gestärkt worden. Das fand seinen Ausdruck in den regelmäßigen Reichstagen, auf denen die Territorialobrigkeiten zusammen mit dem Kaiser trotz ihrer Interessengegensätze manche einheitliche Entscheidung zuwege brachten. Allerdings belastete die Divergenz in der Glaubensfrage seit 1521 die Kooperation. Generell verstand man das Reich immer noch in der mittelalterlichen Tradition als Corpus Christianum, d.h. man setzte die Einheit von geistlichem und weltlichem Bereich voraus: die Übereinstimmung der für die Heilsvermittlung zuständigen Kirche mit der für den Schutz der Kirche zuständigen Obrigkeit. Deswegen trat man übereinstimmend für die seit langem geforderte Kirchenreform ein; doch wie man sie bewerkstelligen könnte - ggf. auch ohne den Papst - und wie weit sie reichen sollte, war strittig. So wurde die aus der evangelischen Bewegung resultierende Grundlagenproblematik zu einem Konflikt, der die Einheit und den verfassungsrechtlichen Bestand des Reiches bedrohte. Die Angehörigen des alten Glaubens, die Altgläubigen, und die Neuerer formierten sich zunehmend als feindliche Religionsparteien.
1.1 Nationale, universale oder partikulare Lösung? Die Luthersache schien ein auf nationaler Ebene lösbares Problem zu sein. So sah es Kaiser Karl V.; er war entschlossen, die Ketzerei zu beseitigen entweder durch gütliche Verständigung mit den renitenten Reichsständen, einer winzigen Minorität, oder durch Gewaltanwendung. Losgelöst davon betrachtete er i.S. seiner Konzeption von kaiserlicher Universalmonarchie die Kirchenreform als eine nur gesamtkirchlich, also durch ein Generalkonzil zu lösende Frage. Das größte Hindernis zur Realisierung lag in der Verweigerung der notwendigen Mitwirkung durch den Papst; Clemens VII. befürchtete u.a. Eingriffe in die Struktur der Papstkirche und lehnte deshalb ein Konzil ab. Damit war eine Lösung blockiert. Ein deutscher Alleingang, bei dem sich entgegen der kaiserlichen Konzeption die Glaubens- und die Reformfrage verbunden hätten, schied seit Karls V. Verbot eines Nationalkonzils 1524 (s. § 11; 9.1) aus. Zur Bildung einer deutschen Nationalkirche - einer seit 1520 möglichen Tendenz - konnte somit die Reformation nicht führen, weil das Reich von einem Herrscher geführt wurde, der universalkirchlich dachte. Die dazu erforderliche Verständigung in der Glaubensfrage zwischen den Reichsständen wäre ohnehin ein hohes Hindernis gewesen. Sie konnte man auch durch Religionsgespräche im Zusammenhang mit den Reichstagen zu erreichen suchen, wie man später intendierte. Die Durchführung des Wormser Edikts, also die völlige Zurückdrängung der evangelischen Bewegung, erwies sich angesichts von deren Dynamik als unmöglich. Allerdings wurde die lutherische Ketzerei in einigen Ländern, v.a. Bayern und Österreich, hart verfolgt, zumal sie nach dem Bauernkrieg als Mitursache des Aufruhrs galt. Eine Blockbildung bahnte sich seit 1524/26 mit den gegensätzlichen konfessionellen Bündnissen an.
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Sie gewann dadurch an Gewicht, daß einige Territorien und Städte die Glaubensfrage und die Kirchenreform verbanden und Änderungen der kirchlichen Strukturen initiierten, die das traditionelle System grundsätzlich beseitigten. Noch bestand ein unklarer Schwebezustand. Doch es zeichnete sich die Tendenz ab, daß jene Stände durch Integration von reichspolitischem Partikularismus und Religionsdifferenz eine eigenständige Lösung realisieren würden. Da sowohl eine nationale als auch eine universalkirchliche Lösung blockiert waren, blieb als dritter Weg eine landeskirchliche Lösung, die Territorialisierung der Reformation. Diese stand aber dem allgemeinen Bewußtsein von Einheit des Reiches und Einheit der Kirche entgegen. So kam es in der Zeit nach 1526 zu keiner grundsätzlichen Klärung, weil man sie in der Hoffnung auf ein Reformkonzil immer wieder aufschob. Der Konflikt schwelte weiter und erfuhr dadurch, daß in Teilen des Reiches reformatorische Tatsachen geschaffen wurden, eine Verhärtung. 1.1.1 Für eine einheitliche Entwicklung des Reiches wäre der persönliche Einsatz der kaiserlichen Autorität wichtig gewesen. Durch seine jahrelange Abwesenheit schuf Kar! V. jedoch ein Machtvakuum, welches die Reichstursten z.T. durch ihre Aktivitäten austullten. Das zeigte sich auch beim Bauernkrieg, bei dem das Reich als solches abseits stand und zur Sicherung des Landfriedens nichts unternahm. Folgerichtig kam es zu Sonderabsprachen und -bündnissen einzelner Stände. Nach dem Sieg über die Bauern in Thüringen (s. § 11; 13.2.4) vereinbarten Herzog Georg von Sachsen und LandgrafPhilipp von Hessen im Mai 1525 gegenseitige Hilfe bei künftigen Unruhen. Dieses Bündnis sollte erweitert werden, doch das scheiterte an Georgs Konzeption, die Sicherung des Landfriedens auch auf den religiösen Konflikt auszudehnen. Jetzt zeigte sich die machtpolitische Auswirkung des konfessionellen Zwiespalts: Georg verständigte sich mit den Kurtursten von Brandenburg und Mainz sowie mit dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel im Juli 1525 im Dessauer Bund auf eine Ausrottung der vordampt luterisch secten als Wurzel allen Aufruhrs. Damit sollte ein Damm gegen die weitere Verbreitung der evangelischen Bewegung in Norddeutschland errichtet werden. (Zum süddeutschen Pendant im Regensburger Bunds.§ 11; 9.1.3). 1.1.2 Angesichts der Bedrohung verständigten sich Philipp von Hessen und der neue sächsische Kurturst Johann (s. 2.2.1), der entschiedener als sein Bruder Friedrich der Weise auf die politische Absicherung der Reformation bedacht war. Der GothaerBund vom Frühjahr 1526 (in Gotha abgeschlossen, von Kursachsen in Torgau ratifiziert, daher oft auch als Torgauer Bund bezeichnet) sollte der Verteidigung dienen tur den Fall eines Angriffs wegen der Religionsfrage. Die Bemühungen, Nürnberg und die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach (s. 2.4.1) zum Beitritt zu gewinnen, scheiterten. Doch im Juni 1526 schlossen sich BraunschweigLüneburg, Braunschweig-Grubenhagen, einer der beiden Herzöge von Mecklenburg, Anhalt, Mansfeld und die Stadt Magdeburg an (sog. Magdeburger Bündnis). Erstmals formierte sich damit - allerdings ohne feste Organisation - eine evangelische Partei. Das deutete darauf hin, daß die Religionsdifferenz nicht mehr nur Sache einzelner Abweichler unter den Territorien und Städten war, sondern eine neue politische Qualität bekam. 1.1.3 Der religiöse Zwiespalt tangierte die Funktionsfähigkeit des Schwäbischen Bundes, dessen Effektivität sich zuletzt im Bauernkrieg 1525 zeigte. Er tuhrte dazu, daß der Bund trotz Drängens der ihm angehörigen Bischöfe nicht zur Unterdrückung der evangelischen Bewegung eingesetzt werden konnte. Denn die Mehrheit der Städte, die ihn finanziell stützten, sympathisierte seit 1526 mit der Reformation und verhinderte, daß die Religionsfrage als Bundessache gelten konnte. So löste der Bund sich 1534 u.a. wegen des Konfessionsgegensatzes auf.
1.2 Begünstigung der Reformation durch die außenpolitische Situation Dem Fortschritt der Reformation - als struktureller Fixierung der evangelischen Bewegung - kam angesichts der in 1.1 genannten Unklarheit die Tatsache zugute,
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daß Karl V. durch die europäische Konfliktlage an massivem Eingreifen gehindert wurde. Der Krieg mit Frankreich, der den Kaiser schon 1521-26 von der Präsenz im Reich abgehalten hatte, verschärfte sich durch die Neuauflage (den 2. italienischen Krieg 1526-29). Denn nun trat Papst Clemens VII. in eine antihabsburgische Koalition zum Schutz Norditaliens ein. Die ohnehin vorhandenen Differenzen im Blick auf ein Konzil verschärften sich durch die kriegerische Konfrontation. Deswegen war der Kaiser daran interessiert, die Unruhe im Reich nicht zu schüren, und taktierte im Blick auf die Glaubensfrage hinhaltend. Eine brisante Verschärfung ergab sich durch die Türkengefahr im Osten, das weitgehende Vordringen des Osmanenreichs in Ungarn und die Bedrohung Österreichs. Jetzt mußte sich der direkt betroffene Erzherzog Ferdinand bemühen, militärische Hilfe seitens des Reiches - und damit auch der in der Religionsfrage opponierenden Stände -zu gewinnen. Denn als König von Böhmen und Ungarn seit 1526 richtete er seine Interessen stärker auf den östlichen Bereich, und das gab seiner Politik im Reich einen spezifischen Akzent. Somit erwiesen sich Frankreich und Türkenreich als faktische Helfer der deutschen Reformation, und zwar fast dreißig Jahre lang. Je nach dem Wechsel der Mächtekonstellation agierte auch der Papst gegen den Kaiser und begünstigte damit ungewollt den Fortgang der Reformation. 1.2.1 Die Vorherrschaft in Italien war ein Zentralproblem der europäischen Politik. Gegen Karls V. Machtposition, dietrotzdes Diktatfriedens von 1526 ungesichert blieb, richtete sich das Bündnis, das Franz I. von Frankreich mit Papst Clemens VII., Mailand, Venedig und anderen italienischen Staaten abschloß, die sog. Heilige Liga von 1526. Jetzt attackierte Kar! den Papst in einem Memorandum als Feind der Kirche und Verderber der Christenheit; er forderte das Kardinalskollegium auf, ein Generalkonzil ggf. auch ohne den Papst auszuschreiben (was illusorisch war). Die Kriegshandlungen brachten zunächst kein Ergebnis, wohl aber mit dem "Sacco di Roma" ein kulturgeschichtlich nachwirkendes Schockerlebnis: Deutsche und spanische Söldner des Kaisers meuterten wegen fehlender Bezahlung und eroberten im Mai 1527 Rom, um dort zu plündern; unermeßliche Kunstschätze wurden zerstört und weite Stadtteile verwüstet- das Ende der römischen Hochrenaissance. Der in die Engelsburg geflüchtete Clemens VII. geriet für einige Monate in kaiserliche Gefangenschaft. Doch Kar! wollte Kirchenstaat und Papst verschonen; nach militärischen Erfolgen 1528 schloß er mit diesen den milden Frieden von Barcelona (Juni 1529). Fortan agierten beide trotz fortbestehender Gegensätze als Partner. Auch gegenüber Pranz I. mäßigte er sich; im Frieden von Cambrai (August 1529) mußte dieser allerdings auf alle Ansprüche in Italien verzichten. Neben dem Besitz des Königreichs Neapel hatte Kar! V. die Kaiserherrschaft in Oberitalien behauptet. 1.2.2 Die seit der Eroberung Konstantinopels 1453 wachsende Bedrohung des Abendlandes durch das Türkenreich (s. § 9; 10.3.2-3) bildete seit ca.l520 infolge von dessen Angriffen auf Italien zur See und auf Ungarn zu Lande eine permanent-aktuelle Gefahr v.a. für Habsburg und das Reich. Unter Sultan Suleiman II., dem Prächtigen (1520-66), einem bedeutenden Politiker und Heerführer, wurden die Türken ein wichtiger Faktor der europäischen Politik. Sie stabilisierten ihre Herrschaft im nördlichen Balkanbereich durch Vernichtung eines ungarischen Heeres unter König Ludwig II. in der Schlacht bei Mohacs 1526 und besaßen seitdem die Hoheit über Süd- und Mittelungarn sowie Siebenbürgen. Karls V. Bruder Ferdinand I. konnte die vertraglich vereinbarte Nachfolge Ludwigs zunächst nur in Westungarn antreten (nach der Krönung zum König von Böhmen 1526). Dagegen fand der von nationalungarischen Kräften gestützte, vom Papst und von antihabsburgischen Staaten anerkannte Gegenkönig Jänos/Johann Zapolya (gest.l540) Hilfe bei Suleiman und konnte sich gegen Ferdinand trotz anfänglicher Niederlagen behaupten. Die Osmanen drängten die habsburgische Herrschaft 1529 zurück, eroberten Ofen (Buda) und belagerten vergeblich Wien. Auch ein erneuter Angriffsversuch 1532/3 scheiterte, doch bis 1555 mußte Ferdinand, z.T. durch ein deutsches Reichs-
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heer unterstützt, zum Schutz Westungarns mehrere Türkenkriege führen. Die politischen Wirren begünstigten seit 1526 u.a. durch Säkularisierung katholischer Kirchengüter das Vordringen der Reformation in Ungarn und Siebenbürgen (s. § 13; 13.2.1). Bis ins l8.Jh. kam es immer wieder zu Türkenkriegen (vgl. § 17; 4.1.5). Zumal für Frankreich waren diese - aufgrund von Bündnissen mit dem Osmanenreich - ein Mittel, um habsburgische Eingriffsmöglichkeiten im Westen zu schwächen. Die Solidarität des christlichen Abendlandes in der Abwehr der Türken erwies sich nun vollends als ideologischer Schein. Stärker waren die nationalstaatliehen Machtinteressen; sogar das Papsttum paktierte gelegentlich mit den Türken, was die alte Kreuzzugsidee korrumpierte.
1.3 Konfessionelle Spaltung der Reformation Die Vielschichtigkeit der evangelischen Bewegung führte seit 1525 i. V. mit reformatorischer Praxis zur Ausformung von Gegensätzen, die sich in der Folgezeit verfestigten. Das zeigte sich z.B. an denjenigen Humanisten, die eine Reform auf dem Boden der traditionellen Kirchenlehre und -Struktur intendierten. Die sog. radikale Reformation mit der täuferischen Gemeindebildung erlag weitgehend der gewaltsamen Unterdrückung (vgl. § 11; 12.1-16.2); die Verhältnisse im Reich beeinflußte sie kaum. Von größerer politischer Bedeutung war die Differenz zwischen dem lutherischen und dem zwinglianischen Reformationstypus, die sich im Abendmahlsstreit manifestierte und grundlegende Lehrunterschiede einschloß. Der vorwiegend literarisch-publizistisch ausgetragene Streit war deswegen so wichtig, weil Reformation in der Praxis stark auf die Änderung des Gottesdienstes konzentriert war. Er belastete zwischen 1526 und 1536 die Kooperation zwischen dem mitteldeutschen Kern der reformatorischen Partei (Kursachsen, Hessen) und den oberdeutschen Reichsstädten. Für Zwinglilagen Luthers Lehre und Liturgie viel zu dicht beim katholischen Transsubstantiationsdogma und bei der römischen Messe, als daß er sie für wirklich evangelisch halten konnte. Deswegen warb er unter den Evangelischen Oberdeutschlands für seine Auffassung, unterstützt von dem Baseler Johannes Oekolampad und dem Straßburger Martin Bucer. Die Erfolge hielten sich zwar in Grenzen, aber das Resultat war seit 1526 eine Entfremdung zwischen den Wittenbergern und den Zürich-Straßburgern. Für Lother und seine Anhänger gehörten Zwingli und dessen Parteigänger auf die Seite der seit 1522 bekämpften Schwärmer als Häretiker/Sakramentierer, was sie als diskriminierend empfanden und mit dem Vorwurf konterten, Luther sei ein Papist. (Zu den Lehren s. § 15; 4.1-2.) Es ging nicht nur um einen dogmatischen Dissensus, sondern auch um Ausdehnung bzw. Bewahrung der jeweiligen Einflußbereiche. Das wichtigste Resultat war die Trennung der deutschen von der schweizerischen Reformation (zu dieser s. § 13; 2.1-5). So ergab sich die dauerhafte Spaltung des Protestantismus in zwei Konfessionen, welche die Entwicklung der Reformation im übrigen Buropa beeinflußte. 1.4 Literatur K. BRAND!: Kaiser Karl V., 1937; 8.A. 1986. - W. FRIEDENSBURG: Zur Vorgeschichte des Gotha-Torgauischen Bündnisses der Evangelischen 1525-1526, 1884. - W. KÖHLER: Zwingli und Luther. lhr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen Bd.1, 1924; ND 1971. - H. RABE: Deutsche Geschichte 1500-1600, 1991, 302-317. - L. v. RANKE: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation Bd.2, 6.A. 1881, 159-284. - F. SEIBT: Karl V. Der Kaiser und die Reformation, 1990. - ST. SKALWEIT: Reich und Reformation, 1967, 200-240.
1. Reichseinheit und Religionsstreit I 2. Territorialer Reformationsbeginn seit 1526
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2. Territorialer Reformationsbeginn seit 1526 Aus der evangelischen Bewegung resultierte ein Mentalitätswandel, der zunächst vereinzelte, unsystematische Änderungen der kirchlichen Verhältnisse bewirkte, allerdings mit paradigmatischer Bedeutung (z.B. Einstellung evangelischer Prediger, Bruch des Zölibats, Abschaffung von Opfermesse und Heiligenkult, Klosterflucht von Mönchen und Nonnen). Daraus ergab sich in einigen Gebieten ein ungeordnetes Nebeneinander alter und neuer Elemente, basierend auf grundlegender Unklarheit der Rechtslage. Deswegen mußte man v.a. dort, wo die Bewegung sich nachhaltig verbreitet hatte, zu geregelten Strukturveränderungen mit gemeinsamen Ordnungen gelangen. Die dem entgegenstehende Barriere des Wormser Edikts schien angesichts der allgemeinen politischen Situation, welche einen Ausgleich der religiösen Gegensätze nahelegte, relativiert werden zu können. 2.1 Der Speyerer Reichstag 1526 und seine Folgen Die Unruhe im Zusammenhang des Bauernkrieges und die Polarisierung durch konfessionelle Bündnisse führten bei den Verhandlungen des Reichstages in Speyer dazu, daß die Stände der kaiserlichen Forderung nach strikter Durchführung des Wormser Edikts (zwecks Einmütigkeit hinsichtlich Lehre und Kirchenordnung) nicht mit einheitlicher Willensbildung nachkommen konnten. Da die Städte eine Unterdrückung der evangelischen Bewegung und eine Beibehaltung der alten Zeremonien für unmöglich erklärten und einige Fürsten sich dem anschlossen, kam es zu einem unklaren Formelkomprom.iß: Der Reichstag erneuerte die Forderung, ein Generalkonzil -oder wenigstens eine Nationalversammlung zur Klärung der Glaubensfrage- einzuberufen, und stellte die Durchführung des Wormser Edikts in die Verantwortung der einzelnen Stände. Beabsichtigt war zwar keine Konzession an die evangelischen Obrigkeiten zur Durchführung der Reformation, doch diese verstanden den Beschluß so, um nun die erforderlichen Ordnungsmaßnahmen zu treffen. Insofern bildete das Jahr 1526 eine gravierende Zäsur: den Übergang von der evangelischen Bewegung bzw. Gemeindereformation zu einer obrigkeitlich gelenkten "Fürstenreformation", welche die Bildung evangelischer Landeskirchen förderte. Es war insofern ein Provisorium, als das Reich alle Neuerungen nur bis zum künftigen Konzil gelten lassen wollte. Das förderte unbeabsichtigt die Entwicklung der Reformation. 2.1.1 Die Erstarkung des Selbstbewußtseins der Lutherischen bekundete sich zu Beginn des Reichstages darin, daß der neue sächsische Ku~fürst Johann und der hessische Landgraf in ihren Herbergen evangelische Predigten für die Offentlichkeit halten ließen und daß ihr Gefolge am Gewand den Bekennerspruch trug Verbum Dei manet in aetemum/Gottes Wort bleibt in Ewigkeit (Jes 40,8). In der Forderung nach einem Reformkonzil oder einer nationalkirchlichen Reform waren sie sich mit den Altgläubigen einig. Eine Gesandtschaft an Karl V. in Spanien sollte den Kaiser von der Unmöglichkeit der geforderten Durchführung des Wormser Edikts überzeugen, kam jedoch nicht zustande. 2.1.2 Eher eine Eindämmung als eine Legitimierung von Neuerungen sollte die berühmte Formulierung im Speyerer Reichsabschied vom 27.8.1526 bezwecken, welche den dilatorischen Beschluß von 1524 (Text: AQDGNZ 16, 491ft) fortführte. Die Stände verglichen sich einmü-
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§ 12 Politische Reformation und konfessionelle Spaltung
tig, daß bis zum Konzil einjeglicher in Sachen, so das [Wormser] Edikt ... belangen möchten, fiir sich also zu leben, zu regieren und zu halten [hätte], wie ein jeder solches gegen Gott und Kayserl. Majestät hoffet und vertraut zu verantworten (AQDGNZ 16, 494t). Damit meinten die Altgläubigen, die Bindung an den Kaiser müßte die Neuerer zur Zurückhaltung verpflichten.
2.2 Visitationen und Neuordnung in Kursachsen Die Aufsicht über die Pfarrer und Gemeinden durch regelmäßige Visitationen war eine alte bischöfliche Aufgabe, die trotz entsprechender Reformforderungen vernachlässigt worden war. An diese Rechtsform knüpften die sächsische Reformatoren an und schufen damit 1527-30 das für sie typische Modell einer Durchführung der Reformation. Aufgrund einer komplizierten Bestandsaufnahme (v.a. von Bildung, Moral und Religiosität der Pfarrer, Besetzung und Dotierung der Stellen, Umfang des Kirchenguts, Schul- und Armenwesen) durch Visitationskommissionen wurden die Reformen organisiert. Damit entstand ein Ansatz für die spätere landeskirchliche Verwaltung. Die Lage in vielen Dörfern war ungeregelt z.B. hinsichtlich der Pfründen und Abgaben; zahlreiche Pfarrer wußten wenig von der evangelischen Lehre und hielten den Gottesdienst nach altem Ritus, etliche Pfarrstellen waren verwaist. Eine Neuordnung konnte man nur mit Amtsgewalt durchsetzen, und die usurpierte 1527 Kurfürst Johann, weil er als Landesherr für die allgemeine Ordnung zuständig war und weil die Bischöfe als Regelungsinstanzen ausfielen. Der folgenreiche Übergriff in den kirchlichen Rechtsbereich, den Luther und Melanchthon - jeweils unterschiedlich - theologisch begründeten, konstituierte die Anfänge des sog. landesherrlichen Kirchenregiments, das sich im Verlauf des 16.Jh.s entwickelte (s. dazu§ 17; 1.2): Nicht von den Gemeinden her erfolgte der Neubau der evangelischen Kirche, sondern von oben her durch obrigkeitliche Anordnungen. Zunächst waren die geistliche Erziehung und die theologische Belehrung von Pfarrern und Gemeindegliedern vordringlich. Zur Orientierung veröffentlichte Melanchthon 1528 den Unterricht der Visitatoren, eine Art Kompendium für die Prüfung der Geistlichen. Für die Einheitlichkeit der Gottesdienstordnung sollten Luthers Deutsche Messe und Das Taufbüchlein von 1526, ergänzt durch das Traubüchlein von 1529, dienen. Der evangelischen Unterweisung für Pfarrer, Hausväter und -mütter, Gesinde und Kinder boten seine beiden Katechismen 1529 eine wirkungsvolle Grundlage (s. § 15; 5.1). Seitdem gehörten evangelische Gottesdienstordnungen und Katechismen zum Grundbestand bei der Einführung der Reformation in jedem deutschen Territorium. 2.2.1 Die politische Absicherung der Reformation nach außen wie nach innen betrieb wirkungsvoll der seit 1525 amtierende Kurfürst Johann (1468-1532; seit dem späten 16.Jh. mit dem Beinamen Der Beständige). Zusammen mit seinem Bruder Friedrich dem Weisen regierte er seit 1486 das ernestinische Territorium, seit 1513 zuständig fiir dessen thüringische und fränkische Teile (mit Residenz in Weimar). Anders als Friedrich setzte er sich schon früh fiir reformatorische Maßnahmen ein und hielt enge Verbindung zu Luther, dessen Rat er oft in politischen und kirchlichen Fragen einholte. Auch sein Kanzler Gregor Brück (1485/6-1557), ein umsichtiger Politiker und kluger Jurist, erwarb entscheidende Verdienste um die Stabilisierung der evangelischen Bewegung und um die geordnete Reformation. Bis 1529 als Kanzler, danach als einflußreicher Berater hat er einerseits den Aufbau einer kursächsischen Landeskirche, andererseits die reichspolitische Verteidigung des Protestantismus vorangetrieben.
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2.2.2 Schon 1525 beauftragte Johann den Eisenacher Reformator Jakob Strauß (ca.1480 - ca. 1530) mit Visitationen im dortigen Gebiet. Ihm lag v.a. an der eindeutig evangelischen Lehre der Prediger. Eine Anregung des Zwickauer Reformators Nikolaus Hausmann (1478/9-1538) folgend bat Luther 1525 den Kurfürsten, bei der finanziellen Neuordnung, der Bestellung von Pfarrern und Lehrern zu helfen, zumal dieser etliche Kloster- und Stiftsgüter säkularisiert hatte. Es dauerte, bis Johann die Notwendigkeit zum obrigkeitlichen Einschreiten begriff und eine Visitationskommission (u.a. mit Melanchthon) einsetzte. Die wohl von Gregor Brück 1527 verfaßte Instruktion für die Visitatoren bereitete die spätere Praxis vor und kann insofern als Gründungsurkunde des landesherrlichen Kirchenregiments gelten (Text: EKO 1, 142148). Das Kirchenwesen mit Predigt und Gottesdienst, Lehre und Lebenswandel der Geistlichen, Unterhalt der Amtsträger und Gebäude wurde seitdem der staatlichen Aufsicht unterstellt - ein tiefer Traditionsbruch. Luthers Begründung der Initiative zur Visitation mit der christlichen Liebespflicht des Kurfürsten entsprach dem, verdeutlichte jedoch stärker den Notstand (Vorrede zum Unterricht der Visitatorn an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen; Text: EKO 1, 149-174; Luther StA 3, 406-462). 2.2.3 Der im Vergleich zur oberdeutschen Reformation konservativere Charakter der Wittenberger Reformation trat in der Gottesdienstordnung zutage, welche die äußere Form der Messe weithin beibehielt, jedoch deren Charakter völlig veränderte als evangelische Messe. (Der Begriff Messe verschwand im deutschen Luthertum seit dem späten 16.Jh.) Lother hat dabei prägend, aber nicht ausschließlich bestimmend gewirkt. Er stellte neben die traditionelle Form der von Pfarrer und Chor lateinisch gesungenen Liturgie, die durch Kirchenmusik ausgestaltet wurde (vgl. § 11; 9.4.1), 1526 die stärker volkspädagogisch orientierte, liturgisch vereinfachte Form der Deutschen Messe (Text: WA 19, 72-113). Diese bewahrte im Eingangsteil i. w. den Aufuau der römischen Messe (so bis heute in der lutherischen Agende nachwirkend), brachte aber im Sakramentsteil wesentliche Neuerungen v .a. mit Abendmahlsvermahnung und Verkündigungscharakter der Einsetzungsworte. Die Einzelprüfung der Abendmahlsgäste, das sog. Beichtverhör, gewann seit den sächsischen Visitationen tragende Funktion und hat die lutherische Frömmigkeit bestimmt. Es ging theologisch um die - v .a. in Melanchthons Unterricht (s. 2.2.2) betonte -Bedeutung von Gesetz und Buße für eine evangelische Lebensgestaltung. Größere Breitenwirkung als Luthers Deutsche Messe erzielte Bugenhagens Gottesdienstordnung, die er seit 1528 in seinen Kirchenordnungen vorschrieb.
2.3 Landesfürstliche Reformation in Hessen Der junge Landgraf Philipp von Hessen, ein strategisch denkender Politiker und seit 1524 ein überzeugter Anhänger der Reformation, wollte konsequent die Chancen nutzen, die ihm eine kirchliche Neugestaltung für die Stärkung seiner Landeshoheit bot. Er berief im Oktober 1526 eine Versammlung der Landstände und Geistlichen nach Hornberg an der Efze ein, die sog. Hornberger Synode, welche durch eine Disputation die weiteren Modalitäten klären sollte. Als eine grundlegende Neukonzeption beschloß man Elemente einer Gemeindekirche nach biblischen Maximen, ohne die Komplexität der Praxisprobleme und die Realisierungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Der um Begutachtung gebetene Lother warnte davor, ein derartig abstraktes Regelwerk zu verwirklichen. Philipp folgte dem, und so orientierte sich seit 1527 die Reformation in Hessen i. w. am konservativen Modell Kursachsens. Visitationskommissionen machten überall Bestandsaufnahmen der Verhältnisse in den Gemeinden zur Reorganisation von Pfarrerschaft und Gottesdienst. Materiell reizvoll war die systematische Klosteraufhebung, weil so - obrigkeitlich gelenkt - eine Reform der Armen- und Krankenfürsorge sowie ein Neubau des Schulwesens finanziert werden konnten. Das landesherrliche Kirchenregiment entwickelte sich seitdem wie in Kursachsen.
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2.3.1 Seit 1518119 regierte LandgrafPhilipp von Hessen (1504-67; später Der Großmütige genannt) sein aus mehreren Teilen bestehendes Territorium. Dessen Lage in Mitteldeutschland - mit den Zentren Kassel und Marburg - wies ihm eine Schlüsselposition zu, zumal er mit der Grafschaft Katzenellenbogen um St. Goar und Darmstadt direkt in der reichspolitisch wichtigen Rhein-Main-Zone präsent war. Hessen hatte sich gegen die Umklammerung durch das mächtige Erzbistum Mainz erfolgreich behauptet, schon im 15.Jh. die meisten Klöster im Lande durch Vogteirechte unter staatliche Kontrolle gebracht und die geistliche Gerichtsbarkeit zurückgedrängt. Dieses Grundelement hessischer Politik legte eine Option für die Reformation nahe: hn Sommer 1524 bekannte Phitipp sich, beeinflußt durch Melanchthon, zur evangelischen Lehre und ordnete die entsprechende Predigt in seinen Landen an. Diese Position verteidigte er gegen seinen Schwiegervater, Herzog Georg von Sachsen; sie führte ihn seit 1525 folgerichtig an die Seite Kursachsens, seines östlichen Nachbarn. 2.3.2 Die kirchliche Neuordnung begann mit der staatlichen Inventarisierung der Kirchen- und Klostergüter sowie mit der Durchsetzung der evangelischen Lehre, bei welcher der zum Hofprediger und Visitator ernannte Lutheranhänger Adam Krafft (1493-1558) die führende Rolle als Reformator Hessens spielte. Die Ständeversammlung von Hornberg akzeptierte 158 theologische Sätze, die der aus Straßburg berufene Franz Lambert von Avignon (1487-1530) vorlegte, ein ehemaliger Franziskaner, eigenständiger Theologe und einflußreicher Publizist. Auf dieser Basis formulierte eine Kommission im Dezember 1526 eine Kirchenordnung, die Reformatio Ecclesiarum Hassiae (Text: EKO 811, 43-65). Sie sah u.a. vor: den freiwilligen Zusammenschluß gläubiger Christen zu autonom verwalteten Gemeinden, die Wahl der Pfarrer durch die Gemeinde, die jährlich tagende Synode als oberstes Leitungsorgan. Wegen fehlender obrigkeitlicher Bestätigung erlangte sie keine Rechtskraft. Doch die hier erkennbare Orientierung am Gemeindeprinzip wirkte in den späteren Kirchenordnungen nach. 2.3.3 In der Folgezeit bis 1543 kam es zu sukzessiver Neuordnung auf einzelnen Gebieten (Texte: EKO 811, 66-154). Die Säkularisierung der Klostergüter nützte Phitipp zu bemerkenswerter Modernisierung des Sozial- und Bildungswesens durch Dotationen aus: der 1527 gegründeten, ersten evangelischen Universität in der oberhessischen Hauptstadt Marburg zur Ausbildung einer loyalen Beamtenschaft, der vier Landeshospitäler für Arme, Kranke und Alte in ehemaligen Klostergebäuden, der zwei Stifte zur Versorgung von Adelstöchtern. Durch Vertrag verzichtete Erzbischof Albrecht von Mainz 1528 in der Landgrafschaft auf die Ausübung der geistlichen Jurisdiktion, wodurch Phitipp eine Rechtsgrundlage für die Neuordnung erhielt. Folgerichtig wurde aus dem Visitatoren- das Superintendentenamt abgeleitet. Die Kastenordnung von 1530 fixierte das Finanzwesen zum Unterhalt von Pfarrern, Schulen, Hospitälern.
2.4 Strukturwandel in Franken und Niedersachsen Schwerpunkte der Neuorganisation bildeten sich nach 1526 neben Kursachsen und Hessen v.a. in denjenigen Gebieten, die später zu den Kernbereichen des deutschen Luthertums gehörten. Da in Süddeutschland die geistlichen Fürstentümer und die katholischen Mächte Bayern und Österreich dominierten, war es historisch folgenreich, daß die Reformation in der mächtigen Reichsstadt Nürnberg (samt ihrem umfangreichen Landgebiet) und in den benachbarten brandenburgischen Markgrafschaften Ansbach und Kulmbach sich definitiv durchsetzte. Die Entwicklung dieser Territorien bot etlichen fränkischen Reichsrittern, jeweils kleinen Herrschaften inmitten der Hochstifte Würzburg und Bamberg, den Rückhalt zur Einführung der Reformation. Zentren der neuen Religion wurden die meisten Reichsstädte in Süddeutschland. Im niedersächsischen Reichskreis bedeutete die Entscheidung für die Reformation zumeist nur die Einführung der evangelischen Predigt mit Abschaffung der römischen Messe; der Aufbau neuer Kirchenstrukturen vollzog sich allmählich nach 1530. Unter den größeren Territorien ragte seit
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1527 das welfische Herzogtum Braunschweig-Lüneburg durch einen konsequenten Weg zur Reformation hervor. Die wenigen freien Städte jenes Reichskreises schlossen sich meist aus innenpolitischen Gründen der Neugestaltung an. Johannes Bugenhagen schuf für Braunschweig und Harnburg 1528/29 wegweisende Kirchenordnungen. Früh hatte sich die evangelische Bewegung in Randgebieten des Reiches ausgebreitet: in Schlesien und Preußen (s. § 13; 10.1; 12.2). 2.4.1 Nach der grundsätzlichen Klärung 1525 (s. § 11; 10.2.4) vollzog Nürnberg in behutsamen Schritten die Neuordnung: u.a. mit Verbot der altgläubigen Predigt und Messe, der Auflösung der meisten Klöster, der Errichtung eines evangelischen Gymnasiums. Bei der Durchführung der Reformation im Landgebiet empfahl sich die Kooperation mit den beiden Markgrafschaften Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach (später: Bayreuth), welche 1527-41 unter Georg dem Frommen (1484-1543) in Personalunion verbunden waren. Die weitverzweigte Hohenzollerndynastie unterhielt traditionell gute Beziehungen zu Nürnberg, ihrem ehemaligen Stammsitz. Thre familiären Kontakte förderten die Reformation in zwei nicht direkt zum Reich gehörigen Gebieten: Preußen und Schlesien (s. § 13; 10.1.1; 12.2.2). Markgraf Georg war seit 1524 ein überzeugter Evangelischer und ein kluger Förderer der Reformation auch in den außerfränkischen Hohenzollerngebieten. Sein theologischer Berater als Ansbacher Pfarrer war der humanistisch gebildete Andreas Althamer (vor 1500 - ca.1539), der 1528 einen Gatechismus in Frag und Antwort für die Verbreitung der evangelischen Lehre verfaßte. Der Landtag in Ansbach beschloß 1528 eine umfassende Kirchenvisitation, die man zusammen mit Nürnberg durchführte. Aus deren Auswertung ergab sich nach langwieriger Vorarbeit - verzögert durch die reichspolitische Lage - 1533 die historisch bedeutsame BrandenburgNürnbergischeKirchenordnung (Text: EKO 11/1, 140-283; Osiander GA 5, 63-181). Thre Verfasser waren v .a. Andreas Osiander für den Lehrteil und Johannes Brenz. Sie diente als Vorbild für viele Kirchenordnungen und hat so lange nachgewirkt. 2.4.2 Auch in den niedersächsischen Fürstentümern und Städten bestand die Reformation zunächst i. w. nur aus der allgemeinen Einführung evangelischer Predigt und der Änderung der Messe (so z.B. durch obrigkeitliches Mandat 1526 im kleinen Herzogtum Sachsen-Lauenburg). Der Aufbau neuer Kirchenstrukturen vollzog sich allmählich, zumeist erst nach 1530/32. Herzog Ernst (später der Bekenner genannt, 1497-1546) von Braunschweig-Lüneburg, der in Wittenberg studiert hatte, förderte seit 1524 die evangelische Bewegung im Interesse der Wiederherstellung fürstlicher Territorialherrschaft gegen die Landstände. Er berief den Braunschweiger Gottschalk Kruse (ca.1490-1527) als Hofprediger nach Celle, der die neue Lehre im Lande verbreitete. Nach dem Speyerer Reichstag setzte er 1527 mit dem v.a. von Kruse verfaßten Artikelbuch die Abstellung der katholischen Mißbräuche und 1529 mit einer Lehrordnung die evangelische Predigt durch (Texte: EKO 611, 492-527). Die Säkularisation der Klöster sollte die zerrütteten Staatsfinanzen sanieren. Eine allgemeine kirchliche Neuordnung erfolgte sukzessive bis 1564/68, behutsam durchgeführt v.a. von dem seit 1531 als Generalsuperintendent in Celle amtierenden Melanchthonschüler Urbanus Rhegius (1489-1541). 2.4.3 Die Reichsgrafschaft Ostfriesland mit der Residenz Emden spielte eine Sonderrolle in der Reformationsgeschichte, weil dort die evangelische Bewegung schon früh geduldet wurde, aber unter den Gegensätzen zwischen Lutheranern, Zwinglianern und Täufern litt. Sie bot ein Refugium für andernorts verfolgte Radikale. Seit 1528 förderte Graf Enno II. (gest.1540) das Luthertum gegen den Widerstand etlicher Prediger und Herren. Er erließ 1529 die von den Bremer Lutheranern Johann Timann und Johann Pelt - in Anlehnung an Bugenhagen (s. 2 .4.4) - erarbeitete Kirchenordnung zur Neuregelung des religiösen Lebens (Text: EKO 711, 360-372). Doch sie fand nicht die nötige allgemeine Beachtung. Auch die detailliert die kirchlichen Verhältnisse und den Gottesdienst regelnde Karckenordenynge von 1535 (Text: EKO 711, 373-397) wirkte sich nur z.T. in der Praxis aus. Die komplexe Situation des Landes entzog sich stärker als andernorts einer obrigkeitlichen Normierung.
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2.4.4 Unter den wenigen freien Reichsstädten Norddeutschlands führte Nordhausen schon 1524 die Reformation ein. Goslar tat diesen Schritt, begleitet von inneren Unruhen, 1528 durch Erlaß einer von Nikolaus von Amsdorff entworfenen Kirchenordnung. (Zum nichtreichsunmittelbaren Magdeburg s. § 11; 9.4.3.) Braunschweig -keine Reichsstadt, aber weithin vom Wolfenbütteler Herzog unabhängig - schloß den Sieg der evangelischen Bewegung 1528 dadurch ab, daß es Johannes Bugenhagen holte, welcher nach sorgfältiger Bestandsaufnahme hier seine erste Kirchenordnung verfaßte, das Modell seiner eigenen und das Vorbild etlicher anderer Kirchenordnungen (Text: EKO 611, 348-455). In der bedeutenden Handelsstadt Hamburg, die formell dem Herzogtum Holstein unterstand, endeten die Konflikte um die kirchliche Neuregelung mit Bugenhagens Kirchenordnung von 1529 (Text hg. v. H. Wenn, 1976; vgl. EKO 5, 488-540). Bugenhagen, der Reformator im niederdeutschen Sprachraum (zu ihm s. § 11; 10.1.2) konzipierte jeweils in Verbindung von Praxisnähe und Bibelorientierung eine Christlike ordeninge, die für jene Städte als Einheit von bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde das Leben gemäß Gottes Wort regeln sollte. (So auch für die Reichsstadt Lübeck 1531; Text hg.v. W.-D. Hauschild, 1981. Vgl. 6.1.5.) 2.5 Literatur M. BRECHT: Martin Luther Bd.2, 1986, 246-325. - DERS.: Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: Ders.: Ausgew. Aufsätze Bd.1, 1995,411-470. - W. FRIEDENSBURG: Der Reichstag zu Speier 1526 ... , 1887. - R. HERRMANN: Thüringische Kirchengeschichte Bd.2, 1947. - H. JUNGHANS: Johann von Sachsen, TRE 17 (1988) 103-106. - DERS. (Hg.): Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, 1989. - G. MÜLLER: Franz Lambert von Avignon und die Reformation in Hessen, 1958. DERS.: Philipp von Hessen, TRE 26 (1996) 492-497. - M. RUDERSDORF: Hessen, in: A. Schindling/W. Ziegler: Territorien Bd.4 (s. § 12; 0) 254-288. - W. ZIEGLER: Braunschweig-Lüneburg, Hildesheim, in: A. Schindling/W. Ziegler: Territorien Bd.3 (s. § 12; 0) 9-43.
3. Konflikt um die Unterdrückung der Reformation Innerhalb der Epochenschwelle 1526-32 bildeten die Ereignisse des Jahres 1529 einen kritischen Höhepunkt. Sie verdeutlichten die Unvereinbarkeit der beiden bisher dominanten Tendenzen: der strukturellen Verfestigung der evangelischen Reformbewegung und der Behauptung kirchlicher Einheit. Politisch bedeutete erstere die Aufsplitterung, letztere die Bewahrung der Reichseinheit. Eine definitive Entscheidung mit durchgreifenden praktischen Konsequenzen unterblieb bislang, weil alle die Abhaltung eines allgemeinen Konzils wünschten. Unter diesem Aspekt war die Reichstagsentscheidung von 1526 zustandegekommen. Doch die evangelischen Obrigkeiten veränderten durch die Schaffung von z. T. kaum reversiblen Fakten die gemeinsame Ausgangsbasis immer stärker. Eine entsprechende Konfessionalisierung von Kirche, Gesellschaft und Staat bahnte sich an. Diese Entwicklung aufzuhalten, war die Absicht Kaiser Karls V. und seines Vertreters im Reich, Erzherzog Ferdinands. Dem standen jedoch die Differenzierung der Machtverhältnisse und das Eigengewicht der Territorien entgegen.
3.1 "Protestanten" als ReligionsparteL Der zweite Speyerer Reichstag 1529 Aufgrund der reformatorischen Neuerungen in einigen Gebieten verschärften sich die religiösen Differenzen. Dem sollte nach Meinung der Altgläubigen ein klarer Beschluß des 1529 abermals in Speyer versammelten Reichstages entgegenwirken: die Aufhebung des Formelkompromisses von 1526. Die Mehrheit der Reichsstände erneuerte das seit 1521 gültige Reformationsverbot, zumal die Aussicht für ein Konzil wegen der Annäherung zwischen Kaiser und Papst besser stand. Dage-
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gen wehrte sich die evangelische Minderheit mit einer "Protestation", einer Rechtsverwahrung, welche ihre Verpflichtung auf den Reichstagsbeschluß verhindern sollte. Die Erklärung, bei der Entscheidung von 1526 bleiben zu wollen, begründete sie mit der Bindung ihres Gewissens an Gottes Wort. Das war insofern ein revolutionärer Akt, als nunmehr für den religiösen Bereich die Geltung von Mehrheitsbeschlüssen bestritten wurde. Die konfessionelle Spaltung des Reiches kündigte sich damit an; was 1529 geschah, fand seinen Abschluß im Augsburger Religionsfrieden 1555. Insofern kann unter reichspolitischen Aspekten der zweite Speyerer Reichstag als die eigentliche Geburtsstunde des deutschen Protestantismus gelten. Ob trotz jener Erklärung der Reichsabschied durchgesetzt werden würde, blieb offen, so daß - trotz beiderseitiger Friedensbekundungen - die Lage für die evangelischen Stände gefährlich wurde, weil sie als Landfriedensbrecher verfolgt werden konnten. 3.1.1 Die durch die Reformationsmaßnahmen verstärkten Spannungen zwischen Altgläubigen und Neuerern bedeuteten eine Kriegsgefahr. Das zeigten die sog. Packsehen Händel. Philipp von Hessen erhielt von Otto von Pack, dem Vizekanzler des sächsischen Herzogs Georgs Dokumente über ein Geheimbündnis zahlreicher katholischer Fürsten unter Führung Ferdinands von Österreich, das Hessen und Kursachsen bedrohte. Daraufhin mobilisierte er seine Truppen und rückte gegen die Grenzen der fränkischen Bistümer vor, konnte allerdings Johann von Sachsen nicht für einen - von Luther für verwerflich erklärten - Angriffsschlag gewinnen. Da etliche Altgläubigen mit Gegenrüstungen begannen, drohte im Frühjahr 1528 ein Religionskrieg. Dessen Ausbruch konnte jedoch dadurch verhindert werden, daß Packs Dokumente als Fälschung entlarvt wurden. Der Vorfall, der bis Ende 1528 die Gemüter bewegte, war ein Beispiel für Philipps Politisierung der Reformation. Er verstärkte die reichspolitischen Differenzen zwischen Hessen und Kursachsen. 3.1.2 Die Packsehen Händel bestärkten die katholischen Fürsten in ihrer antireformatorischen Haltung. Eine harte Linie gegen jeden religiösen Aufruhr verfolgte v .a. Ferdinand als Vertreter des Kaisers auf dem Speyerer Reichstag 1529. Alle kirchlichen Änderungen, insbesondere die Abschaffung der Messe, und alle Neuerungen in der Lehre sollten unterbleiben; deswegen sollte der Vergleich von 1526 kassiert werden. Die Beratung der Reichsstände über Ferdinands Proposition führte zum Bruch zwischen beiden Gruppen, weil die evangelische auf der Fortgeltung des Beschlusses von 1526 bestand und Mehrheitsentscheidungen in Gewissensfragen für unzulässig erklärte: das in den sachen gottes ere und unser seien belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen undrechenschaftgeben mus (RTA 712, 1277). Damit war nicht eine allgemein-individuelle Glaubensfreiheit, sondern die Religionsfreiheit der Reichsstände gemeint. 3.1.3 Der kursächsische Kanzler Brück verfaßte eine als protestation bezeichnete Appellation zwecks Berücksichtigung im Reichsabschied und verlas sie am 19.4.1529 (Text: AQDGNZ 16, 499-501; vgl. KTGQ 3, 156t). Unterzeichner waren Johann von Sachsen, Georg von Brandenburg-Ansbach, Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Philipp von Hessen, Wolfgang von Anhalt; 14 Städte schlossen sich der Protestation an, u.a. Straßburg, Nürnberg, Ulm, Konstanz, Memmingen, Reutlingen, Heilbronn. Der Reichsabschied vom 22.4. kümmerte sich nicht darum (Text: KTGQ 3, 157-159). Für die Wiedertäufer setzte er die Todesstrafe fest (vgl. § 11; 15.3.2). Wenn er die Lehre der Sakramentierer abwies, dann tat sich damit ein neues Konfliktfeld auf; die lutherischen Stände konnten das akzeptieren. Die Gesandten, welche dem in Italien weilenden Kaiser die Protestation überbringen sollten, ließ dieser zunächst als Aufrührer verhaften, dann ungnädig abfertigen.
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3.2 Scheitern von gesamtevangelischem Bündnis und Bekenntnis Angesichts der Gefahr verhandelten nach Abschluß des Reichstages Kursachsen, Hessen, Nürnberg, Straßburg und Ulm über ein politisch-militärisches Bündnis, das im Falle eines Angriffs auf einen der protestierenden Stände zur gegenseitigen Hilfe verpflichten sollte. Besonders gefahrdet waren die süddeutschen Reichsstädte. Doch nun traten die schon vorhandenen Differenzen in der theologischen Position und politischen Konzeption deutlich zutage: Konnte ein Stand als evangelisch verteidigt werden, wenn er eine wesentlich andere Lehre (z.B. über das Abendmahl) vertrat? Und durfte man Widerstand gegen den Kaiser als die legitime Obrigkeit üben? Philipp von Hessen erstrebte eine umfassende Koalition gegen das Haus Habsburg, die neben den süddeutschen Reichsstädten auch die evangelischen Orte der Schweiz einschließen sollte. Darin stimmte er mit Zwinglis Konzeption überein (vgl. § 13; 2.1). Er knüpfte sogar Kontakte zu Dänemark sowie zu den traditonell antihabsburgischen Mächten Frankreich und Venedig. Er wollte einerseits die Reformation politisch absichern, andererseits den religiösen Gegensatz zu Karl V. politisch instrumentalisieren. Dazu mußte allerdings die Lehrkontroverse zwischen Lutheranern und Zwinglianern beigelegt werden, weswegen Philipp die Kontrahenten zu Verhandlungen einlud. Doch das von ihm im Oktober 1529 veranstaltete Marburger Religionsgespräch zwischen Lother und Zwingli sowie anderen Reformatoren scheiterte an dem unüberbrückbaren Gegensatz in der Abendmahlslehre (s. § 15; 4.2). Philipps Bündnispläne wurden überdies v.a. dadurch vereitelt, daß Kursachsen, Brandenburg-Ansbach und Nürnberg in ihrer traditionellen Kaisertreue eine militärpolitische Oppostion gegen Karl V. ablehnten. Kurfürst Johann wurde in seiner Abneigung bestärkt durch die theologischen Bedenken Luthers und Melanchthons. Diese verwarfen eine militärische Verteidigung des Evangeliums sowie eine Kooperation mit solchen, die - wie Straßburg und Zürich - das Evangelium durch Irrlehre verfälschten. Die Sachsen zogen einerseits ein Religionsgespräch mit den Altgläubigen, andererseits ein Defensivbündnis mit den Franken auf einer klaren Bekenntnisgrundlage vor. Doch diesen war ein solches Vorgehen ohne die Verbindung mit Ulm und Straßburg zu riskant. So kam es 1529 weder zu einem Bündnis noch zu einem gemeinsamen Bekenntnis. 3.2.1 Der Gegensatz zwischen der offensiven Bündnispolitik Hessens und der defensiven Konzeption Kursachsens blockierte während des Jahres 1529 zusammen mit der unterschiedlichen Gewichtung der Lehrdifferenzen die intensiven Verhandlungen. Hessen war stärker der Gefahr eines Angriffs ausgesetzt als Kursachsen, so daß Philipp auch deshalb das Bündnis brauchte. Gegen dessen Pläne verständigten sich die Sachsen (u.a. Melanchthon, Brück) mit den Nürnbergern auf eine Verhinderungspolitik. Daran scheiterte im Juni die Verhandlung in Rodach bei Coburg; man verschob den Vertragsabschluß daher aufeine Konferenz in Schwabach (s. 3.2.4). Währenddessen agierten beide Seiten i.S. ihrer gegenläufigen Konzeptionen. 3.2.2 Kursachsen brachte nun - aufgrund einer Anregung des Markgrafen Georg von Ansbach - die Bekenntnisfrage ins Spiel: Grundlage des Bündnisses sollten gemeinsame Lehrartikel sein, und zwar in einer Form, die für die zwinglianischen Reichsstädte Straßburg und Ulm inakzeptabel war. Melanchthon arbeitete sie im Einvernehmen mit Luther während des Sommers 1529 aus, hielt sie aber vorerst geheim: die sog. Schwabacher Artikel (vgl. § 15; 2.2.2). Ihnen stimmte Brandenburg-Ansbach zu bei einem Treffen mit Kursachsen am 3.-7.10.
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in Schleiz/Vogtland (bewußt parallel zum Marburger Religionsgespräch, um Phitipp auszuschließen). Damit gab es ein sächsisch-fränkisches Glaubensbekenntnis, so daß hier der lutherische Konfessionstyp seine erste reichspolitische Ausprägung erhielt. Markgraf Georg lehnte wie Nürnberg den Bündnisplan i.Gr. generell ab, tat das aber nicht kund. 3.2.3 Zwischenzeitlich fand am 1.-4.10. das Marburger Religionsgespräch statt, an dem zahlreiche Theologen und Politiker teilnahmen. Nach Phitipps Plan sollte es keine Disputation mit Siegern und Besiegten, sondern ein gütlicher Meinungsaustausch mit dem Ziel einer Verständigung sein. Erstmals in der Reformationsgeschichte wurde damit ein solches Instrumentarium eingesetzt. Es sollte die Grundlage für das Bündnis liefern; deswegen drängte der Landgraf auf Einigungsformeln für die Abendmahlslehre (vergeblich) und bat Lother um die Formulierung gemeinsamer Glaubenssätze, der sog. Marburger Artikel (s. dazu§ 15; 4.2.6). 3.2.4 Aufdem vereinbarten Tag in Schwabach am 16.-19.10. stieß Phitipps Vorschlag, die Marburger Artikel als Bekenntnisgrundlage des Bündnisses zu nehmen, auf Ablehnung. Vielmehr präsentierten Sachsen und Franken ihre sog. Schwabacher Artikel, die erwartungsgemäß von Straßburg und Ulm abgelehnt wurden. Angesichts der Behandlung der protestantischen Gesandtschaft durch Karl V. (s. 3.1.2) und des kaiserlichen Befehls, den Speyerer Mehrheitsbeschluß zu akzeptieren, traf man sich nochmals am 28.11.- 4.12. in Schmalkalden. Nun zeigte sich definitiv, daß die sächsische Bekenntnispolitik die gesamtprotestantische Bündnisplanung zunichte machte. Denn Nürnberg erklärte, ohne die anderen Reichsstädte kein Bündnis einzugehen, und Brandenburg-Ansbach wollte ohne Nürnberg nicht. 3.2.5 Bei der Kontroverse spielte die Widerstandsproblematik zunehmend eine Rolle. Seit 1523 hatte man sie diskutiert (vgl. § 11; 9.1.1), nun gewann sie an Brisanz, weil man womöglich gegen den Kaiser militärisch vorgehen mußte: Galt dieser als Obrigkeit, der man auch im Religionskonflikt Gehorsam leisten mußte, oder als Feind des Evangeliums, dem man widerstehen durfte? Phitipp von Hessen hielt gewaltsamen Widerstand für religiös legitim, weil eine christliche Obrigkeit ihre Untertanen gegen die Unterdrückung des Evangeliums schützen müsse. Die kursächsischen Räte und Theologen wie Bugenhagen und Amsdorff hielten ein Widerstandsrecht der Fürsten für politisch legitim, weil diese die Obrigkeit gemäß Röm 13 seien und weil der Kaiser nur eine aus ihrer Macht abgeleitete Obrigkeitsgewalt besitze und sich gegen Gott stelle. Doch die Franken - besonders nachdrücklich Lazarus Spengler votierten gegen ein Widerstandsrecht und damit gegen bewaffneten Schutz der evangelischen Sache. Nur leidender Ungehorsam wäre legitim. Johannes Brenz als theologischer Berater des Markgrafen unterstützte diese Auffassung. Demnach fehlten auch in dieser Hinsicht die Grundlagen für ein Bündnis, wie sich auf dem Tag zu Nürnberg (2.-12.1.1530) zeigte. 3.3 Literatur H. BORNKAMM: Die Geburtsstunde des Protestantismus: Die Protestation von Speyer (1529), in: Ders.: Das Jahrhundert der Reformation, 2.A. 1966, 112-125. - W. KÖHLER: Das Marburger Religionsgespräch 1529, 1929. - J. KÜHN: Die Geschichte des Speyrer Reichstages 1529, 1929. - G. MAY: Marburger Religionsgespräch, TRE 22 (1992) 75-79 (Lit.!). - G. SCHMIDT: Protestation von Speyer, TRE 27 (1997) 580-582. - H. V. SCHUBERT: Bündnis und Bekenntnis 1529/30, 1908. - DERS.: Bekenntnisbildung und Religionspolitik 1529/30 (1524-1534), 1910. - E. WOLGAST: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, 1977.
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4. Gescheiterter Verständigungsversuch: Der Augsburger Reichstag 1530 Karls V. Weltmonarchieanspruch implizierte die Vorstellung, als Kaiser für Einheit und Erneuerung der Kirche eintreten zu müssen: einerseits durch die Ausschaltung der lutherischen Häresie, andererseits durch das allgemeine Konzil und schließlich durch Abwehr der Türkengefahr als Schutzherr der Christenheit. Diese drei Ziele bestimmten sein - erstmals seit 1521 erfolgendes - persönliches Eingreifen in die Reichspolitik. Sie liefen i. Gr. auf einen Religionskrieg gegen die Protestanten hinaus, doch der war eine derzeit finanziell wie politisch unmögliche Lösung. Deswegen versuchte Karl, durch kaiserlichen Richterspruch den Religionsstreit zu schlichten, und signalisierte den Protestanten eine gewisse Verständigungsbereitschaft. Damit gab er den Anstoß zur Entstehung des Augsburger Bekenntnisses (der Confessio Augustana), welches als gemeinsame Lehrgrundlage des deutschen Protestantismus zu dessen konfessioneller Vereinheitlichung wesentlieh beitrug und die Kirchenspaltung langfristig festigte. Eine Verständigung erwies sich trotz intensiver theologischer Gespräche auf dem Reichstag als unmöglich. Die Chance, durch eine nationalkirchliche Reform die strittige Glaubensfrage zu lösen und die Reichseinheit zu bewahren, war vertan. Spätere Versuche in dieser Richtung blieben ebenfalls erfolglos (s. 8.2). 4.1 Theologische Verteidigung der Reformation: Die Confessio Augustana Die kaiserliche Einladung erweckte bei evangelischen Reichsständen das produktive Mißverständnis, es könnte - entgegen dem Reichsabschied von 1529 - auf dem Reichstag zu Ausburg zu einer gütlichen Einigung mitsamt Duldung der bisher vorgenommenen Reformation kommen. Das paßte sowohl zu ihrer reichstreuen Grundeinstellung als auch zu der relativ konservativen Form ihrer kirchlichen Veränderungen. Der sächsische Kurfürst Johann ließ von den Wittenberger Theologen eine Apologie vorbereiten, welche die bisherigen Neuerungen als eine in der biblisch-kirchlichen Lehre fundierte Behebung von Mißständen verteidigte. Als theologischer Kopf der sächsischen Bekenntnisarbeit und Ausgleichspolitik trat nun Philipp Melanchthon hervor. In Augsburg erwies sich eine konzeptionelle Umorientierung als erforderlich: eine stärkere Betonung der evangelischen Katholizität i.S. einer Übereinstimmung mit der kirchlichen Tradition und eine Veränderung des partikular-sächsischen, apologetischen Charakters. So fertigte Melanchthon, z. T. in Absprache mit anderen Theologen, im Mai-Juni 1530 den Text einer zweiteiligen Confessio an, welche zunächst die dogmatische Legitimität der evangelischen Lehren anband von angeblich unstrittigen Hauptartikeln aufwies, sodann die praktischen Reformen als notwendige Abstellung von lehrmäßig unhaltbaren Mißständen rechtfertigte und diese als die eigentlichen Streitpunkte darstellte (vgl. § 15; 3.1-5). Das Bekenntnis war ein politisches Dokument, insofern es sich auf die Verhandlungssituation des Reichstages bezog und seine Träger die Obrigkeiten waren. Es war zugleich eine theologische Meisterleistung, weil es die wesentlichen Grundsätze der evangelischen Position prägnant formulierte.
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Die Confessio Augustana (CA) entstand in einer deutschen Fassung, die zur Verlesung vor dem Reichstag bestimmt war, und in einer lateinischen Fassung für die angestrebten Gespräche mit den altgläubigen Theologen. Erst in der Endphase der Ausarbeitung trat Landgraf Philipp von Hessen zum Kreis der Unterzeichner hinzu; er setzte durch, daß man sich mit der CA nicht dem Richterspruch des Kaisers unterwerfen sollte, sondern für den Fall eines Scheiterns der Verständigung an ein Generalkonzil appellierte. Denn er hielt eine gütliche theologische Einigung weder für erreichbar noch für politisch zweckmäßig; er hatte seinen Plan eines antihabsburgischen Protestantenbündnisses nicht aufgegeben und mißtraute der Taktik Karls V. Ein nicht geringer Erfolg der evangelischen Reichsstände bestand darin, daß sie entgegen Karls Konzept die Reihenfolge der Verhandlungsgegenstände umkehren konnten: Bevor über die Türkenhilfe, die Finanzierung der militärischen Abwehrmaßnahmen durch die Reichsstände, beraten würde, müßte ein Einvernehmen über die Glaubensfrage hergestellt werden; scheiterte das, könnte man ersteres verweigern. Somit verfügten die Protestanten über ein Druckmittel, das sich in der konfliktgeladenen Atmosphäre der Reichstagsverhandlungen als hilfreich erwies. Reichsrechtlich war ihr Bekenntnis eine Eingabe an den Kaiser; daß es diesem und den Reichsständen ausführlich vorgetragen wurde, gab ihm größeres Gewicht. Der Trägerkreis war mit fünf Fürstentümern und zwei Reichsstädten eine Minorität; er entsprach i. w. den protestierenden Ständen von Speyer 1529. Die politische Bedeutung der CA reichte weit über den Augsburger Verwendungszweck hinaus. Der Sachverhalt, daß sie reichsrechtlich ein Bekenntnis der Obrigkeiten war, die damit Rechenschaft über die von ihnen vorgenommene Kirchenveränderung ablegten, entsprach der Territorialisierung der Reformation seit 1526, welche nunmehr ein dogmatisches Fundament bekam. 4.1.1 Aus Bologna, wo er sich nach dem Sieg über Frankreich von Clemens VII. zum Kaiser krönen ließ, richtete Karl V. sein Reichstagsausschreiben vom 21.1.1530 an die einzelnen Stände. Dieses nannte als Verhandlungsgegenstand neben der Türkengefahr den zwispalt . . . in dem heiligen glauben mit der Zielangabe, ains yeglichen gutbeduncken, opinion und maynung
... in liebe und gutligkait zuhoren ... , die zu ainer ainigen Christlichen warhait zubrengen und zuvergleichen; alles, was auf beiden Seiten nicht recht ausgelegt oder gehandelt worden sei, sollte abgetan werden, um die Einheit der Religion zu halten (Text: Förstemann Bd.l, 7f). Die berühmte Formulierung, ein Zeugnis diplomatischer Taktik, schien gegenüber dem Reichsabschied von 1529 eine Kurskorrektur zu signalisieren. Johann von Sachsen verstand sie als Aufforderung, seine reformatorische Kirchenpolitik darzulegen; fiir die geplante Apologie - die sog. Torgauer Artikel - kamenjedoch nur einzelne Vorarbeiten zu Themen wie z.B. Messe, Laienkelch, Priesterehe, Klöster, Bischofsamt zustande, die man nach Augsburg mitnahm und dort weiter bearbeitete (Wittenberger Gutachten A-E bei Försternarm Bd.l, 66-84. 93-108). 4.1.2 Erstmals wuchs den Theologen eine hervorragende Rolle auf einem Reichstag zu. Alle Stände rüsteten sich deshalb entsprechend. Da Luther als Geächteter nicht in Augsburg erscheinen konnte, fiel Melanchthon die Führung zu. Um Luther nahe erreichbar konsultieren zu können, ließ der Kurfiirst ihn in seiner Festung Coburg zurück. Durch briefliche Kontakte konnte Luther einen gewissen Einfluß nehmen, den er auch publizistisch ausübte: so durch seine Vermahnung An die gantze geistligkeit zu Augsburg ... , eine polemische Flugschrift gegen die Bischöfe und Prälaten als Repräsentanten einer verdorbenen Kirchlichkeit (Text: WA 30 II, 268-356). Während er konsequent eine Abgrenzung befiirwortete, setzte sich Melanchthon intensiv fiir eine Verständigung i.S. des kaiserlichen Ausschreibens ein. Bei der Formulierung der sächsischen Apologie beriet dieser sich u.a. mit Georg Spalatin, Justus Jonas und Gregor
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Brück; mit dem Augsburger Reichstag entwickelte er sich zu einem Theologiepolitiker, der die Einheit der Kirche zu retten versuchte. Seine Diplomatie bei der Ausarbeitung des Bekenntnisses seit Anfang Mai 1530 hat Luther als Leisetreterei nicht kritisiert, sondern anerkannt. 4.1.3 Als die kursächsische Delegation in Augsburg eintraf, wurde ein Buch Johannes Ecks verbreitet, das in 404 Artikeln anhand von Zitaten aus Luthers und Melanchthons Schriften deren Ketzerei in Übereinstimmung mit Wiedertäufern und Zwinglianern nachweisen wollte (Text hg.v. W.Gußmann, 1930). Das hatte zur Folge, daß Melanchthon die bisherige Konzentration auf die Verteidigung reformatorischer Praxis durch dogmatische Ausfiihrungen, v.a. durch eine Abgrenzung gegenüber jenen Radikaleren im evangelischem Lager ergänzen mußte. Dazu nötigte auch der fehlgeschlagene Versuch des Kurfiirsten, den inzwischen bis Innsbruck angereisten Kaiser von seiner Rechtgläubigkeit zu überzeugen (Vorlage der sog. Schwabacher Artikel durch eine Gesandtschaft). Nun mußten - unter Beibehaltung der apologetischen Grundkonzeption -die dogmatischen Differenzen angesprochen werden, aber so, daß die evangelischen Lehren als legitime Interpretation von Schrift und Kirchenvätern erschienen. Ferner war nach dem Scheitern sächsischer Sonderverhandlungen die Rechenschaftslegung gesamtevangelisch zu gestalten. Dies leistete Melanchthon seit Mitte Mai 1530, indem er der bisherigen Apologie (der Überarbeitung der sog. Torgauer Artikel), die die Abschaffung der Mißbräuche (Meßopfer, Zölibat, Fastengebote etc.) verteidigte, als ersten Teil eine sorgfältige Neuformulierung der Schwabacher Artikel zufiigte. Er beriet sich dabei mit anderen evangelischen Theologen, v.a. Andreas Osiander, Johannes Brenz, Erhard Sehnepfund Johann Rurer. Die Verbindung mit Nürnberg und Brandenburg-Ansbach kam nun zum Tragen. Die Unterschiede zur zwinglianischen Position wurde aufgezeigt. (Zum Inhalt der CA s. § 15; 3.1-5.) 4.1.4 Daß Kar! V. keine gütliche Verständigung unter Gleichberechtigten intendierte, wurde spätestens bei seinem Einzug in Augsburg am 15.6.1530 deutlich. Wegen der seit Wochen eskalierenden Kanzelpolemik der Prediger beider Parteien erließ er ein - zunächst nur fiir die Evangelischen, dann fiir alle geltendes - Predigtverbot. Seine Aufforderung an die Protestanten, an der Fronleichnamsprozession teilzunehmen, stürzte diese in einen Konflikt zwischen politischer Loyalität und religiöser Ablehnung; Kar! verzichtete ungnädig auf ihre Teilnahme. Schroff traten die Gegensätze auch bei der Eröffnungsmesse zum Reichstagsbeginn am 20.6. und bei der Aussprache über die Verhandlungsgegenstände hervor. Die Konfliktsituation fiihrte dazu, daß Gregor Brück (s. 2.2.1) aufgrund der Beratungen mit den Fürsten eine neue, politisch orientierte Vorrede für die CA verfaßte. Diese betonte die Gleichberechtigung beider Religionsparteien, legte eine Rechtsverwahrung gegen eine eventuelle Majorisierung ein und ließ die Möglichkeit der Appellation an ein papstfreies Konzil offen. 4.1.5 Die Protestanten durften ihre Confessio nicht in einer offiziellen Reichstagssitzung, sondern nur in einer Sonderversammlung verlesen. Dies tat der jüngere kursächsische Kanzler Christian Beyer am 25.6. im bischöflichen Palast, wo der Kaiser residierte. Unterzeichner und damit Subjekte des Bekennens waren: Kurfiirst Johann von Sachsen und sein Bruder Johann Friedrich, Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, Herzog Ernst von BraunschweigLüneburg und dessen Bruder Franz, Landgraf Philipp von Hessen, Fürst Wolfgang von Anhalt(-Köthen), die Bürgermeister und Räte von Nürnberg und Reutlingen. Mitte Juli traten diesem Kreis die Reichsstädte Heilbronn, Kempten, Windsheim und Weißenburg (Franken) bei. Einen einheitlichen Titel besaß das an den Kaiser adressierte Bekenntnis ursprünglich nicht. Die nichtautorisierten Drucke von 1530 nannten es Anzeigung und bekantnus des Glaubens und der lere ... bzw. Confessio ... , Melanchthons Editio princeps von 1531 dagegen Confessio od-
der Bekantnus des Glaubens etlicher Fürsten und Stedte, uberantwort Keiserlicher Maiestar zu Augsburg bzw. Confessio Fidei exhibita ... in comitiis Augustae (Text: BSLK 44-137). Nicht offiziell vorgelesen, sondern als Eingabe zu den Reichstagsakten genommen wurde die sog. Confutio Tetrapolitana, das Bekenntnis der vier Städte Straßburg, Konstanz, Memmingen und Lindau; analoges galt fiir Zwinglis Fidei ratio (s. § 15; 2.1.1; 2.5.1).
4.2 Verfestigung des religiösen Gegensatzes Es war den Protestanten nicht gelungen durchzusetzen, daß auch die altgläubige Ständemehrheit eine Darstellung ihrer Position formulieren müßte. Diese lehnte eine Gleichbehandlung ab, weil sie von der kirchlichen Wahrheit nicht abgewi-
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eben wäre. Eine gleichberechtigte Verhandlung über die Religionsfrage war damit von vornherein ausgeschlossen, die evangelischen Reichsstände befanden sich in der Defensive. Gemäß seiner Absicht, auf die evangelische Confessio mit kaiserlichem Richterspruch zu reagieren und die Legitimität ihres Anliegens zu negieren, kooperierte Karl V. mit den katholischen Ständen. Deren theologische Berater wollten die Protestanten reichsoffiziell als Häretiker entlarven; nach langwierigen Anläufen verfaßten sie jedoch eine maßvolle Confutatio/Widerlegung der CA. Diese galt als autoritative Stellungnahme des Kaisers, der die Erwartung aussprach, die Protestanten würden nunmehr von ihrem Irrtum abstehen; aber diese fügten sich keineswegs. Da der Kaiser nicht sogleich Gewalt ankündigen konnte, um seinen Richterspruch durchzusetzen, und da er seinen Konzilsplan -die notwendige Ergänzung der Unterdrückung - nicht gegen die Bedenken der römischen Kurie und des päpstlichen Legaten durchsetzen konnte, blieb nur der Weg, die Protestanten durch theologische Ausgleichsverhandlungen zum Einlenken zu bewegen. So kam erstmalig ein Religionsgespräch als Instrument der Reichspolitik zustande, um die Lehrgegensätze zu überbrücken. Eine teilweise Verständigung schien möglich, scheiterte jedoch einerseits v. a. an den politischen Interessen der Kurie und der deutschen Bischöfe, andererseits v.a. an der dogmatischen Kompromißlosigkeit Luthers und etlicher evangelischer Stände. Sie war allerdings in der Sache nicht klar genug. Die Protestanten lehnten die kaiserliche Erklärung, daß ihr Bekenntnis widerlegt wäre, ab; sie wollten das mit einer von Melanchthon verfaßten Apologie der CA gegenüber dem Kaiser begründen, doch dieser nahm den Text nicht entgegen. Der von den katholischen Ständen gebilligte Reichsabschied erneuerte das seit 1521 geltende Reformationsverbot. Hinsichtlich der Türkenhilfe kam kein Beschluß zustande. Karls Versuch, die religiöse Einheit des Reiches wiederherzustellen, war gescheitert. Die nunmehr notorisch manifestierte Aufspaltung in zwei gegensätzliche Religionsparteien bestimmte fortan die Reichspolitik. 4.2.1 Die katholischen Reichsstände hatten mehr als 20 gut vorbereitete Theologen nach Augsburg mitgenommen, u.a. Eck, Wimpina, Cochläus, Fabri, Pflug und Arnoldi von Usingen. Die Auseinandersetzung der Kontroverstheologen mit den evangelischen Lehren bestand seit 1518 darin, diese in Form von Häresienkatalogen als längst verurteilte Irrtümer zu erweisen (so auch Ecks 404 Artikel; vgl. 4.1.3). In gleicher Weise erstellte die von Karl V. und den altgläubigen Ständen beauftragte Kommission zunächst einen Kommentar zu jedem CA-Artikel. Da diese sog. Responsio theologorum für eine Verlesung vor dem Reichstag zu umfangreich war, erarbeitete man unter Fabris Leitung eine kürzere Verurteilung der lutherischen Häresien, die sog. Catholica responsio/katholische Antwon. Die lehnte der Kaiser jedoch als zu polemisch ab. Nach dem 16. Juli nahm man einen neuen Anlaufund fertigtejeweils kurze, um Objektivität bemühte Stellungnahmen zu den CA-Artikeln an: die Confutatio, die kaiserliche Widerlegung des von den evangelischen Ständen vorgelegten Bekenntnisses. Ihr deutscher Text wurde auf einer förmlichen Reichstagssitzung am 3.8.1530 verlesen (lat.-dt.: hg.v. H. Immenkötter 74-207). Um jede weitere Diskussion zu unterbinden, wurde den Protestanten kein Text ausgehändigt. Deren Erklärung, nicht widerlegt zu sein, machte jedoch neue Verhandlungen nötig, die zunächst auf ihre Zustimmung zur Confutatio zielten. 4.2.2 Die Confutatio gab eine differenzierte Beurteilung der CA. Etlichen Artikeln stimmte sie zu, in der Rechtfertigungs- und Sakramentenlehre fand sie erhebliche Ansätze für Gemeinsamkeiten, allerdings auch unüberbrückbare Gegensätze. Damit entsprach sie dem Konzept des
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päpstlichen Legaten Lorenzo Campeggio (1474-1539), den Protestanten notfalls gewisse Konzessionen zu machen, um sie zur Anerkennung der Papsthoheit zu bringen und um Karls Konzilsplan zu torpedieren. Der Jurist und Diplomat, bester Deutschlandkenner der Kurie, hat den Verlauf der Augsburger Verhandlungen stark mitbestimmt. Schon im Juni/Juli signalisierte er in Sondergesprächen mit Melanchthon Entgegenkommen. Auf Varschlag der evangelischen Stände diskutierten seit dem 16.8. Delegationen beider Seiten in Ausschüssen mit Politikern und Theologen über die Artikel der CA. In der strittigen Erbsünden- und Rechtfertigungslehre kamen sich v .a. Eck und Melanchthon erstaunlich nahe. Doch bei allen Artikeln, welche strukturelle und rechtliche Änderungen vorsahen (z.B. Meßopfer, Laienkelch, Zölibat, bischöfliche Jurisdiktion), war ein Kompromiß unmöglich. So mußte man am 31.8. dem Kaiser und den Reichsständen das Scheitern der Verhandlungen mitteilen. Die anschließenden Sondergespräche einzelner - auch des Kaisers mit evangelischen Fürsten - im September erbrachten zwar interessante Hinweise auf politische Lösungsmöglichkeiten, aber keine Ergebnisse. 4.2.3 Die Verhandlung über den Reichsabschiedsentwurf am 22./23.9. bestätigte das Scheitern des Reichstages. Kar! V. erklärte definitiv die evangelische Confessio für widerlegt (auch das Bekenntnis der vier Städte; s. 4.1.5). Er gab den Protestanten Bedenkzeit, in den strittigen Glaubensfragen zur katholischen Lehre zurückzukehren; sie dürften keine weiteren Anhänger zu ihrer Sekte hinzuziehen und keine neuen theologischen Veröffentlichungen dulden. Die evangelischen Stände wiesen das zurück und übergaben zur Begründung die v .a. von Melanchthon entworfene Apologie der CA. (Später hat Melanchthon diesen Text gründlich überarbeitet; s. § 15; 2.4.1-2.) Als Sprecher des Kaisers drohte Kurfürst Joachim I. von Brandenburg den protestantischen Aufrührern mit Gewaltmaßnahmen. Nach deren Abreise wurde der Reichsabschied am 19.11. verkündet; er enthielt u.a. ein religionspolitisches Programm (Text: AQDGNZ 16, 501-520; vgl. KTGQ 3, 177f): 1. Das Wormser Edikt wurde bekräftigt, jede weitere kirchliche Neuerung verboten und das alte Kirchenwesen unter den Schutz des Landfriedens gestellt; das galt insbesondere für die Klöster- und Kirchengüter, die - sofern säkularisiert oder zerstört - von den Protestanten restituiert werden mußten. Mit der Androhung der Reichsacht rückte die kaiserliche Gewaltanwendung in den Bereich des Möglichen, zumindest aber die gerichtliche Verfolgung durch das soeben erneuerte Reichskammergericht - 2. Besondere Ablehnung traf die Sakramentsverächter (d.h. die Zwinglianer und Straßburger), Bilderstürmer und Wiedertäufer. - 3. Das Gebot, beim alten Glauben und bei den herkömmlichen Ordnungen der Kirche zu bleiben, wurde durch einen ausführlichen Katalog von Irrlehren einerseits, rechten Lehren andererseits spezifiziert. - 4. Den Altgläubigen in evangelischen Territorien sollte freie Religionsausübung ermöglicht werden. - 5. Zur Abstellung von Mißbräuchen sollte der Papst ein allgemeines Konzil innerhalb von sechs Monaten nach Reichstagsende einberufen. - 6. Gleichsam als Vorgriff darauf - wohl angesichts der Unwahrscheinlichkeit einer Realisierung des Konzilsplans - wurden Reformmaßnahmen gefordert, z.B. hinsichtlich Lebenswandel und Bildungsstand der Kleriker; die Prediger sollten überall das Evangelium nach Auslegung der Heiligen Schrift und der kirchlich approbierten Lehrer verkündigen (eine typisch reformkatholische Parole jener Zeit). 4.3 Literatur QUELLEN: K.E. FÖRSTEMANN: Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, 2 Bde., 1833-35; ND 1966. -Confessio Augustana; Tetrapolitana; Fidei Ratio s. 4.1.5-6. -Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, bearb.v. H. IMMENKÖTTER, 1979. - J.G. WALCH (Hg.): Dr. Martin Luthers Schriften Bd.16, 1747; ND 1986, 612-1767. H. GRUNDMANN: Landgraf Philipp von Hessen auf dem Augsburger Reichstag 1530, 1959. - H. IMMENKÖTTER: Um die Einheit im Glauben. Die Unionsverhandlungen des Augsburger Reichstages im August und September 1530, 1973. - DERS./G. WENZ (Hg.): Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstages 1530 im historischen Kontext, 1997. - E. ISERLOH (Hg.): Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche, 1980. - B. LOHSE/H. IMMENKÖTTER/A. SPERL: Augsburger Bekenntnis 1-111, TRE 4 (1979) 616-639 (Lit.). - W. MAURER: Historischer Kommentar zur Confessio Augustana Bd.1, 1976, 18-70. - P. RAssow: Die Kaiser-Idee Karls V., dargestellt an der Politik der Jahre 1525 bis 1540, 1932. - H. V. SCHUBERT: Der Reichstag von Augsburg im Zusammenhang der Reformationsgeschichte, 1930. - J. V. WALTER: Der Reichstag zu Augsburg 1530, LuJ 12 (1930) 1-90. - G. WENZ: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Bd.1, 1996, 351-498.
4. Augsburger Reichstag 1530 I 5. Etablierung des Protestantismus seit 1531/32
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5. Etablierung des Protestantismus seit 1531132 Die gegen das kaiserliche Reformationsverbot protestierenden Reichsstände sicherten sich durch den sog. Schmalkaldischen Bund vor dem befürchteten Religionskrieg. Das zunehmende politische Gewicht des Bundes begünstigte eine enorme Ausbreitung der Reformation während weniger Jahre in vielen Territorien und Städten (vgl. 6.1-5). Auch in innerkirchlicher Hinsicht, d.h. im Blick auf die Fixierung von Lehre und Ordnung, trat der Protestantismus in eine entscheidende Konsolidierungsphase ein. Die ganze Entwicklung wurde wieder begünstigt durch die außenpolitische Situation, insbesondere den Krieg mit Frankreich und die Türkengefahr. Die habsburgischen Großmachtinteressen geboten möglichste Ruhe im Reich, und der Preis für diese war eine faktische Duldung der Ketzer.
5.1 Der Schmalkaldische Bund als neuer Machtfaktor Nachdem die Ergebnislosigkeit des Augsburger Reichstages im Herbst 1530 erneut die bedrohliche Situation zeigte, wurden die gescheiterten Bündnisverhandlungen wiederaufgenommen. Sie wurden dadurch erleichtert, daß man nun mit der CA eine konsensstiftende Grundlage besaß und daß Hessen und Kursachsen als treibende Kräfte sich hinsichtlich des Widerstandsrechts verständigten. Die Mitglieder des Bündnisses von 1526 (s. 1.1.2) und einige oberdeutsche Reichsstädte beschlossen in Schmalkaiden einen militärischen Defensivbund zum Schutz vor Angriffen wegen der Religion. Die Vertragsratifizierung erfolgte im Frühjahr 1531. Damit stand das äußere Gerüst der Vereinbarung; in der Folgezeit gab es jedoch noch mancherlei Verhandlungen wegen der organisatorischen und finanziellen Regelungen, so daß die Gründung des Schmalkaldischen Bundes ein fließender Vorgang war. Er entwickelte sich rasch zu einem bedeutenden Machtfaktor. Der sächsische Kurfürst (seit 1532: Johann Friedrich) und der hessische Landgraf Philipp waren die Bundeshauptleute und politischen Wortführer im Reich. Da dessen Funktionsfähigkeit durch den separaten Zusammenschluß tangiert wurde, machte der Bund die konstitutionelle Schwäche des Reiches sowie den Dualismus von Zentralgewalt und Partikularmächten signifikant deutlich. Der Bund sorgte in einer Zeit permanent-latenter Bedrohung für die Bewahrung der evangelischen Konfession und für Rückhalt beim Vordringen der Reformation in bisher katholischen Gebieten. Wegen seines Gegensatzes gegen die imperiale Politik des Hauses Habsburg entwickelte er sich allmählich zu einem Element, das auch in der europäischen Politik Beachtung fand, insbesondere bei Frankreich und Dänemark. 5.1.1 Den Bundesschluß betrieb Philipp von Hessen in herausragender Weise, der im übrigen seinen älteren Plan durch Besiegelung eines Burgrechts, eines Bündnisses mit Zürich, Basel und Straßburg am 18.11.1530 realisierte. (Die Züricher Niederlage 1531 und Zwinglis Tod relativierten dessen Wert erheblich; vgl. § 13; 2.3.) Philipp drängte den alten Kurfiirsten Johann - dessen Sohn Johann Friedrich aufgeschlossener fiir die Bündnispläne war - zur Absprache über einen Vertragstext auf einem Tag in Schmalkaiden vom 22.-31.12.1530. An dem Abschied (Text: Fabian 11-17) beteiligten sich der Herzog von Braunschweig-Lüneburg, die Fürsten von Anhalt und Braunschweig-Grubenhagen, die Grafen von Mansfeld und die Vertreter der Städte Magdeburg und Bremen. Als weitere Mitglieder, die durch Unterschrift unter
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die auf den 27.2.1531 datierte Urkunde beitraten, kamen sukzessive Reichsstädte hinzu: Ulm, Straßburg, Konstanz, Reutlingen, Memmingen, Lindau, Lübeck, Goslar u.a. Die dogmatischen Bedenken, die sie z.T. hatten (vgl. 3.2.4; § 15; 4.2.6), traten zurück. Weitere Mitglieder standen in Aussicht, z.B. Mecklenburg und Pommern. Wegen grundsätzlicher Bedenken traten Brandenburg-Ansbach und Nürnberg nicht bei (vgl. 3.2.2; 3.2.5). Die später protestantisch werdenden Territorien schlossen sich meist dem Bund an, was diesen beträchtlich stärkte. 5.1.2 Die Diskussion über das Widerstandsrecht wurde intensiv fortgesetzt. Als bedeutsam erwies sich, daß Luther im Herbst 1530 seine bisherige Ablehnung aufgab und den Argumenten der Juristen (v .a. Brücks) folgte, wonach a) das kaiserliche Recht selber die Möglichkeit vorsehe, bei offenkundigem Unrecht dem Kaiser Widerstand zu leisten, und b) die Reichsfürsten keine Untertanen des Kaisers, sondern zusammen mit diesem die Träger der Reichsregierung seien und sich daher dessen Politik widersetzen dürften. Diese Position tat er nach Publikation des Augsburger Reichsabschiedes im März 1531 öffentlich kund mit der Wamunge D. Martini Lutheri An seine lieben Deudschen (WA 30 ill, 276-320): Wenn der Kaiser gegen die Lutherischen wegen ihres Glaubens einen Krieg beginne, sei das ein ungerechter Krieg, so daß man den Gehorsam verweigern müßte; Gegenwehr sei dann kein Aufruhr, sondern legitim. Luthers Gutachten diente den Politikern bei der Schmalkaldener Tagung dazu, die Ablehnung des Widerstands durch die Nürnberger und Brandenburg-Ansbacher zu kritisieren. Das Thema blieb jedoch bis 1546 virulent. 5.1.3 Eine Besonderheit im Vergleich zu älteren Einigungen wie z.B. dem Schwäbischen Bund (s. 1.1.3) lag in der Beschränkung des Zweckes auf den Schutz der evangelischen Religion. Der Bund richtete sich nicht explizit gegen den Kaiser oder die altgläubigen Stände, hielt diese jedoch von möglichen Gewaltmaßnahmen gegen einzelne Mitglieder ab. Er vereinte Obrigkeiten, diente nicht dem Schutz einzelner evangelischer Gruppen (wie sich z.B. 1543 gegenüber den von ihrem Landesherrn bedrohten Protestanten des Bistums Metz zeigte). Faktisch griff die Bundespolitik - zumal diejenige Kursachsens und Hessens - über den religiösen Bereich hinaus. Das zeigte sich schon 1531, als der sächsische Kurfürst sich zum Sprecher der Opposition gegen die von Kar! V. durchgesetzte Königswahl Ferdinands machte. Die antihabsburgische Fürstenopposition schloß auf Anregung Bayerns 1532 den sog. Saalfelder Bund, der eine eigene Verfassung erhielt, dem u.a. Kursachsen, Hessen, Bayern, Frankreich, Dänemark angehörten, der sich aber schon 1534 auflöste. Diese internationale, überkonfessionelle Koalition machte deutlich, wie sich der Religionsstreit mit dem Gegensatz gegen die habsburgische Reichspolitik verband. (Vgl. dazu die Fürstenopposition von 1550ff: s. 10.1.3.) Die Einbeziehung Frankreichs und Englands in den Schmalkaldischen Bund scheiterte u.a. an der kaisenreuen Haltung Kursachsens (vgl. 5.2.1). 5.1.4 Nach längeren Verhandlungen 1533 kam eine Bundesverfassung zustande, welche allein der eilenden Rettung und Gegenwehr, d.h. der Absprache von Maßnahmen für den militärischen Ernstfall diente. Sie wurde 1536 revidiert. Der Bund wurde zunächst auf sechs Jahre geschlossen und dann verlängert. Seine Führung lag abwechselnd bei den beiden Hauptleuten (Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen) sowie bei dem von den Mitgliedern delegierten Kriegsrat und den Bundestagungen (Tagen). Er hatte wie damals üblich kein stehendes Heer, sondern eine Kriegskasse für die Anwerbung von Söldnern im Bedarfsfall. Eine organisatorische Schwäche bestand darin, daß er keine Kanzlei, kein Gericht und keinen festen Sitz besaß (Bundestagungen fanden nicht nur in Schmalkaiden statt). Zwar sah er kein bestimmtes Bekenntnis als theologische Verfassungsbasis vor, aber faktisch galt die Confessio Augustana seit 1535 als eine solche (1537 förmlich beschlossen; s. 5.3). Dadurch wurde deren reichsrechtliche Relevanz bekräftigt.
5.2 Begrenzte Duldung: Der Nürnberger Anstand 1532 Die reichspolitischen Auswirkungen des Bundesschlusses zeigten sich rasch. Der neue römische König Ferdinand I., nunmehr Statthalter Karls V. im Reich während dessen Abwesenheit (so 1532-41), bekam als Verhandlungspartner der Reichsstände zunehmendes Gewicht. Seine Interessen galten v .a. der Sicherung Österreichs, Böhmens und Ungarns; dabei spielte die Bemühung um ein - auch
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von den Protestanten zu finanzierendes - Reichsheer gegen die Türken eine wichtige Rolle. Er gewann deshalb Karl für ein taktisches Einlenken in der Reformationsfrage. Während der Reichstag in Regensburg 1532 u.a. über die Türkenhilfe beriet, vereinbarten kaiserliche Beauftragte und Vertreter des Schrnalkaldischen Bundes in Nürnberg, daß Karl den Evangelischen den Schutz des Landfriedens bis zum Konzil gewährte und damit die akute Bedrohung zurückstellte. Dieser sog. Anstand (d.h. Friedstand, Aufschub der legitimen gewaltsamen Durchsetzung des Rechts) vom Sommer 1532 erhielt zwar keine reichsrechtliche Verbindlichkeit, aber große Bedeutung für die weitere Reformationsgeschichte, weil er die 1530 angekündigte Durchsetzung des Wormser Edikts suspendierte. Befristet tolerierte der Kaiser implizit die bisherige Kirchenveränderung in den evangelischen Territorien und Städten i.S. eines Moratoriums. Über diesen begrenzten Zweck hinaus begünstigte das Abkommen die Konsolidierung und Verbreitung der Reformation beträchtlich. Denn wegen der außenpolitischen Friktionen prolongierte sich der Schwebezustand über zehn Jahre lang, in denen schwer revidierbare Fakten geschaffen wurden. Während Karl und Ferdinand von ihm kurzfristig profitierten, nutzte er den Protestanten langfristig. 5.2.1 Entscheidende Verdienste um das Zustandekommen des Nürnberger Anstands erwarb sich Johann Friedrich (1503-54, später mit dem Beinamen Der Großmütige ausgezeichnet), Mitregent seines Vaters und seit August 1532 Kurfürst von Sachsen. Anders als Philipp von Hessen war er stets auf Ausgleich mit dem Haus Habsburg bedacht und ordnete er die theologischen Aspekte den machtpolitischen vor. Das führte dazu, daß er die Chancen der protestantischen Stärke nicht hinreichend ausnutzte und der kaiserlichen Diplomatie nicht gewachsen war. Er war ein überzeugter Anhänger der Lehre Luthers und förderte den Ausbau des evangelischen Kirchenwesens (z.B. durch Visitationen 1533-35), aber auch die Etablierung des landesherrlichen Kirchenregiments. 5.2.2 Die Königswahl Ferdinands fügte sich in Karls Konzeption universaler Herrschaft mit Regentscharten von Familienangehörigen in Kerngebieten des Imperiums ein (Niederlande: seine Tante Margaretha bzw. Schwester Maria; Spanien: seine Frau Isabella). Nach dem Tod seines zentralistisch regierenden Großkanzlers, Mercurino di Gattinara (1465-1530), übte maßgeblichen Einfluß auf Karls Europa-, Reichs- und Religionspolitik sein Minister Nicolas de Granvelle (Granvella, 1484-1550), ein Burgunder, aus. Granvelle erstrebte eine Vermittlung zwischen den Religionsparteien und formte die kaiserliche Politik maßgeblich mit. König Ferdinand I. (1503-64), ein energischer Gegenreformator in seinen Österreichischen Erb landen, war ohne jede Sympathie für die evangelische Religion, bemühte sich allerdings in der Reichspolitik um eine Entschärfung des Konflikts, weil er seine Position in Ungarn, Böhmen und Schlesien behaupten wollte. Ihm lag wenig an der Universalistischen Konzeption seines Bruders (einschließlich der Ausrottung der Ketzerei); deswegen befürwortete er ein pragmatisches Arrangement mit den protestantischen Reichsständen. 5.2.3 Dank Ferdinands Vorschlag verhandelten im Juni/Juli 1532 die Kurfürsten von Mainz und Pfalz zunächst in Schweinfurt, dann in Nürnberg mit Johann Friedrich von Sachsen und anderen Schmalkaldenern. Im Hintergrund standen u.a. die antihabsburgische Allianz mit Bayern und Frankreich (s. 5.1.3) sowie der Wunsch nach Beteiligung der Protestanten an der Türkenhilfe. Die Forderungen der evangelischen Stände liefen auf eine grundsätzliche Gleichberechtigung i.S. einer interimistischen Konfessionsparität hinaus: Sie wollten über die in der Confessio Augustana gerechtfertigten Zustände hinaus keine Neuerungen vornehmen bis zur Entscheidung der Glaubensfrage durch ein Generalkonzil, deren Geltung sie freilich dadurch einschränkten, daß die Konzilsbeschlüsse mit Gottes Wort übereinstimmen müßten (d.h. mit der evangelischen Grundposition); sie grenzten sich gemäß den altgläubigen Verurteilungen von 1529/30 gegen Wiedertäufer und Sakramentierer (Zwinglianer) ab. Ein derartiges Ent-
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gegenkommen lehnte Kar! V. jedoch ab, weil er nach wie vor darauf baute, im günstigen Moment die Religionsfrage gewaltsam zu lösen. Demgemäß entsprach er nicht der protestantischen Forderung nach Einstellung der Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht, welche die evangelischen Zugewinne aus Kirchen- und Klostergütern bedrohten. Vordergründig konzedierte er zwar eine Sistierung der Verfahren, aber faktisch ließ er den Prozeßkrieg weiterlaufen. Der politische Nutzen, den ihm der Nürnberger Anstand brachte, war beträchtlich: Die evangelischen Stände beteiligten sich an der Finanzierung des Türkenkriegs, der dazu führte, daß Sultan Suleirnans Vordringen in Ungarn aufgehalten wurde; sie lösten sich sukzessive von der Verbindung mit Bayern und Frankreich, so daß diese ihre antihabsburgische Machtpolitik für sich betreiben mußten.
5.3 Ablehnung des Konzils 1536/37 Seit 1520 spielte die Forderung nach einem allgemeinen Reformkonzil eine zentrale Rolle bei den Konflikten um die evangelische Bewegung. Die Konsolidierung der Reformation zeigte sich auch in dieser Hinsicht, als Papst Paul III. 1536 endlich die Einberufung eines Generalkonzils verkündete. Eingeladen wurden alle Bischöfe, Äbte und Prälaten (als Konzilsväter), ferner entsprechend der traditionellen Konzeption vom Corpus Christianum alle weltlichen Fürsten (als nicht stimmberechtigte Teilnehmer), auch die deutschen Protestanten. Letzteres war insofern erstaunlich, als sie in der päpstlichen Optik Lutheranhänger und damit eigentlich implizit verurteilte Ketzer waren. Sie gerieten in eine diplomatisch schwierige Lage, weil es sich nicht um das von ihnen geforderte (papst- )freie Konzil in deutschen Landen handelte und weil sie durch die bloße Annahme der Einladung sich der päpstlichen Schiedsrichterrolle und einer möglichen kaiserlichen Exekution unterwerfen würden. Nach intensiven Diskussionen setzte sich die Auffassung des sächsischen Kurfürsten und des hessischen Landgrafen durch, daß eine Konzilsteilnahme unmöglich wäre. Für diese Beratungen und zur Klärung der evangelischen Position fertigte Lother im Auftrag Johann Friedrichs ein theologisches Gutachten an (die später so bezeichneten "Schmalkaldischen Artikel"; s. § 15; 2.6.2-3). Im Februar 1537 beschlossen die Bundesmitglieder, sämtliche Fürsten und Städtevertreter samt ihren Theologen, in Schmalkaiden ihre prinzipielle Ablehnung, die auf eine Absage an das religionspolitische Konzept Karls V. hinauslief. Sie bekräftigten damit die konfessionelle Spaltung und das politische Selbstbewußtsein der Protestanten. Zu diesem Beschluß kam hinzu die Bestätigung der Confessio Augustana als einer alle Bundesmitglieder verpflichtenden Bekenntnisschrift und deren Ergänzung durch Melanchthons Traktat über den Primat des Papstes als offiziellen Bundestext (s. § 15; 2.6.4). 5.3.1 Trotz seiner strikten Ablehnung aller Konzilspläne hatte Papst Clemens VII. 1533 dem Druck Karls V. nachgegeben und bei einigen Königen und Fürsten deren Bereitschaft zur Teilnahme erkunden lassen. An der Weigerung Franz' I. von Frankreich war dieser Anlauf gescheitert, der den Konzilsplan allgemein publik machte und u.a. die Wittenberger Theologen zu ersten - grundsätzlich positiven - Gutachten veranlaßte. Die Zweifel an der Ernsthaftigkeit des päpstlichen Konzils- und Reformwillens waren weit verbreitet und dauerten noch lange an. Der neue Papst Paul 111. machte seit 1534 den Konzilsplan zum Teil seiner Reformpolitik und ließ 1535 durch seinen Nuntius Pietro Paolo Vergerio die deutschen Reichsstände darüber informieren. Vergerio drängte in Wittenberg Luther und Bugenhagen zur Zustimmung, stieß aber bei den Fürsten des Schrnalkaldischen Bundes auf größte Reserve. Trotz der überall geringen Bereitschaft ging Paul m. das Risiko ein, mit einer feierlichen Bulle vom 2.6.1536
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ein ökumenisches oder allgemeines Konzil für Mai 1537 nach Mantua einzuberufen. (Das war zwar eine Stadt, die zum Reich gehörte, aber nicht -wie vielfach gefordert- in Deutschland lag.) Als Ziele des Konzils gab die Bulle, die allen Einzuladenden durch Legaten zugestellt wurde, an: Reinigung der Kirche von Häresien [d.h. von der Reformation], Sittenreform, Herstellung des Friedens im Abendland, Kreuzzug zur Befreiung der von Ungläubigen [d.h. Türken] besetzten Gebiete, Heidenmission (Text: Volz, Urkunden 15-17). 5.3.2 Während Kurfürst Johann Friedrich und sein Berater Gregor Brück von vornherein für eine Ablehnung der Einladung eintraten, weil das Konzil unter päpstlicher Leitung nicht die seit langem verlangte Kirchenreform beschließen könnte, plädierten Luther und die anderen Wittenberger Theologen -wie auch die hessischen - trotzdem für eine Teilnahme, um vor diesem Forum die evangelische Wahrheit zu bekennen. Sie konnten sich jedoch gegen die Politiker nicht durchsetzen. Mancherlei Gutachten entstanden in den Kreisen der Schmalkaldener bis zur Bundestagung vom 10.2.-6.3.1537. Kar! V. war wegen der Mißerfolge im neuerlichen Krieg gegen Frankreich an Ruhe im Reich und daher an einer Konzilsteilnahme der Protestanten interessiert. Sein Vizekanzler Mattbias Held kam deswegen eigens nach Schmalkalden, konnte aber den Widerstand nicht überwinden; brüsk wurde dort der päpstliche Nuntius Petrus van der Vorst, der in Deutschland die Konzilsbulle zustellen mußte, abgefertigt. Der Konzilsplan scheiterte 1537/38 nicht wegen der protestantischen Verweigerung, sondern an der Absage Frankreichs, am Boykott des Herzogs von Mantua und an dem allgemein verbreiteten Desinteresse der Bischöfe, Prälaten etc. Erst 1545ff konnte er realisiert werden (vgl. § 16; 3.1.1). 5.4 Literatur R. AULINGER: Nürnberger Anstand, TRE 24 (1994) 707f. - E. BIZER: Reformationsgeschichte (s. § 12; 0) 92-101. - E. FABIAN: Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung 15291531133, 2.A. 1962. - DERS. (Hg.): Die Schmalkaldischen Bundesabschiede 1530-1532, 1958. - DERS. (Hg.): Die Schmalkaldischen Bundesabschiede 1533-1536, 1958. - H. JEDIN: Geschichte des Konzils von Trient Bd.1, 1949; 3.A. 1977, 216-286. - G. SCHLÜTTER-SCHINDLER: Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis, 1986. - H. VOLZ (Hg.): Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte von Martin Luthers Schmalkaldischen Artikeln (1536-1574), 1957. - E. WOLGAST: Theologie (s. 3.3) 165224. - DERS.: Das Konzil in den Erörterungen der kursächsischen Theologen und Politiker 1533-1537, ARG 73 (1982) 122-152. - 0. WINCKELMANN: Der Schmalkaldische Bund 1530-1532 und der Nürnberger Religionsfriede, 1892.
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6. Ausbreitung der Reformation 1530-45 Bis 1530 hatte die evangelische Bewegung große Teile der Bevölkerung erfaßt. Danach verdichtete sich die Entwicklung - reichspolitisch begünstigt durch den Schmalkaldischen Bund - zum Aufbau evangelischer Kirchenstrukturen, der meist durch den Erlaß von Kirchenordnungen für die betreffenden Territorien und Städte markiert war. Ausschlaggebend war jeweils die Entscheidung des Landesfürsten (bzw. in den Städten: des Rates), bei der verschiedene politische Motive einflossen. Allerdings blieb die allmähliche Ausgestaltung im evangelischen Geist eine längerfristige Aufgabe (vgl. 12.1-2 zur Konfessionalisierung); inhaltlich setzte sich immer stärker das Luthertum gegenüber anderen Positionen durch. Bei dem skizzierten Vorgang unterschied sich das nördliche und mittlere Deutschland vom Süden, wo die geistlichen Fürstentümer und die katholischen Mächte Bayern und Österreich dominierten. Es hing auch mit der Reichspolitik zusammen, daß die Reformation gerade jene traditionell kaiserfernen Regionen erfaßte; der Einfluß der Reichsorgane war im Süden viel unmittelbarer spürbar. Die spätere, für die deutsche Geschichte konstitutive Differenzierung zwischen einem evangelischen Norddeutschland und einem meist katholischen Süddeutschland kündigte sich seit 1530-45 an (mit Ausnahmen im Nordwesten, der für Karl V. wegen der Nähe zu den Niederlanden besonders wichtig war, und im Süden hinsichtlich des Protestantismus in Franken, Württemberg und den Reichsstädten). 6.1 Fürstenreformation und Städtereformation In Nord- und Mitteldeutschland wurde die rasche Durchführung der Reformation in vielen Territorien und Städten u.a. auch durch eine grundlegende Politisierung gefördert. Diese wies zwei unterschiedliche Formen auf. Für die Landesfürsten war es opportun, wegen des Ausbaus ihrer Machtposition gegenüber den Landständen das Kirchenwesen evangelisch umzugestalten und die Verfügung darüber sowie über die Stifts- und Klostergüter zu gewinnen. Die politische Chance, ein landesherrliches Kirchenregiment zu etablieren (vgl. § 17; 1.2-3) und so die staatliche Modernisierung und Zentralisierung zu fördern, verband sich jedoch oft mit der persönlichen Überzeugung der jeweiligen Fürsten. Die Reformation in Deutschland machte damit - in einer Periode reichspolitischer Unklarheit kräftige Fortschritte. Das zeigte sich deutlich z.B. in Pommern 1534/35 und im Herzogtum Sachsen 1539/40, traf aber auch für etliche kleinere Fürstentümer zu. Die Entscheidungen der Territorialstaaten waren nicht selten vorbereitet durch die Einführung der Reformation in den Städten. Dort verlief die Politisierung entgegengesetzt: Die Änderung der Kirchenstrukturen durch die Obrigkeit, welche spätmittelalterliche Einwirkungsbestrebungen durchsetzte, verband sich häufig mit einer bürgerlichen Beteiligung am Stadtregiment der Ratsaristokratie; denn dem evangelischen Gemeindeideal entsprach eine gewisse Demokratisierung des Staatswesens (die sich allerdings kaum irgendwo längerfristig behaupten konnte). Die ökonomisch starken, doch politisch schwachen Städte waren darauf angewiesen,
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den inneren Frieden zu bewahren. Da die sozialen Spannungen und Konflikte um das Stadtregiment sich mit den religiösen Gegensätzen verbanden, kam es mit der Einführung der Reformation oft zu einem Ausgleich durch Neuorientierung der gesamten Stadtgemeinschaft. Diese verstand sich traditionell als christliches Gemeinwesen mit weitgehender Integration von bürgerlichem und kirchlichem Leben, die infolge der evangelischen Strukturveränderungen gesteigert wurde. Allerdings bildete sich während des 16.Jh.s eine obrigkeitliche Kirchenhoheit des Rates heraus. Sogar in Bistümern und Reichsabteien breitete sich die evangelische Bewegung durch Übergang einiger Städte zur Reformation aus (z.B. Minden, Münster, Bremen, Stade, Magdeburg, Herford), während sie ansonsten inderartigen Gebieten keinen leichten Stand hatte. Auch in Territorien, deren Landesherren katholisch blieben, führten Städte vereinzelt evangelische Kirchenordnungen ein, so z.B. Soest, Lippstadt, Göttingen, Hannover. Die norddeutschen Reformatoren standen mehr oder weniger stark unter Luthers Einfluß, der auch die übrige Geistlichkeit prägte. Dem entsprach die Position Johannes Bugenhagens, der für die Schaffung evangelischer Strukturen im niederdeutschen Sprachraum (bis hinauf nach Dänemark) durch seine Kirchenordnungen große Bedeutung bekam. 6.1.1 Im Herzogtum Pommern verbreitete sich die evangelische Bewegung seit 1520/21 v.a. in den Städten, die eine selbständige Stellung beanspruchten. (Zu Stralsund s. § 11; 9.4.4.) Auch der Adel versuchte zunehmend die Reformation für den Ausbau seiner Position zu nutzen. Um ihre Landesherrschaft nicht zu gefährden, entschieden sich die religiös eher gleichgültigen Herzöge Barnim IX. und Philipp I. 1534 auf dem Höhepunkt der innenpolitischen Destabilisierung abrupt für die Einführung der Reformation: Der Landtag zu Treptow beschloß - trotz der Opposition des Adels, der die Stärkung herzoglicher Macht verhindern wollte -die evangelische Umgestaltung des Herzogtums; er beauftragte Johannes Bugenhagen - den Pomeranus, wie er wegen seiner Herkunft allgemein genannt wurde - mit der Erstellung einer Kirchenordnung (1535 in niederdt. Sprache; Text: EKO 4, 328-344; Text/Übers.: N. Buske/S. Pettke, 1985). Im Auftrag der weltlichen Obrigkeit baute Bugenhagen mit Hilfe von Visitationen eine lutherisch geprägte Pfarrerschaft und Kirchenstruktur auf. Generalsuperintendenten überwachten diese seit 1535. Der zuständige Bischof von Kammin duldete zwar die Aushöhlung seiner Jurisdiktionsgewalt, aber nicht die Einverleibung seines Stiftsgebiets (das die Herzöge dann seit 1556 durch Administratoren regierten). Die Säkularisierung der landbesitzenden Klöster verstärkte den durch das landesherrliche Kirchenregiment fundierten Machtzuwachs der Herzöge. Die verfallene Universität Greifswald wurde 1539 nach dem melanchthonianischen Bildungskonzept i.S. der lutherischen Lehre reorganisiert. 6.1.2 Der Einfluß der Fürsten zeigte sich signifikant an der abrupten Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen, das sich unter Georg dem Bärtigen 1500-39 zu einem Hort der katholischen Reform wie der antilutherischen Gegenreformation entwickelt hatte. Die dortige Wettinerdynastie der Albertiner herrschte seit der Landesteilung von 1485 im ständigen Machtkonflikt mit den Ernestinern in Kursachsen. Trotzdem schloß sich Georgs Bruder Herzog Heinrich (1473-1541, später Der Fromme genannt), durch seine Frau Katharina von Mecklenburg für den evangelischen Glauben gewonnen, mit seinen kleinen Separatherrschaften 1537 der Reformation und dem Schmalkaldischen Bund an. Er führte nach Georgs Tod in seiner kurzen Herrschaftszeit die Reformation in Anlehnung an Wittenberg ein: so im Sommer 1539 mit einer ersten Visitation und einer evangelischen Kirchenordnung (sog. Heinrichsagende), welche v.a. die Liturgie regelte (Texte: EKO 1, 257-281). Mit dem Aufbau einer evangelischen Kirchenleitung durch Superintendenten löste er sich rasch von der kursächsischernestinischen Beeinflussung. Heinrichs persönliche Frömmigkeit spielte gewiß eine wichtige Rolle, aber auch die Tatsache, daß er mit der Kirchenhoheit die landesherrliche Stellung gegenüber den mächtigen, oppositionellen Landständen ausbauen und daß er mit der Sequestration der Klostergüter seiner Finanzmisere aufhelfen konnte. Allerdings ließ er sich bei der
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praktischen Durchführung der Reformation Zeit. So verfuhr auch sein Sohn Moritz (1521-53), Herzog seit 1541, der zwar eine reformatorische Kirchenpolitik betreiben wollte, aber persönlich weniger von der evangelischen Sache überzeugt war. Trotz seiner familiären Verbindung mit Philippvon Hessen trat er dem Schmalkaldischen Bund nicht bei. Er blieb bei der traditionell-kaisertreuen Position, so daß der Religionswechsel des albertinischen Sachsen wenig Einfluß auf die Reichspolitik bekam. Die sog. Wurzener Fehde 1542 mit Kursachsen, der fast militärisch eskalierende Streit um das Gebiet des Kollegiatstifts Wurzen, vertiefte die Feindschaft zwischen Albertinern und Ernestinern. Erst nach 1547 stieg das albertinische Sachsen zur protestantischen Vormacht auf (vgl. 9.2). 6.1.3 Im zersplitterten Askanierfürstentum Anhalt setzte sich die Reformation vollends durch, nachdem in der Teilherrschaft Anhalt-Köthen (mit Bernburg) Fürst Wolfgang schon früh die Reformation eingeführt hatte. Der größere Teil, Anhalt-Dessau (mit Zerbst), wurde nach dem Herrschaftswechsel von 1530 sukzessive evangelisch umgestaltet. Dabei wirkte als theologischer Berater und Visitator der Magdeburger Dompropst Fürst Georg von Anhalt (1507-53) entscheidend, ein gebildeter Humanist und profilierter Vertreter einer konservativen Reformation, 1544 Bischofvon Merseburg. Auch andere Reichsstände veränderten allmählich die Kirchenstrukturen im evangelischen Sinne: so z.B. das Fürstentum Pfalz-Zweibrücken seit 1533, die Grafschaften Teekienburg seit 1527/43, Diepholz und Hoya seit 1538, Henneberg seit 1542, weitgehend unter dem politischen Einfluß Philipps von Hessen. Dieser setzte 1538 die Reformation auch in der Grafschaft Lippe durch, als deren Fürst verstarb. Wirklich konsolidiert war das evangelische Kirchenwesen in all diesen Gebieten allerdings noch nicht. 6.1.4 Ein- und Durchführung der Reformation (mit Erlaß von Kirchenordnungen und allmählicher praktischer Umsetzung) richteten sich in den Territorien nach den spezifischen Gegebenheiten, wiesen jedoch im Grundsätzlichen gemeinsame Elemente auf. Neu war, daß im Vergleich zu den in 2.2-4 skizzierten frühen Reformationen die Veränderungsvorgänge seit 1532 oft schlagartiger abliefen. Doch ohne Widerstände und behutsame Verzögerungen ging es meist nicht, so z.B. in Rostock und Wismar 1531 sowie im Herzogtum Mecklenburg, wo bis zu den Kirchenordnungen von 1540 und 1552 neben einer breiten evangelischen Bewegung die alten Strukturen z.T. fortbestanden. Diese wurden in den Herzogtümern Holstein (zum Reich gehörig) und Schleswig (dänisches Lehen), wo die evangelische Predigt sich schon früher ausgebreitet hatte, seit 1537 abgebaut; 1542 wurde dort eine von Bugenhagen erarbeitete Kirchenordnung erlassen (Text hg.v. W. Göbell, 1986). In dem kleinen Askanierherzogtum SachsenLauenburg sowie in der Grafschaft Oldenburg-Delmenhorst bahnte sich der Abbau der katholischen Ordnung seit 1526 bzw. 1529 allmählich an. 6.1.5 Zu einer raschen Durchsetzung der Reformation kam es 1530/31 in der Reichsstadt Lübeck, dem Haupt der Hanse, wo sich die für etliche norddeutsche Städte typische Politisierung deutlich zeigte. Mit der Zulassung von evangelischer Predigt und Gottesdienstform sowie mit der Abschaffung der alten Strukturen erkämpften die Vertreter der Bürgerschaft (v.a. reiche Kaufleute) gegen den oligarchischen Rat eine Änderung der Stadtverfassung. Diese sah neben dem Rat eine bürgerliche Mitbestimmung der "Gemeinde" vor, wobei in diesem Begriff das kirchliche und das politische Element koinzidierten. Lübeck ging dann freilich darin einen Sonderweg, daß es seine herkömmliche Vormachtstellung im Ostseeraum durch einen Krieg gegen Dänemark 1534/35 sichern wollte. Sein reformatorischer Bürgermeister Jürgen Wullenwever entwickelte zusammen mit dem Syndikus Johann Oldendorp (ca.14881567, einem der bedeutendsten Rechtslehrer des 16.Jh.s) den utopischen Plan, die Territorialreiche durch evangelische Stadtrepubliken zurückzudrängen. Das scheiterte mit der militärischen Niederlage, die deutlich machte, daß der Einfluß der Städte auch im Norden zurückging. Die Zukunft gehörte in politischer wie kirchenregimentlicher Hinsicht den Fürstenstaaten.
6.2 Protestantische Machtpolitik: Umschwung in Württemberg Einen Sonderfall innerhalb des katholisch dominierten Süddeutschland bildete das aus verschiedenen Teilen bestehende Herzogtum Württemberg. Dies Gebiet lag mit der Schweiz wie ein Sperrgürtel zwischen den habsburgischen Gebieten, weswegen es Karl V. - nach der Vertreibung des bei den Landständen verhaßten
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Herzogs Ulrich 1519 - annektiert hatte. Ulrich wandte sich seit 1523 der evangelischen Position zu und versuchte im Zusammenhang des Bauernkriegs vergeblich eine Rückgewinnung des Landes. Er fand Unterstützung bei Phitipp von Hessen, in dessen antihabsburgischer Bündnisplanung er eine vorzügliche Stellung einnahm. Mit Unterstützung Frankreichs und anderer Mächte (nicht aber des Schmalkaldischen Bundes) errang der Landgraf 1534 einen militärischen Sieg über Österreich und ermöglichte Herzog Ulrich die Rückkehr in die alte Herrschaft. Die damit verbundene Entscheidung für den Protestantismus lieferte ein herausragendes Beispiel für die Politisierung der Reformation. Zwar war Ulrich persönlich ein überzeugter Evangelischer, aber ausschlaggebend für die schnelle Einführung des evangelischen Kirchenwesens war die Mächtekonstellation, einerseits im Verhältnis zum katholischen Österreich, andererseits im Blick auf die Etablierung herzoglicher Herrschaft gegen die oppositionellen Landstände. Auch in anderer Hinsicht bestimmten politische Erwägungen die Entwicklung. Württemberg lag im Überschneidungsbereich zwischen der zwinglianischen und der lutherischen Reformation. Seiner Orientierung kam im evangelischen Richtungsstreit nicht geringe Bedeutung zu. Mit der Abhängigkeit von Hessen ergab sich eine Option für das Luthertum und den Schmalkaldischen Bund. Doch die persönliche Einstellung Ulrichs, die kirchliche Anlehnung an die benachbarten Reichsstädte und ein mögliches Bündnis mit den Schweizer Orten widersprachen einer strikten Abgrenzung gegenüber dem Zwinglianismus (bzw. der oberdeutschen Reformation). So kam es zunächst zum Versuch, einen Kompromiß zwischen beiden Richtungen zu praktizieren. Das wirkte sich in manchen Eigentümlichkeiten aus, v.a. in der Gottesdienstform. Langfristig setzte sich jedoch das Luthertum durch, und Württemberg wurde im 16./17.Jh. eine maßgebliche Vormacht desselben. Analoges galt später für das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, welches 1542 ebenfalls durch militärischen Eingriff von außen der Reformation zugeführt wurde, allerdings in ganz anderem machtpolitischen Zusammenhang (durch Vertreibung des legitimen Herzogs und ein protestantisches Besatzungsregime). Dieser Gewaltakt des Schmalkaldischen Bundes blieb kirchlich zunächst ein Mißerfolg. 6.2.1 Die seit langem geplante Rückführung des Herzogs Ulrich (1487-1550) nach Württemberg - gegen Österreich und die katholischen Landstände - war für Philipp von Hessen eine Demonstration der Fürstenherrschaft, kein Religionskrieg. Günstig war die Situation wegen des Zerfalls des Schwäbischen Bundes (vgl. 1.1.3). In dem durch Johann Friedrich von Sachsen vermittelten Vertrag von Kaaden mit König Ferdinand 1534 wurde der Herzog zwar wieder Reichsfürst, aber als ein österreichischer Lehnsträger. Die Reformationsfrage blieb unklar gelöst, nur sollten Wiedertäufer und Sakramentierer (Zwinglianer) ausgeschlossen sein, was die Lutheraner begünstigte. Ulrich nahm sein landesherrliches Kirchenregiment entschieden wahr, wie es seinem despotischen Wesen und seiner Zentralisierungspolitik entsprach. Einerseits war er theologisch eher von Oekolampad und Zwingli geprägt, andererseits mußte er in einem Land, wo noch völlig ungebrochen der altgläubige Klerus und das Klosterwesen existierten - Rückhalt bei den umliegenden Reichsstädten finden, die unterschiedlich von Wittenberg, Straßburg oder Zürich her beeinflußt waren. 6.2.2 Ulrich entschied, daß die Confessio Augustana die Bekenntnisgrundlage sein sollte, und berief für die kirchliche Neuordnung zwei unterschiedlich orientierte Reformatoren: den Lutheraner Erhard Schnepf (1495-1558) für den Bereich nördlich von Stuttgart und den -von
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Straßburg empfohlenen - Konstanzer Ambrosius Blarer (s. § 11; 11.3.1) für den Bereich südlich von Stuttgart mit Sitz in Tübingen. peren wichtigste Aufgabe war die Einsetzung einer evangelischen Pfarrerschaft (bzw. die Uberprüfung der vorhandenen katholischen Pfarrer), wofür es kaum geeignete Personen gab. Daneben ging es um die Einführung des evangelischen Gottesdienstes, ein Gebiet mit beträchtlichen Differenzen. Hinsichtlich der Abendmahlslehre einigten Schnepf und Blarer sich i.S. Bucers 1534 auf die sog. Stuttgarter Konkordie, die eine von Lutheranern beim Marburger Religionsgespräch 1529 präsentierte Einigungsformel enthielt. Die Gottesdienstform sollte jedoch nicht die evangelische Messe i.S. Luthers sein (vgl. 2.2.3), sondern der schlichte Prädikantengottesdienst nach dem Vorbild von Heilbronn und Reutlingen. So fixierte es die wohl von Schnepf entworfene Gemein kirchen ordnung ... 1536, die auch andere Dinge regelte (Text: Richter Bd.1, 265-273). Demgemäß entfernte man 1536-40 zumeist die Bilder aus den Kirchen. 6.2.3 Ansonsten setzte sich im ganzen Land eher das Luthertum durch (v .a. mit Hilfe der obrigkeitlich gelenkten Visitationen 1536-47), zumal Blarer schon 1538 in unschöner Weise entlassen wurde. Das zeigte sich an der Universität Tübingen, die Blarer zusammen mit Sirnon Grynäus (1493-1541) 1535 im humanistisch-oberdeutschen Sinne reformieren wollte. Aufgrund von Melanchthons Einfluß, dessen Freund Joachim Camerarius (s. § 11; 10.2.4) dorthin berufen wurde, holte Herzog Ulrich 1537/38 Johannes Brenz, um mit Camerarius die lutherische Position an der Universität durchzusetzen. Das hatte langfristige Auswirkung auf die Prägung der künftigen Pfarrerschaft. Analoges galt im Blick auf die Jugendunterweisung, die sich an Brenz' Katechismus von 1535 orientierte. Zur Finanzierung von Bildungswesen, Armenfürsorge, Pfarrerbesoldung und Staatsschulden betrieb Ulrich eine behutsame, aber zielstrebige Säkularisierung der Klöster, denen immerhin ein Drittel des Landes gehörte. Er intendierte ein auf den Herzog ausgerichtetes evangelisches Staatswesen, in dem kirchliche Ordnung und christliche Lehre unter staatlicher Aufsicht der Sozialdisziplinierung der Bevölkerung dienten (u.a. durch Kirchen- und Sittenzucht). Sein Sohn setzte nach 1550 diese Politik fort; vgl. 12.1.1. 6.2.4 Das Welfenherzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel hielt sich unter den weltlichen Territorien Norddeutschlands als letzte Bastion des Katholizismus. Heinrich d.J., Herzog 1514-68, ein tüchtiger Feldherr und kluger Machtpolitiker, unterdrückte in Anlehnung an den Kaiser die evangelische Bewegung im Lande. Er geriet in permanente Konflikte mit Hessen und Kursachsen, so daß diese nach intensiver publizistischer Propaganda (z.B. Luthers Wider Hans Worst 1541) unter dem Vorwand, den von Heinrich bedrängten Städten Braunschweig und Goslar zu helfen, 1542 in einer Blitzaktion mit Truppen das Land gegen alles Reichsrecht besetzten. Nach einer eilig durchgezogenen Visitation erließen sie 1543 eine - von Johannes Bugenhagen und Antonius Corvinus verfaßte - Kirchenordnung samt einer Klosterordnung (Text: EKO 6/1, 22-80). Eine weitere Visitation 1544 sollte die praktische Umsetzung kontrollieren, offenbarte indes die Widerstände von Bevölkerung und Landständen. Nach der Niederlage Kursachsens und Hessens im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 kehrte Heinrich d.J. zurück, und es blieb bis 1568 beim katholischen Kirchenwesen. Zur weiteren Entwicklung s. 12.1.3.
6.3 Verständigung in der Abendmahlslehre Der Einfluß der lutherischen Position in Süddeutschland, der sich bei der Neuordnung schon früher in Franken und einigen Reichsstädten ausgewirkt hatte, verstärkte sich nach 1534 nicht nur durch Württemberg, sondern auch durch die partielle Beilegung des Abendmahlsstreits, unter dem die Einheit der Reformation in Deutschland litt. Zwinglianischer Einfluß in oberdeutschen Reichsstädten - v .a. Augsburg, Ulm, Konstanz -gab diesen ein konfessionelles Selbstbewußtsein gegenüber der lutherischen Majorität, was negative Konsequenzen für eine gemeinsame Reichspolitik und für den Zusammenhalt im Schmalkaldischen Bund hatte. Hinzu kam der Sonderweg Straßburgs, doch dieses einflußreiche Zentrum favorisierte zunehmend - mit maßgeblichem Bemühen Martin Bucers - einen Abbau der Differenzen, welche der vollen Kirchengemeinschaft im Wege standen. Das
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kam den politischen Ambitionen Phitipps von Hessen entgegen, so daß dieser die Sache förderte. Zwar gelang es Bucer 1536 durch seine konsensorientierte Theologiepolitik, die Anerkennung Luthers und der anderen Wittenberger zu erreichen, daß die von den oberdeutschen Städten präsentierte Abendmahlsformel akzeptabel wäre (sog. Wittenberger Konkordie; s. § 15; 4.3). Aber er vermochte es nicht, auch die Schweizer Theologen zu überzeugen und die Verbindung mit Zürich, Bern und Basel herzustellen. So bestand das kirchenpolitisch wichtige Ergebnis der Verhandlungen darin, daß die meisten süddeutschen Reichsstädte sich dem Luthertum öffneten und sich gegenüber dem Zwinglianismus abgrenzten, der bis ca.1560 in Deutschland keine wesentliche Rolle mehr spielte. 6.4 Konservative Reformation als Mittelweg Landesfürstliches Interesse an der Kirchenhoheit und an einer Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse war eines der Motive für die Einführung der Reformation. Dies konnte auch in moderater Form realisiert werden unter Bewahrung von Kontinuität mit der traditionellen Religion, was sich im Blick auf Karls V. Position und die unsichere Rechtslage empfahl. Einen mittleren Weg zwischen lutherischer Reformation und römischem Katholizismus propagierten v.a. erasmianisch geprägte Humanisten: eine Reform von Klerus und kirchlichem Leben auf der Basis einer biblischen Theologie. Allerdings war die Spannbreite der humanistischen Reformkonzeptionen groß, und dies führte zu unterschiedlichen Verwirklichungen. In zwei großen Territorien, die jeweils schon im 15.Jh. Ansätze für ein landesherrliches Kirchenregiment kannten, zeigte sich das exemplarisch: im Kurfürstentum Brandenburg, das 1540 eine Reform mit katholischen Elementen einführte, und in den vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve, die seit 1532/33 eine reformkatholische Erneuerung praktizierten. Zwischen Kaiser und Schmalkaldischem Bund stehend waren sie Repräsentanten einer Gruppe von Reichsfürsten, die den konfessionellen Ausgleich - u.a. durch die Religionsgespräche 1540/41 (s. 8.2) - suchten. Die unterschiedlichen politischen Positionen führten nach 1545/55 dazu, daß Jülich-Kleves Territorien katholisch blieben (mit starken evangelischen Bevölkerungsteilen), hingegen in Brandenburg die evangelische Lehre dominierten. Gleichsam zwischen den unterschiedlichen Mittelwegen jener beiden lavierte die Kurpfalz, deren für die Reichspolitik bedeutsame Herrscher eine Festlegung vermieden, die evangelische Bewegung duldeten und auf eine Kirchenreform durch das Konzil hofften (bis zur Reformation 1556). 6.4.1 Die Hohenzollern-Kurfürsten der Mark Brandenburg erwarben seit 1447 durch päpstliche Privilegien z.T. Mitspracherechte bei kirchlichen Stellenbesetzungen und die Einschränkung der geistlichen Gerichtsbarkeit. Joachim I. bemühte sich 1499-1535 um Reformen, um ein Einvernehmen mit Kaiser und Papst (zur dadurch begründeten Karriere seines Bruder Albrecht s. § 11; 7.3.1) und um Unterdrückung der evangelischen Bewegung in vielen Städten des Landes. So duldete er 1528 nicht die Annäherung seiner Frau Elisabeth an das Luthertum; diese floh nach Wittenberg. Nach seinem Tod änderte sich der Kurs unter den Söhnen infolge der Herrschaftsteilung: Kurfürst Joachim ll. (1505-71), der sich in der Reichspolitik als Vermittler engagierte, zögerte mit Neuerungen, während Markgraf Johann (Hans von Küstrin, 1513-71) in seinem Teil - Neumark, Herrschaften Crossen, Cottbus u.a. - konsequent seit 1538 die Reformation einführte, um seine Herrschaft durch Kirchenhoheit und säkularisierte
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§ 12 Politische Reformation und konfessionelle Spaltung
Klostergüter zu stärken, und dem Schmalkaldischen Bund beitrat. Für die Kurmark strebte der humanistisch orientierte Joachim II. einen Mittelweg zwischen Rom und Wittenberg an. Das zeigten einerseits die offtzielle Eintuhrung des evangelischen Abendmahls 1539 in Kooperation mit dem Brandenburger Bischof Matthias von Jagow (ohne generelle Abschaffung der Messe), andererseits die Kirchenordnung von 1540 (Text: EKO 3, 39-90). Diese begründete eine katholisierende Reformation, die viele alte Zeremonien und Feste beibehielt. Sie wurde unter Beteiligung Joachims und Beratung Melanchthons erarbeitet von Vertretern einer konservativen Reformation (u.a. Georg von Anhalt [s. 6.1.3], Jakob Stratner) und dem erasmianischen Reformkatholiken Georg Witzel (1501-73). Ein Kuriosum war, daß der Kurturst tur sie die Zustimmung sowohl des Kaisers als auch Luthers einholte; dies zeigte sein Bemühen um die via mediaals Modell im Zusammenhang mit den Religionsgesprächen des Reiches. Die Durchtuhrung der Reformation vollzog sich langsam bis zur Fixierung des lutherischen Bekenntnisstandes 1563. Visitationen 1540-58 sollten v.a. Kirchen- und Klostergüter vor dem Zugriff des Adels sichern und dem Landesherrn zur Stärkung der Kirchenhoheit übereignen. 6.4.2 Weniger gut funktionierte der Ausbau einer zentralen Landesherrschaft in den seit 1521 unter Johann m. (gest.1539) vereinigten Herzogtümern Kleve (verbunden mit der Grafschaft Mark) und Jülich (mit Herzogtum Berg und Grafschaft Ravensberg). Dennoch sollte gerade die via media eines humanistischen Reformkatholizismus mit Schul- und Klerusreform die turstliche Kirchenhoheit (vgl. § 11; 3.2.2) gegenüber dem altgläubigen Adel und der evangelischen Bewegung in den Städten (u.a. Wesel, Iserlohn, Soest, Lippstadt, Herford) stützen. Mißstände bekämpfte Johann m. seit 1525, und 1532 erließ er eine - v.a. von dem Erasmianer Konrad von Heresbach (gest.l576) verfaßte - Kirchenordnung, was formal ein Eingriff in bischöfliche Rechte und Ausdruck seines Kirchenregiments war: Sie verband die evangelische Predigt mit dem Verbot von Neuerungen bei Messe, Zeremonien etc. Diese Linie einer vermittelnden Reformpolitik ohne klares konfessionelles Profil setzte seit 1539 Wilhelm V. (Herzog bis 1592) fort, um damit den Ausbau seiner Territorien zu einer nordwestdeutschen Großmacht abzustützen. Nach dem machtpolitischen Scheitern (s. 9.1) blieb zwar der katholische Einfluß gesichert, aber die humanistische Mittelposition bis 1567 erhalten, was der Ausbreitung des Protestantismus zugute kam. 6.4.3 In der aus verschiedenen Teilen bestehenden Kurpfalz - mit Hauptstadt Heidelberg steuerte Kurturst Ludwig V. 1508-44 einen vorsichtigen Reformkurs, der dem Zweck diente, die erschütterte Landesherrschaft zu stabilisieren. Er duldete die evangelische Bewegung, die sich seit 1525 kontinuierlich ausbreitete, ließ aber in der Rheinpfalz keine Strukturänderungen zu. Demgegenüber gestattete sein Bruder Friedrich als Statthalter der Oberpfalz - mit Hauptstadt Amberg - 1538 offiziell evangelische Predigt und Abendmahl. Und sein Neffe Ottheinrich als Regent von Pfalz-Neuburg (an der Donau) dekretierte dort 1542 die Reformation und erließ 1543 eine - u.a. am konservativen Modell Brandenburgs (s. 6.4.1) orientierte Kirchenordnung (Text: EKO 13, 39-99). Friedrich II. als Kurturst 1544-56 blieb zwar grundsätzlich bei der reformkatholischen Position, tuhrte aber auf Drängen des Adels und der Städte 1545/46 in der Rheinpfalz das evangelische Abendmahl und die Priesterehe ein (mit Abschaffung der Messe und der alten Zeremonien; Texte: EKO 14, 90-108). Politische, nicht religiöse Motive bestimmten seine Kirchenreform. Zum Wandel 1556ff s. 12.2.2.
6.5 Kritische Wende: Geistliche Fürstentümer Der Fortschritt der Reformation zeigte sich darin, daß geistliche Fürsten nicht nur die evangelische Bewegung in ihren Territorien tolerierten, sondern auch eine generelle Umorientierung ihrer Hochstifte planten. Damit drohte ein Einbruch in die katholische Reichskirche, der enorme Konsequenzen für das Reichsgefüge haben mußte. Als formaler Anhaltspunkt diente der Beschluß des Regensburger Reichstages 1541, daß auch diealtgläubigenStände eine Kirchenreform vornehmen sollten. Das betraf v. a. das Erzstift Köln, wo Hermann von Wied, bis dahin harter Bekämpfer der Reformation, 1543 eine evangelische Kirchenordnung einführen wollte, die hauptsächlich Martin Bucer entworfen hatte. Während ihn die weltli-
6. Ausbreitung der Reformation 1530-45
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eben Landstände unterstützten, opponierten Domkapitel, Universität und Stadt Köln heftig. Der Konflikt erhielt allgemein-politische Brisanz, weil eine Kölner Reformation den Evangelischen die Majorität im Kurfürstenrat und Perspektiven für die Ausdehnung in Nordwestdeutschland bringen konnte. Demgemäß schritten Papst und Kaiser mit Rechtsmitteln ein; Exkommunikation und Absetzung des Erzbischofs 1546 beendeten das Experiment. Weniger dramatisch verlief der Reformationsversuch, den Pranz von Waldeck im Bistum Osnabrück nach Kölner Vorbild unternahm. Zwar konnte er gegen Widerstände 1543 eine evangelische Kirchenordnung durchsetzen, aber 1548 mußte er sie widerrufen. 6.5.1 Das Kurfürstentum Köln bestand aus drei rechtlich divergenten Teilen: dem schmalen linksrheinischen Erzstift, dem Herzogtum Westfalen (um Arnsberg) und dem Vest Recklinghausen. Nur im ersteren kam die Reformation zum Zuge. Graf Hermann von Wied (14771552), seit 1515 Erzbischof, seit 1535 auch Bischof von Paderborn, betrieb mit dem Ausbau des Staatswesens auch eine Kirchenreform, wobei er die evangelische Bewegung konsequent unterdrückte. Sein Berater war der juristisch und theologisch gebildete Kötner Domherr Johann Gropper (1503-59), der sich 1540/41 bei den Religionsgesprächen engagierte (s. 8.2.34). Dieser verfaßte 1536 einflußreiche Reformstatuten für die gesamte Kirchenprovinz. Die Begegnung mit Bucer bei den Religionsgesprächen, politische Rücksicht auf die Landstände und persönlicher Gesinnungswandel motivierten den Erzbischof, 1542 Anstöße für eine Reformation zu geben, obwohl sich kräftiger Widerstand ankündigte. In seiner Residenzstadt Bonn trug Martin Bucer zur Stärkung der evangelischen Position bei u.a. durch Predigten und ein Gesangbuch von 1544. Diesen beauftragte Hermann mit der Abfassung einer ausführlichen Ordnung für die evangelische Lehre, den Gottesdienst, die Sakramente, das kirchliche Leben, die bis zur allgemeinen Neuregelung durch ein freies Generalkonzil gelten sollte. An deren Endgestalt arbeitete u.a. Melanchthon mit. Hermann von Wieds Einfältiges Bedenken bzw. die sog. Kötner Reformation wurde im Juli 1543 nur von einem Teil des Landtages gebilligt und daher nicht rechtskräftig (Text hg. v. H. Gerhards/W. Borth 1972). Ein heftiger Streit begann, in dem Gropper der Kopf des Widerstands war. Prozesse an der römischen Kurie und am kaiserlichen Hofgericht führten zur Amtsenthebung Hermanns. Der Protestantismus konnte sich im Kurfürstentum nur an wenigen Orten halten. 6.5.2 1532 erhielt Franz von Waldeck (ca.1492-1553), Administrator in Minden seit 1530 (wo er die Reformation der Stadt tolerierte), das Bistum Münster (s. 7.3.1) wie auch das Bistum Osnabrück. Er war ein typischer Renaissancefürst, der - persönlich der evangelischen Lehr~ zuneigend, Vater vieler Kinder in wilder Ehe mit einer Bürgersfrau - für sich durch den Ubergang zur Reformation ein säkularisiertes Territorium gewinnen wollte. Dafür bot sich Osnabrück an, weil dort die evangelische Bewegung in der Stadt vom Rat gestützt wurde und beim Landadel Sympathien genoß. Pranz holte als Reformator den Lübecker Superintendenten Hermann Bonnus (1504-48), einen Bugenhagenschüler. Dieser erarbeitete 1543 Kirchenordnungen für die Stadt und das Stift Osnabrück, die weitgehend verwirklicht wurden (Texte: EKO 7/1, 247-264.222-231). Die protestantische Niederlage im Schmalkaldischen Krieg veränderte die Rahmenbedingungen. Franz von Waldeck stellte unter dem Druck des Dotnkapitels die alte Rechtslage wieder her und behielt sein Amt. Den Rekatholisierungsversuchen nach 1548 widerstand der in der Bevölkerung verbreitete Protestantismus dauerhaft. 6.6 Literatur H.-J. BEHR: Franz von Waldeck, 2 Bde., 1996-98. - M. BRECHT/H. EHMER: Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, 1984. - H. FORSTHOFF: Rheinische Kirchengeschichte Bd.1, 1929. - A. FRANZEN: Bischof und Reformation. Erzbischof Hermann von Wied, 1971. - G. HEINRICH: Brandenburg II, TRE 7 (1981) 111-128 (Lit.). - H.W. KRUMWIEDE: Kirchengeschichte Niedersachsens Bd.1, 1995, 105-190. - H.-G. LEDER: Pommern, TRE 27 (1996) 39-54 (Lit.). - F. PETRI/G. DROEGE (Hg.): Rheinische Geschichte Bd. 2, 1976, 1-217. - A. SCHINDLING/W. ZIEGLER (Hg.): Territorien (s. § 12; 0). - A. SCHRÖER: Die Reformation in Westfalen, 2 Bde., 1979-83. - R. STUPPERICH: Westfalische Reformationsgeschichte, 1993. - G. WARTENBERG: Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546, 1988.
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