Reform des Bundesverfassungsgerichts? [1 ed.] 9783428584284, 9783428184286

Zum »siebzigsten Geburtstag« des Bundesverfassungsgerichts reflektieren zwölf Jurist(inn)en und Sozialwissenschaftler/in

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German Pages 172 [173] Year 2021

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Reform des Bundesverfassungsgerichts? [1 ed.]
 9783428584284, 9783428184286

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Recht und Politik

Beiheft 9

Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Reform des Bundesverfassungsgerichts? Herausgegeben von Thomas Gawron, Oliver W. Lembcke und Robert Chr. van Ooyen

Duncker & Humblot · Berlin

Reform des Bundesverfassungsgerichts?

Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen

Beiheft 9

Reform des Bundesverfassungsgerichts?

Herausgegeben von Thomas Gawron Oliver W. Lembcke Robert Chr. van Ooyen

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-18428-6 (Print) ISBN 978-3-428-58428-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Einleitung Thomas Gawron / Oliver W. Lembcke / Robert Chr. van Ooyen

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I. VERMESSUNG DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS 70 Jahre „Hüter der Verfassung“: alles Gute! – und alles gut? Robert Chr. van Ooyen

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Politikwissenschaftliche Bundesverfassungsgerichtsforschung Oliver W. Lembcke

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Why Is the German Federal Constitutional Court a Deliberative Court, and Why Is That a Good Thing? Gertrude Lübbe-Wolff

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Die Reformvorschläge der Benda-Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts von 1998 und ihre Wirkung Martin H. W. Möllers

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II. ORGANISATION DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS Reformbedarf bei der Richterwahl? Stefan Korioth Das Bundesverfassungsgericht an der Belastungsgrenze. Zu Entlastungsmöglichkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Tristan Barczak Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Blick in die Box: Zur Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht Vanessa Hellmann Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht? Thomas Gawron

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III. LEGITIMATIONSASPEKTE DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS „Entgrenzung“ mit Augenmaß Matthias Jestaedt

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Die Legitimationspolitik des Bundesverfassungsgerichts. Eingeschlagene Reformpfade und Grenzen der Selbstlegitimierung Britta Rehder und Leonie Gröning

152

„Political Question Doctrine“ – eine Reformoption für das Bundesverfassungsgericht? Marcus Höreth

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung Von Thomas Gawron / Oliver W. Lembcke / Robert Chr. van Ooyen Der „siebzigste Geburtstag“ des Bundesverfassungsgerichts soll nicht seine unbestrittenen Verdienste um Demokratie,1 Rechtsstaatlichkeit2 und Grundrechtsschutz3 loben, sondern Anlass für eine ungewöhnliche Gratulation sein: zwölf Jurist(inn)en und Sozialwissenschaftler/innen fragen nach dem Reformbedarf. Ihre Antworten haben wir drei Abteilungen zugeordnet: Eine Bestandsaufnahme fasst zunächst staatstheoretische, politikwissenschaftliche, rechtssoziologische und historische Analysen sowie den Versuch einer Selbstbeschreibung des Gerichts unter dem Oberbegriff einer Vermessung des Bundesverfassungsgerichts zusammen. Ihr schließen sich in der zweiten Abteilung Beiträge zur Organisation des Bundesverfassungsgerichts an, die die Richterwahl, Verfassungsbeschwerden, das Verhältnis zwischen Verfassungsrichter(inne)n und ihren Wissenschaftlichen Mitarbeiter(inne)n sowie das Institut des Amicus curiae auf Reform-Optionen prüfen. In der dritten Abteilung werden Legitimationsaspekte des Bundesverfassungsgerichts diskutiert, die in jüngerer Zeit Gegenstand intensiv geführter Diskussionen sowohl unter Jurist(inn)en wie unter Sozialwissenschaftler(inne)n waren. Im ersten Abschnitt Vermessung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet Robert Chr. van Ooyen unsere Fragen nach Reformbedarf mit zwei Gegenfragen: Braucht die deutsche Demokratie überhaupt (noch) ein Verfassungsgericht?, um anzuschließen: Braucht die deutsche Demokratie dieses Verfassungsgericht? Während er unter Berufung auf die Kelsen’sche Staats- und Rechtstheorie die erste Frage dahingehend beantwortet, dass das Gericht als „Hüter der Demokratie“ nur unter der Bedingung gedacht werden kann, dass Demokratie pluralistisch als freiheitlicher Prozess gesellschaftlicher Interessengruppen, nicht aber als Volkswillenmonismus begriffen wird, fällt seine Antwort auf die zweite Frage differenziert aus. Einerseits kritisiert van Ooyen die Tendenz in der Rechtsprechung, in problematischen Traditionsbeständen der deutschen Staatsrechtslehre zu verharren, andererseits erkennt er an, dass es in seinen 1

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Statt aller: Kneip, Verfassungsgerichte im Prozess der Demokratisierung – der Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf Konsolidierung und Qualität der bundesdeutschen Demokratie, in: Wrase/Bulanger (Hg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 138 – 166. Statt aller: Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz-Kommentar, 3. Aufl., 2020, § 1 RdNr. 5. Statt aller: Dreier/Schulze-Fielitz, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl., 2018, Art. 19 Abs. 4 RdNr. 113.

Recht und Politik, Beiheft 9 (2021), 7 – 16

Duncker & Humblot, Berlin

Thomas Gawron / Oliver W. Lembcke / Robert Chr. van Ooyen

zahlreichen Entscheidungen von Verfassungsbeschwerden peu à peu Kernpunkte einer liberalen Gesellschaft diskursiv herauspräpariert und die bundesdeutsche Demokratie als offene Gesellschaft stabilisiert hat. Dies geschah jedoch wiederum in einer sehr „deutschen Weise“: mit „Deutungsüberschüssen“ aus „prinzipienorientierter“ Maßstabsbildung und zugleich mit „kleinteiligen“ Detailvorgaben an den Gesetzgeber bei reklamierter Zuständigkeit in allen (Lebens‐)Fragen. Die zweite Frage kann er wegen der Komplexität ihrer Antwort, wenn überhaupt, kurz gefasst nur beantworten mit einem: Ja, aber… Im Gegensatz zur Rechtssoziologie ist das Bundesverfassungsgericht erst spät in den Fokus der Aufmerksamkeit von Politikwissenschaftlern gerückt. Über Jahrzehnte hinweg blieben die beiden Arbeiten von Kommers4 und Laufer5 einsame Leuchttürme in einem wenig bearbeiteten – und dementsprechend wenig beachteten – Forschungsumfeld.6 Das ändert sich seit der Milleniumswende, wie Oliver W. Lembcke belegt. Als Take off können wohl ab 1997 die Forschungsprojekte der TU Dresden7 angesehen werden, denen sich eine Reihe „pionierhafter“ Arbeiten8 aus politikwissenschaftlicher Perspektive zum Bundesverfassungsgericht anschließen.9 Interessanterweise findet in der Rechtssoziologie zeitgleich dieselbe „Wieder-Entdeckung“ des Verfassungsgerichts statt, ausgehend von dem Berliner Arbeitskreis für Rechtswirklichkeit (BAR), folgend (seit 2011) die im dreijährigen Rhythmus stattfindenden gemeinsamen Kongresse der Rechtssoziologie-Vereinigungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Lembcke sortiert die in den letzten 15 Jahren stattgefundene Entwicklung zunächst, indem er die Theorielandschaft ausleuchtet, die er als Ausprägung des new institutionalism begreift, begleitet von einer Auflockerung disziplinärer Grenzen. In einem zweiten Abschnitt geht es um die unterschiedlichen Annahmen über Handlungsrationalität gerichtlicher Entscheidungsprozesse, die zwischen den Polen von Rational Choice und soziologischem Institutionalismus verortet werden. Untersuchungen, die Verfassungsrichter als policy seeker verstehen, ordnet er Rational ChoiceKonzepten zu, während der zweitgenannte Ansatz stärker die Umwelt-Belange betont, die das Verfassungsgericht zu berücksichtigen hat. Als vorerst neuesten Ansatz politikwissenschaftlicher Forschung präsentiert Lembcke Netzwerkanalysen zur deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit. Ein epistemisches Verständnis ermöglicht einen Brücken4 5 6 7 8 9

8

Kommers, Judicial Politics in West-Germany, 1976. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess, 1968. Siehe den Überblick bei Herrmann, Politikwissenschaftliche Forschung zum Bundesverfassungsgericht, in: FS Ismayer, 2007, S. 401 ff. Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassungspolitik, 2002 und Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006. So Wrase/Boulanger (Hg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, Einleitung, S. 7 ff., besonders zur Entwicklung S. 8. van Ooyen/Möllers (Hg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006; Gawron/ Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Bundesverfassungsgerichts, 2010.

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Einleitung

schlag zwischen dem Konzept des Verfassungsgerichts als Akteur und dem Verständnis seiner Abhängigkeit von Policy-Feldern. Unter Inanspruchnahme fortgeschrittener Methoden der Netzwerkanalyse werden Modelle der Selbstreferenz und Untersuchungen zur Autorität der Verfassungsgerichte untereinander vorgestellt. Abschließend wendet sich Lembcke der in der Rechtssoziologie und in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang eher vernachlässigten Impact-Analyse zu und berichtet von Zwischenergebnissen des JUDICON-Projekts, das mittlerweile zu einem Verbund zur Erforschung der Verfassungsgerichte in Gesamteuropa gewachsen ist. Gertrude Lübbe-Wolff beurteilt das Bundesverfassungsgericht in ihrem rechtswissenschaftlich-institutionenbezogenen Beitrag als ein deliberatives Organ der Staatsgewalt (im Sinne des U.S. amerikanischen Sprachgebrauchs von government), indem sie das Problem mehrköpfigen Entscheidens und das einer einheitlich darzustellenden Entscheidung des Gerichts als zentrales Problem deliberativer Entscheidungsfindung definiert. Die politische Theorie der Deliberation kennt verschiedene Elemente, in denen sie sich von anderen Demokratie-Verständnissen unterscheidet. Zentral ist für sie die diskursive Herstellung von Ergebnissen, die öffentlich beratschlagt im Wege der argumentativen Abwägung zustande kommen.10 Lübbe-Wolff unterscheidet zwischen Lösungsmöglichkeiten für Konflikte zwischen mehrheitlicher Entscheidung (bei gleichzeitigem Votum des (einen) Gerichts), mehrheitlichen Entscheidungs-Begründungen, Entscheidungen unter dem Druck, eine „harmonische Lösung“ zu finden, und einer Nicht-Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht wird für sie zu einer deliberativen Institution, weil es ihm – trotz seiner Separation vom öffentlichen Diskurs – mit seiner Binnenorganisation gelungen ist, die differenzierten Prozesse der Entscheidungsfindung i.S. einer deliberativen Demokratietheorie auszugestalten. Lübbe-Wolff definiert die „Supermajorität“ der Verfassungsrichter/innen-Wahl (zwei DrittelMehrheit), die begrenzte Zahl der Mitglieder in Senaten und Kammern sowie die Dominanz (nur) von zwei Parteien bei der Besetzung der sechzehn Richter/innenStellen als organisationsbezogene Voraussetzungen für den deliberativen Charakter des Gerichts. In der Produktion der Fallbearbeitung nimmt die Stellung des Berichterstatters die zentrale Rolle ein; der zweistufige Prozess – Votumserstellung und zweimalige Beratung der Entscheidung (Leseberatung und Entscheidungsberatung) – weist ihm/ihr die anspruchsvolle Aufgabe zu der Vorbereitung, der Einarbeitung der Ergebnisse der Leseberatung sowie der Formulierung des Entscheidungstextes zu, den Lübbe-Wolff als informellen Meinungsaustausch kennzeichnet und der für sie den Kern der Deliberation ausmacht. Die Bestandsaufnahme des ersten Abschnittes schließt Martin H.W. Möllers mit einer Rekapitulation des Versuches einer Reform des Bundesverfassungsgerichts vor 35 Jahren. Im Juli 1996 wurde vom damaligen Justizminister der Bundesrepublik Schmidt-

10 Siehe Landwehr, Demokratische Legitimation durch rationale Kommunikation. Theorien deliberativer Demokratie, in: Lembcke/Ritz/Schaal (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 1, 2012, S. 355 – 385 und Schmidt, Demokratietheorien, 6. Aufl., 2019, S. 227 – 244.

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Thomas Gawron / Oliver W. Lembcke / Robert Chr. van Ooyen

Jortzig eine elfköpfige Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Benda berufen, die die Überlastung des Gerichts und die Möglichkeiten seiner gesicherten Funktionsfähigkeit untersuchen und Lösungswege präsentieren sollte. Die Überlastung wurde insbesondere in der hohen Zahl der seinerzeit jährlich eingereichten Verfassungsbeschwerden (rund 6000) und der zahlreichen Senatsentscheidungen ( jährlich 30) gesehen. Möllers zitiert die wichtigsten Entlastungsvorschläge der Kommission, die allesamt keine Mehrheit fanden: Annahme von Verfassungsbeschwerden nach freiem Ermessen nur noch durch die Senate, eine modifizierte Anhörungsrüge für Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Verletzung eines Justizgrundrechts im instanzgerichtlichen Verfahren richtet, Schaffung einer Verfassungsanwaltschaft, Stärkung der Professionalität der anwaltlichen Vertretung durch Einführung des allgemeinen Anwaltzwanges und Änderungen in der Gebührenstruktur. Abgelehnt wurden schließlich die Einführung einer Political-Question-Doctrin und eine Einschränkung des Prüfungsumfanges in den Gerichtsentscheidungen.11 Möllers resümiert, dass der „Erfolg“ der Kommission darin besteht, dass die Folgenlosigkeit ihrer Vorschläge gezeigt hat, dass Reformen zur Entlastung des BVerfG kaum umzusetzen sind. Der zweite Abschnitt Organisation des Bundesverfassungsgerichts macht vier „Großbaustellen“ möglicher Reformen zum Thema: Das Thema Richterwahl begleitet das Bundesverfassungsgericht seit Anbeginn seiner Existenz, ohne dass sich über die Jahrzehnte Wesentliches geändert hätte (sieht man von der personellen Verkleinerung seiner Spruchkörper und der Abschaffung einer Wiederwahl ab). Stefan Korioth benennt zunächst das seit 1951 nicht veränderte Wahlverfahren, das in § 7 BVerfGG beschrieben ist. Das rechtspolitische Augenmerk liegt bei der Richterwahl durch den Bundestag, obwohl bis 2015 die Auswahlentscheidung in Bundestag und Bundesrat identisch war: sie fiel im Bundesrat durch eine informelle Findungskommission der Justizminister der Länder und im Bundestag durch ein vom Plenum eingesetzten Wahlausschuss. In beiden Verfassungsorganen ist eine ZweidrittelMehrheit erforderlich. Geändert hat sich im Jahr 2015 das Prozedere der Auswahlentscheidung. Nach wie vor findet die Vorentscheidung in einem Wahlausschuss statt, die nun jedoch der Zustimmung des Bundestages bedarf. Der Wahlausschuss entwickelt seinen Vorschlag in nicht-öffentlicher Sitzung; seine Mitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet (vgl. §§ 5 ff. BVerfGG). Als unproblematisch stuft Korioth die demokratische Legitimation sowie die Möglichkeit föderaler und regionaler Repräsentation und Ausgewogenheit ein. Bei allen anderen Elementen der gegenwärtigen Wahl kann über Verbesserungen nachgedacht werden, zu denen er klare Kriterien der Auswahlvorschläge in Form von Listen (§ 8 BVerfGG), die nicht nur vom Bundesministerium der Justiz vorgelegt werden, ebenso zählt wie den derzeitigen Verzicht auf Aussprachen sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat. Die fehlende Diskussion über die Vorschläge entspreche nicht der Verfahrensweise des Parlaments. Durch öf11 Die beiden letztgenannten Ablehnungen haben uns gleichwohl motiviert, zur erneuten Prüfung dieser Vorschläge einzuladen (vgl. die Beiträge von Marcus Höreth und Matthias Jestaedt).

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Einleitung

fentliche Diskussion in den Kreationsorganen, Offenlegung der Entscheidungswege und Bindung der Entscheidungsplenen an die Ausschussvorschläge ließe sich das Legitimationsniveau erhöhen. Die Wahl der Verfassungsrichter/innen sollte nicht länger ein Arcanum von Parteizirkeln sein. Das „Hauptgeschäft“ des Bundesverfassungsgerichts sind seine (aktuell jährlich zu bearbeitenden rund) 5500 Verfassungsbeschwerden. Der Ruf nach Entlastung des Gerichts ist so alt wie das Gericht selbst. Tristan Barczak skizziert zunächst drei Entlastungs-Strategien der „Frühzeit“: eine a-limine-Abweisung (§ 24 BVerfGG), die ihre Bedeutung fast vollständig verloren hat, die Einführung eines Vorprüfungsausschusses,12 der an seiner Stelle neu geschaffene Dreier-Ausschuss, der eingehende Verfassungsbeschwerden auf ihre Zulässigkeit vorprüfen sollte, bevor über die eigentliche Annahme entschieden wurde,13 der seinerseits nur sieben Jahre überlebte, und schließlich die Umwandlung der Vorprüfungsausschüsse in Kammern (§ 15a BVerfGG) sowie die Einführung einer Unterliegensgebühr14 im Jahr 1985. Im Anschluss stellt Barczak die Entlastungsstrategien der Gegenwart vor. Die gesetzlichen Vorschriften des Annahmeverfahrens wurden geschärft, indem auf die Entscheidung zur Annahme die Modalitäten der Entscheidung (§§ 93 a, b, c und d) präzisiert worden sind. Große Bedeutung hat dabei die Klausel des § 93 Abs. 1, Satz 2 BVerfGG erlangt, der zufolge die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde keiner Begründung bedarf. Einer Vorfilterung der eingehenden Verfassungsbeschwerden kommt eine zweite wichtige Entlastungsfunktion zu. Über die Filterleistung dieser Vorprüfung liegen bislang keine präzisen empirischen Untersuchungen vor. Als weiteren Entlastungseffekt nennt Barczak die Zulässigkeitsvoraussetzung der formellen und materiellen Subsidiarität sowie die hinreichende Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (§§ 90 bzw. 92 BVerfGG), wobei er auf eigene Vorarbeiten zurückgreift.15 Als Reformmaßnahme lässt sich bei ihm das noch wenig erprobte „Primavista-Verfahren“ erkennen, dessen sich die Kammern – in unterschiedlichem Ausmaß – bedienen. Im Wege eines evidenzbasierten Vorgehens (von ihm als „Vorschaltverfahren“ bezeichnet) werden diejenigen eingereichten Verfassungsbeschwerden „ausgesetzt“, die auf den ersten Blick den Annahmekriterien16 kein Genüge tun und keiner weiteren ausführlichen Darlegung der Nichtannahme-Entscheidung mehr bedürfen.17 Er lehnt den – sehr radikalen – Änderungsvorschlag ab, der die Abschaffung der Urteilverfassungsbeschwerde18 fordert. Ebenso verwirft er die schon im Bericht der Entlastungskom§ 91a BVerfGG – 1963 aufgehoben. § 93a BVerfGG a.F. Heute § 34 Abs. 2 BVerfGG. Barczak, in: Barczak (Hg.), Bundesverfassungsgericht – Mitarbeiterkommentar 2018, Kommentierung § 92 BVerfGG RdNr. 3 und 6. 16 § 93a Abs. 2, lit. b, erster HS BVerfGG. 17 Siehe ausführlich Barczak (Fn 15), § 34 BVerfGG RdNr. 6 f. 18 Zuck, Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl., 2017, RdNrn. 324 – 327. 12 13 14 15

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mission diskutierten Varianten der Erhöhung der Zahl von Senaten oder der Richterzahl, der Einführung einer Verfassungsanwaltschaft, Vergrößerung der Mitarbeiter/ innen-Zahl, und der Verlagerung von Zuständigkeiten an die Landesverfassungsgerichte. Stattdessen plädiert Barczak für eine kritische Selbstreflexion des Gerichts, ob die Tendenzen der Subjektivierung objektiven Rechts und der Überindividualisierung des Rechtsschutzes den richtigen Entwicklungspfad darstellen. Die Votierung der jährlich rund 5500 Verfassungsbeschwerden ist im Wesentlichen Aufgabe und Arbeit(slast) der Wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen. Darüber ist wenig bekannt.19 In der juristischen Literatur erfolgt stets der Hinweis, ihre Arbeit habe (nur) vorbereitenden Charakter und ihre Tätigkeit werde von „ihrem/r Verfassungsrichter/in angeleitet bzw. überwacht. Dabei wird auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GO BVerfG verwiesen (Weisungsgebundenheit der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). Wie sich das Arbeitsverhältnis jedoch tatsächlich in concreto gestaltet – sicher von Richter/in zu Richter/in unterschiedlich – ist in der Literatur bislang eher bruchstückhaft erkennbar geworden. Diese Fragen nach der konkreten Arbeit und dem Verhältnis zwischen Mitarbeiter(inne)n und Richter(inne)n beantwortet Vanessa Hellmann. Man erfährt über die Erstellung der Voten und das sog. Kammervotum, den Kammerumlauf und die Kammerentscheidung. Ähnlich detailliert beschreibt sie die Arbeit bei den Senatsentscheidungen, die durch einen vielfachen Abgleich von Stellungnahmen und Entscheidungsvorschlägen, von der Erstellung eines Senatsvotums als Grundlage für die Beratung bis hin zum Entwurf der endgültigen Senatsentscheidung reicht. Bei allen Arbeitsschritten wird deutlich, wie variantenreich und komplex die Kommunikation zwischen Richter/in und seinen/ihren Mitarbeiter(inne)n verläuft. Hier einen Reformbedarf zu konstruieren, fällt schwer, wenn die Komplexität der Zusammenarbeit zugleich die Stärke der Teams ausmacht, als die Hellmann das Verhältnis zwischen Richter/innen und Mitarbeiter(inne)n beschreibt. Als Reformoption plädiert sie für die Erhöhung der Anzahl Wissenschaftlicher Mitarbeiter/innen, die in einem Dezernat gleichzeitig an verschiedenen Senatsverfahren arbeiten. Stellungnahmen und amicus curiae briefs stellen Instrumente dar, die im U.S. amerikanischen Verfassungsprozess üblich, in Deutschland jedoch weitgehend ungenutzt geblieben sind. Hearings sind ein geübtes Instrument des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses, im gerichtlichen Verfahren jedoch als solche nicht eingeführt. Hearing-ähnlichen Charakter können die – seltenen – mündlichen Verfahren vor dem

19 Ausnahmen: Klein, Der dritte Senat im Bundesverfassungsgericht, in: Dieter/Urban/Fritz (Hg.), Gedächtnisschrift Nagelsmann,1984, S. 377 ff.; Wieland, Der Beitrag der wissenschaftlichen Mitarbeiter im Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, in: Ellermann/Gawron/Rogowski (Hg.), Verfassungsgerichte im Vergleich,1988, S. 258 ff.; Zuck, Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts, in: van Ooyen/Möllers (Hg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 443 ff.

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Einleitung

Bundesverfassungsgericht annehmen, im Wesentlichen Senatsverfahren.20 Betroffene Öffentlichkeiten, die nicht in verfassungsgerichtliche Verfahren als Beteiligte eingebunden sind, können sich nur Gehör verschaffen, wenn sie vom Bundesverfassungsgericht dazu aufgefordert werden (§§ 27a, 28 BVerfGG). Thomas Gawron plädiert dafür, das Institut des amicus curiae in das deutsche Verfassungsprozessrecht einzuführen. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis ist es seit dem 13. Jahrhundert bekannt, inzwischen auch im internationalen Recht heimisch geworden; und sogar das deutsche private und öffentliche Recht kennen Institute, die der Figur des amicus curiae entsprechen. Dem deutschen Verfassungsprozessrecht hingegen ist das Institut des amicus curiae fremd. Der Beitrag skizziert im ersten Teil die Entwicklungen im anglo-amerikanischen Rechtskreis, analysiert die stetig anwachsende Zahl von amici curiae briefs nach Häufigkeit, Herkunft und Rechtsgebieten und stellt die Rechtsinstitute im deutschen Recht in Nähe der Figur amicus curiae vor. Der zweite Teil befasst sich in rechtswissenschaftlicher und rechtssoziologischer Perspektive ausführlich mit §§ 27a BVerfGG (angeforderte Stellungnahmen durch sachkundige Dritte) und 94 BVerfGG (angeforderte Stellungnahmen durch staatliche Institutionen und Organe). Diese gewähren am Verfahren nicht beteiligten Dritten ein Äußerungsrecht, ein Recht, das in dieser Struktur dem Institut des amicus curiae ähnelt. Allerdings bestehen große Unterschiede bei der Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht gegenüber den Praktiken und Entwicklungen des U.S. amerikanischen Supreme Court. Der Vergleich zwischen den Eingaben amicus curiae am U.S. amerikanischen Supreme Court und den (vom deutschen Gericht einseitig angeforderten) Stellungnahmen für das Bundesverfassungsgericht zeigt ein umgekehrt reziprokes Verhältnis: die weit überwiegende Zahl der amicus curiae briefs wird beim U.S.-Gericht von gesellschaftlichen Vereinigungen und Organisationen eingereicht, während beim Bundesverfassungsgericht staatliche Instanzen den Großteil der angeforderten Stellungnahmen ausmachen (gemäß § 94 BVerfGG), während die „sachverständigen Dritte“ (im Sinne § 27a BVerfGG) eine kleine Minderheit bilden. Für Gawron sprechen einige Argumente für eine Einführung des amicus curiae auch im deutschen Verfassungsprozessrecht. Reformen werden auch im dritten Abschnitt Legitimationsaspekte problematisiert. Die Entgrenzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Forderungen nach Begrenzungen seiner Jurisdiktion laut werden lassen. Die bisher eher eindimensionalen Erklärungen des hohen Prestiges des Gerichts werfen Fragen nach einer verbesserten Legitimationspolitik des Gerichtes auf. Und schließlich ist die political question doctrine daraufhin zu prüfen, inwieweit sie nicht auch, wenngleich in modifizierender Weise, durch das Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung Anwendung findet und ob sich gesetzgeberische Präzisierungen empfehlen.

20 Mündliche Verhandlungen in Senatsverfahren nehmen beständig ab. In den Jahren 2015/2016 betrug ihre Zahl noch zwölf, in den Jahren 2018/2019 nur noch neun – Geschäftsbericht BVerfG 2020.

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In Veröffentlichungen der letzten Jahre ist immer wieder deutliche Kritik an der Entgrenzung des Bundesverfassungsgerichts geübt worden.21 Die Kritik zielt vor allem auf die Verfassungskonforme Auslegung22 und auf die Überdehnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.23 Matthias Jestaedt zeigt, dass das Phänomen der „Entgrenzung“ eine übliche, um nicht zu sagen, reguläre Entwicklung erfolgreicher Höchstgerichte ist (EuGH – EGMR – U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht), die sich kaum verhindern oder gar umkehren lässt. Nicht jede Form von „Entgrenzung“ markiert einen verfassungsrechtlich pathologischen Zustand. Für eine Reformagenda ist das im Blick zu behalten. Sie muss passfähig und kontextsensibel sein, also die grundlegenden Kennzeichen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz respektieren. Dementsprechend äußert Jestaedt drei Reformvorschläge: (1) eine Kontextualisierung durch Herstellung des Zeitbezuges der Entscheidung bzw. des historischen Bezuges unter Nennung des Entscheidungsjahres, (2) Verdeutlichung der positivrechtlichen Grundlagen „gewagter“ freihändiger Maßstabsverleitungen (insbesondere bei Entscheidungen europarechtlichen Inhalts, für die das Grundgesetz kaum Aussagen trifft) und (3) eine höhere Sensibilität gegenüber dem der parlamentarischen Demokratie inhärenten Zwang zum Kompromiss als der herausstechenden Entscheidungsfindungsmodalität. Vereinfachend ließe sich schreiben: mehr judical self restraint. Legitimationspolitik bedeutet im Fall des BVerfG eine Zuspitzung der in der Politikwissenschaft geführten Diskussion zur Legitimität politischer Ordnungen.24 Sofern es Politologen diskutieren, verweisen sie regelmäßig auf die Autoritäts-Anerkenntnis, die das Gericht in hohem, ja höchstem Maße erfährt. Die Feststellung seiner Legitimität, so kann – durchaus in zuspitzender Einseitigkeit – summiert werden, stützt sich allerdings im Wesentlichen (nur) auf empirische Umfragen25 Das Gericht nach seiner eigenen Legitimitätspolitik befragen, bedeutet u. a., wie das BVerfG die ihn in den Umfragen zugeschriebene Fähigkeit, „Konflikte durch Entscheidungen zu beenden“26, zu erfüllen vermag. Das de-politisierende Potential jeder immer auf einen einzelnen Fall bezogenen

21 Statt aller: Grimm, Ich bin ein Freund der Verfassung 2017, Abschnitt VIII, Grundrechtsdogmatik und Beratungskultur; Jestaedt, Verhältnismäßigkeit als Verhaltensprinzip, in: Jestaedt/Lepsius (Hg.), Verhältnismäßigkeit, 2015; Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011. 22 Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, ebd., S. 139 f. 23 Frühzeitig Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktion, 1981, S. 114; nun Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Fn 21), S. 209 ff. 24 Statt aller: Nullmeier u. a., Prekäre Legitimitäten, 2010. 25 Patzelt, Warum mögen die Deutschen ihr Verfassungsgericht so sehr?; Vorländer, Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, beide in: van Ooyen/ Möllers (Fn 19), S. 313 bzw. 299 ff. 26 Patzelt, „Weiche Faktoren“ institutioneller Macht, in: Melville/Rehberg (Hg.), Dimensionen institutioneller Macht, 2012, S. 239.

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Einleitung

Entscheidung – grundsätzliches Kennzeichen jeden Judizes27 – entbindet das Verfassungsgericht nicht von der Notwendigkeit, sich mit einer eigenen Form von Argumentation gegenüber den politischen Fronten zu verselbständigen.28 Britta Rehder und Leonie Gröning nennen drei weitere Strategien der Selbstlegitimation des Bundesverfassungsgerichts: die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zur Entscheidungstätigkeit, einige Maßnahmen zur Stärkung der Bürgernähe und die Eigenlegitimierung der Richter/innen selber. In seiner Öffentlichkeitsarbeit fokussiert sich das Gericht auf die umfassende Darstellung solcher Urteile, die es selber als zentral einschätzt; stärkere Bürgernähe wird durch Ausstellungen und Veranstaltungen zum jährlich begangenen Fest der Deutschen Einheit probiert; die Veröffentlichung von Nebeneinkünften und die Verabschiedung von „Verhaltensrichtlinien“ für Richter/ innen zeigt nach Auffassung der Autorinnen, dass im Handeln von Richter(inne)n ähnliche Legitimationsaspekte beobachtet werden können wie im Verhältnis von Parlamentsabgeordneten zu Interessengruppen. Sie ergänzen den Katalog der Strategien der Selbstlegitimation durch den Wunsch, mehr über einzelne Verfahren zu erfahren (z. B. Eingangszahlen nach policy-Feldern bzw. Rechtsgebieten, Aufschlüsselung der AR-Verfahren), wie es in den Tätigkeitsberichten des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes und des Bundesgerichts der Schweiz üblich ist. Die political question doctrine des U.S. amerikanischen Verfassungsprozessrechts stellt ein Prozesselement dar, das das deutsche Verfassungsprozessrecht nicht kennt. Im Bericht zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts wurde von der Einführung einer Political-Question-Doktrin abgeraten.29 Die Rechtsfigur, die das amerikanische Verfassungsgericht selber entwickelt hatte, beinhaltet das Prinzip, Entscheidungen, die (a) die auswärtigen Beziehungen, (b) den Einsatz militärischer Gewalt, (c) einige innenpolitische Themen wie First Nations-Angelegenheiten sowie Verfahren der Verfassungsänderung und (d) innerstate commerce30 als politische Angelegenheiten zu betrachten und eine richterliche Befassung abzulehnen.31 Marcus Höreth arbeitet heraus, in welchem Umfang der U.S. amerikanische Supreme Court vom Prinzip der Nicht-Entscheidung Gebrauch gemacht hat, und dass diesem Nicht-Entscheiden stets ein voluntaristisches Element des Nicht-Entscheiden-Wollens innewohnt; in ihm erblickt er sogar ein Mittel, dessen Einsatz die höchstrichterliche Autorität nachhaltig bewahrt, möglicherweise sogar ausbauen kann. Höreth bestätigt zwar die in der Literatur häufig – allerdings nicht durchgängig, wie die steten Interventionen des Gerichts

27 Chr. Möllers, Individuelle Legitimation: Wie legitimieren sich Gerichte?, in: Geis/Nullmeier/ Daase (Hg.), Der Aufstieg der Legitimationspolitik, 2012, S. 400. 28 Möllers, ebd., S. 409. 29 Vgl. Bericht Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, 1988, S. 133 f. 30 Materiell-rechtliche Fragen der Steuer-, Ausgaben- und Währungspolitik. 31 Näheres bei Scharpf, Grenzen der richterlichen Gewalt, 1965.

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Thomas Gawron / Oliver W. Lembcke / Robert Chr. van Ooyen

in Angelegenheiten der Europäischen Union zeigen32 – geäußerte Auffassung, in außen- und verteidigungspolitischen Fragen lasse sich ein „judical self-restraint“ nachweisen. Er betont aber, dass es aus verfassungsrechtlich/verfassungspolitischen Gründen nicht möglich ist, die amerikanische political question-Doktrin umstandslos in das deutsche Verfassungsrecht zu implementieren. Höreth legt dar, dass das Verfassungsgericht den Verfassungsklagen nicht ausweichen kann („Ob“-Verbot), wohl aber über ein „Wie“ verfügt, d. h. mit welcher Kontrolldichte, Prüfungsintensität und inhaltlichmaterieller Interventionsbereitschaft es agiert. Von „außen“ ist dieses Vorgehen nicht zu begrenzen, es sei denn, seine Unabhängigkeit würde beseitigt. Veränderungs-, nicht Reform-Potential erblickt er allerdings angesichts des parlamentarischen Wandels von der Mehrheits- zur Verhandlungsdemokratie. Wer auch immer regiert, wird durch immer zahlreichere Koalitionspartner, eine immer häufiger gebrauchte kooperationswillige Opposition und einem von immer bunteren Koalitionen dominierten Bundesrat „eingehegt“, die es den Regierungen zunehmend schwerer macht, die Verfassung zu verletzen. Wie die Beiträge zeigen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner langjährigen Praxis sich in sehr selbstbestimmter Weise zu einem wesentlichen Akteur im bundesrepublikanischen Schnittfeld von Politik und Recht entwickelt. Alle Wege scheinen immer wieder nach Karlsruhe zu führen, vor allem dann, wenn es sich um bedeutsame gesellschaftspolitische Fragen handelt. Daher ist es schwerlich vorstellbar, dass Veränderungen des institutionellen Gefüges im politischen System nicht letztlich auch vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Der politische Spielraum der anderen Akteure für eine exogene Reform dieser Institution erscheint als denkbar gering – auch das haben die verschiedenen Beiträge deutlich werden lassen. Allerdings hat das Gericht in seiner Geschichte immer wieder erfahren, dass es selbst nicht immun gegen Akzeptanzverlust und Complianceschwund ist. Die interne Fähigkeit der Richterbank zur deliberativen Verständigung über erforderliche Kurskorrektur bleibt mithin eine zentrale Herausforderung für das Flaggschiff der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit – und wie die Beiträge in der Summe zeigen, ist diese Herausforderung in einem umfassenden Sinne zu verstehen: Die Bereitschaft zur Reflexion sollte sich nicht allein auf die Inhalte der Rechtsprechungslinien beziehen, sondern ebenso auf organisatorische Funktionsfähigkeit der eigenen Institution, auf die Inputstrukturen für die Judikatur sowie auf deren Reichweite und Wirkung. Im Alltagsbetrieb hierfür einen Sinn zu bewahren und hinreichende Offenheit aufzubringen, dürfte für die Mitglieder einer Institution, die über ein solches Ansehen in der Bevölkerung und Fachöffentlichkeit besitzt, nicht immer ganz leicht sein. Wer stellt schon gern Abläufe in Frage, zumal dann, wenn die eigene Erfolgsgeschichte nahelegt, dass sich die Institution offenkundig bewährt hat?

32 Vgl. insgesamt van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 8. Aufl., 2020.

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I. VERMESSUNG DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS 70 Jahre „Hüter der Verfassung“: alles Gute! – und alles gut? Demokratie(theorie)-Defizite und staatsrechtliche Mottenkisten, Biedermeieridyll und machtpolitische Entgrenzungen als Reformbedarfe des Bundesverfassungsgerichts Von Robert Chr. van Ooyen Im April 1951 trat das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht in Kraft; das Gericht nahm noch im selben Jahr seine Tätigkeit auf. Nun kann man bei Jubiläen regelmäßig „Jubelschriften“ beobachten. Runde Geburtstage verleiten zum gegenseitigen Schulterklopfen, erst recht bei einer so würdevollen und breit akzeptierten Institution. Aus der Sicht der Rechtspolitologie aber gibt es einige „Dauerbaustellen“ – und zwar ausgerechnet in Sachen „Demokratie“,1 als deren „Hüter“ das Bundesverfassungsgericht sich bis heute versteht. Sie sind nicht nur auf der Seite des Gerichts, das in seinen Vorverständnissen oft in der Zeit stehen geblieben zu sein scheint – und nur bestenfalls beim liberalen Etatismus eines Georg Jellinek der vorletzten Jahrhundertwende.2 Missverständnisse und falsche „schmittianische“ Entgegensetzungen von Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie finden sich allgemein in der deutschen politischen Kultur, die das Gericht umgibt. Hier ist ein eigentümliches Verständnis von „Volk“ und „Staat“ immer noch verbreitet und ebenso die Erwartung an eine „unpolitische“ Obrigkeit hoch, die in allen Lebenslagen kleinteilig Gerechtigkeit walten lässt – ein Mythos, dem das Bundesverfassungsgericht selbst wiederum aufzusitzen oder doch zumindest als Legitimationsreserve zu nutzen scheint, auch um inzwischen „entgrenzt“ jederzeit und zu allem „verfassungsrechtlich“ Position zu beziehen. Daher sollen die beiden folgenden, für ein Jubiläum „ungehörigen“ Fragen gestellt werden:

I. Braucht die deutsche Demokratie denn überhaupt (noch) ein Verfassungsgericht? 70 Jahre selbst auferlegte Beschränkung des Demos müssten doch nun reichen. Inzwischen ist auch die Forderung nach mehr Volksentscheiden ganz selbstverständlich geworden und weit verbreitet. Warum gibt es eigentlich keine vergleichbare politische 1 2

Vgl. van Ooyen, Bundesverfassungsgericht und politische Theorie, 2015. Vgl. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, 2005.

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Duncker & Humblot, Berlin

Robert Chr. van Ooyen

Initiative zur Abschaffung, mindestens aber Reform des mächtigen Richter-Areopags, um auch auf diesem Feld endlich dem „Volkswillen“ stärker auf die Sprünge zu helfen? Nimmt man die englische Verfassungstradition, dann erweist sich das als ganz selbstverständlich: das Parlament ist „souverän“. Stutzig aber macht zugleich die amerikanische Erfahrung der Separation of Powers durch Checks and Balances, wenngleich den US-Verfassungsgründern ursprünglich gar nicht dieser mächtige „negative Gesetzgeber“ vorschwebte,3 zu dem sich der Supreme Court seit Marbury vs. Madison (1803) aufschwang. „Selbstermächtigungen“ scheinen jedoch bei Verfassungsgerichten in der Natur der Sache zu liegen; auch der EuGH beschritt mit richtungsweisenden Entscheidungen in den 1960er Jahren diesen Weg4 – und erneut bei der Europäischen Grundrechtecharta.5 Beim Bundesverfassungsgericht war das – zunächst – jedoch so gar nicht erforderlich. Während der Verfassungsgebung 1948/49 herrschte tiefes Misstrauen gegenüber dem Volk, zulange war es in großen Teilen dem „Führer“ gefolgt. Im Parlamentarischen Rat führte das zu der Konzeption eines „kontrollierten Parlamentarismus“6 mit konstruktivem Misstrauen und erschwerter Parlamentsauflösung, wehrhafter Demokratie und Parteiverboten, äußerster Zurückhaltung bei Volksentscheiden, harter Verankerung von Grundrechten und eben starker Verfassungsgerichtsbarkeit einschließlich der Kompetenz zur Kassation von Parlamentsgesetzen. Trotzdem kam es in den Karlsruher Gründerjahren zu rechtspolitischen Machtkonflikten: mit Justizminister Thomas Dehler; im Beamten-Urteil (1953) und Gestapo-Beschluss (1957) mit dem rivalisierenden BGH, der die „furchtbaren Richter“7 und Beamten als politisch neutrale Staatsdiener in einer „Schwamm-drüber-Rechtsprechung“ reinwaschen wollte – im Verbund mit der auch durch personelle Kontinuitäten belasteten Justiz und Staatsrechtslehre. Beim berühmten „Statusstreit“ der 1950er Jahre sah sich das Bundesverfassungsgericht gezwungen, überhaupt sich erst einmal als selbständiges Verfassungsorgan zu behaupten, indem es seine besondere Stellung im Justizsystem reklamierte – gleichberechtigt mit Parlament, Regierung, Präsident und einschließlich der Kompetenz zur Aufstellung des eigenen Haushaltsplans.8 3 4 5 6 7 8

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Vgl. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 2.Aufl., 2019. Vgl. Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten, 2008. Vgl. van Ooyen, Luxemburger Verfassungscoup, RuP 2013, S. 199 ff. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., 1969, S. 92. I. Müller, Furchtbare Juristen, 1987. Mit dem GG war zwar ein Verfassungsgericht im Sinne des Kelsen-Modells geschaffen worden, doch angesichts der in Weimar geführten Kontroversen um die Staatsgerichtsbarkeit erwies sich seine Stellung als unklar: War es ein „politisches“ Organ, gleichberechtigt und autonom oder einfach nur ein Gericht, das wie die übrigen Bundesgerichte dem Justizministerium unterstellt bleiben sollte – und damit dessen politischer Steuerungsgewalt, etwa in Fragen von Organisation, Personalhoheit und Haushalt. Letzteres hatte direkt zum Konflikt mit Justizminister Dehler geführt. Der unter Federführung von Richter Leibholz formulierte Bericht des BVerfG zur sog. Status-Frage von 1952 (in: JöR 1957) suchte dagegen den Status als gleichberechtigtes

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70 Jahre „Hüter der Verfassung“: alles Gute! – und alles gut?

Sich heute noch auf das historische Argument einzulassen, bedeutete aber dann, zu verneinen, dass die Bürger*innen nach 70 Jahren „erwachsen“ sind. Mit Karl Marx und Friedrich Engels ließe sich postulieren: Das Bundesverfassungsgericht wird nicht abgeschafft, sondern stirbt einfach ab – mit der entwickelten demokratischen Gesellschaft. Statt einer Geburtstags- hätte spätestens jetzt eine würdevolle Grabrede zu folgen im Sinne von: de mortibus nihil nisi bene.9 Aber wie schon im Falle der eigentümlichen Dialektik des real existierenden Sozialismus kann von Absterben ja überhaupt keine Rede sein. Über 150 Bände Entscheidungssammlung zeugen nicht nur von einer selbst für Spezialist*innen kaum noch überschaubaren Verfassungslage, sondern vor allem von ungebrochener, vor Kraft strotzender – und wohl auch mäandernder – Vitalität. Schon hier ergibt sich eine eigentümliche, Unbehagen auslösende Dialektik: Je länger die bundesdeutsche Demokratie, desto „mehr“ Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. Doch ist eine solche Entgegensetzung von Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit nicht allzu „schmittianisch“, genauso wie die von Demokratie und Parlamentarismus? Wenn man Carl Schmitts Begriff der Verfassung als politische „Freund-Feind-Entscheidung“ des homogenen Volkes folgte, dann kann der „Hüter der Verfassung“ tatsächlich kein Gericht sein: schon der Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit wäre ein Widerspruch. Bis heute schwingt dieses rechtshegelianische Erbe der Entgegensetzung von hoher, justizfreier Politik (= Staat) und einfachem, zivilem Recht (= Gesellschaft) im deutschen Verständnis der Begriffe Staat und Souveränität mit; ebenso die Rousseau-Schmittsche Volkswillen-Verfassungslehre – und zwar bis in das Bundesverfassungsgericht hinein. Dabei erübrigten sich solche Spiegelfechtereien der Entgegensetzung von Recht und Politik, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie, wenn man nur der Cicero-Kant-Kelsen-Linie der normativen Staatstheorie folgte: Denn „Staat“, oder besser: „civitas“ – wie es bei Kant noch in antiker Diktion heißt10 – „ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.11 Ein demokratischer Staat ist demnach diejenige Vereinigung unter selbstbestimmten Rechtsgesetzen. Der Wiener Demokratietheoretiker Hans Kelsen hatte diesen klassischen Ansatz mit seiner radikal-positivistischen „Staat-als-Recht-Theorie“ weiter ausgebaut und kam so – im Streit mit Schmitt um den „Hüter“ – ganz folgerichtig zu dem Ergebnis, dass die Verfassungsorgan theoretisch zu begründen. Wer im Rahmen der Normenkontrolle die Kompetenz eines „negativen Gesetzgebers“ innehat, kann im Prozess von „checks and balances“ schließlich nicht zugleich der Regierungsaufsicht unterstellt sein. Leibholz griff hierbei jedoch gerade nicht auf die klare, demokratie- und verfassungstheoretische Herleitung Kelsens zurück, sondern ging wie Triepel und Schmitt zunächst sogar von der Unvereinbarkeit von Recht und „hoher“ Politik aus, die er dann mit Hilfe der Integrationslehre von Smend aufzulösen suchte: Danach sei das BVerfG auch ein Verfassungsorgan, weil es politisch Staat und Volk integriere. 9 Frei: über die Toten nur Gutes. 10 Cicero: „Quid est enim civitas nisi iuris societas civium?“ (Was ist denn die Bürgerschaft, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger), De re publica, Erstes Buch, Rnr. 49. 11 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Ausgabe Reclam, § 45.

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Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur nicht im Gegensatz zur Demokratie steht; im Gegenteil: Demokratische Politik – Parteien und Lobbys – Parlamentarismus – Verfassungsgericht gehören im politischen System moderner Massendemokratien vielmehr zusammen. Denn Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein Instrument des Schutzes politischer Minderheiten, ohne die die Herrschaft der Mehrheit demokratisch ja gar nicht gedacht werden kann: Der gerichtlich abgesicherte Vorrang der Verfassung ist eine der institutionellen Sicherungen, dass die im bürgerlichen Verein „Staat“ von den gesellschaftlichen Gruppen ausgehandelten „Spielregeln“ eingehalten und keine „Satzungsänderung“ zur Errichtung einer Tyrannei der Mehrheit errichtet werden kann. So betrachtet ist das Bundesverfassungsgericht im politischen System auch nicht „der“, sondern in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“12 bloß ein Hüter der Verfassung – aber auf gleicher Höhe mit den anderen zentralen Institutionen wie Parlament und Regierung.13 Dies aber auch im Sinne eines „Hüters der Demokratie“ – freilich nur unter der Bedingung, dass man Demokratie pluralistisch als freiheitlichen politischen Prozess gesellschaftlicher Interessensgruppen und nicht als Volkswillenmonismus begreift.14 Demokratie ist nicht homogene Gleichheit, sondern gleiche politische Freiheit. In der amerikanischen Verfassungskultur ist das ganz lebendig, weshalb der bei uns fast vergessene Alexis de Tocqueville dort als großer Klassiker verehrt wird. Mögen also die Briten weiter auf ihre Stabilitätsanker der Monarchie, Conventional Rules, Parlamentssouveränität und des liberalen Fair Play vertrauen. Jenseits dieses verfassungskulturellen, historischen Sonderfalls ist spätestens mit Kelsens demokratietheoretischer Herleitung als „Hüter des Pluralismus“ einer „offenen Gesellschaft“ die Notwendigkeit des Bundesverfassungsgerichts auch in einer erwachsenen Demokratien ausdrücklich zu bejahen. Aber: Kelsens bahnbrechend moderne „Staatslehre ohne Staat“15 und Demokratie ohne homogene politische Einheit „Volk“16 – und mit ihr seine Theorie von der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie – war in der deutschen Staatslehre jahrzehntelang eine theoria non grata. Beim „Denken vom Staat her“17 las mancher lieber „heimlich“ weiter Carl Schmitt und viele die Integrationslehre von Rudolf Smend, die wirkmächtig auch beim Bundesverfassungsgericht zu einer Art offiziellen Doktrin avancierte18 – und vergaß einfach, dass diese in ihrer antipluralis12 Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 13 Vgl. Kelsen (Fn. 3). 14 Vgl. van Ooyen, Der Streit um die Staatsgerichtsbarkeit in Weimar aus demokratietheoretischer Sicht, in: van Ooyen/Möllers (Hg.), HB BVerfG PolSys, 2. Aufl., 2015, S. 169 ff.; Grimm, Recht oder Politik?, 2020. 15 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Neudr. der 2. Aufl., 1981, S. 208. 16 Vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, 2. Aufl., 2020; van Ooyen, Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, 2. Aufl., 2017. 17 Günther, Denken vom Staat her, 2004. 18 Nicht einmal die Staatslehre des nationalen, aber sozialdemokratischen Etatisten Hermann Heller drang anfänglich durch; sein Schüler, Richter Drath, blieb wegen seines sozialwissen-

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tischen und antiparlamentarischen Ausrichtung gegen Weimar von Schmitts Lehre ursprünglich ja gar nicht viel trennte.19 Bis heute aber wird mit Smend staatsrechtlich integriert, sei es bei Ausländern und Behinderten, sei es durch den Bundespräsidenten oder lange Jahre auch im „unitarischen Bundesstaat“20. In Deutschland gilt: Gemeinschaft statt Gesellschaft und deshalb ist man hier immer „integriert“ durch das „mit“: Mitbewohner*in – Mitarbeiter*in – Mitmensch, vor allem aber Mitbürger*in, als ob Bürger*in nicht ausreichte, weil das Individuum nur in der „Gemeinschaft“ gedacht werden kann. Und spätestens seit dem Statusbericht (s. o.) von Richter Leibholz – wie Richter Hesse ein Schüler Smends – beschreibt das Bundesverfassungsgericht sich über die Parteigrenzen hinweg sogar selbst mit der Funktion der Integration.21 So gesehen geht es dann aber bei der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht primär um den Schutz von Freiheit und Demokratie, sondern um den der „Gemeinschaft“ und des „Staatsganzen“.

II. Braucht die deutsche Demokratie dieses Verfassungsgericht? Eine Bilanz über einen so langen Zeitraum von 70 Jahren muss gemischt ausfallen, kann – und soll – dem Gericht in der Kürze eines Essays natürlich keinesfalls gerecht werden, sondern nur eine zugespitzte Impression liefern. Das Bundesverfassungsgericht gibt es sowieso nicht, nicht nur weil es zwei Senate sind. Es hat sich bei allen Kontinuitäten in der deutschen Staatslehre im Laufe der Zeit zudem immer wieder verändert; und allein eine oberflächliche Durchsicht der Sondervoten zeigt, wie auch in den Senaten selbst um die „Deutungsmacht“ gekämpft wird.22 Rückblickend sei etwa an die Kampfabstimmung über das richtige Verständnis von Europa bei „Solange I“ (1974) erinnert, wenngleich sich dann hier schon mit knapper Mehrheit der „europafeindliche“, nationale Etatismus durchsetzte, der in den zentralen späteren Entscheidungen noch verschärft wurde. Mit seiner eigentümlichen „Hegelei“ beim Verständnis von Staat und Souveränität hat sich die Mehrheit des Gerichts bis heute den Weg zu einem modernen Begriff des Politischen versperrt. Die staatstheoretischen Begründungen zu Maastricht (1993) und

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schaftlichen Zugangs und als Sozialist Außenseiter im eher traditionell besetzten Bundesverfassungsgericht – und in der konservativ dominierten Staatslehre. Heller wurde dann erst herangezogen, als es bei der Maastricht-Entscheidung (1993) galt, in Sachen Demokratie und Souveränität den offenen Rückgriff auf Schmitt zu camouflieren. Vgl. Baldus, Wer war und wofür steht Martin Drath?; RuP 2007, S. 86 ff.; van Ooyen, Homogenes Staatsvolk statt europäische Bürgerschaft: Das Bundesverfassungsgericht zitiert Heller, meint Schmitt und verwirft Kelsens postnationales Konzept demokratischer Rechtsgenossenschaft, in: Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität, 2010, S. 261 ff. Vgl. van Ooyen, Integration, 2014. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. Vgl. Limbach, Die Integrationsfunktion des Bundesverfassungsgerichts, in: Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, 2002, S. 320 f. Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006.

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Lissabon (2009) aus der Feder von Richter Kirchhof und Richter Di Fabio sind ja nur die einer breiteren politischen Öffentlichkeit bekannten Entscheidungen. Subkutan spürbar wird das in ganz vielen Bereichen seiner Rechtsprechung, die den „Staat“ als besondere Substanz berühren;23 z. B. auch beim Berufsbeamtentum, wo das Gericht ein Stück Verfassung geändert hat, indem es die Auslegung des Art. 33 V GG von der bloßen „Berücksichtigung“ einfach zur Beachtung der hergebrachten Grundsätze verschob; so bleibt das Beamtenrecht das „Sonderrecht einer ,staatstragenden‘ Gruppe“ und schirmt bis heute das Dienstrecht gegen Neuerungen ab.24 Im Asylrecht etwa ist die „politische Verfolgung“ i. S. d. Art. 16 bzw. später 16a GG von ihm ganz selbstverständlich (und hegelianisch) auf „staatliche Verfolgung“ reduziert worden25 (z. B. im Tamilen-Beschluss 1989) und im Asylkompromiss (1996) wurde angesichts der einhelligen politischen Stimmung, die „Flüchtlingswellen“ zu „bekämpfen“, staatsräsonistisch beiläufig dessen Menschenwürdecharakter einfach kassiert. Deutlich wird das auch an seiner ablehnenden Haltung zur Parlamentarisierung der Außenpolitik von der Entscheidung zum Nato-Doppelbeschluss der 1980er Jahre bis zur aktuellen Rechtsprechung zum Auslandseinsatz der Bundeswehr.26 Die dem Publikum gerade in den völker- und europarechtlichen Urteilen überhaupt immer wieder entgegenschlagende nationale Nabelschau auf dem Theoriestand des 18./19. Jahrhunderts (Dualismen von Staats- und Völkerrecht, Bundesstaat und Staatenbund, Internationale Beziehungen als Hobbesscher Naturzustand usw.) findet eine ihrer Ursachen in den Traditionsbeständen der deutschen Staatslehre, die selbst in der liberalen Wendung ihres Altmeisters Georg Jellinek ebenso etatistisch geblieben ist wie in ihrer sozialdemokratischen Färbung eines Hermann Heller. Der in der deutschen Staatslehre so „vermisste Leviathan“27 ist daher auch ein Phantomschmerz des Bundesverfassungsgerichts. Flankiert wird das durch eine Pseudo-Rousseau-Volks-Demokratietheorie, in der das Volk als vorgegebene, homogene und politische Einheit begriffen wird, das sich und seine Souveränität als „ursprüngliche Herrschermacht“28 wie Gott, schöpferisch und sich selbst erschaffend, in einem politisch-theologischen Entscheidungsakt kreiert. Zum ontologischen Staatsbegriff im Sinne eines „Staatswillenspositivismus“29 gesellte sich so beim Bundesverfassungsgericht noch ein ontologischer „Volkswillensbegriff“. Spät entdeckte das Gericht überhaupt die Demokratie, zu sehr dominiert in der deutschen Tradition der Justiz und Juristenausbildung das Rechtsstaatsprinzip. Es ist 23 Alshut, Der Staat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1999; van Ooyen (Fn. 2). 24 Bull, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur „Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“, in: HB BVerfG PolSys (Fn. 14), S. 821. 25 Vgl. van Ooyen, Staatliche, quasistaatliche und nichtstaatliche Verfolgung?, ARSP 2003, S. 387 ff. 26 Vgl. van Ooyen, Das Bundesverfassungsgericht und der Einsatz der Bundeswehr, 3. Aufl., 2020. 27 Chr. Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008. 28 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, S. 180 und 183. 29 Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, Leviathan 2003, S. 362 ff.

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wohl Richter Böckenförde zu verdanken, dass das Bundesverfassungsgericht in Sachen Demokratietheorie zwar nachschulte – aber ausgerechnet mit der „falschen“ eines CarlSchmitt-Schülers. Und so blieb die pluralistische Demokratietheorie des Ersten Senats Episode, die die Richter Simon, Herzog und Hesse auch aufgrund ihrer „protestantische(n) Sozialisation“30 mit dem berühmten Brokdorf-Beschluss (1985) angesichts des Wandels der Protestkultur formuliert hatten.31 Zu Recht sprach man schon Anfang der 1990er Jahre von dieser „Volksdemokratielehre“ des Zweiten Senats als „Irrweg der Demokratietheorie“.32 Denn im „neo-etatistischen“, liberal gezähmtem Schmittianismus des national vermittelten Legitimationskettenmodells kommt echte „Demokratie durch Hierarchie“ letztendlich immer von oben33 – und die Zivilgesellschaft der pluralistischen Gruppen so gut wie gar nicht vor; eben mehr staatliches Kratein als gesellschaftlicher Demos. Das gerade bei Europa anhand der Souveränität des deutschen Volkes konstatierte „Demokratiedefizit“ der „Kein-Demos-These“ des Zweiten Senats entpuppt sich so als „Demokratietheorie-Defizit“, das dringend der Korrektur durch Anschluss an die Pluralismustheorie und Europäische Verfassungslehre bedarf.34 Von hier aus betrachtet verwundert es auch nicht, dass mit dem Ausscheiden von Richter Steinberger (1987) über 20 Jahre lang überhaupt kein ausgewiesener Völkerrechtler mehr dem Zweiten Senat angehört hat. Das fachlich glänzend besetzte Gericht macht so auch keine Ausnahme von dem Befund, trotz beschleunigter Globalisierung der Politik und Internationalisierung des Rechts Spitzenpositionen gerade in diesem Bereich mit Personen zu besetzen, deren internationale Erfahrung überschaubar bleibt. Eben lange Jahre typisch deutsch: schlecht Englisch sprechende Minister, Kanzler und EU-Kommissare, Bundes- und Landespolitiker, die nach Europa wegversorgt werden – auch bei den Grünen. Das ausländische Klischee von der Provinzialität der Deutschen schien damit von Ausnahmen abgesehen lange selbst beim Karrieremuster von Verfassungsrichtern (selten: Richterinnen) erfüllt. Die regelmäßigen Konflikte mit EuGH und EGMR lassen sich jenseits des rechtspolitischen Ringens um die normativ richtige Deutung – und um die eigene Entscheidungsmacht – rechtssoziologisch vielleicht auch vor dem Hintergrund dieser Folie begreifen. Dass das Bundesverfassungsgericht aber zumindest im Bereich der Justiz dann schon selbst wiederum Avantgarde ist, zeigte sich stellenweise an seinem Görgülü-Beschluss zur Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR (2004), in dem es die Fachgerichtsbarkeit mehr als deutlich mahnte, diese 30 Lepsius/Doering-Manteuffel, Die Richterpersönlichkeiten und ihre protestantische Sozialisation, in: Doering-Manteuffel/Greiner/Lepsius (Hg.), Der Brokdorf-Beschluss, 2015, S. 167 ff. 31 Vgl. van Ooyen, Der Brokdorf-Beschluss (1985) und die andere Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts, RuP 2015, S. 225 ff. 32 Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, SuS 1994, S. 305 ff. 33 Rinken, Demokratie und Hierarchie, in: KJ (Hg.), Demokratie und Grundgesetz, Sonderheft, 2000, S. 135. 34 Vgl. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 8. Aufl., 2020; Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8. Aufl. 2016.

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bei der Auslegung von Recht und Gesetz doch überhaupt einmal zur Kenntnis zu nehmen. Hier schien die Spitze eines Eisbergs sichtbar zu werden, da Teile der „nachgeordneten“ Justiz die EMRK wohl immer noch bloß als das von der deutschen Justizpraxis ganz weit entfernte Recht eines interstellaren Raums begriffen. Trotzdem: All diese Mythen von „Staat“ und „Volk“ führten nicht nur zum problematischen Wiederaufleben des Weimarer Musters einer Entgegensetzung von Parlamentarismus und Demokratie im Sinne Carl Schmitts bei der Lissabon-Entscheidung. Sie erschweren mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft auch ganz erheblich das Durchdringen zu einem demokratischen Begriff von Bürger*in, der problematische Implikationen der „deutschen Volkszugehörigkeit“ in Art. 116 GG ebenso von vorneherein kategorisch ausschließt wie die gemeinschaftsverseuchten Versuchungen des Begriffs der Kulturnation. Beide stehen einer zeitgemäßen Interpretation des Ausländer- und Religionsverfassungsrechts im Wege. Die Entscheidungen Ausländerwahlrecht (1990), Sinti und Roma-Kammerbeschluss (1998), Kruzifix (1995) und Kopftuch I-III (2003 – 2020) überzeugen in diesem Kontext daher nicht:35 Das Bundesverfassungsgericht hält prinzipiell am tradierten Volksbegriff fest, auch wenn es dem Gesetzgeber die liberal-pluralistische Hintertür für dessen Überwindung durch den leichteren Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit öffnete („Bodenprinzip“). Bei seinem Beschluss zur pluralistischen Zusammensetzung von Rundfunkräten (bzw. Aufsichtsgremien der Landesmedienanstalten) durch die sog. gesellschaftlich relevanten Gruppen hielt es den Gestaltungsspielraum nicht für willkürlich überschritten, auch wenn der jeweils zuständige Landesgesetzgeber neben den Religionsgesellschaften jede Menge Sozial- und Berufsverbände, darunter auch Exoten, nicht aber Roma und Sinti berücksichtigte (so viel zur „Integrationsfunktion“). Im Falle der Kreuze in den Klassenzimmern Bayerns, die im Grundsatz runter müssen, betonte man ganz streng die Neutralität des Staats, obwohl andererseits im Grundgesetz gar keine strikte Trennung von Staat und Kirche gegeben ist und das deutsche Religionsverfassungsrecht nach wie vor eine Schlagseite zum „Staatskirchenrecht“ der etablierten Religionsgesellschaften und deren öffentlichrechtlichen Amtskirchen aufweist. Erst die Klagen der „Mobilisierungsakteure“, darunter gerade auch von moslemischen Religionsangehörigen, die über keine öffentlichrechtlich-institutionalisierten Machtbasen wie die christlichen Kirchen verfügen,36 haben hier den überfälligen Perspektivenwechsel zum grundrechtsbezogenen Religionsverfassungsrecht im Laufe der Jahre vorangetrieben. Beim „Kopftuch“ ließ sich wiederum ein offener Schlagabtausch zwischen den Senaten selbst über fast zwanzig Jahre „Kampfdistanz“ beobachten: Angesichts der Empörung bei „Kruzifix“ (und wohl auch dem internen Dissens geschuldet) übte der Zweite Senat bei „Kopftuch I“ (2003) scheinbar (?) Judicial Self Restraint durch eine „Sowohl-als-auch-Formel“: Er verwies einfach auf den Gesetzgeber, der nun mehr Religionspluralismus im staatlichen Bereich

35 Vgl. van Ooyen, Ausländerwahlrecht, 3. Aufl., 2021; van Ooyen Das Bundesverfassungsgericht und der „Kopftuch-Streit“, 3. Aufl., 2020. 36 Gawron, Bundesverfassungsgericht und Religionsgemeinschaften, 2017, S. 9 und 52.

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zulassen – oder aber eben auch einfach alle religiösen Symbole für den Schulfrieden generell und automatisch verbieten könne. Letzteres und das damit verbundene, eher merkwürdige Verständnis von Freiheit als genereller „Gefahr“37 suchte daher der Erste Senat mit „Kopftuch II“ (2015) zu kontern: Denn inzwischen hatten so gut wie alle Landesgesetzgeber genau diesen, wohl vom Zweiten Senat antizipierten Weg des generellen Verbots eingeschlagen, wenn nicht sogar wie NRW dabei dreist durch die juristische „Hintertür“ Ausnahmen für christliche Symbole vorgesehen. Die nun gegen Kopftuch I- gerichtete Kopftuch II-Entscheidung einer jetzt nur noch ganz ausnahmsweise zulässigen Einschränkung der Religionsfreiheit im Staatsdienst ließ der Zweite Senat aber nicht auf sich sitzen. Im Streit um das Tragen religiöser Symbole bei Gericht nutzte er „Kopftuch III“ (2020), um in der Spur der schon bei „Lissabon“ reanimierten „Kernstaatslehre“ des 19. Jahrhunderts gleich Reservate besonderer, „echt“ hoheitlicher staatlicher Tätigkeiten zu reklamieren. Denn solche Grundrechte könnten dort für öffentlich Bedienstete doch nicht einfach gelten. So holte das Gericht die eigentlich überwunden geglaubte obrigkeitsstaatliche Theorie vom „besonderen Gewaltverhältnis“ zurück. Auch in einem weiteren Feld der Demokratisierung von Gesellschaft und Staat zeigt sich das dialektische Oszillieren zwischen liberaler Modernität und konservativem Beharren: beim Herrschaftsverhältnis der Geschlechter. Das Bundesverfassungsgericht war maßgeblich beteiligt, die im Ehe- und Familienrecht verankerten Diskriminierungen mithilfe des Art. 3 GG zu kippen, die man heute nur noch als ferne Relikte einer dunklen Vorzeit oder kulturell-räumlich weit weg etwa mit „Talibanistan“ assoziieren könnte. Aber „Stichentscheid des Vaters“, männliche bäuerliche Erbfolge galten auch noch unter dem Grundgesetz und längst keine 70 Jahre sind es her, dass Frauen ohne Einwilligung des Ehemanns auch ein Konto eröffnen und sogar arbeiten dürfen. Andererseits ist das Gericht selbst aber ganz Mitte der Gesellschaft geblieben: Erna Scheffler war bei der Konstituierung 1951 nicht nur die erste, sondern lange Jahre überhaupt die einzige Richterin und ihr in dieser „Alibifunktion“38 bemerkenswerter Weise das familienrechtliche Dezernat zugewiesen. Im „staatstragenden“ Zweiten Senat dauerte es gleich noch etwas länger, nämlich mit Richterin Karin Graßhof bis 1987. Erst jetzt ist der Makel eines nicht halbwegs paritätisch besetzten Gerichts beseitigt, selbst wenn zuvor mit Jutta Limbach sogar eine Richterin einmal die Präsidentschaft innehatte. Da das aber zumindest nicht in der unmittelbaren Steuerungsmacht des Gerichts selbst gelegen hat, müssen sich natürlich vor allem die Wahlgremien diesen Vorwurf gefallen lassen. Für den öffentlich viel beschworenen „Migrationshintergrund“ gilt das gleiche. Auch beim Bundesverfassungsgericht ist alles sehr „(west)deutsch“. Unter den Namen aller 37 Sacksofsky sowie Chr. Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, beide in: VVDStRL 68, 2009, S. 7 bzw. 47 ff. 38 Hohmann-Dennhardt, Das Bundesverfassungsgericht und die Frauen, in: HB BVerfG PolSys (Fn. 14), S. 415.

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Richter*innen seit 1951 fallen bloß „Bryde“ und „Di Fabio“ auf.39 Mit Udo Di Fabio ist dann tatsächlich 1999 erstmals ein Nachkomme italienischer Einwanderer des Ruhrgebiets, also im Sinne der „amtlichen“ Bezeichnung „Migrationshintergrund“, Richter geworden.40 Auf den ersten türkischen Namen bleibt sicher noch einige Jahre zu warten. Diese Makel erweisen sich im Vergleich zum Supreme Court leider als erschreckend „normal“.41 Gerade die über 200-jährige Geschichte amerikanischer Verfassungsgerichtsbarkeit lässt aber auch kaum Zweifel, dass Verfassungsrechtsprechung nicht unwesentlich durch die personelle Zusammensetzung des Gerichts beeinflusst wird, gleichwohl nicht in dem schematischen Sinne einer Pawlowschen Reiz-Reflex-Reaktion, wie es gerne vereinfacht bei der Parteizugehörigkeit der Richter*innen angenommen wird. Bei so viel Mitte der Mehrheitsgesellschaft, die das Bundesverfassungsgericht repräsentiert, eingebettet zudem in eine allgemeine politische Kultur der „Konfliktscheu“42 wird man umwälzende Entscheidungen selten erwarten dürfen. Ohnehin neigen (deutsche) Jurist*innen in Ausbildung und beruflicher Sozialisation in aller Regel zum Konservativismus, wenigstens kaum zur Revolution – die sozialistischen bzw. „konservativen Revoluzzer“ Karl Marx und Carl Schmitt einmal ausgenommen. Das gilt erst recht angesichts des konsensorientierten 2/3-Quorums bei der Richterwahl in Bundestag und Bundesrat, die die beiden großen Parteien bisher fast vollständig unter sich ausmachten. Das erfordert fachlich und/oder politisch gut ausgewiesene, aber nicht zu exponierte, polarisierende Kandidat*innen, wie man beim Scheitern der von der SPD jeweils ins Rennen geschickten Rechtspolitikerin Däubler-Gmelin und dem an Kelsen geschulten Verfassungsrechtler Dreier beobachten konnte. Rechtssoziologisch gibt es zudem noch eine weitere traditionelle Schlagseite zugunsten der „Staatsnähe“: Denn Jurist*innen etwa, die im „früheren“ Leben einmal über Jahre hinweg so „richtig“ als Rechtsanwälte tätig waren – immerhin der Kern des Berufsstands – kommen in der Geschichte des Bundesverfassungsgericht so gut wie überhaupt nicht vor. Endlich und „stolz“ konnte man daher 2018 Richter Harbarth präsentieren, Rechtsanwalt – wenn auch milde formuliert: sehr „wirtschaftsnah“. Jenseits des Berufsrichterelements und 39 Bei Brun-Otto Bryde liegt die Linie dänischer Vorfahren aber wohl einige Jahrhunderte zurück. 40 Wenn „innerdeutsche“ Migration infolge von Flucht und Vertreibung unberücksichtigt bleibt oder z. B. die Rückkehr des deutsch-jüdischen Emigranten Gerhard Leibholz aus dem englischen Exil. 41 Gegen die Nominierung von Louis D. Brandeis, erster jüdischer Richter und Präsident der amerikanischen Zionisten, wurden 1916 noch antisemitische Vorbehalte bis in das Gericht selbst hinein laut; erst 1967 gab es mit Thurgood Marshall einen afro- und 1986 mit Antonin Scalia einen italo-amerikanischen Richter; viel zu spät, nämlich 1981, gelangte mit Sandra Day O’Connor überhaupt eine Frau in das Amt. Während John F. Kennedy der erste Katholik im Präsidentenamt gewesen ist, ist inzwischen mit dem Ausscheiden von John P. Stevens gar kein Richter mehr der alten WASP-Elite zuzurechnen. Auf eine(n) Richter/in muslimischen Glaubens wird gleichwohl auch hier weiter zu warten sein. 42 Sontheimer/Bleek, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Neuausg., 1999, S. 184.

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solch anwaltlicher „Eintagsfliegen“ ist und bleibt das Bundesverfassungsgericht aber ein Professor*innen-Areopag – von einem Laienelement, wie es immerhin manches Landesverfassungsgericht kennt, schon gar keine Spur. Die immer wieder gestellte Frage: „Das Bundesverfassungsgericht – eine Gegenregierung?“43 scheint angesichts des deutschen politischen Systems daher wohl überspannt. US-Präsidenten dagegen sahen sich nicht selten mit knappen aber harten RichterGegen-Mehrheiten konfrontiert, die durch ihre(n) Vorgänger bestimmt worden sind: Reagan, Bush I und Bush II hatten die politische Chance, die gesamte Richtung der noch infolge der Warren- und Burger-Ära „spät-liberalen“ Rechtsprechung des Supreme Courts zu kippen, die vor allem dem religiös-rechten Flügel der Republikaner seit Jahrzehnten ein Dorne im Auge war; Trump hat es inzwischen „vollendet“. In der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts hat es jedenfalls auch keine „Four Horsemen“ gegeben.44 Selbst angesichts der Konflikte mit Kanzler Adenauer um dem von ihm geplanten „Regierungsfunk“ (Deutschlandfernsehen 1961), mit Willy Brandt und der sozialliberalen Koalition um Ostverträge und Reformpolitik der 1970er Jahre sowie mit den Innenministern um Grundrechtseinschränkungen und „Bürgeropfer“ bei der „Selbstbehauptung des Rechtsstaats“45 erweist sich das Bundesverfassungsgericht viel eher als eine stabilisierende Legitimationsreserve: Es hilft, die in Regierung und Parlament demokratisch beschlossenen Entscheidungen durch seinen „Begründungsaktivismus“ abzusichern.46 Das gilt letztendlich wohl auch für seine Rechtsprechung zur deutschen Frage, ohne Zweifel z. B. für die beiden Entscheidungen zur „fingierten“ Bundestagsauflösung durch die Kanzler Kohl und Schröder (1983 bzw. 2005), im letzteren Falle dann sogar nur noch in Form einer bloßen „Kontrollinszenierung“.47 Es gilt sogar – oder vielleicht gerade – für die Europarechtsprechung, in der mit weit ausholendem, staatstheoretischem Pathos und noch mehr Bedenken letztlich im Prinzip jedes Mal die Verfassungskonformität festgestellt und der europäischen Integration nicht wirklich ein Stein in den Weg gelegt worden ist, selbst nicht bei allem „Getöse“ durch den aktuellen „EZB-Beschluss“ (2020). Auch bei der Corona-Pandemie hat das Gericht sich „regierungsfreundlich“ verhalten – oder, um es drastischer zu formulieren, ist es, wie die Parlamente, als ein „Hüter der Verfassung“ ausgefallen. Denn es hat alle Beschwerden gegen die flächendeckenden und völligen Grundrechtsaufhebungen der Exekutiven in Bund und Ländern einfach auf den Rechtsweg 43 So schon verneint von Wever, Das Bundesverfassungsgericht – eine Gegenregierung?, in: Blanke/Wollmann (Hg.), Die alte Bundesrepublik, Sonderheft Leviathan, 1991, S. 310 ff. 44 Die Bezeichnung spielt auf die apokalyptischen Reiter an und meinte die konservativen Justices Butler, McReynolds, Sutherland und Van Devanter: im Machtkampf mit Präsident Roosevelt hatte der Supreme Court während der 1930er Jahre die erste Phase der populären Sozialreformen des New Deals zur Bekämpfung der Großen Depression kassiert. 45 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaat, 2007. 46 Vgl. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004. 47 Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 121 – Bundestagsauflösung II, Abw. Mg, Rnr. 220 (Internetfassung).

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und damit an die Verwaltungsgerichte verwiesen48 – als ob es um Parkknöllchen oder Genehmigungen von Garagenanbauten ginge. In Sachen Demokratie hat das Bundesverfassungsgericht, das bei Europa so gerne den Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestag laufend in seinen Urteilen reklamiert, sich jetzt zu Wort gemeldet und mahnend „mehr Parlament“ gefordert: aber nicht endlich mit einer Grundsatzentscheidung, sondern bloß durch ein Interview seines Präsidenten Harbarth49 – und zwar, so wie kürzlich Bundestagspräsident Schäuble, nach einem Jahr, nämlich am Ende des zweiten Lockdowns (!). Das kann man bloß noch wohlfeil nennen. Und gerne greift das Bundesverfassungsgericht beherzt zu, hilft staatsräsonierend mit seinem verfassungspolitischen Segen von „oben“ aus, wenn leider verfassungsändernde Mehrheiten im Parlament gerade einmal ausdrücklich nicht zur Verfügung stehen: so zuletzt bei der Entscheidung „Luftsicherheit“ (2013) zum Inlandseinsatz der Bundeswehr bei Terrorlagen,50 aber auch bei seinem ersten „Out-of-Area-Urteil“ (1994). Schon den damals neuen Begriff des „Parlamentsheeres“ schöpfte es aus dem Grundgesetz einfach i. V. m. einem luziden Blick in die Geschichte, ganz im Sinne der von Leibholz zur Weimarer Zeit geforderten phänomenologischen Wesensschau, die des Textes nur zur rechtsphilosophischen Anregung bedarf. Das kann man so aber noch nicht einmal in der Politischen Theorie machen. Manchmal, wie im Falle der Parteiverbotsverfahren gegen die neonazistische FAP und NL (1994), zaubert es auch zielführende und prozessabkürzende neue Prüfungsmaßstäbe herbei, an die selbst die das Verbot beantragenden Regierungen überhaupt nicht gedacht hatten; das ist im Ergebnis zwar sehr sympathisch, im damit rechtspolitisch beschrittenen Argumentationsweg aber nicht wirklich überzeugend gewesen. Überhaupt ist es recht kreativ im „Auffinden“ der Verfassungslage: da entstehen Sachen wie „Bundestreue“, „Wertordnung“, „Menschenbilder“, „praktische Konkordanzen“, „Wesentlichkeitstheorien“, „Verhältnismäßigkeitsgrundsätze“; im Rahmen der Volkszählung (1983) und Online-Durchsuchung (2008) auch schon einmal neue Grundrechte. Das Gericht arbeitet in der Diktion der Physik mit Heisenbergschen Unschärferelationen, die sich flexibel der Richtung des gewünschten Ergebnisses anpassen: So lässt sich die auf Smend zurückgehende Bundestreue nach Belieben zugunsten des Bundes oder der Länder drehen; die mit der Entscheidung zur Investitionshilfe (1954) gefundene Menschenbildformel hat von Anfang an auch eine anti-individualistische, gemeinschaftsbezogene Stoßrichtung gehabt, mit der sich umgekehrt liberale Grund-

48 Zur Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die dann mutig einzelne Maßnahme kassierten, vgl. M. Möllers, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie, in: van Ooyen/Wassermann (Hg.), Corona und Grundgesetz, 2021, S. 86 ff. 49 Vgl. Harbarth dringt auf Parlamentsbeteiligung, www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/ harbarth-bundestag-101.html vom 10. 2. 2021. 50 Vgl. van Ooyen, „Kalte“ Verfassungsänderung – die Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Luftsicherheit, RuP 2013, S. 26 ff.

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rechte zugunsten des Staates gerade verkürzen ließen51 – denn sie ging auf Richter Wintrich zurück, der als Mitglied der CSU der katholischen Soziallehre nahestand; bei den Abwägungslehren lässt sich nach Bedarf und Belieben „gewichten“, die neue „Europafreundlichkeit“ auch als „Europa der Vaterländer“ begreifen usw. Inwieweit das Verfassungsgericht das ganz bewusst tut, um sich situativ, von Entscheidung zu Entscheidung, den Spielraum dezisionistisch offen zu halten, oder ob es dabei nur „Opfer“ seiner vorausgesetzten, eigenen politisch-theoretischen Vorverständnisse ist, lässt sich wohl nur am jeweiligen Fall (bzw. Urteilsreihe) herausarbeiten. Das alles bleibt heikel, nicht nur weil es bisweilen an „Law Ficition“ grenzt (Helmut Ridder) und die mit dem Konzept des „negativen Gesetzgebers“ notwendig verbundene Kassations-Legislativgewalt weit überschreitet. So blickt das Bundesverfassungsverfassungsgericht, das bei Europa gerne das Demokratieprinzip einfordert und zuletzt im Lissabon-Urteil recht kleinlich den ungleichen Erfolgswert der Parlamentswahlen scharf monierte, hier in den tiefen Abgrund seines eigenen Demokratiedefizits – zumindest wenn man es an der von ihm vertretenen „Legitimationsketten-“ und „Wesentlichkeitstheorie“ misst: Für so viel Macht ist es wohl gar nicht ausreichend demokratisch legitimiert. Dies wiederum nicht, weil Direktwahlen zu fordern wären, sondern vor allem weil das bisherige Verfahren in Bundestag und Bundesrat sich unter Ausschluss einer öffentlichen, demokratischen Debatte vollzieht; fast denkt man dabei katholisch an: Habemus Papam. Im Zuge einer Reform wird man daher an der Frage von Hearings nach amerikanischem Muster nicht länger vorbeikommen, soll das Bundesverfassungsgericht andernfalls seine Legitimation nicht weiter auch durch problematische Quellen der deutschen politischen Kultur (s. u.) maßgeblich abstützen. Als letzte Instanz für die Bürger*innen hat das Bundesverfassungsgericht in der Beurteilung von Verfassungsbeschwerden immer wieder auch Kernpunkte einer liberalen Gesellschaft diskursiv herauspräpariert – und ihnen nicht zuletzt auch ein Stück „gefühlte“ Gerechtigkeit vermittelt. Für eine „offene Gesellschaft“ (Karl Popper), die angesichts der pluralistischen Vielfalt ihre politische Zusammengehörigkeit maßgeblich nur durch das in demokratischen Verfahren beschlossene, gemeinsame – und freiheitliche – Gesetz begründet, ist das gelinde gesagt nicht unwichtig. Doch auch hier bleibt der Befund ambivalent: Nicht nur, weil wir Deutschen zum prinzipienversessenen Querulantentum neigen und es so (auch) zu einem „Gericht für die Unbelehrbaren“ wurde, das sich folglich höchstrichterlich schon mit dem „Krähen von Hühnern auf dem Dorf“ und dem „Weltuntergang“ beschäftigt hat.52 Jährlich Tausende von Verfassungsbeschwerden lassen sich mit dem derzeitigen Personalstamm guten Gewissens wohl kaum und in der Praxis z. T. nur noch mit Hilfe von Blankovollmachten bewältigen, sodass rasch entweder eine Reform des bisherigen Verfahrens oder aber ein weiterer personeller und finanzieller Ausbau erfolgen müsste – vielleicht ein, zwei 51 Vgl. Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996. 52 Zuck, Ein Gericht auch für die Unbelehrbaren, in: FAZ, Staat und Recht vom 9. 2. 2011.

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weitere Senate? Das ist natürlich auch den Auswüchsen eines überregulierenden Gesetzgebers geschuldet, der so ein „Dauer-ABM-Programm“ für Jurist*innen mit immer neuen Ansatzpunkten für alle möglichen Klagen aufgelegt hat. Und so gibt es gar nichts mehr, worüber das Gericht nicht entscheidet oder zumindest jederzeit entscheiden könnte. Hier beschleicht den Beobachter in der Diktion Sigmund Freuds ein „Unbehagen in der Kultur“ des deutschen demokratischen Rechtsstaats. Vielleicht sollte man zynisch betrachtet lieber sogar auf eine Reform verzichten, einfach darauf setzend, dass die unermüdliche Arbeit des Gerichts endlich weniger flächendeckend und gründlich ausfiele, weil an seiner Prozessflut erstickend. Denn zu einem nicht geringen Teil trägt es für diese verfassungsrichterliche Allmacht durch Allzuständigkeit selbst die Verantwortung, weil es – wie einst Friedrich II. im Falle des Müllers Arnold – nicht der Versuchung widersteht, sich in der Rolle des „Gerechtigkeitshofs“ zu gefallen: Zu bereitwillig und zu oft ist es in deutscher Manier in die Detailfragen eingestiegen und hat dem Gesetzgeber gerne schon einmal den Lebenskomfort kinderreicher Beamtenfamilien vorgerechnet (Beamtenbaby 1990) oder aktuell die Anzahl Sonntage, an denen hintereinander vor Weihnachten Geschäfte öffnen dürfen, die Quadratmeterzahl beim Rauchverbot in Kneipen, die statistischen Maßstabsgrundsätze für Hartz IV usw. Hier gilt das „Bauhaus-Motto“ im Sinne Ludwig Mies van der Rohes: schon einmal weniger wäre mehr. Es ist aber inzwischen längst ein „entgrenztes Gericht“.53 Und so lässt sich z. B. über Jahrzehnte gleichgültig ignorieren, dass Bildungschancen bei uns so stark von der sozialen Herkunft abhängen wie in sonst keinem anderen OECD-Land – wenn nur durch höchstrichterliche Feststellung der Hartz IV-Empfänger ein paar Euros mehr plus Bildungsgutschein erhält und das häusliche Arbeitszimmer des Lehrers steuerlich abgesetzt werden kann. Letzteres aber selbstverständlich nur, soweit kein Büro anderweitig zur Verfügung steht; das ergibt sich bei genauer „wesensmäßiger“ Betrachtung des Willkürverbots sozusagen von selbst direkt aus dem Grundgesetz – wie die steuerliche Abzugsfähigkeit der „Pendlerpauschale“. Die auch für das Bundesverfassungsgericht nicht seltene deutsche Maßstabsverschiebung in das rechtspolitische Biedermeieridyll ist: auf der Suche nach der verlorenen Gerechtigkeit in einer großen Welt – aber mit ganz kleiner Münze. Vor allem aber zeigt sich aus demokratischer Sicht bei diesem falsch verstandenen Sinn eines Bürgergerichts – um in der Parabel des Müllers zu bleiben – dann doch zu viel Friedrich II. Denn das Verfassungsgericht bedient damit die in der deutschen politischen Kultur problematische Attitüde des „Formalismus“, nämlich politische Fragen als Rechtsprobleme und bloß unter juristischen Aspekten zu behandeln.54 So droht andauernd, dass das (gute) Recht gegen die (schäbige) Politik in Stellung gebracht und von den Bürger*innen nicht begriffen wird, dass in der Demokratie gesellschaftliche Regelungen zuvörderst politisch-parlamentarisch ausgehandelt und nicht autoritativ per Gerichtsbeschluss von „oben“ und „über den Parteien“ angeordnet werden sollten. Zu 53 Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011. 54 Vgl. Sontheimer/Bleek (Fn. 42).

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recht hatte der Justizminister und Rechtsphilosoph Radbruch mit Blick auf das monarchistische Erbe in der politischen Kultur Weimars festgestellt, dass die Überparteilichkeit „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaats“ sei.55 Auch soweit es die Zusammensetzung des Verfassungsgericht selbst betrifft, zeigt sich hier dieser typische Versuch, den „Makel“ des Politischen loszuwerden, das Politische aus Recht, Richter und Justiz auszutreiben und das Problem von Politik und Recht im Sinne eines „unpolitischen“, entpolitisierten Politikbegriffs zu lösen.56 Anlässlich etwa des seinerzeitigen, schon im Vorfeld zu beobachtenden Streits um den saarländischen Ministerpräsidenten Müller als „Politiker-Nachfolger“ des ausgeschiedenen Richters Di Fabio ist daher festzuhalten: Richter sind erstens immer „politische Richter“,57 ob man das nun wahrhaben will oder nicht; und zweitens gerade „Verfassungsrichter sollten Politiker“ sein, denn der andere Weg ist der „Weg in die Gelehrtenrepublik“.58 Dass ein Verfassungsgericht „politisch“ ist und Politik am laufenden Band macht, ja machen muss, braucht man in den USA jedenfalls nicht erst durch langatmige Erläuterungen über die Dialektik von Recht und Politik zu erklären. Und so mutierte das Bundesverfassungsgericht in seinen 70 Jahren auch zum Obrigkeits-Ersatz, der an die Stelle des mit der Weimarer Republik gestürzten Kaisers getreten ist. Genau darum aber „lieben (die Deutschen) ihr Verfassungsgericht“ und „verachten… ihr Parlament“,59 sodass es in allen demoskopischen Umfragen zum Institutionenvertrauen immer höchst und weit vor dem Bundestag abschneidet. Hier ist es einerseits „Getriebener“ einer vordemokratischen, obrigkeitsstaatlichen Rollenerwartung aber zugleich wohl auch Antreibender, weil es den Mythos vom unpolitischen Recht verbreitet, als Legitimationsreserve für die Akzeptanz seiner Entscheidungen nutzt und am Ende vielleicht sogar noch selbst daran glaubt, nur (richtiges) „Recht zu sprechen“. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch sein Oszillieren zwischen öffentlichem, rationalem Diskus im Sinne des Habermasschen „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“, der Geheimniskrämerei einer an Kaiserzeiten erinnernden Arkanpolitik sowie dem „Pathos der Endgültigkeit und Eindeutigkeit seiner Urteile“.60 Mit der Veröffentlichung seiner Sondervoten tat sich das Gericht daher sehr schwer, befürchtete es nicht nur Autoritätsverlust (der überdies ausblieb), sondern bedeutete es doch, offen einzuräumen, auch bloß ein Teil der „niederen“ (politischen) pluralistischen Gesellschaft zu sein – oder mit Max Weber formuliert: ein Stück der eigenen Autoritätsmagie zu entzaubern. So wurde erst im Spiegel-Urteil (1966), als die beiden

55 Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.): HBDtStR, Bd. 1, 1930, S. 289. 56 Vgl. van Ooyen (Fn. 2). 57 Wassermann, Der politische Richter, 1972. 58 Dernstädt, Politische Richter, in: Der Spiegel, 5/2011, S. 31. 59 Patzelt, Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Bundesverfassungsgericht?, in: ZParl 2005, S. 517; vgl. auch Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 338 ff. 60 Lietzmann, Kontingenz und Geheimnis, in: HB BVerfG PolSys (Fn. 14), S. 460 ff.

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politischen Lager im Ersten Senat wieder einmal zerstritten waren, überhaupt eine abweichende Meinung in einer Urteilsbegründung abgedruckt. Dagegen will das Bundesverfassungsgericht seinen „Schleier des Beratungsgeheimnisses“61 nach wie vor nicht lüften – noch nicht einmal für die zeitgeschichtliche Forschung. Jahrzehntelang hat es die Akteneinsicht auch bei seinen uralten Entscheidungen, wie etwa im Falle „Lüth“ (1958) verweigert. Das stand nicht nur im Widerspruch zur gängigen Regelung der generellen Aktenfreigabe nach 30 Jahren, sondern auch quer zur eigenen Rechtsprechung.62 Erst jetzt hat es sich hierfür geöffnet, aber manches – um nicht zu sagen das Interessanteste, nämlich die Votumsberatung – bleibt weiterhin tabu.63 Und so lässt sich schließlich die zweite Frage, ob wir dieses Gericht brauchen, in ihrer Komplexität wenn überhaupt kurz nur wie folgt beantworten: Ja, aber…

61 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. 62 Vgl. Henne, Die historische Forschung und die Einsichtnahme in Voten beim Bundesverfassungsgericht – Thesen zur Rechtslage, in: Henne/Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts)historischer Sicht, 2005, S. 19 ff. 63 Vgl. Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, 2018.

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Politikwissenschaftliche Bundesverfassungsgerichtsforschung Von Oliver W. Lembcke

Abstract Der Beitrag unternimmt eine Gesamtschau der politikwissenschaftlichen Beiträge zur Bundesverfassungsgerichtsforschung in den letzten 15 Jahren und ordnet die Entwicklungsstränge unterschiedlichen Designs und Theorieparadigmen zu. Nach einer kurzen Rückschau auf die für diesen Forschungszweig relevanten Impulse und begünstigenden Faktoren innerhalb der deutschsprachigen Forschungslandschaft werden drei Forschungsfelder – Handlungsrationalitäten, Netzwerke und Impact – näher betrachtet und deren Innovationen sowie Desiderata diskutiert.

I. Forschungsimpulse Mit Überblicksdarstellungen von Wissensgebieten verhält es sich ähnlich wie mit Zeitungen. Im Moment der Publikation werden sie von der Realität überholt. Dieser Beitrag wird keine Ausnahme sein; ebenso wenig waren es frühere. 2010 schrieben Hönnige und Gschwend in ihrem Literaturbericht für die PVS noch vom Bundesverfassungsgericht als „unbekanntem Wesen“,1 obwohl Dietrich Herrmann anlässlich der Festschrift für Wolfgang Ismayr von 2007 schon Felder ausmachen konnte, in denen „sich Politikwissenschaftler in den vergangen Jahren bemüht [haben], dem Phänomen ›Verfassungsgerichtsbarkeit‘ auf eigene Weise zu nähern“.2 Nüchtern betrachtet hat das Projekt, für das Hermann seinen Beitrag konzipiert hatte, unter dem Titel „Verfassung als institutionelle Ordnung des Politischen“ als Teil des Dresdner SFB zur „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (1997 – 2008) bereits maßgeblich dazu beigetragen, das Bundesverfassungsgericht auf die Agenda der Politikwissenschaft zu setzen. Das spiegelt sich nicht nur in der breiten Rezeption der Sammelbände zur „Integration durch Verfassung“ und „Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit“ wider.3

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Hönnige/Gschwend, PVS 2010, S. 507. Herrmann, in: Schrenk/Soldner (Hg.), Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2007, S. 401. Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, 2002; Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006.

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Duncker & Humblot, Berlin

Oliver W. Lembcke

Als Ausdruck des politikwissenschaftlichen Interesses kann auch das von van Ooyen und Möllers ebenfalls 2006 herausgegebene Handbuch zum Bundesverfassungsgericht gelten.4 Dieses Handbuch liegt seit einigen Jahren in zweiter Auflage vor, hat jedoch bereits in seiner Erstauflage das Gericht als wesentlichen Bestandteil des politischen Systems präsentiert – und damit eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht, die angesichts des state of the art in den USA längst überfällig war; man denke nur an die bedeutende Sektion Law & Courts innerhalb der American Political Science Association.5 Mit Blick auf den Mainstream der deutschen Politikwissenschaft dürfte die Einschätzung gleichwohl zutreffen, dass der politische Charakter des Gerichts lange Zeit weitgehend unbekannt geblieben war, obwohl schon Mitte der 1990er Jahre eine „global expansion“ der Verfassungsgerichtsbarkeit beobachtet wurde6 und mit diesem Siegeszug auch eine spezifische Form der judiziellen Governance.7 In der Rückschau kann man sagen, dass diese Prozesse in Deutschland zunächst in der Politischen Theorie aufgenommen worden sind – vielleicht auch deswegen, weil in diesem Bereich (zu jener Zeit) eine größere Nähe als in anderen Bereichen der Politikwissenschaft zur Nachbardisziplin der Rechtswissenschaft vorherrschte. Diese wiederum hatte ihrerseits schon seit längerer Zeit alle Hände damit zu tun, die Entwicklung des Europarechts und insbesondere die Rolle des EuGH in dogmatischer und methodischer Hinsicht zu integrieren.8 Die Triebkraft des EuGH beim Ausbau der EU hin zu einer eigenen Polity brachte daher noch einmal Farbe und Anschauung für die Thesen zur judiziellen Governance – einschlägig sind hier v. a. die Arbeiten von Weiler.9 Die Rolle des Luxemburger Gerichts stellt mithin einen weiteren Faktor dar, der dazu beigetragen hat, dass die Akteursqualität von Gerichten und deren Gestaltungskraft politikwissenschaftlich zur Kenntnis genommen worden sind. Zu einer Fundierung des politikwissenschaftlichen Interesses in einem breiteren Rahmen hat überdies die Rolle der Verfassungsgerichte im Transitionsprozess in Mittelund Osteuropa gespielt.10 Dazu haben innovative Theoreme beigetragen, mit dem neue oder andere Perspektiven auf die aus den USA importierte Diskussion um die „least dangerous branch“11 und den sie begleitenden Streit um die sogenannte counter-ma-

4 van Ooyen/Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. 2. Auf., 2015. 5 Ausführlicher hierzu die Darstellung von Frick/Lembcke/Lhotta, in: dies (Hg.), Politik und Recht, 2017, S. 20 ff. 6 Tate/Vallinder, The Global Expansion of Judicial Power, 1995. 7 Stone Sweet, Governing with Judges, 2000. 8 Exemplarisch Stone Sweet, in: GLJ 2007, S. 915 ff. und die daran anschließende Diskussion mit Walker (S. 929 ff.), Sadurski (S. 937 ff.) und Palombella (S. 941 ff.) – sowie Stone Sweets Antwort (S. 947 ff.). 9 Siehe v. a. Weiler, JCMS 1993, 417 ff.; Weiler, CPS 1994, S. 510 ff. 10 Ein Beispiel dafür ist die Dissertation von Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 2009. 11 Bickel, The Least Dangerous Branch, 1986 [1962].

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Politikwissenschaftliche Bundesverfassungsgerichtsforschung

joritarian diffculty entwickelt werden konnten. Ein Beispiel dafür ist die verfassungsgerichtliche Rolle einer „Versicherung“ für die Besitzstände der alten Eliten beim Poker um einen weitgehend friedlichen Machtübergang.12 Und die Rezeptionsbereitschaft innerhalb der Vergleichenden Politikwissenschaft gegenüber einer differenziert verfahrenden Verfassungsgerichtsforschung, die sich empirisch auszuweisen versteht, dürfte sich noch einmal erhöht haben infolge der augenfälligen illiberalen Gegenbewegung zur Ausweitung der judiziellen Governance durch die Autokratisierung in einer Reihe von Staaten, darunter auch solchen, die wie Ungarn und Polen Mitglied der Europäischen Union sind.

II. Theorielandschaft An den Beispielen Polen und Ungarn lässt sich auch der Grund verstehen, warum im Kontext der Verfassungsgerichtsbarkeit alte Themen neue Relevanz erhalten haben, so etwa die Frage nach der Besetzung der Richterbank und deren Bedeutung für die Performance des Gerichts.13 Nota bene eine Frage, die sogar im Mutterland des judicial review neuerliche Bedeutung erlangt hat, seitdem die Democrats überlegen, ihre politischen Mehrheiten zu nutzen, um Trumps politisches Erbe in Form einer dreifachen konservativen Neubesetzung des Supreme Court durch court packing aus der Welt zu schaffen. Bereits diese Gegenbewegung zur verfassungsgerichtlichen Expansion, vor allem aber die Strategien der Verfassungsgerichte in den rechtsfernen, wenn nicht gar rechtsfeindlichen Umfeldern autokratischer Staaten zu überleben,14 haben den Sinn dafür geschärft, dass das Forschungsparadigma der Justizialisierung zu kurz greift. Das gilt allerdings auch für die Perspektive der Politisierung, die nicht selten mit Carl Schmitts Diktum in Verbindung gebracht wird, wonach sich die Verfassungsgerichtsbarkeit (zu ihrem eigenen Schaden) der Politisierung nicht entziehen könne.15 So steht bei der Frage nach der Besetzung der Richterbank zweifellos die Politisierungsthese im Hintergrund. Denn im Kern geht es um die (empirisch zu untersuchende) Frage, ob es der Politik gelingt, durch die Besetzung mit „eigenen Leuten“ Einfluss auf die Entscheidungen des Gerichts auszuüben. Allerdings erweisen sich solche binären Vorstellungen des Verhältnisses von Politik und Recht in der Regel als unergiebig. Und im Extremfall kann auf diese Weise die Unabhängigkeit des Gerichts unterlaufen und das gewaltenteilige institutionelle Arrangement ausgehebelt werden. Auf theoretischer Ebene sollte jedoch eine solche dichotome Konzeption des Verhältnisses von Politik

12 Hirschl, Towards Juristocracy, 2004. 13 Siehe dazu die Studie von Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1984; aus ihrer Feder stammt auch der entsprechende Beitrag im Handbuch zum Bundesverfassungsgericht: Landfried, in: van Ooyen/Möllers (Hg.) (Fn. 4), S. 229 ff. 14 Ginsburg, Rule by Law, 2008; Bugaric/Ginsburg, Journal of Democracy 2016, S. 69 ff. 15 Schmitt, Der Hüter der Verfassung. 4. Aufl., 1996 [1931], S. 22.

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und Recht vermieden werden. Andernfalls droht das Design, schnell unterkomplex zu werden.16 Vor diesem Hintergrund wird man als einen forschungsförderlichen Aspekt den Umstand begreifen können, dass die verschiedenen Ansätze der Verfassungsgerichtsforschung eine vom new institutionalism17 bereicherte und in dieser Weise entgegenkommende18 Theorielandschaft vorgefunden haben, die überdies auch den internen Austausch erleichtert haben dürfte. Hinzukommt eine Auflockerung der disziplinären Grenzen. Zwar sind im deutschsprachigen Raum nicht reihenweise Lehrstühle für Rechtssoziologie aus dem Boden gestampft worden, aber erstens sind organisatorische Foren für den interdisziplinären Austausch geschaffen (z. B. der DVPW-Arbeitskreis Politik und Recht; Verfassungsblog.de) oder revitalisiert (z. B. Vereinigung für Recht und Gesellschaft, VRuG) worden, die zudem zweitens Impulse zur community building auch auf europäischer (z. B. Law & Court/ECPR) und internationaler Ebene (z. B. International Society of Public Law, ICON°S) befördert haben. ICON S ist darüber hinaus ein Beispiel für ein Forum eines nachhaltigen interdisziplinären Austauschs zwischen der Rechtswissenschaft mit den unterschiedlichen Disziplinen der Sozialwissenschaften – ein dritter Faktor, von dem gerade auch die politikwissenschaftliche Forschung zum Bundesverfassungsgericht jenseits aller Tradition interdisziplinärer Konkurrenz profitiert.19 Dass die Öffnung der Rechtswissenschaft gegenüber Ansätzen empirischer Forschung immer wieder auch intern von Dissonanzen begleitet ist, kann kaum überraschen; eher schon, wie produktiv diese Meinungsverschiedenheiten mittlerweile ausgetragen werden.20 Aus Sicht der Politikwissenschaft wie der Sozialwissenschaften insgesamt wächst die Zahl an Möglichkeiten, Zugang zur und Austausch mit der Jurisprudenz zu finden. Der gemeinschaftlich von den Organisationen Recht im Kontext und Leibnitz Linguistic Research into Law sowie dem Arbeitskreis Politik und Recht 2019 in Berlin ausgerichtete Workshop zum Thema „Empirische Analyse von verfassungsrechtlichen Urteilen“ war in diesem Sinne zweifellos ein Beispiel gelingender Transdisziplinarität.

III. Handlungsrationalitäten Die Breite des institutionentheoretischen Angebots hat im Kontext der Forschung zur deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit eine Reihe von Forschungsdesigns hervorgebracht, in denen sich ganz unterschiedliche Annahmen über die Handlungsrationalität gerichtlicher Entscheidungsprozesse spiegeln. Diese Ansätze lassen sich auf Basis einer 16 17 18 19 20

Wrase/Boulanger, in: dies. (Hg.), Politik des Verfassungsrechts, S. 9. March/Olson, APSA 1984, S. 734 ff. Smith, APSR 1988, S. 89 ff. Wrase, in: Wrase/Boulanger (Hg.) (Fn. 16), S. 18 ff. Siehe dazu die Beiträge zum Online-Symposium „Empirischen Wende“ auf der Plattform Rechts|Empirie (https://rechtsempirie.de/10.25527/re.2020.06/online-symposium-empiri sche-wende/; retrieved 23. 04. 2021).

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bekannten Einteilung von Hall/Taylor hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Institution und Akteur auf einer Skala darstellen.21 Auf dem einen Pol finden sich Ansätze, die stark vom Rational Choice beeinflusst sind (RCI). Hier ziehen die Akteure institutionelle Vorgaben nur insoweit in Betracht, als diese ihre Interessen und deren Durchsetzung tangieren. Auf dem gegenüberliegenden Pol versammeln sich die Ansätze des soziologischen Institutionalismus (SI), in denen die Akteure durch die Institutionen und deren zugrundeliegenden Sinnpotentialen („Leitideen“) mit Orientierung versorgt werden, weshalb den Institutionen eine transformative oder sogar konstitutive Kraft für den Status und das Handeln der Akteure zugeschrieben wird, versorgen sie diese doch – in der Sprache der alten Rollensoziologie – mit den erforderlichen „Skripten“ für angemessenes Handeln.22 Die gedachte Skala belässt darüber hinaus genügend Raum für Ansätze, die – wie der historische Institutionalismus (HI) – eine Art Balance zwischen (oder auch nur Hybridisierung im Umgang mit) der Eigenständigkeit des Akteurs einerseits und den strukturellen Vorgaben der Institution anstreben. Verortet man nun wesentliche empirische Beiträge zur Bundesverfassungsgerichtsforschung auf dieser Skala, so gehören diejenigen Studien, in denen die Verfassungsrichter als policy seeker23 konzipiert werden, aufgrund der ökonomisch grundierten Handlungsrationalität zum RCI-Pol.24 In ihrer Ausrichtung nehmen diese Ansätze deutliche Anleihen beim strategischen Ansatz aus der amerikanischen Forschung. Wie beim sogenannten attitudinal model wird das individuelle Verhalten des Richters als Funktion der persönlichen Einstellungen begriffen, der in seinen Entscheidungen möglichst viel von den eigenen ideologischen Präferenzen durchzusetzen versucht.25 In dem Versuch, das Entscheidungsumfeld zu berücksichtigen, geht der strategische Ansatz jedoch über den Einstellungsansatz hinaus. Jener teilt mit diesem das Bild vom Richter als PolicyNutzenmaximierer, der hier jedoch bestrebt ist, die Erwartungen und mögliche Widerstände anderer Akteure zu antizipieren und deren Relevanz für die jeweilige Entscheidung zu bedenken. Diese strategische Ausrichtung versucht Hönnige durch den Rekurs auf die Vetospielertheorie zu integrieren.26 In der Konsequenz wird dadurch nicht nur das Umfeld des Verfassungsgerichts zum Vetospieler; in erster Linie (aber keineswegs darauf beschränkt) durch die Richterwahlen und das Ziel, die Richterbank mit verlässlichen Gefolgsleuten zu besetzen. Der Senat und die Kammern werden hier 21 Hall/Taylor, Political Studies 1996, S. 936 ff. 22 Um die Erneuerung der Rollensoziologie im Kontext der Verfassungsgerichtsforschung hat sich v. a. Boulanger in den letzten Jahren bemüht; siehe u. a. Boulanger, in: Wrase/Boulanger (Fn. 16), S. 63. 23 Vgl. etwa Hönnige, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition, 2007, S. 62 ff. Zum Richter als policy seeker bereits Pritchett, Journal of Politics 1942, S. 491. 24 Siehe Hönnige (Fn. 23), S. 65 ff.; ders., Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie 2006, S. 179 ff.; Sieberer, ZPol 2006, S. 1299 ff. 25 Segal/Spaeth, The Supreme Court and the Attitudinal Model Revisited, 2002. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Lembcke, in: Wrase/Boulanger (Hg.) (Fn. 16), S. 36 ff. 26 Tsebelis, British Journal of Political Science 1995, S. 289 ff.

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ebenso zum Schauplatz eines andauernden Policy-Pokers,27 in dem jeder Richter und jede Richterin als Vetospieler am Tisch Platz nimmt – bestrebt, überlappende Präferenzmengen („winsets“) auszuloten, die den möglichen Kompromissraum eröffnen. Dieser Ansatz ist vielfach kritisiert worden, mitunter mit heftigen Worten – frei nach dem Motto: Viel Aufwand (bei der methodischen Modellierung), wenig nennenswerte Erkenntnis (über das Verfassungsgericht).28 Die Kritiken beziehen sich auf die mangelnde Plausibilität der Figur des policy seeker, auf den ungeklärten Status grundlegender Begriffe (Präferenz, Interessen), auf Inkonsistenzen bei der Konstruktion des Medianrichters sowie die irrige Default-Position des Senats, den Antrag der Opposition abzulehnen.29 Ungeachtet dieser Kritiken hat Hönnige mit seiner Dissertation wesentliche Anstöße für diese Forschungsrichtung geliefert, die in einem DFG-Projekt „Das Bundesverfassungsgericht als Vetospieler“ (2011 – 2015) aufgegangen sind, das den Raum für Klärung und Vertiefung dieses Ansatzes eröffnet hat.30 Darüber hinaus scheint ein Aspekt, der einem Großteil der Kritik zugrunde liegt, theorieimmanent überwunden werden zu können. In Hönniges Konzeption ist die Richterfigur als policy seeker gleich einer doppelten Rigidität unterworfen: Diese zeigt sich erstens in der Gleichsetzung der parteipolitischen Affinitäten mit richterlichen Policy-Präferenzen, die dann zweitens zweckrational verkürzt zum Gegenstand einer möglichen Verhandlungsmasse erklärt werden. Demgegenüber ist eine weitereichende Aufklärung über die individuellen Präferenzen, auch im Unterschied zu den institutionellen Eigeninteressen durchaus denkbar. Der Opportunismus, den Vanberg den Verfassungsrichtern im Umgang mit der Öffentlichkeit unterstellt,31 könnte dafür ein Beispiel bilden, setzte aber seinerseits eine Klärung des Verhältnisses von Interessen und Präferenzen voraus. Die Aufklärung über die maßgeblichen institutionellen Eigeninteressen ist ein Charakteristikum von Ansätzen, die sich eher dem SI-Pol zuordnen lassen. Unterschiede bestehen jedoch darin, ob sich der Fokus auf die im Recht abgelagerten Grundideen und Ordnungsmuster richtet32 oder auf die mit der Institution selbst verbundene(n)

27 Hönnige (Fn. 23), S. 133 ff. 28 Massing, ZParl 2008, S. 654 ff. 29 Ausführlich Hüller, ZPol 2014, S. 9 ff.; siehe überdies pars pro toto Wrase/Boulanger, in: dies. (Hg.) (Fn. 16), S. 9. Eine weitere kritische Nachfrage könnte sich auf die Fallauswahl beziehen, die sich bei Hönnige auf die abstrakten Normenkontrollen beschränkt. Bei dieser Beschränkung spielt das richterliche Aufmerksamkeitsmanagement eine maßgebliche Rolle. Man könnte dagegen annehmen, dass die Aufmerksamkeit in erster Linie von Inhalt und Intensität des Konflikts abhängt und weniger von der Verfahrensart. Siehe dazu differenzierend Hein/ Ewert, EJLS 2016, S. 62 ff. 30 Siehe u. a. Engst et al., JuristenZeitung 2017, S. 816 ff.; Sternberg et al., PVS 2015, S. 570 ff.; Engst, in: Frick/Lembcke/Lhotta (Hg.) (Fn. 5), S. 281 ff.; Engst et al., PVS 2020, S. 39 ff. 31 Vanberg, in: Ganghof/Manow (Hg.), Mechanismen der Politik, 2003, S. 183 ff.; ders., The Politics of Constitutional Review in Germany, 2005. 32 Vgl. Lhotta, SPSR 2003, S. 145.

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Leitidee(n).33 In dieser Variante stehen stets die institutionellen Belange im Umgang mit Umfeld der Verfassungsgerichtsbarkeit im Vordergrund, d. h. neben der inhaltlichen Orientierung auch die der Ordnung (des politischen Systems) sowie der Durchsetzung derselben. Jene Variante betont hingegen in einem stärkeren Maße die diskursive Teilnahme des Gerichts an dem ideenpolitischen Wettbewerb. Die Übergänge sind fließend, aber die Unterschiede in den Suchbewegungen nicht zufällig. In der Interaktion mit dem Umfeld spielt die Binnensicht auf die Kohärenz des kollektiven Akteurs eine größere Rolle als die Rekonstruktion des Diskurses, die wiederum für die Sicht auf das Verfassungsgericht im Sinne eines Ideenmanagers von hoher Bedeutung ist. Die Kritik an dieser Richtung liegt auf der Hand:34 Sie bezieht sich vor allem auf den Status der normativen Sedimentierungen, die unterschiedlichen Namen tragen mögen (Leitidee, Ordnungsmuster etc.), denen aber der unklare Theoriestatus gemeinsam ist. Woher stammt die handlungsanleitende Kraft dieser normativen Bestände, die ihrerseits doch regelmäßig umstritten sein dürften? Damit verbunden tritt die gerade für den soziologischen Institutionalismus typische Problematik hinzu, dass die Unterscheidung zwischen Institution und Akteur nicht plausibel ist, weil nach Theorieanlage der Akteur im Grunde stets von der Institution konsumiert zu werden droht. In beiden Fällen erscheint es als weiterführend, diese berechtigten Einwände nicht allein auf theoretischer Ebene zu verhandeln, sondern daraus empirische Forschungsperspektiven zu entwickeln und dabei Theoreme aufzugreifen, die im Kontext der Analyse kollektiver Akteure hervorgebracht worden sind.

IV. Netzwerke Ein zentraler Aspekt, der zugleich ein gewisses Bindeglied im Kontext des Neoinstitutionalismus darstellt, ist die Rolle der Institution als Akteur, genauer als „Entrepreneur“, der im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht zuletzt beim Erwartungsmanagement gegenüber der Öffentlichkeit im Umgang mit der bevorstehenden oder ergangenen Entscheidung regelmäßig sichtbar wird.35 Die Aufgabe besteht darin, die Frage nach den Voraussetzung und dem Bestand kollektiver Agency auf die PolicyFelder und Rechtsmaterien zu lenken. Wer hier nach Verbindungen zwischen Leitideen und Ordnungsmustern einerseits und institutionellen Eigeninteressen andererseits sucht, wird u. a. bei der epistemic community fündig.36 Die Theorieansätze stehen für den Import bereit; Anschauungsbeispiele aus der Beschäftigung mit anderen obersten 33 Exemplarisch Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 50 f. 34 Siehe u. a. Brodocz, PVS 2010, 364 ff. 35 Smith (Fn. 18), S. 94 ff.; Smith, in: Whittington/Kelemen/Caldeira (Hg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, 2008, S. 48; Gillman, in: Clayton/Gillman (Hg.), The Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 65 ff.; Lembcke (Fn. 33), S. 84 ff. 36 Siehe Haas, International Organization 1992, 1 – 35; speziell zur Justiz: Van Waarden/Drahos, Journal of Public Policy 2002, S. 913 ff.

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Gerichten ebenso.37 In diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis als angebracht, dass die Bundesverfassungsgerichtsforschung auf innovative Methoden zurückgreifen kann. Denn zur Rekonstruktion der epistemischen Gemeinschaften ist es hilfreich, die judiziellen Dialoge nachzuvollziehen. Allerdings ist dieser Dialog oftmals bereits in den einzelnen Rechtsprechungsfeldern auch für den Fachmann nur schwer zu überschauen – und für den Laien bleibt sie nahezu undurchdringbar.38 An dieser Stelle setzt das Forschungsprogramm European Constitutional Court Network an, und zwar vermittels des Instruments der soziale Netzwerkanalyse (SNA).39 Diese Technik hat sich auf anderen Gebieten als eine leistungsstarke Methode zur Visibilisierung komplexer Beziehungen erwiesen. Ihr Einsatz im vorliegenden Kontext ermöglicht es, sowohl die vertikalen als auch die horizontalen Referenzstrukturen nachzuzeichnen. Dadurch werden nicht nur die Verästelungen des judiziellen Dialogs anschaulich; auch die Bedeutung von Argumenten und deren Rezeption wird durch diese Analysetechnik transparenter. Überdies bietet deren Einsatz Aufschluss über die Autorität der Verfassungsgerichte untereinander – und mit Blick auf die Landesverfassungsgerichtsbarkeit40 bietet sie die Möglichkeit, deren Eigenstand und die Innovationskraft für die Rechtsentwicklung Deutschlands im Mehrebenensystem Europa zu ermessen. Darüber hinaus liegt mittlerweile auch eine Netzwerkstudie zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor.41 Das Ziel des Projekts besteht darin, das Wissen über die gerichtliche Entscheidungsfindung, insbesondere über die Rolle des Rechts innerhalb dieses Prozesses zu erhöhen. Dazu soll die empirische Strukturanalyse der Rechtsprechung einen maßgeblichen Beitrag leisten. Im Zentrum steht die Analyse der Selbstreferenz gerichtlicher Entscheidungen.42 Welche Bedeutung messen Verfassungsgerichte ihrer eigenen Verfassungsauslegung zu? Wie groß ist der Anteil an Entscheidungen, die sich als einflussreich erweisen? Wie stark und dauerhaft ist deren Einfluss? Wie lassen sich Rechtsprechungslinien und Rechtsprechungswandel feststellen? Elaborierte Antworten auf diese Fragen liegen noch nicht vor, die Analyse der Beziehungsstrukturen zwischen den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ist ein bedeutender Schritt in diese Richtung, erhellt doch eine solche SNA der Rechtsprechung das Ausmaß des inneren institutionellen Dialogs, in dem sich die Verfassungsrichter mit sich selbst befinden, und stellt insoweit eine sinnvolle interdisziplinäre Ergänzung zur dogmatischen „Qualitätsanalyse“ der Rechtswissenschaft dar. Auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die Entstehung, Dauer und Erosion von Präjudizien 37 Vgl. für die Arbeitsgerichtsbarkeit Rehder, Rechtsprechung als Politik, 2011, S. 55 ff. 38 Zur Strukturierung: Gawron/Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichtes, 2007, S. 91 ff. 39 https://eccn.at/ (retrieved 23. 04. 2021). 40 Lembcke/Güpner, ZLVR 2018, S. 88 ff. 41 Coupette, Juristische Netzwerkforschung, 2019. 42 Gawron/Rogowski (Fn. 38), S. 151 ff.

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und Grundsatzentscheidungen zu erfassen,43 für bekannte Entscheidungen von diesem Rang einen quasi-objektiven Vergleichsmaßstab zu bilden, neue zu entdecken, ihre formende Kraft auf Rechtsprechungsfelder zu beobachten, Kontinuitäten und Brüche zu bestätigen, zu korrigieren oder überhaupt erst aufzuspüren. Im Grunde ermöglicht diese Art der Analyse verfassungsgerichtlicher Selbstreferenzen weitgehende Rückschlüsse darauf, wie die Herstellungs- und Darstellungsprozesse verlaufen,44 indem sie den inneren institutionell verfassten Dialog erhellen, der die richterliche Entscheidungspraxis maßgeblich bestimmt. Eine für die Verfassungsgerichtsforschung neue Methode ist auch im Kontext organisierter Interessen verwendet worden. Anhand einer Fuzzy-set-QCA mit einem Sample von 35 Verfassungsbeschwerden ist der Frage nachgegangen worden, unter welchen Bedingungen der intendierte Mobilisierungseffekt auch tatsächlich erreicht werden konnte.45 Deutlich wird dabei u. a. die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde als Taktik des „Outsidelobbying“, ein Befund der sich offenbar in die Ergebnisse aus der Interessengruppenforschung einfügt, der sich aber überdies auch in zwei Richtungen differenzieren lässt: Während ein Pfad auf die Bedeutung der öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung im Vorhinein verweist, weshalb die Verfassungsbeschwerde mithin eher den Endpunkt der Mobilisierung darstellt ist; unterstreicht ein anderer Pfad die Rolle der Verfassungsbeschwerde als Resonanzverstärker. Further research is needed!

V. Impact Längere Zeit hat sich die Forschung mit der Kristallisation der unterschiedlichen Machtformen zufrieden gegeben. Während die Ansätze am RCI-Pol ihre Techniken zur Analyse der Vetomacht verfeinerten und dabei insbesondere dem Konzept der Autolimitation neues Leben einhauchten,46 haben die Ansätze, die eher zum SI-Pol neigen, die Relevanz der Autorität und Deutungsmacht unterstrichen. Die Verbindung zur Wirkungsanalyse blieb hier jedoch ein Desiderat der Forschung.47 Dieser Zustand beginnt sich zu verändern. Zwar hat das JUDICON-Project noch nicht die Implementation selbst zum Gegenstand. Aber es analysiert zumindest die Wirkung der Rechtsprechung auf die Gesetzgebung. Waren bisher empirische Analysen auf Grundlage einer kohärenten methodischen Anleitung Mangelware,48 wird im Kontext dieses Projekts nun eine methodengeleitete Analyse der verfassungsgerichtlichen Ent43 Schäller, in: Vorländer (Hg.) (Fn. 3), 2006, S. 205 ff. 44 Steinsdorff, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein, Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, S. 207 ff. unter Rekurs auf die empirischen Rhetorikanalysen von Sobota, Jahrbuch Rhetorik 1995, 115 ff.; siehe auch Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. 45 Thierse, PVS 2020, S. 553 ff. 46 Engst, Two Faces of Judicial Power, 2021, S. 65 ff. 47 Siehe hierzu Gawron/Rogowski, in: van Ooyen/Möllers (Hg.) (Fn. 4), 153 ff.; Gawron/Rogowski (Fn. 38). 48 Siehe den Ansatz von Bricker, Visions of Judicial Review, 2016.

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scheidungspraxis vorgestellt.49 Dabei wird zum einen angestrebt, ein möglichst differenziertes Bild über die Rechtsprechungspraxis der jeweiligen Gerichte zu gewinnen, wobei das JUDICON-Projekt, das sich zunächst auf Mittel- und Osteuropa konzentriert hat, sich aber mittlerweile auf Gesamteuropa erstreckt.50 Zum anderen sollen allgemeine Aussagen über die Performanz und Stärke von Verfassungsgerichten aufgestellt und überprüft werden. Um den Vergleich zwischen den Verfassungsgerichten zu ermöglichen, beschränkt sich das Projekt auf einen spezifischen Fokus, nämlich auf die Analyse der Beziehung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits und der Gesetzgebung andererseits; eine Beziehung, die mit folgendem Erkenntnisinteresse untersucht wird: Wie stark trachten Verfassungsgerichte danach, den politischen Handlungsspielraum des Gesetzgebers durch ihre Entscheidungen einzuschränken? Welcher Instrumente innerhalb ihrer Rechtsprechung bedienen sie sich dafür? Und wie lässt sich die Stärke verfassungsgerichtlicher Entscheidungen messen? Nicht nur in vergleichender Perspektive, sondern gerade auch für die Bundesverfassungsgerichtsforschung hat das Projekt bereits zentrale Befunde zutage gefördert.51 Dazu zählt die empirische Erdung der Rede vom „entgrenzten Gericht“.52 Ein solcher Prozess der Entgrenzung lässt sich anhand der Daten von 1990 bis 2015 nicht nachweisen.

49 Die weiteren Ausführungen stützen sich auf zwei andernorts veröffentlichte Aufsätze. Zu den methodischen Aspekten vgl. Pócza/Dobos, in: Pócza (Hg.), Constitutional Politics and the Judiciary, 2018, S. 8 ff. sowie Lembcke/Pócza, in: Reutter (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, 2019, S. 77 ff. 50 Angesiedelt ist das Projekt an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; weitere Informationen finden sich unter: https://judicon.tk.mta.hu. 51 Lembcke, in: Pócza (Hg.) (Fn. 49), S. 61 ff. 52 Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011.

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Why Is the German Federal Constitutional Court a Deliberative Court, and Why Is That a Good Thing? A Comparative Assessment* By Gertrude Lübbe-Wolff Decision-making in the German Federal Constitutional Court (FCC) is a most collegial and collaborative enterprise. A great deal of time is devoted to discussion in conference. I have never seen a discussion end unless there was agreement that continuing it would not take the Court any further. Even objections by small minorities or by a single panel member are never just passed over as irrelevant. None of the judges, including the President, are immune from having their arguments dismantled and their draft texts rewritten. Much effort is made to find consensus. Where a concern does not prevail, it will at least be taken seriously, not just in conference, but also in the reasons of the resulting decision.1

I. Virtues of Deliberative, Consensus-Oriented Decision-Making The fact that the German FCC works in a deliberative, consensus-oriented way may not universally be regarded as a recommendation for that practice. To the majority of lawyers in some countries, the FCC is a bête noire rather than a model: too activist, too talkative, and cultivating an awkward and sometimes opaque language. As to the language, it must be admitted that reading decisions of the FCC in English can be a torment. But that is mainly a problem of translation by interpreters who, understandably, hardly dare to depart from a literal word- by-word and sentence-by-sentence transposition of the text, thus adding the complications and circumbendibuses of one *

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Reprint, first published in: Birke Häcker/Wolfgang Ernst (eds.), Collective judging in comparative perspective. Counting Votes and Weighing Opinions, Cambridge (Intersentia) 2020, S. 157 – 179. The author thanks Birke Häcker for helpful comments and is grateful to Wissenschaftskolleg zu Berlin, where she started comparing the workways of constitutional courts as a fellow in 2015/2016. For more detailed accounts, see G. Lübbe-Wolff, ‘Cultures of Deliberation in Constitutional Courts’, in: P. Maraniello (ed), Justicia Constitucional, La Justicia constitucional en los diferentes ámbitos del derecho y sus nuevas tendencias, vol 1 (Resistencia, Chaco, Contexto, 2016) 37, 40 et seq; eadem, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht? (Göttingen, V&R Unipress, 2015), with further references.

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Duncker & Humblot, Berlin

Gertrude Lübbe-Wolff

language to those of the other. In the case of German-to-English translations, the result is often not simply inelegant, but downright repulsive, and sometimes hardly comprehensible.2 The FCC has been working on improving this situation for some time, but the problem is unlikely to be resolved in a perfectly satisfactory way. German grammar offers tools of elegant compression which make it possible to pack sentences with much more information than would fit into a tolerable English sentence. Untying sentences in apex court judgments will, however, usually require more judgement and self-assurance in the matter than can be expected from anyone but the Justices themselves. As far as accusations of excessive activism and deficient succinctness are concerned, there is no need, for the purposes of this chapter, to discuss whether there is something to them, because if there was, this would have very little to do with the Court’s culture of deliberative, consensus-oriented decision-making. Where – as in Germany – teleological arguments and the balancing of competing interests are important and accepted elements of the legal culture, while strict avoidance of obiter dicta is not, and where – as with FCC decisions – it is common to produce detailed and extensive reasons, there may be more material to deliberate on, and more room and scope for compromise, than there is in a culture which is more committed to avoiding judicial discretion and/or judicial reflections that go beyond minimum motivation. It does not follow, however, that a habit of deliberating intensely and trying to find as much consensus as possible will lead to judicial activism. Nor is there a necessary nexus between cooperative, consensusoriented deliberation and a proliferating style of judgments. So any critic of the role of the FCC in Germany – or in Europe, for that matter – should not for this reason alone reject the deliberative, consensus-oriented method of working I have described above.3 The advantages of that method by far outweigh any possible drawbacks. Intense communication on the basis of equality helps to avoid mistakes. It helps to understand views and feelings which the majority may not share, but which need to be addressed and acknowledged in order to make a decision acceptable to those who ‘lose’. It helps to drop aspirations to infallibility and to promote mutual respect. Genuine communication and serious efforts to find common ground help to avoid internal polarisation and prevent a bench from splitting into factions.4 They also help resist temptations to 2

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In fact, I could hardly understand parts of one of my own dissenting opinions when, for the purpose of writing a paper in English, I once looked up the English version on the court’s website. Nor should the beneficial aspects of that role be neglected, see G. Lübbe-Wolff, ‘Constitutional Courts and Democracy. Facets of an Ambivalent Relationship’, in: K. Meßerschmidt / A. D. Oliver-Lalana (eds), Rational Lawmaking under Review (Switzerland, Springer International, 2016) 19, 26 et seq. Some authors argue that deliberation is likely to foster polarisation, see C. Sunstein, ‘Deliberative Trouble? Why Groups Go to Extremes’, (2000) 110 Yale Law Journal 71; A. Paterson, Final Judgment: The Last Law Lords and the Supreme Court (Oxford and Portland/Oregon, Hart Publishing, 2013) 96. FCC judges would disagree entirely with this assessment. In

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use judicial office as a tool for the promotion of individual star status, and will instead strengthen a sense of community and service. As a result, they help to avoid partisanship and extreme solutions, as well as volatility due to changes in the composition of the bench, and to foster trust in the judicial system (and the political system along with it). The most striking quality to be gained from all of this is the integrative quality of the resulting judicature – a quality that is particularly important in constitutional jurisprudence because it meets the primary function of a modern constitution.5 In line with this, the FCC has indeed been and still is a remarkably integrative factor in Germany. It is deservedly one of the most trusted institutions in the country,6 highly renowned for impartiality and balance. Some, but not many of its decisions come with separate opinions (long term average: about 8 %).7 In spite of the political relevance and controversiality of many of the cases the two senates of the FCC have to decide, they are very rarely split 4:4, and even more rarely along political nomination background lines. Overall, the Court has managed to pacify rather than fuel conflict over controversial issues, not just as far as the parties involved are concerned, but with respect to society as a whole. And, of particular significance in a nation whose underdeveloped sense of the importance of legal institutions once produced aberrations of an unprecedented nature and scale, the Court has brought about exceptional degrees of respect for the German Constitution (‘Basic Law’ or Grundgesetz, GG) and an awareness of its relevance. These are the effects of the Court’s culture of deliberation. One might also look back at the early times when, under Chief Justice Marshall, the US Supreme Court began to build the reputation off which that court lives today without adding to it (to put it mildly). The high rate of decisions showing no split in the court in

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discussions of the matter with judges from other national and international courts who describe the culture of communication in their respective courts as deliberative, I have never come across a negative view of such a culture, either. What I have encountered instead are expressions of regret from members of courts or court formations where deliberation does not work (as, for instance, due to overly large size and lack of discipline with respect to length of speeches, in the Grand Chamber of the European Court of Human Rights, ECtHR). On decision-making in the ECtHR, see the contribution by A. Nussberger in Häcker/Ernst (initial asterisk note), 227. On the integrative function of constitutions, see G. Lübbe-Wolff, ‘Integration durch Verfassung’, (2009) 12 Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes 174, available online via https://www. nomos-elibrary.de/10.5771/1866-377X-2009-4-174/integration-durch-verfassung-jahrgang12-2009-heft-4 (last accessed 26 July 2021); eadem, ‘Homogenes Volk: Über Homogenitätspostulate und Integration’, (2007) 27 Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 121, available online via http://www.zar.nomos.de/fileadmin/zar/doc/Aufsatz_zar_07_04.pdf (last accessed 26 July 2021). See H. Vorländer, ‘Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts’, in: R. C. van Ooyen/ M. H. W. Möllers (eds), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2nd edn (Wiesbaden, Springer VS, 2015) 299, 309 et seq. See overview in the statistics for 2020 on the website of the FCC, p 12, available via https:// www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2020/statistik_2020_ node.html (last accessed 26 July 2021).

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those days was attained on the basis of far more discussion than the US Justices invest today. In Talbot v Seeman, the first case decided by the Marshall Court, public argument lasted four days and was followed by almost a week of deliberations, including a Sunday.8 The resulting judgment came as an ‘opinion of the court’, without any separate opinions, although the case had been highly controversial along party political lines.9

II. Some Relevant Parameters 1. Object of Voting and Majority Requirements for Judicial Decisions a) Common Law and Civil Law Traditions Common law and civil law systems differ in the way they solve the specific problems of decision-making in multimember courts. Most of the differences can be traced back to the traditions of seriatim and per curiam decision-making, respectively. Over time, these traditions have partly converged. In the United States, the pure seriatim mode of decision-making, with each judge pronouncing a judgment of his own,10 was aban8 J. E. Smith, John Marshall. Designer of a Nation (New York, Henry Holt and Company, 1996), 292. For the very different, largely non-deliberative practice today, see Lübbe-Wolff, ‘Cultures of Deliberation’, (n 1) 37 et seq; T. R. Johnson, ‘The Supreme Court Decision Making Process’, (2016) Oxford Research Encyclopedia, Politics, section entitled ‘Decisions on the Merits: Conference Discussions’, available online via http://politics.oxfordre.com/view/10.1093/ acrefore/9780190228637.001.0001/acrefore-9780190228637-e-98 (last accessed 26 July 2021); T. R. Johnson / M. W. Sorenson, ‘The U.S. Supreme Court’s Strategic Decision-Making Process’, in: R. Rogowski / T. Gawron (eds), Constitutional Courts in Comparison. The US Supreme Court and the German Federal Constitutional Court, 2nd ed (New York/Oxford, Berghahn, 2016) 111, 132; A. Ward, ‘Junior Varsity Judges? Law Clerks in the Decisional Process of the U.S. Supreme Court’, in: R. Rogowski / T. Gawron (eds), ibid, 165, 173. 9 Talbot v Seaman, 5 US 1 (1801); Smith (n 8), 291 et seq. Contrary to frequent assumptions in the literature, the absence of separate opinions did not demonstrate that the court had decided unanimously, see C. Sunstein, ‘Unanimity and Disagreement on the Supreme Court’, (2015) 100 Cornell Law Review 769, 786 et seq. 10 On – sometimes forgotten – traditions of unanimity that were apparently associated with this model in early times, see C. Young, ‘The History of Judicial Dissent in England: What Relevance Does it have for Modern Common Law Legal Systems?’, (2009) 32 Australian Bar Review 96, 101 et seq. For early traditions of inter-court consultations, and of discussing controversial cases among all the common law judges of England in the Exchequer Chamber, see J. H. Baker, The Oxford History of the Laws of England, vol VI, 1483 – 1558 (Oxford, Oxford University Press, 2003) 41; M. Hemmant, ‘Introduction’, in: M. Hemmant (ed), Select Cases in the Exchequer Chamber Before all the Justices of England (Publications of the Selden Society, vol 51, 1933), xi-xcvii. On the English tradition of orality, with extempore judgments at the close of argument, which is closely related to the seriatim tradition, but which allowed for exceptions when intermittent deliberation was held necessary (‘curia adversari vult’) see R. J. Martineau, Appellate Justice in England and the United States: A Comparative Analysis (Buffalo/New York, William S Hein & Co, 1990) 101 et seq; P. M. Tiersma, ‘The Textualization of Prece-

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doned for good in the early 19th century when Chief Justice Marshall made it a rule for the Justices to produce an ‘opinion of the court’.11 Today, even in the mother country of the common law, the UK Supreme Court not infrequently hands down a ‘judgment of the court’.12 On the other hand, more and more countries in the civil law tradition have departed from the pure per curiam mode by allowing their apex courts to publish separate opinions. Common law and civil law traditions thus seem to mingle. But the tendency towards convergence with respect to the incidence of judgments or opinions ‘of the court’ on the one hand, and publicised individual judicial opinions on the other, should not obfuscate differences that have so far persisted rather unabridged. These differences may be less conspicuous, but they are not necessarily less important than the one which appears to be vanishing. As far as the specific questions of how to produce one solution with several judges on the bench are concerned, the most consequential remaining difference between the common law and the civil law tradition relates to majority requirements.13 The most interesting question here is: What is it that a majority is needed for? In common law jurisdictions, to this day, a majority of votes is required only for the dispositive part (‘outcome’) of a decision, not for the reasons. So-called plurality decisions, where the majority carrying the outcome is split with respect to the reasons, are possible. In the civil law tradition, the rules with respect to the object of majority requirements – outcome, reasons or both – are often not quite clear, but at least with

dent’, (2007) Loyola Law School Legal Studies, Paper No 2007 – 28, available online via http:// ssrn.com/abstract=680901 (last accessed 26 July 2021), 1187, 1189, 1208. 11 On the history of that change, see J. R. Stoner, ‘Heir Apparent. Bushrod Washington and Federal Justice in the Early Republic’, in: S. D. Gerber (ed), Seriatim. The Supreme Court Before John Marshall (New York and London, New York University Press, 1998), 322, 331 et seq; K. M. ZoBell, ‘Division of Opinion in the Supreme Court. A History of Judicial Disintegration’ (1959) 44 Cornell Law Review 186, 192 et seq; Smith (n 8) 292 et seq; G. LübbeWolff, ‘Cultures of Deliberation’ (n 1) 44 et seq. 12 B. Hale, ‘Judgment Writing in the Supreme Court’, UKSC Blog, 25 October 2010, available online via http://ukscblog.com/judgment-writing-in-the-supreme-court-brenda-hale/ (last accessed 26 July 2021); J. Mance, ‘In a Manner of Speaking: How Do Common, Civil and European Law Compare?’, (2014) 78 Rabels Zeitschrift 231, 241; R. Reed, ‘The Supreme Court Ten Years On’, 6 March 2019, p 12, available online via https://www.supremecourt.uk/ docs/speech-190306.pdf (last accessed 26 July 2021). 13 In both systems, the required majority is usually a simple majority. In some countries, supermajorities are needed for the exercise of certain competences, such as declarations of unconstitutionality of legislation or of political parties: see the cursory overview for Europe in European Commission for Democracy Through Law (Venice Commission), Opinion on Amendments to the Act of 25 June 2015 on the Constitutional Tribunal of Poland, Op no 833/2015 CDL-AD(2016)001, paras 76 et seq. For some courts, unanimity requirements are in place for the decisions of very small formations (as for FCC Chambers of three, see n 37 below; similar unanimity requirements apply in, eg, Albania, Austria, Belgium, Korea, Kosovo, Hungary, Peru, Turkey and Slovenia).

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respect to reasons concerning the law, the dominant view is that all of them need majority support.14 In Germany, for instance, the Judicature Act (Gerichtsverfassungsgesetz, GVG) does not set out clear rules on whether the reasons of a judicial decision need to be supported by a majority of the judges participating in a decision. The historical legislator deliberately left that controversial question open in the late 19th century.15 Nowadays, however, it is in practice almost generally answered in the positive as far as questions of law are concerned.16 For the Federal Constitutional Court, the Rules of Court are framed accordingly.17 b) Effect on the Culture of Deliberation The above-mentioned feature of decision-making in civil law jurisdictions is of practical significance because it secures easily identifiable legal guidance.18 Another effect, less noticeable for external observers, but no less important: A majority requirement with respect to reasons is conducive to a deliberative, consensus-oriented court practice. The need to produce reasons that a majority is willing to support tends to promote discussion and collegiality. This is the case not just because of the greater quantity of text with respect to which majorities have to be identified. Two more factors further increase the need to deliberate and seek convergence.

14 Some more or less far-reaching exceptions are recognised. In German criminal courts, for instance, lay judges (Schöffen or Geschworene) do not participate in writing reasons. According to Article 34 no 6a, para 2 of the Reglamento (rules of court) for the Constitutional Court of Colombia, which is in many respects a Court in the Continental European tradition, the dispositive part of a judgment (parte resolutiva) must be approved by an absolute majority of the judges, whereas for the reasons (parte motiva) support by a relative majority is sufficient. This is an instance of blending characteristics of Anglo-Saxon/common law and continental European/ civil law court design. The same blending has occurred in Kosovo. 15 W. Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten: “group choice” in europäischen Rechtstraditionen (Tübingen, Mohr Siebeck, 2016) 180, 189 et seq. 16 Judges of other German Federal Courts that I have been able to interview on the issue have unanimously confirmed that, as a matter of course, reasons need majority consent. Consensus with respect to this question is also reflected, for instance, in the practice of the Federal Administrative Court (Bundesverwaltungsgericht, BVerwG) according to which suggested changes in the drafts of decisions which are, in that court, adopted on the basis of circulating the draft, need to be initialled by three of the five judges in a Senate in order to be accepted. 17 §27, 2nd sentence, FCC Rules of Procedure (Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, GO BVerfG). 18 On lack of guidance as a corollary of outcome voting see D. G. Post / S. C. Salop, ‘Issues and Outcomes, Guidance and Indeterminacy: A Reply to Professor John Rogers and Others’, (1996) 49 Vanderbilt Law Review 1969, 1070 et seq; S. Levmore, ‘Ruling Majorities and Reasoning Pluralities’, (2002) 3 Theoretical Inquiries in Law 87, 97.

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The first is the problem of divergent majorities: Majorities for each of the reasons of a judgment will not necessarily lead to a result which is itself supported by a majority.19 Contrary to the view that this is a specific problem of a system requiring a majority for the reasons of a judgment, I suggest that it be perceived as a universal problem of collective judicial decision-making to which the common law strategy of requiring a majority for the outcome only is just one of the possible solutions. Disregarding possible combinations and fuzzy intersections, the basic possible solutions are the following: (1) the outcome-oriented solution (requiring a majority for the outcome only); (2) the reasons-oriented solution (requiring a majority only for the sequence of reasons that will determine an outcome which itself need not be supported by a majority); (3) the indefinite-pressure-to-harmonise-solution (requiring a majority for both reasons and outcome and leaving it to the bench, in the case of divergent majorities as to reasons and outcome, somehow – in whichever direction – to overcome the stalemate and to find the necessary double majority); (4) non-regulation (ie abstention from setting up a general rule on how to proceed in actual cases of divergent majorities; this includes the absence of formal or informal self-imposed court rules). Common law jurisdictions tend to adopt the first solution, or rather: there was never a definitive departure from the first solution, which has generally been the original one because it is the only one practicable in archaic legal systems with analphabetic judges. This is in line with a generally longer period (or, up to the present, higher degree) of conservation, in common law jurisdictions, of ancient features of adjudication such as orality,20 heavy reliance on the parties and their pleadings with respect to proof and the scope of arguments to be considered by the court,21 and a focus on putting an end to the individual controversy rather than on reinforcing and/or clarifying the rules.22 Civil law jurisdictions, by contrast, have developed different and mostly diffuse strategies of dealing with the problem of divergent majorities. In the practice of apex courts in the per curiam tradition, none of the four above-mentioned solutions seems dominant. So far, I 19 The problem is also labelled as ‘doctrinal paradox’, see D. Grossi / G. Pigozzi, Judgment Aggregation. A Primer (California, Morgan & Claypool Publishers, 2014), 8. On historical discussions of the problem in Germany, see Ernst (n 15) 177 et seq. 20 On the tradition of orality, see Martineau (n 10); M. Kirby, ‘Judicial Dissent – Common Law and Civil Law Traditions’, (2007) 123 Law Quarterly Review 379, 384 et seq; on incompatibility of deliberations in backstage conference with the tradition of orality (including publicity), see L. Epstein / R. A. Posner / W. M. Landes, The Behavior of the Federal Judges. A Theoretical and Empirical Study of Rational Choice (Cambridge, Harvard University Press, 2013) 61, 308. 21 Over recent decades, there have been many changes bringing both traditions closer to one another. However, the importance of adversarial elements in common law systems, as opposed to the tendency towards the inquisitorial in civil law systems, continues to be one of the most the fundamental systemic differences. 22 See Kirby (n 20) 388 et seq.

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have never come across any explicit regulation (unless one counts the rare instances of rules which clearly require a majority for both reasons and outcome,23 as imposing solution 3, which is, however, not an imperative interpretation). Perhaps the clearest expression of solution 3, implying that somehow a compromise must be reached to the effect that both reasons and outcome have majority support, is to be found in the practice of courts which resort to ‘integral’ voting, ie to submitting decisions to the vote as a whole.24 This is the practice, for instance, of the French Conseil constitutionnel, of the Polish Constitutional Tribunal and, apparently, of the Supreme Court of Japan – a practice which, in complex and controversial cases, may result in the production of numerous drafts until, finally, a version emerges which receives the required majority.25 From what I have been told in interviews with various Justices, it appears that most courts in the per curiam tradition have a tendency towards either the reasons-oriented solution (2) or the pressure-to-harmonise-solution (3), combined with indefinite reservations, ie with a strong element of solution (4). Occasionally, inconsistent practices may be detected.26 While inconsistencies should of course in principle be avoided, the prevalent strong element of indeterminacy or non-regulation seems quite appropriate, considering that no strict rule will be able to prevent strategic voting, and considering the iterative character of rational legal reasoning, ie the oscillation between judging results by reasons and judging reasons by results.27 Obviously, the indefinite-pressure-to-harmonise-solution (3) is the one that most clearly requires not only discussion, but also compromise. And each of the solutions 2 – 4, pure or in more 23 For the German FCC: §27, 2nd sentence, FCC Rules of Procedure (Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, GO BVerfG) in connection with §15(4), 2nd sentence, Federal Constitutional Court Act (Bundesverfassungsgerichtsgesetz, BVerfGG) (see already n 17 above); for the Austrian Constitutional Court: §34(2) Rules of Court (Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes) in connection with §12(1) Jurisdiction Act (Jurisdiktionsnorm, JN). 24 On the difference between integral and sequential voting, see also the contribution by W. Ernst in Häcker/Ernst (above, initial asterisk note), 3, 14 et seq. 25 D. Schnapper, Une sociologue au Conseil Constitutionnel (Paris, Gallimard, 2010) 280, mentions that she was told by the Secretary General of the Conseil that former president Robert Badinter had once produced a draft in fourteen successive versions. For the Grand Bench of the Supreme Court of Japan, H. Itoh, The Supreme Court and Benign Elite Democracy in Japan (Farnham, Ashgate, 2010) 79, reports that, occasionally, more than ten drafts of a decision are produced. As to the Polish Constitutional Tribunal, I am relying on insider information. 26 In Switzerland, for instance, the Federal Court (Bundesgericht) has held that decisions published with reasons need majority votes for the reasons as well as for the dispositive part, Bundesgericht (30. 1. 1985) BGE 111 Ib 116, 118. According to the Justice who kindly pointed me to this judgment, however, there are panels of that court which do not comply with that rule. It may be that the appearance of non-compliance vanishes if the 1985 judgment is interpreted as leaving room for informal voting (see below, section II. 4.). 27 On judicial reasoning as an iterative process in the sense defined above, see D. Neuberger, ‘“Judge not, that ye be not judged”: Judging Judicial Decision-Making’ (2015), The UK Supreme Court Yearbook, Legal Year 2014 – 15, 15, 17; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (Berlin, Duncker & Humblot, 1976) 196 et seq.

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or less diffuse combinations, will require more deliberation than the outcome-oriented solution adopted in common law jurisdictions (1). The second factor which increases the need to deliberate in jurisdictions requiring a majority for the reasons of a judgment is the problem of the missing majority, ie the problem that voting may fail to yield any majority at all.28 This problem can arise wherever the choice to be made by voting is between more than two alternatives. If choices A, B and C are available and each gets three out of nine judicial votes, two people will have to change their votes for the required majority to be attained. Contrary to prejudices, this type of institutionalised pressure is not unknown in common law jurisdictions, where lawyers tend to see it as contrary to judicial independence. The problem of a missing majority can arise even where a majority is needed for the outcome only, and even in appellate courts, where outcome options are typically not numerous, but, even in common law jurisdictions, not necessarily reduced to two, either.29 Obviously, however, occasions for this problem to arise multiply where majorities have to be found not merely for outcomes, but also for reasons; and the increase is not just proportional to the increase in length of text that must be agreed upon by a majority, because the number of alternatives available is less open to in-advance limitations with respect to reasons than it is with respect to outcomes. Accordingly, jurisdictions where majority requirements extend to reasons are much more likely to produce a habit of intense efforts to convince and converge. 2. Supermajority Requirement for the Election of Justices FCC Judges must be elected by a two thirds majority.30 Supermajority requirements of this kind are particularly important in systems where multimember political institutions such as Parliamentary chambers have a decisive say or an important role in the process of selecting and appointing Justices. They counteract the temptation to resort to ever more ideologically committed candidates in order to ensure that they will toe the party line. They will normally keep extremists from the bench and secure the election of judges who are trusted across party lines to be open to arguments.31 Obviously, such a recruitment pattern will be supportive of a constructive culture of deliberation. Supermajority requirements for the election or approbation of Justices are on the rise throughout the world. Two thirds is the supermajority specification I have

28 On that problem see also the discussion by W. Ernst (n 24, 3, 11 et seqq.). 29 Available options may be to affirm, reverse, or remand the decision under appeal; for these alternatives and further options, see S. Levmore, ‘Ruling Majorities and Reasoning Pluralities’, (2002) 3 Theoretical Inquiries in Law 87, 95 et seq. 30 §6(1), 2nd sentence, and §7 BVerfGG. 31 Unless, of course, one single party or a coalition of ideologically close parties commands the required supermajority, as is currently the case in Hungary.

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come across most frequently;32 however, lower or even higher supermajority thresholds also feature in some countries.33 As with many beneficial institutions, the introduction or maintenance of a supermajority requirement may fail due to vested interests, and often enough due to precisely the type of grievance which it is supposed to remedy. Existing political polarisation is likely to be an obstacle to the setup of a depolarising supermajority requirement, just as 32 Beyond the German case (see n 30 above), a two thirds majority is required for the election of Constitutional Court/Supreme Court Justices (generally in part) in, eg, Argentina, Belgium, Chile, Croatia, Hungary, and Peru. In Bolivia, a two thirds majority in the legislative assembly is required for nomination as candidate for the Tribunal Constitucional Plurinacional in a preselection process. In some countries with mixed appointment systems, two thirds majority requirements are in place only with respect to a part of the Justices. This is the case, for instance, in Chile (for details, see Article 92(1) lit b of the Constitution of the Republic of Chile, and R. Carroll / L. Tiede, ‘Ideological Voting on Chile’s Constitutional Tribunal: Dissent Coalitions in the Adjudication of Rights’, (2012) 11 Journal of Human Rights 85, 89), in Kosovo (Article 114 para 3 of the Constitution of the Republic of Kosovo), in Lebanon (Article 2 of Law no 250 concerning the institution of the Constitutional Council; in this case, the two thirds majority requirement applies to that half of the Justices which is to be nominated by the members of government, while the other half is to be nominated by an absolute majority of the members of parliament), in Italy, where the requirement is, however, lowered to three fifth after three unsuccessful ballots (for details, see the information brochure on the website of the Corte Costituzionale, p 29, available via http://www.cortecostituzionale.it/documenti/down load/pdf/Cc_Checosa_2016.pdf, last accessed 29 February 2020), in Morocco (Article 130(1) of the Constitution of the Kingdom of Morocco), in Portugal (for details, see Articles 163 h and 222.1 of the Constitution of the Portuguese Republic, and S. Amaral-Garcia / N. Garoupa / V. Grembi, ‘Judicial Independence and Party Politics in the Kelsenian Constitutional Courts: The Case of Portugal’, (2009) 6 Journal of Empirical Legal Studies 381, 386), and in Tunisia (Article 11(3) of Organic Law no 2015 – 50 concerning the Constitutional Court). 33 In Spain, a three fifth majority is required for of that part of the judicial body which is to be elected by Congress, Senate, and the General Council of the Judiciary, respectively (for details, see the website of the Tribunal Constitucional and D. Toda Castán, ‘What is the Situation of Constitutional Jurisdiction in Europe? Worrying News from Spain’ VerfBlog, 2017/2/02, available via http://verfassungsblog.de/what-is-the-situation-of-constitutional-jurisdictionin-europe-worrying-news-from-spain/, last accessed 26 July 2021). For the Italian fallback solution, see n 32 above. In the US, until recently, Senate rules permitted a two fifth minority to filibuster the confirmation of a presidential nominee for the Supreme Court. This was changed in 2017 following a democrat threat to filibuster the confirmation of President Trump’s nominee Neil Gorsuch, see C. Savage, ‘The Senate Filibuster Explained’, available online via https://www.nytimes.com/2017/04/03/us/politics/filibuster-supreme-court-neil-gor such.html (last accessd 26 July 2021). In Israel, a majority of seven out of the nine members of the Judicial Selection Committee (or all but two of those who participate, if less than nine), which makes a binding proposal, is necessary for the selection of Supreme Court Justices, cf Wikipedia, Article ‘Judicial Selection Committee (Israel)’, and M. Tamir, ‘Recent Judicial Appointments to the Israeli Supreme Court: A Victory for Politicians, or Is It?’, 25 April 2017, available online via https://blog-iacl-aidc.org/test-3/2018/5/26/analysis-recent-judicial-ap pointments-to-the-israeli-supreme-court-a-victory-for-politicians-or-is-it (last accessed 29 February 2020).

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corruption is likely to preempt efficient anti-corruption rules, and so forth. That is why beneficial institutional progress takes so much time, to say nothing of the cultural progress that may follow institutional progress only with additional delay. Therefore, as far as a supermajority requirement for the election of Justices is concerned, once the ‘cunning of reason’ (Hegel)34 permits its introduction, it makes sense to protect it against regressions by establishing it as a rule of constitutional law. 3. Numbers of Judges, Stability of Panel Composition, and Political Quota The vast majority of Constitutional Court or Supreme Court benches are staffed with an uneven number of judges, so as to ensure that normally, with the full bench sitting, any possible split will render a majority. For cases of stalemate, which may nevertheless occur due to absences, a frequent solution is to provide the President with a casting vote.35 Concerning the German FCC, this is the tie-breaking mechanism only for two exceptional types of decisions, one of them purely internal.36 Otherwise, a wholly different solution has been adopted which, in combination with an informal political quota for the nomination of judges, yields strong counter-incentives to the formation of internal political factions. The FCC is composed of two Senates consisting of eight judges each, in steady lineup.37 That is, the Senates each make up a bench with a kind of curiate identity. This seems typical of the civil law per curiam tradition, as opposed to the tradition in common law countries, where instead of more or less constant combinations of judges in an adjudicating body, continual recombinations seem to be more common, or at least rather frequent. Stability of judicial formations is probably in itself a factor that tends to promote open and respectful deliberations, mainly because it generates stable relationships of recurrent cooperation and reciprocity, which are generally more conducive to fair and equitable behaviour than more ephemeral contacts. Of course, where, as in the UK Supreme Court, judges mostly sit in varying combinations of five, seven, nine, 34 ‘Cunning of reason’ (List der Vernunft) is Hegel’s term for the realisation of what is reasonable via human action which is driven by human passions and interests rather than (immediately) by reason itself (in other words: for the reasonable emerging as a result of the unreasonable). 35 A special version of that solution has been adopted for the Constitutional Court of Austria. Like in the courts of the Holy Roman Empire (Imperial Chamber Court and Aulic Council), the President of the Austrian CC votes only when there is a tie; otherwise, the President is a mere chairperson without voting power: see §31, 2nd and 3rd sentence, Constitutional Court Act 1953 (Verfassungsgerichtshofgesetz 1953, VfGG). 36 The Presiding Judge has a casting vote in the event of a tie in the committee which decides (internally, without the parties being involved) when it is unclear which of the two Senates of the FCC is competent to decide a case, §14(5), 2nd sentence, BVerfGG, and in the event of a tie in decisions concerning the recusation of a judge, §19(1) BVerfGG. 37 In addition, Chambers of three, which can only decide unanimously, deal with easy cases, §§15a(1), 81, §93d(3), 1st sentence, BVerfGG.

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or eleven38 of a total of only twelve, cooperative relations will always be close enough between all members of the court to produce that moderating effect. To be victorious, applicants before the FCC must, as a rule, win over a majority, ie five of the eight judges on the Senate dealing with their case. This has become culturally relevant in combination with an informal arrangement securing a politically balanced composition of both Senates. The informal arrangement in place for decades was that each of the two major political parties, CDU and SPD (Christian Democrats and Social Democrats) – or, to be more precise, their groups in the two chambers of the German Parliament (Bundestag and Bundesrat) – have the right to nominate half of the judges on each Senate and will assign a proper share in their nomination rights to possible partners in coalition. Combined with that arrangement, the even number of judges and the way the majority requirement works have exerted a preventive effect on the formation of political voting blocs within the FCC, because they have excluded the possibility of a bloc with a chance to rule by non-dialogic majority rather than try to convince in debate. Under a conservative government, for instance, conservative judges ( judges with a conservative party nomination background) might, in theory, vote down any application against acts of the current government without taking pains to engage in serious debate with their colleagues. But such a strategy would not recommend itself, given that governmental majorities can always change and thus put colleagues from ‘the other side’ into a position to retaliate. In such a framework, strategic faction-building is unlikely even to come to mind. Yet however beneficial for the court’s culture of deliberation, the said arrangement was certainly not flawless. It was never entirely fair, because it disadvantaged smaller parties in the opposition camp. Moreover, it needed to be adapted to changes in the political importance of the parties involved. In 2016, a (partial) adaptation was reportedly agreed upon, according to which in the future, the Green Party would nominate one in five judges.39 This new arrangement turned out to be untenable and has meanwhile been replaced by one including the Liberal Party in a 3:3:1:1-allotment of nomination ‘rights’.40 Under the present conditions of political diversification and volatility, stable 38 Sitting en banc as a full panel. In accordance with section 42(1)(a) of the Constitutional Reform Act 2005, the Supreme Court necessarily ‘consists of an uneven number of judges’. Thus there cannot be a panel of 12 Supreme Court Justices. 39 See the newspaper article by C. Rath, ‘Neue Formel für die Wahl der Bundesverfassungsrichter’, Die Tageszeitung, 8 September 2016. 40 The order agreed upon in 2016 would have meant that, in 2018, the Green Party would have been able to nominate the successor of a retiring judge in the First Senate, which would have produced a clear left-liberal dominance in that Senate. Following widespread protest, including concerns voiced by the FCC (not just from the more conservative judges), the order in which the parties involved were to exercise their nomination rights was modified so as to preserve the equilibrium of more conservative and more liberal judges in the Senate. For the new arrangement see C. Rath, ‘Vier Wahlen für Karlsruhe’, Legal Tribune Online, 10 March 2020, available online via https://www.iwa-ev.de/z43/wp-content/uploads/2020/06/lto-10-03-2020.pdf (last accessed 26 July 2021).

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solutions have become unlikely, but it remains important to preserve an equilibrium or a kind of pluralism on the bench which counteracts the risk of political faction-building. Many countries have mixed political appointment systems where political equilibrium or sufficient pluralism on the court is difficult to achieve. A judge from one such country told me that in his country, the President has a habit to use his share in the selection power to correct possible imbalances. But that is a matter of individual wisdom and virtue. More reliable institutional safeguards ought to be preferred. In countries with a (predominantly) professional recruitment system41 – more typical with respect to Supreme Courts than with respect to specialised Constitutional Courts, and sometimes associated with a habit to appoint career judges only – the need to secure a balance of political inclinations on the bench may seem less salient because in such a system, proximity to political parties or to their values will usually not be among the selection criteria in the first place, and at least initially, they will be less visible to the public. However, the more an apex court has to deal with matters of political interest and importance, the more visible it will become whether or not the case law of that court reflects political bias, and it will be wise to take that into account in the appointment process and to design that process accordingly. 4. Informal Voting and the Role of the Reporting Judge A point which has so far not received much attention is that a culture of serious and consensus-oriented deliberation will be enhanced by informalities in ascertaining what the opinions of the several judges are – in short: by informal voting –, and by a corresponding flexibility with respect to the disclosure of votes.42 The practice of the German Federal Constitutional Court is a case in point. As regards informal voting, the institution of the so-called ‘reporting judge’ plays an important part. The reporting judge (rapporteur) as a typical institution of civil law jurisdictions is not the same as that of the lead judge in common law jurisdictions. The term lead judge is often applied to the judge who is commissioned to draft the first opinion, with a view to gathering a majority, after (first) deliberation and voting in conference.43 The rapporteur, by contrast, has to prepare a text in advance which will serve as the basis for the court’s deliberations right from the start.

41 This includes election by judicial appointment committees with a preponderance of members from amongst the judiciary. 42 On the disclosure of votes, see section II. 5. below. 43 See, eg, I. Greene, Final Appeal: Decision-Making in Canadian Courts of Appeal (Toronto, James Lorimer & Co, 1998) 88 et seq. Alternatively, it is used for the presiding judge, particularly in smaller panels where the most senior judge presides and the term ‘President’ may appear too pompous; see, eg, M. Palmer, ‘Compromising Courts and Harmonizing Ideologies: mediation in the administrative chambers of the people’s courts of the People’s Republic of China’, in: A. Harding / P. Nicholson (eds), New Courts in Asia (London / New York, Routledge, 2010) 251, 264.

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In the case of the German FCC, the procedure of deliberating on the basis of a text prepared by the rapporteur has two stages. For the first stage, the rapporteur has to prepare an extensive report, in Senate cases usually 150 – 300 pages and often more,44 which is supposed to summarise the briefs and the history of the case, and – on the basis of existing legislation, case law and jurisprudence – to explore all the legal ramifications, ideally in such a way that, whichever path the majority choose at any of the possible junctions, they will find all the information needed in order to decide how to proceed further. The report usually ends on a suggestion for the so-called Tenor (the dispositive part of the judgment) which follows from the reasoning developed by the rapporteur. This report is not just a source of information relieving the other judges of the burden of having to do all the research each on their own, nor is it just a necessary device that helps to structure the discussion in conference and to make sure that no legally relevant aspect is forgotten. It also serves as a kind of default option, in the sense that those parts of the reasoning and those conclusions or interim conclusions to which none of the judges raises any objection will be counted as consented. The report thus works as a basis of informal voting by silent acquiescence. Any objections that have been raised are usually processed in an informal way, too. A controversial issue will normally be discussed at length, up to the point where no new arguments emerge, or where opposition to the dominant view somehow fades away. The Presiding Justice – ie the President or Vice-President – will then eventually look around and, without having solicited a formal vote, say something like: ‘Well, my impression is that we have a consensus on this issue’, or ‘… that we have a majority in favour of ….’, and if no one objects to this assessment, that is how the issue is considered to have been decided. Such a practice of informal voting spares the proponents of solutions which have not prevailed an explicit backtrack. This is extremely helpful because it neutralises the derationalising effect of certain emotions from which no human is entirely free. Mindful judges know from their own experience as well as from the experience of the behaviour of others that the most difficult of all judicial exercises is getting off a horse once mounted.45 With the informal practice just described, a judge whose initially 44 For details, see Lübbe-Wolff, ‘Cultures of Deliberation’ (n 1) 40. 45 In Chamber cases, which can only be decided unanimously (see n 37), when a motivated ‘reverse’-decision I had proposed as a reporting judge met with objections from one of my colleagues, who instead suggested a non-motivated refusal to decide the case, I found it helpful to let the matter rest for some time. Upon rereading my draft a few weeks later, I sometimes found the suggested alternative more acceptable than I had found it in the days immediately following the weekend I had spent writing the draft. The FCC caseload is such that every judge has to report on several hundred Chamber cases every year. Initial discord in some of them is inevitable. Where there is an insuperable stalemate, transfer of the case to the respective Senate of eight is the only solution. Given the limited processing capacities of the Senates, however, there is institutionalised pressure to find an agreement in the Chamber. In this way, unanimity requirements, which – as a kind of compensation for a smaller number of judges on the bench – are part of the filtering mechanism in many constitutional courts besides the German FCC

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voiced opinion on an issue has not succeeded in winning over a majority can leave open – perhaps even in his own mind – whether he has been convinced by a majority or just refrains from writing a dissent.46 The next case raising the same legal question(s) will as a rule find that same judge on the majority side, where he can always leave it open whether he now sides with the majority on account of existing precedent only, or for additional reasons meanwhile adopted. This particular method of consensus-building47 is successful, even with respect to ‘internalisation’, because it builds upon the malleabilities and permeabilites characterising any living system, including systems of individual beliefs. With all of the functions mentioned above, the report is an indispensable instrument of efficient decision-making in a court with majority requirements in the per curiam tradition (see above, section II. 2.). It is not, however, an institution intended to make the reporting judge more influential than the other judges, and the practice of the FCC aims at preventing any such effect. Reports are as extensive as they are because they are designed to let all members of the bench partake in the expertise acquired by the rapporteur in preparing the report.48 In addition, the report is accompanied by a collection – formerly a paper collection, now an electronic one – of all the materials used in preparing it, including copies of the written submissions of the parties and of all other relevant elements of the file, as well as copies of all the case law and experts’ literature cited in the report (except for what each of the judges is supposed to have in his office (also, for instance, in those of Austria, Belgium, Kosovo, Hungary, Korea, Turkey, and Slovenia), can make decisions in minor cases a kind of ‘exercise field’ for a culture of consensusseeking in the major cases. 46 One might ask whether this practice, which is common also in other German federal courts, is compatible with the judicial duty to cast a vote (which, in Germany, is implied in various rules of the Judicature Act, GVG, as well as the Law on the Federal Constitutional Court, BVerfGG). For a critical appraisal of non-explicit voting practices, see W. Ernst, ‘Abstimmen über Rechtserkenntnis’, (2012) 67 JuristenZeitung 637, 641 et seq. In fact, the FCC practice described above is premised on such a duty in that no judge is ever allowed simply to abstain from voicing his opinion at all. 47 The method is applied in many courts of the per curiam tradition, but far from universally. The Constitutional Court of Austria, for instance, relies much more on sequential formal voting. There are, however, limits to the breaking down of questions into sub-questions, and therefore limits to formal sequential voting, which even a court more committed to formal voting cannot avoid. An alternative is integral voting, as practiced by some courts in the per curiam tradition (see above, text accompanying and following n 24). Integral voting, like any other strategy, comes with certain costs: In controversial cases, multiple versions of a draft may have to be produced until a majority is found (see n 24), and as motivating factors to dropping objections, fatigue and – other things being equal – social pressure are likely play a greater part with integral voting than with sequential voting. Integral voting, too, can in theory be accomplished informally, but the cost-benefit-ratio is likely to be much less favourable here. 48 The rapporteur is usually not initially an expert in the particular field for which he is reporting. In the FCC, as a rule, reporting competences, which are determined in advance by a schedule of responsibilities, are not allocated according to previous fields of work of the judges.

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library, such as the standard collection of FCC decisions). It is up to the judges whether to form their view of the case mainly on the basis of the report, or mainly on the basis of the accompanying materials, or both. As a rule, every single member of the Senate is very well prepared. Objections to the report, sometimes circulated in writing before the conference date, are raised freely, and quite frequently the reporting judge will find his suggestions for the outcome or important parts of the underlying reasoning rejected by a majority of his colleagues. Collegial interventionism continues at the next stage. Once it becomes clear in the report-based conference(s) what the outcome and the essential reasons of a decision are to be, the judgment text will have to be drafted. As a rule, it is for the rapporteur to do this, irrespective of whether or not his report has secured a majority for the proposed outcome. If, however, the rapporteur (unwisely) declares himself unable to ‘motivate’ the outcome decided by the court, a colleague will be found who is willing to take over.49 The draft will then be circulated, and all the judges – not just those who agree with the outcome – will suggest changes (using the electronic correction function), often substantial ones, which will then be presented for discussion in another conference or, depending on the number and controversiality of proposed changes, in several further conferences. This second conference stage is called ‘reading deliberation’ (ie deliberation on the basis of a close reading of the so-called ‘consolidated draft’ showing the results of the circulation phase).50 Here again, formal voting is an exception. Passages of the rapporteur’s initial draft as well as suggestions for change which he has accepted by incorporating them into the consolidated draft count as accepted in the absence of any challenge. Controversial passages and controversial suggestions for change will be discussed one by one, moving from page to page. It can happen that the objections engendered by a draft are such that someone submits an alternative draft of the decision as a whole or of great parts of it, or that the Senate asks a small number of its members, including the reporting judge, to cooperate in the production of a new version of the draft. And just as in the first stage of deliberations, the discussion of alternatives will usually not end with formal voting. Formal votes by a raising of hands are solicited only when it is unclear from the course of the discussion where the majority lies. 5. Possible Opacity of Voting Behaviour For this practice of informal voting to work in favour of consensus-building in the way just described, the individual judge must be able not to communicate publicly how he has voted. Formal and informal rules for the FCC are framed accordingly. Decisions of

49 From my twelve years on the FCC, I recall but one case where someone had to step in because a rapporteur was so dissatisfied with the Court’s findings that he refused to write the judgment. 50 For details of the procedure, which is slightly different in the two Senates, see references in n 1.

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the Court are signed by all the judges sitting in the case,51 regardless of whether or not they agree with the decision. To common lawyers, this may look like false certification. In the per curiam tradition, however, for a judge to sign a decision does not mean that he subscribes to it in a figurative sense. It expresses that he was on the bench sitting in the case, and that the decision is one of that curia, not one of the individual judges. The indistinctive signature requirement is a strong symbolic expression of the per curiam concept of judicial decision-making. It holds for many apex courts in the per curiam tradition, but not for all of them.52 FCC judges who do not agree with a decision may, but do not have to, add a separate opinion, and the Senates may, but do not have to, disclose the numerical distribution of votes in their decisions.53 This includes the possibility to disclose that a decision was made unanimously, and the possibility to disclose differences with respect to votes on outcome and votes on reasons. It does not, however, include the possibility of disclosing names, ie communicating who voted which way. In practice, the Senates will always decide in favour of transparency with respect to how votes were cast if a member in the minority asks for such disclosure – a courtesy stimulated by the fact that the requesting member might resort to publicising non-unanimity by way of publishing a separate opinion if his motion were rejected. That leaves the court and its members with an array of nuances in the expression of concord or discord, which not only protects the beneficial informality in ascertaining what the majorities are (see section II. 4. above,), but also enhances the consensusoriented culture of deliberation by providing material which, since its use is discretionary, can be used to find compromise without thereby compromising the law. For instance, if the majority has gone a long way to accommodate a minority concern, eg by narrowing reasons substantially, so that they will have less far-reaching consequences beyond the case at hand, it would be unusual for the judge(s) in the minority not to honour this by renouncing the publication of a dissenting opinion. In turn, the majority would probably have been less inclined to show accommodating behaviour if it had not expected this accommodation to be honoured in such a way.

51 §30(1), 1st sentence, BVerfGG. If a judge who participated in the decision-making is prevented from signing, this is to be certified by the Presiding Judge, §28(2) GO BVerfG. In the published version of the judgment, signatures are reproduced in typewritten copy. 52 Alternatives in place for some courts are, for instance, signature by the president of the court/ the presiding judge of the respective formation (eg, Constitutional Court of Slovenia, with exceptions), or by the president/presiding judge and the registrar/secretary/secretary general (eg, Constitutional Court of Austria, European Court of Human Rights). Decisions of the Italian Corte Costituzionale are signed by the President (presidente), the judge who drafted the decision (redattore), and the Secretary General (cancelliere). The collective decisions of the French Conseil constitutionnel are published without signatures or typewritten copies of signatures. Instead, the last sentence of the decision indicates the judges who took part in the decision (‘Jugé par le Conseil constitutionnel dans sa séance du …., où siégeaient ….’). 53 §30(2) BVerfGG.

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Interestingly, the US Supreme Court worked with the same opacity at the height of its collegial functioning: There was no general signature requirement, but no requirement that each and every Justice make his vote public, either. From the ‘opinion of the court’, usually delivered by the Chief Justice, it could not be detected who had supported it. Internal dissent was not necessarily articulated publicly.54 I would presume that, along with this element of opacity, an associated practice of informal voting similar to the one described above (in section II. 4.) helped to keep the Supreme Court cohesive in those early times. 6. Privacy of Deliberations Apart from the notable exceptions just mentioned (in section II.5), there is strict intransparency in the FCC with respect to the course of deliberations and voting.55 ‘Secrecy of deliberations’ is the rule for other German courts, too,56 and indeed for most courts in the world.57 There are some countries which depart from the principle of secrecy even for apex courts by providing for public conferencing either generally or in certain parts or circumstances (Brazil, Switzerland, Mexico).58 Experiences with man54 Sunstein (n 9). Sunstein, like one of the Justices he quotes as evidence for that practice (and, as far as I can see, in line with general usage in the legal literature), uses the term ‘silent acquiescence’ to denote non-publication of a judgeʹs objections to the opinion of the court. I am puzzled by that terminology. Would it not be closer to common understanding to reserve the term ‘silent acquiescence’ for internal consent which is not made explicit in public, and to speak of ‘silent dissent’ or ‘silent objections’ when internal dissent (or objections with respect to reasons) is what remains undisclosed? Taking non-disclosure of dissent to amount to acquiescence ascribes to the former a meaning which it would only have in a system requiring any dissent from the opinion of the court to be made public. It might even make sense to substitute ‘invisible’ for ‘silent’, in order to avoid confusing what is communicated internally with what is communicated in public. 55 §30(1), 1st sentence, BVerfGG. 56 §43 German Law on Judges (Deutsches Richtergesetz, DRiG). 57 However, in many common law jurisdictions, including the United Kingdom, formal legal rules prescribing secrecy of deliberations are absent; confidentiality is regarded merely as a convention. 58 For the Mexican Suprema Corte de Justicia de la Nación (with a private deliberation following the public one) and for the Brazilian Supremo Tribunal Federal, see A. R do Vale, Argumentação constitucional: um estudo sobre a deliberação nos tribunais constitucionais (Doctoral Thesis, Universidad de Alicante/Universidade de Brasilia, Brasília-Alicante 2015), 107 et seq, available online via https://rua.ua.es/dspace/bitstream/10045/50465/1/tesis_rufino_do_vale.pdf (last accessed 26 July 2021); V. A. da Silva, ‘Deciding without deliberating’ (2013), 11 International Journal of Constitutional Law 557, 568; F. Pou Giménez, ‘Changing the Channel. Broadcasting Deliberations in the Mexican Supreme Court’, in: R. David / D. Taras (eds), Justices and Journalists. The Global Perspective (Cambridge, Cambridge University Press, 2017) 209 et seq; for Switzerland, see short information on the website of the Federal Court (Bundesgericht), and H.-J. Mosimann / M. Felber / T. Stadelmann, ‘Öffentliche Urteilsberatung am Bundesgericht – aktuelle Probleme und Lösungsansätze’, Justice – Justiz – Giustzia 2014/1; P. Eggenberger / C. Stöckli, ‘Das Volk will wissen, was im Gericht läuft’, plädoyer 6/0 of 29 November 2010,

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datory deliberation in public do not encourage imitation. In the Swiss Federal Court (Bundesgericht), where public deliberation is mandatory inter alia when the Justices are not unanimous, what has come of it is almost omnipresent unanimity59 (probably in good faith – a nice example of how interest, including the interest in finding one’s own behaviour irreprehensible, generates convictions). In Brazil, public deliberations by the Justices of the Supremo Tribunal Federal are reported usually to consist in the Justices just voting seriatim, each of them reading their prefabricated opinion.60 In Mexico, where Supreme Court decisions are extremely fragmented, too, publicly broadcasted deliberations have been identified as a main reason.61 No wonder: the virtuoso judicial exercise mentioned above62 is already hard enough to perform in front of just a few colleagues. 7. Separate Opinions An increasing number of countries in the civil law tradition allow at least their apex courts to publish separate opinions. What is the effect of this licence on the culture of decision-making? It certainly is not a necessary prerequisite for the development of a culture of serious and consensus-oriented deliberation. From conversations with Justices from courts where publication of separate opinions is illicit, I take it that some of these courts work in a fairly deliberative way, with the Justices still listening to one another and trying to convince each other even when majorities are already clear. Several Justices explained this to me as a matter of mutuality: judges in the majority do not cut discussions short and just vote down objections, because they do not want the same to happen to themselves when they are in the minority. This indicates that recruitment patterns preventing bloc dominances (see section II. 3. above) are more important than the permissibility of separate opinions. From my experience on the FCC, however, I would draw the conclusion that in a court with a basically deliberative, consensus-oriented culture, leave to publish separate opinions will further enhance that culture, because it will provide additional motivation for the majority to persuade the minority to join them or at least refrain from publicising

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updated 7 October 2013 (interview with Swiss federal judge M. Schubarth and barrister H. Heeb), available via https://www.plaedoyer.ch/artikel/artikeldetail/das-volk-will-wissenwas-im-gericht-laeuft/ (last accessed 26 July 2021). Mosimann/Felber/Stadelmann (n 58). On the Swiss experience, see also the contribution by T. Stadelmann in Häcker/Ernst (inital asterisk note), 181. Da Silva (n 58) 568 et seq. Pou Giménez (n 58) 222 et seq; cf also M. Aragón Reyes, ‘La deliberación en los tribunales constitucionales’, (2018) 112 Revista Española de Derecho Constitucional 377, 378, 384. Pou Giménez, ibid, nevertheless appreciates public deliberations because they help generate trust and improve public knowledge in legal matters. In section II. 4., text accompanying n 45.

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objections.63 For the latter motive to become effective, judges must be allowed to keep objections, and even the mere fact that they do object, to themselves (see section II. 5.).

III. Culture and Institutional Frameworks A productive culture of deliberation does not come into existence because there are nice people on the bench. It comes about as a result of framework conditions and circumstances which act upon behaviour. Humans have the advantage of being able to design and change a great part of the framework conditions affecting their behaviour, ie to create institutional frameworks, such as legislation and other types of rules, formal and informal. This capacity is the source of all human progress. As Georg Wilhelm Friedrich Hegel, the great philosopher of institutions, once observed, efficient institutional frameworks often work indirectly.64 Their efficiency lies in that they produce habits, expectations and corresponding internalised norms. Over the sense of autonomy which (rightly) goes with any internalisation of norms, the institutional origin of that internalisation and their need to be institutionally stabilised may easily escape awareness. The institutional frameworks underlying judicial cultures of deliberation are therefore easily overlooked.

IV. Concluding Remarks The above passages deal with just those factors which may all too easily escape attention. There are, of course, others. Safeguards of judicial independence and integrity, for instance, are of paramount importance. In the absence of judicial independence, or with corrupt judges, the ‘compelling force of the better argument’ (as Jürgen Habermas has put it) will not work, and a culture of genuine discussion is unlikely to develop where, due to endemic corruption or governmental control of the judiciary, the outcome of cases is predictable anyway. Caseload, filtering mechanisms, available support by clerks, research departments, etc, determine how much time is available for deliberation. Rules and practices concerning the number of judges on a bench and their selection can be of relevance far beyond the aspects mentioned above. Collegiality will be adversely affected or promoted by factors generating or preventing internal hierarchies, and so on. Even culture itself works as a framework condition, because it determines expectations and 63 See the example given in section II. 5. above (at p 175). Cf also do Vale (n 58) 185 et seq; R. Lamprecht, Abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur (BadenBaden, Nomos, 1992) 305, with further references. For the opposite view, see V. Ferreres, ‘The Consequences of Centralizing Constitutional Review in a Special Court. Some Thoughts on Judicial Activism’, (2004) SELA (Seminario en Latinoamérica de Teoría Constitucional y Política) Paper 39, available online via http://digitalcommons.law.yale.edu/yls_sela/39 (last accessed 29 February 2020) at 21, with further references. 64 For an overview, see G. Lübbe-Wolff, ‘Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie’, in: B. Sandkaulen / V. Gerhardt, Gestalten des Bewusstseins, Genealogisches Denken im Kontext Hegels (Hamburg, Felix Meiner Verlag, 2009) 328 et seq (also available online).

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the kind of feedback that people get when they do or do not behave in certain ways. Cultures, however, are never entirely self-supporting. They improve or deteriorate with changing frameworks. That should be kept in mind, whatever the state of satisfaction or dissatisfaction with the culture of deliberation in a given court.

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Die Reformvorschläge der Benda-Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts von 1998 und ihre Wirkung Von Martin H. W. Möllers

Abstract Aufgrund der Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts setzte 1996 der Justizminister eine Reform-Kommission ein, welche die Überlastung und Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichts untersuchen und Lösungen in Abstimmung mit den Bundesländern finden sollte. Die „Benda-Kommission“ scheiterte mit ihren Vorschlägen und zeigte damit, wie schwer Reformen des Bundesverfassungsgerichts sind.

Mitte der 1990er Jahre wurden in der juristischen Literatur Fragen nach den Aufgaben und dem Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit gestellt.1 Anlass war die seit 1951 stetige Zunahme der Arbeitsbelastung des BVerfG, welches das Instrument der mündlichen Verhandlung immer seltener gebrauchte.2 Denn die Verfahrenseingänge pro Jahr steigerten sich von weniger als 1.000 auf fast 6.000 im Jahr 1995.3 Am 15. Juli 1996 wurde durch den damaligen Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig eine elfköpfige Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Ernst Benda berufen, welche die Überlastung und Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit untersuchen und Lösungen in Abstimmung mit den Bundesländern finden sollte. Im Dezember 1997 schrieb Schmidt-Jortzig in seinem Vorwort zu dem vom Bundesjustizministerium herausgegebenen Kommissions-Bericht „Entlastung des Bundesverfassungsgerichts“, dass das Gericht „in jeder Weise überlastet“ und „seine Funktionsfähigkeit gefährdet ist“ (S. 3). Da sich mögliche Entlastungsempfehlungen – wie schon in der Literatur angedacht – auf die Gerichte der Länder auswirken könnten, bestand die elfköpfige sog. „Benda1

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Vgl. Hesse, JZ 1995, 265 – 273; Kirchhof, NJW 1996, 1497 – 1505; Schulte, DVBl. 1996, 1009 – 1020; Tietje, AöR 1999, 282 – 305; kritisch Lamprecht, Zur Demontage des BVerfG, 1996, S. 13 ff.; Böckenförde, ZRP 1996, 281 – 284. Limbach, Arbeit im Bundesverfassungsgericht; in: Verein der Richter des BVerfG e. V. (Hrsg.), 2004, S. 48. BVerfG (Hrsg.), Jahresstatistik 2019, Februar 2020, S. 2 f.; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Entlastung des Bundesverfassungsgerichts 1998, S. 151 f.

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Kommission“ nicht nur aus drei weiteren Richtern des BVerfG4 sowie aus je einem hochrangigen Vertreter des Bundesjustiz- und Innenministeriums5, sondern auch aus zwei Landesverfassungsrichtern6 und drei Vertretern von Landesjustizministerien.7 Ihre zwischen Bund und Ländern ausgewogene Zusammensetzung lässt darauf schließen, dass von vornherein die Absicht bestand, eine hohe Akzeptanz ihrer Beschlüsse zu erreichen. Die starke Beteiligung der Länder und Landesverfassungsgerichte könnte zudem darauf abgezielt haben, dass Zuständigkeiten des BVerfG auf die Landesverfassungsgerichte übertragen werden sollten.8 Welche Lösungen zum Reformbedarf des BVerfG gefunden wurden, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Dafür wird im ersten Kapitel die Belastungssituation des BVerfG Ende der 1990er Jahre anhand der öffentlichen Meinung und als Ergebnis der BendaKommission dargestellt. Hier werden auch erste Empfehlungen der fachspezifischen Literatur zur Entlastung des BVerfG vorgestellt (I.). Danach folgt im zweiten Kapitel die Analyse, welche Reformvorschläge die Kommission machte und inwieweit sie dabei Empfehlungen der Fachliteratur aufgegriffen hat (II.). Im dritten Kapitel wird die Frage nach dem Erfolg der Kommission geprüft und daran gemessen, ob ihre Vorschläge ins BVerfGG übernommen wurden (III.).

I. Die Belastungssituation des BVerfG Ende der 1990er Jahre und erste Empfehlungen der Literatur zu seiner Entlastung Schon 1959 beklagte Gebhard Müller bei seiner Amtseinführung als Präsident des BVerfG die durch die zunehmende Zahl an Verfassungsbeschwerden (VB) größer werdende Belastung des Gerichts: „Auf dem Gebiet der Verfassungsbeschwerden ist wohl noch keine endgültige Regelung gefunden, um die Grenzen abzustecken zwischen den gehaltvollen, einer Entscheidung bedürfenden Beschwerden und denen, die aus Unkenntnis des Rechtsganges und des Vertretbaren mit unerfüllbaren Begehren an das Gericht herantreten.“9

Dabei hatte das BVerfG im Jahre 1959 genau 1.218 Verfahrenseingänge zu verzeichnen. Das waren gegenüber dem ersten vollen Tätigkeitsjahr 195210 mit 1.017 Verfahrenseingängen nur 201 Eingänge mehr. Das entspricht einer jährlichen Steigerung von rund 3 % der Verfahrenseingangszahl. Bis Ende 1995 stieg deren Zahl jedoch auf 4 Amtierend: Karin Graßhof (2. Senat; einzige Frau in der Kommission), Dieter Grimm (1. Senat); ehemals: Helmut Steinberger. 5 Wolfgang Heyde (BMJ, stellvertretender Vorsitzender der Kommission), Kurt Schelter (BMI). 6 Gustav Lichtenberger (Bayerischer Verfassungsgerichtshof) und Alfred Rinken (Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen). 7 Wolf-Dieter Eckardt (JM Baden-Württemberg), Rainer Faupel (JM Brandenburg), ErnstHasso Ritter (JM Nordrhein-Westfalen). 8 Zuck, ZRP 3/1997, 96. 9 G. Müller, Ansprache; in: Bundesverfassungsgericht (Hrsg.), 1963, S. 19. 10 Das Gericht hatte 1951 erst im September seine Arbeit aufgenommen.

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5.911 Verfahrenseingänge an (S. 151 f.).11 Daher prognostizierte Der Spiegel zum Zeitpunkt der Einsetzung der Benda-Kommission durch den Justizminister im Juli 1996, dass die Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger, beim BVerfG Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seiner Grundrechte einzureichen, wahrscheinlich eingeschränkt wird.12 Seine Prognose stützte das Magazin einerseits darauf, dass sich die Zahl der Verfahrenseingänge beim BVerfG seit 1980, das rund 3.100 VB verzeichnete, auf fast 6.000 Verfahren im Jahr 1995 nahezu verdoppelt hatte. Neben den VB sah Der Spiegel aber auch die Normenkontrollen auf dem Prüfstand, weil diese „von den Parteien immer häufiger als Politik mit anderen Mitteln betrachtet“ würden und daher das BVerfG blockierten.13 In der Presseerklärung des Bundesjustizministers Schmidt-Jortzig vom 16. 7. 1996 wurde jedoch als einziger Anlass für den Einsetzungsauftrag der Benda-Kommission die steigende Zahl der VB genannt.14 Diese bildeten auch später noch den Hauptgrund für die Überlastung des BVerfG.15 Gleichzeitig hatte die Kommission die Vorgabe erhalten, die Abschaffung der VB nicht zu diskutieren.16 In ihrem Bericht kommt die Benda-Kommission zu dem Ergebnis, dass insbesondere „die Fülle der Verfassungsbeschwerden“ zu einer Arbeitsbelastung des Gerichts geführt hätten, hingegen die übrigen Verfahrensarten wie die abstrakten und konkreten Normenkontrollverfahren, die Wahl- und Mandatsprüfungen, Organstreitigkeiten und solche zwischen Bund und Ländern kein Bewältigungsproblem darstellten (S. 23 f.). „Der deutliche Anstieg nicht erledigter Verfahren insbesondere im Bereich der Verfassungsbeschwerden – bis zur Verzehnfachung der mehr als sieben Jahre anhängenden Verfahren – signalisiert eine Belastungssituation des Gerichts, die dringend Abhilfe erfordert“ (S. 21). Daran ändere auch der zwischenzeitlich eingetretene Rückgang der Eingangszahlen nichts (S. 27). Vielmehr sah die Benda-Kommission eine erhebliche Gefährdung der Funktionsfähigkeit durch die „eklatante und seit längerem bestehende Überlastung“ (S. 28). Die Überlastung des BVerfG machte die Benda-Kommission zum einen daran fest, dass die ursprünglich im Durchschnitt 70 – 80 Senatsentscheidungen pro Jahr seit Mitte der 1980er Jahre auf etwa 30 Entscheidungen in den 1990er Jahren zurückgegangen und die Anzahl der Kammerentscheidungen nach § 93c BVerfGG deutlich gewachsen sei (S. 28). Zum anderen fürchtete sie in ihrem Bericht eine persönliche Überlastung der Richter, die als Berichterstatter*in jeweils mehr als 330 Verfahren zu bearbeiten und

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BVerfG (Fn. 2), S. 2 f. Der Spiegel 30/1996, S. 19. Der Spiegel 30/1996, ebd. Vgl. Zuck, ZRP 3/1997, 96. Umfassend: Gusy, Die Verfassungsbeschwerde; in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl., 2015, S. 333 – 347. 15 Wahl, Reformfrage; in: FS BVerfG, 2002, S. 474. 16 Zuck, ZRP 3/1997, ebd.

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daneben in der Kammer, im Senat und im Plenum mitzuwirken hätten (S. 29 f.).17 Diese Belastungen – so die Kommission – gefährdeten auch die Funktionsfähigkeit des BVerfG, das nach dem Grundgesetz die Aufgabe übertragen bekommen habe, „das Verfassungsrecht verbindlich auszulegen und weiterzuentwickeln“ (S. 30). Die Verfahrensdauer sei aber viel zu lang, wenn ein Verfahren erst dann entschieden würde, wenn der Streit nicht mehr aktuell ist oder in der Zwischenzeit neue unwiderrufliche Tatsachen geschaffen würden (S. 15).18 Zudem würden Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG oder bei anderen Verfahrensarten die Entscheidungssachen bei anderen Gerichten blockieren (S. 31). Auch die Reihenfolge der Bearbeitung der Verfahren folge nicht der notwendigen Priorität, wie bereits der ehemalige Präsident des BVerfG Wolfgang Zeidler bemerkt habe19: „Je unwichtiger und unsinniger eine Sache sei, desto schneller werde sie erledigt, während die schwierigen und wichtigeren Dinge um so länger dauerten.“ (S. 31). Eine Abhilfe dieser Überlastung des BVerfG erwartete die Benda-Kommission nur dann, „wenn tiefgreifende Maßnahmen realisiert werden.“ (S. 15). Die Kommission nahm zur Feststellung der Überlastung in erster Linie formelle Prüfungen vor und kam mittels Statistiken zu diesem Ergebnis (S. 21 – 31). Eine materielle Prüfung, welche die Arbeitsweise des BVerfG untersucht hätte, trug die Kommission auf nur sechs Seiten sehr eingeschränkt vor (S. 133 – 138), obwohl sie die zwischenzeitlich beschlossenen Entlastungsmaßnahmen durch das 5. Änderungsgesetz zum BVerfGG von 1993 anführte. Diese bestanden aus der Modifizierung des Annahmeverfahrens (Prüfung der Erfolgsaussichten, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), den Wegfall der Begründungspflicht bei Kammerentscheidungen für nicht zur Annahme angenommene VB (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) und die Verlagerung der Kompetenz für Entscheidungen über die Zulässigkeit von Richtervorlagen von den Senaten auf die Kammern (§ 81a BVerfGG) (S. 26).20 Auch konstatierte die Benda-Kommission den Rückgang der Eingangszahlen (S. 29 f.). In der rechtspolitischen Diskussion kam die Meinung auf, dass die Überlastung des BVerfG vielleicht „hausgemacht“21 sein könnte, weil „so manche ,verfassungsrichterliche Rechtsschöpfung‘ die Grenzen des Zulässigen“ überschreite.22 Als Beispiel wurde die „Elfes“-Entscheidung23 von Januar 1957 genannt, in der das BVerfG das weite Schutzbereichsverständnis von Art. 2 Abs. 1 GG begründete. Der aus diesem weiten Schutzbereich abgeleitete Anspruch auf rechtmäßiges staatliches Handeln machte Vgl. zur mathematischen Verfahrensberechnung Söllner, ZRP 1997, 273. Vgl. dazu Geiger, FS Nawiasky, 1956, S. 211, 214. Äußerung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, Ausschuss-Drucks. 59/55, 1985. Zu den Auswirkungen vgl. auch Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c, Rn. 20 – 20b, § 93d, Rn. 6, § 81a, Rn. 19. 21 Spranger, AöR 2002, 69 sowie Zuck, ZRP 1997, 97; Krämer, KritV 1998, 215. 22 Spranger, ebd. 23 BVerfGE 6, 32 ff. 17 18 19 20

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nunmehr „jede rechtswidrige Maßnahme zum verfassungsrechtlich relevanten Vorgang“24. Hinzu kam ferner das „Lüth“-Urteil25 von Januar 1958, bei dem das Gericht den Grundrechten zusätzlich zur Funktion als Abwehrrechte auch die einer objektiven Wertordnung zubilligte, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelte, sodass auch diese Entscheidung Auswirkungen auf die Arbeitslast des BVerfG hatte.26 Denn es kam zu einem raschen Anstieg an VB: Waren es 1956 noch 808, stieg die Zahl zwei Jahre später um etwa 50 % auf 1.210 VB an.27 Ferner wurde in der Literatur kritisiert, dass viele Entscheidungen des BVerfG zu viel und zu weitgehende Kontrolle ausübten28, zu lang und zu „kopflastig“29 seien und Aspekte berücksichtigten, die für die Entscheidung keine Relevanz hätten.30 Zum Teil wurde diese Entwicklung auf das permanente Streben des BVerfG nach Anerkennung in Politik und Gesellschaft zurückgeführt.31 Der ausschweifende Begründungsstil, der eine enorme Arbeitsbelastung des Gerichts bedeute32, würde „…zwischen wissenschaftlichem Traktat, politischer Theorie und lehramtlicher Enzyklika schwanken“.33 Diese in der Literatur umfänglich diskutierten materiellen Vorschläge zur „Selbstreform“34 ließen ehemalige Richter am BVerfG erwartungsgemäß nicht als Mittel der Entlastung des Gerichts gelten.35 Auch in der Benda-Kommission spielten die Vorschläge zur Prüfungsintensität nur eine sehr untergeordnete Rolle (s. u. II. 5. f.) mit dem Ergebnis, dass sie Regelungen zur Prüfungsintensität ablehnte (S. 137 f.). Vielmehr schlug die Kommission nachfolgende Reformen vor.

24 Spranger, AöR 2002, 69; Zuck, ZRP 1997, 98; Schneider, NJW 1996, 2630 ff.; vgl. auch Schlaich/Korioth, BVerfG, 6. Aufl., 2004, Rn. 203. 25 BVerfGE 7, 198 ff. 26 Vgl. Hesse, JZ 1995, 266; Albers, KritV 2/1998, 209. 27 BVerfG (Fn. 10), S. 2. Zu den Auswirkungen des Urteils vgl. Hutzelmann, Die prozessuale Bedeutung des Elfes-Urteils, 1970; Rojahn, Elfes – Mehr als ein Urteil, 2009, S. 165 ff. 28 Zuck, 1997, 98. 29 Pagenkopf, ZRP 2012, 44. 30 Vgl. Zuck, JuS 1975, 696; Spranger, BVerfGE 39, 334 ff. – Extremisten, in: Menzel, 2000, S. 256 m.w.N.; Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, indem er den Nachweis zu führen versucht, dass obiter dicta wegen richterlicher Kompetenzüberschreitung verfassungswidrig seien. 31 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, 2011, S. 53 f., inkl. Fn. 40 m.w.N.; Pagenkopf, ZRP 2012, 44. 32 Schneider, NJW 1996, 2631; Pagenkopf, ZRP 2012, ebd. 33 Isensee, JZ 1996, 1085. 34 Begriff nach Wahl, Reformfrage; in: FS BVerfG, 2002, S. 462. 35 Vgl. Benda, NJW 1997, 561 f.; Söllner, ZRP 1997, 274.

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Die Reformvorschläge der Benda-Kommission

II. Die Reformvorschläge der Benda-Kommission unter Berücksichtigung von Empfehlungen aus der Literatur Die von der Benda-Kommission vorgebrachten Reformvorschläge waren teils schon vor der Veröffentlichung ihres Berichts diskutiert worden. U. A. wurde dabei – nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court – die Annahme von VB nach Ermessen des BVerfG als Entlastungsmittel genannt.36 1. Annahme von Verfassungsbeschwerden nach Ermessen des BVerfG Das Annahmeermessen bei VB steht als Entlastungsmöglichkeit im KommissionsBericht an erster Stelle (S. 15 f., 32 – 61). Von Verfassungs wegen sollte dem BVerfG ein von rechtlichen Bindungen befreites Auswahlermessen zugebilligt werden, das sich an der besonderen Bedeutung des BVerfG orientieren sollte. Daher sollten nur solche Fragen die Annahme einer VB begründen, die verfassungsrechtlicher Art seien oder die den Schutz der Grundrechte betreffen würden. Dieser Vorschlag, der in der Literatur teils Zustimmung37, teils Ablehnung fand38, bedingte nach Auffassung der BendaKommission eine Änderung des Grundgesetzes. Es handelt sich bei diesem Vorschlag um einen verfassungsmäßigen Systemwechsel, bei dem der Individualrechtsschutz zwar nicht ganz aufgegeben, aber doch erheblich beschnitten würde.39 Die Entscheidung über die Annahme einer VB sollte nicht mehr in der Zuständigkeit der Kammern, sondern ausschließlich in der der Senate liegen. Angenommen wäre eine VB, wenn sich mindestens drei Senatsmitglieder für die Annahme entschieden. Das „Annahmeverfahren“ sollte so verlaufen, dass die nicht in Betracht kommenden VB herausgefiltert werden, indem der Berichterstatter die Nichtannahme vorschlägt, dem Vorschlag ein Mitberichterstatter zustimmt und innerhalb einer festzusetzenden Frist von keinem weiteren Senatsmitglied dem Vorschlag widersprochen wird (S. 16, 32 f.). Der Vorschlag bedeutete eine Abkehr vom deutschen „Rechtsstaatsprinzip“, bei dem auf die große materielle Gerechtigkeit auch im Einzelfall gezielt wird und der Grund dafür ist, dass das BVerfG sich bislang schwer tat, VB nicht „abzuurteilen“. Dieser in der Verfassungsrechtswissenschaft weit vertretene Individualrechtsschutz wird in der Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG deutlich, wenn dort die Notwendigkeit der Geltendmachung einer Verletzung eigener Rechte als Voraussetzung der Statthaftigkeit des VB-Antrags genannt wird.40 Denn die „Einzelfallprüfungsgerechtigkeit“, die sich 36 Vgl. Böckenförde, ZRP 1996, 281; Wahl/Wieland, JZ 1996, 1140 ff.; Zuck, ZRP 1997, 98; ablehnend dagegen Söllner, ZRP 1997, 275. 37 Z. B. Wieland, KritV 2/1998, 171 – 192. 38 Z. B. Albers, KritV 2/1998, 193 – 214. 39 Albers, KritV 2/1998, 202. 40 So BVerfGE 21, 362, 367; 39, 302, 312; 79, 203, 209; s. a. BVerfGE 108, 251. Vgl. Gusy, a.a.O. (Fn. 14), S. 336.

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vom englischen „due process of law“ unterscheidet, mit dem vor allem „Verfahrensgerechtigkeit“ gemeint ist, also ein „ordentliches Gerichtsverfahren“ nach festen Regeln und Instanzen, würde mit dieser Neuregelung des Annahmeermessens, die den Schutz der objektiven Rechtsordnung im Blick nimmt und nicht mehr denjenigen der subjektiven Rechte der Menschen, weitgehend abgeschafft. Das würde nach deutschem Rechtsstaats-Verständnis bedeuten, dass der Einzelne nicht mehr eine in seiner Würde grundgesetzlich geschützte Person geblieben wäre.41 Vielmehr ereilte ihn mit der Abkehr vom VB-Individualrechtsschutz – so im Tenor schon Rudolf Smend zum zehnjährigen Bestehen des BVerfG – das Schicksal, „nur ein Sandkorn in einer anonymen Massengesellschaft“42 zu sein, deren verfassungsrechtlicher Schutz einem Lotteriespiel gleichkäme.43 In diesem Vorschlag, der von zehn der elf Mitglieder der Benda-Kommission unterstützt wurde (S. 32), sah die Benda-Kommission jedoch die „wirkungsvollste Möglichkeit“, dem BVerfG den „dringend benötigten Freiraum“ zur „Aufrechterhaltung seiner Funktion“ zu verschaffen (S. 16, 33). Nach dem Sondervotum der Richterin am BVerfG Karin Graßhof, die diesen Vorschlag im Bericht ablehnt, führt der Vorschlag zur Aufhebung der VB als prozessuales Grundrecht, sodass das Vertrauen in das Gericht (und wohl auch das Ansehen) schwinden würde (S. 139 f.). Tatsächlich sah die BendaKommission die Aufrechterhaltung der Funktion des BVerfG allein durch die „Brille“ der Entlastung gegeben, nicht diskutiert wurden die rechtlichen und tatsächlichen Folgen der Annahme von VB nach eigenem Ermessen.44 2. Entlastungen im Bereich der verfassungsrechtlich verbürgten Verfahrensrechte Entlastungsmaßnahmen wurden im Bereich der verfassungsrechtlich verbürgten Verfahrensrechte erörtert (S. 16 f., 62 – 84). VB, die sich gegen die Verletzung eines Justizgrundrechts im gerichtlichen Verfahren richten, insbesondere des Anspruchs auf rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, machen mehr als die Hälfte aller VB aus (S. 16).45 In der Literatur werden sie auch als Entscheidungs- oder Urteilsverfassungsbeschwerden bezeichnet46 und zum Teil zur Abschaffung empfohlen.47 Aufgrund der Vorgabe des BMJ kam eine Abschaffung aber nicht in Frage. Um dennoch eine Entlastung des BVerfG zu erreichen, wurde aus der Mitte der Kommission einerseits eine modifizierte Anhörungsrüge und andererseits eine „Umleitung“ zur Verfahrensgrund-

41 Vgl. Rath, Bürgerklagen werden an den Rand gedrängt; in: Grundrechte-Report 1998, S. 260; Wesel, Hüter der Verfassung, 1996, S. 5 f. 42 Smend, Festvortrag; in: BVerfG (Hrsg.), 1963, S. 30; sowie 1971, S. 22. 43 Vgl. ausführlich Albers, KritV 2/1998, 196 ff. 44 Sehr kritisch Albers, KritV 2/1998, ebd. 45 Auch heute noch: BVerfG, Jahresstatistik (Fn. 2), S. 26. 46 Vgl. Kirchberg, KritV 2/1998, 228 – 240; Kauffmann, RuP 1/1998, 29 – 39. 47 Vgl. für alle Kauffmann, RuP 1/1998, 29 – 39.

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Die Reformvorschläge der Benda-Kommission

rechtsbeschwerde vorgeschlagen.48 Beide Vorschläge, die auch in der Literatur Unterstützung fanden49, zielten darauf, VB, die sich gegen die Verletzung von Verfahrensrechten richten, vom BVerfG abzuwälzen, auf die Fachgerichte bzw. auf die jeweils obersten Landesgerichte und Gerichtshöfe des Bundes. Durch die modifizierte Anhörungsrüge sollte bei nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen der Fachgerichte neue Rechtsmittel zur Korrektur verfassungsrechtlich relevanter Verfahrensfehler eingeführt werden. Außerdem sollten die ZPO und das ArbGG dahingehend geändert werden, dass die Revision bei Verfahrensmängeln grundsätzlich ermöglicht wird (S. 16, 62 – 77).50 Diesen Vorschlag unterstützten jedoch nur drei Kommissionsmitglieder, acht waren dagegen (S. 17).51 Mit der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde sollten aus den VB die Urteilsverfassungsbeschwerden ausgekoppelt, entsprechend neu benannt und künftig anders behandelt werden. Zuständig sollte in diesen Fällen nicht mehr das BVerfG, sondern die obersten Landesgerichte und die obersten Gerichtshöfe des Bundes sein (S. 16 f., 77 – 84). Diesen Vorschlag unterstützten nur noch zwei Mitglieder, neun waren dagegen (S. 17). Denn die Entlastung des BVerfG würde um den Preis der Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung erkauft („viele Köche verderben den Brei“).52 3. Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte Eine stärkere Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte als Entlastungsmaßnahme wurde von der Benda-Kommission einstimmig abgelehnt. Nach § 90 Abs. 3 BVerfGG bestand Ende der 1990er Jahre und auch heute noch eine Verdoppelung des Individualrechtsschutzes, weil das Recht, eine VB an das Landesverfassungsgericht (LVerfG) nach dem Recht der Landesverfassung zu erheben, unberührt bleibt. Daher konnte und kann zum gleichen Verfahrensgegenstand sowohl an das LVerfG als auch an das BVerfG eine VB eingereicht werden, weil der Weg zum LVerfG nicht zum „Rechtsweg“ nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gehört. Die Idee einer relativen Subsidiarität des BVerfG, indem künftig vor Anrufung des BVerfG ein LVerfG hätte angerufen werden müssen, wurde ebenso wenig verfolgt wie die der absoluten Subsidiarität in Form einer Auffangzuständig, dass VB zum BVerfG nur dann zulässig sein würden, wenn eine Anrufung des LVerfG nicht möglich ist (S. 17, 85 – 95).

48 Vorschlag von Graßhof: Kommissions-Bericht (Fn. 2), S. 142 – 146; vgl. Wieland, KritV 2/1998, 184 ff. 49 Für die modifizierte Anhörungsrüge vgl. Krämer, KritV, 2/1998, 215 – 227; für die Verfahrensgrundrechtsbeschwerde vgl. Wieland, KritV 2/1998, 186 ff.; Kirchberg, KritV 2/1998, 237 ff.; Kauffmann, RuP 1/1998, 29 – 39, der die Urteilsverfassungsbeschwerde allerdings ganz abschaffen will. 50 Vgl. dazu die Stellungnahme von Krämer, KritV 1998, 215 – 227. 51 Vgl. Wieland, KritV 2/1998, 185. 52 Vgl. Wieland, KritV 2/1998, 186.

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Wesentliche Gründe für die Ablehnung der stärkeren Einbeziehung der LVerfG als Entlastungsmaßnahme waren die Gefährdung der Homogenität der Verfassungsrechtsprechung, die Verquickung der Verfassungsräume, die Abwälzung der Verantwortung auf die Länder und die Auswirkungen auf die Struktur der LVerfG. Zudem sah die Benda-Kommission keine nennenswerte Entlastung des BVerfG bei einer relativen Subsidiarität und bezüglich der absoluten Subsidiarität die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung (S. 90 – 93). Die Kommission empfahl aber zur (geringen) Entlastung des BVerfG die Aufhebung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Alt. GG, der eine Zuständigkeit des BVerfG bei öffentlichrechtlichen Streitigkeiten innerhalb eines Landes bestimmt, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist, sowie des Art. 99 GG, der die landesgesetzliche Zuweisung der Zuständigkeit des BVerfG bei landesrechtlichen Sachen regelt. Sie begründete dies mit dem Bundesstaatsprinzip. Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes sollten durch die LVerfG entschieden werden (S. 94 f.). Es gab eine Reihe weiterer Diskussionspunkte innerhalb der Kommission, die aber zu keinem Entlastungsergebnis führten. 4. Vorschläge, die diskutiert, aber einstimmig nicht empfohlen wurden Diskutiert wurden Veränderungen in der Struktur und Organisation des Gerichts, die Einführung einer Verfassungsanwaltschaft, Regelungen der anwaltlichen Vertretung, Änderungen bei den Gerichtsgebühren, Entlastungen bei Verfahren außerhalb der VB sowie materielle Vorschläge zur „Selbstreform“ des BVerfG. a) Veränderungen in der Struktur und Organisation des Gerichts Mit dem Ziel der Entlastung des BVerfG wurde die Erhöhung der Richterzahl von acht auf zehn Richter*innen sowie die Bildung eines dritten Senats als „Staatsgerichtshof“ geprüft. Die Vergrößerung des Mitarbeiterstabs wurde ebenfalls in Erwägung gezogen (S. 18, 96 – 100). Die Kommission lehnte die möglichen Maßnahmen ab, da diese „mit erheblichen Einbußen an Effektivität der Beratung und Homogenität der Rechtsprechung erkauft werden“ (S. 18) müsste. b) Einführung einer Verfassungsanwaltschaft Die Errichtung einer Verfassungsanwaltschaft, die schon 1990 in Erwartung der Wiedervereinigung Deutschlands in einem Entwurf zur Novellierung des BVerfGG diskutiert worden war (S. 182 ff.) und bei ehemaligen BVerfG-Richtern Zustimmung fand53, wurde ebenfalls abgelehnt (S. 18, 101 – 103). Die Benda-Kommission sah zwar einen deutlichen Entlastungseffekt für das BVerfG, weil statt der Kammer im Regelfall nur noch der Berichterstatter mit der Erledigung von VB befasst wäre und dieser von der Verfassungsanwaltschaft eine ausformulierte Be53 Vgl. Söllner, ZRP 1997, 275 und P. Kirchhof, zit. in Kommissions-Bericht (Fn. 2), S. 102, Fn. 7.

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gründung für die Nichtannahme einer VB erhielte. Aber der Gesamtarbeitsaufwand bis zur Erledigung einer VB bliebe mindestens gleich. Weil nur eine Arbeitsverschiebung vom Verfassungsrichter auf den Verfassungsanwalt vorgenommen würde, könnte er sich aber bei Divergenzen von aufgeworfenen Rechtsfragen zwischen Richter und Anwalt noch erheblich erhöhen und eine verfassungsrechtspolitische Konkurrenz beflügeln (S. 103).54 c) Regelungen der anwaltlichen Vertretung Um die Zugangsschwelle zum BVerfG zu erhöhen, wurde in der Kommission beraten, ob zur Stärkung der Professionalität Regelungen für eine anwaltliche Vertretung getroffen werden sollten (S. 104 – 107). Im Gespräch waren ein allgemeiner Anwaltszwang, die Einführung einer Rechtsanwaltschaft beim BVerfG ähnlich der Rechtsanwaltschaft beim BGH und die Einführung eines Fachanwalts für Verfassungsrecht.55 Für einen Anwaltszwang sah die Benda-Kommission keine nennenswerte Effekte, da bereits rund zwei Drittel der VB durch Anwälte eingereicht würden. Die Errichtung einer Rechtsanwaltschaft beim BVerfG scheitere an den notwendigen wirtschaftlichen Bedingungen, da für VB nur geringe Gegenstandswerte veranschlagt werden. Die Kommission befürwortete sehr zurückhaltend die Einführung eines Fachanwalts für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, um VB entsprechend an diese Spezialisten zu kanalisieren, sah darin aber keinen nennenswerten Entlastungseffekt (S. 106).56 d) Änderung bei den Gebühren Als weitere mögliche Entlastungsmaßnahme wurde diskutiert, ob die 1985 eingeführte und 1993 wieder abgeschaffte Erhebung von Nichtannahmegebühren ein weiteres Mal eingeführt werden sollte, ob eine Eingangsgebühr erhoben und die Missbrauchsgebühr (§ 34 Abs. 2 BVerfGG) erhöht werden sollte (S. 107 – 111). Da die Erfahrung gezeigt hatte, dass Gebühren für Beschwerdeführende, die sich im Regelfall bereits durch mehrere Instanzen „gekämpft“ hatten, keinen Hinderungsgrund für eine VB darstellten, empfahl die Kommission, das geltende Recht nicht zu ändern (S. 18). e) Entlastungen bei Verfahren außerhalb der Verfassungsbeschwerde Für Verfahren der abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) sowie bei der Erörterung der Wahlprüfung des Bundes (Art. 41 Abs. 2 GG) sah die Kommission keine mit dem Grundgesetz zu vereinbarende Entlastungsmöglichkeit.57 Sie schlug aber für die Wahlprüfung des Bundes eine Zuständigkeitsverschiebung vom Senat zur Kammer vor (S. 18 f., 112 – 124). Für den Bereich des Landeswahlrechts empfahl die Kommission mehrheitlich die

54 55 56 57

Vgl. auch Wieland, KritV 2/1998, 183 f.; Zuck, ZRP 1997, 98. Vgl. Zuck, ZRP 1997, 98 f. A. A. Wieland, KritV 2/1998, 180 f. Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, 2003, S. 72 f.

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abschließende Zuständigkeit bei Landeswahlprüfungs- bzw. Landesverfassungsgerichten zu belassen (S. 19, 124 – 126). In Bezug auf die besonders aufwendigen Verfahren der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG sowie des Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG schlug die Kommission einen „Außerordentlichen Senat“ bestehend aus Richtern des Ersten und Zweiten Senats vor, der durch das Plenum für die Dauer von zunächst vier Monaten einzurichten sei, um die Erledigung unaufschiebbarer sonstiger Verfahren des Zweiten Senats zu ermöglichen. Für andere arbeitsaufwendige Verfahren, die zur Überlastung des Berichterstatters führen kann, empfahl die Kommission die Freistellung von anderen Senatssachen für die Zeit des Absetzens der Entscheidung (S. 19 f., 126 – 133). f) Materielle Vorschläge zur „Selbstreform“ des BVerfG Zwei Punkte zur internen Selbstentlastung wurden im Bericht kurz angesprochen (S. 133 – 138): Der erste betraf die Einführung einer „Political-Question-Doktrin“ nach dem Vorbild der früheren58 Rechtsprechung des U.S. Supreme Court. Diese sollte die Möglichkeit bieten, Verfahren, für welche die Zuständigkeit des Gerichts gegeben war, unter Hinweis auf politische Implikationen des Verfahrens abzulehnen. Da aber praktisch jede verfassungsrechtliche Frage auch politische Implikationen aufweise59, riet die Benda-Kommission wegen der Gefahr einer Politisierung des BVerfG von der Einführung einer Political-Question-Doktrin ab (S. 20, 133 f.).60 Der andere Punkt im Bericht betraf die Einschränkung des Prüfungsumfangs, wie in der Literatur besonders vehement gefordert.61 Die Benda-Kommission empfahl jedoch keine entsprechende Regelung, da Fragen nach den Verfassungsbindungen der politischen Organe und der durch das Grundgesetz vorgegebenen Kontrolldichte nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stünden und auch durch den Verfassungsgesetzgeber nur sehr begrenzt regelbar wären (S. 20, 137 f.). 5. Zusammenfassung der Reformvorschläge Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Benda-Kommission die Annahme von Verfassungsbeschwerden nach Ermessen des BVerfG als die wirkungsvollste Möglichkeit ansah, dem BVerfG den dringend benötigten Freiraum zur Aufrechterhaltung seiner Funktion zu verschaffen (S. 16, 33). Daneben prüfte sie zwar noch die Einführung der modifizierten Anhörungsrüge und der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde, für die sich aber jeweils keine Mehrheit in der Kommission fand. Eine stärkere Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte als Entlastungsmaßnahme wurde von ihr sogar einstimmig abgelehnt. Weitere Vorschläge, wie die Veränderungen in der Struktur 58 59 60 61

Vgl. Wieland, KritV 2/1998, 187 f. So auch Chr. Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, 2011, S. 281 ff., 309. Ablehnend auch Wieland, KritV 2/1998, 187. Spranger, AöR 2002, 69; Zuck, ZRP 1997, 97; Krämer, KritV 1998, 215; Schneider, NJW 1996, 2631; Hesse, JZ 1995, 266; Albers, KritV 2/1998, 209.

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und Organisation des Gerichts, Einführung einer Verfassungsanwaltschaft, neue Regelungen zur anwaltlichen Vertretung, Änderung bei den Gebühren und Entlastungen bei Verfahren außerhalb der Verfassungsbeschwerde wurden diskutiert, aber grundsätzlich – bis auf kleine Einzelregelungen, die aber kaum Entlastung bringen, – abgelehnt. Keinerlei Zustimmung erhielten auch die besprochenen materiellen Vorschläge zur Einführung einer „Political-Question-Doktrin“ und zur Einschränkung des Prüfungsumfangs in den Gerichtsentscheidungen, mit der eine interne Selbstentlastung des BVerfG hätte erreicht werden sollen.

III. Der Erfolg der Arbeit der Benda-Kommission durch Umsetzung der Reformvorschläge ins BVerfGG Von den von der Benda-Kommission empfohlenen Reformvorschlägen blieb somit lediglich als Entlastungsvorschlag die Annahme von VB (nur) nach Ermessen des BVerfG. Daneben gab es sonstige Änderungsempfehlungen, wie die Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Alt. u. 99 GG aufzuheben, einen Fachanwalt für Verfassungs- und Verwaltungsrecht einzuführen und – bei Landeswahlrechtssachen – die abschließende Zuständigkeit bei Landesgerichten zu belassen. Für diese Empfehlungen sah die Kommission allerdings kaum Entlastungseffekte. Eine Teilentlastung durch Organisation versprach sich die Kommission mit dem Vorschlag, einen „Außerordentlichen Senat“ für Verfahren nach Art. 18 u. 21 Abs. 2 GG einzurichten sowie den zuständigen Berichterstatter bei arbeitsaufwendigen Verfahren von sonstiger Senatsarbeit freizustellen. Die Annahme von VB (nur) nach Ermessen des BVerfG ist somit der einzige Vorschlag der hochkarätig besetzten Kommission, der zu einer nennenswerten Entlastung hätte führen sollen. Er wurde nicht einmal von allen Mitgliedern unterstützt. Das allein spricht eher nicht für einen Erfolg der Arbeit der Benda-Kommission. Die sonstigen Änderungsempfehlungen wurden bisher nicht umgesetzt: Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Alt. u. 99 GG sind nicht aufgehoben, ein Fachanwalt für Verfassungs- und Verwaltungsrecht ist nicht eingeführt62, das BVerfG ist nach wie vor auch für Landeswahlrechtssachen zuständig und das organisatorische Instrument eines „Außerordentlichen Senats“ gibt es ebenfalls nicht. Der Vorschlag zur Annahme von VB (nur) nach Ermessen des BVerfG, der im Januar 1998 in dem Bericht publiziert wurde, fand in dem im Juli 1998 in Kraft getretenen Anpassungsgesetz63 keine Aufnahme. Weitere Änderungsgesetze zum BVerfGG vollziehen Änderungen der Rechtslage aufgrund anderer Gesetze, z. B. zu Lebenspart-

62 Wohl aber der Anwaltszwang bei mündlichen Verhandlungen durch G vom 22. 12. 2010 (BGBl. I 2248). 63 BGBl. I, S. 1823.

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nerschaften, zur Umstellung auf den Euro, zum Minderheitenschutz usw.64 Auch das Sechste und das Siebte Gesetz zur Änderung des BVerfGG von 200265 bzw. 200366 nahmen den Vorschlag der Benda-Kommission nicht auf. Durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz von 200667 wurde keine Entlastung, sondern eine Erweiterung des Kompetenzkatalogs des BVerfG durch Neuregelung des § 13 Nr. 6b BVerfGG eingeführt. Ebenso zielten weitere Nachfolgegesetze bis hin zum Neunten Änderungsgesetz von 201568 und dem Gesetz von 201969, die Änderungen im BVerfGG vornahmen, nur auf Korrekturen zur Rechtslagenanpassung.70 Damit lässt sich zusammenfassen, dass die Arbeit der Benda-Kommission unmittelbar wenig erfolgreich gewesen ist, weil keiner ihrer Reformvorschläge ins BVerfGG umgesetzt wurde. Ihr Hauptentlastungsvorschlag der Ermessensannahme von VB konnte meines Erachtens keinen Erfolg zeigen, weil dies einen Systemwechsel bedeutet hätte, wie sie selbst einräumt (S. 43): Die VB als Krönung des Rechtsstaats wäre ins Belieben des Gerichts gestellt worden und hätte die schon lange in der Verfassungsrechtswissenschaft fest verankerte „Einzelfallprüfungsgerechtigkeit“ weitgehend abgeschafft. Das bedeutete für die Kritiker, dass der Individualrechtsschutz auf der Strecke geblieben wäre und einem Lotteriespiel gleichkäme.71 Mittelbar kann die Kommission für sich aber insofern einen Erfolg verbuchen, dass sie gezeigt hat, dass Reformen zur Entlastung des BVerfG nur sehr schwer umzusetzen sind. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich an der Situation des BVerfG kaum etwas geändert hat.

64 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, Einl, Rn. 8 ff. BGBl. I, S. 3386. BGBl. I, S. 2546. BGBl. I, S. 2098. BGBl. I, S. 973. Datenschutz: BGBl. I, S. 1724. Vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, Einl, Rn. 9 ff. Smend, a.a.O. (Fn. 42), S. 30 bzw. S. 22. Vgl. ausführlich Albers, KritV 2/1998, 196 ff.; Rath, a.a.O. (Fn. 41), S. 260.

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II. ORGANISATION DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS Reformbedarf bei der Richterwahl? Von Stefan Korioth

Abstract Ausgehend von einer Schilderung des geltenden Rechts und der geltenden Praxis der Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts befasst sich der Beitrag mit der Reformbedürftigkeit der Richterwahl. Im Fokus steht dabei die Frage, ob das Wahlverfahren in seiner heutigen Gestalt den verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Anforderungen an Transparenz und Öffentlichkeit genügt.

I. Das geltende Recht der Richterwahl Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts werden nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG je zur Hälfte vom Bundesrat und vom Bundestag gewählt. Die knappe Zuweisung der Wahl an zwei Verfassungsorgane ist von dem Wahlmodus bei den Obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 Abs. 2 GG) deutlich abgesetzt. Sie bekräftigt die herausgehobene Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Auffällig ist die fehlende Mitwirkung der Bundesregierung. Das Gericht kennt keinen „Bundestagssenat“ und „Bundesratssenat“, sondern in jedem Senat von einem der beiden Organe zu besetzende Richterstellen. Den Präsidenten und den Vizepräsidenten bestimmen Bundesrat und Bundestag im Wechsel (§ 9 BVerfGG). Angesichts der seit 1971 für neu hinzukommende Mitglieder des Gerichts geltenden Amtszeit von zwölf Jahren ohne Möglichkeit der Wiederwahl und der Altersgrenze von 68 Jahren (§ 4 Abs. 1 bis 3 BVerfGG)1 gibt es laufende personelle Teilerneuerungen der Richterbank, keine gleichzeitige vollständige Neuwahl eines Senats. Einen bestimmten Modus der Richterwahl und bestimmte Mehrheitserfordernisse gibt das Grundgesetz nicht vor. Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (Art. 94 Abs. 2 GG). Das bedeutet auch: Reformen des Wahlverfahrens2, soweit sie nicht die wahlberechtigten Organe verändern wollen, lassen sich ohne Verfassungsänderung verwirklichen. Das Wahlverfahren bei den vom Bundesrat zu bestimmenden Richtern hat sich seit 1951 nicht verändert: „Die vom Bundesrat berufenen Richter werden mit zwei Dritteln 1 2

Von 1951 bis Ende 1970 gab es unterschiedliche Amtszeiten der Richter; hierzu und zu der Verkleinerung der ursprünglichen Senatsgröße Volp, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 4 Rn. 2 – 5. Zur Entstehung der Regeln über die Verfassungsrichterwahl: Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, S. 24 – 45.

Recht und Politik, Beiheft 9 (2021), 77 – 85

Duncker & Humblot, Berlin

Stefan Korioth

der Stimmen des Bundesrates gewählt“, § 7 BVerfGG. Der Bundesrat wählt ohne Aussprache, die eigentliche Auswahlentscheidung trifft eine eher informelle Findungskommission der Justizminister der Länder. Das rechtspolitische Augenmerk liegt bei der Richterwahl durch den Bundestag. Hier gab es 2015 eine Änderung. Bis zu diesem Zeitpunkt wählte ein Wahlausschuss des Bundestages die Richterinnen und Richter mit Zwei-Drittel-Mehrheit, § 6 Abs. 1, 2 und 5 BVerfGG a.F. Mit der Verfassungsmäßigkeit dieser Delegation auf einen Ausschuss statt einer Wahl durch das Plenum hatte sich das Bundesverfassungsgericht 2012 zu befassen. Die Ausschusswahl, so befand es, sei nicht zu beanstanden, obwohl Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG vom „Bundestag“ spreche, womit üblicherweise das Plenum gemeint ist. Die Begründung fiel merkwürdig aus. Seine Repräsentationsfunktion nehme der Deutsche Bundestag grundsätzlich zwar durch Mitwirkung aller Abgeordneten wahr, was auch für die vom Parlament vorzunehmenden Wahlen gelte. Die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen vom Plenum auf einen Ausschuss sei aber zum Schutz anderer Verfassungsrechtsgüter und unter strenger Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig, zudem müsse der Ausschuss spiegelbildlich zum Plenum zusammengesetzt sein.3 Dann folgen die entscheidenden Sätze: „Die Übertragung der Wahl der Bundesverfassungsrichter auf einen Wahlausschuss, dessen Mitglieder der Verschwiegenheitspflicht unterliegen (§ 6 Abs. 4 BVerfGG), findet ihre Rechtfertigung in dem erkennbaren gesetzgeberischen Ziel, das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen und damit seine Funktionsfähigkeit zu sichern. Die Einschätzung, dass das Bundesverfassungsgericht Funktionseinbußen erleiden könnte, wenn die Wahl seiner Mitglieder im Bundestag nicht in einer Vertraulichkeit wahrenden Weise stattfände, mag nicht in dem Sinne geboten sein, dass sie den Gesetzgeber hinderte, andere Modalitäten der Richterwahl zu bestimmen. Das vom Gesetzgeber verfolgte Anliegen ist aber von hinreichendem verfassungsrechtlichen Gewicht, um den Verzicht auf eine Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts im Plenum zugunsten eines Wahlmännergremiums, das mit Zwei-Drittel-Mehrheit entscheidet (§ 6 Abs. 5 BVerfGG) und dessen Erörterungen der Vertraulichkeit unterliegen, zu legitimieren.“4 Diese Sätze enthalten wenig Richtiges und viel offensichtlich Fragwürdiges. Richtig ist selbstverständlich, dass das Wahlverfahren das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit stärken soll, beides jedenfalls nicht beeinträchtigen darf. Richtig ist auch, dass ein Zusammenhang zwischen dem Wahlverfahren und der zu sichernden Funktionsfähigkeit des Gerichts besteht. Fragwürdig ist die Betonung der Vertraulichkeit der Wahl. Ist eine solche Vertraulichkeit, also eine Wahl ohne öffentliche Diskussion über Gründe des Für und Wider bestimmter Kandidatinnen und Kandidaten, aber auch ohne Erkennbarkeit, welcher Abgeordnete für welche Kandidaten und warum gestimmt hat, wirklich anzustreben und schützenswert? Schließlich: Warum sollte die Ausschusswahl besser als die Wahl im Plenum geeignet sein, die vom Gericht berufene (wenngleich fragwürdige) Vertraulichkeit zu erreichen, vorausgesetzt, es findet 3 4

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BVerfGE 131, 230 (235 f.), unter Hinweis auf BVerfGE 129, 318 (352 ff., 359, 364 f.). BVerfGE 131, 230 (236). Bestätigend BVerfGE 142, 1 (3 f.).

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keine Aussprache im Plenum statt? Natürlich sieht das Gericht hier die Schwäche des eigenen Arguments, indem es ausdrücklich auf andere Möglichkeiten des Wahlverfahrens verweist, was dann aber wiederum dem Argument für die Ausschusswahl den Boden entzieht. Das Problem der Entscheidung lag darin, dass sie den wahren Grund der Billigung der Ausschusswahl nicht nennen konnte oder wollte. Wenn das Bundesverfassungsgericht aus dem Wort „Bundestag“ in Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG den naheliegenden Schluss gezogen hätte, es sei zwingend das Plenum als Kreationsorgan ohne Delegationsmöglichkeit gemeint, so hätte dies bedeutet, dass sämtliche Urteile des Gerichts durch eine fehlerhaft besetzte Richterbank erlassen worden wären. Das hätte nicht die Unwirksamkeit der Urteile bedeutet, wohl aber eine Delegitimation der gesamten Rechtsprechung. Es ging also nicht anders. Das Gericht konnte die Verfassungsmäßigkeit der Ausschusswahl und damit der Besetzung der Senate nicht in Frage stellen. Das Dilemma war sogar noch größer. Hätte ein nicht rechtmäßig besetztes Gericht die fehlende Rechtmäßigkeit der Besetzung feststellen können? Es gibt ja nun einmal kein Gericht über oder neben dem Bundesverfassungsgericht, das an seiner Stelle über diese Frage hätte urteilen können. Es war wiederum merkwürdig, hatte aber auf der Grundlage der verborgenen Unausweichlichkeit der Entscheidung seine Folgerichtigkeit, dass danach der Gesetzgeber tätig wurde – obwohl das Gericht die Ausschusswahl vordergründig gerade gebilligt hatte und deshalb kein gerichtlich angestoßener Regelungsauftrag bestand. 2015 wurde § 6 Abs. 1 BVerfGG geändert. Seither wählt das Plenum des Bundestages die von diesem zu bestimmenden Richterinnen und Richter – ohne Aussprache und auf Vorschlag des nach wie vor existierenden Wahlausschusses (§ 6 Abs. 2 bis 5 BVerfGG). Das Plenum kann den – in der Praxis eine Person enthaltenden – Vorschlag billigen oder zurückweisen, nicht aber selbst andere Bewerber zur Wahl stellen. Der Wahlausschuss entwickelt seinen Vorschlag in nichtöffentlicher Beratung und mit „mindestens acht Stimmen“ von insgesamt zwölf seiner Mitglieder. Die Ausschussmitglieder sind zur Verschwiegenheit „über die ihnen durch ihre Tätigkeit im Wahlausschuss bekannt gewordenen persönlichen Verhältnisse der Bewerber sowie über die hierzu im Wahlausschuss gepflogenen Erörterungen und über die Abstimmung verpflichtet“, § 6 Abs. 4 BVerfGG. In der Praxis versteht sich ein dem Vorschlag des Ausschusses folgendes Plenarvotum fast von selbst. Als Grund für die Verlagerung des formalen Wahlakts in das Plenum nannte die Begründung zur Änderung des § 6 BVerfGG: „Verfassungspolitisch erscheint die Wahl durch das Plenum des Deutschen Bundestages vorzugswürdig“, die indirekte Wahl „war und ist im verfassungsrechtlichen Schrifttum nicht unumstritten“5. Das war wiederum

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BT-Drs. 18/2737 vom 7. Oktober 2014, S. 1, 4.

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eine gewundene Begründung, samt der Litotes statt der schlichten Aussage, dass die indirekte Wahl überwiegend als verfassungswidrig angesehen wurde.6 In der Praxis hat die Verlagerung des formalen Wahlakts in das Bundestagsplenum wenig geändert. Nach wie vor gibt es eine Absprache, die acht Richterstellen jedes Senats gleichmäßig auf die „großen“ Parteien (noch immer sind CDU/CSU und SPD damit gemeint) aufzuteilen, die dann den kleineren, insbesondere Koalitionsparteien, eine der ihnen „zustehenden“ Stellen überlassen. Die festgefügten „Erbhöfe“7 verlagern die eigentliche Auswahlentscheidung in kleine Fraktionszirkel; eine Rolle spielen gesetzlich nicht vorgesehene „Obleute“, „Findungskommissionen“ und interne „Arbeitsgruppen“ der Fraktionen, die sich in den letzten Jahren zum Teil auch spontan gebildet haben. Die Findungsschritte und Beratungen dieser Gruppen liegen völlig im Verborgenen.8 Die Praxis der Erbhöfe umfasst den Brauch, je eine Richterstelle mit neutralen, also parteipolitisch nicht gebundenen Kandidatinnen und Kandidaten zu besetzen. Sind mehrere Verfassungsrichterstellen in zeitlichem Zusammenhang zu besetzen, gibt es auch „Paketlösungen“. Das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit sorgt in allen Fällen dafür, dass ein breiter Konsens über die zu berufende Richterpersönlichkeit bestehen muss. Wo liegen die Probleme der so ausgestalteten und gehandhabten Wahl, was sollte geändert werden?

II. Kriterien für das Wahlverfahren Die Bewertung des geltenden Rechts und konkrete Reformüberlegungen setzen Klarheit über das verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Anforderungsprofil bei Verfassungsrichterwahlen voraus. Die Anforderungskriterien gelten sowohl bei der Wahl durch den Bundesrat als auch durch den Bundestag.9 Zunächst muss das Verfahren die fachliche und persönliche Qualifikation der zu Wählenden gewährleisten, die den Anforderungen an die richterliche Tätigkeit gerade beim Bundesverfassungsgericht zu entsprechen hat.10 Die Richter bedürfen sodann der personellen demokra-

6 Vom „Odium der Verfassungswidrigkeit“ sprach Geck, Wahl und Amtsrecht der Verfassungsrichter, 1986, S. 9. Überblick über den Diskussionsstand: Wiefelspütz, DÖV 2012, S. 961 ff.; Schnelle, NVwZ 2012, S. 159 ff. Für die frühere Ausschusslösung: R. Scholz, ZRP 2012, S. 191 ff. 7 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 45. 8 Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, S. 27 f. 9 Sie gelten auch für die häufig und zu Unrecht vernachlässigte Landesverfassungsgerichtsbarkeit, der insbesondere im Parlaments- und Wahlrecht, dem Sicherheitsrecht und der kommunalen Selbstverwaltung, eingeschlossen der kommunale Finanzausgleich, wichtige Rechtsprechungsbereiche zugewiesen sind. 10 Billing, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969, S. 82 ff.

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tischen Legitimation.11 Föderative und regionale Repräsentation sollte Berücksichtigung finden. Die Persönlichkeitsrechte der Kandidaten müssen gewahrt werden. Die Wahlentscheidung muss transparent getroffen, zurechenbar und diskutierbar sein.12 Das Wahlverfahren hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Bundesverfassungsgericht zwar Entscheidungen in hochpolitischen Umfeldern und Fragen trifft, selbst aber kein politisches Verfassungsorgan, sondern ein Gericht ist.13 Schließlich muss im Wahlverfahren eine funktionsgerechte, mit den Rechtsprechungskompetenzen in Einklang stehende Legitimation der Richter zum Ausdruck kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst, besonders deutlich im Organstreit und im BundLänder-Streit (Art. 94 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 GG), staatsinterne Streitigkeiten zu entscheiden. Das legt die Einbeziehung von Verfassungsorganen in die Wahl nahe. Im Bereich der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist das Gericht „Bürgergericht“. Hier kommt es auf eine Richterbestellung unabhängig von politischen Mehrheiten an. Das spricht für qualifizierte Mehrheitserfordernisse, die einseitige politische Einflussnahme neutralisieren.14 Insgesamt ist die Ausgestaltung des Wahlverfahrens eine „anspruchsvolle Aufgabe“15. Unproblematisch ist das gegenwärtig praktizierte Wahlverfahren im Hinblick auf die demokratische Legitimation und die Möglichkeiten föderaler und regionaler Repräsentation und Ausgewogenheit. Unausweichlich ist die Wahl durch ein seinerseits demokratisch legitimiertes Organ. Im Namen des Volkes erlassene Entscheidungen bedürfen entsprechender personeller Legitimation. Das schlösse zwar eine Richterergänzung im Wege der Kooptation durch die amtierenden Richter nicht prinzipiell aus, die stärkere und überzeugendere Legitimation vermittelt aber die insoweit verfassungsrechtlich vorgeschriebene Wahl durch den Bundestag oder Bundesrat.16 Ausgeschlossen wäre allerdings die Richterbestimmung durch einen unabhängigen Ausschuss von Sachverständigen.

11 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2008; Voßkuhle/Sydow, JZ 2002, S. 673 ff. 12 Duc, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Fokus der deliberativen Demokratie, 2015, S. 238 ff.; Wittmann, in: Barczak (Fn. 1), § 6 Rn. 1; Höreth, Der Staat 45 (2006), S. 269 ff., 283 f. 13 Dazu Schlaich/Korioth (Fn. 7), Rn. 26 ff. 14 Dazu Seibert-Fohr, Der Staat 49 (2010), S. 130 ff., 141 ff. 15 Wittmann, in: Barczak (Fn. 1), § 6 Rn. 1. 16 Zwingend ist dies nicht. In Großbritannien hat die Schaffung des Supreme Court die starke Beteiligung der Richterschaft in der unabhängigen Kommission für die Richterauswahl gestärkt, vgl. Malleson, The New Judicial Appointments Commission in England and Wales: New Wine in New Bottles?, in: ders./Russel (Hrsg.), Appointing Judges in an Age of Judicial Power, 2006, S. 39.

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III. Insbesondere: Transparenz und Öffentlichkeit Bei allen anderen Elementen der gegenwärtigen Wahl lässt sich über Verbesserungsmöglichkeiten nachdenken. Es beginnt bei den Vorkehrungen, die die Chance der tatsächlichen Bestenauslese sichern sollen. Der gegenwärtige Wahlmodus führt nicht selten zu überraschenden Personalentscheidungen, bei denen die politischen Findungswege selbst für Eingeweihte und Spezialisten kaum rekonstruierbar und begründbar sind. Ein Anzeichen dafür kann die fehlende Übereinstimmung der Auswahlentscheidung mit Personalüberlegungen des Gerichts selbst sein, die es informell den politischen Entscheidungsträgern übermittelt. Ein nach mehreren Kriterien getroffener Kompromiss ließe sich durch publizierte Listen möglicher Kandidatinnen und Kandidaten besser vorbereiten, zu denen alle Verfassungsorgane des Bundes beitragen könnten.17 Eine Liste dürfte weder abschließend noch bindend sein, keine unmittelbaren fachlichen Bewertungen, sondern allein Darstellungen des jeweiligen beruflichen Werdeganges und Zugehörigkeiten zu politischen Parteien und anderen großen gesellschaftlichen Gruppierungen enthalten. Die Spiegelung von Listen und letztlich getroffenen Auswahlentscheidungen würde die Transparenz, Diskutierbarkeit und auch Kritisierbarkeit der Entscheidungswege erhöhen. Soweit solche Auflistungen lediglich allgemein zugängliche Informationen zu den genannten Juristinnen und Juristen enthalten, ist auch eine Berührung von Persönlichkeitsrechten nicht erkennbar. Die Tatsache, als zukünftiges mögliches Mitglied der Richterbank genannt zu werden (oder auch nicht), gehört zu den Mindestvoraussetzungen demokratischer Auswahlprozesse. Hier gilt, wie bei anderen Elementen der Wahlvorbereitung und des Wahlmodus: „Das Bundesverfassungsgericht als Bürgergericht hätte mehr Transparenz verdient.“18 Die schwierigsten Probleme der Richterwahl ergeben sich aus dem Ziel, das – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts selbst – Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen. Ohne solche Akzeptanz steht ein Verfassungsgericht, das keine Vollstreckung seiner Verfassungswidrigkeiten allein feststellenden Entscheidungen kennt und zur Funktionsfähigkeit auf die Kooperation der politischen Verfassungsorgane und auf Bürgervertrauen angewiesen ist, auf verlorenem Posten. Akzeptanz und Vertrauen sind Ergebnis vielfältiger Kommunikationsvorgänge zwischen dem Gericht und den in den verschiedenen Verfahren Rechtsuchenden und Beteiligten, aber auch der Öffentlichkeit. Es geht vorrangig um die inhaltliche Überzeugungskraft der Entscheidungen des Gerichts und die Wege zu diesen, insbesondere durch mündliche Verhandlungen; es geht ferner um das Auftreten und die Selbstdarstellung des Gerichts und einzelner Richter in der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt ist 17 Die gegenwärtig vom Bundesministerium der Justiz geführten Vorschlagslisten (§ 8 BVerfGG), die laufend zu ergänzen sind und die das Ministerium spätestens eine Woche vor der Wahl den Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates zuleitet, haben weder große praktische Bedeutung noch irgendeine Bindungswirkung. 18 Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 6 Rn. 4.

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sodann aber auch die Richterwahl ein Vertrauen schaffender oder, je nach Wahlverfahren, für das Vertrauen irrelevanter oder es sogar gefährdender Vorgang. Das Hauptproblem des gegenwärtigen Verfahrens liegt dabei darin, dass die Wahl der Richterinnen und Richter im Plenum des Bundestages – gleiches gilt für den Bundesrat – ohne Aussprache stattfindet. Die Begründung der Bundesregierung zum Reformgesetz 2015 verweist auf die parallele Ausgestaltung der Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG) und des Bundespräsidenten (Art. 54 GG).19 Das führt in die Irre. Die Kandidatinnen und Kandidaten für diese politischen Verfassungsorgane haben, insbesondere im Fall des Bundeskanzlers, intensive Stufen der personenbezogenen Diskussionen durchlaufen, im Fall der Regierung ergibt sich die Weichenstellung aus der Parlamentswahl. Die Aufgabe der letztverbindlichen Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitverfahren, im staatlichen Innenbereich und im Verhältnis zum Bürger, sollte die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts stärker in die Öffentlichkeit bringen, zumal die gegenwärtige Wahl ohne Aussprache in Bindung an die Beratungen im Wahlausschuss, die vertraulich sind (§ 6 Abs. 4 BVerfGG), und dessen Vorschläge geschieht. Diese Ausschussvertraulichkeit mag erhalten bleiben – aber die Bindung des Plenums an die Vorschläge und die fehlende Diskussion darüber entspricht nicht der Verfahrensweise des Parlaments.

IV. Öffentliche Anhörung der Kandidatinnen und Kandidaten Sollte es darüber hinaus öffentliche Anhörungen und parlamentarische (oder im Bundesratsplenum erfolgende) Befragungen der Kandidatinnen und Kandidaten, etwa nach dem Vorbild der Richterernennung beim US Supreme Court, geben?20 Die Diskussion ist nicht neu. Schon 1987 brachte die Fraktion „Die Grünen“ einen entsprechenden Gesetzentwurf ein, der nicht die erforderliche Mehrheit fand.21 Dafür spräche eine durch Transparenz und Öffentlichkeit des Verfahrens erhöhte demokratische Legitimation. Eine stärkere Politisierung, die häufig gegen öffentliche Anhörungen ins Feld geführt wird, ist nicht zu befürchten – eine solche Politisierung gibt es schon jetzt, nur im Verborgenen. Zudem könnten solche Anhörungen erhellend sein und, wie immer bei mündlichen Diskussionen, überraschende Gesichtspunkte zu Tage fördern. Anhörungen können aber strategisch eingesetzt und ausgestaltet werden, was bis zu einer Ausforschung der Kandidatinnen und Kandidaten oder zu einem Verhör führen kann. Das kann für die Auswahlentscheidungen nach der fachlichen Qualifi19 Vgl. BT-Drs. 18/4963 vom 20. Mai 2015, S. 4 f. 20 Dafür etwa Häberle, Bundesverfassungsrichter-Kandidaten auf dem Prüfstand?, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozessrecht, 2014, S. 235 ff.; ebenso bereits U. K. Preuß, ZRP 1988, S. 389 ff., 395; J. Limbach, Zur Wahl der Richterinnen und Richter des BVerfG, in: FS R. Herzog, 2009, S. 273 ff., 277 ff. 21 Vgl. den Gesetzentwurf in BT-Drs. 11/73 vom 20. März 1987; zeitlich spätere weitere Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: BT-Drs. 12/5375 vom 5. Juli 1993; 13/1626 vom 2. Juni 1995; 13/2088 vom 27. Juli 1995.

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kation, vielleicht sogar für die Unabhängigkeit der Richter fatale Folgen haben. Die Verfassungspraxis der USA, die vom Präsidenten zu ernennenden und vom Senat zu bestätigenden Richter öffentlich zu diskutieren (diese Öffentlichkeit gibt es seit 1929), die Kandidaten zu einem öffentlichen Hearing des Justizausschusses einzuladen (seit der Ernennung des Supreme-Court-Richters Felix Frankfurter 1939) und schließlich diese Hearings aufzuzeichnen und von Rundfunk und Fernsehen übertragen zu lassen (seit 1981)22, mag Gründe auf ihrer Seite haben. Manche Senatshearings der letzten Jahrzehnte vermitteln den Eindruck, „als lese man Protokolle wissenschaftlicher Konferenzen zu jeweils aktuellen Problemen des amerikanischen Verfassungsrechts – gelegentlich durchbrochen freilich durch politische Spitzen und Provokationen, mit denen manch einer der Senatoren den angehörten Kandidaten herausfordern will.“23 Zur US-amerikanischen Rechtsprechung gehört aber auch ein starkes persönliches Element: „Judges are influenced by their own biases and philosophies which to large degree predetermine the position they will take on a given question. Private attitudes, in other words, become public law.“24 Solche persönlichen Vorverständnisse sind untrennbar mit jedem Richter in jeder Rechtsordnung verbunden. Im Vergleich zum anglo-amerikanischen Rechtskreis gibt es aber in Deutschland einen anderen Stil der Rechtsprechung und eine andere Einbindung in einen vorgefundenen Korpus von Verfassungskonkretisierungen. Sie besteht nicht in der Bindung an frühere Entscheidungen, sondern an systematisch angelegte Verfassungsauslegungen mittlerer Abstraktionshöhe. Die Personalisierung der Rechtsprechung spielt – bei allen Gerichten – eine vergleichsweise geringe Rolle. Amtsrichter und Bundesverfassungsgericht sprechen von sich als dem „Gericht“, Urteilsgründe scheinen das „Gericht“ und nicht Personen als Urheber zu haben, die Pronomina „Ich“ oder „Wir“ kommen, abgesehen von allein in der Verfassungsrechtsprechung möglichen Sondervoten, nicht vor. Berichterstatter in konkreten Streitfällen vor dem Bundesverfassungsgericht werden namentlich nicht öffentlich benannt, wenngleich sie den Verfahrensbeteiligten aufgrund der Geschäftsverteilung, verfahrensbegleitender Schreiben und der Rolle in der mündlichen Verhandlung bekannt sind (oder bekannt sein können). Das individuelle Abstimmungsverhalten der Richter bei Entscheidungen wird nicht kenntlich gemacht, wenngleich zumindest Stimmenverhältnisse in Zahlen häufig mitgeteilt werden.25 Richter kommentieren weder im Voraus noch im Nachhinein Entscheidungen, die meisten Richter sind der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Mehr noch: Eine allgemeine Öffentlichkeitsarbeit der Gerichte gibt es nicht, wenngleich die meisten inzwischen aus dem Kreis der Richter einen Sprecher ernennen. Eine 22 23 24 25

Dazu Höreth (Fn. 12), S. 269 ff., zur Ausweitung der Öffentlichkeit S. 278 f. Höreth (Fn. 12), S. 279. C. H. Pritchett, American Political Science Review 35 (1941), S. 890 ff., 890. Ein prominenter Fall aber, in dem das Gericht bei einem Stimmenverhältnis von 4:4 (was bedeutet, dass keine Verfassungswidrigkeit festgestellt werden kann, § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG) beide im Senat vertretenden Begründungslinien im Wechsel darlegt: BVerfGE 80, 367 – Verwertung tagebuchartiger Aufzeichnungen im Strafprozess.

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Pressestelle existiert beim Bundesverfassungsgericht erst seit 1995, nach dem heftige Reaktionen auslösenden „Kruzifix-Beschluss“26. Diese Entpersonalisierung der Rechtsprechung ist sicher nicht der einzig mögliche Weg, angesichts der politischen Entscheidungsgegenstände die Schiedsrichterrolle des Verfassungsgerichts zu festigen. Er ist aber der kontinentaleuropäische und im Besonderen deutsche Weg. In diesem Kontext hätten öffentliche Anhörungen von Richterkandidatinnen und -kandidaten Auswirkungen auf diesen Charakter und Stil des Gerichts und seiner Entscheidungen. Sie führten möglicherweise auch zu Festlegungen der Angehörten zu bestimmten Fragen, die ihre Unabhängigkeit im Amt gefährden könnten.

V. Fazit Das gegenwärtige Defizit der Richterwahl, der Ausschluss der Öffentlichkeit, der zu Einbußen an Transparenz führt und das Grundprinzip der Ämtervergabe in der Demokratie, das Prinzip der Öffentlichkeit, missachtet, sollte behoben werden. Die Gesetzesänderung des Jahres 2015 hat hier nichts bewirkt, sie ist eine „Mogelpackung“27. Durch öffentliche Diskussionen in den Kreationsorganen, Offenlegen der Entscheidungswege und eine fehlende Bindung des Plenums an die Ausschussvorschläge ließe sich das Legitimationsniveau erhöhen. Die Verfassungsrichterwahl sollte nicht länger ein Arcanum von Parteizirkeln sein. Vielleicht hat hier der zunehmende Parteienpluralismus in den Parlamenten auf mittlere Sicht eine befreiende Wirkung.

26 BVerfGE 93, 1. 27 Lechner/Zuck (Fn. 18), § 6 Rn. 4.

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Das Bundesverfassungsgericht an der Belastungsgrenze Zu Entlastungsmöglichkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Von Tristan Barczak

Abstract Seit Gründung des BVerfG führt der „außerordentliche Rechtsbehelf“ der Verfassungsbeschwerde zu einer außerordentlichen Belastung der Verfassungsrichterinnen und -richter. Trotz leicht rückläufiger Verfahrenseingänge in der jüngeren Vergangenheit stellt die Verfassungsbeschwerde die mit Abstand bedeutsamste, die Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung des Gerichts prägende Verfahrensart dar. Gesetzliche wie gerichtsseitige Reformen, mit denen die Verfahrenslast gesenkt und die Arbeitsfähigkeit des BVerfG gestärkt werden sollen, müssen sich insofern an dem Bild eines fürsorgenden „Bürgergerichts“ messen lassen.

I. „Der Ruf nach Entlastung des Bundesverfassungsgerichts – eine unendliche Geschichte?“ Das Dilemma des „Bürgergerichts“1 ist seit langem bekannt: Einerseits soll sich jedermann ohne Rechtsanwalt2 und Gerichtskosten3 mit seinem Begehren an die Verfassungsgerichtsbarkeit wenden können, andererseits bringt die schiere Verfahrensflut das Gericht an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Dementsprechend ist auch die Klage über die Belastung des BVerfG so alt wie das Gericht selbst.4 Mal wird es „am Scheideweg“5 oder „vor dem Untergang“6 gesehen, mal werden seine „Lähmung“7, seine 1

2 3 4 5 6 7

Vgl. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl., 2010, S. 7 ff. Das BVerfG verwendet dieses Prädikat zur Selbstcharakterisierung zwar nicht in seinen Entscheidungen, wohl aber in amtlichen Veröffentlichungen wie der Jahresstatistik. Lediglich in einer mündlichen Verhandlung ist eine Prozessvertretung vorgeschrieben (§ 22 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BVerfGG). § 34 Abs. 1 BVerfGG. Farahat, in: IPE VI, 2016, § 97 Rn. 20: „das Thema der Überlastung des Gerichts [hat] eine lange Tradition“. Wieland, KritV 81 (1998), S. 171 (171). Schneider, NJW 1996, S. 2630. Der Spiegel 52/1983, S. 46.

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„Blockade“8 oder sein unmittelbar bevorstehender „Kollaps“9 propagiert. Der Ruf nach seiner Entlastung gilt demnach als „unendliche Geschichte“.10 Bereits Ende November 1951 – keine drei Monate, nachdem das Gericht offiziell seine Arbeit aufgenommen hatte – bemängelte dessen erster Präsident, Hermann HöpkerAschoff, gegenüber dem damaligen Bundesjustizminister Thomas Dehler, dass die Verhältnisse „nicht gerade erfreulich“ seien.11 Die Richter des für die Verfassungsbeschwerde damals allein zuständigen Ersten Senats drohten in der „Flut der Verfassungsbeschwerden“, darunter „die krausesten Rechtsfälle in völlig ungeordneter Form“, allmählich zu „versinken“. In den ersten beiden Monaten waren insgesamt 322 Verfassungsbeschwerden eingegangen und es sei unabsehbar, „wie sich die Belastung der beiden Senate in Zukunft gestalten“ werde.12 Verzeichnete das BVerfG im Jahr 1952, zwölf Monate nach seiner offiziellen Eröffnung, noch 1.017 Eingänge, hatte sich die Zahl zum 60. Geburtstag des Gerichts im Jahr 2011 mehr als versechsfacht (6.208). Der Höchststand der Neueingänge wurde im Jahr 2014 erreicht: Unter den 6.811 anhängig gemachten Verfahren waren 6.606 Verfassungsbeschwerden (97 Prozent). Diesen standen 6.589 Erledigungen gegenüber, darunter 6.400 Verfassungsbeschwerden.13 „Die Belastungsgrenze der Richterinnen und Richter und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, so der damalige Präsident Andreas Voßkuhle, werde „dadurch einmal mehr auf eine besonders harte Probe gestellt“. Es sei „höchste Zeit, weitere Vorschläge für eine deutliche Entlastung des Gerichts zu entwickeln. Andernfalls laufen das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung Gefahr, ernsthaft Schaden zu nehmen“.14 Zwischen 2015 (5.891) und 2020 (5.529) stabilisierten sich die Verfahrenseingänge auf hohem Niveau.15 Gleichwohl lag in diesem Zeitraum die Zahl der Verfahrenszugänge fast ausnahmslos über der Zahl der Erledigungen, sodass am 31. Dezember 2020 insgesamt 3.214 Verfahren anhängig geblieben waren.16 Infolgedessen hat sogar der EGMR dem BVerfG eine „chronische Überlastung“ attestiert.17 Die Folgen dieser Überlastung zeigen sich in langen, mitunter überlangen Verfahrensdauern. So warten die Beschwerdeführenden bisweilen sieben18, acht19, 8 Klein, FAZ v. 25. 06. 1996, S. 12. 9 Böckenförde, FAZ v. 24. 05. 1996, S. 8; ders., ZRP 1996, S. 281 (281). 10 Vgl. BVerfG, Jahresstatistik 2014, Geleitwort des Präsidenten („Der Ruf nach Entlastung des Bundesverfassungsgerichts – eine unendliche Geschichte?“), abrufbar unter: www.bverfg.de (Abruf am 31. 03. 2021). 11 Zitiert nach Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984, S. 456. 12 Schiffers (Fn. 11), S. 458, 460. 13 BVerfG (Fn. 10), S. 4 ff. 14 BVerfG (Fn. 10), Geleitwort. 15 BVerfG, Jahresstatistik 2020, S. 4, abrufbar unter: www.bverfg.de (Abruf am 31. 03. 2021). 16 BVerfG (Fn. 15), S. 17. 17 EGMR, NJW 2001, S. 213 (214) – Fall Klein. 18 BVerfG, NJW 2015, S. 2175 – Sitzungspolizeiliche Anordnungen.

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neun20, zehn21 und mehr22 Jahre auf eine Entscheidung. Derartige Verfahrensdauern sind weder mit dem Anspruch auf rechtzeitige Justizgewährleistung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) noch mit dem fair trial-Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vereinbar. Dem ist der Gesetzgeber zwar mit der Verzögerungsbeschwerde (§§ 97a–97e BVerfGG)23 begegnet. Mit dieser wurde jedoch nur auf die Symptome reagiert, ohne die Ursachen in den Blick zu nehmen.

II. Entlastungsmöglichkeiten und -grenzen Die Geschichte des BVerfG ist zugleich die Geschichte der Suche nach Möglichkeiten seiner Entlastung. Ausgehend von Reformen in der Vergangenheit24 sollen die gesetzlichen und gerichtsinternen Mittel und Wege in den Blick genommen werden, mit denen die „Flut an Verfassungsbeschwerden“ gegenwärtig bewältigt werden soll. Diese wiederum lassen erkennen, inwieweit noch Reformbedarf besteht und an welche rechtlichen und tatsächlichen Grenzen zukünftige Reformen stoßen werden. 1. Entlastungsstrategien in der Vergangenheit a) A-limine-Abweisung In seiner ursprünglichen, am 17. April 195125 in Kraft getretenen Fassung sah das BVerfGG lediglich die Möglichkeit vor, unzulässige oder offensichtlich unbegründete Anträge durch einstimmigen Beschluss des Gerichts zu verwerfen (§ 24 Satz 1 BVerfGG). Mit der Regelung war von Anfang an ein Entlastungszweck intendiert: Das BVerfG sollte die Möglichkeit haben, Anträge, die von vorneherein und offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben können, in einem vereinfachten – und insofern: schnelleren – Verfahren zu erledigen. Von vornherein war dabei vor allem an die potentiell große Zahl von Verfassungsbeschwerden gedacht.26 War in den Gründungsjahren des BVerfG noch relativ häufig von der Möglichkeit eines A-limine-Beschlusses Gebrauch gemacht worden, ist seine praktische Bedeutung heute

19 So in dem zugrunde liegenden Verfahren im Fall EGMR, NJW 2001, S. 213 – Fall Klein. 20 BVerfG, Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 916/11 u. a. –, juris – Elektronische Fußfessel. 21 BVerfG, NJW 2005, S. 45 – Notarkasse. In diesem Verfahren verstarben zwischenzeitlich sogar zwei der drei Beschwerdeführer. 22 BVerfG, NJW 2005, S. 2363 – Lebensversicherungen (11 Jahre). 23 BGBl. 2011 I S. 2302. 24 Faller, in: FS f. Benda, 1995, S. 43 ff.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 5. Aufl., 2020, Rn. 108 ff. 25 BGBl. I S. 243. 26 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl., 2020, Rn. 389; Walter, in: ders./Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, Stand: 01. 01. 2021, § 24 Rn. 2.

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gering.27 Der für Verfassungsbeschwerden nach wie vor maßgeblich zuständige Erste Senat („Grundrechte-Senat“) hat in den Geschäftsjahren 2019 und 2020 jeweils keinen einzigen Beschluss nach § 24 BVerfGG gefasst.28 Dies liegt primär daran, dass gerade für die Verfassungsbeschwerde spezifischere Entlastungsstrategien etabliert wurden. b) Vorprüfungsausschuss Der erste Schritt zu spezifischeren Entlastungsmöglichkeiten wurde 195629 mit der Einführung eines Vorprüfungsausschusses (§ 91a BVerfGG) gemacht. Diese begründet man vor allem mit der Belastung, der sich der bislang für Verfassungsbeschwerden ausschließlich zuständige Erste Senat von Anfang an ausgesetzt sah.30 Der Vorprüfungsausschuss konnte fortan durch einstimmigen Beschluss die Verfassungsbeschwerde verwerfen, wenn von der Entscheidung weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten war noch dem Beschwerdeführer hierdurch ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstand. Die Lösung wurde indes mit Blick auf die weiter steigende Verfahrenszahl – zwischen 1956 und 1963 stiegen die Eingangszahlen von 808 auf 1.41431 – schnell als unbefriedigend wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund dachte man auf politischer Ebene sogar über eine Abschaffung der bis zu diesem Zeitpunkt nur im einfachen Recht verankerten Verfassungsbeschwerde nach.32 Hierzu vermerkt der Entwurf der Bundesregierung, dass sich eine „wesentliche Entlastung des Bundesverfassungsgerichts […] nur durch die Beseitigung der Verfassungsbeschwerde erreichen“ ließe, da alle anderen Zuständigkeiten verfassungskräftig verankert seien und schon wegen ihrer organischen Verbundenheit nicht angetastet werden sollten. Die Abschaffung der Verfassungsbeschwerde werde aber „in der öffentlichen Diskussion nirgends befürwortet“.33 c) Dreier-Ausschuss und Annahmeverfahren Im Jahr 196334 wurde der Vorprüfungsausschuss gestrichen und an seiner Stelle ein Annahmeverfahren geregelt. In dessen Rahmen sollte ein von drei Richtern gebildeter Ausschuss (sog. Dreier-Ausschuss) die eingehende Verfassungsbeschwerde auf ihre Zulässigkeit „vorprüfen“, bevor der Senat über die eigentliche Annahme entschied. Nach dem neuen § 93a Abs. 3 BVerfGG konnte die Annahme einer Verfassungsbe27 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 24 (2004) Rn. 33 f.; Diehl, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, 2018, § 24 Rn. 3. 28 BVerfG (Fn. 15), S. 41, 42. 29 BGBl. I S. 662 (1. BVerfGG-Änderungsgesetz). 30 BT-Drs. II/2388, S. 3. 31 BVerfG (Fn. 15), S. 2. 32 Die Verfassungsbeschwerde wurde erst durch Gesetz v. 29. 01. 1969 (BGBl. I S. 97) in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, b GG verankert. 33 BT-Drs. IV/1224, S. 4. 34 BGBl. I S. 589 (3. BVerfGG-Änderungsgesetz).

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schwerde zur Entscheidung durch einstimmigen Beschluss abgelehnt werden, wenn sie „formwidrig, unzulässig, verspätet oder offensichtlich unbegründet oder von einem offensichtlich Nichtberechtigten erhoben ist“. Bereits im Dezember 197035 wurde der Ablehnungsgrund der „offensichtlichen Unbegründetheit“ jedoch wieder gestrichen, da dieses Merkmal nach Auffassung des Gesetzgebers in der Außenwirkung zu Schwierigkeiten geführt hatte. Es wurde „von den Beschwerdeführern und insbesondere ihren Anwälten als Herabsetzung ihrer mit großem Aufwand an Zeit, Arbeit und Mühe gefertigten Beschwerdebegründung empfunden“.36 d) Kammerannahme und Unterliegensgebühr Auch das Annahmeverfahren führte in der Folgezeit nicht zu der erhofften Entlastung des Gerichts. Vielmehr kam es zwischen 1975 und 1984 zu einer Verdoppelung der Neueingänge von 1.588 auf 3.484.37 Nach Ansicht der Bundesregierung waren in dieser Situation „dringend Maßnahmen geboten, um der hohen Belastung und einer drohenden Überlastung unseres höchsten Gerichts zu begegnen“.38 Eine Abschaffung der Verfassungsbeschwerde, wie sie zuvor noch ernsthaft in Betracht gezogen wurde, schloss man hierbei aus, weil diese mittlerweile zum Wesen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit gehöre und als notwendige Einrichtung zum Schutz der Grundrechte aus unserem Rechtsschutzsystem „nicht mehr fortzudenken“ sei.39 Zu den Neuerungen zählten stattdessen die Umwandlung der Vorprüfungsausschüsse in Kammern (§ 15a BVerfGG) und die Einführung einer Unterliegensgebühr (§ 34 Abs. 3 – 6 BVerfGG a.F.).40 Die Gebühr wurde mit der Möglichkeit zur Auferlegung eines Vorschusses verbunden.41 Der Vorschuss war zugleich ein wesentliches Element des Annahmeverfahrens, da die Kammer durch einstimmigen Beschluss die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ablehnen konnte, wenn der Beschwerdeführer den ihm aufgegebenen Vorschuss nicht oder nicht rechtzeitig leistete (§ 93b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BVerfGG).

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BGBl. I S. 1765 (4. BVerfGG-Änderungsgesetz). BT-Drs. VI/388, S. 12. BVerfG (Fn. 15), S. 2. BT-Drs. 10/2951, S. 1. BT-Drs. 10/2951, S. 6. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 27), § 34 (2004) Rn. 8 f. BT-Drs. 10/2951, S. 11.

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2. Entlastungsstrategien in der Gegenwart a) Annahmeverfahren und Missbrauchsgebühr Seine bis heute geltende Form erhielt das Annahmeverfahren im August 1993.42 Im Geschäftsjahr 1992 war die Verfahrensbelastung auf 4.431 Neueingänge gestiegen.43 Ziel der Reform war erneut „eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts vor allem im Bereich der Verfassungsbeschwerdeverfahren“.44 Die Lösung sah der Gesetzgeber in einer Mischung aus Freiraum und Verbindlichkeit: Die Regelung des Annahmeverfahrens war darauf angelegt, dem Gericht ein Ermessen bei der Behandlung von Verfassungsbeschwerden einzuräumen, das ihm substantielle Freiräume verschafft (§ 93a Abs. 1 BVerfGG: „Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung“), aber gleichzeitig gesetzlich eingehegt wird (vgl. § 93a Abs. 2 BVerfGG). Ein „freies“ Annahmeverfahren war hiermit nicht intendiert.45 Ein solches wird auch nicht praktiziert, wenngleich dies infolge des regelmäßigen Verzichts auf eine Begründung (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG) einem Beschwerdeführer, dessen Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, so erscheinen mag. Nicht zuletzt die fakultative Begründung der Nichtannahme bedeutet eine erhebliche Entlastung im Arbeitsalltag des Gerichts. Politischen Bestrebungen, eine Begründungspflicht samt Veröffentlichungszwang einzuführen, ist insofern zu Recht eine Absage erteilt worden.46 Die nur wenige Jahre zuvor eingeführte Unterliegensgebühr samt Vorschusspflicht wurde 1993 wieder gestrichen, weil es ihrer „Abwehrfunktion“ mit Blick auf die neu gefassten Annahmevorschriften und den dem BVerfG dabei zukommenden Entscheidungsspielraum nicht mehr bedurfte.47 Die daneben fortbestehende Missbrauchsgebühr (§ 34 Abs. 2 und 3 BVerfGG) vermochte hingegen – entgegen mancherorts geäußerter Befürchtung48 – die mit ihr intendierte Hemmungs- und Entlastungswirkung zu keinem Zeitpunkt zu entfalten: „Querulanten, Wiederholungstäter, unbelehrbare Gerechtigkeitsfanatiker und Unkundige lassen sich nicht erziehen“.49 In vielen Fällen sind die Missbrauchsgebühren aufgrund der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Vollstreckungsschuldners ohnehin nicht einbringbar. Das sowie der Umstand, dass die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr oftmals einen umfang42 43 44 45 46

BGBl. I S. 1442 (5. BVerfGG-Änderungsgesetz). BVerfG (Fn. 15), S. 3. BT-Drs. 12/3628, S. 1. BT-Drs. 12/3628, S. 8. Zu diesem noch 3. a). Vgl. den Entwurf eines 6. BVerfGG-Änderungsgesetzes („Gesetz zur Einführung der Begründungspflicht“) der AfD-Fraktion v. 05. 11. 2018, BT-Drs. 19/5492. Der Rechtsausschuss hat mehrheitlich für die Ablehnung des Entwurfs votiert, vgl. BT-Drs. 19/9092, S. 2. 47 BT-Drs. 12/3628, S. 12; siehe auch Klein, NJW 1993, S. 2073 (2075). 48 Zuck, NJW 1986, S. 2093 (2093). 49 Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 34 Rn. 5.

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reichen nachgerichtlichen Schriftwechsel verursacht,50 während die schlichte Nichtannahme ohne Gründe im Zweifel leichter und schneller zu erlangen ist, sind ein wesentlicher Grund dafür, dass Missbrauchsgebühren nur selten verhängt werden.51 Den im Geschäftsjahr 2020 neu anhängig gemachten 5.194 Verfassungsbeschwerden und 271 einstweiligen Anordnungen standen insgesamt nur 4 Missbrauchsgebühren gegenüber.52 Das entspricht einem Anteil von 0,07 Prozent. b) Allgemeines Register Von dem Annahmeverfahren zu unterscheiden ist die Vorfilterung von Verfassungsbeschwerden und deren Eintrag im Allgemeinen Register (AR). Dem AR-Verfahren, das in der Geschäftsordnung des Gerichts (GO-BVerfG)53 geregelt ist, kommt eine nicht zu unterschätzende Entlastungsfunktion zu. Eingehende Verfassungsbeschwerden werden einer Vorprüfung durch den zur Postauszeichnung berufenen Mitarbeiter unterzogen (§ 64 Abs. 1 Satz 2 GO-BVerfG). Sofern diese ergibt, dass eine Annahme zur Entscheidung nicht in Betracht kommt, wird die Verfassungsbeschwerde zunächst im AR eingetragen (§ 63 Abs. 2 lit. a GO-BVerfG). Unter Heranziehung von Textbausteinen und ggf. unter Beifügung eines Merkblatts54 wird der Beschwerdeführer sodann auf etwaige Zulässigkeitsmängel hingewiesen. Ihm wird mitgeteilt, dass das Gericht ohne eine Behebung der dargelegten Zulässigkeitsmängel oder eine sonstige Mitteilung davon ausgeht, dass dieser nicht auf einer richterlichen Entscheidung bestehe. Sofern der Beschwerdeführer daraufhin dennoch eine richterliche Entscheidung über seine Verfassungsbeschwerde beantragt, muss die Beschwerde in das Verfahrensregister umgetragen und der zuständige Berichterstatter bestimmt werden (§ 64 Abs. 2 GO-BVerfG).55 Von den im Geschäftsjahr 2020 im AR geführten 5.583 Verfassungsbeschwerden und sonstigen Eingaben sind 2.610 Verfahren im AR verblieben (47 Prozent).56 Diese sind damit jedoch nicht endgültig erledigt, sondern können im Zeitrahmen des § 35b Abs. 7 BVerfGG jederzeit wieder aufgerufen werden. c) Subsidiarität und Substantiierung Eine gewichtige Rolle bei der Entlastung des BVerfG spielen zudem die Zulässigkeitsvoraussetzungen der formellen und materiellen Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) sowie der hinreichenden Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (§ 92 BVerfGG). 50 Schenk, in: Becker/Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 3, 2014, S. 63 (90 f.). 51 Barczak, in: ders. (Fn. 27), § 34 Rn. 12. 52 BVerfG (Fn. 15), S. 35. 53 BGBl. 2015 I S. 286. 54 Abrufbar unter: www.bverfg.de (Abruf am: 31. 03. 2021). 55 Zum Ganzen Nettersheim, in: Barczak (Fn. 27), § 93a Rn. 1. 56 BVerfG (Fn. 15), S. 55.

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Die Norm des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG enthält nicht nur ein (formelles) Gebot der Rechtswegerschöpfung, sondern einen ungeschriebenen Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde.57 Dieser hat den Zweck, „das Bundesverfassungsgericht zu entlasten und für seine eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes freizumachen“.58 Das Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde sei der Gefahr eines Missbrauchs oder übermäßigen Gebrauchs ausgesetzt, der die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigen würde.59 Dem soll der Subsidiaritätsgrundsatz entgegenwirken, der wegen der anhaltenden Belastung des BVerfG streng beachtet werden müsse.60 Darin liegt neben der Wahrung der Zuständigkeitsverteilung zwischen Fachund Verfassungsgerichtsbarkeit ein wesentlicher Grund dafür, dass das BVerfG das Rechtswegerschöpfungsgebot und die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde „in zahlreichen Entscheidungen […] betont und immer stärker entwickelt“ hat.61 Ähnlich verhält es sich mit dem aus § 92 BVerfGG folgenden Gebot der hinreichenden Substantiierung. Dem Substantiierungserfordernis wohnt naturgemäß ein großer, von außen kaum einzuschätzender Beurteilungsspielraum inne, von dem im gerichtlichen Alltag Gebrauch gemacht wird. So wenig die Einführung eines „freien“ Annahmeverfahrens für ein Bürgergericht angängig erscheinen mag, so sehr trägt die Handhabung des § 92 BVerfGG Züge eines solchen. Dabei zeigt sich in letzter Zeit eine Verschärfung der Substantiierungsanforderungen. Rechtfertigen lässt sich diese Strenge noch am ehesten damit, dass es sich bei der Verfassungsbeschwerde um einen „außerordentlichen Rechtsbehelf“62 handelt, der für die Korrektur plausibel dargelegter Verfassungsverstöße „reserviert“ ist, weniger dagegen mit einer „Filterfunktion des Verfassungsprozessrechts“, das zur Steuerung und Bewältigung einer hohen Belastung des Gerichts insbesondere im Verfassungsbeschwerdeverfahren flexibel eingesetzt werden können soll.63 d) Prima-vista-Verfahren Darüber hinaus behilft sich das Gericht mit gerichtsinternen Erleichterungen, zu denen das seit dem Jahr 2016 praktizierte Prima-vista-Verfahren zählt. Die Grundidee dieses Verfahrens liegt darin, in einer größeren Zahl von Fällen unabhängig von einer verfassungsrechtlichen Prüfung die Verfassungsbeschwerde unter Rückgriff auf die gesetzlich geregelten Annahmekriterien zu verwerfen und folgerichtig auch das von den wissenschaftlichen Mitarbeitern zu erstellende Kurzvotum durch eine ausgedünnte Entscheidungsgrundlage (einen sog. Kurzbericht) zu ersetzen. Das Prima-vista-VerVgl. BVerfGE 107, 27 (44): „Rechtswegerschöpfung im weiteren Sinne“. BVerfGE 4, 193 (198); zuletzt BVerfG, Beschl. v. 16. 11. 2020 – 2 BvQ 87/20 –, juris, Rn. 46. BVerfGE 51, 130 (139). BVerfGE 68, 143 (151). BVerfGE 33, 247 (258); vgl. auch Niesler, in: Walter/Grünewald (Fn. 26), § 90 Rn. 11; Barczak, DVBl. 2019, S. 1040. 62 BVerfGE 18, 315 (325); Löwer, in: HStR III, ³2005, § 70 Rn. 171. 63 Barczak, in: ders. (Fn. 27), § 92 Rn. 6; Breitkreuz, SGb 2008, S. 506 (509). 57 58 59 60 61

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fahren ist dabei als eine Art Schnell- oder Vorschaltverfahren gedacht: Es dient als ein erster Versuch, eine Verfassungsbeschwerde ohne Darlegung einer rechtlichen Begründung im gegenseitigen Einvernehmen der Kammermitglieder „auszusieben“. Sobald ein Mitglied der Kammer das Verfahren für ungeeignet hält und für seine Entscheidung eine mit näheren Gründen versehene Entscheidungsgrundlage benötigt, wird in das „Normalverfahren“ übergegangen. Das Prima-vista-Verfahren soll hiernach keine neuen Hürden bei der Prüfung und Anwendung des geltenden Verfassungsrechts schaffen, sondern Fälle aussondern, die auch ohne Begründung im Konsens als nicht annahmewürdig erachtet werden. Ob das Prima-vista-Verfahren zu einer substantiellen Entlastung des BVerfG führen wird, ist derzeit noch nicht absehbar, da die Dezernate in der Praxis von dieser verfahrensrechtlichen Erleichterung einen höchst unterschiedlichen Gebrauch machen. Seine Einführung trägt jedoch sicherlich dazu dabei, dass das ganze System und dessen Handhabung aus Sicht eines Beschwerdeführers noch undurchsichtiger werden und als „Lotteriespiel“ erscheinen müssen.64 3. Entlastungsstrategien für die Zukunft a) Freies Annahmeverfahren oder Mutwillensgebühr? Als Mittel zur Entlastung des BVerfG wurde in der Vergangenheit in großer Regelmäßigkeit der Übergang zu einer „freien“ Annahme von Verfassungsbeschwerden nach dem Vorbild des Supreme Court der USA gefordert. Nachdem sich Ernst-Wolfgang Böckenförde bei seinem Abschied aus dem BVerfG noch einmal besonders prominent für einen solchen Systemwechsel ausgesprochen hatte,65 setzte das Bundesjustizministerium eine Sachverständigenkommission („Entlastungskommission“) ein. Im Mittelpunkt ihres Reformauftrags stand das Ziel, die an das Gericht herangetragenen Verfassungsbeschwerden zu reduzieren.66 Obschon die von Ernst Benda geleitete Kommission den Wechsel zu einem freien Annahmeverfahren in ihrem Abschlussbericht67 ebenfalls empfahl und das Gericht das Verfahren im Sommer 1998 erfolgreich testete, wurde der Reformvorschlag gesetzgeberisch nicht umgesetzt. Der Übergang zu einem freien Annahmeverfahren hätte zwangsläufig zu einer Änderung des individualschützenden Charakters der Verfassungsbeschwerde geführt: Aus einem subjektiven Anspruch des Bürgers wären ein genereller Auftrag und eine institutionelle Aufgabe des BVerfG geworden.68 64 Zum Ganzen Barczak, in: ders. (Fn. 27), § 34 Rn. 6 f. 65 Böckenförde (Fn. 9), S. 281. Diese Forderung neuerlich aufgreifend Masing, in: HVerfR, 2021, § 15 Rn. 92: „Es wird so viel Energie in das Aufrechterhalten eines substanzlosen und nur im Innenbereich wahrnehmbaren Richterethos gesteckt, die für große Senatsverfahren besser investiert wäre“. 66 Im Einzelnen Hesse/Ellwein, Das Regierungssystem der BRD, Bd. 1, 9. Aufl., 2004, S. 380 f. 67 Vgl. Benda, Entlastung des BVerfG – Vorschläge der Entlastungskommission, 1998, S. 9 ff. 68 Farahat (Fn. 4), § 97 Rn. 21; Wahl/Wieland, JZ 1996, S. 1137 (1143).

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Die konstant hohe Verfahrensbelastung, der in vielen Dezernaten aufgelaufene und wachsende Altbestand sowie die begrenzten rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu stärken (z. B. durch eine Erhöhung der Mitarbeiterzahl69), führen in regelmäßigen Abständen zu Bestrebungen, die Verfahrensflut über ein negatives Anreizsystem einzudämmen. Zuletzt wurde im Februar 2011 aus den Reihen des Gerichts, namentlich von Seiten des damaligen Präsidenten, ein alternatives Konzept zur Bewältigung der konstant hohen Verfahrensbelastung in die politische Diskussion eingebracht. Angestrebt wurde die Einführung einer Vorabbzw. Mutwillensgebühr für Verfahren der Verfassungsbeschwerde und darauf bezogener Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.70 Die Gebühr sollte von Beschwerdeführern bzw. Antragstellern erhoben werden, die auf die offensichtliche Aussichtslosigkeit ihres Begehrens hingewiesen worden sind, aber auf einer richterlichen Entscheidung nach Entrichtung der Gebühr bestehen. Die Entscheidung über die Auferlegung und die Höhe der Gebühr sollte zunächst ein Rechtspfleger und, sofern der Beschwerdeführer gleichwohl eine richterliche Entscheidung über die Gebührenanordnung beantragt, der Berichterstatter als Einzelrichter ohne Begründung treffen. Die Gebühr sollte nach den Vorstellungen des Gerichts „spürbar, aber leistbar“ ausfallen und sich an den Verhältnissen des Beschwerdeführers ausrichten.71 Eine politische Mehrheit für eine solche Gesetzesänderung hat sich ebenfalls nicht gefunden, da mit einem derartigen negativen Anreizsystem wiederum der Charakter des Gerichts als Bürgergericht geschmälert worden wäre.72 b) Weitere Senate oder Erhöhung der Richterzahl? In den Anfangsjahren gab es den lange gehegten Wunsch nach einer „Umwandlung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zwillingsgericht in ein Einheitsgericht“.73 Spätestens seit der Wiedervereinigung dominieren hingegen Überlegungen, wegen der stetig wachsenden Eingangszahlen einen Dritten oder Vierten Senat einzurichten.74 Da das Grundgesetz keine Bestimmungen über Zusammensetzung und (Zahl der) Spruchkörper des BVerfG enthält, wäre hierzu lediglich eine Änderung des § 2 Abs. 1 BVerfGG („Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten“) erforderlich. Zu beachten ist jedoch, dass eine Verfassung nicht in gleicher Weise autoritativ durch beliebig viele Spruchkörper oder Richter ausgelegt werden kann und die Einheitlichkeit

69 Siehe unten c). 70 Näher Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl., 2020, § 34 Rn. 6; mit grds. Ablehnung Lechner/Zuck (Fn. 49), § 34 Rn. 2a; Zuck, NVwZ 2012, S. 1292 (1294). 71 Schluckebier, ZRP 2012, S. 133 (134). 72 Barczak, in: ders. (Fn. 27), § 34 Rn. 5. 73 BT-Drs. III/1090, S. 2. Hierzu Volp, in: Barczak (Fn. 27), § 2 Rn. 12 ff. 74 Zuck, MDR 1990, S. 595 (596); Mahrenholz, ZRP 1997, S. 129 (132); Lenz, NJW 1999, S. 34 (35).

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der Rechtsprechung innerhalb des BVerfG zu wahren ist.75 Schon heute ist es Außenstehenden nur schwer vermittelbar, dass das ΒVerfG nicht mit einer Stimme spricht, sondern jeder der beiden Senate in der Konzeption des Doppel- bzw. Zwillingsgerichts als „das Bundesverfassungsgericht“ zu gelten hat.76 Bei der Erweiterung um einen weiteren Senat würde zudem die Arbeit des Gerichts wegen der notwendigen Abstimmung und der häufigeren Anrufung des Plenums (§ 16 Abs. 1 BVerfGG) schwieriger und der Entscheidungsprozess im Einzelfall schwerfälliger.77 Ähnliche Probleme ergeben sich für den Entscheidungsprozess im Senat bei einer Erhöhung der Zahl der Richter (§ 2 Abs. 2 BVerfGG). c) Verfassungsanwaltschaft oder Erhöhung der Mitarbeiterzahl? In der Vergangenheit ist zudem die Einführung einer „Verfassungs-“ oder „Grundrechtsanwaltschaft“ erörtert worden.78 Nach dem Vorbild des Generalanwalts beim EuGH79 sollte ein mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteter „Verfassungsanwalt“ die eingehenden Verfassungsbeschwerden darauf prüfen, ob sie zur Entscheidung angenommen werden sollten. Käme der Richter in Kenntnis dieser Stellungnahme zu der gleichen Überzeugung wie der „Verfassungsanwalt“, sollte er befugt sein, als Einzelrichter die Annahme der Verfassungsbeschwerde „aus den vom Verfassungsanwalt dargelegten Gründen“ abzulehnen. Andernfalls sowie auch dann, wenn der „Verfassungsanwalt“ die Annahme der Verfassungsbeschwerde empfiehlt, sollten die Kammer oder der Senat über die Annahme entscheiden. Das Konzept der „Verfassungsanwaltschaft“ setzt, wenn es wirklich der Entlastung des BVerfG dienen soll, einen Übergang vom Kollegialprinzip zum Einzelrichtersystem voraus. Darüber hinaus erschiene für seine Umsetzung eine Änderung des Art. 94 Abs. 1 GG angezeigt, will man nicht eine opake Behörde der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit etablieren. Ferner ist zu bedenken, dass sich bei einer länger dauernden Zusammenarbeit ein und desselben Richters mit ein und demselben „Verfassungsanwalt“ eine „ständige Rechtsprechung“ mit der Folge entwickeln könnte, dass bestimmte verfassungsrechtliche Fragen der Beurteilung durch den Senat auf Dauer entzogen würden.80 Auf den ersten Blick naheliegender erschiene es, die Anzahl der (aktuell) 65 wissenschaftlichen Mitarbeiter, die den Verfassungsrichtern zuarbeiten, weiter aufzusto-

75 BT-Drs. 12/3628, S. 9; Heinrichsmeier, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 2 Rn. 7. 76 Klein, in: FS f. Stern, 1997, S. 1135 (1150): „weltweit kein anderes Gericht nach diesem Vorbild“. 77 BT-Drs. 12/3628, S. 8 f. 78 Vgl. BT-Drs. 12/3628, S. 10; Söllner, ZRP 1997, S. 273 (275 f.). 79 Art. 252 AEUV. 80 Söllner (Fn. 78), S. 276.

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cken.81 Ihre Existenz wird von § 13 Abs. 2 GO-BVerfG schlicht vorausgesetzt, ihre Anzahl an keiner Stelle geregelt. Allerdings stößt das Gericht bereits heute mit Blick auf verfügbare Büroräume und Arbeitsplätze an Kapazitätsgrenzen. Hinzu kommt, dass eine weitere personelle Aufstockung der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die sich selbst in langer Tradition selbstbewusst als „Dritter Senat“ bezeichnen, zu einer Unwucht im Gericht, einer faktischen Delegation der Entscheidungskompetenz und Etablierung eines echten „Schattengerichts“ führen könnte.82 d) Verminderung der Zuständigkeiten des BVerfG oder notwendige Einschaltung der Landesverfassungsgerichte? Sofern von Hans H. Klein vorgeschlagen wurde, den Zuständigkeitskatalog des BVerfG um die Verfahren der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG), der Präsidenten- (Art. 61 GG) und Richteranklage (Art. 98 II, V GG) sowie des Parteiverbots (Art. 21 IV GG) zu kürzen und diese einem „Gericht neuer Art“ zuzuweisen,83 begegnen diesem Vorschlag grundsätzliche Bedenken. Er trägt einerseits den Makel des politischen Sondergerichts und andererseits zur Entlastung des BVerfG nichts bei. Die genannten Verfahrensarten erfordern zweifellos „einen großen investigativen Aufwand“,84 spielen in der alltäglichen Arbeit des Gerichts aber kaum eine Rolle. Auch der Vorschlag, in Verfassungsbeschwerdeverfahren zunächst das zuständige Landesverfassungsgericht anzurufen,85 überzeugt nicht. Zum einen hätte ein solches Verfahren einen begrenzten Anwendungsbereich mit Blick auf Prüfungsgegenstand (Akte der Landesstaatsgewalt) und -maßstab (Landesverfassungsrecht und hineinwirkendes Bundesverfassungsrecht). Zum anderen haben zwar in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Bundesländer eine Landesverfassungsbeschwerde eingeführt;86 wegen der grundsätzlichen Trennung der Verfassungsräume87 kann der Bund den Ländern dies jedoch nicht verbindlich vorgeben. Auch in tatsächlicher Hinsicht erscheint es zweifelhaft, ob hiermit ein Entlastungseffekt einhergehen könnte, da Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte wiederum im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde vor dem BVerfG angegriffen werden können.88 81 Zur Korrelation zwischen Verfahrensbelastung und Mitarbeiterzahl vgl. Zuck, in: van Ooyen/ Möllers (Hrsg.), Handbuch BVerfG im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 443 (447 f.); ders., NJW 1996, S. 1656 (1656). 82 Zu Vorwürfen, über die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden würden nicht die Richter, sondern in Wahrheit die wissenschaftlichen Mitarbeiter entscheiden, Söllner (Fn. 78), S. 275. 83 Klein (Fn. 8), S. 12. 84 Klein (Fn. 8), S. 12. Vgl. nur die Dokumentation von Kliegel/Roßbach (Hrsg.), Das NPDVerbotsverfahren, 2020. 85 Kritisch auch Söllner (Fn. 78), S. 274. 86 Zuletzt in NRW mit Wirkung vom 01. 01. 2019 durch Gesetz v. 21. 07. 2018 (GV. NRW. S. 400). 87 BVerfGE 96, 345 (368). 88 BVerfGE 97, 298 (314 f.); BVerfGK 18, 420 (422).

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III. Fazit und Ausblick: Kritische Selbstreflexion statt Strukturreform Die Rede von einer Überlastung des BVerfG infolge einer Flut an Verfassungsbeschwerden, diesem vermeintlichen „Einfallstor für querulatorische Veranlagung“89, hat eine lange Tradition. Sie besitzt bei einem Blick auf die Eingangszahlen und Verfahrensdauern auch durchaus ihre Berechtigung. Der 70. Jahrestag der Gründung dieses in vielerlei Hinsicht einzigartigen Gerichts sollte jedoch kein Anlass zu großen institutionellen, strukturellen oder personellen Reformen sein. Das „Dilemma zwischen Schnelligkeit und Richtigkeit“ ist, dies hat Ernst Benda bereits 1983 betont, „unauflösbar“.90 Stattdessen ist die Zeit für eine kritische Selbstreflexion gekommen: Ein Gutteil der hohen Belastung beruht maßgeblich auf der nach außen getragenen Selbstdarstellung des Gerichts „einer sich um alles sorgenden Institution“.91 Auch diese Selbstwahrnehmung hat mit der Diktion des Elfes-Urteils, nach dem jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße,92 eine lange Tradition. Die Tendenzen der Subjektivierung objektiven Rechts und der Überindividualisierung des Rechtsschutzes93 wurden jedoch in jüngerer Zeit auf die Spitze getrieben, sei es in Gestalt einer Integrationsverfassungsbeschwerde,94 sei es durch die unmittelbare Prüfung von EU-Grundrechten im Verfahren der Verfassungsbeschwerde,95 sei es durch die Beschwerdeberechtigung von Ausländern im Ausland.96 Das BVerfG will auch innerhalb und außerhalb Europas als „Bürgergericht […] im Spiel“ bleiben.97 Dies ist ebenso verständlich wie im Einzelfall gut begründbar. Wenn jedermann Rechtsschutz in weitem Umfang in Anspruch nehmen kann, bedeutet dies jedoch spiegelbildlich, dass die Rechtsschutzgewähr nicht bloß theoretischer, sondern praktischer Natur sein muss,

Zweigert, JZ 1952, S. 321 (321). Vgl. Der Spiegel 52/1983, S. 46. Albers, ZRP 1997, S. 198 (202). BVerfGE 6, 32 (41). Instruktiv Friedrich, Vom Recht zur Berechtigung, 2020. Begriff von Lehner, Der Staat 52 (2013), S. 535 ff., zur Kennzeichnung der Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht. 95 BVerfGE 152, 216, Rn. 50 ff. – Recht auf Vergessen II. 96 BVerfGE 154, 152, Rn. 58 ff. – Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. 97 Schorkopf, FAZ v. 05. 12. 2019, S. 7.

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will man das Verfassungsversprechen nicht uneingelöst lassen. Die Belastung ist damit zu einem wesentlichen Teil hausgemacht: „Dem Bürgergericht machen die Bürger eben auch Arbeit“.98

98 So Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich des Richterwechsels von Reinhard Gaier zu Yvonne Ott am 08. 11. 2016, abrufbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/11/161108-Richterwechsel-BVerfG.html (Abruf am 31. 03. 2021).

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Organisation des Bundesverfassungsgerichts Blick in die Box: Zur Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht Von Vanessa Hellmann

Abstract Am Bundesverfassungsgericht bearbeiten die wiss. Mitarbeiter*innen nicht nur die rund 6000 Verfassungsbeschwerden, die dort jährlich eingehen, sondern auch alle anderen Anträge und Beschwerden, die im Verfahrensregister eingetragen werden. Anders als zum Teil angenommen, arbeiten sie dabei nicht allein, sondern im Team. Unangefochtene Teamleader*innen sind die Verfassungsrichter*innen.

I. Black Box: Teamarbeit Über die Arbeit der wiss. Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht war – gerade auch im Verhältnis zur Arbeit der Verfassungsrichter*innen – lange Zeit nur wenig bekannt.1 Immer wieder hat es über die Tätigkeit der wiss. Mitarbeiter*innen daher Spekulationen gegeben. Die Rede ist u. a. von einer „Black Box“, in der die wiss. Mitarbeiter*innen im Verborgenen arbeiten2, von einem „Gericht im Gericht“, in dem nicht die Verfassungsrichter*innen, sondern die wiss. Mitarbeiter*innen die Entscheidungen treffen.3 Im Mittelpunkt steht dabei der Verdacht, die Verfassungsrichter*innen könnten in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit, gerechnet auf die vielen eingehenden Verfahren, unmöglich alles lesen, geschweige denn durcharbeiten, was von den wiss. Mitarbeiter*innen vorbereitet wird.4 1

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Vgl. aber bereits FS Nagelmann, 1984; Wieland, Der Beitrag der Wissenschaftlichen Mitarbeiter im Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), in: Ellermann/ Gawron/Rogowski (Hrsg.), Verfassungsgerichte im Vergleich, 1988, S. 258 ff. Zu einer solchen Befürchtung vgl. bereits Geiger, DÖV 1950, S. 196. Vgl. etwa Massing, Politik als Recht – Recht als Politik, 2005, S.187 ff.: „Eine juridische ,black box‘ als Forschungsgegenstand?“; Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 446 f. Vgl. u. a. anknüpfend an eine Rechnung von Böckenförde, ZRP 1996, S. 282: Zuck, NJW 1996, S. 1656 f.; ders., in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 446 ff.; ders., in: Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, Vor §§ 93a ff., Rn. 16; Roellecke, KritVj 1991, S. 83 f.; ders., NJW 2001, S. 946;

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Duncker & Humblot, Berlin

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Mittlerweile wurde über die Arbeit der wiss. Mitarbeiter*innen viel geschrieben.5 Ausführungen lassen sich insbes. auch in der umfangreichen neueren Kommentarliteratur zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz finden, die zum Großteil sogar von den (ehemaligen) wiss. Mitarbeiter*innen selbst verfasst wurde.6 Dabei sind diese sich einig: Am Bundesverfassungsgericht hat die Arbeit der wiss. Mitarbeiter*innen lediglich vorbereitenden Charakter. Die wiss. Mitarbeiter*innen nehmen nur eine Vorprüfung zu der eigentlichen Prüfung durch die Verfassungsrichter*innen vor. Die Entscheidungen treffen allein die Verfassungsrichter*innen, nur sie tragen die Verantwortung.7 Kritik kommt von außen8: Die große Zahl der Verfahren lasse den Verfassungsrichter*innen – jedenfalls in Kammersachen – gar nichts anderes übrig, als die Vorschläge der Mitarbeiter*innen ungeprüft zu übernehmen. Damit träfen allein die wiss. Mitarbeiter*innen die Entscheidungen, unter die die Verfassungsrichter*innen nur noch ihre Unterschrift setzten9. Es wird deutlich: Die Kritik an der Arbeit der wiss. Mitar-

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Lamprecht, NJW 2001, S. 419 f.; Herrmann, in: FS Ismayr, 2010, S. 413. Zu einer Rechnung in Kammersachen vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl., 2020, § 15a, Rn. 7. Vgl. Massing (Fn. 3), S. 187 ff.; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b, Rn. 11 ff.; Dollinger, in: Umbach/Clemens//Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Vor §§ 93a ff., Rn. 19 ff.; Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 443 ff.; zuletzt etwa Hiéramente, ZRP 2020, S. 56 ff. In der (Online‐)Presse: Jehle, Der heimliche dritte Senat in Karlsruhe, in: Stuttgarter Zeitung vom 3. Januar 2015, https://www.stuttgarter-zeitung.de/ inhalt.bundesverfassungsgericht-der-heimliche-dritte-senat-in-karlsruhe.68baaf 04 - 08db49c2-a843 - 395b4747f985.html (April 2021); Körner, Der „Dritte Senat“, in: LTO Karriere vom 30. Oktober 2012, https://www.lto-karriere.de/beruf/stories/detail/jobprofil-wissenschaftlicher-mitarbeiter-am-bundesverfassungsgericht (April 2021); dpa, Letzte Hoffnung Karlsruhe_das Bundesverfassungsgericht wird 65, in: Lausitzer Rundschau Online vom 28. September 2016, https://www.lr-online.de/nachrichten/letzte-hoffnung-karlsruhe-dasbundesverfassungsgericht-wird-65-3523291 6.html (April 2021); entspricht: Semmelroch, beck-aktuell vom 27. September 2016 (becklink 2004479); mit Ergänzungen: dies., Letzte Hoffnung Karlsruhe, in: Saarbrücker Zeitung vom 27. September 2016, https://www. saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/topthemen/letzte-hoffnung-karlsruhe_aid1325973 (April 2021). Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 31 ff.; Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 1, Rn. 39 ff.; Volp, in: Barczak, BVerfGG, § 1, Rn. 114 ff. und auch Grünewald, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 1, Rn. 24 f. Kritisch dazu: Zuck, in: Lechner/Zuck (Fn. 4), Vorwort zur 8. Auflage. Die Vielzahl der erschienenen Kommentare kann eine politische Frage oder aber auch einfach eine Frage von Gelegenheiten sein. Zu ersterem vgl. Mayer, in: Masing/Jestaedt/Jouanjan/Capitant, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2019, S. 48. Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 36 ff.; Burkiczak (Fn. 6), Rn. 39 und 45; Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 124 f. Vgl. zur Innenperspektive sonst auch: Maatsch, DRiZ 2011, S. 392; Schluckebier, ZRP 2012, S. 134; Schmaltz, Betrifft Justiz 2012, S. 342 ff.; Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, S. 511; Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 2, Rn. 10, sowie bereits Wieland (Fn. 1), S. 271 ff. Zur damit verbundenen Arbeitslast: Böckenförde (Fn. 4), S. 282. Zu dieser Einschätzung vgl. auch Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 38. Vgl. etwa Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 450 ff. (mit Hinweis auf Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 90 Rn. 39 f.); ders., NJW 1996, S. 1656 f.; ders., DÖV 1974, S. 307; ders.,

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beiter*innen10 ist im Kern eine Kritik an der Arbeit der Verfassungsrichter*innen. Es wird befürchtet, dass die Verfassungsrichter*innen ihnen gesetzlich überantwortete Aufgaben nicht wahrnehmen, während die wiss. Mitarbeiter*innen Aufgaben wahrnehmen, die ihnen gesetzlich nicht überantwortet sind. Fallen Innen- und Außenwahrnehmung derart auseinander, ist das Grund genug, gerade auch zum 70. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts einmal einen „Blick in die Box“ zu werfen. Darin befindet sich kein Geheimnis. Wer wissen möchte, wie das Bundesverfassungsgericht arbeitet, bekommt darauf auch eine Antwort. Das Bundesverfassungsgericht ist – nicht nur, aber auch – ein Bürger*innengericht. Gearbeitet wird im Team.11 1. Teambildung Die Verfassungsrichter*innen bilden jeweils zusammen mit vier wiss. Mitarbeiter*innen sowie einer Sekretariatskraft ein Dezernat.12 Die wiss. Mitarbeiter*innen stammen aus unterschiedlichen juristischen Bereichen13, ihre Zusammensetzung im jeweiligen Dezernat hängt zum Teil von den zu bearbeitenden Sachmaterien, zum Teil aber auch einfach von den Vorlieben des Verfassungsrichters*der Verfassungsrichterin ab.14 Die Verfassungsrichter*innen suchen ihre Mitarbeiter*innen selbst aus (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 GO-BVerfG).15 Das ist sinnvoll, weil die ausgesprochen enge Zusammenarbeit in einem Dezernat nur dann gut gelingen kann, wenn man sich – durchaus auch persönlich – schätzt, ein ähnliches Judiz hat und sich vertraut. Reformüberlegungen, mit denen eine öffentliche Ausschreibung und ein öffentliches Einstellungsverfahren, etwa auch mit einer zentralen Einstellung über den Präsidenten oder die Vizepräsidentin,

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in: Lechner/Zuck (Fn. 4), Vor §§ 93a ff., Rn. 16; Roellecke, KritVj 1991, S. 83 f.; ders., NJW 2001, S. 946; Lamprecht (Fn. 4), S. 419 f.; Herrmann (Fn. 4), S. 413; Pagenkopf, ZRP 2011, S. 232. Kritisch dazu: Janisch, Wie Karlsruhe den Ausnahmezustand meistert, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. September 2012, https://www.sueddeutsche.de/politik/bundesverfassungsge richt-zum-esm-wie-karlsruhe-den-ausnahmezustand-meistert-1.1463469 (April 2021). Vgl. Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 451 und 454. Vgl. Jehle (Fn. 5). Vgl. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 114; Hömig (Fn. 7), § 2, Rn. 10; Grünewald (Fn. 6), § 1, Rn. 25; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010, S. 86 ff., 106 ff. Vgl. Hömig (Fn. 7), § 2, Rn. 10; Körner (Fn. 5) sowie zuletzt ausführlich: Hiéramente (Fn. 5), S. 56 ff. Zur zahlenmäßigen Entwicklung vgl. Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 447; Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 39; Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 120 f. Eine Mischung hat sich bewährt: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 34. Vgl. hierzu auch Hiéramente (Fn. 5), S. 57. Dazu: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 32; Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 448 f.; Hiéramente (Fn. 5), S. 57. Vgl. auch Jehle (Fn. 5); Körner (Fn. 5).

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gefordert werden, sind daher nur wenig sachgerecht.16 Ein solches Verfahren bände Ressourcen und würde in der Praxis vermutlich auch nicht unbedingt zu anderen Ergebnissen führen, gerade auch wenn Präsident oder Vizepräsidentin sich bei der Einstellung, wie an den obersten Bundesgerichten üblich, dann grundsätzlich doch an den Wünschen der jeweiligen Verfassungsrichter*innen orientieren würden (wie an den obersten Bundesgerichten an den Wünschen der Senatsvorsitzenden). Andererseits würde ein solches Verfahren dann auch hier den Weg zu einer Konkurrent*innenklage eröffnen. Ob das bei einer vorübergehend ausgeübten Tätigkeit tatsächlich erforderlich ist bzw. bei wiss. Mitarbeiter*innen/Kandidat*innen auf durchweg hohem juristischen Niveau und mit durchweg ansprechenden Lebensläufen dann vielversprechend sein würde, ist eine andere Frage. 2. Bearbeitung von Verfassungsbeschwerden Über die jährlich zu Tausenden beim Bundesverfassungsgericht eingehenden Verfassungsbeschwerden wird zum allergrößten Teil in den Kammern entschieden.17 Als Kammersachen kommen nur Verfassungsbeschwerden (vgl. § 93a BVerfGG), Vorlagen im Verfahren der konkreten Normenkontrolle (vgl. § 81a BVerfGG) und die auf diese beiden Verfahren in der Hauptsache bezogenen Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG in Betracht. In allen anderen Verfahren entscheidet ausnahmslos der gesamte Senat, wobei im Verfahren der Verfassungsbeschwerde (vgl. § 93b Satz 2, § 93c Abs. 1 Satz 3 BVerfGG) sowie im Verfahren der konkreten Normenkontrolle (vgl. § 81a BVerfGG) ausnahmsweise ebenfalls der Senat zur Entscheidung berufen sein kann. a) Erstellung der Voten Sowohl den Entscheidungen in der Kammer (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 GO-BVerfG) als auch den Entscheidungen im Senat (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 GO-BVerfG) liegen jeweils Voten der Berichterstatterin*des Berichterstatters zugrunde.18 Zusammen mit der jeweiligen Akte sowie der in den Voten zitierten Literatur und Rechtsprechung, die den Voten beigelegt wird, dienen sie den an der Entscheidung beteiligten Verfassungsrichter*innen als Entscheidungsgrundlage. Ein Votum besteht regelmäßig aus einem Sachbericht sowie einer rechtlichen Würdigung, wobei der Aufbau im Wesentlichen dem aus den veröffentlichten (Senats‐)Entscheidungen bekannten Aufbau entspricht. Der Umfang eines Votums hängt von den im jeweiligen Verfahren aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen sowie ggf. auch von Inhalt und Umfang des vorangegangenen fachgerichtlichen Verfahrens und der Antrags- oder Beschwerde16 Kritisch und mit inhaltlicher Empfehlung: Hiéramente (Fn. 5), S. 57. Für eine stärkere Berücksichtigung von Rechtsanwält*innen: Zuck, NJW 2014, S. 2249; Kilian, AnwBl. 2019, S. 288. 17 Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 70 sowie dort überhaupt zur Statistik Rn. 67 ff. 18 Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 53. Dazu auch bei Jehle (Fn. 5). Zu den Voten (gerade auch im Vergleich zur Arbeit am EGMR) vgl. auch Schmaltz (Fn. 7), S. 342 ff.

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schrift ab.19 In der Regel sind Voten in Kammerverfahren deutlich weniger umfangreich als Voten in Senatsverfahren. Bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit handelt es sich bei den Kammervoten zum Teil sogar nur um wenige Seiten20, in einigen wenigen Fällen sogar nur um eine oder zwei Seiten (etwa wenn eine Verfassungsbeschwerde deutlich verfristet ist und Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind). Voten in Senatsverfahren können dagegen auch leicht Umfang und Niveau einer Dissertation erreichen.21 In einigen Dezernaten werden die Voten in Kammersachen ausschließlich von den wiss. Mitarbeiter*innen gefertigt, in einigen Dezernaten beteiligen sich die Verfassungsrichter*innen an der Votierung der Kammerverfahren. Dass ein*e Verfassungsrichter*in ein Senatsvotum ganz ohne Beteiligung eines Mitarbeiters*einer Mitarbeiterin fertigt, ist die Ausnahme, kommt aber durchaus vor. Die Reihenfolge, in der die eingehenden Verfahren bearbeitet werden, richtet sich nach der im jeweiligen Dezernat getroffenen Absprache. Kriterien können dabei sein:22 die Dringlichkeit der Angelegenheit (insbesondere bei Eilverfahren), die Schwere des in Frage stehenden Grundrechts-/Verfassungsverstoßes, sofort erkennbare Aussicht auf Erfolg (zeitnahe Stattgabe), möglichst zeitnahe Entscheidung in grundrechtssensiblen Bereichen, in denen ein*e Beschwerdeführer*in der öffentlichen Gewalt möglicherweise in besonderer Weise ausgeliefert ist. Anträge und Beschwerden, die sichtlich unzulässig sind, zum Teil bereits nach entsprechender Belehrung im Allgemeinen Register23 (vgl. § 63 GO-BVerfG), lassen sich besonders schnell und zeitnah bearbeiten; dasselbe gilt grds. auch für Verfahren, die nur aus wenigen Seiten bestehen (was nicht heißt, dass nicht auch ein solches Verfahren gründlich geprüft würde24 und auch zulässig und begründet sein könnte). Bei zahlreichen Verfahren desselben Beschwerdeführers*derselben Beschwerdeführerin ist es sinnvoll, alle Verfahren zeitnah zusammen bzw. nacheinander zu bearbeiten, damit sich nicht jedes Mal wieder neu eingearbeitet werden muss. Vorgaben für eine bestimmte Bearbeitungsreihenfolge beziehen sich ausschließlich auf Kammersachen. Bei Senatsverfahren konzentriert sich die Tätigkeit der jeweiligen wiss. Mitarbeiterin*des jeweiligen wiss. Mitarbeiters i. d. R. auf dieses eine

19 Vgl. Hellmann, in: Barczak, BVerfGG, § 90, Rn. 33. 20 Vgl. Körner (Fn. 5). 21 Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 33; Janisch (Fn. 9). Zum Umfang auch: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 64; Schmaltz (Fn. 7), S. 342. 22 Nach Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 52, muss eine bestimmte Reihenfolge nicht eingehalten werden. 23 Vgl. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl., 2015, Rn. 84; Zuck, in: Lechner/Zuck (Fn. 4), Vor §§ 93a ff., Rn. 7 f.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl., 2018, Rn. 261; Walter, in Walter/Grünewald (Rn. 6), § 1, Rn. 23; Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 31 ff. Zur Verfassungsbeschwerde: Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 23 ff. Dazu auch Janisch (Fn. 9). 24 Vgl. dpa/Semmelroch, jeweils (Fn. 5).

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Verfahren. Die sich in ihrem*seinem Bestand sonst möglicherweise noch befindenden Verfahren werden nach und nach auf die anderen wiss. Mitarbeiter*innen umverteilt. b) Nichtannahme oder Zustellung Im Falle einer Verfassungsbeschwerde wird in einem „Kammervotum“ entweder die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung vorgeschlagen (das Votum kommt zu dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde unzulässig oder jedenfalls unbegründet ist) oder aber die Zustellung des Verfahrens (das Votum kommt zu dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde bei vorläufiger Betrachtung zulässig und begründet ist), was bedeutet, dass in dem Verfahren die erforderlichen Stellungnahmen eingeholt werden.25 Wird eine Nichtannahme vorgeschlagen, wird dem Votum sogleich der Entwurf eines Nichtannahmebeschlusses beigefügt. Wird eine Zustellung vorgeschlagen, wird ein sog. Zustellungsvotum (ein Zustellungsvermerk) erstellt, dem der Entwurf einer sog. Zustellungsverfügung beigefügt wird. Bei der Anfertigung der Voten stellen die wiss. Mitarbeiter*innen sicher, dass wirklich alle in einer Akte enthaltenen Seiten – und sei es zusammenfassend – adressiert werden. Der*die Verfassungsrichter*in soll sich auch dann, wenn er*sie die Akte nicht der Reihe nach Seite für Seite durchgeht, ein möglichst umfassendes Bild von dem Akteninhalt machen können. Ist eine Verfassungsbeschwerde zum Beispiel verfristet, muss der*die Verfassungsrichter*in nicht die gesamte Akte lesen, sondern schnell erkennen können, auf welcher Seite der Eingang der Verfassungsbeschwerde dokumentiert ist (in der Regel befindet sich auf der ersten Seite der Beschwerdeschrift ein entsprechender Eingangstempel), wo das Datum der im fachgerichtlichen Verfahren ggf. letztinstanzlich ergangenen Entscheidungen erkennbar ist (und warum es sich dabei sicher um die letztinstanzliche Entscheidung handelt) und wann diese letztinstanzliche Entscheidung dem*der Beschwerdeführer*in (nach seinen*ihren Angaben) zugegangen ist. Problematisch für die gebotene umfassende Darstellung sind nicht vorhandene Inhalte, die sich daher auch nicht belegen lassen, und sich gerade die Abwesenheit von Angaben auf die Zulässigkeit auswirkt, wie dies etwa bei einer nicht erhobenen oder noch ausstehenden Gehörsrüge oder bei sonst nicht sichtbarer vollständiger Beschreitung des Rechtswegs der Fall ist. Soll der*die Verfassungsrichter*in in einem solchen Fall nicht die gesamte Akte Seite für Seite lesen müssen (in der sich häufig auch noch zahlreiche sachfremde Ausführungen und Materialien befinden), muss durch die lückenlose Erfassung des Akteninhalts feststehen, dass etwas anderes in der Akte darüber hinaus auch nicht enthalten ist bzw. nicht vorgetragen wurde. Hat der*die Verfassungsrichter*in das Votum nicht selbst erstellt, überprüft er*sie Votum und Entscheidungsvorschlag des wiss. Mitarbeiters*der wiss. Mitarbeiterin, wobei ihm*ihr sowohl die Akte als auch die im Votum zitierte Literatur und Rechtsprechung vorliegen. Alle Ausführungen im Votum, die sich auf die Akte beziehen, werden mit Seitenzahlen belegt, auf denen sich die in Bezug genommenen Schriftstücke 25 Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 44 ff.; Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 34 ff.

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und Passagen in der Akte befinden. Dafür werden die Akten in den Geschäftsstellen – wie an jedem Gericht – paginiert (d. h. fortlaufend mit Seitenzahlen versehen). Damit können alle Ausführungen – ohne dass der*die Verfassungsrichter*in erst noch länger in der Akte herumsuchen müsste – schnell überprüft werden. Das erleichtert die Arbeit der Verfassungsrichter*innen erheblich. Ist eine Verfassungsbeschwerde etwa deutlich verfristet, lässt sich das auf diese Weise blitzschnell – und in deutlich unter 12,8 Minuten26 – nachvollziehen.27 Wünscht der*die Verfassungsrichter*in an dem Votum Änderungen, nimmt er*sie diese entweder selbst vor oder gibt das Votum zur Überarbeitung an den*die wiss. Mitarbeiter*in zurück. Dieser Vorgang kann sich je nach Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens auch mehrfach wiederholen. Die Voten weisen i. d. R. den Namen der Mitarbeiterin*des Mitarbeiters aus, die*der das Votum erstellt hat, tragen in einigen Dezernaten aber auch nur den Namen des zuständigen Verfassungsrichters*der zuständigen Verfassungsrichterin. Wurde das Votum von dem*der Verfassungsrichter*in selbst erstellt, trägt es ohnehin nur dessen*deren Namen. Wer das Votum in welchem Umfang erstellt und überarbeitet hat, wird zum Teil dadurch sichtbar, dass der*die Verfassungsrichter*in seinen*ihren Namen dem Namen der bearbeitenden Mitarbeiterin*des bearbeitenden Mitarbeiters auf dem Votum hinzufügt; bei kleineren Änderungen vielleicht nur die Initialen, bei umfangreichen Änderungen vielleicht auch den ganzen Namen, bis zur vollständigen Ersetzung des Namens der Mitarbeiterin*des Mitarbeiters durch den Namen der Verfassungsrichterin*des Verfassungsrichters. In letzterem Fall wurde das Votum der Mitarbeiterin*des Mitarbeiters so umfangreich überarbeitet, dass die Verfassungsrichterin*der Verfassungsrichter es quasi neugeschrieben hat. Allzu oft passiert das (besser) nicht. Für den Fall einer Zustellung zeichnet der*die Verfassungsrichter*in das Zustellungsvotum nach eingehender Prüfung ab und unterschreibt die Zustellungsverfügung. Zugestellt wird bei einer Zustellung in der Kammer regelmäßig nur dem Justizministerium oder der Staatskanzlei des Landes, in der die im Ausgangsverfahren befassten Gerichte und Behörden beheimatet sind, es werden also nur diese um Stellungnahme gebeten28. Diese sog. kleine Zustellung wird vom*von der Berichterstatter*in selbst vorgenommen (vgl. § 41 GO-BVerfG). Die auf die Zustellung eingehenden Stellungnahmen sowie die hierauf ggf. erfolgenden Erwiderungen werden von der jeweiligen Mitarbeiterin*dem jeweiligen Mitarbeiter in das bereits bestehende (Zustellungs‐) Votum eingearbeitet. Ebenso wird der Inhalt der mit der Zustellung angeforderten

26 So die Berechnung bei Lamprecht (Fn. 4), S. 419 sowie dazu insgesamt bereits oben (Fn. 4). 27 Kritisch: Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 451. 28 War im Ausgangsverfahren ein Bundesgericht befasst, wird i. d. R. an die Bundesregierung und das Bundesjustizministerium zugestellt bzw. werden diese um Stellungnahme gebeten. Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 35 sowie zur Zustellung insgesamt; Diehl, in: Barczak, BVerfGG, § 23, Rn. 27 ff., und Nettersheim, ebenda, § 94, Rn. 12, 37 und 41.

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Akten des Ausgangsverfahrens aufgenommen.29 Ist eine Verfassungsbeschwerde auch unter Berücksichtigung der Stellungnahmen, der Erwiderungen und des Akteninhalts weiterhin zulässig und begründet, wird das Zustellungsvotum auf diese Weise zu einem Stattgabevotum, dem der Entwurf eines stattgebenden Beschlusses beigefügt wird. Hat sich an der vorläufigen Einschätzung zur Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde etwas geändert, wird aus dem Zustellungsvotum ein Nichtannahmevotum, dem der Entwurf eines Nichtannahmebeschlusses beigefügt wird. Während Nichtannahmeentscheidungen ohne vorherige Zustellung i. d. R. nicht mit einer Begründung versehen sind (vgl. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG)30, obwohl sie das im Einzelfall sein können, wenn die Kammer z. B. aufzeigen möchte, dass eine Verfassungsbeschwerde zwar unzulässig ist, die Nichtannahme zur Entscheidung aber nicht bedeutet, dass die Kammer die Entscheidungen der Fachgerichte auch in der Sache billigt, werden Beschlüsse, mit denen die Verfassungsbeschwerde trotz Zustellung nicht zur Entscheidung angenommen wird, i. d. R. begründet. Es dient dem Rechtsfrieden, dem*der Beschwerdeführer*in aufzuzeigen, was bei einer zunächst zulässig und begründet erscheinenden Verfassungsbeschwerde letztlich dann doch zu ihrer Nichtannahme geführt hat.31 c) Kammerumlauf und Entscheidung Wünscht der*die Verfassungsrichter*in keine Änderungen (mehr), gibt er*sie das Votum mit der darin zitierten Literatur und Rechtsprechung, dem dazugehörigen Beschlussentwurf, der jeweiligen Akte sowie den ggf. beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens in den sog. Kammerumlauf 32. Hierbei wird das Verfahren von dem*der Berichterstatter*in zunächst dem*der dienstjüngeren Verfassungsrichter*in zugeleitet, und von dort dann dem*der dienstälteren Verfassungsrichter*in. Nur ausnahmsweise kommen in Kammerverfahren die Mitglieder einer Kammer persönlich zusammen, um das Verfahren mündlich zu erörtern. Während bei Beschlüssen ohne Begründung im Kammerumlauf häufig nur Randbemerkungen an den Voten zu finden sind – u. U. auch dergestalt, dass der*die Verfassungsrichter*in an dem einen oder anderen Punkt mit der Argumentation nicht einverstanden ist, dem Ergebnis aber mit einer anderen Argumentation zustimmt –, wird bei begründeten Beschlüssen durchaus auch um die Formulierungen gerungen.33 Entscheidungen in der Kammer ergehen nur einstimmig (für die Verfassungsbeschwerde vgl. § 93d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG34, für die konkrete Normenkontrolle § 81a Satz 1 BVerfGG). Können die drei Verfassungsrichter*innen

Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 35. Vgl. hierzu bei Graßhof (Fn. 5), § 93 b, Rn. 11 ff. Die „Regeln“ für eine Begründung hinterfragend: Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 457. Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 34. Dazu kritisch: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 30, Rn. 5; Burkiczak (Fn. 6), § 30, Rn. 14. 33 Vgl. Körner (Fn. 5). 34 Dazu Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 43. 29 30 31 32

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einer Kammer sich nicht einigen, wird aus dem Kammerverfahren ein Senatsverfahren (vgl. § 40 Abs. 2 GO-BVerfG). 3. Bearbeitung von Senatsverfahren Ist der Senat zur Entscheidung in einem Verfahren berufen, liegt auch dieser Entscheidung ein Votum des Berichterstatters*der Berichterstatterin zugrunde (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 GO-BVerfG).35 Ein solches „Senatsvotum“ wird entweder von dem*der Verfassungsrichter*in selbst (regelmäßig unter Zuarbeit einer wiss. Mitarbeiterin*eines wiss. Mitarbeiters in bestimmten Detailfragen) oder aber von einer wiss. Mitarbeiterin*einem wiss. Mitarbeiter in enger Abstimmung mit dem*der Verfassungsrichter*in erstellt. Entscheidet der Senat in einem Verfahren, weil in der Kammer kein einstimmiger Beschluss zustande gekommen ist (vgl. § 40 Abs. 2 GO-BVerfG), wird aus dem Kammervotum (Nichtannahme oder Stattgabe) ein Senatsvotum. a) Erstellung eines (Zustellungs‐)Votums Ist die Zustellung in einem Senatsverfahren obligatorisch (was in allen Verfahren der Fall ist, außer unter bestimmten Voraussetzungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren, in Verfahren der konkreten Normenkontrolle, den darauf bezogenen Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie generell bei einer A-Limine-Verwerfung nach § 24 BVerfGG, vgl. § 22 Abs. 1 GO-BVerfG)36, beginnt die Bearbeitung des Verfahrens mit der Fertigung eines „Zustellungsvotums“. Wird einer Mitarbeiterin*einem Mitarbeiter die Vorbereitung eines Senatsverfahrens übertragen, wird vorab besprochen, wann sie*er mit der Bearbeitung des Verfahrens beginnen und ob sie*er an die Bearbeitung in einer bestimmten Weise herangehen bzw. was dabei besonders beachtet werden soll. Zu Beginn ist sie*er häufig zunächst allein damit beauftragt, einen ausführlichen Sachbericht zu fertigen, der einen möglichst guten und umfassenden Eindruck von dem Verfahren vermitteln soll, bevor überhaupt über die rechtliche Würdigung nachgedacht wird. Um das Auffinden der einzelnen Akteninhalte zu erleichtern, wird selbstverständlich auch in einem Senatsvotum auf die jeweiligen Seitenzahlen der paginierten Akte verwiesen. Hat der*die Verfassungsrichter*in den Sachbericht nicht selbst erstellt, arbeitet er*sie den Entwurf der wiss. Mitarbeiterin*des wiss. Mitarbeiters durch und bittet den*die wiss. Mitarbeiter*in ggf. um die Einarbeitung von Änderungen. Anschließend beginnt der*die Verfassungsrichter*in selbst oder aber der*die wiss. Mitarbeiter*in mit der Erarbeitung einer ersten rechtlichen Einschätzung. Der Sachbericht und die erste rechtliche Einschätzung dienen zunächst nur dazu, der*dem jeweiligen Senatsvorsitzenden möglichst kompakt und schnell nachvollziehbar aufzuzeigen, warum es sich bei dem Verfahren um ein Senatsverfahren handelt und welche Fragen ggf. bereits bei der Zustellung an die Äußerungsberechtigten gestellt werden sollen. In einem Senatsver35 Zum Verfahren im Senat vgl. auch Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 63 ff. 36 Missverständlich: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 63.

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fahren erfolgt die Zustellung als sog. große Zustellung durch die*den jeweilige*n Senatsvorsitzende*n (Präsident oder Vizepräsidentin) auf Vorschlag des Berichterstatters*der Berichterstatterin (§ 22 Abs. 2 GO-BVerfG). Zugestellt bzw. angehört wird dabei wesentlich umfangreicher als bei der „kleinen“ Zustellung in den Kammern (hier daher auch „große Zustellung“)37. Dem Zustellungsvotum wird eine entsprechende Zustellungsverfügung beigefügt. Die wiss. Mitarbeiter*innen erarbeiten das Zustellungsvotum in enger Zusammenarbeit mit dem*der Verfassungsrichter*in. Das Votum wird immer wieder besprochen, die Zustellungsverfügung mit eventuellen Zustellungsfragen zusammen auf das Zustellungsvotum abgestimmt. Erfolgt ausnahmsweise keine Zustellung (s. o.), kann auch einem Senatsvotum sogleich ein Beschlussentwurf beigefügt werden (Nichtannahmebeschluss, feststellender Beschluss zur Unzulässigkeit einer Vorlage; A-Limine-Verwerfung). b) Einarbeitung von Stellungnahmen und Erwiderungen Die bei einer großen Zustellung regelmäßig überaus zahlreich eingehenden Stellungnahmen und Erwiderungen sowie ggf. auch der Akteninhalt der aus dem fachgerichtlichen Ausgangsverfahren beigezogenen Akten werden von den wiss. Mitarbeiter*innen in das bisherige Zustellungsvotum eingearbeitet. Aus dem „Zustellungsvotum“ wird dann das „Senatsvotum“ des Berichterstatters*der Berichterstatterin, das Grundlage für die Entscheidung im Senat ist (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 GO-BVerfG). Das Einpflegen der Stellungnahmen sowie der Erwiderungen ist mit einem ganz erheblichen Arbeitsaufwand verbunden. Das Verfahren auch an solchen Stellen so kurz, prägnant und übersichtlich wie möglich und dabei so ausführlich wie nötig aufzubereiten, ist eine der wesentlichen unterstützenden Aufgaben der wiss. Mitarbeiter*innen. Die nach Eingang aller Stellungnahmen dann mittlerweile häufig äußerst umfangreiche Akte bekommt ein Inhaltsverzeichnis, dem sich schnell und genau entnehmen lässt, wo sich welcher Schriftsatz in der Akte befindet. c) Erstellung eines Senatsvotums als Grundlage für die Beratung Nach Überarbeitung des ursprünglichen Sachberichts aus dem Zustellungsvotum, ergänzt um Stellungnahmen und Erwiderungen sowie den Inhalt der ggf. aus dem fachgerichtlichen Verfahren beigezogenen Akten, wird nunmehr das vollständige Senatsvotum mit rechtlicher Würdigung erstellt. Dabei wurde entweder bereits vorab über Schwerpunkte der Bearbeitung und evtl. auch über Einzelfragen gesprochen, oder diese Fragen werden im Laufe der Bearbeitung in enger Abstimmung zwischen dem*der Verfassungsrichter*in und dem*der wiss. Mitarbeiter*in nach und nach geklärt. Immer wieder sitzen der*die Verfassungsrichter*in und der*die wiss. Mitarbeiter*in zusammen

37 Zur sog. großen Zustellung vgl. Diehl (Fn. 28) sowie Nettersheim (Fn. 28). Zur Verfassungsbeschwerde: Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 37 f.

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und tauschen sich aus, wobei häufig z. B. auch Teile des Votums zum gegenseitigen Lesen ausgetauscht werden.38 Ist der*die Verfassungsrichter*in sich nach letztmaliger Überarbeitung sicher, dass das Senatsvotum fertig ist, unterzeichnet er*sie das Votum und leitet jedem Senatsmitglied ein Exemplar zu. Beigefügt werden ein Abdruck der Akte und der evtl. beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 GO-BVerfG) sowie die zum Teil zahlreichen Anlagenordner39 mit den gesamten im Votum zitierten Belegstellen aus Literatur und Rechtsprechung (die anwendungsfreundlich alphabetisch bzw. chronologisch sortiert werden, ein vollständiges Inhaltsverzeichnis enthalten und mit einer entsprechenden Randeinteilung versehen sind; elektronisch wird entsprechend übersichtlich in einzelnen Unterordnern abgelegt)40. Anders als bei Kammersachen gibt es bei Senatsverfahren kein Umlaufverfahren. Vielmehr kommt jeweils der gesamte Senat zur mündlichen Beratung des Verfahrens – und das i. d. R. an mehreren Beratungstagen – zusammen41. Zur Vorbereitung der mündlichen Beratung arbeiten die Verfassungsrichter*innen das Votum, die Akteninhalte und Anlagen durch und machen hierzu Anmerkungen. An den Beratungen nehmen die wiss. Mitarbeiter*innen nicht teil (vgl. § 25 GO-BVerfG).42 Änderungen, die in der Beratung besprochen werden, müssen daher dem*der Mitarbeiter*in von dem*der Verfassungsrichter*in übermittelt werden.43 In diesem Verfahrensstadium kommt es, da nur der*die Verfassungsrichter*in bei der Beratung dabei war, daher auch häufig vor, dass der*die Verfassungsrichter*in die im Senat besprochenen Änderungen selbst vornimmt. Der Umfang der gewünschten Änderungen fällt je nach Verfahren unterschiedlich aus. Von kleineren Änderungen mit einem größeren Einvernehmen in der Sache bis hin zu umfangreichen Änderungen oder sogar einer Neufertigung des Votums bei größeren Abweichungen ist alles möglich. Zum Teil werden vor den Beratungen auch abweichende Vermerke anderer Verfassungsrichter*innen zu Einzelfragen oder auch ganz grundsätzlicher Art im Senat verteilt. Diese Vermerke werden dann ebenfalls mündlich beraten und ggf. in das Votum eingearbeitet. Jedenfalls kleinere Änderungen nehmen die Verfassungsrichter*innen i. d. R. selbst vor, während umfangreiche Änderungen nach dem bereits beschriebenen Vorgehen in enger Abstimmung zwischen Verfassungsrichter*in und wiss. Mitarbeiter*in vorgenommen werden.

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Zu diesem „Pingpong-Spiel“ vgl. dpa/Semmelroth, jeweils (Fn. 5). Vgl. Körner (Fn. 5). Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 37. Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 38. Vgl. dazu auch Burkiczak (Fn. 6), § 30, Rn. 8 ff. Zu Prozedere und Atmosphäre vgl. Janisch (Fn. 9). Vgl. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 119.

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d) Mündliche Verhandlung und Entscheidung(‐sentwurf) Im Verlauf der (wiederholten) Beratungen muss der Senat entscheiden, ob in dem Verfahren eine mündliche Verhandlung44 durchgeführt werden soll bzw. muss45. In diesem Fall wird die mündliche Verhandlung von dem*der Berichterstatter*in in Abstimmung mit einem wiss. Mitarbeiter*einer wiss. Mitarbeiterin vorbereitet. Auf Grundlage der Beratungen sowie unter Einarbeitung der Erkenntnisse aus der ggf. durchgeführten mündlichen Verhandlung fertigt entweder der*die Berichterstatter*in selbst oder aber der*die wiss. Mitarbeiter*in in Abstimmung mit dem*der Berichterstatter*in einen Beschluss- bzw. (nach stattgefundener mündlicher Verhandlung, vgl. vgl. § 25 Abs. 2 BVerfGG) einen Urteilsentwurf 46. Der fertiggestellte Entwurf wird von dem*der Verfassungsrichter*in als Berichterstatter*in unterzeichnet und den Senatsangehörigen übermittelt. Die den Entscheidungsentwurf betreffenden Änderungswünsche der Senatsmitglieder werden dem*der Berichterstatter*in schriftlich angezeigt und dann im Rahmen der sog. Leseberatung47 anhand einer konsolidierten Fassung des Entwurfs (die in der Regel von der Sekretariatskraft in Abstimmung mit dem*der wiss. Mitarbeiter*in erstellt wird) mit den (namentlich gekennzeichneten) Änderungswünschen der Verfassungsrichter*innen diskutiert. Das Ergebnis der Leseberatung wird in der sog. Urschrift, die alle Änderungswünsche und Anmerkungen enthält, festgehalten. Aus der Urschrift der Leseberatung, die von den Verfassungsrichter*innen unterzeichnet wird, wird dann eine Reinschrift gefertigt. Alle Fundstellen werden von den Rechtspfleger*innen noch einmal überprüft, die Reinschrift von den Geschäftsstellen zum Teil auch in Zusammenarbeit mit den Sekretariaten (es lesen immer drei Personen und davon eine Person laut) Korrektur gelesen und als Beschluss oder Urteil (vgl. § 25 Abs. 2 BVerfGG) ausgefertigt. Im Falle eines Urteils wird die Entscheidung mündlich verkündet (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG). 4. Erhöhung der Anzahl der wiss. Mitarbeiter*innen Bei der immer wieder geführten Diskussion, ob die Anzahl der am Bundesverfassungsgericht arbeitenden wiss. Mitarbeiter*innen noch weiter erhöht werden sollte, wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die Verfassungsrichter*innen hinsichtlich der Zahl der Voten der wiss. Mitarbeiter*innen, die sie tatsächlich noch gewissenhaft durcharbeiten können, irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Die Praxis zeigt, dass die Verfassungsrichter*innen die Bearbeitung der Verfahren auf Grundlage der Voten ihrer vier eigenen wiss. Mitarbeiter*innen sowie der insgesamt acht weiteren wiss. Mitarbeiter*innen der beiden weiteren Kammermitglieder mit hohem Arbeitseinsatz bisher noch gut leisten können. Aber jedenfalls das eine Mitglied eines jeden Senats, das zwei 44 45 46 47

Vgl. Diehl (Fn. 28), § 25, Rn. 3 ff., sowie Meskouris, in: Barczak, BVerfGG, § 30, Rn. 6. Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 38; Burkiczak (Fn. 6), § 30, Rn. 11. Vgl. Hellmann (Fn. 19), § 90, Rn. 38; Burkiczak (Fn. 6), § 30, Rn. 12. Vgl. hierzu Janisch (Fn. 9). Der Begriff auch bei Burkiczak (Fn. 6), § 30, Rn. 12.

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Kammern zugeordnet ist ( jeder Senat besteht aus acht Verfassungsrichter*innen, die in drei Kammern zu je drei Richter*innen tätig sind) und so die Voten der vier eigenen Mitarbeiter*innen sowie der 16 weiteren Mitarbeiter*innen der vier weiteren Kammermitglieder durcharbeiten muss, dürfte jetzt schon an seine Grenzen stoßen. Würde die Zahl der wiss. Mitarbeiter*innen nur um eine*n Mitarbeiter*in pro Verfassungsrichter*in erhöht, müssten die einer Kammer zugeordneten Verfassungsrichter*innen statt der Voten von 12 Mitarbeiter*innen die Voten von 15 Mitarbeiter*innen durcharbeiten, die zwei Kammern zugeordneten Verfassungsrichter*innen statt der Voten von 20 Mitarbeiter*innen die Voten von 25 Mitarbeiter*innen. Das ließe sich auch mit hohem Arbeitseinsatz neben der Bearbeitung und Betreuung von Senatsverfahren sowie der Bearbeitung und Betreuung der eigenen Kammersachen und neben den zahlreichen anderen Aufgaben, die die Verfassungsrichter*innen am Gericht wahrnehmen, tatsächlich wohl nur noch eingeschränkt leisten. Angesetzt werden könnte aber bei der Anzahl der wiss. Mitarbeiter*innen, die in einem Dezernat gleichzeitig an verschiedenen Senatsverfahren arbeiten. Eine Erhöhung um z. B. zwei Mitarbeiter*innen pro Dezernat, die ausschließlich Senatsverfahren vorbereiten (was nicht immer dieselben sein müssten, vielmehr bietet sich ein rollierendes System an), könnte dort eine echte Entlastung bringen, und das sowohl im Hinblick auf die Bearbeitung der Senatsverfahren als auch hinsichtlich der Bearbeitung der Kammersachen durch die anderen wiss. Mitarbeiter*innen des Dezernats, die – arbeiten etwa zwei der vier Mitarbeiter*innen an Senatsverfahren – sonst die Kammerverfahren nicht mehr zu viert, sondern nur noch zu zweit bearbeiten müssten. Durch eine solche Erhöhung ließe sich eine kontinuierliche Bearbeitung der Kammerverfahren in einer Zahl sicherstellen, die von den Verfassungsrichter*innen erfahrungsgemäß noch gewissenhaft bearbeitet werden kann, ohne dass der Output hier wegen der Bindung von Ressourcen in Senatsverfahren zurückginge. Da die Sachmaterien einiger Dezernate senatsträchtiger sind als die anderer Dezernate, bietet sich jedenfalls in diesen Dezernaten eine Erhöhung der Anzahl der wiss. Mitarbeiter*innen allein zur Bearbeitung der Senatsverfahren besonders an.48

II. Black Box: Wiss. Mitarbeiter*innen 1. „Unsichtbar“ Die Arbeit der wiss. Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht wird auch deshalb als „Black Box“ wahrgenommen, weil die wiss. Mitarbeiter*innen nach außen nur wenig in Erscheinung treten.49 Zwar nehmen sie zum Teil auch repräsentative Aufgaben wahr, wenn das Gericht z. B. Besuch von Angehörigen anderer Verfassungsgerichte bekommt, besuchen selbst die Verfassungsgerichte anderer Länder, nehmen an Ta48 Für einige Senatsverfahren wurden in der Vergangenheit bereits zusätzliche Mitarbeiter*innen eingestellt. Vgl. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 118; Jehle (Fn. 5). 49 Vgl. hierzu bei Hiéramente (Fn. 5), S. 56.

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gungen und Konferenzen teil, bei denen sie durchaus auch über ihre Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht sprechen, und führen auch regelmäßig Besuchergruppen durch das Gerichtsgebäude. Anders als die Verfassungsrichter*innen, die dort jeweils mit Bild und kurzem Lebenslauf vorgestellt werden, sind sie auf der Website des Bundesverfassungsgerichts aber nicht vertreten.50 Das wird kritisiert51, wird ihrer Bedeutung – auch wenn sie sich selbst durchaus selbstbewusst als „Dritter Senat“ bezeichnen52 – aber gerecht.53 Dass in einer Institution, und insbes. bei ihrem Internetauftritt – wenn überhaupt – nur die Entscheidungsträger*innen nach außen in Erscheinung treten, ist in der Justiz, aber auch in der Verwaltung des Bundes und der Länder absolut üblich. Auf den Internetseiten der Bundes- und Landesministerien findet man etwa die Hausspitzen sowie i. d. R. auch ein Organigramm, in dem aber jedenfalls die zahlreichen Referent*innen nicht einmal mehr mit Nachnamen aufgeführt werden. Auch die Parlamentarier*innen des Bundestages werden im Internet der Öffentlichkeit vorgestellt, Informationen über sie intern unterstützende Mitarbeiter*innen, etwa auch die des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, findet man aber nicht. In den Fachgerichtsbarkeiten werden sogar die entscheidenden Richter*innen der Öffentlichkeit nicht „vorgestellt“. Auf den Internetseiten der Gerichte finden sich regelmäßig Informationen über die Gerichtsleitung, weitere Richter*innen treten über die Nennung ihres Nachnamens im Geschäftsverteilungsplan hinaus aber nicht in Erscheinung. Das gilt auch für die obersten Bundesgerichte, und auch die dort beschäftigten wiss. Mitarbeiter*innen werden nicht aufgeführt.54 Aufgrund der herausgehobenen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan wird dort ein darüber hinausgehendes, die Person aller Verfassungsrichter*innen erfassendes Informationsinteresse zu bejahen sein; warum sich dieses auch auf die wiss. Mitarbeiter*innen erstrecken sollte, die – anders als zum Teil angenommen – gerade nicht die Entscheidungen treffen, ist nicht erkennbar. Das „Gegenüber“ der Rechtschutzsuchenden ist auch am Bundesverfassungsgericht allein der zuständige Spruchkörper. Die Spruchkörper (Kammern und Senate) werden von den rechtsprechenden Verfassungsrichter*innen und nicht von den ihre Entscheidungen nur vorbereitenden wiss. Mitarbeiter*innen gebildet.

50 Vgl. auch Mayer (Fn. 6), S. 46 f. 51 Zur Intransparenz des Systems insbes. bei Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 443 ff. 52 Vgl. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 118; Hiéramente (Fn. 5), S. 56. Zur Überhöhung dieser Bezeichnung vgl. etwa Jehle (Fn. 5) sowie auch Janisch (Fn. 9). 53 Für eine Aufnahme auf die Homepage: Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 41. 54 Ausnahmsweise verfügen die „Hiwis“ aber über eine eigene Website: https://bgh-hiwis.de. Zum EuGH vgl. https://www.amicuria.com.

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2. „Gesetzlos“ Ein weiterer Kritikpunkt, der in der Sache häufig ebenfalls an die vermeintliche Rolle der wiss. Mitarbeiter*innen als wahre Entscheider*innen am Bundesverfassungsgericht anknüpft, gilt dem Umstand, dass die Unterstützung der Verfassungsrichter*innen durch die wiss. Mitarbeiter*innen gesetzlich nicht geregelt ist.55 Damit seien die wiss. Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht nicht nur unsichtbar, sondern auch gesetzlos.56 Tatsächlich werden die wiss. Mitarbeiter*innen im BVerfGG nicht erwähnt. Bei den Beratungen zum BVerfGG war die Mitwirkung von „Assistenten“ zur Unterstützung der „Verfassungsrichter“ nach amerikanischem Vorbild für zweckmäßig und notwendig erachtet, eine gesetzliche Regelung aber nicht für erforderlich gehalten worden, weil es sich dabei letztlich um eine „etatrechtliche Angelegenheit“ handele.57 Als „beamtete Hilfskräfte“ werden die wiss. Mitarbeiter*innen dann heute auch als Position in den Haushaltplänen des Bundes ausgewiesen.58 Nach § 17 BVerfGG ist u. a. auch § 193 Abs. 1 GVG entsprechend anzuwenden, wonach bei der Beratung und Abstimmung am Gericht u. a. auch die dort beschäftigten „wissenschaftlichen Hilfskräfte“ zugegen sein dürfen. Ohne die „wissenschaftlichen Hilfskräfte“ zu erwähnen, bestimmt § 25 GO-BVerfG für die Beratungen am Bundesverfassungsgericht davon abweichend aber, dass nur die „mitwirkenden Richter“ anwesend sein dürfen59. Ausdrücklich erwähnt werden die „wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ in § 13 GO-BVerfG. Danach unterstützen sie das Mitglied des Gerichts, dem sie zugewiesen sind, bei dessen dienstlicher Tätigkeit (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 1 GOBVerfG)60 und sind an dessen Weisungen gebunden (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 2 GOBVerfG).61 Die Verfassungsrichter*innen dürfen ihre wiss. Mitarbeiter*innen selbst auswählen (§ 13 Abs. 2 Satz 1 GO-BVerfG). Den Verfassungsrichter*innen obliegt auch die dienstliche Beurteilung der wiss. Mitarbeiter*innen, wobei die Vorsitzenden der Senate eine eigene Beurteilung beifügen können (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 2 GOBVerfG).62 Eine gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit der wiss. Mitarbeiter*innen existiert damit nicht, und das obwohl dieser Umstand seit Jahrzehnten immer wieder

55 Vgl. hierzu Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 38; Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 122 ff. 56 Vgl. Zuck, NJW 1996, S. 1656:“WiMis – die Gesetzlosen“. Vgl. dazu auch Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 123. 57 Zur Diskussion vgl. Kurzprotokoll über die 15. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundesrates vom 8.3.-11. 3. 1950, BR-Drs R 50/50, S. 5; StenProt über die 31. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 21. 4. 1950, S. 13 ff. sowie dazu insgesamt Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 115. 58 Vgl. Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 40; Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 123 sowie zum Haushaltsplan Burkiczak, ebenda., Rn. 30 und Volp, ebenda, Rn. 108. 59 Vgl. Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 40, sowie § 30, Rn. 16. 60 Vgl. dazu Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 35; Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 119. 61 Dazu auch Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 95, Rn. 149. 62 Vgl. insgesamt zu § 13 GO-BVerfG: Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 40.

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kritisiert worden ist63. Zum Teil wird das Fehlen einer gesetzlichen Regelung auch als verfassungsrechtliches Problem wahrgenommen. Diskutiert werden Verstöße gegen Art. 92 GG (die Rechtsprechung ist ausschließlich den Richtern anvertraut), Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (gesetzlicher Richter) und Art. 97 Abs. 1 GG (richterliche Unabhängigkeit).64 Verstöße dagegen liegen hier aber nicht vor. Recht sprechen am Bundesverfassungsgericht ausschließlich die Verfassungsrichter*innen.65 Nur ihnen ist die Rechtsprechung anvertraut (Art. 92 GG), nur sie sind die gesetzlichen Richter*innen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), und nur auf ihre Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) kommt es an.66 Auch wenn die nur vorbereitende Tätigkeit der wiss. Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, heißt das aber nicht, dass man ihre Tätigkeit nicht gleichwohl gesetzlich regeln sollte. Der Gesetzgeber könnte etwa die Regelung in § 13 GO-BVerfG als gesetzliche Bestimmung in das BVerfGG aufnehmen. Das würde nicht nur der umfangreichen Tätigkeit der wiss. Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht gerecht67, sondern würde auch dem Eindruck entgegenwirken, die wiss. Mitarbeiter*innen würden mit einer Bestimmung in der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts in einer Art „Grauzone“68 des Gerichts versteckt, in der sie eine Arbeit leisteten, zu der gesetzlich gar nicht sie, sondern die Verfassungsrichter*innen berufen seien.69 Dass sie die Arbeit, die die Verfassungsrichter*innen leisten sollen, tatsächlich auch gar nicht leisten, wurde bereits gezeigt. Ob und wie eine gesetzliche Regelung gegenüber einer Regelung in der GO-BVerfG dann auch in der Sache für größere Transparenz sorgen kann70, bleibt abzuwarten.

63 Vgl. etwa Zuck, NJW 1996, S. 1656 f., ders., DÖV 1974, S. 307; Roellecke, KritV 1991, S. 83 f.; ders. (Fn. 1), S. 349; Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, S. 277 f. Insgesamt dazu: Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 40 sowie Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 123. 64 Vgl. dazu Hömig (Fn. 7), § 2, Rn. 10. Zur Diskussion auch Volp (Fn. 6), Rn. 124; Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 38; Jachmann-Michel (Fn. 61), Art. 59, Rn. 149. 65 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 92, Rn. 55; Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 42 sowie zu den Begriffen ders., in: Friauf/Höfling, GG, Art. 92, Rn. 26 ff. und 57 ff. 66 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 1997 – 2 BvQ 1/97 –, juris, Rn. 1 sowie dazu insgesamt Burkiczak (Fn. 6), § 1, Rn. 42. 67 Vgl. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 122. 68 Vgl. Zuck, DÖV 1974, S. 307; ders., NJW 1996, S. 1656; ders., in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 456 f. Dazu Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 125. 69 Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 38, die die Aufnahme der Befähigung zum Richteramt als Voraussetzung für eine Tätigkeit als wiss. Mitarbeiter*in vorschlagen. Vgl. sonst auch Zuck, in: Lechner/Zuck (Fn. 4), Vor §§ 93 a ff., Rn. 16. 70 Vgl. Kohl, in: FS Nagelmann, 1984, S. 390 f. Dazu Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 125. Zu einem Mehr an Transparenz vgl. insbes. auch Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 456 f.

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3. „Einflussreich“ Der Einfluss der wiss. Mitarbeiter*innen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist genauso groß wie die Verfassungsrichter*innen es im Einzelfall zulassen. Entscheidend ist, ob die Verfassungsrichter*innen – zunächst der*die Berichterstatter*in, dann die weiteren Kammer- bzw. Senatsmitglieder – mit dem Votum der wiss. Mitarbeiterin*des wiss. Mitarbeiters einverstanden sind und sich diesem anschließen.71 Dass sich die Verfassungsrichter*innen dem Votum einer wiss. Mitarbeiterin*eines wiss. Mitarbeiters (nahezu) ohne Änderungen anschließen, kommt in der Praxis vor.72 Die Wahrscheinlichkeit nimmt mit zunehmender Komplexität des Verfahrens aber deutlich ab.73 Die wiss. Mitarbeiter*innen überzeugen die Verfassungsrichter*innen mit ihren Voten, wenn sie gute Arbeit leisten. Dazu gehört die Fertigung eines prägnanten Sachberichts genauso wie eine überzeugende rechtliche Würdigung, die in einen überzeugenden Entscheidungsvorschlag, ggf. auch mit einem ebenfalls überzeugenden Beschlussentwurf mündet. In seinen Entscheidungen zitiert sich das Bundesverfassungsgericht am liebsten selbst, und die Verfassungsrichter*innen kennen ihre Rechtsprechung. Würde etwa der verfassungsrechtliche Maßstab in einem Entscheidungsentwurf verschoben, würden die Verfassungsrichter*innen das bemerken und beanstanden. Die Frage, mit welcher Intensität die Verfassungsrichter*innen die Arbeit ihrer wiss. Mitarbeiter*innen tatsächlich überprüfen74, muss eine Frage des wohlabgewogenen Einzelfalls sein, und lässt sich letztlich nur von den Verfassungsrichter*innen selbst beantworten. Berechnet ein*e Verfassungsrichter*in z. B. die Frist auch bei einem*einer langjährigen Mitarbeiter*in immer noch einmal selbst? Damit ist die Frage nach dem Einfluss der wiss. Mitarbeiter*innen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach den Freiheitsgraden bei der Bearbeitung von Kammersachen, aber auch von Senatsverfahren, letztlich keine Frage, die die Arbeit der wiss. Mitarbeiter*innen betrifft, sondern eine Frage der Arbeitsweise der einzelnen Verfassungsrichterin*des einzelnen Verfassungsrichters und damit eine Frage der „Black Box: Verfassungsrichter*innen“. In die Köpfe der Verfassungsrichter*innen kann niemand gucken.

III. Black Box: Verfassungsrichter*innen Die Verfassungsrichter*innen sind weder unsichtbar noch gesetzlos. Ihrer herausgehobenen Position am Bundesverfassungsgericht entsprechend, als diejenigen, die tatsächlich die Entscheidungen treffen, werden sie auf den Internetseiten des Bundes71 Vgl. Körner (Fn. 5). 72 Vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 39 f. 73 Zum unterschiedlichen Einfluss vgl. Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 37. Vgl. sonst auch Janisch (Fn. 9). 74 Vgl. dazu auch Lenz/Hansel (Fn. 4), § 90, Rn. 39 f. Kritisch Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 450 f.

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verfassungsgerichts jeweils kurz vorgestellt. Ihre Aufgaben sind nicht nur in der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch (grund‐)gesetzlich geregelt. Die Praxis zeigt, dass es die Arbeitsteilung am Bundesverfassungsgericht trotz ausgesprochen hoher Belastungen zulässt, dass die Verfassungsrichter*innen das, was die wiss. Mitarbeiter*innen vorbereiten, auch tatsächlich noch selbst durcharbeiten können.75 Die Zahl der Anmerkungen an den Voten sowohl in Kammersachen als auch in Senatsverfahren, die Zahl der gestellten Rückfragen und auch die Intensität der geführten Diskussionen zeigen, dass die Verfassungsrichter*innen die Voten nicht nur durcharbeiten können, sondern mit einer durchweg hohen Kontrolldichte tatsächlich auch durcharbeiten.76 Dies gilt nicht nur für die „eigenen“ Verfahren, sondern auch für die anderer Dezernate. Werden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kritisiert77, trifft diese Kritik daher in erster Linie die Verfassungsrichter*innen und das nicht nur im Senat, sondern auch in den Kammern.

IV. Fazit Der Blick in die Box lohnt sich. Er zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht das Vertrauen, das vor allem die Bürger*innen sowie insbesondere auch die Beschwerdeführer*innen in seine Rechtsprechung setzen, auch was die Verfassungsmäßigkeit seiner Arbeitsweise angeht, verdient hat. Die wiss. Mitarbeiter*innen arbeiten nicht im Verborgenen. Wer sich nach ihrer Arbeit erkundigt, bekommt auch eine Antwort. Ein Gericht im Gericht – mit geheimen Kammern78 – gibt es nicht. Die Verfassungsrichter*innen bilden zusammen mit allen Mitarbeiter*innen am Bundesverfassungsgericht, wissenschaftlich oder nicht, „das Bundesverfassungsgericht“. Sie alle tragen dafür Sorge, dass die eingehenden Verfahren nach bestem Wissen und Gewissen bearbeitet werden.79

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Vgl. zuletzt Hiéramente (Fn. 5), S. 57; Hömig (Fn. 7), § 2, Rn. 10. Vgl. zur Zurückweisung dieser Kritik insbes. Volp (Fn. 6), § 1, Rn. 124 ff. Vgl. etwa bei Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 451 und 454. Vgl. Zuck, in: van Ooyen/Möllers (Fn. 3), S. 449. Zum „ansteckenden Korpsgeist“ – gerade auch in besonderen Zeiten – vgl. Janisch (Fn. 9) u. a. auch mit einem Zitat zur „Wertschöpfungskette“.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht? Von Thomas Gawron

Abstract Der Beitrag plädiert dafür, das Institut des amicus curiae in das deutsche Verfassungsprozessrecht einzuführen. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis ist es seit dem 13. Jahrhundert bekannt, inzwischen auch im internationalen Recht heimisch geworden; und sogar das deutsche private und öffentliche Recht kennen Institute, die der Figur des amicus curiae nahe kommen. Dem deutschen Verfassungsprozessrecht hingegen ist das Institut des amicus curiae fremd. Bezeichnenderweise wird es in dem Bericht der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts1, in den Kommentaren zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz2 und in den einschlägigen Lehrbüchern3 eher beiläufig oder gar nicht erwähnt.

I. Amicus curiae in den Vereinigten Staaten von Amerika Als sich die amerikanischen Kolonien an der Ostküste Amerikas vom britischen Mutterland lossagten und die Vereinigten Staaten von Amerika gründeten, übernahmen sie gleichwohl die Rechtstradition des common law und damit das zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine gut vierhundertjährigen Tradition zurückreichende Institut des amicus curiae. Es waren „zufälligerweise im Gerichtsaal anwesende Juristen, nicht Prozessbeteiligte, die als Dritte das Gericht auf einschlägige Präzidenzentscheidungen, anwendbare Gesetze und einschlägige Literatur hinwiesen oder allgemein die eigene Rechtsauffassung zu der verhandelten Rechtsstreitigkeit“ äußerten.4

1 2

3

4

Bundesministerium der Justiz, Bericht der Kommission Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, 1998. Genannt werden sollen an dieser Stelle Barczak, BVerfGG – Mitarbeiterkommentar, 2018; Burkiczak/ Dollinger/Schorkopf, BVerfGG – Neuausgabe, 2015; Lenz/Hansel , BVerfGG – Handkommentar, 3. Aufl., 2020; Lechner/Zuck, BVerfGG – Kommentar, 8. Aufl., 2019; Maunz/Schmidt-Bleitreu/Klein/Bettge, BVerfGG – Loseblatt, Stand 2020. Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht – Lehrbuch, 4. Aufl., 2020; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht – Studienbuch, 5. Aufl., 2020; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 1991; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl., 2016; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl., 2018; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 2017. Kühne, Amicus curiae, 2015, S. 34.

Recht und Politik, Beiheft 9 (2021), 118 – 139

Duncker & Humblot, Berlin

Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

Im 19. Jahrhundert setzte jedoch eine Entwicklung ein, die den Charakter der amicus curiae veränderte: Aus dem neutralen Berater des Gerichts wurde ein interessierter Dritter, der seine Stellungnahme dazu nutzte, den Ausgang des Verfahrens nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen.5 Ursache dieser Entwicklung waren vor allem die Interessenskonflikte, die sich aus der dualen Gerichtsstruktur von Staaten- und Bundesgerichten ergaben. Die Gerichte gingen dazu über, Interventionen durch Dritte in größerem Umfang zu gestatten.6 Es war zunächst die öffentliche Hand, die amicus curiae-Stellungnahmen nutzte, um systematisch auf gerichtliche Entscheidungen Einfluss zu nehmen.7 Mit Schaffung des Department of Justice im Jahr 1871 war es der US-Bundesregierung möglich, die eigenen politischen Vorstellungen auch vor Gerichten darzustellen.8 Die zunehmende Regulierung unternehmerischen Handelns durch die Zentralregierung9 provozierte zahlreiche Organisationen zur Gründung von Interessensvertretungen. „So entstanden Gewerkschaften, Handelskammern, Unternehmensverbände … und Berufsverbände. Bald bildeten sich auch Bürgergruppierungen.“10 Als Mittel zur Einflussnahme auf Gericht entdeckten die privaten Interessengruppen die Möglichkeiten von Stellungnahmen als amicus curiae. Vor allem die amerikanische Bürgerrechtsbewegung verstand den amicus curiae brief als Instrument politischer Einflussnahme11 und nutzte ihn als Druckmittel, um die Richter im Rahmen ihrer Rechtsfindung gezielt beeinflussen zu können.12 Im gesamten 20. Jahrhundert nahm die Zahl von amicus curiae-Stellungnahmen stetig zu. Ende der 1990er Jahre wurde in 95 Prozent der Entscheidungen des U.S. Supreme

5 Banner, The Myth of the Neutral Amicus Curiae, 2003, S. 118 f. Stuart Banner hat in seiner Untersuchung über amici curiae im Jahrhundert 1790 bis 1890 gezeigt, dass der Dritte als neutraler amicus curiae nur in den Anfangsjahrzehnten der Vereinigten Staaten existierte. Lediglich in den Jahren 1790 – 1820 agierten sie überwiegend als Neutrale. Siehe Tabelle Amicus Participation in Reported American Cases, 1790 – 1890, S. 119. 6 Hirte, Der amicus-curiae-brief, 1990, S. 16. 7 Hazard, The Role of the Ministre Public in Civil Proceedings, 1974, S. 212 ff. 8 Krislov, From Friendship to Advocacy, 1963, S. 695 ff. 9 Der U.S. Supreme Ccourt unterstützte diese Entwicklung durch extensive Auslegung der Interstate Commerce Clause Art. I, Section 8, Clause 3 – U.S. Verfassung – und der Taxing and Spending Clause – Art. I, Section 8, Clause 1 – U.S.Verfassung. 10 Kühne 2015 (Fn. 4), S. 45. 11 Krislov 1963 (Fn. 8), S. 709. 12 Ruthemeyer, Der amicus curiae brief im internationalen Investitionsrecht, 2014, S. 72. Der Gebrauch des Instituts amicus curiae brief kann als frühe Geburtsstunde der strategic litigation verstanden werden. Zu strategic litigation siehe Rogowski, Implementation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – Teil 2, mit zahlreichen Hinweisen, 2018; Hahn, Strategische Prozessführung, 2019; Müller, Begriffe, Ansprüche und Wirklichkeiten, 2019, sowie Gawron, Bundesverfassungsgericht und organisierte Interessen II, Abschnitt II 6 Strategic Litigation? 2. Aufl., 2021 (i.E.).

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Thomas Gawron

Court mindestens ein amicus curiae brief eingereicht.13 In einzelnen Rechtsstreitigkeiten gingen inzwischen sogar über 100 amicus curiae briefs ein.14 Die für die jüngste Dekade – 2010 – 2019/2020 – vorgelegte Übersicht der Anwälte Franze und Anderson zeigt, dass im abgelaufenen Jahrzehnt jede Entscheidung des Supreme Court mit amicus curiae-Eingaben konfrontiert war. Die folgende Tabelle 1 demonstriert die Entwicklung. Tabelle 1 Amcius-Participation in Argued Cases 2010 – 2020 Number of cases

Total amicus briefs filed

Briefs per case

Participation rate

OT 2010

78

715

9

94 %

OT 2011

69

715

10

94 %

OT 2012

74

1.003

14

96 %

OT 2013

69

818

12

96 %

OT 2014

67

790

12

98 %

OT 2015

68

863

13

93 %

OT 2016

64

632

10

98 %

OT 2017

61

865

14

100 %

OT 2018

69

729

11

96 %

OT 2019

57

911

16

97 %

Totals

676

8.041

12

96 %

Quelle: Anthony J. Franze/ R. Reeves Anderson, Amicus Curiae at the Supreme Court: Last Term and the Decade in Review, The national Law Journal, November 2020.

Es existieren zahlreiche Studien in der U.S. amerikanischen Literatur, die detailliert die Entwicklung der amici curiae briefs im vergangenen Jahrhundert untersucht und ihren Einfluss auf die Entscheidungen des U.S. Supreme Court analysiert haben.15 Im 13 Kearney/Merill, The Influence of Amicus Curieae Briefs on the Supreme Court, 2000, S. 749 f.; Sandstrom Simard, An Empirical Study of Amicus Curiae in Federal Court, 2007, S. 12; Harringten, Amici curiae in the Federal Courts of Appeal: How friendly are they?, 2005, teilt eine Zunahme allein im Jahrzehnt 1992 – 2002 von 14,5 Prozent mit, S. 680. 14 Den Spitzenwert stellt wohl mit 136 eingereichten amicus curiae briefs das Verfahren National Federation of Independent Business (NFIB) vs. Selins (Obamacare) dar. Siehe Bayness/Vicini, With friends like these, 2012 – zitiert von Kühne 2015 (Fn. 4), S 62. Zu „Obamacare“ siehe Roth, „Obamacare“. Die US-Gesundheitsreform im föderalen Mehrebenensystem der USA, 2018. 15 Neben den in voranstehenden Fn. zitierten Autor(inn)en sollen – ebenfalls pars pro toto – die Arbeiten von Collins, Friends of the Court: Examining the Influence of Amicus Curiae Participation in U.S. Supreme Court Litigation, 2004; Collins/Solowiej, Interest Groups Participation, Competition and Conflict in the U.S. Supreme Court, 2007; Collins, Friends of the Supreme Court: Interest Groups and Judicial Decision Making, 2008; Orr Larsen, The Trouble

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

Hinblick auf eine Vergleichbarkeit mit Daten, die das Bundesverfassungsgericht publiziert hat16, sei aus der Fülle des Materials nur auf zwei Übersichten hingewiesen: Die bereits zitierten Anwälte haben Zusammenstellungen von Fallzahlen und von Akteuren veröffentlicht, die in Argued Cases briefs vorgelegen haben, David M. Scott hat in seiner Analyse gezeigt, dass 30,7 Prozent der Amicus curiae briefs sich auf Civil Rights and Liberties beziehen, 27 Prozent Strafrecht und Strafprozessrecht bzw. Strafvollzugsrecht zum Inhalt haben, 23,7 Prozent ökonomische Fallkonstellationen betreffen und 18,1 Prozent Justizangelegenheiten und föderative Aspekte.17 Der genannte Autor hat auch die beim U.S. Supreme Court eingereichten Briefs über einen Zeitraum von dreißig Jahren gezählt (1976 – 2006) und die 15 Gruppen benannt, die am häufigsten tätig geworden sind. Adam Feldmann ergänzt seine Analyse durch Aufzählung von 12 wichtigsten Gruppen des Terms 2017/2018.18 Die Häufigkeiten haben sich wenig geändert. Seine Liste der TOP Dozen von Amicus Files Filers des Term 2017/2018 dokumentiert eine Übereinstimmung von fünf der zwölf AmicusGruppen mit der Liste von Scott.19 Die beiden Anwälte Franze und Anderson ergänzen diese Feststellungen, indem sie für den letzten Term 2019 – 2020 eine Übersicht zusammengestellt haben, die die Autorenschaft der beim US Supreme Court eingereichte Briefs der Kategorie „Argued Cases“ nach Herkunftsgruppen (Nongovernmental, U.S. Central und State/Local) unterscheiden. Ihre Zusammenstellung belegt eindrucksvoll das starke Übergewicht der Nongovernment amicus briefs (n=830) gegenüber den staatlichen briefs der zentralen, einzelstaatlichen und lokalen/ kommunalen Ebenen (n=81): Zehnmal so viele amici curiaeStellungnahmen gesellschaftlicher Akteure erreichen den U.S. Supreme Court als die Eingaben der Zentralen Organisation, der Einzelstaaten und der lokalen/kommunalen Institutionen. Wie ich weiter unten zeigen werde, verhält sich das Verhältnis zwischen

16 17 18 19

with Amicus Facts, 2014; Orr Larsen, The Amicus Machine, 2016; Johnson/Sorenson, The U.S. Supreme Court’s, Stratetic Decision-Making Process, 2017, Part Decision on the Merits: Litigant Briefs, in: Rogowski/Gawron, Constitutional Courts in Comparison, 2. Aufl., 2017, S. 125 – 128; die Dissertation Ph.D von Scott, Friendly Fire: Amicus Curiae Participation and Impact at the Roberts Court, 2013; und Franze/Anderson, Amicus Curiae at the Supreme Court: Last Term and the Decade in Review, 2020, genannt sein. Siehe Teil VII. Scott 2013 (Fn. 15), Table 4.1 Amicus Curiae Briefs by issue Areas, 2007 – 2011 Terms, S. 121. Adam Feldmann, A lot of Stake: Amicus Files 2017/2018 in Empirical Scotus, 16. Januar 2018. Es sind die American Civil Liberties Union (ACL), die National Association of Criminal Defense Laywers (NACBL) der Chamber of Commerce of United States of America (CofC) der Legal Defense and Educational Fond (NAACP) und Pacific Legal Foundation (PLF). Bemerkenswert ist, dass in der Zusammenstellung von Scott eine Menge staatlicher Institutionen auftauchen (National Associations of Counties, National Legue of Cities, U.S. Conference of Majors, Council of State Governance, National Conference of State Legislatures and National Governors Associations), während Feldmann nur Unites States aufführt.

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den Stellungnahmen staatlicher und privater Akteure beim Bundesverfassungsgericht fast genau umgekehrt.20 Tabelle 2 Autorenschaft Amicus Curiae Briefs im Term 2019 – 2020 nach Herkunftsgruppe Number of cases

Nongovernment amicus briefs

U.S. amicus briefs

State/local gov. amicus briefs

Signed decisions

53

768

24

51

Per curiam opinions

3

52

2

2

Dismissed

1

10

1

1

Totals

57

830

27

54

Quelle: Anthony J. Franze/ R. Reeves Anderson, Amicus Curiae at the Supreme Court: Last Term and the Decade in Review, The national Law Journal, November 2020.

Die Annahmebedingungen eines amicus curiae brief sind relativ gering. Als Zugangshürde kann nur die Formel der Regel (Rule) 37 Abs. 1 Prozessordnung des U.S. Supreme Court angesehen werden, der zufolge „ein Amicus-Curiae-Schriftsatz, der den Gerichtshof auf relevante Angelegenheiten aufmerksam macht, auf die die Parteien noch nicht hingewiesen haben, für den Gerichtshof von erheblicher Hilfe ist. Ein Amicus curiae Brief, der diesem Zweck nicht dient, belastet den Gerichtshof; und seine Einreichung wird nicht befürwortet.“21 Besondere Anforderungen an die Person des Antragstellers werden nicht gestellt. Allerdings müssen alle Prozessparteien der Annahme des Schriftsatzes zustimmen.22 Wenn eine Partei die Zustimmung verweigert, kann das Gericht eine Erlaubnis zum Einreichen erteilen.23 Der Antragsteller muss sein Verhältnis zu den Verfahrensparteien darlegen, insbesondere in finanzieller Hinsicht.24 Dabei sind Fristen einzuhalten.25 Im Wesentlichen existieren zwei Formen der amicus-curiae-Beteiligung: (1) Beteiligung auf eigene Initiative und (seltener) (2) Beteiligung nach gerichtlicher Aufforderung. Nur in sehr wenigen Fällen ordnet das Gericht eine Stellungnahme an.26 Demgegenüber sind die Voraussetzungen, unter denen sich Dritte auf eigene Initiative an das Gericht wenden können, in den einschlägigen Verfahrensordnungen der einzel- und der

20 21 22 23 24 25 26

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Siehe Teil VII. Rule 37 Supreme Court Brief for an Amicus Curiae, Abs. 1 Sätze 1 und 2. Rule 37, Abs. 2a erster Halbsatz a.E. Rule 37 (Fn. 21), i.V. Rule 37, Abs. 2b. Rule 37, Abs. 6. Rule 37, op.cit., passim. Kühne 2015 (Fn. 4), S. 58 f.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

bundesstaatlichen Gerichte oft detailliert geregelt.27 Hervorzuheben ist, dass die Richter nicht verpflichtet sind, auf den amicus curiae brief einzugehen, sich mit ihm auseinanderzusetzen oder ihn gar in ihrem Votum zu zitieren.28 Allerding werden U.S. amerikanische Wissenschaftler/innen, die sich mit der Arbeit des U.S. Supreme Court beschäftigen, nicht müde, aufzuzählen, in welchen Voten von welchen Richter(inne)n sich Erwähnung bzw. Stellungnahmen zu entsprechenden Schriftstücken finden.29 Das Institut des amicus curiae hat sei seiner „Erfindung“ in England des 13. Jahrhunderts eine Entwicklung durchlaufen, die sich vom Berater zum Lobbyisten kennzeichnen lässt. In historischer Perspektive können vier Typen des amicus curiae unterschieden werden: (1) Der klassische oder traditionelle Amicus ist weder Advocat, noch Intervent, noch eine Partei im Verfahrensgang. Sein Beitrag zum Prozessgeschehen besteht in Informationen an das Gericht über Präjudizien und aufgeworfene Rechtsfragen ohne persönliches Interesse am Fall. (2) In England des 14. Jahrhunderts ändert sich die Rolle des Amicus, weil mit Etablierung einer gesamtstaatlichen Justiz das Bedürfnis an regelmäßiger und fachlich fundierter Beratung im Prozess wächst, insbesondere bei Strafverfahren. (3) Der unterstützende Amicus nimmt als ein Drittbeteiligter aktiv am Prozessgeschehen teil, einerseits aus persönlichem und direktem Interesse an der Position einer Partei, andererseits als Unterstützer staatlicher Administrationen, indem er das Gericht über Fragen des Allgemeinwohls informiert. (4) Der Amicus avanciert zum Vertreter einer Interessensgruppe oder Organisation, die eine eigene spezifisch soziale/ gesellschaftliche oder politische Agenda verfolgt.30 (5) Nicht als neuer Typ, wohl aber als Tendenz der letzten Jahrzehnte ist eine starke Zunahme der amicus curiae briefs zu verzeichnen, die die Gerichte zur Modifikation ihrer materiellen Zulassungskriterien führten.31 Über alle Wandlungen hinweg bleiben aber fünf Elemente für das Institut wesentlich: 1. Amici curiae treten stets als Dritte, nicht als Partei auf. 2. Sie sind bemüht, mit ihren Stellungnahmen, Beeinträchtigungen für andere Dritte, die ebenfalls nicht Prozesspartei sind, durch ihre Voten zu verhindern.

27 State Appellate Courts, Rules of the Supreme Court of the United States, 2021; Corbally/ Bross, A practical Guide for Filling American Briefs in State Appellate Courts, 2001; Federal Rules of Appelate Procedure, 2019. Siehe für U.S. Supreme Court: Kühne 2015 (Fn. 4), S. 63 – 68. 28 Zuck, Amicus curiae – der unaufgeforderte Schriftsatz im Verfassungsbeschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht, in: NVwZ 2016, S. 1131. 29 Statt aller: Franze/Anderson 2020 (Fn. 15) Tabelle 1, S. 2, und Tabelle Supreme Court Amicus Citation 2010 – 2020, S. 5. 30 Zusammenfassung nach Mohan, The Amicus Curiae: Friends No More?, 2010, S. 14 – 19 m.w.N. 31 Harringten 2005 (Fn. 13); Tobias, Resolving amicus Curiae Motions in the Third Circuit and Beyond, 2009.

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3. Rechtliche Erwägungen, Theorien und Argumentationslinien bleiben Kernbestand von amicus curiae briefs.32 4. Als Charakteristikum der U.S. amerikanischen amicus curiae briefs kann angesehen werden, dass die umfassenden Informationen zur Normauslegung und Normbildung sich auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse empirischer Erhebungen stützen (sogenannte Legislative Facts).33 5. Amicus curiae briefs liegt ein asymmetrisches Beteiligungsverhältnis zu Grunde. Dem Recht auf Stellungnahme steht kein Recht auf Kenntnisnahme seitens des Gerichts gegenüber.34

II. Amicus Curiae im deutschen Recht Nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika kennen das Institut der amicus curiaeSchriftsätze.35 Auch wenn das deutsche Prozessrecht den Begriff amicus curiae nicht kennt, sind Beteiligungen Dritter an einem Gerichtsverfahren möglich. Sowohl im Zivilrecht wie im Öffentlichen Recht können unter bestimmten Bedingungen Gerichten (sachkundige) Dritte beiziehen. Befördert durch das Regime europarechtlicher Normierung existieren in einigen Gesetzen Verfahren, die der Durchsetzung von Allgemeininteressen36 dienen. Zu nennen sind Verbandklagen, Gruppenklagen und Musterklageverfahren,37 vornehmlich im Verbraucherrechtsschutz38, sowie im Natur-/ Tier- und Umweltschutzrecht.39

32 Lynch, Best Friends? Supreme Court Law Clerks an Effective Amicus Curiae Briefs, 2004. 33 Gorod, The Adversarial Myth: Appellate Court Extra Record Fact-Finding, 2011; kritisch Rustad/König, The Supreme Court and Junk Social Science: Selective Distortion in Amici Briefs, 1993. 34 Scott Simmons, Picking Friends from the Crowd; Amicus Participation as Political Symbolism, 2009; Garcia, A Democratic theory of amicus Advocacy, 2008. 35 Sowohl im internationalen Wirtschaftsrecht (Welthandelsrecht und Internationales Investitionsrecht) und im Völkerstrafrecht (Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) als auch in Menschenrechtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommen amicus curiae-Stellungnahmen zur Anwendung. Die Ausführungen zu Amicus Curiae in der internationalen Gerichtsbarkeit sowie im deutschen Zivil- und öffentlichen Recht finden Sie ausführlich in Gawron, Amicus curiae und Dritte nach BVerfGG. Stellungnahmen Dritter vor dem U.S. Supreme Court und vor dem Bundesverfassungsgericht, 2021. 36 Koch, Prozessführung im öffentlichen Interesse, 1983. 37 Wissenschaftlicher Dienst Deutscher Bundestag, Zu den Möglichkeiten der Kollektiven Rechtsverfolgung im Rahmen von Verbandsklagen und Musterverfahren, 2006, S. 6 f.; Weimann, Kollektiver Rechtsschutz, 2018. 38 Schilken, Der Zweck des Zivilprozesses und der Kollektive Rechtsschutz, 2008. 39 Rehbinder et al., Bürgerklage im Umweltrecht, bereits 1972; siehe Koch, Die Verbandsklage im Umweltrecht, 2007, und Louis, Deutsches Naturschutzrecht unter dem Einfluss europäischer Richtlinien, 2014.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

Im öffentlichen Recht sollen nur §§ 35 – 37 VwGO erwähnt werden. Ihnen zufolge ist die Beteiligung von Vertretern des öffentlichen Interesses möglich. Die Länder werden ermächtigt, bei dem Oberverwaltungsgericht/ Verwaltungsgericht einen Vertreter des öffentlichen Interesses zu bestimmen. Seine Aufgabe besteht darin, in verwaltungsrechtlichen Gerichtsverfahren das öffentliche Interesse zu wahren, wobei das öffentliche Interesse mit Gemeindewohlinteresse umschrieben werden kann. Die, wenn auch nur noch in drei Bundesländern existierende Institution des Vertreters öffentlicher Interessen (Bundesländer Bayern,40 Rheinland-Pfalz und Thüringen.41) nähert sich dem Institut des amicus curiae am Weitesten an, da die historische Erfahrung sowohl in England wie in den Vereinigten Staaten die wichtige Rolle der öffentlichen Hand in den Gerichtsverfahren gezeigt hat, in denen sie als amicus curiae aufgetreten ist.42

III. Zugang zum Bundesverfassungsgericht Zugang zum Bundesverfassungsgericht ist leicht möglich. Das Instrument der Verfassungsbeschwerde steht für alle Bürger/innen nahezu ohne jede Einschränkung offen – und wird auch in großem Umfang genutzt. Zurzeit pendelt der jährliche Eingang an Verfassungsbeschwerden um die 5500er Marke.43 So einfach der Zugang zum Verfassungsgericht ist, so komplex sind die Regelungen des BVerfGG, da das Gericht nicht nur die Bürger-Beschwerden, sondern eine Vielzahl von Klagen zu bearbeiten hat, die sich aus seinem Aufgabenkatalog als Staatsgerichtshof ergeben (Art. 93 Abse. 1 – 3 GG). Seine Zuständigkeiten lassen sich neben der Verfassungsbeschwerde einteilen in (a) Organstreite, (b) föderative Streitigkeiten, (c) Normenkotrollen und (d) besondere Verfassungsschutzverfahren und Verfahren der Wahl- und Mandatsprüfung.44 Entsprechend komplex sind die Rechte der Beteiligung ausgestaltet. Das Verfassungsprozessrecht des Bundesverfassungsgerichts kennt einen differenzierten Katalog von Rechten der Beteiligten, des Beitritts zum Verfahren und von Äußerungsrechten.45 Hier interessieren nur die Äußerungsrechte bei Verfassungsbeschwerden.

40 Freistaat Bayern, Verordnung über die Landesanwaltschaft (o. J.). 41 Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales, Vertreter des öffentlichen Interesses (o. J.), Der Freistaat Thüringen umreißt die Aufgabe des Vertreters öffentlicher Interessen folgendermaßen: „Der Vertreter öffentlicher Interessen ist nicht Parteivertreter, sondern ausschließlich dem Recht und dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet.“ 42 Siehe oben Teil I. 43 Bundesverfassungsgericht, Jahresbericht 2020, Verfahren – A IV 2 Verfassungsbeschwerden – Anteil der stattgegebenen an den entschiedenen Verfassungsbeschwerden pro Jahr seit 1987, 2021. 44 Schlaich/Korioth 2018 (Fn. 3), Teil 1, RdNr. 9. 45 Schlaich/Korioth 2018 (Fn. 3), Teil 3 III, RdNrn. 61 – 65.

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Verfassungsbeschwerden sind kontradiktorische Verfahren, d. h. die typische Konstellation zwischen Klage-Erhebenden und Klage-Gegnern existiert nicht. Damit das Verfassungsgericht nicht auf den einseitigen Vortrag des Beschwerdeführenden und der Beiziehung der Gerichtsakten in den Fällen der Urteilsverfassungsbeschwerde angewiesen ist, wird der Kreis der Äußerungsberechtigten massiv ausgeweitet: Auch am Beschwerde-Verfahren erhalten unbeteiligte Dritte ein Äußerungsrecht. Dieses Recht unterscheidet zwischen staatlichen Organen (§ 94 BVerfGG) und „sachkundigen Dritten“ (§ 27a BVerfGG). Nur die zweite Gruppe wird als Dritter verstanden (siehe dazu Teil V); allerdings spricht die Überschrift von § 94 BVerfGG ebenfalls von Dritten, obwohl die in § 94 BVerfGG genannten Organe und Institutionen nicht als Dritte i.S. von § 27a BVerfGG angesehen werden. Für § 94 BVerfGG gilt, dass das „verletzende“ Organ (Gesetzgeber, Regierung, Verwaltung, Gerichte) Gelegenheit zur Äußerung „binnen einer bestimmten Frist“46 erhält (§ 94 Abse 1 a.E. BVerfGG). Bei Beschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen (Urteil-Verfassungsbeschwerde) erhält auch der durch die Entscheidung Begünstigte Gelegenheit zur Äußerung (§ 94 Abs. 3 BVerfGG); bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze ist eine analoge Anwendung des § 77 BVerfGG vorgesehen (§ 94 Abs. 4 BVerfGG).47 Schließlich enthält § 27a BVerfGG die Ermächtigungen des Bundesverfassungsgerichts, von sich aus am Rechtsstreit nicht beteiligte Dritte um Stellungnahmen zu bitten.48 Wer „Dritter“ i.S. § 27a BVerfGG ist, lässt sich nur negativ bestimmen.49 Nicht Dritte sind zunächst die Verfahrensbeteiligten50, weiterhin Äußerungsberechtigte gemäß §§ 77, 82 Abse. 1 und 4 sowie 94 Abse. 1 bis 4 BVerfGG (im Rahmen der für sie geltenden Vorschriften) sowie Zeugen und Sachverständige.51 Gerichte und Behörden sind nicht Dritte, soweit sie im Rahmen eines Amts- oder Rechtshilfeersuchens nach § 27 BVerfGG tätig werden.52 Ihre Stellungnahmen sind kein Beweismittel und erfordern weder eine Beweisaufnahme, noch sind sie deren Bestandteil.53 Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde stehen somit die Äußerungsrechts sowohl Betroffenen wie auch unbeteiligten Dritten zu. Dabei erlangen § 94 Abse. 1 bis 4 46 Wortlaut § 94 Abs. 1 a.E.; es handelt sich nicht um eine Ausschlussfrist – siehe Nettersheim, in: Barczak 2018 (Fn. 2), Kommentierung § 94 BVerfGG RdNr. 16 Fn. 18 m.w.N. 47 Siehe ergänzend §§ 22 Abse. 5 und 41 GO BVerfG. 48 Siehe ergänzend §§ 22 Abse. 5 und 41 GO BVerfG. 49 Lechner/Zuck 2019 (Fn. 2), § 27a RdNr. 2. 50 Meskouris, in: Barczak 2018 (Fn. 2), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 4. 51 Meskouris, op.cit., § 27a BVerfGG RdNr. 5. 52 Meskouris, op.cit., § 27a BVerfGG, RdNrn. 7 und 11. 53 Haberzettl, in: Burkiezak 2015 (Fn. 2), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 12; a.A. Kluth, Beweiserhebung und Beweiswürdigung, NJW, 1999, S. 3514; differenzierend Benda/Klein/ Klein 2020 (Fn. 3), § 10 II, RdNrn. 239 ff.; eigener Vorschlag Kühne 2015 (Fn. 4), § 2 B II 2 b – cc, S. 315 ff. „Beweismittel sui generis“.

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BVerfGG bei Verfassungsbeschwerden besondere Bedeutung, weil sie dem Verfassungsgericht die Möglichkeit eröffnen, staatliche Organe zur Stellungnahme aufzufordern, die ohne Existenz dieser Vorschrift keine Berechtigung zur Abgabe einer Stellungnahme hätten. Die Gesetzesvorschrift stellt sicher, dass die in den Absätzen 1 bis 4 genannten Funktionsträger und Privatpersonen, die vom Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens negativ betroffen sein können, gemäß Art. 103 Abs. 1 GG einen Anspruch auf rechtliches Gehör geltend machen können.54 Demgegenüber erweitert § 27a BVerfGG die Optionen für das Gericht, sonstige Dritte, die keinen Anspruch auf rechtliches Gehör haben, als „sachkundige Dritte“ zum Einreichen ihrer Stellungnahme aufzufordern. Auf die spezifischen Anforderungen und auf den tatsächlichen Gebrauch dieser Vorschriften wird in den drei folgenden Abschnitten näher eingegangen.

IV. § 94 BVerfGG in der rechtswissenschaftlichen Literatur Die in § 94 BVerfGG formulierten Anhörungsrechte von Verfassungs-, Exekutiv-, Legislatur- und teilweise sogar von Judikativorganen tragen dem Umstand Rechnung, dass es bei dem nicht-kontradiktatorischen Verfahren der Verfassungsbeschwerden keine Beschwerdegegner und keine sonstigen Beteiligten existieren.55 Die Vorschrift ist komplex aufgebaut; demgemäß ist ihr Anwendungsbereich nicht immer auf den ersten Blick erkennbar.56 Art und Weise der Anhörung sowie der Kreis der anzuhörenden Stellen und Personen sind zunächst von der Einschätzung des jeweiligen Berichterstatters abhängig. Geht dieser von einer Befassung des Senats aus, erfolgt die Anhörung durch den Vorsitzenden des zur Entscheidung gemäß der Geschäftsverteilung als zuständig erklärten Senats auf Vorschlag des Berichterstatters (§ 22 Abs. 2 GO BVerfGG).57 Der/die Berichterstatter/ in wird zwar in der veröffentlichten Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht genannt, lässt sich aber über den jährlich veröffentlichten Geschäftsverteilungsplan jedes Senats erschließen.58 Bei der Entscheidung in den Kammern steht regelmäßig deren Interesse an einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn und an der Verfahrensförderung im Vordergrund.59 54 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge 2020 (Fn. 2), Kommentierung RdNr. 2 zu § 94 BVerfGG. 55 Übereinstimmend Haberzettl, in: Burkiczak 2015 (Fn. 2), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 3; Nettersheim, in: Barczak 2018 (Fn. 2), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 1; Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 94 BVerfGG RdNr. 2; Hömig 2020 (Fn. 54), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 1. 56 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 94 BVerfGG, RdNr. 4. 57 Haberzettl 2015 (Fn. 55), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 5. 58 Aktuell Bundesverfassungsgericht, Verfahren – Geschäftsverteilung – Geschäftsverteilung des BVerfG für das Geschäftsjahr 2021 – Anlage zum Geschäftsverteilungsbeschluss, 2021. 59 Netterheim 2018 (Fn. 55), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 5.

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Thomas Gawron

Der in § 94 Abse. 1 bis 4 genannte Kreis der von Gesetzes wegen Äußerungsberechtigten wird durch § 22 Abse. 4 und 5 GO BVerfGG um Personen und Institutionen erweitert, von denen der/die Senatsvorsitzende auf Vorschlag des/der Berichterstatters/ in nach Ermessen Stellungnahmen anfordern kann.60 § 22 Abs. 4 Satz 2 GO BVerfG i.V. § 82 Abs. 4 BVerfGG ermöglicht es, auch in Verfahren der Verfassungsbeschwerde Stellungnahmen von obersten Bundes- und Landesgerichten einzuholen. Deren Stellungnahmen kommt besondere Bedeutung zu, wenn die um Stellungnahme ersuchten Gerichte aufgrund des Instanzenzuges keine Gelegenheit erhielten, sich mit dem Ausgangsverfahren zu befassen oder wenn mehrere Gerichtszweige zu den entsprechenden Rechtsfragen Beiträge liefern können.61 § 94 Abs. 2 BVerfGG schreibt vor, dass in Fällen, in denen eine Handlung oder Unterlassung von einem Minister oder einer ihm untergeordneten Behörde des Bundes oder eines Landes ausgeht, dem zuständigen Minister Gelegenheit zur Äußerung zu geben ist. Die Literatur zählt auch Gerichte als Behörde, obwohl diese Interpretation unter Gesichtspunkten der Gewaltenteilung nicht zwingend ist.62 Das Bundesverfassungsgericht folgt der in der Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung63 und praktiziert das Anhörungsrecht regelmäßig zu Gunsten des jeweiligen zuständigen Justizministers.64 Wird neben der Entscheidung der Fachgerichte auch die Ausgangsentscheidung einer Behörde angegriffen, ist neben dem Bundes- oder Landesjustizministers auch das jeweilige Fachministerium, dem die Verwaltungsbehörde i. d. R. fachaufsichtlich untersteht, äußerungsberechtigt.65 Die Äußerungsberechtigten erlangen durch die Abgabe ihrer Stellungnahme nicht den Status eines Verfahrensbeteiligten, sondern bleiben Dritte, wenn auch nicht im Sinne von § 27a BVerfGG. Ihnen räumen indessen § 94 Abse. 1, 2 und 4 BVerfGG das Recht ein, durch Beitritt die Stellung eines Verfahrensbeteiligten zu erwerben. Der Beitritt erfolgt durch ausdrückliche Erklärung gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, die durch einen dokumentieren Beschluss des Verfassungsorgans legitimiert sein muss.66

Hömig 2020 (Fn. 54), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 4. Haberzettl 2015 (Fn. 55), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 7. Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 94 BVerfGG, RdNr. 16. Hömig 2020, (Fn. 54), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 13; Haberzettl 2015, [FN55), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 14; Nettersheim 2018 (Fn. 55), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 19. 64 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 94 BVerfGG, RdNr. 18, merken an, dass die Justizminister in der Regel auf Stellungnahmen verzichten. 65 Haberzettl 2015 (Fn. 55), § 94 BVerfGG, RdNr. 15; Nettersheim 2018 (Fn. 55), § 94 BVerfGG, RdNr. 20. 66 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 94 BVerfGG, RdNr. 27.

60 61 62 63

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

V. § 27a BVerfGG in der rechtswissenschaftlichen Literatur In der Kommentar-Literatur zum BVerfGG herrscht übereinstimmend die Ansicht vor, dass das Recht gemäß § 27a BVerfGG „nur in … zahlenmäßig relativ seltenen Fällen“67 bzw. „nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle“68 ausgeübt wird. Diese Aussage steht in einem Gegensatz zur Feststellung, bei „Aufklärung des Sachverhalts und seiner tatsächlichen, zuweilen auch rechtlichen Bewertung [sei – Th.G.] § 27a von großer Bedeutung“.69 Die qualifizierende Einschätzung wird durch die Mitteilung, welche im gesellschaftlichen Raum relevanten Gruppierungen, z. B. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Berufsverbände, soziale Einrichtungen, Umweltschutzorganisationen70, auch Organisationen des öffentlichen Rechts, z. B. Rundfunkanstalten, Kammern und Sozialversicherungsträger71, für die Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung sein könnten, gestützt. Jedoch sind empirisch abgesicherte Aussagen nicht vorhanden, sieht man von dem Hinweis bei Lenz/Hansel über die jährlich durchschnittliche Zahl von Stellungnahmen der Verfassungsrechtsausschüsse der Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen Anwaltsvereins ab.72 Das Forschungsdefizit macht sich gravierend bemerkbar, wenn nach den Wirkungen und Effekten der Anhörung von „sachkundigen Personen“ i.S. § 27a BVerfGG gefahndet wird. Weder sind die zur Entscheidung anstehenden Fälle der Zahl nach bekannt; noch lassen sie eine Zuordnung zu Rechtsmaterien oder zur Qualifizierung etwa von Verfassungsbeschwerden (Urteils-Verfassungsbeschwerden oder Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden) zu. Eine Auflistung nach Charakter der erbetenen Stellungnahmen, seien es einzelne Sachverständige oder Vertreter kollektiver Organisationen, ist ebenso unmöglich wie eine Etikettierung der Beiträge als Sachverhalts-Ermittlung oder als Erörterung einer Rechtsfrage. So nimmt es nicht Wunder, wenn in der deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen Literatur sich nur Spekulationen zu den aufgeworfenen Fragen finden. – Beiträge von Einzelpersonen unterstützen das Gericht bei Sachverhaltsermittlungen und Beweiserhebungen73 67 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 1. 68 Meskouris 2018 (Fn. 50), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 2. 69 Meskouris 2018, ibid.; ähnlich Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 2 „erhebliche Bedeutung“ und Haberzettl 2015 (Fn. 53), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 5 „ganz entscheidende und spezifisch verfassungsgerichtliche Möglichkeit der Schaffung einer Tatsachengrundlage“. 70 Aufzählung von Lechner/Zuck 2019 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 1. 71 Schlaich/Korioth 2018 (Fn. 3), Teil 3 III 3, RdNr. 64. 72 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 5 „jährlich jeweils fünf bis zehn“. 73 Kühne 2015 (Fn. 4), Teil 2, § 2 B II 2 b 2 – cc (3), S. 315 ff.; Lechner/Zuck 2019 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 1; Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 2; Meskouris 2018 (Fn. 50), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 3.

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– Beiträge von kollektiven Organisationen bilden den „gesellschaftlichen Raum“74 und „gesellschaftliche Strömungen“75 ab und verschaffen dem Verfassungsgericht Kenntnis von Positionen der Interessenverbände aus „verschiedenen sozialen Strömungen und Blickwinkeln“.76 – Als Effekt der Stellungnahmen wird angesehen, dass sie dem Gericht „umfassende Kenntnis von allen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorzuführen Auffassungen zu denen zur Entscheidung anstehenden Sach- und Rechtsfragen“ verschaffen können.77 Die Einbindung diverser Personengruppen fördert die Akzeptanz der resultierenden Entscheidung.78 – In bedeutenden Verfahren wird im Einholen von Stellungnahmenverschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Verbände der Versuch des Bundesverfassungsgerichts gesehen, „einen breiten Dialog … zu eröffnen, was eine ausgewogene Sicht der zu beantwortenden Fragen ermöglicht…“79 Eine kursorische Durchmusterung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, deren Text die Verarbeitung von Stellungnahmen zu entnehmen ist, lässt für einige Autoren den Schluss zu, dass das Gericht „regelmäßig im Entscheidungstatbestand als auch in den Entscheidungsgründen auf die Ausführungen des Dritten Bezug nimmt“.80 Die wohl prägnanteste Einschätzung gibt Johannes Meskouris ab: „Durch die Anhörung interdisziplinärer und interkultureller Experten, Verbände und Gruppierungen können die maßgeblichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten erschlossen und Aspekte des Sachverhalts sowie Auswirkungen möglicher Entscheidungsalternativen ermittelt werden, die den primär rechts-wissenschaftlich vorgeprägten Entscheidern nicht unmittelbar ersichtlich gewesen wären.“81 Es bleibt unbekannt, nach welchen Kriterien die – der gerichtsintern jährlich neu justierten Geschäftsverteilung folgend82 – mit der Fallbearbeitung betrauten Richter/ innen die Auswahl der Stellungnehmenden treffen, welche Abstimmungsprozeduren in Kammern und Senaten der Aufforderung zur Stellungnahme an Dritte der Einladung Lechner/ Zuck 2019 (Fn. 2), ibid. Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 5 Satz 5. Meskouris 2018 (Fn. 50), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 20. Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a, RdNr. 2. Meskouris 2018 (Fn. 50), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 3 m.w.N. Haberzettl 2015 (Fn. 53), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 6. Kühne 2015 (Fn. 4), § 2 B II 2b – cc, S. 317 in Fn. 137 unter Berufung auf Bryde, Tatsachenfeststellung und soziale Wirklichkeit, 2001, S. 539. Siehe auch Brink, Tatsachengrundlage verfassungsgerichtlicher Judikate, 2009, und Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971. 81 Meskouris 2018, (Fn. 76), op.cit., ibid. 82 Siehe Bundesverfassungsgericht, Verfahren I – Geschäftsverteilung des BVerfG für das Geschäftsjahr 2021, 2021.

74 75 76 77 78 79 80

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

vorausgehen und welchen Beitrag die wissenschaftlichen Mitarbeiter liefern. Bekannt ist nur, dass je nach Verfahrensart und Fortgang des Verfahrens der Senat, der/die Vorsitzende oder der/die Berichterstatter/in die Entscheidung trifft.83 Der oder die zuständige(n) Richter/innen entscheiden hoheitlich als Verfassungsgericht. Es ist ihren Überlegungen und Kalkülen überlassen, wen und welche organisierte Gruppen sie zur Abgabe einer Stellungnahme ersuchen – oder es unterlassen. Ihre Entscheidungen unterliegen keiner Möglichkeit zu irgendeiner Form der Revision. Es stellt wohl eine Überdehnung des Beratungsgeheimnisses dar, wenn die Entscheidung, wer zu einer Stellungnahme aufgefordert wird, derselben – langjährig geschützten – Veröffentlichungsverboten unterworfen wird, wie die der 60jährigen Geheimhaltung unterliegenden Unterlagen gerichtlicher Entscheidungsvorbereitungen (§ 35b Abs. 5 Satz2 BVerfGG). Das Beratungsgeheimnis erfährt keine Einschränkung, wenn in der veröffentlichten Entscheidung mitgeteilt würde, wer aus welchen Gründen um Stellungsnahme gebeten wurde. In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die Einholung von Stellungnahmen Dritter eine Ermessungsentscheidung darstellt84, die pflichtgemäß ausgeübt werden soll.85 Mit dieser – eher im Polizei- und Ordnungsrecht gebräuchlichen – Formulierung der „pflichtgemäßen Ermessungsausübung“ rücken die Kommentatoren den Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung „kann“ in den dogmatischen Kontext der verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeit ein. Hier bestimmt der Gesetzgeber, in welchen Fällen und in welchem Umfang die Verwaltung ermächtigt ist, das Gesetz schöpferisch zu ergänzen, „nicht um zu sagen, was es selber hier gewollt hat, sondern was sie, die Behörde, für richtig hält“.86 Die Vorstellung einer partiellen Selbstprogrammierung als eigenständiger Teil der Verwaltungsaufgabe ist auch später wieder aufgegriffen worden.87 „Durch die auf gesetzlicher Ermächtigung beruhende Ergänzung des abstrakt vorgegebenen Normprogramms … erweitert die Verwaltung die im konkreten Fall zu berücksichtigenden Faktoren im Zuge einer (begrenzten) Selbstprogrammierung.“88 Ein besonderes Problem, das gelegentlich in der Literatur Erwähnung findet, stellen Schriftstücke dar, die den Charakter eines amicus curiae brief annehmen, den es ja in der Prozessordnung des Bundesverfassungsgerichts nicht gibt. Sachverständige Dritte, die vom Gericht angesprochen werden, eine Stellungnahme gemäß § 27a BVerfGG an83 Haberzettl 2015 (Fn. 53), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 14. Nach Meskouris’ Kommentierung zu § 27a BVerfGG, RdNr. 20 – „sollte der wissenschaftliche Mitarbeiter … eine breite Streuung der Informationsquellen vorschlagen“. 84 Lechner/Zuck 2019 (Fn. 2), § 27a .BVerfGG, RdNr. 3; Haberzettl 2015 (Fn. 83), op.cit., ibid; Benda/Klein/Klein 2020 (Fn. 3), § 10, RdNr. 236. 85 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a BVerfGG, RdNr. 5; Meskouris 2018 (Fn. 76), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 13. 86 Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1924, S. 99. 87 Scholz, Verwaltungsverantwortung, 1976, S. 152, 175 ff. 88 Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, S. 741, RdNr. 85, 2012.

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Thomas Gawron

zufertigen, bezeichnen sie mitunter selber als amicus curiae-Stellungnahme89; in anderen Fällen werden Stellungnahmen als amicus curiae-Stellungnahmen ausgegeben, ohne dass deutlich wird, ob sie aufgrund einer Aufforderung des Gerichts eingereicht wurden oder nicht.90 In unbekanntem Umfang erreichen das Gericht Eingaben, die als amicus curiae bezeichnet werden, ohne dass sie das Gericht angefordert hat. Nach § 63 Abs. 1 GO BVerfG werden solche und ähnliche Schriftstücke unter einem eigenen Aktenzeichen im Allgemeinen Register erfasst, aber bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt.91 Nur in Ausnahmefällen soll der Berichterstatter bzw. der Vorsitzende formlos über die Aufnahme der unaufgeforderten Stellungnahme in die Verfahrensakte entscheiden können,92 nämlich dann, „wenn sie sachdienlich sind“.93 Wie üblich, finden sich in den Angaben des Gerichts in der Rubrik Übersicht über den Geschäftsanfall im Allgemeinen Register (AR)94 keine weiteren Informationen über derartige Eingänge. Rüdiger Zuck merkt an, es sei nicht gesichert, „was mit einer Stellungnahme, die dem berichterstattenden Mitglied der Kammer vorgelegt worden ist, anschließend geschieht. Bleibt sie bei den Verfahrenakten? Geht sie in das AR? Erfährt der Verfasser der amicus curiae-Stellungnahme etwas über ihr Schicksal? Wird sie gegebenenfalls dem Beschwerdeführer zugänglich gemacht?“95 Auch § 63 Abs.1b GO BVerfG lässt den Leser im Ungewissen darüber, ob amicus curiae-Eingaben als Eingaben angesehen werden, die „ein Anliegen geltend gemacht (haben – Th.G.), für das eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts besteht“.96

VI. Anhörungen Dritter (§§ 27a und 94 BVerfGG) in der rechtssoziologischen Analyse Außer den oben erwähnten, ohne Zahlenangaben getroffenen Meinungsäußerungen von Autoren der Kommentarliteratur existieren so gut wie keine auf empirischer Basis aufbauende Kenntnisse über den tatsächlichen Umfang der Stellungnahmen sowohl

89 Beispielsweise das Deutsche Institut für Menschenrechte in Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde (2 BvC 62/14) und der Anerkennung des Geschlechtes auch für nicht binäre Geschlechter (1BvR 2019/16). 90 Beispielsweise ein Amicus Curiae Brief der Gesellschaft für Freiheitsrechte (e.V.) zu den Verfahren 1 BVR 515/20 und 1 BvR 623 – 20 zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Mietenbegrenzung in Berlin (Mieten WOG Berlin). 91 Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2), § 27a, RdNr. 8. 92 Meskouris 2018 (Fn. 76), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 24. 93 Haberzettl 2015 (Fn. 79), Kommentierung § 27a BVerfGG, RdNr. 15. 94 Bundesverfassungsgericht, Verfahren – Jahresstatistik 2020 – D Übersicht über den Geschäftsanfall im Allgemeinen Register, 2021. 95 Zuck, op.cit. (Fn. 28), S. 1132, 2016. 96 Wortlaut § 63 Abs. 1b a.E. GO BVerfG.

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gemäß § 94 BVerfGG als auch gemäß § 27a BVerfGG. Lediglich den Arbeiten von Christian Lenz lassen sich einige Fakten entnehmen. Im Rahmen seiner Tätigkeit für den Verfassungsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen Anwaltsvereins ermittelte er für den Zeitraum 2006 bis 2012 insgesamt 45 Stellungnahmen des Ausschusses.97 Eine eigene, händig vorgenommene Durchmusterung sämtlicher im Jahr 2019 vom Bundesverfassungsgericht im Internet veröffentlichten Informationen zu von ihm getroffenen Entscheidungen erbrachte unten stehende Ergebnisse. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die dokumentierten 275 Judize nur einem sehr geringen Teil der für das Geschäftsjahr 2019 angegebenen 4.991 Entscheidungen98 abbilden (das sind 5,5 Prozent). Die größten Selektionsleistungen stellen Einstweilige Anordnungen (38 von 187 – 20 Prozent) und Verfassungsbeschwerden (195 von 4.755 – 4 Prozent) dar. Wie bei vielen statistischen Angaben, die das Gericht veröffentlicht, bleiben die Selektionsleistungen nicht erklärt.99 Die folgenden Tabellen dokumentieren die Angaben aus der Amtlichen Statistik und der im Internet abrufbaren Judize. Tabelle 3 Entscheidungen und Stellungnahmen §§ 27a und 94 BVerfGG im Jahr 2019 Verfahrensart

Amtliche Statistik

Wahlprüfungsbeschwerden (BvC) Organstreitverfahren (BvE) Konkrete Normenkontrollen (BvL) Andersweit. Entscheidungen (BvP) Einstweilige Anordnungen (BvQ) Verfassungsbeschwerden (BvR)

35

Internet Stellungnahmen BVerfGG §§ 27a und 94 1 28

3 10

3 10

1 3

1

1



187

38

3

4.755

195

51

Gesamt

4.991

275

59

Quelle: Eigene händige Auszählung der Internet-Angaben des Bundesverfassungsgerichts.

Im Folgenden werden die im Internet präsentierten Verfassungsbeschwerden und die weiteren Verfahren mit Anhörungen Dritter des Jahres 2019 genauer durchgemustert

97 Lenz, Verfassungsrechtsausschuss, 2017, S. 135 f. 98 Bundesverfassungsgericht, Jahresstatistik 2019, A I 5 Plenar-, Senats-, Kammerentscheidungen nach Verfahrensarten, 2020. 99 Siehe Gawron, Private und Bundesverfassungsgericht, 2021, S. 23 ff.

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und nach Organ bzw. gesellschaftlicher Gruppenzugehörigkeit (§ 27a bzw. § 94 BVerfGG) unterschieden.100 Tabelle 4 Verfassungsbeschwerden und Stellungnahmen Dritter (§§ 27a und 94 BVerfGG) im Jahr 2019* (Internet-Präsentation) Monat

Januar 2019 Februar 2019 März 2019 April 2019 Mai 2019 Juni 2019 Juli 2019 August 2019 September 2019 Oktober 2019 November 2019 Dezember 2019 Gesamt

Verfassungs- Stellungnahmen davon § 94 beschwerden Dritter BVerfGG

davon § 27a BVerfGG

darunter Bund

darunter Länder

6

2

1

2

14

4

1

4

19 14 14 11 36 12

5 3 3 2 10 3

2

6 2 3 2 7 3

18

3

23

8

3

5

15

5

2

5

13

3

1

3

195

51

18

45

2 1 5

darunter Juristische Profession

darunter Gesellschaft

2

1

1

1

1

2

4

4

3

* Wegen verschieden zuordnungsbedingter Gruppe Mehrfachnennung möglich. Quelle: Eigene händige Auszählung der Internet-Präsentation des Bundesverfassungsgerichts.

Die weiteren Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht Stellungnahmen Dritter erbittet, nehmen nur einen geringen Umfang ein, wie die nachfolgende Tabelle zeigt.

100 Vgl. oben Tabelle 2 Autorenschaft Amicus Curiae Briefs im Term 2019 – 2020 nach Herkunftsgruppe.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht? Tabelle 5 Weitere Verfahren mit Stellungnahmen Dritter (§§ 27a und 94 BVerfGG) im Jahr 2019* (Internet-Präsentation) Verfahren

Amtliche Statistik

Internet Stellung- davon § 94 nahmen BVerfGG Dritter darunter Bund

Wahlprüfung (BvC) Organstreite (BvE) Konkrete Normenkontrolle (BvL) Einstweilige Anordnung (BvQ) Gesamt

davon § 27a BVerfGG

darunter Land

35

28

1

1

3

3

1

1

10

10

3

3

3

187

38

3

2

1

235

80

8

7

4

darunter Juristische Profession

darunter Gesellschaft 1

1

1

1

2

*Wegen verschieden zuordnungsbedingter Gruppe Mehrfachnennung möglich. Quelle: Eigene händige Auszählung der Internet-Präsentation des Bundesverfassungsgerichts.

Die Auswertung beider Tabellen lässt eindeutige Erkenntnisse zu: (1) Die Zusammenstellung zeigt, dass die oben als Einschätzung der Kommentarliteratur referierte Meinung für die tatsächlich geringe Zahl der nach § 27a BVerfGG eingeholten Stellungnahmen zutrifft. (2) Die detaillierte Auswertung der Stellungnahmen gemäß § 94 BVerfGG nach Organ- bzw. (gesellschaftlicher) Gruppenzugehörigkeit zeigt ein überraschend eindeutiges Ergebnis: Hauptadressat der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts sind Administrationen der Länder (meist Ministerialebene und nachgeordnete Behörden, mitunter Staatskanzleien, sehr selten Kommunen). Sie werden in 45 von insgesamt 51 Verfahren um eine Stellungnahme ersucht, auf Organe des Bundes (inkl. Bundesbehörden) entfällt ein knappes Drittel (18 Verfahren). Diese Verfahren werden vom Verfassungsgericht über die Bestimmungen des § 94 Abse. 1 – 4 BVerfGG i.V. §§ 77 und 82 BVerfGG initiiert. Die angeschriebenen Institutionen sind als Dritte vom Gericht zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert worden. Unabhängig und außerhalb des förmlichen Beweisverfahrens verbreitern die Äußerungen der Aufgeforderten die tatsächliche und rechtliche Basis der vom Gericht zu treffenden Entscheidungen.101 101 Haberzettl 2018 (Fn. 53), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 2; Hömig 2020 (Fn. 54), Kommentierung § 94 BVerfGG, RdNr. 2.

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Thomas Gawron

(3) Die Ergebnisse der Auszählung der weiteren Verfahren ändert nichts am eben festgestellten Befund: Die Mehrzahl der vom Gericht angeforderten Stellungnahmen werden von Organen des Bundes und der Länder eingereicht (n=8), während nur drei Stellungnahmen gemäß § 27a BVerfGG generiert werden.102 (4) Gering ist der Anteil der vom Gericht angeforderten Stellungnahmen, die aus dem gesellschaftlichen Bereich i.w.S. stammen. Insgesamt fünf juristische Vereinigungen und Organisationen werden in Verfahren als angeschrieben genannt; und sechs Gruppierungen können der gesellschaftlichen Sphäre i. e.S. zugeordnet werden.103 Der Anteil der über §§ 27a und 94 BVerfGG zur Abgabe einer Stellungnahme aufgeforderten Gruppen (n=11) beträgt rund 19 Prozent aller Eingaben (n=59); nicht einmal jede fünfte Stellungnahme kommt aus dem gesellschaftlichen Bereich (,wobei die juristische Profession in Gänze diesem Bereich zugerechnet worden ist104). Das Verhältnis von nongovernmentalen zu governmentalen Stellungnahmen, die vom Bundesverfassungsgericht von Dritten erbeten werden, steht in umgekehrter Reziprozität gegenüber dem der beim U.S. Supreme Court registrierten amicus curiae briefs.105 Dominieren dort die Nongovernment-Stellungnahmen, sind es hier – unterstützt durch die weitreichende Ermächtigung des § 94 BVerfGG – die govermentalen Stellungnahmen aus dem gesellschaftlichen Raum bilden eine klare Minderheit.

102 An der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen beim Bezug von Arbeitslosengeld III sind sowohl Vertreter der juristischen Profession wie gesellschaftliche Akteure um Stellungsnahmen gebeten worden (1 BvL 7/16 vom 05. 11. 2019). Beim einzigen erfolgreichen Wahlprüfungsverfahren zum aktiven und passiven Wahlrecht wurden Individuen, Verfassungsorgane und ein Bundesamt angeschrieben (2 BvC 62/14 vom 29. 12. 2019), die alle auf die Abgabe einer Stellungnahme verzichteten, während eine zivilgesellschaftliche Einrichtung – das Deutsche Institut für Menschenrechte – eine Stellungnahme abgab. 103 Die vier Verfahren betreffen Verfassungsbeschwerden der Stiefkinderadoption in nichtehelichen Familien (1 BvR 673/317 vom 23. 03. 2019), Regelungen zur Europäischen Bankenunion (2BvR 1685/14 und BvR 2631/141 vom 30. 07. 2019) und die beiden „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen (1 BvR 276/17 und 1 BvR 16/13 vom 06. 11. 2019). Im Verfahren der erstgenannten Entscheidung holt das Verfassungsgericht insgesamt 17 Stellungnahmen ein, die von Bundesorganen über kirchliche Einrichtungen und Familientherapeuten bis zum Deutschen Jugendinstitut reichen; in der Zweitgenannten ersucht es Stellungnahmen des Bankenwesens und von wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstuhlinhabern (insgesamt 7). Am breitesten ist wohl das Feld von Sachverständigen Dritten in den beiden letztgenannten Entscheidungen, da das Gericht neben bundesstaatlichen Organen, Medien der Presse und des Rundfunks auch Internet-Konzerne sowie Datenschutzbeauftragte zu Stellungnahmen auffordert (15 Nennungen) und eine eigene Literaturrecherche durchführt. Siehe BVerfG – 1 BvR 16/13, RdNr. 134 f. 104 Interessanterweise wird die Bundesrechtsanwaltskammer, von der Lenz 2017 (Fn. 97] und Lenz/Hansel 2020 (Fn. 2] eine jährlich durchschnittliche Stellungnahmefrequenz von ca. fünf melden, in der Internet-Präsentation des Bundesverfassungsgerichts nur ein Mal erwähnt (Richterlicher Bereitschaftsdienst – 2 BvR 675/14 vom 12. 03. 2019). 105 Siehe oben Teil I.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

Die Auszählung der nach den Vorschriften der §§ 27a und 94 Abse. 1 – 4 BVerfGG abgegebenen Stellungnahmen können nach Rechtsgebieten sortiert und skaliert werden. Danach nehmen Asyl- und Ausländerrecht sowie Verfahrensrechte (Recht auf Gehöhr, Effektiver Rechtsschutz und Prozesskostenhilfe) ein Drittel der notierten Stellungnahmen (n=59) ein106, gefolgt von einer fast gleich starken Gruppe von jeweils sechs Fällen.107 Zwei weitere Fallgruppen mit je fünf Nennungen folgen.108 Diese 7 Rechtsgebiete werden in 47 Verfahren, also in 80 Prozent aller Verfahren Stellungnahmen-mäßig bearbeitet. Die restlichen 20 Prozent entfallen auf insgesamt 6 Rechtsgebiete.109 Ein Vergleich mit den Übersichten zum U.S. Supreme Court110 offenbart überraschende Gemeinsamkeiten: Amicus curiae Interventionen zeigen mit Civil Rights and Liberties denselben „Spitzenreiter“ wie Asyl- und Ausländerrecht. Strafrecht und Strafvollzugsrecht finden sich ebenfalls im vorderen Bereich wie Verfahrensrechte (Bundesverfassungsgericht) und Justizangelegenheiten (U.S. Supreme Court). Den Unterschied markiert, worin sich die amerikanische von der deutschen Rechtskultur kennzeichnen lässt: In den Vereinigten Staaten werden die Themen durch Stellungnahmen der (nongovernmentalen) amici curiae in das Verfahren eingeschleust, während die Stellungnahmen in Deutschland vom Verfassungsgericht selber erbeten werden und sich überwiegend an governmentale Akteure/Institutionen richten. Schließlich ist die Einordnung der Stellungnahmen gemäß §§ 27a und 94 BVerfGG auch hinsichtlich des Ergebnisses der Verfassungsbeschwerde aufschlussreich: 45 der 51 zur Veröffentlichung im Internet präsentierten Verfassungsbeschwerden mit Stellungnahmen enden für den/die Beschwerdenführenden mit einem positiven Ergebnis.111 Für die Analyse des Stellenwertes von Stellungnahmen gemäß §§ 27a und 94 BVerfGG bedeutet die ermittelte Zahl, dass besonders für Beschwerdeführende der Einsatz von Stellungnahmen, die das Gericht einholt, als hoher Erfolgsfaktor in Hinsicht auf ein für sie günstiges Ergebnis gewertet werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die vom Bundesverfassungsgericht angeforderten Stellungnahmen Dritter zum allergrößten Teil von Institutionen der drei staatlichen Gewalten in Bund und Ländern stammen, während jene aus dem gesellschaftlichen Bereich wenig präsentiert sind.

106 Asyl- und Ausländerecht: 10 Fälle; Verfahrensrecht: 9 Fälle = 19 Fälle. 107 Medienrecht/Recht der Meinungsfreiheit, Strafrecht/Strafvollzug, Familien- und Erbrecht = 18 Fälle. 108 Steuer- und Finanzrecht, Arbeits- und Sozialrecht = 10 Fälle. 109 Datenschutz: 3 Verfahren, Wahlprüfung/Parteienrecht, Außenpolitik, Psychiatrie und Wirtschaftsrecht: je 2 Verfahren Verwaltungsrecht: 1 Verfahren. 110 Siehe Scott 2013 (Fn. 15) und Feldmann 2019 (Fn. 18). 111 Stellt man in Rechnung, dass die vom Gericht bekannt gemachten Jahresstatistik 2019 von insgesamt 75erfolgreichen Beschwerden berichtet (Bundesverfassungsgericht 2020, Geschäftsbericht 2019, A IV 2 Verfassungsbeschwerden seit 1987) heißt das, dass Zweidrittel aller positiv für den/die Beschwerdeführenden ausgehenden Verfahren veröffentlicht worden sind.

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Thomas Gawron

VII. Plädoyer für amicus curiae im deutschen Verfassungsprozessrecht Amicus curiae briefs als Interventions-Institut in das deutsche Verfassungsprozessrecht einzuführen, bedeutet zunächst, die Stellungnahmen interessierter Dritter von einer willkürlich erscheinenden, unkontrollierbaren, weil ohne Rechtsmittel ausgestalteten, und intransparenten, weil in den Gründen kaum mitgeteilten Aufforderungspolitik des Bundesverfassungsgerichts zu lösen. Es liegt vollständig im Belieben der Berichterstatter bzw. der Vorsitzenden der Kammern bzw. der Senate, in welchen Fällen welche Personen bzw. Gruppen/Organisationen aufgefordert werden, eine Stellungnahme beim Gericht einzureichen.112 Nach geltender Rechtslage ist es dem Bundesverfassungsgericht anheim gestellt, ob es einen breiten Dialog113 eröffnet oder nicht. Und ebenso ist ihm anheim gestellt, die Gründe für eine Aufforderung zur Stellungnahme im veröffentlichten Entscheidungstext mitzuteilen oder es zu unterlassen. Amicus curiae briefs können ein Instrument sein, dass die Dominanz staatlicher Organisationen, mit denen das Bundesverfassungsgericht einen rechtwissenschaftlich geprägten Dialog pflegt, relativiert, indem Gruppen und Organisationen sich Aufmerksamkeit für die „maßgeblichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten“114 und damit der Vielfältigkeit des Meinungsspektrums höhere Aufmerksamkeit verschaffen können. Amicus curiae briefs in das deutsche Verfassungsprozessrecht einzuführen, bedeutet weiterhin, das Spektrum der – ohne gerichtliche Aufforderung – äußerungsbereiten Gruppen und Akteure deutlich zu erweitern. Das U.S. amerikanische Beispiel zeigt, dass es dort im Wesentlichen bürgerrechtliche und strafrechtliche Interessensorganisationen sind, die sich vorrangig Einfluss zu verschaffen suchen, gefolgt von Wirtschaftkammern.115 Es steht zu vermuten, dass diese Gruppen/Organisationen ihre Bemühungen, auch beim Bundesverfassungsgericht Aufmerksamkeit zu erzeugen, intensivieren würden. Das Gleiche kann für Sozialverbände und Natur-/ Tierschutz- und Umweltvereinigungen angenommen werden. Amicus curiae briefs verbreitern – drittens – die Legitimationsbasis des Gerichts. Denn sie verstärken die besonders im letzten Jahrzehnt feststellbare Tendenz, dass private Einzelne bei ihren Verfassungsbeschwerden viele Unterstützer oder gar Mitunterzeichner finden, ohne dass diese Tatsache in den Geschäftsberichten klar kommuniziert wird.116 Wenn das Gericht sich mit deren Anliegen in Form von amicus curiae-Stellungnahmen auseinandersetzt, gibt es zu erkennen, dass es deren Argumente anders wahrnimmt und verarbeitet, um in einen Dialog sowohl über Rechtsargumente als auch über legal facts einzutreten. Auch durch dieses Vorgehen optimiert das Bundesverfassungsgericht seine Legitimationspolitik (siehe den Beitrag von Britta Rehder und 112 Siehe oben Teil III. 113 Haberzettl 2015 (Fn. 79). 114 Meskouris 2018 (Fn. 50). 115 Sie oben Hinweise Fn. 5 – 19. 116 Gawron (Fn. 99), Kapitel 4 Neue Entwicklung: Massen-Klagen, 2021.

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Amicus Curiae für das Bundesverfassungsgericht?

Leonie Gröning in diesem Band). Zugleich erwiese das Gericht der Verhandlungsdemokratie (siehe Beitrag Höreth in diesem Band) und der pluralen Willensbildung117 seine Referenz. Die abschließende Bemerkung gilt der Öffentlichkeitsarbeit. Der Geschäftsbericht, den das Gericht zum Beginn eines jeden Jahres über das zurückliegende Jahr veröffentlicht, wirft viele Fragen auf, die nicht beantwortet werden können, weil das Material nicht aussagekräftig genug ist. Für amicus curiae briefs bedeutet das, dass Eingänge, die die Verfasser selber als amicus-curiae-Eingabe bezeichnen, nicht als solche erwähnt118, sondern i. d. R. unter einem eigenen Aktenzeichen im Allgemeinen Register abgelegt werden, ohne dass irgendeine Notiz über den Verbleib bzw. das weitere Schicksal der Eingabe Auskunft gibt. Es wäre auch für die Selbstlegitimationspolitik des Gerichts förderlich, wenn diese Entscheidungen benannt würden.119

117 Neuestens Kuhn, Bundesverfassungsgericht und Parlamentarismus, 2021. 118 Siehe oben Teil V. 119 Schon die Angabe des Aktenzeichens genügte, den Fall zu identifizieren und ihn in der InternetPräsentation ohne großen Suchaufwand zu finden.

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III. LEGITIMATIONSASPEKTE DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS „Entgrenzung“ mit Augenmaß Von Matthias Jestaedt

Abstract Versteht man unter „Entgrenzung“, dass das BVerfG wirkmächtiger (geworden) ist, als es sein Schöpfer 1949 und 1951 vor(her)gesehen hat, so lässt sich Entsprechendes für nahezu alle erfolgreichen Verfassungs- und Höchstgerichte behaupten. Dem ist bei Versuchen, die „Entgrenzung“ einzufangen, Rechnung zu tragen. Gesetzgeberische Maßnahmen versprechen wenig Erfolg. Zielführender dürfte es sein, an das Gericht zu appellieren, der konkurrenzdemokratischen Funktionslogik des Parlaments bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle gebührend Rechnung zu tragen.

I. Reform trotz Erfolgs – Erfolg ohne Reform Nichts ist so perfekt, dass es nicht noch weiter verbessert werden könnte. Noch nicht einmal das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Dies zu betonen besteht auch und gerade deswegen Anlass, weil die Frage nach dessen Reformbedürftigkeit nur allzu schnell als prinzipielle Kritik (miss)verstanden werden könnte. Daher sei den Reformüberlegungen, gleichsam als relationierende Einbettung des Nachfolgenden, in gedrängter Kürze vorausgeschickt: Das Karlsruher Zwillingsgericht sucht nach nunmehr sieben Jahrzehnten justizieller Tätigkeit sowohl im diachronen als auch im synchronen Vergleich in puncto Reputation und Autorität, Wirkmächtigkeit und Modellcharakter, Beratungskultur und Begründungsstil seinesgleichen. Es genießt höchstes Ansehen in Politik und Justiz, in Gesellschaft und Wissenschaft, auf nationaler wie internationaler Ebene.1 Der Verfassungspatriotismus der Deutschen ist ohne das Karlsruher Wirken undenkbar, ja gegenstandslos. Vielen gilt das BVerfG als der Goldstandard in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dass ein so starkes, präsentes und selbstbewusstes Gericht im Kreise seiner Konkurrenten auf nationaler, supra- und internationaler Ebene Widerstände und Vorbehalte auslöst, darf nicht verwundern und dürfte eher ein Beleg für die herausragende Stellung sein, an der man sich reibt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Vorbild- und Vorreiterfunktion des weltweit vermutlich angesehensten Verfassungsgerichts nicht – zumindest nicht primär – in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verfahren steht, welches dem BVerfG sein besonderes Gepräge verliehen und die Macht, in den letzten Winkel der Rechtsordnung

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Vgl. aus österreichischer Sicht Wiederin, BayVBl. 151 (2020), 583 ff.

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Duncker & Humblot, Berlin

„Entgrenzung“ mit Augenmaß

vorzustoßen, vermittelt hat: der Urteilsverfassungsbeschwerde.2 Denn die Verfahrensart, die mehr als 90 % aller Rechtschutzersuchen beim BVerfG ausmacht3 und damit dessen Hüterrolle prägt, ist im inter- und supranationalen Vergleich nur von einer sehr kleinen Minderheit von Staaten und Internationalen Organisationen übernommen worden. Umgekehrt hat sich eine Reihe von Reformvorschlägen just mit der Verfassungsbeschwerde beschäftigt, die mit ihren derzeit rund 6.000 Eingängen jährlich nicht nur das Gros der Arbeitslast des Gerichts ausmacht, sondern immer wieder auch die Frage nach der Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen aufwirft. Grundlegendes ist dadurch indes nicht verändert worden. Wie hoch das Ansehen von „Karlsruhe“ ist, lässt sich paradigmatisch an den Reaktionen auf das „Grüne Buch“4 ablesen, welches vor genau einer Dekade zum 60. Geburtstag erschienen ist: Nicht zuletzt wegen seines (noch nicht einmal von den Autoren stammenden) Titels – „Das entgrenzte Gericht“ – wurde der Band, der in weiten Passagen als eine Hommage an das Gericht gelesen werden kann (und sollte), entweder als eine ungebührlich kritische oder aber als eine ungewöhnlich mutige Würdigung des BVerfG wahrgenommen.

II. „Entgrenzung“ als Reformanlass Bevor auf konkrete Reformvorschläge eingegangen wird (nachstehend III.), sollen zwei das Weitere orientierende Vorüberlegungen angestellt werden, deren erste auf das Phänomen der „Entgrenzung“ zielt und deren zweite der Frage nachgeht, welche Voraussetzungen Reformvorschläge, die Aussicht auf Umsetzung haben wollen, zu erfüllen haben. 1. „Entgrenzung“ als pathologisches Phänomen? Dass mit der dem BVerfG zugeschriebenen „Entgrenzung“ ein ebenso kritischer wie kritikwürdiger Zustand auf den Begriff gebracht wird, gilt als ausgemacht. Die Vorstellung eines Gebarens ultra vires, eines Aus-der-Rolle-Fallens, einer zu tadelnden Grenzüberschreitung stellt sich ein. Und in der Tat kann „Entgrenzung“ genau diese Bedeutung tragen. Dann drängt sich der Ruf nach einer Gegenbewegung – einem Indie-Schranken-Weisen, einer Begrenzung – nachgerade auf. Doch muss „Entgrenzung“ nicht notwendigerweise in diesem rundweg pejorativen bzw. pathologischen Sinne verstanden werden. Das erschließt sich, sobald man die einseitige Fokussierung auf das BVerfG gegen eine vergleichende Sicht auf sonstige Verfas-

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Dazu näher Barczak, in diesem Heft, S. 86 ff. Vgl. BVerfG, Jahresstatistik, 2020, 2021, S. 1, 6 f., 20 f., bes. 23 – 27, https://www. bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2020/statistik_2020_node.html (Abruf: 25. 03. 2021). Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011.

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sungsgerichte oder, weiter noch, auf sonstige „Grenzgerichte“,5 supra- und internationalen Rechtsprechungskörper eingeschlossen, austauscht. Dann nämlich will es erscheinen, dass die „Entgrenzung“ eine ausgesprochen typische, um nicht zu sagen: verfassungsgerichtssoziologisch zwangsläufige Entwicklung bei – funktionierenden und selbstbewussten, kurz: erfolgreichen – „Grenzgerichten“ darstellt. Pointiert mag man formulieren: Jedes wirkmächtige „Grenzgericht“ ist in der einen oder anderen Hinsicht ein „entgrenztes Gericht“, füllt es doch eine größere und weitere Rolle aus, als ihm sein Schöpfer ursprünglich zugedacht hat. Vielfach lässt sich beobachten, dass ein Verfassungsgericht (oder dessen Analogon auf supra- bzw. internationaler Ebene) dem Kleid, welches ihm der Verfassunggeber geschneidert hat, entwächst. Das zeigt sich in besonders ausgeprägter Weise in Situationen, in denen zum Zeitpunkt der Schaffung des betreffenden Gerichts noch nicht vorstellbar oder vorhersehbar ist, wie sich die Justizialisierung sei es des Verfassungsrechts, sei es des supranationalen Rechts, sei es internationaler Menschenrechtsverbürgungen entwickeln würde. Just für die bekanntesten „Grenzgerichte“ wie den US Supreme Court oder das BVerfG, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ja selbst den französischen Conseil constitutionnel lässt sich ein derartiges Emanzipations-Narrativ erzählen, regelmäßig sogar gepaart mit einem (Selbstbe‐)Gründungsnarrativ, welches mit einer ganz konkreten Entscheidung bzw. deren zwei anhebt; beim US Supreme Court handelt es sich um „Marbury v. Madison“ (1803),6 beim BVerfG sind es „Elfes“ (1957) und „Lüth“ (1958),7 beim EuGH „van Gend & Loos“ (1963) sowie „Costa / E.N.E.L.“ (1964)8 und beim Conseil constitutionnel „Liberté d’association“ (1971).9 Die Liste ließe sich fortsetzen. Sämtliche Gründungs-Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass das betreffende Gericht dem eigenen Maßstabsrecht neue qualitative, „entgrenzende“ Dimensionen abgewinnt – und sich damit weite(re) Rechtsprechungsräume erschließt. „Entgrenzung“ in diesem Sinne ist nachgerade Bedingung des eigenen Erfolgs. Das „Entgrenzungs“-Narrativ lässt sich darüber hinaus auch unter Verweis auf dogmatische oder doktrinäre Pfadabhängigkeiten erzählen. Denn nicht wenige der dogmatischen (oder doktrinären) Begründungsfiguren zeitigen, wie sich paradigmatisch am dynamisch verstandenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zeigen lässt, immer 5 6 7 8

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Zum Begriff: Stöger, in: Jabloner (Hrsg.):Wirken und Wirkungen höchstrichterlicher Judikatur, 2007, S. 53 ff. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). BVerfGE 6, 32 – Elfes [1957]; BVerfGE 7, 198 – Lüth [1958]. EuGH, Urt. vom 05. 02. 1963 Rs. 26/62, NV Algemene Transport- en Expeditie Onderneming van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung, EU:C:1963: https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:61962CJ0026 (Abruf: 25. 03. 2021); EuGH, Urt. vom 15. 07. 1964, Rs. 6/64, Flaminio Costa gegen E.N.E.L, EU:C:1964:6 https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:61964CJ0006 (Abruf: 25. 03. 2021). Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 71 – 44 DC vom 16. 07. 1971, https://www. conseil-constitutionnel.fr/de/decision/1971/7144DC.htm (Abruf: 25. 03. 2021).

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detailliertere und filigranere verfassungsgerichtliche Vorgaben, folgen also einer Ausdifferenzierungslogik.10 Das Geflecht von Vorgaben, die das Verfassungsgericht der Verfassung entlockt und zum engmaschigen Prüfprogramm zusammenfügt, wird von Entscheidung zu Entscheidung dichter. Pari passu steigt die gerichtliche Kontrolldichte. Und das gilt weithin unabhängig davon, ob das „Grenzgericht“ – wie das BVerfG – sich einem dogmatischen Vorgehen oder aber – wie der US Supreme Court oder der EGMR – einem case law approach verpflichtet fühlt; schon die stetig wachsende Flut von gerichtseigenen Präjudizien und die damit einhergehende Herausforderung, die eigene Rechtsprechung als konsistent darzustellen, begünstigen die Verselbständigung der gerichtlichen Maßstäbe. Schritte in die entgegengesetzte Richtung – nämlich Reduzierung der Kontrolldichte und eine Absenkung der Kontrollmaßstäbe – haben sich noch bei keinem Höchstgericht als nachhaltige Entwicklung durchsetzen können; schon die ausdrückliche Forderung nach und die punktuelle Ausübung von judicial selfrestraint belegt,11 dass derlei Gegensteuerungsmechanismen einen schweren Stand haben und allenfalls seltene Ausnahme und nicht alltägliche Regel sind. Mit dem vorstehenden Blick auf das Phänomen der „Entgrenzung“ von „Grenzgerichten“ sind wenigstens drei Aussagen verbunden: Erstens ist das Phänomen der „Entgrenzung“ nichts Spektakulär-Solitäres, welches sich nur oder in besonders markanter Weise beim BVerfG zeigt. Vielmehr kann man es, ganz im Gegenteil, als eine übliche, um nicht zu sagen: reguläre Entwicklung erfolgreicher Höchstgerichte bezeichnen. Zweitens bestehen kaum ernsthafte Erwartungen, dass eine einmal eingetretene „Entgrenzung“ sich in substanzieller Weise verhindern oder gar umkehren lässt. An diese Beobachtungen knüpft sich, drittens, die Überlegung, dass, hält man ein umfassendes Verdikt dynamisch aktualisierter Rechtsprechungskompetenzen für theoretisch überzogen und praktisch unwirksam, nicht jede Form von „Entgrenzung“ einen verfassungsrechtlich pathologischen Zustand beschreibt. Alle drei Umstände sind bei einer allfälligen Reformagenda im Blick zu halten. 2. Anforderungsprofil für Reform-Vorschläge Nicht jedes Störgefühl, das eine Entscheidung des BVerfG auslöst und in eine Rechtsprechungskritik mündet, vermag die Grundlage für einen Reformvorschlag abzugeben, wird Reform – wie hier – als eine planvolle, auf Verbesserung zielende Umstrukturierung eines bestehenden Systems verstanden. Wer Reformbedarf konstatiert und Reformvorschläge unterbreitet, muss, damit das Reformvorhaben ernsthaft evaluiert werden kann, unter anderem Rechenschaft darüber ablegen, welches systemische Defizit behoben werden und was Ziel der Reform sein soll, wer die Reform umsetzen soll und welche Mittel ihm dabei zur Verfügung stehen, ob schließlich die vorge10 Vgl. Volkmann, JZ 75 (2020), 965 ff., der eine mittlerweile eingetretene „Überdogmatisierung“ (966, 975) und „Durchdogmatisierung“ (972, 975) beklagt, speziell zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 969. 11 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundlagenvertrag [1973].

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schlagene Remedur zur Zielerreichung beitragen kann und ob die mit ihr verbundenen Vorteile die mit ihr einhergehenden Nachteile deutlich überwiegen. Aus der Vielzahl möglicher Reformvorschläge zum Umgang mit dem Phänomen der „Entgrenzung“ werden nachfolgend nur jene berücksichtigt, die wenigstens drei Grundvoraussetzungen erfüllen: Sie müssen systemische Tendenzen adressieren, passfähig sein und eine Chance auf Umsetzbarkeit haben. (1) „Entgrenzung“ ist ein Phänomen, welches sich zwar notwendigerweise in einzelnen Judikaten und an einzelnen Richterpersönlichkeiten manifestiert, aber doch typischerweise eine einzelfallübersteigende und überindividuelle, insoweit strukturelle oder systemische Tendenz adressiert. Dass eine einzelne Entscheidung oder das Zusammenwirken einzelner Richterinnen und Richter in einem bestimmten Verfahren Kritik hervorruft (welche Entscheidung könnte man insofern ausnehmen?), erfüllt daher nicht bereits den Tatbestand des Reformbedarfs. Konkrete Ergebnisse treten hinter methodische oder dogmatische Verschiebungen zurück. Des Weiteren ist die ebenso verständliche wie verbreitete Überbewertung aktueller Herausforderungen in Rechnung zu stellen; rezenteste Entscheidungen gewinnen auf der Folie teilnehmender Distanzlosigkeit – in der Zustimmung wie in der Ablehnung – leicht eine Bedeutung, die sich in einer mittel- oder langfristigen Betrachtung nicht bestätigen lässt.12 (2) Eine Reform wird im bestehenden System angestrebt. Jeder Verbesserungsvorschlag muss dementsprechend passfähig oder auch kontextsensibel sein, sprich: die grundlegenden Kennzeichen des Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz respektieren. Dazu zählen nicht zuletzt stark rechtskulturell imprägnierte Faktoren wie der Begründungsstil von Gerichten. So würde ein auf Linie der jüngeren Dogmatik-Kritik13 liegender Vorschlag, das BVerfG möge sein Entscheidungsräsonnement von einem dogmatischen Stil auf einen case law-Stil unter der rule of precedent umstellen, daran vorbeigehen, dass das BVerfG den fachlich-professionellen Diskurs – nämlich einerseits mit der Gerichtsbarkeit im Übrigen und andererseits mit der (Verfassungs‐)Rechtswissenschaft – in der Sprache der Dogmatik bestreitet. Entsprechendes gilt für die Forderung nach einer verstärkten Präjudizienbindung gemäß dem Vorbild der rule of precedent:14 Abgesehen davon, dass damit dem BVerfG keine Bindung an eigene Entscheidungen auferlegt werden könnte, vernachlässigt dieser Vorschlag, dass die judikaturstabilisierenden und -rationalisierenden Mechanismen unter dem Grundgesetz andere sind als im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Auch jeder andere Import (legal transplant) aus einem fremden verfassungsgerichtlichen System müsste einem Passfähigkeitstest unterzogen werden. Der Verweis darauf, dass eine bestimmte 12 Dem muss sich auch die hiesige Untersuchung stellen, bezieht sie doch zu nicht geringen Teilen ihre Beispiele aus der neueren Judikatur. 13 Näheres dazu bei G. Kirchhof/Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012. 14 Insgesamt zu einer Präjudizienlehre für die grundgesetzliche Ordnung: Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017.

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Vorgehensweise bei einem anderen Verfassungsgericht zu überzeugenden Ergebnissen führe, reicht eben für sich betrachtet nicht, um jene auch dem BVerfG zu empfehlen oder angedeihen zu lassen. (3) In einem ähnlichen Sinne hat jeder Reformvorschlag, um überhaupt eine Chance auf Realisierung zu haben, eingeübte Routinen und Praxen sowie überkommene institutionensoziologische Pfadabhängigkeiten in Rechnung zu stellen. Das gilt in gesteigertem Maße für Vorschläge, die nicht auf die Intervention des (Verfassungs‐) Gesetzgebers setzen, sondern an das Gericht appellieren, den bisherigen Umgang mit der Verfassung zu modifizieren. Auch hier hilft ein Blick über die eigenen Grenzen – also der Vergleich mit Verfassungs- oder vergleichbaren Höchstgerichten in anderen Rechtsordnungen –, Entwicklungen und Lagen besser einzuschätzen und die Veränderungspotenziale verlässlicher abzuschätzen.

III. Reformvorschläge wider die „Entgrenzung“ „Entgrenzung“-Phänomene betreffen durchgängig die Handhabung des Maßstabsrechts – des Grundgesetzes – durch das BVerfG (vorstehend II.1). Diese ist mittels (verfassungs)gesetzgeberischer Intervention nicht ohne Weiteres zu beeinflussen.15 Der naheliegende Vorschlag etwa, die Mehrheitsanforderungen insbesondere für kassatorische Normenkontrollentscheidungen des BVerfG auf 2/3 heraufzusetzen,16 dürfte kaum den gewünschten Effekt haben, dafür aber eine unerwünschte Optik zeitigen: Soweit das Gericht Abstimmungsergebnisse mitteilt, sind Mehrheiten von weniger als 6:2 Richterstimmen bislang in beiden Senaten ausgesprochen selten und bei einer auf die Integration aller Senatsmitglieder zielenden Beratungskultur, die bestehende parteipolitische Affiliationen in den Hintergrund treten lässt, auch zukünftig nicht zu erwarten. Umgekehrt dürfte es bei der gegebenen Autorität verfassungsgerichtlicher Einschätzungen schwer zu vermitteln sein, an einem Gesetz festzuhalten, das eine Mehrheit von 5:3 Richter(inne)n für verfassungswidrig hält. Dementsprechend werden im Folgenden drei Reformvorschläge17 herausgegriffen, die im Wesentlichen als Appelle an das Gericht selbst formuliert sind. Bei aller Unterschiedlichkeit verbindet sie die Aufforderung an das BVerfG, die eigene Rolle im Prozess der Verfassungsaktualisierung nachzujustieren.

15 Zu den ausgesprochen begrenzten Möglichkeiten des Herrn der Verfassung, des Verfassung(sgesetz)gebers, das Verfassungsgericht als den Hüter der Verfassung in seinem modus operandi zu steuern: Jestaedt, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Atzelsberger Gespräche 2009, 2010, S. 35 ff. 16 Ein entsprechendes 2/3-Quorum existiert gem. § 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG bereits für die Verfahren der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG), des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 und 3 GG) sowie der Präsidenten- und der Richteranklage (Art. 61 und Art. 98 Abs. 2 und 5 GG). 17 Weitere Aspekte etwa bei Wiederin, BayVBl. 151 (2020), 583 (584 f.).

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1. Zeitgebundene Entscheidungen Ein bedeutsamer, wenn nicht der bedeutsamste Katalysator einer „Entgrenzung“ der Karlsruher Judikatur kann mit dem Schlagwort von der „Dogmatisierung des Verfassungsrechts“18 namhaft gemacht werden, deren zentraler Modus die dekontextualisierende Systematisierung darstellt.19 Nun wird ein Vorschlag, von Dogmatik entweder gänzlich zu lassen oder doch die Dogmatisierung des Verfassungsrechts nicht weiter voranzutreiben, aus mehrerlei, teils oben (unter II.2.) angedeuteten Gründen nicht auf fruchtbaren Boden fallen (von seiner inhaltlichen Berechtigung einmal ganz abgesehen). Erfolgversprechender erscheint es, das dogmatische Rechtsdenken um die Kontexte, in denen es operiert, anzureichern und damit zu temperieren. Im Vordergrund steht die Forderung, die Geschichtlichkeit oder auch Kontingenz eigenen Tuns und damit die historische Kontextgebundenheit jeder einzelnen Entscheidung stärker zu reflektieren und zu kommunizieren – bei gleichzeitiger Konzentration auf das im konkreten Fall wirklich zu Entscheidende. Das hätte nicht nur eine – moderate – Verschiebung der Gewichte zulasten des die Dogmatisierung vorantreibenden „Maßstabsteils“ („C.I.“ der Entscheidungsgliederung) und zugunsten des fallbezogenen „Subsumtionsteils („C.II.“) zur Folge,20 sondern erinnerte zugleich daran, wie sehr die Aktualisierung des Grundgesetzes von der Bewertung der konkreten Umstände und Herausforderungen durch das Gericht abhängig ist.21 Damit näherte sich das BVerfG nicht nur den auf die Karlsruher Judikatur bezogenen Historisierungsbemühungen der Staatsrechtslehre,22 sondern schlösse auch an eine Reihe von jüngst erfolgten Änderungen in der Präsentation eigener Entscheidungen an, die zwar überwiegend wohl als Angleichung an internationale Standards zu deuten sind, die sich aber teilweise auch als Ansätze zur Historisierung der eigenen Judikatur verstehen lassen. So werden Entscheidungen (auch) in der Amtlichen Sammlung (BVerfGE) seit Band 132 (2012)23 – wie solche etwa des EuGH und des EGMR – mit Randnummern versehen (und zitiert); seit 2016 wird den Gründen besonders ausführlicher Senatsentscheidungen ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt;24 seit Ende 2018 wird Urteilen und wichtigen Beschlüsse ein offizieller Name beigegeben;25 der Inter18 Jüngst Volkmann, JZ 75 (2020), 965 ff. 19 Näher Jestaedt, JZ 67 (2012), 1 ff.; ders., JZ 69 (2014), 1 ff. 20 Dazu Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (168 ff.). 21 Das BVerfG hat in Bezug auf den Umgang mit Urteilen des EGMR selbst eine „Kontextualisierung“ angemahnt: BVerfGE 148, 296 (354 f. Rn. 132) – Streikverbot für Beamte [2018]. 22 Pars pro toto Florian Meinel (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, 2019. 23 BVerfGE 132 ist zwar 2013 erschienen, enthält aber ausschließlich Entscheidungen aus dem Jahr 2012. 24 Erstmals BVerfGE 143, 246 (249 – 253) – Atomausstieg [2016]. 25 Die erste Entscheidung dürfte der Beschluss des Zweiten Senats vom 29. 01. 2019, BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsauschluss Bundestagswahl [2019], sein.

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netauftritt des Gerichts präsentiert einen Zeitstrahl mit „Meilensteine[n] in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“.26 Was indes in dieser Aufzählung immer noch fehlt – und einer Historisierung der Judikate dienlich wäre –, ist eine Zitierung eigener Entscheidungen nicht nur nach Band-, Seiten- und Randnummerzahl der Amtlichen Sammlung, sondern auch unter Nennung des Entscheidungsjahres und möglichst des Namens; das „Lüth“-Urteil wäre demnach mit der Angabe „BVerfGE 7, 198 – Lüth [1958]“ nachzuweisen. 2. An den Grenzen des Verfassungsrechts: Herausforderung Europa Mustert man die Judikatur der letzten Jahrzehnte unter dem Aspekt der „Entgrenzung“ mittels Maßstabsweitung durch, so wird man über kurz oder lang auf die Rechtsprechung beider Senate im Zusammenhang mit „Europa“ stoßen. Dabei ist auffällig, dass das Gericht hier mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf ausgesprochen gewagte dogmatische Konstruktionen zurückgreift. Ob es sich um die interpretatorische RangErhöhung der EMRK dreht, die jüngst insbesondere unter Rekurs auf Art. 1 Abs. 2 GG begründet wird27 – eine Bestimmung, die erkennbar nicht die völkervertraglich vereinbarten Menschenrechte, gar die 1949 noch nicht einmal ausverhandelte EMRK meint;28 ob es um die Umdeutung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, der nichts als die Wahlrechtsgrundsätze zum Bundestag enthält, zu einem Super-Grundrecht des Wahlbürgers auf Demokratie in Sachen Europa geht, mithilfe dessen die einzelnen Integrationsschritte im Wege der jedermann offenstehenden Individualverfassungsbeschwerde überprüft werden können;29 ob es sich schließlich um die jüngste Maßstabsausweitung unter dem sprechenden Namen „Recht auf Vergessen II“ handelt, wonach verfassungsbeschwerdefähige Grundrechte im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG – gegen jeden Kontext – auch die Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta (GRC) sein können30: in allen drei Fällen sichert sich das BVerfG gleichsam ein Mitspracherecht in Bezug auf Europa, sei es in Gestalt der EMRK, der GRC oder ganz allgemein der europäischen Integration, und scheut das Eingeständnis, dass das GG für die eine oder andere Frage schlicht keine Maßstäbe oder Überprüfungswege bereithält.31 Dass das BVerfG hier in bester Absicht zum Schutze der grundgesetzlichen 26 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Zeitstrahl/zeitstrahl_node.html (Abruf 25. 03. 2021). 27 Grundlegend BVerfGE 128, 326 (369 f.) – Sicherungsverwahrung [2011]. 28 Art. 1 Abs. 2 GG hat seit 1949 folgenden Wortlaut: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ 29 Std. Rspr., vgl. jüngst BVerfGE 154, 17 (85 ff. Rn. 99 ff.) – PSPP-Programm der EZB [2020]). 30 BVerfGE 152, 216 (236 ff. Rn. 50 ff.) – Recht auf Vergessen II [2019], u. a. unter Bezugnahme auf das sog. „Charta-Erkenntnis“ des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH, Erkenntnis vom 14. 03. 2012, U 466/11 u. a., AT:VFGH:2012:U466.2011, sub. 5.5). 31 Anders sieht es, trotz vielfacher Kritik, m. E. in Bezug auf die Ultra vires- sowie die (Verfassungs‐)Identitätskontrolle ( jüngst BVerfGE 154, 17 [90 ff. Rn. 110 ff., bes. 93 f Rn. 114 f.] –

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Ordnung handelt, wird – das sei eigens betont – nicht in Abrede gestellt. Doch der gute Zweck heiligt nicht jedes Mittel. Denn das Gericht behauptet europabezogene Aussagen des Grundgesetzes um den Preis offensichtlich ergebnismotivierter (Maßstabs‐) Herleitungen, die die Überzeugungskraft dogmatischer Konstruktion und Deduktion im Übrigen schwächen, die ganz wesentlich darauf beruht, dass sich der Nachweis führen lässt, dass ein konkretes Ge- oder Verbot in der mit herkömmlichen Methoden ausgelegten Verfassung eine positivrechtliche Grundlage findet. Sollte hier das Gericht nicht selbst Abhilfe schaffen (was auf absehbare Zeit aus mehrerlei Gründen kaum zu erwarten steht), wäre es Sache der verfassungsändernden Gesetzgebers, die Rechtsprechungslinien sei es nachzuführen und damit verfassungsgesetzlich abzusichern, sei es abzuändern und in anderem Sinne verfassungsrechtliche Klarheit zu schaffen. 3. Konkurrenzdemokratische versus verfassungsgerichtliche Funktionslogik Einer der herausragenden Erfolge von GG und BVerfG ist es, die Verfassungsbindung des Gesetzgebers in einem bis dahin ungekannten Maße statuiert, ausbuchstabiert und effektuiert zu haben. Es ist dem Gericht nicht hoch genug anzurechnen, dass es allen Versuchen entgegengetreten ist, die Verfassungsbindung des Gesetzgebers, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht namentlich eine solche an die Grundrechte ist, durch einen Verweis auf die „höhere demokratische Legitimation“ der Volksvertretung zu relativieren. Umgekehrt freilich tut das BVerfG des Guten zu viel, wenn es bisweilen Verfassungsmaßstäbe in einer Art und Weise auslegt und anwendet, dass insbesondere die gesetzgebende Volksvertretung aus strukturellen Gründen nicht in der Lage ist, den solcherart konkretisierten grundgesetzlichen Anforderungen Genüge zu leisten. Wenn das BVerfG dem Gesetzgeber – zurecht – abverlangt, mit dem Normunterworfenen in einer Weise zu kommunizieren, dass dieser die an ihn gerichteten Gebote verstehen kann, so sollte das Gericht seinerseits die Verfassung so zum Sprechen bringen, dass der Gesetzgeber deren Anforderungen ohne Mühen verstehen und insbesondere beherzigen kann. Der Umgang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann hier als eindrückliches Beispiel herangezogen werden:32 Wiewohl die den Gesetzesbeschluss tragende Mehrheit im Bundestag in den weit überwiegenden Fällen von der Absicht und dem Selbstverständnis geleitet sein dürfte, in vollem Einklang mit den grundgesetzlichen Vorgaben zu legiferieren, kann sie doch – auch nach Beratung durch Verfassungsexperten – nicht sicher sein, dass ihr Werk in Karlsruhe Bestand haben wird. Mit zunehmender Detaillierung, Komplexität und Perfektionierung der Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nimmt diese Sicherheit beständig ab. Das darf nicht wunder nehmen, folgt die Logik der sich zusehends verdichtenden Karlsruher Ver-

PSPP-Programm der EZB [2020]) aus; sie lassen sich (unbeschadet der Frage nach dem konkreten Wie dieser Kontrolle) ohne große Verrenkungen aus Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG herleiten. 32 Dazu näher Jestaedt, in: ders./Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 293 ff.

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hältnismäßigkeitsdogmatik doch der (ex post‐)Perspektive des juristisch geschulten Richters und nicht der (ex ante‐)Perspektive des parteipolitisch eingebundenen Parlamentariers. Doch ein Gesetzgebungsverfahren, das den Imperativen einer parteienpluralen und föderativ gegliederten Konkurrenzdemokratie mit ihren besonderen Konsensfindungsnotwendigkeiten, -schwierigkeiten und -praktiken ausgesetzt ist, kann schwerlich gleichzeitig grundrechtlichen Optimierungsgeboten genügen, die immer stärker auf die eine (rechts)richtige Antwort zielen. Folgerichtig sieht sich das BVerfG – wenn nicht alles trügt – immer häufiger in der Rolle, nicht nur das gesetzgeberische Produkt zu beanstanden, sondern dem Gesetzgeber gleich seitenweise detaillierte Hinweise für einen erneuten Anlauf mit auf den Weg zu geben. Als besonders anschauliches Beispiel mag die mittlerweile rund zwei Dutzend Judikate umfassende Rechtsprechung des Ersten Senats zur Post 9/11-Sicherheitsgesetzgebung gelten: Konnte das Karlsruher „Ja, aber“, welches das Ob des konkreten staatlichen Tätigwerdens ausdrücklich billigte, indes das konkrete Wie beanstandete, anfangs noch als eine Schonung und Aufmunterung des Gesetzgebers verstanden werden, verdichtete sich das sequentielle und notorische „Ja, aber“ an die Berliner Adresse zu dem – gewiss senatsseitig nicht intendierten – Urteil, dass der Gesetzgeber, so sehr er sich auch bemühe, den Karlsruher Vorgaben zu genügen, letztlich nicht vollauf verfassungskonform zu handeln imstande sei. Pars pro toto seien hier die Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung (2010, mit 126 Druckseiten),33 zum BKA-Gesetz (2016, mit 134 Druckseiten und 360 Rn.)34 und zum BND-Gesetz (2020, mit 161 Druckseiten und 332 Rn.)35 genannt. Was mögen die Parlamentarier bei dem aus dem Urteil zum BKA-Gesetz stammenden Satz: „Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, einen Ausgleich zwischen der Schwere der mit den hier zur Prüfung stehenden Eingriffen in die Grundrechte potentiell Betroffener auf der einen Seite und der Pflicht des Staates zum Schutz der Grundrechte auf der anderen Seite zu schaffen.“36 gedacht haben, als sie weiterlasen und sahen, dass der Senat dem rund 95 weitere Druckseiten mit mehr als 250 Randnummern folgen lässt, in denen er dem Gesetzgeber gleich eine ganze Phalanx von Verfassungsverstößen vorhält? Die tendenzielle Ausblendung der Besonderheiten parlamentarischer Entscheidungsfindung findet ihren Ausdruck auch darin, dass der Kompromiss als eine für funktionsfähige parlamentarische Demokratien herausstechende Entscheidungsfindungsmodalität37 in der sonst so ausgeklügelt-perfektionierten Dogmatik des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinen Platz hat: Dass es sich um ein gegebenenfalls schwer errungenes Ergebnis im Wege des wechselseitigen Nachgebens der parlamentarischen 33 BVerfGE 125, 260 – 385 – Vorratsdatenspeicherung [2010]. 34 BVerfGE 141, 220 – 353 (mit Sondervoten Eichberger und Schluckebier, 353 ff., 362 ff.) – BKAGesetz [2016]. 35 BVerfGE 154, 152 – 312 – BND-Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung [2020]. 36 BVerfGE 141, 220 (267 Rn. 98) – BKA-Gesetz [2016]. 37 Grundlegend dazu Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 57 f., 61 ff.

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Gegenspieler handelt, das deren Einstehen für das Gemeinwohl besonders unterstreichen mag, spielt für die Antwort auf die Frage, ob das Ergebnis verhältnismäßig ausgefallen sei, keine Rolle. Vergleichbares musste sich der Bundesgesetzgeber in Sachen § 217 StGB – der sogenannten Suizidhilfe – vom Zweiten Senat ins Stammbuch schreiben lassen:38 Der Bundestag, der nach langem Ringen um die relativ beste Lösung in einer schwierigen rechtsethischen Frage, bei der vier fraktionenübergreifende Gesetzesentwürfe vorlagen, eingehende Debatten unter Aufhebung der Fraktionsdisziplin folgten und sich die aus Abgeordneten aller Fraktionen bestehende Mehrheit für einen der mittleren, d. h. zwischen den Extrempositionen liegenden Vorschläge entschied, musste sich bescheinigen lassen, das fest anvisierte Ziel, grundgesetzkonform zu handeln, verfehlt zu haben. Das Karlsruher Verdikt stieß verständlicherweise auf Enttäuschung und Irritation – zumal der richterliche Fingerzeig für einen neuen legislativen Anlauf beim Gesetzgeber für Rätselraten sorgt(e). In einem allgemeinsten Sinne kann das Problem dahin formuliert werden, dass das BVerfG in den vorgenannten Konstellationen39 die rechtsstaatliche Seite der Verfassung zulasten ihrer demokratischen Seite überbetont. Zugespitzt: Eine Lesart des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die dem Gesetzgeber – wenigstens implicite – einen richterlichen modus operandi abverlangte, würde dem Rückbau eines modernen, auf Interessenwettstreit ausgerichteten Parlaments zu einem obergerichtliche Funktionen wahrnehmenden parlement im Sinne des ancien régime das Wort reden. Die Konzeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hätte demgegenüber in Rechnung zu stellen, dass die Verfassung ranggleich zu den Grundrechten eine funktionsfähige parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems vorsieht – mit der Konsequenz, dass keine Kalibrierung von Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfolgen darf, denen der parlamentarische Gesetzgeber kraft seiner konkurrenzdemokratischen Funktionslogik nicht gerecht zu werden imstande ist. Als Testfrage könnte hier dienen: Kann das Parlament die Be(ob)achtungs- und Handlungspflichten, die sich aus den verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgründen ergeben, unter Beachtung einerseits seiner prozeduralen und institutionellen Möglichkeiten und andererseits der konkurrenzdemokratischen Imperative wahrnehmen? Nur mehr angemerkt und nicht mehr ausgeführt sei, dass sich Entsprechendes in Bezug auf den Detaillierungsgrad juristischer Konsistenzanforderungen an gesetzgeberisches Handeln sagen lässt.40 Auch hier will es scheinen, dass das BVerfG die parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten zu sehr am Ideal der richterlichen Kontrollperspektive ausrichtet und zu wenig in Rechnung stellt, wie parlamentarische Willensbildungsprozesse, grundgesetzlich umhegt, tatsächlich ablaufen. 38 BVerfGE 153, 182 – Suizidhilfe [2020]. 39 Dem steht selbstredend nicht entgegen, dass eine Gesamtwürdigung weitaus positiver ausfällt: „Von seiner Macht macht das Gericht überlegten Gebrauch, der die Demokratie öfter unterstützt als überfordert.“ (Wiederin, BayVBl. 151 [2020], 583 [586]). 40 Dazu stellvertretend Bumke, Der Staat 49 (2010), 77 ff.; Dann, Der Staat 49 (2010), 630 ff.

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IV. Ex comparatione lux Sosehr selbst für Karlsruhe das semper reformanda gilt, so wenig sollte übersehen werden, welche Qualität das BVerfG Tag für Tag „abliefert“ – und das mittlerweile 70 Jahre lang und in bald 250.000 Verfahren. Wer den introvertierten deutschen Diskurs verlässt und nach Autorität und Reputation, Funktionsweise und Begründungsqualität anderer Verfassungs(‐ und Höchst)gerichte fragt, wird dies in aller Klarheit sehen. Mehr noch: Man mag sich die – hypothetische – Frage stellen, ob man sich wünschen sollte, das BVerfG durch ein anderes der real existierenden Verfassungsgerichte einzutauschen. Was man an Karlsruhe hat, mag man schließlich an den Reformvorschlägen ermessen – genauer: daran, was diese nicht als reformbedürftig thematisieren. Eine einseitig defizitorientierte Betrachtungsweise steht in der Gefahr, dies allzu leicht zu übersehen.

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Die Legitimationspolitik des Bundesverfassungsgerichts. Eingeschlagene Reformpfade und Grenzen der Selbstlegitimierung Von Britta Rehder und Leonie Gröning

Abstract Seit einiger Zeit sind am Bundesverfassungsgericht verstärkt Praktiken der Selbstlegitimierung zu beobachten. Der ehemalige Gerichtspräsident Voßkuhle hatte öffentlich dazu aufgerufen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gerichtsbarkeit zu stärken, indem mehr Transparenz geschaffen wird. Der Aufsatz untersucht, inwiefern das Bundesverfassungsgericht selbst versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Und er diskutiert die Grenzen einer gerichtlichen Legitimationspolitik, die vor allem auf Transparenz abzielt.

I. Einleitung In Deutschland gehört das Rechtssystem zu den Institutionen, die in der Bevölkerung die höchsten Vertrauenswerte genießen. Dies gilt für die Justiz allgemein, besonders aber für das Bundesverfassungsgericht, das – zusammen mit der Justiz, der Polizei und dem Bundespräsidentenamt – die höchsten Vertrauenswerte verbucht.1 Sein hohes Ansehen ist alles andere als selbstverständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass dort häufig hoch kontroverse Entscheidungen getroffen werden. Gerichte stehen – anders als politische Akteure – unter einem Entscheidungszwang in Konstellationen, die häufig so problem- oder konfliktbehaftet sind, dass kein anderer Akteur mehr verbindliche Entscheidungen treffen kann oder mag. Angesichts der Tatsache, dass sie über keinen eigenen Sanktionsapparat verfügen, um ihre Entscheidungen durchzusetzen, sind sie darauf angewiesen, dass ihre Urteilssprüche anerkannt werden. Es braucht also eine aktive Legitimationspolitik des Gerichts und seiner Mitglieder – hier verstanden als Praktiken der Selbstrechtfertigung gegenüber anderen politischen Akteuren und der Gesellschaft.2 Die Versuche, den Weber’schen Legitimitätsglauben bei den Adressaten der Rechtsprechung zu sichern, beschränken sich dabei nicht auf bloße Akzeptanzbe-

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Vorländer, in: van Ooyen/Möllers (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System. 2. Auflage, 2015, S. 311. Barnickel, Postdemokratisierung der Legitimationspolitik, 2019, S. 12.

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schaffung, sondern sie umfassen ebenso – in Anlehnung an Nullmeier et al. – alle bewussten Anstrengungen, die normative Anerkennungswürdigkeit der eigenen Urteile zu sichern.3 Legitimationspolitische Praktiken äußern sich in Sprechakten, aber auch in non-verbalen Artefakten, in Symbolen, Ritualen und Zeremonien.4 Das Bundesverfassungsgericht steht beispielhaft dafür, dass auch Gerichte mit höchster Autorität Legitimitätsdefizite erfahren können. Es ist seit einigen Jahren mit harscher Kritik seitens der politischen Eliten sowie der Rechtswissenschaft konfrontiert. Die Unzufriedenheit bezieht sich nicht nur aber insbesondere auf Entscheidungen zur europäischen Integration. Zum 60. Geburtstag der Karlsruher Institution erschien aus der Mitte der Staatsrechtslehre ein Band mit dem Titel „Das entgrenzte Gericht“, der nur wenig an ein Geschenk und schon gar nicht an eine Festschrift erinnert.5 Auch in früheren Jahrzehnten schwankte das Ansehen des Gerichts im Kontext umstrittener Urteile.6 Bei der Suche nach den Faktoren, die das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts erklären können, stößt Patzelt unter anderem auf das generelle Systemvertrauen: wer mehr Vertrauen zum Bundesverfassungsgericht hat, vertraut auch dem Bundestag mehr – und anders herum. Demnach scheinen sich die Zustimmung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wechselseitig zu stärken.7 Der frühere Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle sieht demgegenüber den Gleichklang aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter Druck.8 Dabei verweist er nicht nur auf die EU-Mitgliedstaaten Ungarn und Polen, die auf der Basis demokratischer Mehrheitsentscheidungen zentrale rechtsstaatliche Prinzipien aushebeln, sondern er macht auch in Deutschland gesellschaftliche Einstellungsmuster aus, die den Rechtsstaat bedrohen. Er beruft sich auf Daten des jährlich vom Allensbach-Institut erstellten Roland-Rechtsreports. Und in der Tat: schaut man sich die Beurteilung der rechtsstaatlichen Verfahren durch die befragten Bürgerinnen und Bürger an, so fragt man sich, worauf genau das hohe Ansehen des Gerichtswesens eigentlich gründet. So stimmten im Report des Jahres 2020 61 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Wer sich einen bekannten Anwalt leisten kann, hat bessere Chancen auf ein günstiges Urteil.“9 (Nur) 33 Prozent der Befragten sagten: „Vor Richtern habe ich großen Respekt.“ (Nur) 28 Prozent meinten: „Bei deutschen Gerichten kann man sich darauf verlassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“ Die Einstellungen in den ostdeutschen Ländern sind dabei noch einmal deutlich skeptischer als die in den westdeutschen Ländern. 3 4 5 6 7 8 9

Nullmeier et al., Prekäre Legitimitäten, 2010, S. 13. Barnickel (Fn. 2), S. 14. Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011. Vorländer (Fn. 1), S. 310. Patzelt, in: van Ooyen/Möllers (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System. 2. Auflage, 2015, S. 316. Voßkuhle, NJW 2018, S. 3154 ff. Institut für Demoskopie Allensbach, 2020, S. 16 ff.

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Vor dem Hintergrund dieser Einstellungsmuster hat Voßkuhle kurz vor dem Ende seiner Amtszeit die deutsche Justiz allgemein zu einer intensivierten Legitimationspolitik aufgerufen, auch wenn er den Begriff selbst nicht benutzt. Er setzt vor allem auf die Formel „Vertrauen durch Transparenz“. Er fordert eine „offensive Öffentlichkeitsarbeit“, in deren Kontext Gerichte ihre Entscheidungen „erklären“ und besser „kommunizieren“.10 Eine gute Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mindere „das Risiko von Missverständnissen oder sogar Falschmeldungen“. Eine gute Internetpräsenz solle die Transparenz von Entscheidungen und Verfahrensabläufen erhöhen. Zudem solle die „Bürgernähe der Justiz“ gesteigert werden, z. B. durch Tage der offenen Tür. Der vorliegende Beitrag möchte sich der Frage widmen, wie stark und in welcher Weise das Bundesverfassungsgericht selbst diesen Weg der Legitimationspolitik in den vergangenen Jahren beschritten hat. Interessant an der Diagnose Voßkuhles ist, dass er bei seinen Reformvorschlägen vor allem die Dimension der Akzeptanzbeschaffung adressiert. Demnach sind die Probleme des Rechtsstaats vor allem ein Kommunikationsproblem gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Die Dimension der normativen Anerkennungswürdigkeit der Urteile wird von Voßkuhle nicht thematisiert. Dies würde vermutlich auch kaum in der Öffentlichkeit stattfinden. Fest steht, dass Gerichte durchaus auch im Rahmen ihrer Urteile Praktiken der Selbstlegitimierung betreiben (können); sei es durch einen Wandel der Rechtsprechung oder durch Bemühungen, die stehende Rechtsprechung stärker zu substantiieren. So lässt sich feststellen, dass das Bundesarbeitsgericht nach einer Phase der starken Kritik in den 1960er Jahren dazu überging, seine Rechtsprechung zum arbeitsrechtlichen Günstigkeitsprinzip zu modifizieren, aber auch den Urteilsstil zu ändern: die Urteile wurden länger, intensiver begründet und stärker in der rechtswissenschaftlichen Literatur bzw. der Rechtsprechung verankert.11 Diese Dimension der Legitimationspolitik kann hier nicht weiterverfolgt werden, sondern der Beitrag beschränkt sich auf die Problemdiagnose Voßkuhles, Vertrauenserosion auf Transparenzdefizite zurückzuführen.

II. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zur Entscheidungstätigkeit Attestierte Vorländer dem Gericht noch im Jahr 2015, es würde „im Grundsatz keine Öffentlichkeitsarbeit“ betreiben,12 so wird diese Charakterisierung dem Gericht heute nicht mehr gerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Internetpräsenz in den letzten Jahren schrittweise ausgebaut. Seit 1998 werden die Entscheidungen online veröffentlicht. Zudem werden zahlreiche Pressemitteilungen (teilweise auch in englischer Sprache) verfasst und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Nutzt man diese Daten für eine empirische Analyse, dann fällt auf, dass der Anteil der Gerichtsentscheidungen, zu denen eine Pressemitteilungen verfasst wurde, im Zeitverlauf gesunken 10 Voßkuhle (Fn. 8), S. 3158. 11 Rehder, Rechtsprechung als Politik, 2011, S. 241 ff. 12 Vorländer (Fn. 1), S. 308.

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ist. Wurde im Zeitraum von 2006 bis 2010 noch durchschnittlich für jede vierte Entscheidung (27,7 %) eine Pressemitteilung verfasst, so sank der Anteil in der Folgezeit. Im Zeitraum 2016 bis 2020 wurde kaum mehr jede fünfte Entscheidung (18,1 %) explizit für die Presse und die Öffentlichkeit aufbereitet.

Abbildung 1

Dabei geht der gesunkene Anteil an Pressemitteilungen dezidiert nicht mit einer womöglich gestiegenen Zahl an Entscheidungen einher. Im Gegenteil, der statistische Zusammenhang zwischen der Zahl der Entscheidungen und der Menge an Pressemitteilungen ist schwach positiv (r = 0,39): je häufiger entschieden wird, desto häufiger wird tendenziell auch darüber berichtet. Stattdessen lässt sich beobachten, dass die Pressemitteilungen im Zeitverlauf länger wurden, die Entscheidungen des Gerichts werden heute also ausführlicher dargestellt. Betrug die durchschnittliche Länge einer Pressemitteilung im Zeitraum von 2001 – 2005 noch 736 Wörter, stieg sie bis zum Zeitraum von 2016 bis 2020 um ca. ein Drittel auf 1027 Wörter. Das heißt, die Öffentlichkeitsarbeit ist fokussierter geworden: es wird seltener über Entscheidungen berichtet, dafür aber umfassender. Der negative statistische Zusammenhang zwischen der Menge an Pressemitteilungen und ihrer Länge (r = -0,44) mag auf personelle Kapazitätsgrenzen hindeuten. Vielleicht signalisieren die Zahlen aber auch einen expliziteren und strategischeren Umgang mit der Darstellung der eigenen Tätigkeit: demnach wird selektiver und gezielter kommuniziert. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die neu geschaffene Publikationsform des Jahresberichts in die Analyse einbezieht, die für sich genommen ebenfalls als ein neues Instrument der Selbstlegitimierung verstanden werden kann.13 Hier listet das Gericht die Pressemit13 Bundesverfassungsgericht, Jahresbericht 2020 [Jahresbericht 2020 Bundesverfassungsgericht, Abruf am 1. 4. 2021].

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Abbildung 2

teilungen zu den zehn seiner Ansicht nach wichtigsten Entscheidungen des Jahres noch einmal auf. Und sie sind mit durchschnittlich 2077 Wörtern fast doppelt so lang wie der Durchschnitt aller Pressemitteilungen der letzten 5 Jahre. Also scheint zu gelten: das Bundesverfassungsgericht hat damit begonnen, seine Öffentlichkeitsarbeit zu fokussieren, und zwar auf die umfassende Darstellung solcher Urteile, die als besonders zentral eingeschätzt werden.

III. Maßnahmen zur Stärkung der Bürgernähe Auch die Kontaktpflege zu den Bürgerinnen und Bürgern hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Natürlich ist das Gericht als Verfassungsorgan bei offiziellen Gedenkfeiern und Festakten regelmäßig vertreten. Neu ist indessen die Präsenz bei den dazu gehörigen Volksfesten. So beteiligte man sich in den Jahren 2019 und 2020 mit Ausstellungen und Veranstaltungen an den Bürgerfesten zum Tag der Dt. Einheit.14 Auch der 70. Geburtstag des Grundgesetzes wurde 2019 im und vor dem Gerichtsgebäude mit einem „VerfassungsFEST“ sowie einem Tag der offenen Tür gefeiert.15 Naturgemäß dominiert bei diesen Formaten die Legitimationspolitik über Symbole: die scharlachrote Robe als Zeichen verfassungsrichterlicher Autorität spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Sie prägt das Titelbild des ersten Jahresberichts und wurde auch beim Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit 2019 in Potsdam in Szene gesetzt: „Auch das Bundesverfassungsgericht beteiligte sich an der Einheits-Expo und präsen14 Bundesverfassungsgericht (Fn. 13), S. 34 ff. 15 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung 30/2019, 24. April 2019 [Bundesverfassungsgericht – Presse – Festveranstaltungen „70 Jahre Grundgesetz und 50 Jahre Baumgarten-Bau“, Abruf am 1. 4. 2021].

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tierte sich multimedial in zwei Glascubes auf dem Potsdamer Luisenplatz. Acht Karlsruher Roben – hinter einem roten Vorhang, mit Leuchteffekten in Szene gesetzt – bildeten das Herzstück einer der beiden Präsentationen.“16 Eine unmittelbare und interaktive Bürgernähe wurde zudem gesucht durch einen Fernsehauftritt des damaligen Gerichtspräsidenten Voßkuhle zur Primetime in der ARD, ebenfalls anlässlich des 70. Grundgesetz-Jubiläums. Im Talkshow-Format wurde – erstmalig in der Geschichte der Institution – der oberste Verfassungsrichter von 150 Bürgerinnen und Bürgern befragt, was in der Presse durchaus wohlwollend kommentiert wurde.17 Gleichwohl werden solche Formate bei realistischer Betrachtung die Ausnahme bleiben, denn folgt man der Nachrichtenwerttheorie, wird ein Gerichtspräsident – kaum dazu in der Lage sein, die zentralen journalistischen Selektionskriterien zu bedienen: Emotionalisierung, Personalisierung, Konfliktorientierung.18 Dies ist anders bei politischen Akteuren, deren tägliches Brot in genau dieser Art von Legitimationspolitik liegt. Zudem hat das Talkshow-Format die Grenzen der Strategie, Vertrauen durch Transparenz zu schaffen, aufgezeigt: allzu neugierige Fragen nach dem Innenleben des Gerichts stießen an die Grenze des Beratungsgeheimnisses, politische Festlegungen ließ sich Voßkuhle kaum entlocken, und auch bei strittigen Rechtsfragen wich er vor allem aus, um laufende oder potentiell zukünftige Verfahren nicht zu präjudizieren. Versuche, Transparenz zu schaffen, verdeutlichen erst einmal vor allem eines: die existierende Intransparenz. So können Auftritte dieser Art wohl einen Beitrag dazu leisten, die Uneindeutigkeit und die Komplexität des Rechts zu erklären und dabei herauszuarbeiten, dass zu fast allen Rechten auch „Gegenrechte“ existieren, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Damit wird vermutlich das Recht als Institution stärker legitimiert, nicht aber unbedingt das Gericht.

IV. Die Selbstlegitimierung der Richterinnen und Richter Interessanterweise sind beim Bundesverfassungsgericht Strategien erkennbar, die nicht nur darauf abzielen, die Legitimation des Gerichts zu erhöhen, sondern auch die der Richterinnen und Richter. Dies mag mit den oben beschriebenen Einstellungsmustern zu tun haben, die verdeutlichen, dass eine Richterrobe allein nicht (mehr) ausreicht, um Autorität zu vermitteln. Vielleicht spielen auch Modifikationen in der Richterauswahl eine Rolle. Während die Richterbank über Jahrzehnte vor allem von Bundesrichterinnen und -richtern oder von Rechtsprofessorinnen und -professoren geprägt war, wurden zuletzt vermehrt Kandidatinnen und Kandidaten berufen, die entweder Politikerfahrungen mitbrachten oder – wie im Fall des aktuellen Gerichtspräsidenten Stephan Harbarth – zusätzlich auch Erfahrungen als Rechtsanwalt, der kraft seines 16 Bundesverfassungsgericht (Fn. 13), S. 34. 17 Janisch, Halb Mensch, halb Institution, Süddeutsche Zeitung vom 22. Mai 2019 [Voßkuhle in Talkshow: Halb Mensch, halb Institution – Medien – SZ.de (sueddeutsche.de), Abruf am 1. 4. 2021]. 18 Galtung/Ruge, The Structure of Foreign News, Journal of Peace Research 2(1) 1965, S. 64 ff.

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Berufes Interessenvertreter ist. Im Falle von Harbarth führte dies sogar zu einer Verfassungsbeschwerde gegen seine Ernennung, weil seine Anwaltskanzlei im Rahmen des Dieselskandals die Volkswagen AG vertrat, auch wenn er selbst an dem Mandat nicht beteiligt war.19 Zudem mehrten sich in den vergangenen Jahren kritische Stimmen über die politischen und/oder gutachterlichen Tätigkeiten ehemaliger Verfassungsrichterinnen und -richter.20 Das Gericht hat damit reagiert, dass es erstens auf seiner Homepage seit 2018 die Nebeneinkünfte der Richterinnen und Richter aus Vorträgen, Publikationen und Veranstaltungen ausweist – und zwar anders als z. B. bei den Abgeordneten des Bundestages auf Heller und Pfennig und nicht gebrochen durch Einkommensklassen. Dabei wird vor allem deutlich, dass es zwar einerseits durchaus beträchtliche Einkommensunterschiede gibt, dass die Nebeneinkünfte andererseits aber im Vergleich zu Parlamentsangehörigen insgesamt zu vernachlässigen sind. Zweitens hat das Gericht einen Katalog an „Verhaltensleitlinien“ verabschiedet, mit denen – zwar bisher ohne Sanktionspotential – ein Weg beschritten wurde, Standards guter richterlicher Praxis zu definieren, die sich weniger auf die Tätigkeit am Gericht als auf ihr Wirken in der Öffentlichkeit beziehen. Die meisten dort festgelegten Regeln sind ziemlich blumig formuliert. Öffentliche Stellungnahmen und politisches Engagement sollen in „angemessener Zurückhaltung“ ausgeübt werden. Das persönliche Verhalten soll der „Würde des Amtes“ entsprechen. Trotzdem ist dieser Ethik-Kodex bemerkenswert, weil er zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichts die Richterinnen und Richter als Menschen mit politischen Bindungen thematisiert. Es wird offenbart, dass sich im Handeln von Richterinnen und Richtern ähnliche Legitimitätsprobleme zeigen können wie im Verhältnis von Parlamentsabgeordneten zu Interessengruppen. Dabei spielt nicht nur die Frage der Nebeneinkünfte eine Rolle, sondern auch der sogenannte „Drehtür“Effekt, der verdeutlicht, dass für ausscheidende Richterinnen und Richter ein weiteres politisches und juristisches Betätigungsfeld existiert, das sich nicht im Bundespräsidentenamt erschöpft. Ob allerdings die Ernennung ausgerechnet eines ehemaligen Rechtsanwalts zum Gerichtspräsidenten, dessen ehemaliger Arbeitgeber an einem der größten zivilrechtlichen Streitfälle der letzten Jahrzehnte mit vielen Hunderttausend Klagenden beteiligt war21, dem Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht zuträglich ist, ist eine andere Frage.

19 BVerfG 2 BvR 2082/19 [Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Ernennung zum Richter des Bundesverfassungsgerichts, 18. 2. 2020, Abruf am 1. 4. 2021]. 20 Van Lijnden, Vertrauen und Verantwortung. Legal Tribune Online, 23. 2. 2017 [Ethikkodex: BVerfG will Vertrauen erhalten (lto.de), Abruf am 1. 4. 2021]. 21 Rehder/van Elten, LegalTech & Dieselgate, ZfRS 39 (1) 2019, S. 64 – 86.

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V. Fallstricke gerichtlicher Legitimationspolitik Zusammengefasst kann dem Bundesverfassungsgericht attestiert werden, dass es einen Reformweg eingeschlagen hat, der darauf abstellt, die Institutionen und ihre Richterinnen und Richter selbst zu legitimieren, anstatt sich auf ein überliefertes Narrativ hoher Anerkennungswerte zu verlassen. Die vom früheren Gerichtspräsidenten Voßkuhle formulierte Strategie, Vertrauen durch Transparenz zu schaffen, ist in den institutionellen Praktiken deutlich sichtbar. Allerdings wird durch die Versuche, Transparenz zu schaffen, gleichzeitig zuerst einmal die existierende Intransparenz bewusst und der öffentlichen Diskussion zugänglich. Zudem stellt sich die Frage, ob eine Strategie der Selbstlegitimierung, die durchaus Analogien zu politischen Akteuren zulässt, für das Bundesverfassungsgericht dauerhaft praktizierbar ist. Womöglich gelten für Gerichte andere Legitimierungsimperative als für die Politik – auch gegenüber der Öffentlichkeit. In der Literatur wird das hohe Karlsruher Ansehen in der Bevölkerung darauf zurückgeführt, dass das Gericht eben nicht im (zuweilen auch schmutzigen) politischen Tagesgeschäft aktiv ist und insofern auch als scheinbar unpolitische Institution wahrgenommen wird. Auch haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass ein hohes Maß an öffentlicher Berichterstattung und Aufmerksamkeit häufig mit negativen Bewertungen einhergeht. In diesem Sinne gilt der „Grundsatz, dass das Rampenlicht dem Verfassungsgericht nicht zuträglich ist.“22 Dann aber schafft mehr Transparenz, mehr öffentliche Erklärung und die offene Thematisierung politischer Bindungen womöglich nicht zusätzliches Vertrauen, sondern das Gegenteil. Wenn sich auch Richterinnen und Richter mit Nebeneinkünften, Interessenkollisionen und „Drehtür“-Effekten beschäftigten und diese zumindest rudimentär regulieren müssen, dann sind sie vielleicht ja doch gar nicht so weit vom politischen Tagesgeschäft entfernt. Den Rechtsexpertinnen und -experten ist dieser Umstand voll bewusst. Ob das auch für alle Bürgerinnen und Bürger so gilt, ist fraglich. Womöglich genießt das Bundesverfassungsgericht hohe Zustimmungswerte nicht trotz, sondern wegen seiner Intransparenz.

22 Lembcke, Über das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, 2006, S. 38.

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„Political Question Doctrine“ – eine Reformoption für das Bundesverfassungsgericht? Von Marcus Höreth „Verfassungsstreitigkeiten sind immer politische Streitigkeiten. In dieser Tatsache liegt das Problematische der ganzen Einrichtung.“ (Heinrich Triepel)1

I. Einleitung Die starke Neigung des Bundesverfassungsgerichts, sich in die Verantwortungsbereiche von Exekutive und Legislative einzumischen, hat immer wieder zu Überlegungen darüber angeregt, wie der „Hüter der Verfassung“ aus dem politischen Kerngeschäft, das man bei den beiden anderen Gewalten besser aufgehoben sieht, herausgehalten werden könnte. Aus gutem Grund sind jedoch Reformkonzepte, die das Gericht formal in seinen Kompetenzen beschnitten hätten, nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Von den aufgrund des hohen Ansehens des Gerichts unerwünschten Kompetenzbeschneidungen zu unterscheiden sind zum einen die an das Gericht von außen herangetragenen Appelle, sich bei seiner Rechtsprechung stärker zurückzuhalten; zum anderen das im Gericht selbst geäußerte Bekenntnis zum „judicial restraint“. Eng mit der Theorie der richterlichen Zurückhaltung verbunden, jedoch keineswegs deckungsgleich, ist die Diskussion um „politische Fragen“, die besser von den beiden anderen Gewalten selbst beantwortet werden sollten und nicht vom Gericht. Zumindest der Theorie nach wäre der von vielen erwünschte Effekt einer solchen Doktrin, dass sich das häufig mit dem Vorwurf des richterlichen Aktivismus konfrontierte Gericht aus dem von der Politik demokratisch zu verantwortenden Bereich stärker heraushalten könnte bzw. müsste. Der Beitrag unternimmt es, der Frage nachzugehen, ob eine solche Reformoption für das BVerfG sinnvoll ist.

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Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVdStRL 5, 1929, S. 28.

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„Political Question Doctrine“ – eine Reformoption für das Bundesverfassungsgericht?

II. Das Konzept hinter der Political Question Doktrin 1. Das Postulat richterlicher Zurückhaltung Autorität und Glaubwürdigkeit aller modernen Höchst- und Verfassungsgerichte hängen davon ab, dass sie „die Grenzen richterlicher Verantwortung“2 beachten. Funktionell-rechtlich bedeutet dies, dass die judikative Gewalt keine Funktionen wahrnehmen soll, die von der Verfassung den anderen Gewalten anvertraut worden sind. William O. Douglas, ehemaliger Richter am US Supreme Court, hat hierzu festgestellt: „Where the Constitution assigns a particular function wholly and individually to another department, the federal judiciary does not intervene.“3 Eine solch striktes Interventionsverbot gegenüber dem Verantwortungsbereich der legislativen und exekutiven Gewalt intendierte auch Wolfgang Abendroth, als er das Bundesverfassungsgericht nach gerade einmal zwei Jahren seiner Tätigkeit bereits ermahnte, im „Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates“ zu stehen und „den demokratisch legitimierten Gesetzgeber nur korrigieren darf, wenn er in grober Weise den äußersten Rahmen verletzt, den die Rechtsgrundsätze des Grundgesetzes ihm gestellt haben. Denn zur inhaltlichen Ausfüllung ist in der Demokratie primär der Gesetzgeber berufen.“4 Über dieses strenge Postulat ist das Gericht später sicher hinweggegangen, eine solch weitreichende Selbstbeschränkung wollte und konnte sich das Gericht nicht zumuten. Das ist umso erstaunlicher, da das Gericht selbst hin und wieder betont hat, den Verantwortungsbereich der legislativen und exekutiven Gewalt strikt beachten und sich selbst richterliche Zurückhaltung auferlegen zu wollen.5 So hat sich das Gericht etwa in seinem Urteil zum „Grundlagenvertrag“ aus dem Jahre 1973 ostentativ zum Grundsatz der „judicial restraint“ bekannt: „Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner (…) Kompetenzen, sondern den Verzicht ,Politik zu treiben‘, d. h. in dem von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“6 In dieses Urteil passte das Lippenbekenntnis nur allzu gut, war es doch von seinem Tenor her geeignet, sowohl von der damaligen SPD/FDP-Regierung als auch von der CDU/CSUOpposition als „Sieg“ gefeiert zu werden. Doch lässt sich kaum behaupten, dass das

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Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, 1965. Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 246 (1962). Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: FS Ludwig Bergsträsser, 1954, S. 279 – 300, S. 287. Zuck, Political-Question-Doktrin. Judicial-self-restraint und das Bundesverfassungsgericht, in: Juristenzeitung 29/1974, S. 361 – 368, S. 365 m. w. N. BVerfGE 61, 1 (75).

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Gericht gegenüber weiteren (gescheiterten) zentralen Reformvorhaben der rot-gelben Regierung in den 1970er Jahren7 diese Zurückhaltung tatsächlich an den Tag gelegt hätte. Zurückhalten kann und will sich das Gericht grosso modo bis heute nicht. 2. Die US-amerikanische Doktrin der „Political Questions“ Allerdings ist die exakte Bestimmung der Grenzen der richterlichen Verantwortung entlang expliziter Kompetenzanweisungen an die Judikative oder die beiden anderen politischen Gewalten ein schwieriges Unterfangen, wie schon die Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts in dessen Mutterland, der USA, illustriert. 1962, in „Baker v Carr“8, arbeitete Richter Brennan erstmals die Kriterien zum Vorliegen einer nichtjustiziablen „political question“ heraus: – Die Verfassung verweist die Entscheidungskompetenz an eine andere Gewalt. – Gerichtlich sind keine anwendbaren Standards zur Lösung der Frage zu entdecken. – Es ist dem Gericht unmöglich, vor einer vorgängigen politischen Ermessensentscheidung zu entscheiden. – Das Gericht kann nicht entscheiden, ohne die Achtung zu verletzten, die einer anderen Staatsgewalt zusteht. – Ausnahmsweise kann es notwendig sein, eine vorausgegangene Entscheidung ohne Hinterfragen zu übernehmen. – Wenn durch unterschiedliche Verlautbarungen verschiedener staatlicher Gewalten mit Blick auf die gleiche Frage ein potentieller Schaden entstünde. Brennans Kriterien wurden zwar viel diskutiert, jedoch niemals als verbindliche „Doktrin“ anerkannt. Deshalb spielte sie vor und nach dem Urteil kaum eine den Supreme Court in seiner Rechtsprechung effektiv begrenzende Rolle.9 Dieser hat sich in vielen Fällen trotz jener Kompetenzzuweisungen an die anderen Gewalten gerade nicht gescheut, sein richterliches Prüfungsrecht expansiv wahrzunehmen.10 Natürlich führt auch die Identifikation eines vom Gericht zu beurteilenden Sachverhalts als besonders „politisch“ – als „politically hot“11 – keineswegs automatisch dazu, dass das Gericht sich „judicial restraint“ auferlegt oder sich gar – wie Finkelstein noch 1924 meinte12 – aus diesem Grund einem Urteil ganz verweigert. Wäre dies der Fall, hätte z. B. die berühmte Rechtsprechung zur Rassenintegration13 unterbleiben müssen.14 7 Vgl. exemplarisch nur BVerfGE 35, 79 (Hochschul-Urteil 1973), BVerfGE 91, 1 (Schwangerschaftsabbruch I 1975); BVerfGE 48, 127 (Wehrpflichtnovelle 1978). 8 Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 246 (1962). 9 Vgl. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen, 1994, S. 29 ff. 10 Scharpf (Fn. 2), S. 391. 11 Rupp, Some Remarks on Judicial Self-Restraint, in: Ohio State Law Journal 21/1960, S. 503 – 520, S. 511. 12 Finkelstein, Judicial Self-Limitation, in: Harvard Law Review 37/1924, S. 338 – 364. 13 Kluger, Simple Justice. The History of Brown v. Board of Education and Black America’s Struggle for Equality, Vintage Books, New York 1977.

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Wichtig ist zu verstehen, dass die Political Question-Doktrin dem Supreme Court nicht von außen, also von den politischen Gewalten, auferlegt wurde, sondern vom Gericht selbst erfunden wurde, um sich einen größeren Spielraum zu erobern. Von zentraler Bedeutung ist daher nicht, was die Doktrin inhaltlich besagt – darüber lässt sich offensichtlich ohnehin kein Konsens herstellen –, sondern wer darüber entscheidet, wann sie zur Anwendung kommt. Und das ist selbstverständlich das Gericht selbst, dessen institutionellen Eigeninteressen nur selten in richterrechtliche Zurückhaltung münden. Darauf deutet auch die Entstehungsgeschichte der Doktrin hin: Im Nukleus entwickelte der Supreme Court diese Idee nämlich bereits in seiner Bahn brechenden „Marbury v. Madison“-Entscheidung15, um – versteckt hinter vermeintlicher politischer Zurückhaltung – sein richterliches Prüfungsrecht expansiv durchzusetzen.16 Erst später sah das Gericht in der (vermeintlichen) Doktrin eine wichtige Möglichkeit der Nicht-Entscheidung, um so Grenzen der richterlichen Verantwortung nicht nur juristisch-dogmatisch, sondern auch politisch-pragmatisch zu identifizieren. Allerdings immer nur dann, wenn es das Gericht so wollte – die „Doktrin“ hat somit zu keiner Zeit zu einer echten, gewissermaßen gerichtsexogenen, strukturellen und rechtlich nachvollziehbaren Einschränkung richterrechtlicher Landnahmen in den Domänen der beiden anderen politischen Gewalten geführt. Womöglich gibt es eine solche Doktrin deshalb schlicht und einfach nicht.17 In seiner auch in den USA bis heute vielbeachteten Untersuchung erklärt Fritz W. Scharpf die Doktrin damit, dass „political questions“ Rechtsfragen beträfen, „für deren Entscheidungen das Gericht nicht die Verantwortung übernehmen kann“18. M. E. übersieht er hier jedoch das voluntaristische Moment, welches in der gerichtsseitigen Entscheidung für das Nichtentscheiden liegt. Nicht, ob sie die Verantwortung übernehmen können, leitet das Gericht in seiner Entscheidungsfindung oft an, sondern ob sie es wollen. Hätte „Brown v. Board of Education“ ähnlich wie z. B. „Dread Scott“19 so viel Öl ins Feuer gegossen, dass daraus ein weiterer Bürgerkrieg entstanden wäre, hätte das Gericht schwerlich hierfür die Verantwortung übernehmen können – und doch entschied man in der hoch angespannten Lage in den 1950ern, mit einer 9:0-Entscheidung, die separate but equal-Doktrin einzukassieren, wohlwissend, welche politischen Wellen bis hin zur Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände das schlagen musste. Neun Richter wollten trotzdem ein klares Zeichen setzen. 14 Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). 15 Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Crunch) 137, 166 (1803). 16 Vgl. ausführlich zum Fall und den strategischen Motiven des Gerichts hinter dem Urteil Höreth, Die Etablierung verfassungsgerichtlicher Streitschlichtung: Marbury v. Madison als richterliche Selbstautorisierung und sanfte Revolution“, in: Amerikastudien, Bd. 54 (2009), S. 211 – 228. 17 So die überzeugende These bei McCloskey, The Modern Supreme Court, 2. Auflage, 1973, S. 270. 18 Scharpf (Fn. 2), S. 405. 19 Dread Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857).

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Tatsächlich kann es sein, dass „die vollständige Aufklärung der entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen nicht gewährleistet erscheint“20, was das Gericht dazu veranlasst, nicht zu entscheiden, oder aber – zumindest weitgehend – auf sein Prüfungsrecht zu verzichten. Das Gericht scheut auch manchmal Urteile aus Respekt vor der spezifischen Verantwortung eines anderen Verfassungsorgans und den von ihm gemachten politischen Vorentscheidungen. Das kann vor allem in Entscheidungen über die US-Außenpolitik beobachtet werden. In diesen Verantwortungsbereich anderer Organe greift das Gericht tatsächlich nur ungern ein. Doch die Erklärung hierfür – das Gericht sei nicht in der Lage, „die Konsequenzen und Rückwirkungen seiner Entscheidung zu beeinflussen“21 – träfe auch bei vielen anderen Entscheidungen zu, in denen sich das Gericht gerade keine Zurückhaltung auferlegen wollte. Ein weiterer Aspekt ist zu bedenken: Auch unter gelegentlicher Beachtung der Political Question-Doktrin ist richterliche Zurückhaltung offensichtlich niemals ein Zweck an sich gewesen, sondern eher ein Mittel, die höchstrichterliche Autorität nachhaltig zu bewahren und vielleicht sogar auszubauen. Möglicherweise ist es gerade die gelegentliche Zurückhaltung bei manchen (wenigen) Fällen gewesen, die das Gericht aufgrund des damit verbundenen Glaubwürdigkeitsgewinns in die Lage versetzte, seine Interventionen in die Domänen der beiden anderen Gewalten fortzusetzen, wann immer und wo dies das Gericht für wirklich notwendig hielt. 3. Eine Political Question-Doktrin für das Bundesverfassungsgericht? Damit wendet sich der Blick zum Bundesverfassungsgericht. Macht es vor dem Hintergrund der US-Erfahrungen Sinn, mit Hilfe einer entsprechenden Doktrin die Zurückdrängung der richterlichen Gewalt unseres Hüters der Verfassung anzustreben? Sie müsste dann von außen dem Gericht auferlegt werden, denn das Gericht hat schon frühzeitig die Existenz einer solchen Doktrin im deutschen Verfassungsrecht indirekt verneint.22 Zwar hat auch das BVerfG etwa in seinem Saar-Urteil23 betont, dass es in den Verantwortungsbereich der politischen Verfassungsorgane falle, wie mit dem s. g. „Saarstatut“ umzugehen sei – im Rahmen ihres Ermessensspielraums.24 Im Grundlagenurteil25 griff das Gericht sogar selbst auf die Denkfigur des „judicial restraint“ zurück, um zu begründen, warum es sich unter dieser spezifischen Fallkonstellation zurückhalten will. Das Gericht musste hier entscheiden, ob es dem Antrag auf eine einstweilige Anordnung (zur Außerkraftsetzung des Vertrages) stattgeben sollte. Das Scharpf (Fn. 2), S. 405. Scharpf (Fn. 2), S. 413. BVerfGE 2, 79 (96). BVerfGE 4, 157 ff. BVerfGE 4, 157 (178). Und ob sich Politik noch innerhalb dieses Ermessenspielraums bewegt – so mag man hier hinzufügen – hätte dann doch wieder Gegenstand der richterlichen Kontrolle werden können. 25 BVerfGE 35, 257 ff.

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Gericht lehnte dies mit Verweis auf „judicial restraint“ ab. Mehr noch, das Gericht habe sich den Grundsatz „in solchen Fällen in ständiger Rechtsprechung“ ohnehin auferlegt. Zur Begründung: „Es lässt sich nicht absehen, welche politische Risiken mit einer Verzögerung des Inkrafttretens des Vertrages verbunden sein werden.“26 Hier wollte das BVerfG ganz offensichtlich nicht die Verantwortung für die politischen Folgen übernehmen, die die Außerkraftsetzung des Vertrages gehabt hätten. Rechtlich waren wegen der Absenz einer Political Questions-Doktrin im deutschen Verfassungsrecht diese Urteile keineswegs zwingend – politisch klug waren sie allemal. Für die meisten Schlüsselentscheidungen des BVerfG lässt sich eine solche richterliche Zurückhaltung kaum ausmachen. Ein häufiger Vorwurf an das Gericht lautet daher, es missachte den weiten Spielraum, den die Verfassung dem Gesetzgeber ursprünglich geboten habe, indem es diesen durch seine Urteile in unzulässiger Weise einenge. Diese Kritik ist nicht neu, und hat dem BVerfG den Vorwurf eingehandelt, es gebärde sich als „Übergesetzgeber“, „Ersatzgesetzgeber“ oder als „Dritte Kammer“ im bundesrepublikanischen Regierungssystem.27 Diskutiert wird dieses Problem insbesondere im Zusammenhang mit der (abstrakten) Normenkontrolle, durch die das Verfassungsgericht in die Domäne des demokratisch legitimierten Gesetzgebers unmittelbar eingreifen kann. Schon 1978 mahnte der damalige Justizminister Vogel, das Bundesverfassungsgericht solle der Versuchung widerstehen, „die Verfassung in allzu kleine Münze umzuwechseln und bei Detailfragen mit dem Argument aufzutreten, dies und nichts anderes gebiete das Grundgesetz“28. Vogel reagierte mit dieser Kritik auf ein Gericht, dass sich oft nicht damit begnügen will, die bestehende Gesetzeslage als verfassungswidrig zu verwerfen, sondern darüber hinaus auch genaueste Vorgaben darüber macht, wie denn ein verfassungskonformes Gesetz aussehen müsse und bis zu welchem Zeitpunkt es zu erlassen sei. Befürworter einer größeren Selbstzurückhaltung des Gerichts verweisen in diesem Zusammenhang deshalb gerne auf die USA, wo die PoliticalQuestion-Doktrin dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit gibt, eine Streitentscheidung mit Verweis auf ihren politischen Charakter zu verweigern. Dieser Ausweg ist dem Verfassungsgericht jedoch aus einer Reihe von Gründen versperrt. Der wichtigste Grund hierfür liegt im symbiotischen Verhältnis von Recht und Politik oder anders ausgedrückt an der besonderen Kopplung von Recht und Politik im demokratischen Verfassungsstaat.29 Verfassungsrecht ist hier seinem Wesen nach politisches Recht. Auch Verfassungsfragen sind justiziable Fragen, die durch Richter im Wege der Rechtsprechung zu beantworten sind. Rechtsfragen wiederum darf das BVerfG nicht ausweichen. In verfassungshistorischer Hinsicht ist die Erkenntnis, dass 26 BVerfGE 35, 257 (261). 27 Vgl. m. w. N. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit im sozialen Rechtsstaat, Hannover 1980, S. 11 ff. 28 Zitiert bei Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, 2003, S. 26. 29 Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz, 2011, S. 77 – 157, S. 103 ff.

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die Verfassung überhaupt Recht ist, jedoch neueren Ursprungs. Noch in der Weimarer Republik wurde der reguläre Rechtscharakter der Verfassung bezweifelt. Die Verfassung stellte aus dieser Perspektive – für die vor allem Carl Schmitt30 Pate stand – eher eine vorund außerrechtlich gedachte und damit nicht justiziable politische Grundentscheidung dar. Von dieser Vorstellung hat man in der Bundesrepublik gründlich Abstand genommen. Das Grundgesetz stellt zwar dem Rang nach und auch von den Regelungsgegenständen und letztlich auch von seinen Entstehungsvoraussetzungen her besonderes Recht dar, gleichwohl ist es reguläres positives Recht. Innerhalb der innerstaatlichen positivrechtlichen Normenhierarchie steht die Verfassung an der Spitze und gewinnt über diese Position die Fähigkeit, alles übrige positive Recht innerhalb der staatlichen Rechtsordnung lenken zu können. Abstrakt und von alleine kann dies kaum gelingen. Deshalb übernimmt das BVerfG als letztverbindlicher Interpret der Verfassung deren Lenkungs- und Leitfunktion. Jede Rechtsfrage kann und muss in dieser Perspektive gegebenenfalls als Verfassungsfrage behandelt werden können und umgekehrt ist jede Verfassungsfrage, die in Verfassungsstreitigkeiten aufgeworfen wird, eine reguläre Rechtsfrage, die vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden kann und auch muss. Das Verfassungsgericht kann vor diesem Hintergrund lediglich in Detailfragen so entscheiden, dass es diese letztlich nicht selbst entscheidet, sondern den politisch Verantwortlichen der näheren Ausgestaltung überlässt – aber eben wieder in den Grenzen, der Zwecksetzung und mit den Mitteln, die das Gericht vorgibt und zulässt. Lediglich in der Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt dem Gericht ein gewisser Freiraum der Nichtentscheidung, aber auch nur solange keine verfassungsrechtliche Frage aufgeworfen ist.31 Eine Political Question-Doktrin hilft also wenig dabei, den Einfluss des Gerichtes zurückzudrängen. Dessen ungeachtet vermag sie auch inhaltlich nicht zu überzeugen. Selbst wenn die abweichende Tradition des angelsächsischen Rechtssystems in Rechnung gestellt wird, liegt in der durch die Supreme Court-Richter verantworteten Bewertung einer Streitfrage als politisch stets sogar ein potenzielles Element der Willkür. Dem deutschen Verfassungsgericht bleibt ein solcher Ermessensspielraum versagt. Wann immer verfassungsrechtliche Aspekte tangiert sind, muss es sich mit einer Angelegenheit, die ihm als Streitfall vorgelegt wird, befassen. Das ist umso unverzichtbarer, je politisch strittiger die aufgeworfene Frage ist. Das bedeutet, dass unter Verweis auf eine political question „ein opportunistisches Ausweichen vor riskanten Fällen oder explosiven Fragen“32 nicht möglich ist. Geht man vom – auch positivrechtlichen – Vorrang der Verfassung aus, dann wird die counter-majoritarian difficulty33, die darin 30 Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928. 31 Vgl. van Ooyen, Krieg, Frieden und außenpolitische Parlamentskompetenz. John Lockes ,föderative Gewalt‘ im Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, in: IPG 3/2008, S. 86 – 106; Piazolo (Fn. 9), S. 57 f. 32 Scharpf (Fn. 2), S. 404. 33 Bickel, The Least Dangerous Branch of Government. The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962.

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liegt, dass die rechtsprechende Gewalt mehrheitlich beschlossene Akte der gesetzgebenden Gewalt aufheben und insoweit als negativer Gesetzgeber34 wirken kann, deutlich entschärft. Denn auch die Gesetzgebung ist durch das Recht, hier die Verfassung, gebunden. Auch diese besondere Form der Rechtsbindung kann und muss in einem demokratischen Verfassungsstaat einer justiziellen Kontrolle unterzogen werden,35 unabhängig von bestehenden politischen Mehrheiten. Die Bindung auch des Gesetzgebers an ein Recht höheren Ranges ist nur dann eine echte Bindung, wenn es eine Instanz gibt, die sie gegenüber dem Gesetzgeber zur Geltung bringt. Eben dies ist die Kernkompetenz des Verfassungsgerichts.36 Alles was es braucht, damit ein Gericht entsprechend tätig wird, ist ein Akteur, der ihm einen entsprechenden Fall zur Prüfung vorlegt. Wenn also über Verantwortung gesprochen wird, dann muss vor allem über die Verantwortung der politischen Akteure gesprochen werden, die oft dem Gericht die Entscheidung über politische strittige Materien überlassen wollen. Die Political Question-Doktrin müsste vor allem bei ihnen verinnerlicht werden, damit das Gericht in Karlsruhe gar nicht erst mit der Notwendigkeit konfrontiert wird, eine Entscheidung herbeizuführen. Der letzte Punkt verweist auf eine wichtige Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit: Das BVerfG kann nicht aus eigenem Antrieb, sondern erst nach Anrufung tätig werden. Damit unterscheidet es sich prinzipiell von den anderen Verfassungsorganen, die im politischen Entscheidungsprozess eine aktive Rolle übernehmen. Womöglich sollten daher Missbrauchsvorwürfe, wenn sie denn erhoben werden, weniger auf die Entscheider als an die Initiatoren der Klagen gerichtet sein. Sie sind es in der Vergangenheit oft gewesen, die das Verfassungsgericht z. B. im Rahmen einer Organkontrollklage oder einer abstrakten Normenkontrolle in den Parteienwettbewerb hineingezogen und als „Vetospieler“ instrumentalisiert haben. Das Gericht wurde so – ohne eigenes Zutun – oft in die Auseinandersetzungen zwischen Regierungsmehrheit und Opposition verwickelt. Doch diese Scharmützel zwischen Gericht und demokratisch verantwortlicher Politik sind ein Relikt der Vergangenheit, insbesondere aus den 1970er Jahren.37 Gegenwärtig

34 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 1929, S. 30 – 88, S. 56. 35 Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, 1999, S. 157 – 182, S. 161. 36 Kielmansegg, Die Instanz des letzten Wortes. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung in der Demokratie, 2005, S. 2. 37 Interessanterweise haben damals vor allem SPD-geführte Bundesregierungen (1969 – 1982) gelitten. Ihre als verfassungswidrig verurteilten Reformvorhaben bewegten sich oft in einem verfassungsrechtlich sensiblen Bereich, etwa beim vorhin angesprochenen Grundlagenvertrag, bei der Hochschulorganisation (BVerfGE 35, 79 – Hochschul-Urteil (1973)), bei der Wehrpflichtreform (BVerfGE 48, 127 – Wehrpflichtnovelle) oder auch bei der Einführung der

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bleibt hingegen die Regelungsfreudigkeit des Gerichts ein Problem. Nicht „Ob“ das Gericht bestimmte Fälle entscheidet, ist problematisch, denn es kann – wie gesehen – Entscheidungen nicht ausweichen, sondern „Wie“, d. h. mit welcher Kontrolldichte, Prüfungsintensität und inhaltlich-materieller Interventionsbereitschaft es Fälle entscheidet, ist zuweilen verwunderlich. Auf welche Weise das BVerfG seinen auch durch eine Political Question-Doktrin kaum zu begrenzenden Spielraum bei der Verfassungsinterpretation nutzt, um weit in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einzugreifen, bleibt daher zumindest fragwürdig. Von „außen“ abzustellen ist dieser richterliche Aktivismus jedoch kaum, da nur das Gericht selbst die Grenzen seiner eigenen Rechtsprechung markiert. Ein massiver Eingriff seitens der Politik in die Unabhängigkeit und Kompetenzfülle des Gerichts ist jedenfalls aller Voraussicht nach mit zu hohen rechtsstaatlichen und politischen Kosten verbunden.38

III. Fazit und Ausblick Aus einer normativen Perspektive lässt einen der hier vorgestellte Befund rund um das Thema „Political Questions“ etwas ratlos zurück. Wer die zuweilen expansive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ablehnt, findet hier jedenfalls keine Lösung. Doch es ist tatsächlich an der Zeit, grundlegend die Rolle des Verfassungsgerichts zu überdenken. Um der zuerst von Alexis de Tocqueville formulierten Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ zu begegnen, wurde das Verfassungsgericht ganz bewusst als Gegengewicht zu stabilen Regierungsmehrheiten (Regierung plus parlamentarische Mehrheit) konzipiert, die die Demokratie des GG hervorbringen sollte. Seine Aufgabe bestand u. a. darin, der Parlamentsmehrheit Schranken zu setzen. In der Gegenwart macht diese Funktionsbeschreibung kaum mehr einen Sinn. Regierungsmehrheiten in Deutschland werden inzwischen auch durch andere Faktoren wirksam beschränkt. Einer der wichtigsten dieser Faktoren ist der föderale Verhandlungszwang, dem sich jede Regierung gegenüber dem zunehmend heterogener zusammengesetzten Bundesrat ausgesetzt sieht. Regierungsmehrheiten müssen deshalb immer häufiger Kompromisse mit der Opposition eingehen – zumal dann, wenn sich möglicherweise zukünftig das Format der Minderheitsregierung im Bund durchzusetzen vermag.39 Die parlamentarische Mehrheitsdemokratie des GG wird daher immer stärker zu einer Verhandlungsdemokratie. Unter diesen Umständen verliert das BVerfG zusehends seine Rolle als der entscheidende Wächter gegenüber stabilen „durchregierenden“ Regierungsmehrheiten, denn diese gibt es immer seltener. Wer auch immer regiert, der wird (selbst) kontrolliert durch immer zahlreichere Koalitionspartner, eine bei grundlegenden poFristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (1975)). 38 Vgl. zu entsprechenden Reformüberlegungen die Beiträge von Jestaedt, Barczak und Möllers in diesem Band. 39 Müller, Melanie und Höreth, Minderheitsregierung im Bundestag? Lehren aus Schweden zum Oppositionsverhalten, in: ZParl (im Erscheinen).

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litischen Fragen immer häufiger gebrauchten kooperationswilligen Opposition, einem von immer bunteren Koalitionen dominierten Bundesrat mit selbstbewussten Ministerpräsidenten. Möglicherweise wird es den Regierenden unter diesen Umständen ohnehin immer schwerer fallen, die Verfassung zu verletzen, weil solchen Verletzungen zu viele politische Akteure aus unterschiedlichen politischen Lagern zustimmen müssten. Übermäßig häufige Einmischungen des BVerfG würden vor diesem Hintergrund nur noch den Eindruck von Lähmungserscheinungen erhöhen, von denen das politische System ohnehin bereits betroffen ist. Und sie nähren den Verdacht, die bundesrepublikanische Demokratie stehe noch immer ein wenig unter gerichtlicher Vormundschaft. Aber es liegt vor allem in der Hand der politischen Akteure in Regierung und Parlament, dass sich dieser Verdacht in der Zukunft endlich ausräumen lässt.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Barczak, Tristan, Prof. Dr., LL.M., lehrt Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Passau; von 2014 bis 2017 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Prof. Dr. Johannes Masing (Erster Senat). Publikationen (u. a.): Der nervöse Staat – Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl., Tübingen 2021; Feststellungsklage gegen Parlamentsgesetze und Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, in: Modrzejewski/Naumann (Hg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 5, Berlin 2019, S. 17 – 49; BVerfGG – Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Berlin 2018 (Alleinherausgeberschaft); Konstitutionalisierung der Privatrechtsordnung, in: Scheffczyk/Wolter (Hg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, Berlin 2017, S. 91 – 122. Gawron, Thomas, Jurist und Soziologe, Dozent für Recht an der Berliner Hochschule für Technik (BHT) und Senior Counsellor des Unabhängigen Instituts für Umweltfragen (UfU) Berlin. Mehrere Zeit-Professuren, zuletzt Universität Kassel (1997 – 2003); Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ) (2003 – 2008); Technische Universität Braunschweig (2008 – 2013). Publikationen (u. a.): Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts (mit Ralf Rogowski), Baden-Baden 2007; Constitutional Courts in Comparison: The U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court (mit Ralf Rogowski) (Ed.), 2nd Ed., New York/Oxford 2016; Das ferne Gericht. Wirkungsanalysen zum Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Verwaltungsbehörden. In: Wrase/Boulanger (Hg.): Die Politik des Verfassungsrechts, Baden-Baden 2013; Bundesverfassungsgericht und Religionsgemeinschaften, Berlin 2017; Bundesverfassungsgericht und Organisierte Interessen, Frankfurt/Main 2018; Private und Bundesverfassungsgericht, Frankfurt/Main 2021; Bundesverfassungsgericht und Organisierte Interessen II. Natur-/Tierschutz- und Umweltvereinigungen sowie Verbände des Wirtschafts- und Arbeitslebens. Zweite Auflage, Frankfurt a. Main 2021 (i.E.). Gröning, Leonie, studiert Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für das Politische System Deutschlands (Prof. Britta Rehder). Hellmann, Vanessa, Akad. Rätin a. Z. an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld, lehrt und forscht im Bereich des deutschen und europäischen Verfassungsrechts und war von 2010 bis 2014 wiss. Mit. am Bundesverfassungsgericht. Publikationen (u. a.): Der Vertrag von Lissabon. Vom Verfassungsvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge, Berlin (Springer) 2009. Höreth, Marcus, Prof. Dr. habil., lehrt Politikwissenschaft („Vergleichende Regierungslehre/Innenpolitik“) an der TU Kaiserslautern. Publikationen (u. a.): Die komplexe Republik. Staatsorganisation in Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer 2017 (BzpB 2018); Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer 2011 (LzpB 2011); Die Selbstautorisierung des Agenten. Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum US Supreme Court, Baden-Baden: Nomos 2008; Die Europäische Union im Legitimationstrilemma. Zur Rechtfertigung des Regierens jenseits der Staatlichkeit, Baden-Baden: Nomos 1999. Jestaedt, Matthias, Prof. Dr., lehrt Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg i. Br. und leitet die Hans-Kelsen-Forschungsstelle ebendort. Publikationen

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Duncker & Humblot, Berlin

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (u. a.): Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Mohr Siebeck, Tübingen 1999; Die Verfassung hinter der Verfassung, F. Schöningh, Paderborn u. a., 2009; Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, Suhrkamp, Berlin 2011, S. 77 – 157 (engl.: The German Federal Constitutional Court, Oxford University Press 2020, S. 32 – 69); Integrierte und isolierte Verfassungsgerichtsbarkeit. Eingliederungs- und Verselbständigungsmodell in ihrer Wirkung auf die Verfassungsentwicklung, in: Jestaedt/Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung II, Mohr Siebeck, Tübingen 2019, S. 3 – 27; Verfassungsgericht ist nicht gleich Verfassungsgericht. Vergleichende Beobachtungen zum französischen Conseil constitutionnel und zum deutschen Bundesverfassungsgericht, in: JZ 74 (2019), S. 473 – 481. Korioth, Stefan, Prof. Dr. iur., Lehrstuhl für öffentliches Recht und Kirchenrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München. Publikationen (u. a.): Staatsrecht I, 5. Aufl., 2020; Das Bundesverfassungsgericht (begründet von Klaus Schlaich), 12. Aufl. 2021; Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997; Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000; Mitherausgeber des Jahrbuchs für öffentliche Finanzen (seit 2009). Lembcke, Oliver W., Dr., lehrt Politikwissenschaft an der Ruhr Universität und ist Visiting Professor und Research Fellow an der VU Amsterdam. Seit Gründung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Recht“ im Jahr 2013 Mitglied des Sprecherteams. Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie, Judicial Govervance, Ideengeschichte des Konstitutionalismus. Neuere Veröffentlichungen: Repräsentation und Demokratie, in: Neubauer et al. (Hrsg.): Im Namen des Volkes – Zur Kritik politischer Repräsentation, Tübingen 2021, 3 – 48; Böckenförde’s Ethos of Legality, in: ARSPBeiheft 167, 2021, 63 – 80; Recht politikwissenschaftlich erforschen, Recht und Politik, Beiheft Nr. 5, 2020 (Co-Hrsg.); Zeitgenössische Demokratietheorie. Bd. 2: Empirische Demokratietheorien, Wiesbaden 2016 (Co-Hrsg.). Lübbe-Wolff, Gertrude, Prof. Dr., LLM (Harvard), em. Prof. für Öffentliches Recht, Universität Bielefeld, 2002 – 2014 Richterin im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Publikationen u. a.: Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, Göttingen 2015; Constitutional Courts and Democracy. Facets of an Ambivalent Relationship, in: Meßerschmidt/Oliver-Lalana (Hrsg.), Rational Lawmaking under Review, o.O. (Springer) 2016, S. 19 – 32; Diplomatisierung des Rechts, in: Merkur 71, 2017, S. 57 – 65; Verfassung als Integrationsprogramm, in: APuZ 69, 2019, 16 – 17, S. 43 – 48; Form, Stil und Substanz gerichtlicher Urteile – am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Schürmann/von Plato (Hrsg.), Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, BadenBaden 2020, S. 17 – 40. Möllers, Martin H. W., Prof. Dr., lehrte bis Ende 2018 Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes. Publikationen (u. a.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., Wiesbaden 2015; Das Bundesverfassungsgericht als möglicher Vetospieler, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2019; Bundesverfassungsgericht und Öffentliche Sicherheit, 2 Bde., 5. Aufl., Frankfurt am Main 2019; „Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert…“. National-liberaler Etatismus im Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 2021. van Ooyen, Robert Chr., Prof. Dr., lehrt Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes sowie Politikwissenschaft an der TU Dresden und ist Mitglied der RuP-Redaktion. Publikationen (u. a.): „Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert…“. National-liberaler Etatismus im Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 2021; Der Staat der Moderne, 2. Aufl., Berlin 2020; Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 8. Aufl., Baden-Baden 2020; Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl.,

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Wiesbaden 2015; Bundesverfassungsgericht und politische Theorie, Wiesbaden 2015; Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005. Rehder, Britta, Prof. Dr., lehrt Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politisches System Deutschlands an der Ruhr-Universität Bochum; zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Publikationen (u. a.): Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, Baden-Baden 2016 (mit Ingrid Schneider); Judicial Politics in Europe: Constitutional Courts in Comparative Perspective, in: Magoné (Hg.): Routledge Handbook of Europen Politics, London/New York: 386 – 397, 2015; Rechtsprechung als Politik. Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, Frankfurt a. M./New York 2011.

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