Rede, dass ich dich sehe [1 ed.] 9783737013079, 9783847113072


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Rede, dass ich dich sehe [1 ed.]
 9783737013079, 9783847113072

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Hamann-Studien

Band 6

Herausgegeben von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke

Joachim Ringleben

Rede, dass ich dich sehe

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3561 ISBN 978-3-7370-1307-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Rede, daß ich dich sehe«. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos

. . . . . . . . . . . . .

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Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls . . . . . . . . . . .

95

Der »Eckelname« des Narziß. Interpretation einer rätselhaften Stelle in Hamanns Aesthetica in nuce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Hamanns Michaelis-Rezension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Søren Kierkegaard als Hamann-Leser Nachweise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Vorwort

Von Hamanns Texten geht bis heute eine einzigartige Faszination aus. Sie verspürt wohl jeder, der, sei es literarisch, sei es theologisch oder philosophisch, überhaupt an der Sprache und dem Wort, zumal am Worte Gottes, interessiert ist. In diesen sprachmächtigen Texten und ihrem unverwechselbaren, durch hintergründige Intertextualität geprägten Stil begegnet dem Leser etwas so Besonderes, dass er oder sie sich dem schwerlich entziehen kann. Die hier auf Wunsch der Herausgeber gesammelt (mit einer Ausnahme; s. im ersten Beitrag Anm. 47) abgedruckten Studien wurden z. T. umgearbeitet oder erheblich erweitert. Sie wollen auf den reichen gedanklichen und religiösen Gehalt der Schriften Hamanns (oft schon einzelner Stellen) aufmerksam machen und ihn ein Stück weit tiefer erschließen – gemäß seinem Leib- und Magenwort, das auch für seine Leser gilt: Rede, dass ich dich sehe! Für geduldige technische Hilfen bei der Erstellung der Druckvorlage schulde ich Herrn Kai-Uwe Mather besonderen Dank. Der Druck des Bandes wurde durch Zuschüsse von Seiten der EvangelischLutherischen Landeskirche Hannovers und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) ermöglicht, denen ich hier meine Dankbarkeit bekunden möchte. Göttingen 2021

J.R.

»Rede, daß ich dich sehe«. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken1

Wer von Johann Georg Hamann nur weiß, dass er in Königsberg gelebt hat, weiß von dem »Magus in Norden« doch bereits, dass er für uns eigentlich ein Magus des Ostens ist, einer der μάγοι ἀπὸ ἀναντολῶν, magi ab Oriente – um mit Mt zu reden –, aus einem Morgenland, unerreichbarer heute (1985) als der geographische Orient. Aber Licht kann uns aus diesem Osten des Magus ohnehin nur kommen, weil und insofern er »den Stern« gesehen hat. In der einst von Ordensrittern kolonisierten Ostprovinz des friderizianischen Preußen, in dem Königsberg, wo Kant die kopernikanische Revolution im Denken wiederholte, wo Herder bei Kant und Hamann studierte, wo Hippel als Reformjurist und Dichter wirkte – »Kolonie liebt der Geist« sagt Hölderlin –, in dieser östlichen Provinzhauptstadt also lebte der christliche Schriftsteller Hamann als Packhofverwalter beim Zoll, sedens in telonio, wie er selber für den sagt, der Mt 9, 9 kennt. Lebte er als ein christlicher Sokrates und unersättlicher Vielleser zumal, als homme de lettres, der freilich »lutherisierte«,2 wie keiner seines Zeitalters sonst; um dessen sprachmächtige, aber hermetische Kurztraktate sich die führenden Geister rissen: der gesuchte Briefkorrespondent eines Herder, Lavater, Jacobi, Claudius, Nicolai, v. Moser, Kleuker und Lindner; von Kant und Hippel sowie später von der Fürstin Amalie von Gallitzin in ihre Zirkel gezogen. Ein bei seinem Londoner Aufenthalt 1758 endgültig zum Christusglauben Bekehrter und zugleich als »der hellste Kopf« seiner Zeit angesehen – von einem der ersten Sammler von Hamann-Texten: Goethe.3 Der Mann dieser coincidentia oppositorum war aber nicht nur das literaturund geistesgeschichtliche Ereignis ersten Ranges, von dem sich Sturm und Drang, Herder und die Romantik, Jean Paul, Franz von Baader und noch Sören Kierkegaard gewaltig anregen ließen, sondern er war als artistischer Literat von

1 Öffentliche Antrittsvorlesung in der Aula der Universität Göttingen am 16. 1. 1985. 2 ZH I, 307,32. 3 Am 18. 12. 1823 zu Kanzler Müller.

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Rede, daß ich dich sehe

hohen Graden zugleich ein theologischer Grübler und christlicher Aufklärungsmetakritiker; dies übrigens ohne jeden klerikalen Beigeschmack. Ja mehr noch, er war beides, theologisch Engagierter und leidenschaftlicher Autor, nicht nur zugleich, sondern ineinander, so dass der tiefste Gehalt und das letzte Formprinzip seiner literarischen Produktion gar nicht anders als christlich zu begreifen ist und sein theologisches Denken sich stets nur als Ästhetik des Schriftstellers stilisiert. Mit einem Ausdruck: Er war ein Mann des Wortes – des »Wortes« im rein sprachlichen wie im johanneischen Sinn. So zweieinig war er Philologe, Liebhaber des Logos.4 Über diese zwiefältige Einheit von Theologie und Autorschaft zu reden heißt, über Hamanns theologisches Sprachdenken zu reden.

I.

Gott ein Schriftsteller

Da, wo uns Hamann als Autor zuerst begegnet, in den noch in London verfassten Biblischen Betrachtungen, da macht er sich bereits durch den ersten Satz unvergesslich. »Gott ein Schriftsteller! – –«5 – dieser lapidare Satz ist seine erste »Autorhandlung«. Und weil der Satz »Gott ein Schriftsteller« eine theologia in nuce ist, darum wurde, der ihn hinschrieb, selber ein Schriftsteller. Der Gott des Wortes fand einen Mann des Wortes. Doch bleiben wir zunächst bei diesem Initialsatz: Gott ein Schriftsteller. Diese Formulierung vom Anfang zieht jäh und provokant, Hamann hätte gesagt »leidenschaftlich«,6 zwei Welten zusammen, die ewige Gottes und die sprachliche der Menschen. Aber diese Formulierung ist nicht nur auffällig, sie ist auch leicht humoristisch getönt, und doch schimmert in ihr frommer Tiefsinn schon durch. Wie christlich ernst es mit diesem glänzenden Bonmot steht und in welchem absoluten Sinn hier Himmel und Erde sich einigen, das zeigen die folgenden Sätze: Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes. […] dies Wort ist der Schlüssel zu den Werken der ersteren und den Geheimnissen der letzteren.7

4 N II, 263,50–264,15; vgl. Platon: Phaidr. 236 e 5. 5 N 1, 5; vgl. N II, 64,22. Vgl. in diesem Band den folgenden Aufsatz: Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos. 6 N II, 209.1–7. Vgl. Tom Kleffmann: Hamanns Begriff der Leidenschaft. In: Acta 2002. S. 161– 178. 7 N I, 5.; vgl. ZH II, 143,20 (Schwachheit).

Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken

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Im Allerheiligsten der Trinität selbst findet Hamann also den Ursprung dieses Buches, und der Satz von Gott dem Schriftsteller redet vom Geheimnis des lebendigen Gottes. Dessen Sein wird als »Erniedrigung und Herablassung« beschrieben. Hier gilt es wahrzunehmen, dass diese ungeheure Überbietung der traditionellen lnspirationslehre durch Rekurs auf den Himmel selbst die Erde nicht vergisst, sondern – schockierend – mitnimmt. Denn von eben diesem Buche, mit dem Gott selber in die Menschensprache eingegangen ist, heißt es einige Zeilen später drastisch: Wir liegen alle in einem so sumpfichen Gefängnis, worin sich Jeremias befand. Alte Lumpen dienten zu den Seilen, ihn herauszuziehen; diesen sollte er seine Rettung zu danken haben. Nicht das Ansehn derselben, sondern die Dienste, die ihm selbige thaten, und der Gebrauch, den er davon machte, erlösten ihn aus der Gefahr des Lebens.8

Die historisch-kritische Nüchternheit dürfte unüberbietbar sein: alte Lumpen. Obskure Fetzen sind es, die bei rechtem Gebrauch (vgl. Luthers usus) zum Heil dienen.9 Das ist also die Spannweite, die zusammenzudenken ist: die Selbstherunterlassung des ewigen Gottes in das genus humile dicendi der Bibel, speziell neutestamentlich: zu dem »Zeitungs- und Briefstyl« der Koine; dazu Hamann: Vox populi, vox Dei.10 Es ist auf unserem Wege leider nicht möglich, dies einleitend Gesagte genauer zu interpretieren. Aber wenn auch bei den »Lumpen« aus Jer 38 die von Hamann verschwiegene Pointe ist, dass der Erretter aus der Grube den Namen Ebed-Melech führt, was bekanntlich »Knecht des Königs« heißt und für Hamann die Knechtsgestalt des Philipperhymnus präfiguriert, so bleibt doch die innere Spannung des Satzes »Gott ein Schriftsteller« eindrücklich erhalten. Vielleicht versteht man schon hier bei diesem Skandalon, Gottes Tun mit alten Lumpen zusammenzubringen – als hätte Gott gerade das Törichte und Schwache, das Verachtete und Niedrige erwählt! Vgl. 1Kor 1, 27 –, die scharfsichtige Bemerkung Hegels, die Hamann als Denker einen hohen Rang zuspricht: »[…] in der Bestimmtheit des positiven Elements bleibt er der freieste, unabhängigste Geist«.11 Jedenfalls redet die Formel »Gott ein Schriftsteller« davon, dass der Ewige sich im Menschenwort der Schrift, die darum heilig heißt, selber vernehmbar macht. Gott kommt zur Sprache, und im flüchtigen Geschehen zeitlicher Rede wird er selber sichtbar. Schon in den Biblischen Betrachtungen findet sich die weittra-

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Ebd. N II, 209,1–7. Vgl. auch ZH V, 314,23–29. Vgl. N II, 171,17f. Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe), Bd. 11 (Frankfurt a. M. 1970), S. 317; vgl. 280.

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Rede, daß ich dich sehe

gende Wendung »in diesem deinem Worte sehen«.12 Von daher muss es für Hamann ein geradezu glaubensstärkender Fund gewesen sein, als ihm irgendwann zwischen 1747, wo der Student es gelesen haben könnte, und 1762, wo er sich seiner zum ersten Male in einer eigenen Schrift bedient, das Sätzlein begegnete: »Rede, daß ich dich sehe«.13 Denn in diesem Wunsche fand er alle seine Wünsche an seinen Gott und Schöpfer ausgesprochen. Wenden wir uns für einen Moment der Herkunft dieses Sätzchens zu, um danach seine philosophischen und theologischen Implikationen zu entfalten. Walter Böhlich ist der Fund zu verdanken, dass die lateinische Fassung dieses Apophthegmas sich in einer von Erasmus berichteten Anekdote findet, die von Sokrates handelt, der einen ihm vorgestellten Schüler beurteilen soll. Wie Albrecht Schöne aufgewiesen hat, geht nun diese Anekdote auf eine Szene im Charmides des Platon zurück, wo Sokrates es vorzieht, statt sich in die eingehende Betrachtung eines schönen Jünglings zu vertiefen, diesen in ein erhellendes Gespräch zu ziehen.14 Hier, am ursprünglichen Sitz im Literarischen, findet sich die prägnante Formulierung nun allerdings noch nicht. Eine Zwischen- bzw. Vorstufe ist, worauf wiederum Schöne hingewiesen hat, fassbar bei dem lateinischen Rhetor des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, Apuleius, wo es bereits heißt: ut videam, inquit, et loquere.15 12 N I, 49,32; 71,3. Vgl. Georg Baudler: »Im Worte sehen«. Das Sprachdenken J. G. Hamanns. Bonn 1970. Paul Celan redet von »sprechen sehen«. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1983. S. 188); vgl. dazu Fred Lönker: Die Präsenz des verschwiegenen Worts. In: CelanPerspektiven 2019. Hg. von Bernd Auerochs u. a. Heidelberg 2019, S. 37. 13 N II, 198,28 (Aesthetica in nuce). Zur eingehenden Interpretation dieser wichtigen Stelle, die hier unberücksichtigt bleibt, vgl. Oswald Bayer: Schöpfung als Anrede. Tübingen 1986, S. 9 u. ö., bes. 15–19. Weitere Ausführungen: N III, 16,24 (1771: Reden, um gesehen zu werden); III, 237 (1780: »Schreibe, daß ich dich höre!«); vgl. noch N V, 328,31 (Parla Tu). Zu der höchst aufschlussreichen Formulierung N IV, 456,16–19 vgl. u. im Text Abschnitt IV. Inzwischen erschien Tadeuz Namonicz: Rede, daß ich dich sehe. Gottes Rede und Gottes Schweigen bei Johann Georg Hamann. In: »wortlos der Sprache mächtig«. Hg. von Hartmut Eggat u. Janusz Goleck. Berlin 1999. S. 31–44. 14 Charmides 154 d – 155 a. Vgl. Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. München 21983. S. 7 u. ö.; bes. 11 und 167 Anm. 16. Vgl. Theait. 185 e 3; 209 a 1–3 und Laches 187 e. 15 Florida 2.1 (Teubner II, 2, p. 1); vgl. Schöne: Aufklärung (wie Anm. 14), S. 167 Anm. 16. Neuerdings hat Markus Fauser nochmals auf diesen Ursprung des Dictums aufmerksam gemacht; in: »Rede, daß ich Dich sehe« Carl Gustav Jochmann und die Rhetorik im Vormärz. Hildesheim 1986 (Germanistische Texte und Studien 26); bes. S. 110f.; er interpretiert es aus dem Ethos der Rhetorik. Jochmanns Anführung der Sentenz ist ganz offensichtlich durch Hamann bestimmt; vgl. Carl Gustav Jochmann: Über die Sprache. Hg. von Christian Wagenknecht. Göttingen 1968, (Originalpaginierung) S. 138 mit o. Anm. 13. Fauser weist auf eine Fundstelle auch bei Sebastian Franck hin: Sprüchwörter. Zürich 1545. S. 125f. Weitere Nachweise: Baltasar Gracian: El Criticon, Pars I. Crisi I (»Habla, dija el filósofo, para que te conozca«). In: Obras completas, ed. Arturo de Hoyo. Madrid 31967. S. 54; Theodor Gottlieb von Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. 3. Theil (1781). Leipzig 1859. S. 93

Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken

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Zwischen Erasmus und Hamann gibt es andererseits noch einen möglichen Vermittler auszumachen, und das ist sein philosophischer Lehrer Martin Knutzen in Königsberg. Dieser hatte 1747 eine Abhandlung mit dem aufschlussreichen Titel verfasst: Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift und insbesondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt durch ein Göttliches Sprechen. Damit sind wir schon sehr nahe bei Hamann. Hier also schreibt Knutzen, wie Gründer nachgewiesen hat, u. a.: Sprechen gibt nicht allein unsere Gedanken, sondern auch unsere Eigenschaften zu erkennen. Loquere, sagte jener, ut te videam. Die Schöpfung ist die natürliche Offenbarung GOttes, wir lernen ihn aus seinen Werken kennen […].16

Bei M. Knutzen konnte Hamann also auf die Wendung und ihre theologische Applikationsmöglichkeit aufmerksam werden. Aber wahrscheinlich hat er doch die Erasmische Fassung gekannt, Allesleser und Polyhistor, der er war. Und hier konnten ihm in der Tat noch ganz andere theologische Bezüge in den Ohren

(= Sämtliche Werke III, 188); vgl. 2. Theil (1778). S. 76f. (= Sämtliche Werke II, 80) u. ö.; (von Hamann beeinflusst:) Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie. In: Gesammelte Werke. Hg. von Emanuel Hirsch. 31. Abteilung. Düsseldorf / Köln 1961. S. 248; Entweder- Oder II. In: Gesammelte Werke. 2. Abt. Düsseldorf 1957. S. 293; Stadien auf des Lebens Weg. 15. Abt. Köln / Düsseldorf 1958. S. 423 und Briefe. 35. Abt. Düsseldorf 1955. S. 16 u. 19; sowie dazu auch Joakim Garff: Vokalisationen. Kopenhagen 1998. S. 337. Außerdem: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle / Magdeburg 1735), § XCII (p. 32: »latinorum: loquere, ut te videam«); Franz Baader: Sämtliche Werke. Leipzig 1851–60; ND Aalen 1963. I, 110 Fn. u. 402; V, 82; VIII, 243 Fn. u. 360; XII, 286 (p. 81), 309 (p. 169), 323 (p. 323); Philipp Marheineke: Die Grundlehren der christlichen Dogmatik. Berlin 21827. S. 199 (§ 333); Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Hg. von F. Roth u. F. Köppen. 2. Bd. ND Darmstadt 1968. S. 466; Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Hg. von E. Haufe. Bd. 111 (Die Romane). Berlin 1987. S. 312 u. 314f.; Dorothe Sölle: Die Wahrheit ist konkret. Olten / Freiburg 1967. S. 90; Max Picard: Die Welt des Schweigens. Erlenbach / Zürich 2 1950. S. 108 und Ders.: Der Mensch und das Wort. Erlenbach / Zürich 1955. S. 50. Interessant auch Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. S. 13 u. ö. (hier das Zitat aus Christian Weise: Der politische Redner (Leipzig 1684): »Nun fange was zu reden an / Daß ich dich besser sehen kann«). Als Beispiele für unspezifische Zitation: Wolfgang Thierse: »Sprich. damit ich dich sehe«. Über die Sensibilität beim Sprechen unter den politischen Bedingungen der DDR. Berlin / New York 1993/94; vorher schon FAZ 83 (7. 04. 1992) S. 36; Harold Stahmer: »Speak that I may See Thee«. The Religious Significance of Language. New York 1968; Jonathan Rée: I See a Voice. New York 1999; Gerhard Kaiser: Rede, daß ich dich sehe. Erinnerungen. Stuttgart 2000; J. Dyck: »Rede, daß ich dich sehe«. Rhetorik im 18. Jahrhundert. In: Gert Ueding: Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit. Tübingen 1998. S. 70–89; Susanne Schulte: Rede, daß ich dich sehe. Aachen 2007; I. Kreill: Rede, daß ich dich sehe. Die Schöpfungsweisheit als Grenzgängertum. In: Religion im Plural. Hg. von Horst F. Rupp u. Klaas Huizing. Würzburg 2011; Christa Wolf: Rede, daß wir dich sehen. In: Dies., Rede daß ich dich sehe. Berlin 2012. S. 57–71. 16 Zitiert nach Karlfried Gründer: Figur und Geschichte. Freiburg / München 1958 (Symposien 3). S. 58; vgl. S. 56–60.

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Rede, daß ich dich sehe

klingen bzw. in die Augen springen. Das Textstück aus den Apophthegmata des Erasmus, Lib. III, LXX lautet: Cum dives quidam filium adolescentulum ad Socratem misisset, ut indolem illius inspiceret, ac paedagogus diceret: Pater ad te, o Socrates, misit filium, ut eum videres; tum Socrates ad puerum, loquere igitur, inquit, adolescens, ut te videam.17

Wir wollen uns zunächst vor Augen halten, was die Formulierungen des Erasmus für Hamann besagen mussten, wenn er sie denn gelesen hat. Er, der über Sokrates auf eine sokratische Art schrieb und sich zeitlebens mit dem »weisen Idioten Griechenlands« identifizierte, vernahm hier: Pater ad te, o Socrates, misit filium, ut eum videres. Konnte Hamann, der überall die eine Wahrheit bezeugt fand aus der Wolke der Zeugen, konnte er dies anders wahrnehmen als mit johanneischen Sätzen im Ohr wie: »[…] misit Deus filium suum« (Joh 3, 17) oder »Sicut misit me Pater« (Joh 20, 21b) und besonders Joh 3 ,34: »Quem enim misit Deus, verba Dei loquitur«? Und war auf dem Hintergrund seiner Londoner Bekehrung es nicht zwingend für ihn, dies im allerpersönlichsten Gebrauch (usus), eben wortgläubiger Aneignung, sich zur Errettung dienen zu lassen, wenn er las: »Pater ad te, o Socrates, misit filium, ut eum videres«? (vgl. auch Joh 14, 9b; 12, 45) – verstand er sich doch als eine Art »christlicher Sokrates«! Von diesem hier freilich nur hypothetisch zu unterstellenden Sinn, den die Anekdote nach Hamanns Art zu lesen für ihn haben musste, lässt sich dann auch die sokratische Antwort Loquere […] ut te Videam in einem johanneischen Lichte gewahren: »Ego sum, qui loquor tecum« (Joh 4, 26) oder »Et dixit ei Jesus: ›Et vidisti eum, et qui loquitur tecum, ipse est‹« (Joh 9, 37) und vor allem Joh 8, 38: »Ego quod vidi apud Patrem meum, loquar« (vgl. 1, 18!).18 Wie sollte er nicht überhaupt die Aufforderung seines Herrn wahrgenommen haben: καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς: βλέπετε τί ἀκούετε (Mk 4, 24; vgl. Lk 8, 18a). Wohlgemerkt, da wir nicht wissen, ob Hamann wirklich diese Erasmusstelle kannte, ist dies ein Versuch, sich vorzustellen, was er in diesem […] Worte sehen konnte – nach seiner sonst bekannten Weise zu hören.19 Überhaupt eignet sich diese Formel »Rede, dass ich dich sehe«, die Hamann als Wunsch nach Gottes Wort stilisiert, auch als Formel, um seine sog. Bekehrungserfahrung zu begreifen. Denn was ihm beim einsamen Londoner Bibelstudium klar wurde, war folgendes: »lch erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eignen Lebenslauf«.20 Wie 17 Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia. Tom. IV. Leiden 1703 (ND Hildesheim 1962). S. 162. 18 Vgl. auch Ps 119, 82a. 123b. 135 u. 18. 19 Vgl. auch 1Sam 3, 9f.; Num 24, 4 und Mt 26, 73 (Vulgata). 20 N II, 40,25–27. Vgl. N I, 297,25–35; 303,14–18; N III, 311,6–8.

Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken

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auch immer diese seine Bekehrung konkret sich abgespielt hat, es war die Erfahrung Gottes in der Schrift, eben als Schriftsteller, und das heißt, es war eine Erfahrung Gottes im Sprachzusammenhang. Was war vorgegangen? Hamann las die Heilige Schrift. Indem er las, entdeckte er sich selber in den Texten, in diesem Text wieder. Er hörte den, der da redete, und sah ihn daraufhin, aber sah diesen zu ihm Redenden als den, der ihn selber schon sah oder gesehen hatte. Rede, dass ich dich sehe – das kehrte sich in London um zu: Rede, dass ich von dir gesehen werde. Der Lesende erfährt sich als Gelesenen bzw. der Hörende weiß, dass er gesehen wird. Von Gott, dem Autor aus, könnte es heißen: Höre, dass ich dich sehe bzw. lies, dass ich in dir lese. Als ein selbst vom Text und seiner Anrede Gesehener, Angeblickter und Durchschauter fand er sich mit seiner Lebenswirklichkeit im Text der heiligen Schrift wieder: identifiziert und geborgen zugleich. Rede, dass ich dich sehe, das heißt insofern: dass der Blick nur so auf den hier Redenden treffen kann, dass er zugleich auf den Hörenden und von daher sehend Gewordenen fallen muss. Gotteserkenntnis vollzieht sich als Selbsterkenntnis: Rede, dass ich mich selbst sehe. Hamann wird später sagen: »Und nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung«.21 Der Leser der Schrift wird selber zum Entzifferten. Gerade diese Aufhebung des Lesers in den Text, die ihn durchsichtig macht und entkleidet, ist eben Verklärung des Textes zum Wort Gottes, der, als Anredender gehört, sichtbar wird. Besteht wahre Selbsterkenntnis also darin, von Gott erkannt zu sein,22 so heißt das im Umgang mit dem göttlichen Wort: »Te totum applica ad textum; rem totam applica ad te«, wie Hamann sich bald aus Bengels Gnomon abschreiben wird.23 Wir können ein erstes Fazit ziehen: Weil Gott selber ein Schriftsteller geworden ist, darum wird die Bitte: Rede, dass ich dich sehe, erhört. Denn reden, dass es sichtbar wird, das heißt ja eben: schreiben! Und gilt nach Hamann überhaupt »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache«,24 so gilt dies im besonderen Sinn von Gottes Reden, der sich selbst ins Menschenwort übersetzt hat und darum in diesem Worte (zu) sehen ist.

21 N II, 164,17; vgl. N I, 302,22f und ZH I, 374,11f. Von Kant zitiert in: Kant’s Werke (AkademieAusgabe). Bd. VI. S. 441,18f. Vgl. ähnlich Theodor Gottlieb von Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Zweiter Theil. Leipzig 1859. S. 240. 22 Vgl. N II, 74,23–27 (1Kor 8, 2f.). 23 ZH II, 9,30f. 24 N II, 199,4f.

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II.

Rede, daß ich dich sehe

Reden, Sehen, Lesen

Doch nun zur gedanklichen Struktur der Formel »Rede, daß ich dich sehe«. Unmittelbar lassen sich Reden und Sehen unterscheiden wie sukzessive Artikulation, die das eine Auszusagende in zeitlicher Entwicklung präsentiert, und ganzheitlicher Zugriff, der das Differente in einem Bild zusammenfasst. Insofern könnte man sagen, Reden und Sehen verhalten sich wie Analyse und Synthese. Hamann dazu in wunderbarer Plastizität: »Wo wird der rollende Donner der Beredsamkeit erzeugt, und sein Geselle – der einsylbichte Blitz –«.25 Theologisch nun ist dem Reden, insofern ihm Hören entspricht, der Glaube zugeordnet, und das Sehen hat sein theologisches Äquivalent im Schauen, in der visio. In dieser Hinsicht hat die Formel »Rede, daß ich dich sehe« eine eschatologische Ausrichtung: Das glaubende Hören des Wortes verwandelt sich endlich zur Autopsie.26 Andererseits gibt es christlich auch kein Hören, das nicht schon Sehen wäre. Eben weil das Wort selber Fleisch geworden ist, darum heißt es: »wir sahen seine Herrlichkeit« (Joh 1, 14). Der erste Vers des 1Joh ist für Hamann denn auch eine ganz wichtige Stelle! Nun ist aber in der Wendung »Rede, daß ich dich sehe« doch die unmittelbare Sichtbarkeit verneint, mindestens zurückgestellt. Die Formel hat ihr Paradoxes und ihr Humoristisches eben von dieser Verkehrung des Natürlichen, dass der Augensinn gerade über den Gehörsinn verwirklicht werden soll. Jedenfalls spricht die Formel eine ironische Kritik an der sinnlichen Gegebenheit und Evidenz aus, an dem, was unmittelbar vor Augen liegt. Sie behauptet in der Verkehrung, dass zum wahren Sehen das Hören gehört, d. h. Verstehen von Sinncharakteren, eben die Worthaftigkeit des Sichtbaren. Das gilt umso mehr, wo das zu Vernehmende nichts gegenständlich Gegebenes, sondern Geist ist – eben im Gottesverhältnis. Überhaupt käme ein Vorrang des Sehens, d. h. unmittelbarer, ganzheitlicher Erfassung, doch nur da adäquat zur Geltung, wo es sich um etwas schlicht 25 N II, 208,23f. Auch die Umkehrung: Hören durch Sehen kommt in der Tradition nicht selten vor. Vgl.: »O let my looks be then the eloquence, […] To hear with eyes belongs to love’s fine wit« (Shakespeare, Sonetts, XXIII); »Meine Seele hör’t im Sehen / […] die Sprache der Natur / Die sie deutlich durchs Gesicht / Allenthalben mit uns spricht« (Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Erster Theil (1738). ND Stuttgart 1965. Hg. von Dietrich Bode. S. 13); »mit den Augen hören« (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Vorrede (5.). In: Werke. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 2. München 1955. S. 283). Vgl. auch die Aufsätze von Paul Claudel zur Kunst mit dem Titel: L’oeil écoute. Paris 1946. 26 Vgl. ZH IV, 5f. und N III, 305,13–19. Der blinde König Ödipus spricht: φωνῇ γὰρ ὁρῶ, τὸ φατιζόμενον (»Denn, wie man so sagt, mit dem Ohr muss ich sehen«; Sophokles: Oid. a. Kol. 138f.). Zur Autopsie des Glaubens vgl. z. B. bei Kierkegaard: Philosophische Brocken. Gesammelte Werke (Hirsch). 10. Abt. S. 67. Vgl. den Exkurs: »Auge und Ohr« bei Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. In: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1513). S. 159–164.

Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken

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Vorhandenes, ein statisches Sein, das in einfacher Gleichheit mit sich verharrt, handelt; also insbesondere bei dinglichem Sein. Reden dagegen ist ja als spontaner Vollzug bzw. lebendiges Vernommenwerden immer schon die aktuelle Transzendenz von bloß gegebener Unmittelbarkeit. Wer redet, überschreitet sein bloßes Aussehen. In lebendiger Rede ist das faktische Sein des Redenden nur als je überschrittenes momenthaft gegenwärtig. Abgekürzt: Sehen bezieht sich auf ein Es, Reden verweist an ein Du. Insofern schon gilt es, in dem Sprüchlein »Rede, daß ich dich sehe« dieses Dich zu betonen. Rede heißt: Lass mich in der Rede Dich vernehmen, damit ich dich selber zu sehen bekomme (vgl. Ps 119, 82). Der Satz impliziert die Etablierung des Subjekts in seinen Worten: Indem es redend sich darstellt und auslegt, realisiert es sich. Auf dieses Dich kommt es eben Hamann darum an, weil, wie er mit Gen 40, 8 sagt, »Der Autor […] der beste Ausleger seiner Worte« ist.27 Hamann war jemand, der nicht nur Ohren hatte zu hören, sondern ebenso Augen zu – lesen. Für ihn, den Leser von morgens bis abends, den Leser aller Literaturen von Morgen- bis Abendland, war die Bitte »Rede, daß ich dich sehe« so in Erfüllung gegangen, als hätte er gesagt »Schreibe, daß ich dich sehe«, was er im Scherz auch einmal zu Jacobi äußert.28 Und in der Tat, Gott der Schriftsteller hat sich als Redender sichtbar gemacht, für Leser! Die Schrift als pictura loquens!29 Überhaupt kann man Lesen als aktuelle Synthesis von Sehen und Hören auffassen: gleichsam ein akustisches Sehen bzw. optisches Hören. Das Lesen der Schrift hat vom Hören in sich aufgehoben die zeitlich gegliederte Abfolge, in der das Frühere mit dem Folgenden aktuelle Sinneinheiten bildet, die nur transitorisch präsent sind – der Text als Folgezusammenhang. Und vom Sehen hat das Lesen an sich die momentane Gestaltwahrnehmung, die aktuelle Kopräsenz von Elementen einer Konfiguration, die Sinn vergegenwärtigt – der Text als mitgehende Ganzheit. Beim Lesen findet aber auch die momentane Ausdifferenzierung dieser konstitutiven Elemente statt bzw. kann stattfinden: Es tritt die Unterscheidung von Sehen und Hören auch immer wieder ein. Dann nämlich, wenn im Akt des Lesens sich aus der aktuellen Synthese das Element des Hörens verselbständigt: dann wird der Text zur Rede. Und wenn im Akt des Lesens selber sich ebenso aktuell wiederum das Sehen absetzt, wird der Text zur Anrede eines Redenden, eines Du. Hören beim Lesen heißt dann die Wahrnehmung von dessen Reden im 27 Vgl. N II, 203f. Vgl. Apc 1, 10 u. 12. Die Du-Bezogenheit des Redens kommt auch in der grotesken Anekdote über den Kardinal Polignac zum Ausdruck, der einmal gesagt haben soll: »Sprich, dass ich dich segne!«, und zwar zu einem Orang-Utan. 28 ZH V, 408,1f.: scribe ut Te videam!; vgl. 241,36f. Vgl. auch N III, 237,22 (Schreiben – Hören). Vgl. Peter Härtling: Sprich, damit ich schreibe. In: Über das Hören. Hg. von Th. Vogel. Tübingen 21998. 29 Was Hamann bei Johann Georg Wachter fand; vgl. N II, 409 (24) mit 199,22 und 199,36f.

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Rede, daß ich dich sehe

Gelesenen, der Schrift, und Sehen die Wahrnehmung des Redenden selbst in seiner Schrift. Aber auch für den Lesenden möchte gelten, dass er erst da ganz dabei ist, wo er nicht nur hört, sondern auch selber sieht. Nur der durch die Sprache vermittelten Autopsie vergegenwärtigt sich das Du des Redenden. Hamann jedenfalls bekennt einmal von sich: Es geht mir überhaupt beym Lesen, daß ich nichts durch Gehör allein verstehe, ohne selbst zu sehen was ich lese […].30

III.

Physiognomik des Stils

Der Satz »Rede, daß ich dich sehe« kritisiert, was bloß sinnlich vor Augen liegt. Er spielt eine Sichtbarkeit durch Aussehen gegen eine Sichtbarkeit durch Reden aus, d. h. sprachlich vermitteltes Sehen. Damit erhält der Satz einen kritischen Bezug zum Thema der Physiognomik, das am Ende des 18. Jahrhunderts durch Lavaters Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe in Deutschland wieder aktuell wurde. Hamann teilte schon früh die sokratischen Vorbehalte gegen die Physiognomik. In seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten(1759) wird der Wert solcher physiognomischen Entdeckungen ironisch zurückgewiesen, weil derart äußerlich betrachtet, das Wesentliche noch gar nicht in den Blick kommt.31 Und noch 1762 redet Hamann von der »hirnlose(n) Kunst eines Physiognomisten«.32 Sein Verhältnis zu Lavaters großem Werk, das von 1775 an erscheint, ist durch eine Mischung von Lob und Kritik bestimmt.33 Jedenfalls besaß Hamann das Bewusstsein einer grundsätzlichen Differenz. Häufig betont er in Briefen seine Unfähigkeit zum physiognomischen Schauen34 und andererseits sein besonderes Charisma des Gehörs.35 Noch als er selbst in den Physiognomischen Fragmenten gefeiert wird, nennt er Lavater einen »NasenMund- und OhrSeher«.36

30 ZH IV, 312,31–33. Vgl. Martin Luther: »sehen mit dem ghör« (WA 49, 360,28f.). 31 Vgl. N II, 67,34–36. Zum theologischen Verbot einer Physiognomik vgl. Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Frankfurt a. M. 2014 (stw 2091). S. 789 A. 5. 32 N II, 333,4f. 33 Vgl. ZH IV, 7,23–25 mit III, 396,31. 34 Vgl. ZH V, 410,11f. u. 462,27; III, 273,3; V, 262,17. 35 ZH III, 198f. Hamann selber physiognomisiert vor allem bei literarischen Titeln; vgl. ZH VII, 162,23f. 36 ZH III, 240f.

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In einem längeren Antwortbrief an Lavater, den »physiognomischen Seher mit bedecktem Antlitze«,37 spricht er zwei prinzipielle und theologische Vorbehalte gegen ihn aus. Einmal diesen: Alle Ihre Zweifelswelten sind eben so vergängliche Phänomene, wie unser System von Himmel und Erde […] Sein Wort währt. Sie haben Recht, liebster Lavater, es für ein festes prophetisches Wort zu bekennen, und thun wohl daran, auf dieses scheinende Licht in der Dunkelheit zu achten, bis der Tag anbreche. Eher ist an keine Gewißheit oder Autopsie zu denken; und Gewißheit hebt den Glauben, wie das Gesetz Gnade auf.38

Hamann setzt also dem im Glauben gehörten Wort das falsche Streben nach unmittelbarer Schau »von Angesicht zu Angesicht« (1Kor 13, 12), eben die Autopsie, wie Physiognomik sie übt, entgegen. Sein Vorbehalt gegen das Sehen aufs physiognomische Äußere, statt »im Worte zu sehen«, ist bezeichnenderweise ein eschatologischer Vorbehalt. Sodann, Hamanns zweiter Kritikpunkt betrifft die von ihm lebhaft empfundene Unmöglichkeit, ins Innere der Menschen hineinzusehen: sind doch Freunde und Feinde in meinen Augen nichts als ein Kuchen; denn kein Mensch kennt weder die Liebe noch den Haß irgend eines, den er vor sich hat.39

Auch dies ist eigentlich eine eschatologische Reserve; Hamann folgert daraus für die Gegenwart eine kritische Ermahnung zur Selbsterkenntnis im Geiste des Evangeliums: Selbsterkenntniß und Selbstliebe ist das wahre Maß unserer Menschenkenntniß und Menschenliebe .40

– so mit ernster Anspielung auf Lavaters Titel. Bei aller persönlichen Sympathie für Lavater hat Hamann denn auch die schlagende Formel für dieses ihm fremde Verhältnis von Sehen und Glauben gefunden: Er spricht später von Lavaters Thomasglauben.41 Darin ist eine verständnisvolle Kritik aus höherem Munde nachgesprochen. Auch für die Zeit des Glaubens kennt Hamann nun doch ein Sehen von Angesicht zu Angesicht, nämlich das durch Sprache und Lektüre vermittelte. Bei Gelegenheit von Xenophons Sokratischen Denkwürdigkeiten nennt er diese ein wahres Fest für sich:

37 Vgl. N III, 402,25 und 400,28. Vgl. 2Kor 3, 13–16. 38 ZH IV, 5,21–27; vgl. 2Petr 1, 19. Über die Autopsie des Glaubens vgl. Sören Kierkegaard: Philosophische Brocken. In: Gesammelte Werke (Hirsch). 10. Abt. Düsseldorf / Köln 1960. S. 67. 39 ZH IV, 6,15–17. 40 Ebd. 20f. vgl. 44,24f. 41 N III, 402,29. Vgl. Joh 20, 25b u. 29.

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Rede, daß ich dich sehe

als wenn ich den alten Mann und Märtyrer vor mir schweben sähe und vis-a-vis von Angesicht zu Angesicht ihn selbst reden hörte, ist mir zu Muth –.42

Bezeichnend ist hier das Gefälle von Hören und Sehen. Die im Lesen vermittelte Unmittelbarkeit wird als Hören von Angesicht zu Angesicht imaginiert und das heißt als sprachlich verfasste Begegnung, als Gespräch. Durch solche »Lesekunst« löst Hamann das Postulat ein: Rede, dass ich dich sehe.43 Für Hamanns Divinationskraft ist ungemein charakteristisch, dass er noch vor Erscheinen von Lavaters Werk, von dessen Entstehung er wusste, sein Verhältnis dazu in höchster Prägnanz formuliert. Er schreibt 1774 an Herder: »Sie wißen, daß ich ein anderer Lavater in der Physiognomia des Styls bin«.44 Physiognomik des Stils – damit hat er unüberbietbar bezeichnet, wie er liest, um zu sehen. Der oft von ihm zitierte Satz Buffons: »Le style est l’homme même«45 wird von Hamann offenbar in dem Sinne gelesen, dass, weil der Mensch selber sich in seinem Stil nach seinem wahren Wesen ausdrückt, den Stil einer Rede genau abzuhorchen dazu führt, dieses Wesen zu erblicken.46 Sprache des Stils ist sichtbar gewordener Geist. Und man möchte sagen, der Buffonsche Satz war ihm auch eine Hermeneutik der Bibel, beim Horchen auf ihre Schreibart. Hier könnte es heißen: Le style est Dieu; aber da dessen Stil gerade die Selbsterniedrigung des Wort-Werdens ist, letztlich die Menschwerdung, so kann es doch bei dem Buffonschen: Le style est l’homme bleiben; den Menschen jetzt aber Hamannisch gehört und gesehen: als den Menschensohn! Von Hamanns Lavater-Kritik aus führt eine überraschende Verbindung von Königsberg nach Göttingen.47 Bekanntlich hat ja 1778 niemand anders als Georg 42 ZH IV, 79,19–21. Vgl. einen Kirchenvater: »So oft ich aus den Briefen des hl. Paulus vorlesen höre […] gerate ich in Entzücken […] und entbrenne vor Sehnsucht, wenn ich diese mir so liebe Stimme höre. Denn es kommt mir vor, als sähe ich den im leiblichen Sprechen begriffenen Apostel leibhaftig vor mir«. In: Johannes Chrysostomos: Comm. in epist.ad Rom. hom. 1,1; nach MPG 60, Sp. 392. 43 Wie Sehen (hier) Reden voraussetzt, so Hören Schweigen: »ich schweige, daß ich dich höre«; Gottfried Benn: Gedichte. In: Gesammelte Werke. Hg. von Dieter Wellershof. Bd. 3. Wiesbaden 31966. S. 66. 44 ZH III, 135,7f. Herder hat »Physiognomik der Rede«; z. B. Ideen, Buch IX (2.). In: Sämmtliche Werke (Suphan). 13. Bd. (1887). S. 364. Vgl. o. Anm. 35. Vgl. auch Arthur Schopenhauer: »der Stil ist die Physiognomie des Geistes«. In: Die Welt als Wille und Vorstellung I (Anhang). Hg. von Eberhard Grisebach. Leipzig o. J. (Reclam). S. 569. 45 Vgl. Wolfgang G. Müller: Der Topos: Le style est l’homme (1977). In: Neophilologus 61 (1977). S. 481–494. 46 So schreibt Richard Burton: »aus seinem Redestil erfahren wir – nach der Maxime Catos – mehr über seinen Charakter [sc. den eines Menschen] als aus seinen Gesichtszügen«. In: Anatomie der Melancholie (1621). Zürich / München 1991 (dtv 2281). S. 28. 47 Über Hamanns Beziehungen zu Göttingen überhaupt vgl. vom Vf.: Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen. In: Arbeit am Gottesbegriff II. Tübingen 2005. S. 23– 53.

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Christoph Lichtenberg mit unbestechlicher Vernünftigkeit und Humanität das physiognomische Wesen und Lavater angegriffen. Auch Lichtenberg bezieht sich dabei – neben manchen anderen Parallelen – auf das sokratische Apophthegma »Rede, daß ich dich sehe«. Schöne hat dies in einem reizvollen Essay erörtert.48 Darin wird einem die frappierende Entdeckung ermöglicht, dass Lichtenberg etwa drei Jahre später, als Hamann an Herder schreibt, in den Sudelbüchern notiert: »Allein einen klaren Satz der Physiognomik will ich dich lehren, es ist Physiognomik des Stils«.49 Also auch hier: Physiognomik des Stils. Die leider noch nicht geklärte Frage ist: Wie kommt diese Prägung aus dem Herder-Brief in Lichtenbergs persönliche Aufzeichnungen? Hat hier vielleicht Johann Georg Müller den Zwischenträger gemacht, oder aber haben beide Sprachdenker sie unabhängig voneinander gefunden. so dass sich die Sprachlogik der Sache durchgesetzt hätte? Non liquet.

IV.

Das Kleid der Rede

Wir sind dafür nun in der glücklichen Lage, von Hamann selbst den Kommentar zu einem grundsätzlichen Verständnis des Apophthegmas »Rede, daß ich dich sehe« zu besitzen. In seinen letzten Lebensmonaten, im November 1787 in Münster, machte Hamann verschiedene Aufzeichnungen zu Jacobis SpinozaBüchlein. Zu einer Stelle daraus schrieb er folgendes nieder: Der Vortrag macht eben so oft die Sache; als das Kleid den Mann. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Innhalt durch den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß. Daher jener witzige Einfall des weisen Mannes: Rede, daß ich dich sehe.50

Was Hamann hier »machen« nennt, ist nichts anderes als: eine Sache als solche kenntlich sein lassen, gemäß dem Sprichwort: Kleider machen Leute. Die Sache wird also als für sich unfertig, als ein bloßes An-sich genommen: »ein unsichtbarer Embryo«. Erst durch ihren Vortrag bzw. in ihm wird die Sache zu dem, was sie an sich ist, bzw. sie wird als solche sichtbar. Das Kleid entwickelt das nackte Ansichsein zu seiner ganzen Wirklichkeit. Es ist also nicht so, als ob die Sache selbst schon, für sich genommen, fertig wäre und nur nach außen hin im Vortrag wiederholt würde. Denn ihr Wesen ist gar nicht anders fassbar als in der voll48 Vgl. Albrecht Schöne: Aufklärung (wie Anm. 14). Vgl. auch Reinhart Meyer-Kalkus: Rede, daß ich dich sehe. Zur Physiognomik der Stimme (Habil.-Schrift). Berlin 1996. S. 1–14. 49 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies, Bd. I. München 31980. S. 573 (F 802). 50 N IV, 456,16–19. Vgl. Luther über David: »loquitur cum Deo vestito et induto verbo« (WA 40 II, 329,27f.).

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Rede, daß ich dich sehe

entwickelten Erscheinung, und diese ist ihm selber wesentlich: die Form artikuliert den Gehalt, und das Kleid ist nicht bloße Hülle, sondern Moment der vollen Wirklichkeit des Menschen. Wer den bloß nackten Menschen vor sich hat, verfehlt gerade den wirklichen Menschen, so wie die Sache ohne ihren Vortrag eine Abstraktion ist. Hamann hat hier einen Begriff vom »Begriff«, der diesen als Selbstexplikation der Sache auffasst. In dieser Notiz ist sachlich und sprachlich Hegels Phänomenologie-Vorrede präludiert.51 Vortrag heißt nun aber Rede. Insofern schließt Hamann folgerichtig mit dem Bonmot ab, das er dem weisen Witz des Sokrates zuschreibt: Rede, dass ich dich sehe. Damit ist also gesagt: Die Offenbarung im Wort manifestiert das unsichtbare Wesen Gottes, übersetzt es in Wirklichkeit. In seiner sprachlichen Selbsterschließung kommt der verborgene Gott wahrhaft zur Welt. Dementsprechend heißt es brieflich schon 1759: Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß zum andern sich erstreckt.52

Man sieht, das unsichtbare Wesen macht sich in jener spezifischen Äußerlichkeit der Sprache offenbar, und allein durch Rede lässt sich sehen, was man jetzt nicht oder jetzt noch nicht unmittelbar schauen kann: Gott selber, unsere Seele, wie es in bezeichnender Parallele heißt. In seiner Rede Ihn selbst zu sehen heißt, an Gottes Ent-Äußerung zu seinem Begriff (der Wahrheit seines Wesens) zu gelangen. Auch darin, dass das Was Gottes sich im Wie der Darstellung erschließt, ist Gott Geist, und das heißt, der sich zu uns Herablassende: Es kommt der Geist […] – Er lehrt seine Zeugen wie? und hernach was sie sagen wollen. Er richtet sich nach dem Geschmack der Menschen, die immer mehr auf die Art als die Sache selbst sehen, und durch die erste mehr als die letztere bewegt werden.53

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass dies Verhältnis von Vortrag und Sache, Kleid und Mensch, Embryo und zur Welt Kommen sprachlich gedacht ist; denn für Sprache als wirkliches Sprechen ist das Verhältnis von Äußerung und Erinnerung konstitutiv.54 Mit jedem gesprochenen Wort gehe ich ebenso aus mir 51 Vgl. Phänomenologie des Geistes. In: Werke (wie Anm. 11). Bd. 3. S. 13 (Darstellung); S. 18 (Auslegung); S. 18 (Geburt); S. 24 (Form als dem Wesen gleich), 24f. (Aussprechen; Vermittlung; vgl. 61); S. 25 (Embryo); S. 26f. (spekulativer Satz; vgl. 61f.). 52 ZH I, 393,28–30; vgl. N II, 198,28–32. Vgl. Ps 19, 2–7. 53 ZH I, 342f. (1759). 54 Am Wortleib erscheint Geist, das Innere der Bedeutung ist Bekleidung: N III, 367,11–15; vgl. die anthropologische Wendung N II, 198,5–9. Vgl. M. Picard: Die Welt (wie Anm. 15). S. 93 (21950) und (1955). S. 96. Vgl. auch Hiob 33, 31; 13, 13.

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heraus, wie ich darin zu mir zurückkehre, mich selber bestimme. Jedes gesprochene Wort ist in einem Atem Entäußerung und Reflexion in sich. Der Sprecher bringt sich hervor, indem er sich ausdrückt bzw. kommt auf sich zurück, indem er aus sich heraustritt. Darum spricht der Satz: »Rede, dass ich dich sehe« sprachlich von der Sprache.

V.

Hamann ein Schriftsteller

»Gott ein Schriftsteller« – der dies schrieb, wurde notwendig zum Autor und verstand seine Autorschaft zeitlebens von daher, ja, war selber Schriftsteller nur in der Wiederholung des »Poeten vom Anfang der Tage«. So schreibt er beispielsweise an Herder: Die Furcht des grösten Kunstrichters der Herzen und Nieren prüft und die Energie des großen schöpferischen so wol als schriftstellerischen Genies ist die wahre Muse.55

Diese Wiederholung (mimesis, imitatio) ist das zentrale Thema der Aesthetica in nuce (1762), nach der alle Dichtkunst zu begründen ist in der Poiesis des göttlichen Autors. So verstand Hamann auch seine eigenen Autorhandlungen. Es ließe sich zeigen, dass die ganze Eigenart seiner literarischen Produktion, ihre rätselhafte äußere Gestalt, ihre Strategie und innere Ökonomie und Hamanns eigentümlicher Stil, bis ins letzte aus dieser mimetischen Absicht verstanden werden müssen. Der Erfahrung: Rede, dass ich dich sehe – antwortet der andere Satz: »Ich glaube, darum rede ich«,56 und der Ritter von Rosencreuz führt das Motto: Credidi, propter quod locutus sum. 2Cor IV.13.57 Nur als Leser jenes unvergleichlichen Autors wurde Hamann selber einer: Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, und aus Lesern entstehen Schriftsteller. Die meisten Bücher sind daher ein treuer Abdruck der Fähigkeiten und Neigungen, mit denen man gelesen hat und lesen kann.58

Für wessen Bücher und Sprachkunst gelte das mehr als für diejenige dessen, der eben dies schreibt! Indem er Leser des einen Wortes wurde und allein indem er dessen Leser blieb, fand er seine Sprache, konnte er Schriftsteller sein. Was er im Worte jenes »großen […] schriftstellerischen Genies« gesehen hatte, das wollte Hamann in eigener Rede sichtbar machen. Dazu abschließend einige Hinweise. Mit der Bekehrung zu Gott, dem Schriftsteller κατ᾽ ἐξοχήν, verändert sich auffällig schon der Briefstil Hamanns. Etwa ab 1759 beginnt er, in seinen Briefen 55 56 57 58

ZH II, 446,12–14. ZH I, 453,8f.; vgl. 1Joh 1, 3 u. Ps 116, 10. N III, 25. N Il, 341,15–18.

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Rede, daß ich dich sehe

zu hamannisieren. In dieser Zeit schreibt er die Sokratischen Denkwürdigkeiten. Und bis ans Ende seines Lebens ist er leidenschaftlich daran interessiert, Ursprung und Maß eigenen Stils allein aus jenem Wort zu empfangen, das er als »poetisch oder kyriologisch« auffasste.59 Wir meinen jedenfalls, von hier aus seine innerste Beteiligung zu verstehen, wenn er noch in den letzten Lebensmonaten schreibt: Sans 1a sciencc du mot propre il n’y a point d’écrivain. Mit welcher glühenden Stirn, mit welchem Brande, habe ich diesen Ausspruch im III. Theil des de la Harpe gelesen, und wünschte diesen Funken allen Buchstabenmännern meiner Brüder im Apoll mittheilen zu können.60

Hatte er eben noch dem Psalter nachsprechen können: »Alle Schriftsteller sind Lügner«,61 so nennt er hier, was allein sie zu wahren Schriftstellern machen kann: »le mot propre«, d. h. die ipsissima vox! Nichts anderes lehrt die Hamannsche Ästhetik, die ja nichts ist als eine Theologie des Autors vom Anfang und des Kunstrichters vom Ende. Diese Ausrichtung am kyriologischen mot propre ist nun aber nicht unbestimmt erbaulich gemeint, sondern sprachlich. Ist Gott wirklich der absolute Schriftsteller, dann folgt: Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn […].62

Darum: Als Sprachereignis schlechthin, als sprachlicher Schlüssel zu dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist Hamann die Bibel sein Hen kai Pan gewesen.63 Wie zutreffend hat die Fürstin Gallitzin Jacobi gegenüber Hamanns Schriftstellersprache charakterisiert, wenn sie schreibt: »die H. Schrift, v. der sein ganzes Wesen impregnirt ist«.64 Und wie übereinstimmend ist diese Beobachtung mit Hamanns Selbstsicht:

59 Vgl. N II, 199,6. 60 N IV, 457,30–33; vgl. ZH Il, 23,10–17 (1760). Hamann zitiert aus Jean-Francois de La Harpe (1739–1803): Éloge sur Racine (1772). 33. Absatz. (Dankenswerter Hinweis meiner Kollegin Franziska Meier; Göttingen.) 61 Ebd. 457,25; vgl. Ps 116, 11; 58, 2. 62 N I, 243,18 (zu 1Petr 4, 11). 63 Vgl. ZH VI, 295,21f. und V, 314,21–23. 64 Vgl. ZH V, 490. So sagt Luther vom Glauben: »impregnatur anima verbo dei« (WA 5, 176,13f.; impregnari bedeutet auch: geschwängert werden). Ähnlich Erhart Kästner über den Einsiedler Awakum: »Hier also hatte der besondere Mann ein Menschenalter gelebt und sich aus der Schrift und den Vätern seine lebendige Botschaft gezogen, von der er nun völlig gebeizt war, durchdrungen, nichts anderes in ihm und außer ihm. Um zu hören, hatte er sich ganz und gar in die Schanze geschlagen«. In: Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos. Frankfurt a. M. 1956 (it 56). S. 171.

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lch habe die Bibel mit einem fame canina verschlungen und laß tägl. darinn. Sie war mein Element und Aliment; es war also gantz natürl. daß mein gantzer Nervensaft tingirt war […].65

Aber eben weil ihm die Bibel das große Wörterbuch für alle Sprache und Literatur war, darum konnte er, der fast nichts anderes tat als lesen, auch sagen: »Jedes Buch ist mir eine Bibel«.66 Er fand das eine Verbum Dei in der copia verborum aller Literatur wieder. Die Bibel war ihm gerade als Buch über alle Bücher das Buch der Bücher: liber instar omnium. Was da geredet war, öffnete ihm die Augen für alles Reden, und den ihn die Bibel sehen ließ, den sah er überall wieder. Darum wurde er zum Wortklauber,67 der überall in der Sprache der Welt Prophezeiungen für das Eine oder den Einen finden konnte. Man darf sagen, sein Gottesglaube und Vorsehungsglaube bezog sich auf die Sprache und die Literatur.68 Nicht nur erscheint Christus als der Kunstrichter am Ende der Tage,69 sondern in der Aesthetica in nuce wird er als die Muse des Eschaton in Anspruch genommen, die die Tenne der heiligen Literatur rein fegt.70 Und voller Zustimmung zitiert er einmal den Photius, von dem er sagt, er dehne die Ritterschaft Pauli, alles unter dem Gehorsam Christi gefangen zu nehmen, bis auf die heydnischen Floskeln und Phrases aus.71

Ganz auf dieser Linie liegt die Selbsteinschätzung von Hamanns Autorschaft. Entsprechend zum Geheimnis der Lumpen nennt er seine eigenen Schriften »Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle«, »Saalbadereyen«72 oder wiederholt, vermutlich mit Behagen, was Mendelssohn über seine kabbalistische Prosa schrieb: der Schimmel seiner Einfälle ist in der That nichts anders als ein mikroskopisches Wäldchen von satyrischen Erdschwämmen, witzigen Pfifferlingen, blühenden lsop, der an der Wand wächst, aufgedunsenen Melonen, kritischen Nüssen – .73

Er enthüllt dieses ironische Geheimnis seiner Autorschaft in einem Briefe an von Moser so: 65 ZH II, 443,32–34 (1769 an Herder). Hamann hat auch Luther lesend eingesogen »wie ein Schwamm«; vgl. ZH IV, 181,26–30. 66 ZH 1, 309,11 (1759). Vgl. Novalis: »Eine Bibel ist die höchste Aufgabe der Schriftstellerey«. In: Schriften (Kluckholm / Samuel), 3. Bd. Darmstadt 1960. S. 321,22. Vgl. auch: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel«. In: Schriften. 2.Bd. S. 462; Nr. 108. 67 ZH V, 328,27. ZH V, 328,27. 68 Vgl. N II, 64,19–31. 69 Vgl. N II, 342,35f. und 345,13–15. 70 N II, 197,10f.; 207,10f. 71 N II, 172,13–15. Vgl. 2Kor 10, 5; Röm15, 18. 72 ZH I, 431,30 und V, 204,20; vgl. 248,16. 73 N II, 272,34–37; vgl. Hamann selber: N II, 61,7–9.

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Rede, daß ich dich sehe

Des Sokrates Beruf die Moral aus dem Olymp auf die Erde zu verpflanzen […] kommt mit dem meinigen darinn über ein, daß ich ein höheres Heiligtum auf eine analogische Art zu entweyhen und gemein zu machen gesucht zum gerechten Aergernis unserer Lügen- Schau- und Maulpropheten.74

Er vergleicht dann seine Opuscula dem alkibiadischen Gehäuse aus Platons Symposion, dessen Reliquie hier der Kleine Lutherische Katechismus ist. Es ist die »Schreibart des Liebhabers«,75 zu der sich nach absolutem Vorbild ein Autor herablässt, um seinen Leser, den »mit den Augen eines Liebhabers«,76 zu gewinnen. Diese Selbstverstellung des Autors um des Lesers willen ist nichts anderes als die Mimesis dessen, der sich herablässt, das verlorene Schaf aufzusuchen:77 […] was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. So wie also ein Mensch den Thron des Himmels und die Herrschaft deßelben einnimmt: so ist die Menschensprache die Hofsprache […] im Vaterlande des Christen […] nahm er unser eigen Bild an – Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen – lallen – reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern.78

Diese imitatio also macht Hamann zum Schriftsteller. Auch er redet – auffällig genug – so, dass wir ihn (lesend) sehen und, indem wir ihn hören, einen anderen hören und sehen. Er redet als Zeuge.79 Insofern interpretiert der Satz: »Rede, daß ich dich sehe« auch die Hamannsche Autor-Handlung selbst in theologischer Perspektive. Rede, dass ich dich sehe! Hamanns Wort ist der Reflex auf das mot propre des absoluten Schriftstellers. In dessen Rede sah er zuerst und zuletzt mit Jenem stets auch sich selber, denn: Selbsterkenntnis ist und bleibt das Geheimniß ächter Autorschaft.80

Dieser Zusammenhang der »eckelhaftesten NaturGeschichte«81 mit der Poesie verändert alle Begriffe von Literarästhetik theologisch. Die Herablassung Gottes

74 75 76 77 78

ZH III, 67,4–9. Zeus als Autor in Kuckucksgestalt: N II, 348,8f. Vgl. Cicero, Tusc.disp. V. 4,10. N II,150,12. N II, 171,15f. Vgl. ZH II, 85,12–23 mit Mt 18, 12–14. ZH I, 393f. Im Himmel herrscht also ein Mensch! Vgl. dazu die Luther. Bekenntnisschriften (FC; SD VII, 70; BSLK 1040,29–32 und zu dem Übrigen: 579,37f.) und Luther selber: WA 48, 647,20–23; 11, 51, 27–52,7; 46, 598,32–599,2. 79 »der Arm eines Wegweisers«; N II, 76,25f. 80 ZH VI, 343,7. 81 Vgl. ZH I, 374,12 (1759 an Kant).

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zur törichten Sehreibart,82 die Erscheinung des »Schönste[n] unter den Menschenkindern« als »ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Striemen«83 hat ebenso eine christliche Umwertung dessen, was Schönheit, wie dessen, was Autorschaft ist, mit sich gebracht.84 Hamann spricht von seiner Selbsterkenntnis wie von seinem Stil, wenn er an Lindner schreibt: Was mein eigen Herz betrifft; so trau ich demselben nicht, wenn es mich absolvirt, nicht wenn es mich verdammt. […] Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, der mich von allem Uebel erlösen wird, und auch von der Sünde, die mich wie meine eigene Haut umgiebt […] – Ich weiß, daß meine Muse auf einer glühenden Asche singt, und ihre Feder statt einer Scherbe braucht um sich zu kratzen. – Ich weiß, daß die Erde meine Mutter und Würmer meine Brüder sind.85

Und daraus folgt ein neuer Begriff von Genie, der ebenso christologisch vermittelt wie für Hamanns eigenes zutreffend ist und der zugleich ästhetisch in die Zukunft weist und darum hier am Ende gehört werden soll: Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt.86

82 Vgl. N I, 10,33–35 und 6; II, 171,8–18 und 171,22–172, 2. 83 N II, 68,17–19. 84 Vgl. ZH III, 173,17–19. Im Anschluss an Hamann schreibt Lavater seinen Pontius Pilatus (4 Bände. 1782–1785) und deutet Jesu Passionsgeschichte als die erhabenste Tragödie schlechthin; vgl. u. das Schlusszitat von Hamann u. bei Anm. 86. 85 ZH II, 157,12–24. Vgl. N II, 354,12–14 und Hiob 2,8. 86 ZH II, 168,23f. (1762 an Nicolai). Einen Gegensatz von Genie und Geschmack haben bereits Mendelssohn und Goethe bei Hamann zu erkennen vermeint, wie Hegel erwähnt, der selber auch Hamanns nichtklassische Ästhetik nur als bizarr empfinden kann; vgl. Hegel: Werke. Bd.11 (wie Anm. 11). S. 318, 321, 324 und 335 (Goethe), 336, 338f. Vgl. auch N III, 459 (234,22): »Gehorsam des Kreuzes in ästhetischer Nachfolge« (vgl. 234,22f.). Zu diesen Zusammenhängen vgl. Vf.: Dornenkrone und Purpurmantel. Theologische Betrachtungen zu Bildern von Grünewald bis Paul Klee. Insel-Bücherei 1159. Frankfurt a. M 1996. S. 7–18.

Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos

Vorbemerkung: Die Abbildung ist ein Ausschnitt vom (farbigen)Titelblatt der ersten gesamten Bibelübersetzung Martin Luthers (1534. 1. Band), abgebildet auch in dem Katalog: Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). 1983. S. 171; zur Erläuterung vgl. S. 170–173, Literatur S. 172 und 173. Der Künstler ist der unbekannte Monogrammist M.S. Bei dem oben auf einem Balkon sitzenden, von Engeln umgebenen Schreibenden handelt es sich ganz offensichtlich um Gott selber (Gottvater oder Hl. Geist). Das belegen erstens die kleeblattförmige, d. h. trinitarische Aureole und zweitens die subscriptio. Die ikonologische Vorgeschichte der Darstellung ist ungeklärt; im Lexikon der christlichen Ikonographie (Herder) ist eine vergleichbare Darstellung in den Artikeln »Gott, Gottvater« (Bd. 2. S. 166–170), »Schöpfer, Schöpfung« (Bd. 4. S. 99–123) und »Schreiber, Schreibszenen« (Bd. 4. S. 123– 125) nicht verzeichnet. Im Katalog heißt es unbestimmt: »ein bärtiger alter Mann mit Heiligenschein«, S. 173). Die subscriptio gibt den Wahlspruch der Reformation nach Jes 40, 6–8 und 1Petr 1, 25. Vor dem Schreiber hängt, mit Nägeln am Balkon befestigt, das Titelblatt der Bibel in Gestalt einer Pergamentrolle herab. Ein solcher Text könnte zu einer grenzenlosen Auslegung verführen. (Goethe) So sieht man hier heilige Schriftstellen in der vertraulichsten Gesellschaft unreiner Musen und gemeiner Verse… (N II, 273,50)

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Unter dem Titel Orientalischer Poesie Ur-Elemente schreibt Goethe in den Noten und Abhandlungen zum Divan: »so findet man, daß dem Orientalen bei allem alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes auseinander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man, daß die Sprache schon an und für sich produktiv ist, und zwar, insofern sie dem Gedanken entgegenkommt, rednerisch, insofern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch«.1 Wenn auch nicht Goethe selber,2 so kommen doch wir schwerlich umhin, bei diesen Zeilen über den Orientalen an Johann Georg Hamann zu denken, jenen magus ex oriente (Mt 2, 1) in Norden, der nicht nur ein Verteidiger des »Orientalischen in unserm Kanzelstil«3 und »morgenländischer Allegorie« war,4 sondern der auch philologische Kreuzzüge nach dem Morgenland unternahm,5 wo er den Stern gesehen hatte.6 Überhaupt scheint wenig so geeignet, sein literarisches Verfahren zu kennzeichnen, wie Goethes bedeutende Worte es hier tun. Das gilt, wenn wir uns auf unser Thema einlassen – sein Topos bezeichnet in Hamanns ganzem Oeuvre 1 Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche (Beutler). Bd. 3. Zürich 1949. S. 471. Das o. vorangestellte Motto ebd. S. 479. Hegel sprach bezüglich Hamanns vom »Gären« der Idee. In: Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe). Bd. 11. Frankfurt a. M. 1970. S. 324; zum orientalischen »Gären« vgl. Bd. 13. S. 108f. sowie S. 365. 2 Goethe ließ sich zu einem ausführlichen Vergleich mit Jean Paul anregen (ebd. S. 476–479), was zu Hamann nicht ganz beziehungslos ist. Vgl. Hendrik Birus: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart 1986. Ähnlich hat sich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik zu Jean Paul geäußert; vgl. Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe). Bd. 13. Frankfurt a. M. 1970. S. 382; Bd. 14. S. 230 u. Bd. 15. S. 273. 3 N II, 170,37–39. Zum morgenländischen Geschmack vgl. N III, 179,18. Goethe hat die Differenz orientalischer Dichtung zum klassischen Geschmack (bzw. zu klassizistischer Ästhetik) lebhaft empfunden: »Wer nun also, von den ersten notwendigen Ur-Tropen ausgehend, die freieren und kühneren bezeichnete, bis er endlich zu den gewagtesten, willkürlichsten, ja zuletzt ungeschickten konventionellen und abgeschmackten gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orientalischen Dichtkunst eine freie Übersicht verschafft. Er würde aber dabei sich leicht überzeugen, daß von dem, was wir Geschmack nennen, von der Sonderung nämlich des Schicklichen vom Unschicklichen, in jener Literatur gar nicht die Rede sein könne. Ihre Tugenden lassen sich nicht von ihren Fehlern trennen« (Gedenkausgabe. Bd. 3. S. 472). Aufschlußreich wäre ein Vergleich mit seiner kritischen Beschreibung von Hamanns Stil im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit (Gedenkausgabe. Bd. 10. S. 563f.). Schon Mendelssohn hatte in den Literaturbriefen auf die Diskrepanz zwischen Genie und Geschmack bei Hamann hingewiesen, was dann Hegel 1828 wiederholte: »Hamann kann sich nicht enthalten, den hohen Ernst, mit dem diese Schilderung anfängt [N III, 399,28–401,7], und die gefällige, wenn auch selbstgefällige Tändelei, mit der er sie fortsetzt, mit einem (wie die meisten übrigen Ausdrücke aus der Bibel entlehnten) Schlußbilde des Unrats zu verunzieren« (Werke. Bd. 11. S. 339; vgl. S. 335). Hamann selber sähe darin wohl »ästhetischen Gehorsam des Kreuzes« (N III, 234,22); vgl. zur Mimesis Christou N II, 109,8f. mit 1Kor 11, 1 und Phil 3, 17; vgl. u. Anm. 281. 4 N III, 125,17. Vgl. ZH I, 396,21 u. 29–34. 5 N II, 211,7. 6 Vgl. N II, 137–147 (Die Magi aus dem Morgenlande, zu Bethlehem); dazu Elfriede Büchsel: Theol. Z. 14 (1958). S. 191–213.

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ein systematisches Zentrum –, insbesondere für den Zusammenhang der Produktivität der Sprache (in Rede und Poesie) mit dem Gottesgedanken.

I.

Der göttliche Autor

1. Hamanns erster Satz als Autor ist ein solcher, mit dem er sich unvergeßlich ins Buch der Geschichte von Theologie, Literatur und Geisteswissenschaft eingeschrieben hat. Im Kontext seiner Londoner Bibel-Lektüre prägt er die erstaunliche Formulierung: »Gott ein Schriftsteller!« (N I, 5).7 Dies glänzende Bonmot ist darum von so verblüffender Evidenz, weil es provozierend neu sehen läßt, was an sich theologisch bekannt ist und auch zu Hamanns Zeit weithin unbestritten noch galt: die hl. Schrift ist auf Gott zurückzuführen, sie ist oder enthält sein Wort. Das ist allgemeiner christlicher Sprachgebrauch. Hamann zieht mit seiner Formulierung daraus die ebenso naheliegende wie überraschende Folgerung: also ist Gott so etwas wie ein Schriftsteller.8 Jäh stellt Hamann unsern Blick von den vielen biblischen Autoren auf diesen einzigen ein. Und darin liegt das genial Neue, denn Gott wird hier eben nicht, wie man es gewohnt ist, als Schöpfer, als Weltregent, König oder himmlischer Herrscher tituliert, sondern mit dem Namen für einen bürgerlichen Beruf von (damals) eher zweifelhaftem sozialen und – wie Hamann an sich selbst erfuhr – ökonomischen Status.9 Das Wort Schriftsteller war völlig modern; es ist im heutigen Sinn überhaupt erst im 18. Jahrhundert aufgekommen.10 Hamanns Wendung hat also schon dadurch etwas Humoristisches: der ewige Gott ein Skribent? Außerdem wird der Höchste hier mit Hilfe des unbestimmten Arti-

7 Vgl. dazu Sven-Aage Jørgensen: Gott ein Schriftsteller! Anmerkungen zu Hamnns Ästhetik. In: Literatur und Religion. Hg. von H. Koopmann u. W. Woester. Freiburg 1984. S. 122–130 und Oswald Bayer: Gott als Autor. Zu einer poetologischen Theologie. Tübingen 1999. 8 Von diesem »erstaunlichen, ja ungeheuerlichen Satz« hat Henning Ritter sehr schön gesagt, er rücke »den frommen Ernst all dessen, was ihm folgt, in ein merkwürdig flackerndes Licht«. »Gott ein Schriftsteller – nicht anders als der, dessen Aufzeichnungen dieser Satz eröffnet. Es beginnt also mit einem Einfall, einem riskanten, in seiner Vieldeutigkeit frivolen Gedanken, wie er einem versierten Literaten der Zeit durch den Kopf schießen mochte. Aber dann wird es damit, wie bei einer Wette oder einem Experiment, allmählich ernst, bis plötzlich Tun in Erleiden umschlägt«. In: Gott ein Schriftsteller. FAZ. Nr. 304 (31.12.93). Literatur-Beilage. Sp. 3. 9 Vgl. Christoph Martin Wieland: Werke (Oßmannstädter Ausgabe). Bd. 13 /1. S. 200. 10 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst. Leipzig 51762. S. 403. Noch im 17. Jahrhundert war das Wort auf den Verfasser bzw. Ausfertiger von Schriftstücken im juristischen Sinn beschränkt (vgl. Adelung: Wörterbuch. IV. Theil, Sp. 274) und s.v. Schriftsteller in: HWbPh 8 (1992). Sp. 1439 – 1442.

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Rede, daß ich dich sehe

kels eingeführt, als sei er einer unter anderen: ist Gott unter die Literaten gegangen?11 Dass Gott sich gemein gemacht habe, das will Hamann in der Tat und mit letztem Ernst behaupten. Denn dass Gott ein Schriftsteller und der absolute Schriftsteller sei, das ist beileibe keine Metapher, sondern weist in das Geheimnis des lebendigen Gottes, der sich in die Menschenwelt herabläßt, den Himmel auf die Erde mitbringend: Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters12 und die Menschwerdung des Sohnes […] dies Wort ist der Schlüssel zu den Werken der ersteren und den Geheimnissen der letzteren (N I, 5).13 11 Neben der sachlichen Bedeutung (= Autor), die seit etwa 1723 nachweisbar ist (vgl. DWb (Grimm). Bd. 15. S. 1748) und für die sich Belege bei Gleim (an Lessing: 15. 4. 1759). In: Lessings Sämtliche Schriften. Bd. 19 (Lachmann / Muncker. 1904), S. 143,17), Schiller (1782). In: Sämtliche Schriften (Goedeke.1867). Bd. 2. S. 376 und Kant geben lassen (1785). In: Kant’s Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. VIII. S. 80f., hat schon Campe den Reflex einer pejorativen Bedeutung vermerkt: als »niedrige, aber deswegen nicht verwerfliche Wörter« (DWb, ebd.). Hamann redet 1762 von unserm »schriftstellerischen, gleissnerischen, unzüchtigen Geschlecht« (N II, 115,91f.), und auch bei Herder findet sich 1766/67 eine leicht spöttische Nebenbedeutung (Sämmtliche Werke (Suphan) Bd. 1, S. 173). Entschieden ablehnend ist Klopstocks Epigramm Die Schriftstellerei: weil »ohne Würde« sei das Wort aus dem Deutschen zu verbannen (Nr. 47; in: Sämmtliche Werke, 5. Bd. Leipzig 1856. S. 315; ca 1795–1803). Vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 39. S. 251. 12 Bei Mallarmé wird der Zusammenhang von absolutem Buch und Schöpfung schließlich dahin zugespitzt, dass die Welt geschaffen ist, um das eine Buch schlechthin, das hier freilich nicht mehr die Bibel ist, hervorzubringen: »Au fond, voyez-vous […] le monde est faîte aboutir a un beau livre« (Notes I (1869); vgl. Paul Valéry: Werke (Frankfurter Ausgabe). Bd. 5. S. 43). Vgl. Homer: Od. VIII, 579f. und die Nachweise bei Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1986 (stw 592). S. 316 mit Anm. 375 u. 317 sowie u. Anm. 144. 13 In der Londoner Zeit ist die Rede von Gott als Schriftsteller noch deutlich dem 3.Artikel des Credo (Gott als Geist) zugeordnet (vgl. auch N I, 91,7–17 und II, 43,36–40); ähnlich trinitarisch differenziert formuliert noch das Kleeblatt (1762): N II, 171,48. In der Aesthetica ist dann die Anwendung auf den Schöpfer (1. Art.) vollzogen; allerdings ist statt von »Schriftsteller« von Autor und Poet die Rede – beides doppelsinnige Ausdrücke (s. u.). Wenn die klassische protestantische Dogmatik Gott ausdrücklich als auctor (»Urheber«) der hl. Schrift in Anspruch nimmt (z. B. bei J.W. Baier (1686) oder J. Gerhard (1610; zitiert bei Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (Neuausg. Horst Pöhlmann. Gütersloh 9 1979). S. 50. Nr. 3) und bei A. Polanus: Syntagma theologiae Christianae (1642). Bd. 1. S. 16; zitiert bei Heinrich Heppe / Ernst Bizer: Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Neukirchen 1958. S. 11), so ist regelmäßig die Vermittlung durch den inspirierenden Heiligen Geist gemeint: auctore Spiritus Sancti (vgl. das Heidegger-Zitat bei Heppe S. 10). So »weiß« dieser für Luther »die Worte«, »spricht« richtig von seinen Dingen »und lehrt uns reden« (WA 8, 89,16f. (latein.); vgl. WA 7, 650,21–30). Er ist »summus scriba« (Calov: Systema locorum theologicorum (1655). Bd. I. S. 453 und der »unus Scripturae autor« (Calov: Biblia Novi Testamenti illustrata. I, S. 17b); ähnlich bei Fr. Glass: Philologia sacra (1623). II. P. I, Sp. 347: DEus ipse). So ist der H. Geist »autor simul et explicator Scripturae« (Matthias Flacius: Clavis scripturae sanctae (1567). II, Sp. 8 (ed. Geldsetzer, 30f.), und ebenso bei Calov: Biblia NT illustr. II, S. 1547a. Auch für H. Livius Finck ist der H.Geist (wie schon jeder menschliche

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Die traditionelle Inspirationslehre14 trinitarisch weit überbietend, nimmt Hamann Gottes Wortwerdung wirklich buchstäblich: Gott hat sich in dies Buch entäußert;15 er ist ein Autor geworden: Gott offenbaret sich – der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller (N I, 9).16

2. Das ist so durchaus neu gesagt. Schreibende Gottheiten kennt die Religionsgeschichte kaum,17 und der ägyptische Schriftgott Thot gilt mehr als Erfinder der

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»Tolmetscher« seiner eigenen Worte) »der H. Schrifft bester Außleger, als er selbst dictiret hat« (zitiert nach Julius W. Zingref: Deutsche Apophtegmata. Amsterdam 1653. Teil I. S. 219). Immerhin konnte Johannes Coccejus auch formulieren: »Horum librorum auctor et dator est Deus, non tantum Pater sed et Filius« (Summa theologica. Bd. IV, S. 39: zitiert bei Heppe S. 18). Calvin hat dagegen die Urheberschaft Gottes auf die Lehre der Bibel (doctrina) bezogen: »authorem eius esse Deum« (Institutio. 1, 7, 4; vgl. aber 7, 1). Auch für M. Flaccius ist der »deus vivens« der autor des Bibelbuches (Clavis. II, Sp. 21f. (ed. Geldsetzer. S. 88f.), ebenso bei Calov: Systema. I, S. 452. Schon bei Thomas von Aquin heißt es: »auctor sacrae Scripturae est Deus« (Summa theologiae I, q.1, a.10. rsp. Vgl. Conc.Trid. Sessio IV; Denzinger 1501). Zu Christus als »Autor et Dominus Scripturae« bei Luther: WA 40/1, 458,33f.; auch Abraham Calov nennt als Autor beider Testamente den »Sohn Gottes« (vgl. z. B. Biblia Novi Testamenti illustrata II, S. 1286b u.ö). Für die eigentliche Verbalinspiration durch Gott vgl. Abraham Calov: »non solum, quod ad Prophetas et Apostolos locutus sit (Hebr 1, 1) quodque eos scribere iussit […] ac quod ipse augustum Scripturae Canonis initium fecerit immediata Verborum legis exoratione […]. Sed quod etiam ea, quae [sc. als verba] Vivi Dei scripserunt, ipsis inspiravit (2Tim 3, 16; 2Petr 1, 21) et quidem non solum quoad sensum et sententiam; sed quod Verba, quae iisdem suggesta et dictata sunt, prout in Scripturis habentur« (Systema. I, S. 452; vgl. S. 555). Über die Art, wie Gottes Kondeszendenz, um die es bei Hamann geht, in der Altprotestantischen Dogmatik zur Geltung kam, vgl. Karlfried Gründer, Figur und Geschichte. Freiburg / München1958 (Symposion 3). S. 39–47. Gerade so bleibt bei Hamann das Christentum »Wortreligion« im Unterschied zu einer »Buchreligion« (vgl. dazu ThWbNT I, S. 768,37f. u. Anm. 22 (Harnack)) wie dem Islam, für den Kitab das im Himmel aufbewahrte Urexemplar (umm al-kitab, »die Mutter des Buches« bzw. al-lauh al-mah fuz, die im Himmel »wohlverwahrteTafel«, vgl. Sure 13, 39 u. 43, 2) des irdischen Koran (qur’an: Lesung, Vortrag, Rezitation!) ist, der mit jenem bis in die Orthographie übereinstimmt und von Mohammed in visionären Erfahrungen empfangen, d. h. entgegengenommen wurde (vgl. Sure 46, 1; Sure 97 u. ö.). Bezeichnend die islamische Kontroverse darüber, ob das himmlische Exemplar wie Gott selber von Ewigkeit her bestehe oder von Gott geschaffen sei; vgl. Hermann Stieglecker: Die Glaubenslehren des Islam. Paderborn 1962. S. 75–84 und Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920. S. 55–98. Immerhin kann auch Justin die hl. Schrift als Gottes »Erstgeborene« bezeichnen (Apol. 21, 122, 2)! Dass der Ausdruck »heilige Bücher« bzw. »heilige Schrift(en)« nicht eigentlich neutestamentlich-christlich, sondern rabbinisch bzw. jüdisch-hellenistisch ist, zeigt Schrenk in: ThWbNT I, S. 750,50–751,24; vgl. S. 763f. u. 614,21f. Vgl. überhaupt Leo Koep: Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Bonn 1952 (Theophaneia 8). Zum Unterschied von alttestamentlicher Schrift- und christlicher Wortreligion vgl. auch Eckhard Nordhofen: Schreibt Gott? In: FAZ 86. S. 11 (11. 4. 2020); hier wird Hamann nicht erwähnt. Vgl. ähnlich N II, 64,22; ZH II, 143,20 (Schwachheit). Zu Gott als dem absoluten Schriftsteller bei Luther vgl. WA 40/III, 270,3f. (»optimum Poetam et Oratorem«) u. 31/I, 393,16. Z. B. bei den Etruskem, vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Bern / München 101984. S. 314 Anm. 4. (Hamann kennt nur etruskische Malerei: N

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Schrift denn als Schreiber.18 Vielmehr werden einzig in der christlichen Kunst Gott19 oder auch Christus mit einer Buchrolle dargestellt.20 Des ungeachtet ist weitaus geläufiger die Bezeichnung Gottes mit den Metaphern des Handwerklichen,21 allen voran das biblische Bild des Töpfers (Jes 45, 9; Röm 9, 21),22 dann das platonisch gefärbte des Demiurgen bzw. des opifex (τεχννίτης) oder deus artifex,23 des Weltenbaumeisters (fabricator, aedificator, Architekt),24 so dann

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III, 226,34–39.) Im alten China hatte man den Literatur-Gott Wen Ch’ang; vgl. über ihn E.T.C. Werner: A dictionary of Chinese Mythology (1961), Art. Wen Ch’ang. The God of Literature. S. 554–558. (Abgebildet in: Axel Dunker (Hg.): Arno Schmidt 1914–1975. Katalog zu Leben und Werk (ed. text u. kritik), 1990. S. 116. Dazu Arno Schmidt: Die Schule der Atheisten. Frankfurt a.M. 1972. S. 20). Helmut Brunner: Grundzüge der altägyptischen Religion. Darmstadt 1983. Ab S. 15. Über die Erfindung von Alphabet und Schrift durch diesen Gott (Theut) vgl. Platon: Phil. 18 b6 – d3 und Phaidr. 274 c – 276 a; dazu Hamann N Il, 199,38–41 (Fn. 10) sowie 78 (Fn. 51) und 208 (Fn 42). Z. B. der Schöpfer auf einem Mosaik des 12. Jahrhunderts der Capella Palatina in Palermo (Abb. als Titelblatt des Insel-TB (it) 1411). Curtius: Europäische Literatur, wie o. Anm. 17, S. 314 (mit Nachweisen). Zur biblischen (und vorbiblischen) Bedeutung von Buch (βίβλος, βίβλιον) und Schrift (γραφή) vgl. die Art. von Schrenk im ThWbNT 1, S. 613–620 und 749–761 (mit Literatur). Zu den Handwerker-Göttern: Curtius: Europäische Literatur. S. 528. Übrigens kann Schreiben auch als »Pflügen« aufgefaßt werden (S. 317f.). wie umgekehrt scriptura als »Zeugung« (in jedem Sinn), S. 320 Anm. 1. Bei Hamann z. B. N II, 200,8f. Gott als aus Erde formender Menschenbildner ist auch im babylonischen Mythos und aus Ägypten bekannt (Chnum). Zu Christus als Töpfer s. u. Anm. 46. Curtius: Europäische Literatur. S. 527–529 (Exkurs XXI: Gott als Bildner). Hamann spricht von Gott als Bildhauer N II, 67,1 (vgl. 62,17 u.18); 356,15 und N III, 46,14f., was N II, 66,25–27 mit Jesus als Zimmermann verbunden wird (vgl. 67,19) und auf Luther zurückgeht (66 Fn. 20; vgl. WA 18, 518,32–35). Curtius führt aus Gracian eine angebliche Augustin-Stelle an, wonach Maria einem Zimmermann verlobt wurde, um dann den Baumeister des Himmels zu ehelichen (S. 303 Anm. 3). In Conrad Ferdinand Meyers Gedicht In der Sistina lautet die letzte Strophe: »Den ersten Menschen formtest du aus Ton, / Ich werde schon von härterm Stoffe sein, / Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon, / Bildhauer-Gott, schlag zu! Ich bin der Stein«. Zu opifex vgl. Cicero: De nat. deor. 8, 18; Ovid, Metam. 1, 79; Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Hg. von A. Buck. Hamburg 1990 (Phil. Bib. 427). S. 4; zu artifex die Hinweise auf Cicero, Seneca, Apuleius, Lactanz bei Vincenz Rüfner: Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum (PhJb 63, (1959), S. 250) und Augustin: De Gen. ad litt. (l. imp.) 3,10 (PL 34, 224), Civ. Dei XI, 22 (PL 41, 335), vgl. Tract. i. Joh. I, 17 (PL 35, 1387; sonst häufig auch conditor Deus). Vgl. Adolph Fr. Müller: Ars divina. Eine Interpretation der Artifex-Deus Lehre des hl. Augustin. Diss. München 1956. (Nach Müller wird bei Augustin Gott niemals Poet genannt oder ein menschlicher Künstler mit Gott verglichen.) Bei Plinius heißt die Natur selber divina rerum artifex (Nat. hist. XXII, 56; opifex: 1,1). Zur Welt als Meisterwerk des Künstlergottes (vgl. Sap. Sal. 11, 21) Karl Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Bd. 1. Leipzig 1914, bes. S. 69; Edgar de Bruyne: Études d’Esthétique Médiévale. Brügge 1946. Bd. II. Ab S. 257 (Zu Guill. de Conches, Bernh. Silvester); Bd. III. Ab S. 230 (Thomas von Aquin). Gerade wegen der Nähe zum als Handwerker verstandenen Demiurgen regt sich früh christlicher Widerspruch gegen eine Auffassung Gottes als Künstler; z. B. bei Theophilos von Antiochien (2. Jht.); vgl. Gerhard May: Schöpfung aus

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auch die künstlerischen Großmetaphern25 von Gott als Weltenmaler (deus pictor)26 – ebenso bei Hamann27 wie schon bei Calderón28 – und Weltenmusiker, der,

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dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo. Berlin 1978. S. 75 u. Anm. 59; S. 163f. Anm.70 (dort auch Literatur zur mittelplatonischen Lehre (Anm. 58; S. 164 Anm. 70). N III, 24,7f. (Christus Architekt) und N I, 117,35–118,7 und 119f. (Gottes Baukunst; cf. N III, 264,33). Religionsgeschichtliche Beispiele bei Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler (stw 1202). Frankfurt a. M. 21995 (bes. Kap. III/3: Deus artifex – Divino artista, S. 64– 88). Gott der Schöpfer heißt »der größte und einzige Künstler« bei Adalbert Stifter: Der Nachsommer (2, 2: Die Annäherung). Hg. von Max Stefl. Augsburg 1954. S. 387. Zum Architekten als Nachfolger des Demiurgen vgl. Paul Valéry: Eupalinos. In: Werke. (Frankfurter Ausgabe). Bd. 2. Frankfurt a.M. 1990. S. 11. Die mystische Umkehrung von Gott als Dom findet sich in verschiedenen Gedichten aus R.M. Rilkes Stundenbuch (Vom mönchischen Leben): »Wir bauen an dir mit zitternden Händen«, »Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen«, »Werkleute sind wir« u. ö. Vgl. Kurt Badt: Der Gott und der Künstler, PhJb 64 (1956), S. 372–392; Milton C. Nahm: The Artist as Creator. Baltimore 1956 und Kris/Kurz, wie o. Anm. 24. Curtius: Europäische Literatur. S. 528 Anm.1; S. 543f. u. 550. Gott als Maler ist ein besonders von Nikolaus von Cusa aufgegriffenes Motiv (De visione Dei 25), und eine schöne Veranschaulichung bietet das Gemälde von Dosso Dossi Zeus als Weltenmaler (Kunsthist. Museum Wien; Literatur dazu bei Kris / Kurz, wie o. Anm. 24, S. 81 u. Anm. 9). Vgl. auch: »Und der Himmel wird wie eines Malers Haus, / Wenn seine Gemälde sind aufgestellet« (Fr. Hölderlin, frgm. 53. In: Sämtliche Werke (KlStA. Beißner). Bd. 2. Stuttgart 1953. S. 332; vgl. dazu: Empedokles, B 23. In: H. Diehls / W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. I. Berlin 6 1951. S. 321f.). Als den größten Maler und Artisten schildert Jean Paul »unsern Herr(n) Gott« (Biographische Belustigungen (1). In: Werke (N. Miller). Bd. 4. München 1962. S. 273,16–25). Heißt es einerseits: »si liceret […] Jesum Christum pictorem nominarem« (Johannes Butzbach: Liber de praeclaris picturae professoribus. Maria Laach 1505. fol. 136r), so erachtet andererseits Luther den Teufel für einen »schlecht Maler« (WA 37, 460,3f.; vgl. 454,29f. u. 456,18f.). Vgl. den metaphorischen Ausdruck bei Paulus: Gal 3, 1. Auch die anthropologische Umkehrung kommt vor, wenn z. B. Michelangelo, der »divino artista«, von Aretino als »Persona divina« bezeichnet wird (vgl. ebd. S. 84) oder Leonardo da Vinci den produktiv schaffenden Maler »signor e dio« nennt (zitiert nach Heinrich Ludwig (Hg.): Das Buch von der Malerei. Wien 1882. S. 18). In dem Trattato della pittura (posth.1656) wird eine Analogie zwischen dem Geist des Malers und Gott hergestellt (zitiert bei Godo Lieberg: Poeta creator. Studien zu einer Figur der antiken Dichtung. Leiden 1982. S. 166). Auch Dürer kann den Künstler als »gleichförmig Geschöpf nach Gott« und seine Produktion als »von den oberen Eingiessungen« her (vgl. Pfingsten und den scholastischen Begriff der scientia infusa) verstehen (vgl. dazu Hans Holländer: »…inwendig voller Figur«. Figurale und typologische Denkformen in der Malerei. In: Volker Bohn (Hg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik 2. Frankfurt a. M. 1988 (ed. Suhrkamp NF 450). Ab S. 166). Wenn Dürer in den Entwürfen zum Malereitraktat Speis der Malerknaben schreibt: »Denn ein guter Maler ist indwendig voller vigur« (In: Albrecht Dürer: Schriftlicher Nachlass. Hg. von Hans Rupprich). 2. Bd. Berlin 1966. S. 109,62), so bezieht er sich dabei nicht nur ausdrücklich auf den (mittel-) platonischen Gedanken vom Nous als Inbegriff der Ideen im Schöpfergott, sondern insbes. auf Senecas Aussage über Gott: »Plenus his figuris est, quas Plato ideas appellat« (Ad. Luc. 1. V11. ep. 65, 7. In: Philos. Schriften (Rosenbach), 3. Bd. Darmstadt 1974. S. 540). Zum ganzen Komplex ist einschlägig Erwin Panofski: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (1924). Berlin 71993. Sicher N II, 133 Fn.18; N III, 31,3; vielleicht N II, 190,3 u. 342,15f. »Malerey« ist nach N II, 197,16 »älter – als Schrift«; s. dazu u. Anm. 229.

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nach Augustin29 und Bonaventura,30 die Welt als Lied, das carmen universitatis hervorbringt.31 Aus der Tradition vertrauter und der literarischen Topik näher ist die Auffassung Gottes als des dictator, nach dessen Diktat – gemäß Ps 45, 2b32 – die heiligen Männer die biblischen Bücher geschrieben haben – so die Theorie der »Inspiration«33 schon im Mittelalter.34 Von Gott selber wird freilich im AT gelegentlich gesagt, er habe die Gesetzestafeln mit seinem Finger geschrieben (Ex 31, 18; vgl. auch 24, 12; 32, 16; 34, 1).35 Christus dagegen war kein Schriftsteller 28 Curtius: Europäische Literatur. S. 543 u. 549; das Motiv findet sich auch bei Clemens Alexandrinus (Curtius. S. 544) und geht schon auf Empedokles und Pindar zurück. 29 Curtius. S. 251. S. 528 mit Anm. 4. S. 550 mit Anm. 2 (auch bei Calderón). 30 Opera (Quar.) Bd. II. dist. 13, S. 316a; vgl. Bd. I. S. 786b und V. S. 204b (Breviloquium. Prol. 2). Zur Frage, ob carmen »Lied« (so Curtius. S. 528 und Rüfner, wie o. Anm. 23, S. 257) oder »Gedicht« (poema) bedeute (so Tigerstedt mit Gründen, wie u. Anm. 79, S. 466f.); vgl. hier auch die angegebene Literatur. 31 Vgl. Augustin, Civ. Dei XI, 18 (PL 41, 332); De mus. V1, 11, 29 (PL 32, 1179; vgl. 33, 527). Die ganze Tradition ist von der pythagoreischen »Sphärenmusik« beeinflußt. Luther redet von suavissimus concentus naturae (im Paradies!), WA 42, 95,14; zum Bezug auf Pythagoras vgl. WA 43, 444,13–17 und 48, 201,7f.; WATR 5, 225,11–14 (Nr. 5539); dazu Oswald Bayer: Schöpfung als Anrede. Tübingen 1986. S. 62f. Ein Echo noch bei E.T.A. Hoffmann zitiert Erich Rothacker, Das »Buch der Natur«. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte. Hg. von Wilhelm Perpeet. Bonn 1979. S. 123 (P. 93); vgl. auch die bekannten Verse Eichendorffs: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort« (Wünschelrute. Zitiert bei Rothacker. S. 53 (R. 38). Zur mittelalterlichen Auffassung der Schöpfung als einer musikalischen Komposition (Lied) cf. de Bruyne, wie o. Anm. 23, I, ab S. 309 u. 360 (Johannes Scotus Erig). Bei Schleiermacher wird das einmal eschatologisch gewendet: »aus welcher [sc. der Polterkammer der irdischen Vergänglichkeit] nur der große Musikmeister alle diese veralteten Instrumente zu einem himmlischen und ewigen Concert wieder hervorzieht und erneuert« (Brief vom 18. 08. 1797. In: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Hg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey, Bd. I. Berlin 1860. S. 144). 32 Ps 44,2: »Lingua mea calamus scribae velocifer scribentis« (V). Hier wird Gott metaphorisch als S c r i b e n t bezeichnet, was in der Bibel singulär ist. Vgl. auch »Ipse igitur haec scripsit, qui scribendo dictavit« (Gregor d. Gr.: Moralia. Praef. 1,2). 33 Nach 2Tim 3, 16: »Omnis scriptura divinitus inspirata« (θεόπνευστος); vgl. o. Anm. 14 und zur Inspiration im Judentum und Christentum ThWbNT 1, S. 755 und S. 756,31–757,31. Über das Verhältnis von Gottes eigenem Reden zu seinen Sprechern (Propheten) in der Sicht Spinozas vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 102–104 u.106 sowie meinen Aufsatz »So spricht der Herr«. In: ZTHK 115 (2018), S. 425–448. 34 Z. B. Alcuin: Poetae I, 285; LXV1, 4 u. ö. (nach Curtius: Europäische Literatur. S. 318). Als Briefsteller bzw. Briefschreiber erscheint Gott in einem alten, handschriftlichen Vermerk in Luthers Werken: 5. Band. Jena 1575 (Ausgabe der Universitätsbibliothek Freiburg i. B.; K. 9024), denn hier wird die hl. Schrift als epistola Omnipotentis Dei ad creaturam suam bezeichnet (zitiert nach Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie (1910/11; ND Zürich 1980. detebe 215/1). 1.Bd. S. 468). 35 Nach Curtius erklärte Hrabanus Maurus Schrift für heilig, weil Gott selbst sich ihrer bedient hat (Poetae I, 186; XXI, 11; vgl. wie o. Anm. 17, S. 318). Der Cusaner sagt dann von der Wirklichkeit überhaupt, sie stelle die »Bücher Gottes« dar, »quos suo digito scripsit« (Idiota de sap. I. In: Philososophisch-Theologische Schriften (Gabriel). Bd. III. Wien 1967. S. 422/423; vgl. aber auch über die Schwierigkeit, das Buch der Welt wegen der Unbekanntheit von

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und hat, wie Sokrates,36 nichts Schriftliches hinterlassen; wo er als schreibend erwähnt wird, schreibt er mit dem Finger in den Sand (Joh 8, 6 u. 8).37 Wenn Christus gleichwohl – wie beispielsweise sehr betont in der theologischen, ja theozentrischen Kunsttheorie im Spanien des 17. Jahrhunderts38 – auch als Dichter angesehen wird – unter Berufung auf Mt 26, 3039 –, so wird das auf seine

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Sprache und Schrift zu lesen: Dialogus de Genesi. Bd. II. S. 422f. u. 423f.). Schon Hugo von St. Viktor hat den Topos: »universus mundus iste sensibilis quasi quidem liber est scriptus digito Dei, hoc est virtute divina creatus« (Tractatus de med. 1; PL 176, 217). Ähnlich dann Raimund von Sabunde: »chaque creature c’est comme une lettre, tirée par la main de Dieu« (Theologia naturalis. Vorrede. Zitiert in der Übersetzung Montaignes nach Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 74 (R. 128), vgl. S. 48 (R. 19) = »creatura non est nisi quaedam littera, digito dei scripta« (Raimundus Sabundus: Theologia naturalis seu liber creaturum. ND Stuttgart 1966. S. 30): Der Mensch als Hauptbuchstabe desselben Buches). Montaigne sagt in seiner Apologie de Raimond Sebond vom religiös Demütigen: »C’est une carte blanche préparée à prende du doigt de Dieu telles formes qu’il plaira y graver« (Essais II, 12 (Thibaudet. Pléiade. Paris 1950). S. 563. Dort auch das Bild von Gott als »Grand architecte«, ebd. S. 491 u. 495). John Donne meinte von der Bibel: »The first piece of it which ever was written, which is the Decalogue, by Gods own finger« (Essays in Divinity (ed. Simson). Oxford 1952. S. 8,23–25; vgl. S. 9,31 u. ö.). Zur Weiterführung der Rede vom digitus Dei in Johann Arndts Wahrem Christentum (1605– 1610) vgl. die Zitate bei Rothacker. S. 84 (R. 161), ebenso zu Athanasius Kircher (S. 103 (P. 36), zitiert u. Anm. 255. Noch Barthold Heinrich Brockes dichtet: »Es sey die Welt / Ein Buch […/…], das Gottes Hand, [….] / geschrieben« (zitiert nach Rothacker. S. 105 (P. 46). Theodor Gottlieb von Hippel gibt dem Motiv die Wendung: »Ich gebe selbst zu, Gottes Finger habe ins Gesicht dem Menschen sein Testimonium geschrieben; wer kann aber Gottes Hand lesen?« (Lebensläufe nach aufsteigender Linie. 3. Theil, 2. Bd. Leipzig 1859. S. 9 (Sämmtliche Werke. Bd. 4. Berlin 1828. S. 11). Auch die carte blanche kehrt immer wieder; vgl. das Gedicht von Alfred de Lamartine: »Sur cette page blanche ou mes vers vont éclore, / Qu’un regard quelque fois ramène votre coeur. / De votre vie aussi la page est blanche encore; / Que ne puis-je y graver un seul mot: Le bonheur!« Dass wie bei Montaigne Gott und wie hier der Dichter auf einem unbeschriebenen Blatt schreiben, fällt bei Mallarmé in eins zusammen, indem Schreiben zum Erschaffen wird; s. dazu u. bei Anm. 144. Vgl. N Il, 78,20–27 und zur Sache Curtius: Europäische Literatur. S. 308. Soll mit dieser Geste das lebendige Wort in Geistesvollmacht gegen ein totes Gesetz aufgeboten werden, so ist diese Opposition nicht mit der in der Neuzeit vorherrschenden von »innerem« und »äußerem« Wort, von »ungeschriebener Lehre« und erstarrter (exoterischer) Wortwörtlichkeit, von reiner (»schlichter«) Moral Jesu und schriftgelehrter Dogmatik bei Paulus usw. identisch. Diese modernen Alternativen sind bei Hamann jedenfalls überholt, indem Gott selber sich in seinem Schriftwort gegenwärtig macht; dieser Buchstabe ist – wie bei Luther – schon Geist. Charakteristisch anders der romantische Schleiermacher: »Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist« (Reden über die Religion. Urauflage 1799. S. 121f.; vgl. 305). Wiedererwachen kann dieser Geist allein für eine religiöse Ursprünglichkeit. Ähnlich Schelling in der 3.Vorlesung Über die Methode des akademischen Studiums (1802). In: Sämmtliche Werke 1/5, S. 246f. Dazu Näheres bei Curtius: Europäische Literatur. S. 530–540 (Exkurs XXll). »et hymno dicto«, vgl. Curtius. S. 532. Umgekehrt vergleicht Jean Paul, metaphorisch spielend, Poesie und Inkarnation: »Dichtkunst, wie alles Göttliche im Menschen, ist an Zeit und Ort gekettet und muß immer ein Zimmermanns-Sohn und ein Jude werden« (Vorschule der Ästhetik. 1. Abt. V. Progr. § 22. In: Werke (Miller). Bd. V (Darmstadt 41984). S. 92). Dem

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göttliche sapientia zurückgeführt.40 Bei Calderón etwa wird er zum göttlichen Dichter schlechthin bzw. zum Gott der Dichtung gleich Apoll (»el verdadero Apolo«).41 Auch als Musaget (nach Ps 68, 26) und göttlichen Orpheus – so schon Clemens Alexandrinus – kann Calderón ihn ansprechen.42 Für Christi dichterische Begabung sprechen insbesondere seine Gleichnisse43 – wie z. B. der Poeta laureatus A. Mussato ausführt und was wir bei Hamann wiederfinden.44 Schließlich können nicht nur 1627 im anonymen Panegyrico por 1a poesia45 (in Anlehnung an Eph 2, 10) die Christen alle als ein Poiema Christi (Poesia de Christo) genannt,46 sondern Christus der Gottmensch selber kann als ein Buch (neben dem der Schöpfung) bezeichnet werden,47 so bei Hugo von St. Victor,48 auch wieder bei Calderón49 und dann sogar in den Lutherischen Bekenntnisschriften (1577).50

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entsprechend wird der dichterische Vorgang hinwiederum als »Brotverwandlung ins Göttliche« gedeutet (vgl. § 4. S. 43). Curtius. S. 538. Christus ist (als Logos) aller Künste und Wissenschaft mächtig, ja ihr Spender (Poetae III, S. 738,8f.; vgl. Curtius. S. 51 Anm. 2). In der Systematisierung des Hugo von Folieto »schrieb« Christus auf Erden das dritte »Buch des Lebens«, und zwar im Tempel (De claust. An. IV, 33; PL 176, 1170 c, d); vgl. Curtius. S. 324. Für Johannes Scotus Erig. war Christus selber Inbegriff der Kunst bzw. des Kunstwerks: »Filium artem omnipotentis artificis vocitamus« (Div. nat. II, 24; PL 122,579). Zum Buch des Lebens vgl. HWbPh I, Sp. 956f. Laut Curtius (S. 251 u. 549) in E1 sagrado Parnaso V, 35a. Curtius. S. 251 mit Anm. 3 u. S. 538 Anm. 2. Das heilige Spiel EI Divino Orfeo sei vom Logos inspiriert (S. 251). Bei Calderón gelten die Benennungen Gottes als Musiker, Maler, Baumeister alle auch für den Logos (vgl. S. 251 u. 549). Christus erscheint als Orpheus noch bei Thomas Carlyle: Sartor Resartus III, 8 (dt. Ausgabe Manesse 1991. S. 352). Vgl. Christoph Kähler: Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Tübingen 1995. Nach Ps 77, 2: »aperiam in parabolis os meum« (V); vgl. Curtius. S. 223 u. 538 sowie Bader, wie u. Anm. 106, S. 192f. Vgl. ZH I, 394,8f: »lernte reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn«. Auch William Blake hat Christus wegen der Gleichnisse als Dichter aufgefaßt (vgl. Prickett, wie u. Anm. 90. S. 117). Curtius. Ab S. 530. »ipsius sumus factura« (V); vgl. Curtius. S. 538 sowie zusätzlich 2Kor 3, 2f. (die Gemeinde als »Brief« Christi). Vgl. auch Pindar: Ol. VI, 91(σκυτάλα). – Als göttlicher Tonbildhauer erscheint das Christuskind in Selma Lagerlöfs Christuslegenden (»In Nazareth«) im Anschluß an die apokryphe Kindheitserzählung des Thomas. In: Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen 1. Tübingen 61990. S. 353, Nr. 2); besprochen bei Kris / Kurz, wie o. Anm. 24, S. 85f. Vgl. Hieronymus 396 über Nepotion: »lectione quoque adsidua et meditatione diuturna pectus suum bibliothecam fecerat Christi« (ep. 60, 10). Auf dem Gipfelpunkt mystischer Schau wird bei Dante das Buch – in quo totum continetur – sogar zum Symbol Gottes selber (Par. 33, 82–87: »un volume«); vgl. Curtius. S. 335.Viel gebräuchlicher ist die Anwendung der Buch-Symbolik auf den Menschen, der beispielsweise in seinem Inneren wie in einem Buch soll lesen können (Curtius. S. 322f.). Aber auch den Menschen überhaupt mit einem Buch zu vergleichen, hat eine Tradition; so tritt in einer Dichtung Pythagoras als ein zum Buch gewordener Mensch auf (Curtius. S. 320f); vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Frankfurt a.M. 1974. S. 319f. In diese Reihe gehört unwissentlich auch die Baronin Budberg mit ihrem kuriosen Brief an den Hofmeister Hamann: »ich Sehe Ihnen auch nicht anders an als eine Seuhle mit vielen Büchern umbhangen« (ZH I, 52,26f., – was freilich nur eine Retourkutsche war (vgl. ebd. 46,26f.). Vgl. die manieristische Collage aus Büchern in dem

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Für Gott selbst aber scheint die ausdrückliche Bezeichnung als Dichter vor Hamann nur vereinzelt nachweisbar zu sein, so sehr der Begriff auctor überhaupt auf den Dichter bezogen wurde.51 Dass Gott das Buch der Natur bzw. der Schöpfung »geschrieben« habe, wird häufig gesagt,52 aber der, zumal nicht-metaphorische, Titel als Autor oder Poet ist seltener zu finden.53

II.

Exkurs: Zur Geschichte des Topos

Für die eigentliche Geschichte dieses Topos vor und nach Hamann ließen sich bisher die folgenden Belege ausfindig machen.54

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Gemälde von Arcimboldo: Der Bibliothekar (um 1566, Skoklosters, Schweden). Schon die altägyptische Weisheit hatte die Empfehlung parat: »Werde eine Bücherkiste« (Zitiert bei Helmut Brunner: Altägyptische Erziehung. Wiesbaden 1957. S. 179). Eine humoristische Selbstallegorisierung als Buch – bis hin zur Hoffnung auf die verbesserte Neuauflage bei der Auferstehung – ist auf dem Grabstein des »Buchbinders« Benjamin Franklin zu finden, die sich Lichtenberg sofort notiert hat (Sudelbuch F 738, Promies). Bekannt ist das Motiv auch im negativen Modus: »[…] ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch…« (C. F. Meyer: Huttens letzte Tage. Einsamkeit, XXVl: Homo sum). Ähnlich, wenngleich radikalisiert Thomas Bernhard: » Sie können sich vorstellen, wie das ist, wenn man sich selbst aufschlägt wie ein Buch und lauter Druckfehler darin entdecken muß, einen nach dem andern, auf jeder Seite wimmelt es von Druckfehlern! Und alles ist trotz dieser vielen hundert und tausend Druckfehler m e i s t e r h a f t !« (ln: Frost (stb 47). Frankfurt a. M. 1972. S. 34); vgl. u. Anm. 307. PL 176, 644 D (vgl. Curtius. S. 324). Vgl. auch Bonaventura: Breviloquium II, 11 (Sermo IV, nr. 14). In: Opera Bd. V, S. 571. Vgl. dazu Wendelin Rauch: Das Buch Gottes. München 1961. Nachweis bei Curtius. S. 350. BSLK (FC) S. 817,42; 819,27; 1068,27f.; 1082,28; 1083,26–28 (!); 1089,21f. Als ein Gedicht, das das Wunder schlechthin ist, bezeichnet der »Climacus« in Kierkegaards Philosophischen Brocken die Menschwerdung, bei der Gott »sich selbst als einem Menschen gleich gedichtet« habe. In: Gesammelte Werke (Hirsch).10. Abt. Düsseldorf / Köln 1960. S. 34. Curtius. S. 62 u. Anm. 2; für die Scholastik vgl. Gustave Paré: Les idees et les lettres au Xlllc siecle. Paris 1947. Ab S. 15; zu Hamann s. u. Anm. 224. Vgl. den o. folgenden Exkurs. Curtius bringt Belege aus Nikolaus von Cusa und Paracelsus (S. 325), die sich ins Unabsehbare vermehren ließen; s. o. Anm. 35. Als Subjekt der Verfasserschaft wird häufig die ewige göttliche Weisheit oder auch Kunst genannt, so bei Bonaventura, Breviloquium II, 11(zitiert bei Curtius. S. 324; vgl zu Nizami S. 347). Leibniz allerdings nennt Gott (wie Geometer, Mechaniker.Architekt, Familienvater so auch) scavant auteur (Discours de Métaphysique. In: Schriften (Gebhardt) IV, S. 430; vgl. dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 140); dies vielleicht im Anschluß an Johannes Scotus Erig.: »auctor omnium artium, quae vere sunt« (Div. nat. IV, 4; PL 122, 749 – hier ist freilich noch die scholastische Bedeutung »Urheber« im Vordergrund). Metaphorisch vergleicht Schelling an einer Stelle die Spuren von Geist und Persönlichkeit in der (nicht starr mathematisch gesetzmäßigen) Natur mit der Art, »wie wir den vernünftigen Autor vom geistreichen wohl unterscheiden« (1809). In: Sämmtliche Werke 1/7. S. 395. S. o. Anm. 32 und u. Anm. 82.

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– Ein sehr früher Beleg findet sich bei P l o t i n , und zwar im Zusammenhang seines Vergleichs zwischen dem Weltplan, in dem das Böse eine Rolle spielt, und einem Drama (Enn. III 2, 17,16f.; der Logos als Künstler bzw. Maler schon III 2, 11: τεχνίτης). Dort heißt – im Unterschied zu menschlichen Bühnenstücken – von der Welt: ἐν δὲ τῷ ἀληθεστέρῳ ποιήματι ὅ τι μιμοῦνται κατὰ μὲρος ἄνθρωποι ποιητικὴν ἔχοντες φύσιν, ψυχὴ μὲν ὑποκρίνεται, ἃ δ᾽ὑποκρίνεται λαβοῦσα παρὰ τοῦ ποιητοῦ (»in jenem wahrhafteren Dichtwerk dagegen, von dem die Werke der dichterisch begabten Menschen nur stückhafte Nachahmungen sind, da ist die Seele die Darstellerin, und was sie darstellen soll, erhält sie vom Dichter (Schöpfer)«.55 Allerdings erschafft er hier nicht die Schauspieler; Z.19f.heißt es dann weiter: ὁ δὲ ποιητὴς τοῦ δράματος […] καὶ τοῦτο ἔργον ποιῶν ἀγαθοῦ κριτοῦ (»der Dichter des Stückes, der damit zugleich sich als guter Kunstrichter erweist«.56 Hamann besaß Plotins Opera (Biga 2,33; N V, 16), und Plotin wird einmal auch in Humes Dialogen erwähnt: im Zusammenhang mit dem »Buch der Natur« (N III, 254,35f.). Übrigens kann in der Tradition des Drama-Vergleichs auch Tyche als »Poet« bezeichnet werden.57 – Das A l t e Te s t a m e n t kennt Gott an einigen Stellen als selber schreibend (katab), so z. B. Ex 34, 1 u. Dtn 10, 2 (vgl. Jes 8, 1f. u. 30, 5); vgl. o. Anm. 32. Zumeist ist er der eigentliche Autor in dem Sinne, dass er seine Worte den Propheten als deren Aufschreibern diktiert (vgl. Ex 24, 4; Dtn 31, 9 u. 24); so später auch in Jub. 1 oder auch in Qumran (1Q p Hab.VII, 1–5). Ich danke Herrn Kollegen R.G. Kratz für entsprechend Hinweise. – In den B h a g a v a d G i t a X, 37 findet sich die einschlägige Stelle (als eines der Höchsten Worte des »Herrn«): »stirpe sum […] inter poetas Usanases poeta« bzw. in neuer Übersetzung (Michael von Brück): »unter den Dichtern der Poet Ushanas« (Ushana, ein weiser Seher, ist die Verkörperung Krischnas als poeta).58 – Bei M a c r o b i u s (um 400 n. Chr.) gibt es die Aussage: »Quippe, si mundum ipsum diligenter inspicias, magnam similitudinem divini illius et huius poetici operis invenies« (Sat. V, 1,19).59

55 In: Plotins Schriften (Harder). Bd. Va. Hamburg 1960. S. 89. Man beachte (für Hamann) das Stichwort: Hypokrisis! Zum Poeten vgl. auch ebd. S. 87 (15/147) u. S. 89 (55/157) sowie Bd. Vb. S. 356 (zu 17, 34). 56 In: Bd. Va. S. 89 (45/155), was besonders deutlich auf Hamann vorausweist. Zum jüngsten Tag als Ende des Dramas im Bezug auf das Trauerspiel des Barock vgl. auch Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I.1. S. 256. 57 Bion; nach Tigerstedt, wie u. Anm. 79, S. 463f. 58 Vgl. dazu Schelling: Philosophie der Mythologie II. In: Sämmtliche Werke. Bd. XI (1857), S. 495. 59 In: Macrobe: Les Saturnales. Hg. von Francois Richard. Paris 1937. Vgl. auch Rüfner, wie o. Anm. 23, S. 258; der göttliche Poet ist mit dem Nous (mens) gleichgesetzt. Über Macrobius vgl. Curtius. Europäische Literatur. S. 441f.; bei Hamann N II, 21,32f. erwähnt.

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– Auch persische Dichter kennen das Motiv. So hat N i z a m i (+ 1180) gedichtet: »Der erste Strich der ewgen Feder, / Es war des Wortes erster Buchstab, / Der erste Schleier war das Wort, / Der erste Abglanz war das Wort.« (Der fünffache Schatz), und der Dichter Hilali: »Der ewge Schreiber ist dem Wort gewogen, / Des Wortes wegen schuf er Tafel, Feder«.60 – D a n t e hat im letzten Canto der Göttlichen Komödie (Par. 33) einen indirekten Bezug zu unsrem Topos; indem er dort im ewigen Licht, d. h. in Gott selber, ein Buch erblickt, das: »Nel suo profondo vidi che s’interna, / Legato con amore in un volume, / Ciò che per l’universo si squaderna« (85–87). Vgl. dazu Hermann Gmelin: Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Bd. VI (Kommentar). München 1988 (dtv 2107). S. 570f. und überhaupt Curtius. Europäische Literatur. Kap. 16: »Das Buch als Symbol«. S. 329–334 (§ 8)). Vgl. o. Anm. 47. – Als ausdrücklichen Titel Gottes hat der Florentiner Platoniker Christoforo L a n d i n o : »Et e idio sommo poeta: et e el mondo suo poema«. In: Proemia zum Dante-Kommentar (1481).61 – Hamanns Wendung kommt P a r a c e l s u s sehr nahe: »Und wer so theoretisieren will, der muß die Bücher der Arznei [sc. am Firmament] wohl lesen, die Bücher, die Gott selbst geschrieben hat, die sind ganz gerecht, ganz vollkommen und ohne Falsch […] Auch die Theologie hat ihre Bücher in Gott, die er selbst geschrieben hat, aus denen sich die theologia behilft und die theologi, und sonst ist auch weiter kein anderer Grund, als was in selbigen Büchern steht, die aus Gottes Mund gegangen sind […] So bleibt Gott in allen Dingen der oberste Scribent, der erste, der höchste, und unser aller Text« (Labyrinthus medicorum errantium; cap. 89).62 Vgl. auch: »das Buch sei das rechte, das Gott selbst gegeben, geschrieben, diktiert und gesetzt hat«.63 – Bei John D o n n e findet sich das Motiv ebenfalls, sogar mit einer stilistischen Charakterisierung; Hamann scheint ihn aber nicht gekannt zu haben. »The Holy Ghost is an eloquent Author, a vehement, and an abundant Author, but yet not luxuriant; he is far from a penurious, but as far from a superfluous style too« (Sermons. Vol. V. Hg. von George R. Potter. Berkeley 1959. S. 287).64 Schon früher hatte Donne formuliert: »that God was Author oft he first piece of these

60 Zitiert nach Joseph von Hammer-Purgstall: Geschichte der schönen Redekünste Persiens. Wien 1818. S. 106 u. 370; vgl. dazu auch Max Rychner in: West-Östlicher Divan. Zürich 1952 (Manesse). S. 564f. 61 Zitiert nach Tigerstedt, wie u. Anm. 78. S. 458. 62 In: Werke (Will-Erich Peukert). 2. Bd. Basel / Darmstadt 1965/66. S. 478f. 63 (Vorrede, ebd. S. 445; zitiert nach Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 112f. (P. 58). Paracelsus, der ein Stotterer war (!), kommt bei Hamann nicht vor, und er besaß auch keine Schrift von ihm. 64 Vgl. zu dieser Stelle William R. Mueller: John Donne: Preacher. Princeton 1962. S. 69 und Jorge Luis Borges: Eine Rechtfertigung der Kabbala.In: Kabbala und Tango.Werke in 20 Bänden. Hg. von G. Haefs / F. Arnold. Bd. 2 (Fischer Tb 10578). Frankfurt a. M. 1991. S. 176.

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books, the Decalogue«.65 Bezeichnend auch: »My God, my God, Thouart a direct God, may I not say a literall God, a God that wouldest bee understood literally?«66 – Bei S h a f t e s b u r y findet sich im Soliloque: or Advice to an Author (1710) für Gott (Jove) die Formulierung: »that Sovereign Artist or universal Plastick Nature«.67 Den weiteren Ausdruck artist präzisierend, wird der Dichter als »a second maker under Jove« beschrieben. In Korrespondenz damit bestimmt Jean Paul die Poesie als »die einzige z w e i t e Welt in der hiesigen«.68 Hamann besaß das ganze Werk (Biga 126/413; N V, 82) und bezieht sich häufig auf Shaftesbury; auf das Soliloquium N II, 359,12 – obwohl es nicht von ihm übersetzt worden ist, wie die beiden ersten Essays aus dem Buch (N IV, 133–191). – Als »großer Schreiber« wird Gott in B. H. B r o c k e s Gedicht Die Welt (Str.19) angeredet69 und nah kommt dem der Vers: »So schreibt der Schöpfer, wenn Er schreibt [sc. die Sternen-Schrift des Himmels; s. o. Paracelsus]«.70 Hamann zitiert N III, 237 allerdings unter Brockes Namen seinen eigenen Oheim J. G. Hamann (1697–1733).71 – Interessant ist ein Belegzusammenhang bei Alexander Gottl. B a u m g a r t e n .72 1n den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle / Magdeburg 1735) von Baumgarten – Hamann besaß seine Aesthetica (Biga 118/ 294; N V, 77) und zitiert die Metaphysik N II, 160,37–40 – wird zunächst die Poesie bestimmt: »oratio sensitiva perfecta est POEMA« (§ IX, p. 7) 73 und später auch der Bezug zur Bibelpoetik angesprochen: »et ipsa scriptura poesin amat in satis multis prophetiis« (§ LXIV, p. 25). Dann folgt der Vergleich Dichter/ Schöpfer bzw. Gedicht/Welt: »Dudum observatum, poetam quasi factorem sive creatorem esse, hinc poema esse debet quasi mundus. Hinc κατ᾽ἀναλογίαν de eodem tenenda, quae de mundo philosophis patent« (§ LXVlIl, p. 26). Schließlich vollzieht Baumgarten auch die einschlägige Umkehrung zum Dichter des Weltgedichts: »analogem regulam ordinis, quo in mundo sibi res 65 Essays, wie o. Anm. 35, S. 13,13f. 66 Devotions Upon Emergent Occasions (1624). In: Devotios. Hg. von John Sparrow. Cambridge 1923. S. 113. 67 In: Anthony Ashley Cooper Charakteristicks of Men, Manners, Opinions, Times (1711). 3rd ed. London 1723. Bd.1. S. 207. 68 In: Vorschule der Ästhetik § 1. Werke (N.Miller). Bd. 5. München 41980. S. 30. 69 Zu diesem Gedicht s. u. Abschn. VII. 70 Die himmlische Schrift. In: Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott (Faks.-Druck der Ausgabe von 1738. Stuttgart 1965), S. 122. 71 Über diesen vgl. Josef Nadler: Johann Georg Hamann. Zeuge des corpus mysticum. Salzburg 1949. S. 29, 32f., 41 sowie Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Bd. 1. Jena 1911. S. 411. 72 Die Hinweise auf ihn und auf den folgenden Beleg verdanke ich Herrn Kollegen Ulrich Gaier (Konstanz). 73 Eine Bestimmung, die bekanntlich bei Herder wiederkehrt; vgl. Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 3. S. 138 und Bd. 32. S. 184 sowie auch N II, 197,22.

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succedunt, ad evolvendam creatoris gloriam, summum et ultimum thema immensi, liceat ita vocare, poematis« (§ LXXl. p. 27). ln der Hamburgischen Dramaturgie erklärt L e s s i n g es bei Erörterung der Frage nach dem Verhältnis von nachahmender Kunst und aristotelischem μιαρόν (Poet. 13,1452b), das statt Mitleid nur Jammer hervorruft, für die »edelste Bestimmung« des dramatischen Dichters, im Plane seines Werkes ein befriedigendes Abbild vom »ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge«, also von der Vorsehung und ihrer Weisheit und Güte, zu geben: »das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein« (79. Stück. 2. Febr. 1768. In: Gesammelte Werke (Rilla). 6. Bd. Berlin 1954. S. 402). Erinnert der Theodizee-Kontext an Plotin, so beruft Lessing selber sich für den mimetischen Zusammenhang des »ursprünglichen und nachgebildeten, heroischen Possenspiels« (ebd. S. 356; vgl. S. 398 Fn.) auf Lope de Vega (69. Stück. S. 352f.) und mit großem Nachdruck auf Wieland (S. 354–356; vgl. dessen Agathon. III. Theil. 12. Buch. 1. Cap.74 Hamann erwähnt Lessings Dramaturgie N IV, 373,52 (vgl. Biga 171/660; N V, 105). Von besonderer Bedeutung für Hamanns Sicht von Gott als Schriftsteller dürfte, wie Hans Graubner aufgewiesen hat,75 James H e r v e y gewesen sein. In seinen Erbaulichen Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio. Über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade. Zweyter Theil. Hamburg / Leipzig. S.19 behandelt er die den menschlichen Sinnen entsprechende »majestätische Schreibart« (engl.: style) Gottes, des »divine teacher«, im Buche der Natur als völlig übereinstimmend mit der rhetorischen Vollkommenheit des göttlichen Urhebers des Buches der Schrift. Matthias C l a u d i u s bemerkt 1775 hamannisierend anlässlich der Herderschen Abhandlung über den Ursprung der Sprache jene eine besondere Sprache, »die den Weg der Güte kommt, und eine warme Übersetzung ist aus der Original-sprache, darin ein milder unerschöpflicher Schriftsteller den großen Kodex Himmels und der Erden en Bas Relief und ron de Bosse [rondebosse = Hochrelief] für seine Freunde geschrieben hat«. In: Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. I. und II. Theil. In: Sämtliche Werke. Hg. von Rolf Siebcke. München 61987. S. 80. Humoristisch in einem terminus technicus versteckt, kommt der fragliche Topos bei G. Chr. L i c h t e n b e r g (indirekt) vor: »Das neue Testament ist ein autor classicus, das beste Not- und Hilfsbüchlein, das je geschrieben worden ist, daher man jetzt auf jedem Dorfe der Christenheit mit Recht einen Professor angesetzt hat, diesen Autor zu erklären. Daß es viele unter diesen Professoren gibt, die ihren Autor nicht verstehn, hat dieser Autor mit andern Autoribus gemein. Aber

74 In: Sämmtliche Werke. Leizig 1856. 6. Bd. S. 37–40. 75 Vgl. Acta 9. 2012. S. 264f. u. S. 165 Anm. 50. Ich verdanke Dr. Graubner diesen Hinweis.

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dadurch unterscheidet sich das Buch sehr von andern, daß man Schnitzer in der Erklärung desselben sogar geheiligt hat« (Sudelbuch L 27 (1796). In: Schriften und Briefe (Promies). Bd. 1. München 1968. S. 854). So sehr das Motiv der Fehlinterpretation an Hamnn erinnert (vgl. N I, 9, 22–10,11), so andersartig ist Lichtenbergs ironisches Spiel mit der Doppeldeutigkeit, dass der – gemäß der traditionellen Inspirationslehre – eine Autor des NT in Wahrheit nicht historisch auszumachen ist. Der übliche Sprachgebrauch, Autor für den Text zu sagen und mit Autor auch seinen Text zu meinen, kommt ihm dabei zu Hilfe. Vergleichbar ironisch-vielschichtig redet Hamann in den Näschereyen vom »Buch der Natur« in der Lesart des Verfassers von De la nature: »Man muß sich ihren Schöpfer als einen Autor ohne Namen vorstellen, um dies sein Buch mit desto mehr Einsicht und Geschmack auslegen zu können« (N II, 189,13–15). Vgl. auch Schelling: »Die Natur ist für uns ein uralter Autor, der in Hieroglyphen geschrieben hat, dessen Blätter kolossal sind, wie der Künstler bei Goethe sagt. Eben derjenige, der die Natur bloß auf dem empirischen Wege erforschen will, bedarf gleichsam am meisten Sprach-Kenntnis von ihr, um die für ihn ausgestorbene Rede zu verstehen«.76 Eine merkwürdige Berührung mit Hamann sei hier notiert: Auch Lichtenberg redet (allerdings vom Hebräischen!) von einer »Hofsprache des Himmels« (Schriften. Bd. 3. S. 234 (vgl. 406) und Bd. 4. S. 698 u. 841); vgl. damit ZH I, 394,5 (von der Menschensprache!) und N II, 171,24). Hippel kennt eine »Hofsprache« der Natur. In: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. 1. Band. 1. Theil. Leipzig 1859. S. 87 (Sämmtliche Werke. Bd. 1. Berlin 1828. S. 100). – Bei Theodor Gottlieb von H i p p e l steht zu lesen: »Die Sprache Gottes! Gott sprach, hauchte nur auf, und es ward. Gott ist auch Schriftsteller worden, fuhr Herr v. G. fort. Das Wort Fleisch. – Es ist viel von Gottes Wort zu sagen. Ein Ausdruck, den alle Welt im Munde führt, und doch ein tiefer, tiefer Ausdruck!« In: Lebensläufe. 2. Bd. 2. Theil. Leipzig 1859. S. 48 (Sämmtliche Werke. Bd. 2. Berlin 1828. S. 55). Diese Stelle (1779) ist ersichtlich durch Hamann beeinflußt. – Wohl direkt an Plotin und Hamann anknüpfend, schreibt Friedrich W. J. S c h e l l i n g zur Frage der Vorsehung: »Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Theil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt,so läßt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allen dichtet, und daß der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poetae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien 76 Dritte der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803): In: Sämmtliche Werke 1/5. S. 246f. Das Goethe-Zitat: Gedenkausgabe, wie o. Anm. 1, Bd. 3. S. 841 (Künstlers Apotheose). Vgl. auch: Italienische Reise. Neapel 9. 3. 1787.

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Spiel aller einzelnen schon zum voraus so in Harmonie gesetzt hat, daß am Ende wirklich etwas Vernünftiges heraus kommen muß. Wäre nun aber der Dichter unabhängig von seinem Drama, so wären wir nur die Schauspieler, die ausführen, was er erdichtet hat. Ist er nicht unabhängig von uns, sondern offenbart und enthüllt er sich successiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so daß ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, so sind wir Mitdichter des Ganzen, und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen. –« (System des transzendentalen Idealismus. 1800. Sämmtliche Werke 1/3, S. 602). Bei Franz B a a d e r wird Gott als »der erste Dichter« angesprochen. In: Sämtliche Werke. Leipzig 1851–60; ND Aalen 1963. Bd. 12. S. 159 (p. 492); vgl. S. 156. Bei J e a n P a u l liest man (mit vielleicht unbewußten Anklängen an Plotin und evtl. Lessing) in der Vorschule der Ästhetik (1804): »lst nicht die Geschichte das höchste Trauer- und Lustspiel?« Von hier aus wendet er sich im Namen des Schöpfers aller Wirklichkeit gegen die poetischen Nihilisten: »Wenn uns der Verächter der Wirklichkeit nur zuerst die Sternenhimmel, die Sonnenuntergänge, die Wasserfälle, die Gletscherhöhen, die Charaktere eines Christus vor die Seele bringen wollte, sogar mit den Zufälligkeiten der Kleinheit, welche uns die Wirklichkeit verwirren. wie der große Dichter die seinige durch kecke Nebenzüge; dann hätten sie ja das Gedicht der Geschichte gegeben und Gott wiederholt« (1. Programm. § 2. In: Werke (Miller). Bd. 5. München 21980. S. 31,22–29. Noch deutlicher vielleicht ist die Stelle aus den Flegeljahren: »Und im 1sten Buch Mosis kannst du es am allerersten lesen, wenn du den Professor Eichhorn dazu liesest, der allein in der Sündflut drei Autoren annimmt, außer dem vierten im Himmel« (1. Bändchen. Nr. 14. In: Werke. Bd. 2. München 31971. S. 668). In seinen Xenien (als Anhang zu: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. 1837) schreibt Ludwig F e u e r b a c h : »Tiefen Gehalt in Kürz’ ausdrückend, so schreibt auf der Erde / Im lakonischen Stil Gott, der Verfasser der Welt« (Das kurze Diesseits und das lange Jenseits, 1.Str. In: Werke in 6 Bänden (Theorie Werkausgabe). Hg. von Erich Thies. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1975. S. 314). Ralph Waldo E m e r s o n hat 1844 den einen und absoluten Autor schlechthin aller Bücher im Sinne seiner pantheisierenden Geistmetaphysik als allwissenden Gott beschrieben: »I am very much struck in literature by the appearance, that one person wrote all the books; […] but there is such equality and identity both of judgement and point of view in the narrative, that it is plainly the work of one all-seeing, all-hearing gentleman«. Nominalist and Realist (Essais 2, VIII. In: Collected Works. Cambridge / Mass. 1983. Vol. III. S. 137). Hamann hätte sich mit seiner theologischen Literaturtheorie darin wiederfinden können. In Entweder-Oder II schreibt Søren K i e r k e g a a r d (im Anschluß an Schelling; s. o.) von einem Schauspiel, »welches die Gottheit dichtet, in welchem der Dichter und der Souffleur nicht unterschiedliche Personen sind«. In: Gesam-

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melte Werke (Hirsch). 2. Abt. Düsseldorf 1957. S. 146. Sehr verklausuliert wird in den Philosophischen Brocken von einem Gedicht gehandelt, dessen Dichter weder ein Einzelner noch das ganze Menschengeschlecht, sondern vielleicht »die Gottheit« ist (vgl. Gesammelte Werke. 10. Abt. Düsseldorf / Köln 1960. S. 33). Eine weitere höchst einschlägige Stelle bei Kierkegaard (1848) wird unten mitgeteilt (Abschn. VII, 2.). In die Geschichte des Topos gehört auch der Ausspruch einer Romanfigur bei D o s t o j e w s k i : »denn das Leben ist ein Kunstwerk des Schöpfers selbst, ein Kunstwerk von der vollendeten und untadeligen Art Form eines Puschkinschen Gedichts« (Der Jüngling (1875). 2. Teil. 8. Kap. II. In: Sämtliche Werke in 18 Bänden (Übers. Rahsin). Bd. 14. Lausanne o. J. S. 16. (Hinweis Prof. A. Michailow, Minsk). Ein weiterer, neuerer Beleg lässt sich bei Thomas C a r l y l e nachweisen: »We speak of the Volume of Nature: and truly a Volume it is, – whose Author and Writer is God. To read it! […] It is a Volume written in celestial hieroglyphs, in the true Sacred-writing« (Sartor Resartus III, 8. Hg. von William H.Hudson. 1908 (ND Oxford 1975). S. 193f.77 Topisch dürfte auch die folgende Formulierung sein: »Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen« (Alexandre Dumas d.Ä.: Comment je devins auteur dramatique (1833).78 Denn sie findet sich ähnlich bei Daniel Arasse: »Gott ausgenommen, ist wahrscheinlich über keinen Künstler soviel geschrieben worden wie über Leonardo« (Leonardo da Vinci. Köln 1999. S. 9). James J o y c e schreibt im Ulysses über die Bibel (Gen 1, 3–5 u. 14–19): »The playwright who wrote the folio of this world and wrote it badly (He gave us light first and the sun two days later), the lord of things as they are whom the most Roman of catholics call dio boia, hangman god, is doubtless all in all in all of us« (In: Ulysses. Penguin Modern Classics. 2000. S. 273f.; in der Übersetzung Wollschlägers (1979). S. 298). Durchaus traditionell (s. o. bei Emerson) liest man bei Marcel P r o u s t in bezeichnendem Kontext von: »la guirlande infinie tressée par les poètes à la gloire de la réalité. Par un seul poète, semble-t-il, qui dure depuis le commencement du monde tant il semble avoir un même esprit […]«. In: A la recherche du temps perdue. Bd. IV (Le temps retrouvé). Hg. von Jean-Yves Tadié (Pleiade nr. 356). Paris 1989. S. 859 (Esquisse XXXV; vgl. S. 831. Esq. XXIV). Zu den der Tradition des Topos gegenüber konträren Äußerungen gehört auch die von Jochen K l e p p e r , der am 22. 8. 1933 (resigniert oder getröstet) in sein

77 Deutsche Ausgabe: Zürich 1991 (Manesse). S. 345. Zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 102. 78 Zitiert bei J. Joyce: Ulysses. London u. a. 2000 (Penguin Modern Classics). S. 273 (»After God Shakespeare has created most«); in der Übersetzung von Hans Wollschläger: Frankfurt a.M. 1979 (Sonderausgabe). S. 297. Zu Joyce selber s. o. im Text.

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Tagebuch schreibt: »Gott ist kein Schriftsteller«. In: Unter dem Schatten deiner Flügel. Stuttgart 21983 (dtv 1207). S. 101. – Wolf B i e r m a n n schrieb über den jüdischen Dichter Jizchak Katzenelson, was ebenso auf Hamann zutrifft: »als Autor der Bibel war und blieb Gott sein wichtigster Lehrmeister«. In: FAZ Nr. 217 (19. 9. 1994). – Die Verborgenheit des göttlichen Autors unterstreicht Jack M i l e s : »Gott ist wie ein Romanschriftsteller, der zu Autobiographie oder Kritik buchstäblich unfähig ist und seine Geschichte nur durch seine Gestalten erzählen kann«. In: Gott. Eine Biographie. München 21999. S. 108.

III.

Poetische Theologie

1. Nicht dass der Schöpfer ein Dichter ist,79 wohl aber umgekehrt, dass der Dichter in gottähnlicher Weise schöpferisch ist, ist überwiegend die gewöhnliche Ausdrucksweise.80 79 Vgl. dazu Eugène N. Tigerstedt: The Poet as Creator: Origins of a Metapher. In: Comp. Lit. Stud.s 5 (1968). S. 455–488 und G. Lieberg (s. o. Anm. 26). Vgl. die folgende Anm. und u. Anm. 214. 80 Obwohl in der platonischen Tradition die Poeten als göttlich inspiriert gelten (s. u. Anm. 103), hat Platon den Topos des schöpferischen Poeten gerade nicht auf Gott übertragen; der göttliche Poietes bedeutet immer nur den Macher (vgl. Tigerstedt. The Poet. S. 479 Anm. 30 und Fritz Wehrli: Die antike Kunsttheorie und das Schöpferische.In: Mus. Helv. 14 (1957), S. 39–49 sowie zu poiein u. Anm. 214). Der Demiurg des Timaios wurde zwar lange als mit dem christlichen Schöpfergott identisch interpretiert, und zwar eben als Künstler (s. o. Anm. 23), aber gerade nicht als Poet. Die Figur vom Dichter als Schöpfer konnte zwar wohl erst unter dem Einfluß der jüdisch-christlichen Tradition ausgebildet werden (vgl.die Überlegungen von Lieberg, wie o. Anm. 26, S. 163f. u. 172), wird aber – nach dem Vorbild des Protestes der frühchristlichen Apologeten gegen den Demiurgen, vgl. Tigerstedt. Ebd. S. 465 mit Anm. 1 – gerade von Marcilio Ficino in seiner Theologia Platonica ausdrücklich zurückgewiesen; vgl. Tigerstedt ebd. S. 460f. und ab S. 470f. Zum Ganzen vgl. auch Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Age. London 1939. Ab S. 28 und Marie-Dominique Chenu: La Théologie au douzième siècle. Paris 1957. Ab S. 32 u. S. 112 sowie S. 121. Gleichwohl kommt seit der späten Antike eine Sicht auf, die die großen Dichter in die Nähe des Weltenschöpfers rückt (Curtius. Europäische Literatur. S. 404), so wenn Macrobius die Aeneis als ein »heiliges Gedicht« preist (Sat. 1, 24,13) und Vergil als opifex mit der schöpferischen Natur (natura parens) verglichen wird (Sat.V. 1.18; vgl. Curtius. Ebd. S. 442). Überhaupt gilt der Dichter bevorzugt als theios aner, und schon für die Dichter Roms war Homer divinus poeta (Curtius. S. 401 mit Anm. 3); Boccaccio nennt dann als erster Dantes Commedia »divina« (ebd. S. 401 mit Anm. 4). Zur überhöhenden Verwendung des Beiwortes divinus/divus vgl. die Beispielsammlung bei Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffs. Tübingen 1926. S. 276–280 (Das »göttliche« Ingenium) und zum Schöpfervergleich, ebd. S. 280–283. Im frühen Mittelalter hat Alanus de Insulis eine Beziehung zwischen der Dichtung und der Schöpfung hergestellt (vgl. Rüfner, wie o. Anm. 23, S. 263). Sehr viel weiter gehen die Renaissance-Autoren. Hat sich wahrscheinlich kein Künstler des 15. Jahrhunderts in Italien als creator bezeichnet (so Tigerstedt, ebd. S. 475 mit Verweis auf E. Panofski: Anm. 142), so drängt die sprachliche Nähe von Gott und Dichter im Wort Poietes den Vergleich in irgendeiner Weise doch auf, so etwa schon um 1462 bei Angelo

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Decembrio, der dann auf Chr. Landino wirkt (Tigerstedt, ebd. S. 469 mit Zitaten in Anm. 91). War Landino in Italien vielleicht der erste, der auch Gott ausdrücklich mit einem Poeten verglichen hat (Tigerstedt, ebd. S. 456f. und s. o. im Exkurs), so ist der Vergleich eines Poeten oder Künstlers mit Gott später in besonderem Maße von Julius Caesar Scaliger aufgenommen worden: eben wegen des »Schöpfertums« komme ihnen auch das commune nomen zu (Poeticis libri septem, Genf 1561, 3D (ND 1964), zit. bei Tigerstedt, ebd. S. 417 Anm. 7; vgl. Rüfner, wie o. Anm. 23, S. 273, und Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1967). Bd. 2. S. 950f.). Jetzt wird sogar ein bisher streng gültiger Vorbehalt preisgegeben und das Dichten mit der Schöpfung ex nihilo verglichen (Rüfner, passim). Daher verbindet sich mit der Vorstellung vom Dichter (etwa bei Landino; vgl. Tigerstedt, ebd.S. 475f. und Scaliger Poet. 3: »alter Deus«) auch die geläufige Vorstellung vom produktiv tätigen Menschen als Nachahmer und Stellvertreter Gottes, welcher so selber ein »zweiter Gott« (deus secundus) ist; so schon Cusanus: De beryllo VI, De conj. II, 14; vgl. auch Leibniz, Theodicée. In: Philosophische Schriften (Gebhardt). Bd. 4. S. 197. Zu diesem eigenen Topos, der wohl in Italien zuerst bei Alberti zu finden ist (Tigerstedt. S. 475) vgl. die detaillierte Geschichte seines Auftretens bei Vincenz Rüfner: Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum. In: PhJb 63 (1955), S. 248–291 (von Cusanus bis Herder). Übersteigert erscheint das Motiv dann bei Pico della Mirandola, der den Menschen als »tui ipsius quasi plastes et fictor« anredet (Oratio de hominis dignitate (Buck). Hamburg 1990 (Phil. Bibl. 427). S. 6). Noch weiter als Scaliger geht der Dichter Torquato Tasso (vgl. Lieberg, wie o. Anm. 26, S. 165f.); für ihn ist (In: Discorsi del poema eroico, posth. 1570) der Dichter als Schöpfer auch divino, weil Gott, dem höchsten Künstler, angeglichen (Rüfner, ebd. S. 274): »Non merita nome di Creatore se non Iddio et il Poeta« (Curtius. Europäische Literatur. S. 401 Anm. 1). Dieser Satz wird noch 1821 zustimmend von Percy B. Shelley wiederholt. (A Defence of Poetry. In: Complete Works. Hg. von K. Ingpen u. a. Vol.VIl. London / New York 1965. S. 138). Auf eine hier nicht zu verfolgende Weise wird das Motiv für das 18. Jahrhundert über George Puttenham und vor allem Shaftesbury wirksam, nach welchem der Künstler »imitate the creator« (wie o. Anm. 67. S. 207; schon Diderot spricht vom genie createur. In: Oeuvres (1875–77). Bd. 2. S. 12 u. 18; vgl. Bd. 15. S. 37 u. 41). Es verbindet sich dann – im Zusammenhang mit Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1755) – eng mit dem Geniegedanken, den Hamann seinerseits provozierend auf Gott überträgt (z. B. ZH I, 452,24f. u. ö., s. u. Anm. 214). Es kommt dieser Tradition gemäß zum Lobpreis etwa Shakespeares als »Genie und Schöpfer«, z. B. bei Herder (vgl. Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 5. S. 218–223): »Hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!« (1773); vgl. auch die – an Plotin und Lessing erinnernde – Bezeichnung Shakespeares als »dramatischer Gott«, ebd. Bd. 5. S. 227. Das kann bis zur Konkurrenz zum christlichen Schöpfergott gesteigert werden; dafür steht häufig Prometheus ein (schon bei Shaftesbury; vgl. Rüfner, ebd. S. 278 und Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury bis Goethe. München 21932) und findet betonten Ausdruck bei Goethe in der letzten Strophe des gleichnamigen Gedichtes: »forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei« (1774). Dies findet freilich 1798 durch August W. Schlegel die Antwort: »O sohn! du bist vom Schöpferwahne trunken!« (zitiert nach DWb (Grimm). Bd.15. Sp. 1554). Auf Hamann zurückgreifend, formuliert Herder 1783 im Blick auf Adam: »Indem er alles nennt [Gen 2, 19b], und mit seiner Empfindung auf sich ordnet, wird er Nachahmer der Gottheit, der zweite Schöpfer, also auch poietes, Dichter […] das Wesen der Dichtkunst eine Nachahmung der schaffenden, nennenden Gottheit« (Vom Geist der Ebräischen Poesie. 2.Theil. In: Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 12. S. 7). Der ausdrückliche Vergleich eines schaffenden Künstlers mit dem Schöpfergott ist wohl maßgeblich

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überhaupt durch Goethe 1773 in Von deutscher Baukunst in die deutsche Literatur eingeführt worden, wo Erwin von Steinbach als von derselben schöpferischen Kraft wie die göttlich große Natur durchdrungen gesehen wird (vgl. Curtius. Europäische Literatur. S. 400f.). Eckermann wird dies 1823 in seinen Beiträgen zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe auf diesen selber zurückwenden. Immerhin gibt es signifikante Verwendungen des Terminus schöpferisch im poetologischen Zusammenhang auch davor und daneben. (Ich gebe einige Beispiele anhand des Grimmschen Wörterbuches, DWb Bd. 15. Ab Sp. 1551). Schon 1748 erklärt Klopstock die Dichtkunst zur Nachahmerin des »Geist Schöpfer« (Der Messias. I, 10–12). In Frankreich gab es die ästhetische Umwendung des creator spiritus zum »esprit createur« für den Poeten (vgl. F. Mauthner, wie o. Anm. 34, S. 543), und der frühe Lessing redet vom dichterischen »Schöpfergeist« (vor 1759). Friedrich v. Hagedorn spricht 1752 von »dem schöpferischen Geist«. In: Poetische Werke. Bern 1766. Bd. 1. S. 85); ähnlich 1755 Johann Georg Zimmermann (über Leibniz: »schöpferischer Geist«. In: Das Leben des Herrn Haller. Zürch 1755. S. 313); vgl. auch die Belege bei Johann Heinrich Campe: »Schöpfergeist« = Genie. In: Wörterbuch der deutschen Sprache. Braunschweig 1811. S. 258 und bei Johann Christoph Adelung. In: Grammatischkritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. IV.Theil. Leipzig 1780. Sp. 244 (über Zacharias). Herder hat 1768 »Schöpfermacht« (von der dichterischen Sprache Klopstocks). In: Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 2. S. 42; vgl. auch Bd. 8. S. 77 (1778); 1767 schon schreibt er: »der Übersetzer muß selbst ein schöpferisches Genie sein« (Bd.1. S. 178). Im Göttinger Musenalmanach steht 1770: »wär’ ich schöpfer, wie der dichter, /der Eloa, dich erschuf!« (d. h. Klopstock) (S. 118). Dann gibt es die Redewendungen von »schöpferischer Phantasie« (1774; Miller. In: Der Göttinger Dichterbund. Hg. von A. Sauer. Stuttgart 1888. Bd. 2. S. 294,15), von der »schöpferischen Hand« (Göttinger Musenalmanach 1775. S. 56), vom »schöpferischen Schädel« (Schiller: Die Räuber (1781). I, 2). Nach-Fichtisch ist schließlich 1804 bei Jean Paul vom »Schöpfer-Ich« die Rede (Vorschule der Ästhetik. 2. Abt. § 43. In: Werke (N. Miller), 5. Bd. München 41980. S. 171,13). Die Spannung ausgleichend formuliert Friedrich Schleiermacher: »Schöpfung und Kunst seien wesentliche Correlata: So wie in der Kunst der Mensch schöpferisch sei, so Gott in der Schöpfung künstlerisch« (Ästhetik. 1819/25. Hg. von Th. Lehnerer. Hamburg 1984. S. 7. Vgl. S. 156). Dazu stimmt in der Glaubenslehre die Rede von der Welt als dem »göttlichen Kunstwerk« (Der christliche Glaube. 2.Aufl. Hg.von M.Redeker. Bd. 2. Berlin 1960. S. 452. § 168.1.). Allerdings hat schon 1751 Daniel Triller seinen Protest angemeldet; wegen der Konkurrenz zu Gottes Schöpferwürde seien »Schöpferisch schreiben, schöpferisch dichten […] strafbare und unchristliche Ausdrücke« (bei Lessing: Gesammelte Werke (Rilla). Bd. 3. S. 357). Und dass Hamann in der Aesthetica in nuce so vorsichtig von der »Analogie des Menschen zum Schöpfer« redet (N II, 206,32; vgl. auch die Analogie: Schöpfer – Bildhauer, N II, 62,17 u. 19; außerdem N III, 199,16), hat sicher auch damit zu tun, dass auch Christoph Otto von Schönaich in: Die ganze Ästhetik in einer Nuß. (Breslau 1754) die Auffassung des Dichters als eines Schöpfers (u. a. mit Bezug auf Klopstocks o. zitierte Messias-Verse) entschieden abgelehnt hatte (vgl. Rüfner, ebd. S. 280f.). Die Übersteigerung künstlerischer Schöpferkraft ins Göttliche wird in C.F. Meyers Gedicht. In der Sistina durch Micheangelo selber revoziert: »So schuf ich dich mit meiner nicht’gen Kraft: / Damit ich nicht der größte Künstler sei. / Schaff mich–ich bin ein Knecht der Leidenschaft – / Nach deinem Bilde schaff mich rein und frei« (vorletzte Strophe; vgl. o. Anm. 23).

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Anders steht es mit der Bibel, deren dichterische Züge selbstverständlich immer schon gesehen wurden:81 so galt natürlich David als der vom heiligen Geist inspirierte Dichter der Psalmen.82 Aber auch Salomo mit dem Hohenlied, die Naturschilderungen des Buchs Hiob und die Klagelieder Jeremias wurden immer auch als poetische Texte wahrgenommen;83 ebenfalls die sonstigen Hymnen beider Testamente.84 Und für Mose, den Gesetzgeber der Juden und vermeintlichen Verfasser der fünf Thora-Bücher, ist von gar nicht zu überschätzender Bedeutung, dass die einflußreiche unter dem Namen Longins überlieferte Schrift Περὶ ὕψους den Anfang der Genesis (bes. 1, 3) als Muster großer, ja erhabener Prosa für die hohe Literatur aufstellt85 – worin die ganze patristische Bibelpoetik vorweggenommen ist.86 Ein herausragendes und Hamann wahlverwandtes Zeugnis dieser Tradition findet sich in der Wendung von der Bibel als der »göttlichen Aeneis« in der letzten Aufzeichnung Martin Luthers.87 Das ist eine Übernahme vom über81 Vgl. das dreibändige Werk von E. de Bruyne (o. Anm. 23). Charakteristisch bei J. Donne: »David is a better Poet than Virgil«. In: Sermons, wie o. Anm. 64, Vol. IV. S. 167. 82 Luther kann im Blick auf die Psalmen sagen: »der heilige geist, der hohest und beste Poet odder tichter« (111. Psa1 m. 1530. WA 31/1, 393,16) bzw. »spiritum sanctum esse Optimum Poetam et Oratorem qui sciat regulas artis dicendi et persuadendi« (128. Psalm. 1532/33. WA 40/III, 270,31). Zu Luther selbst vgl. Martin Brecht: Luther als Schriftsteller. Calw 1990 (Calwer Taschenbibliothek 18). 83 Herders Vom Geist der hebräischen Poesie (1782) vollendet insofern nur eine alte Tradition. 84 Über die besondere Aufmerksamkeit, die die Josephsgeschichte (Gen. 37–50) bei Literaten auf sich gezogen hat, vgl. Herbert Donner: Die literarische Gestalt der Josephsgeschichte. 1976 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschften. Phil.-Hist. Kl. 2). 85 Ps.-Longin schreibt »Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich offenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb: ›Gott sprach‹ – was? ›Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es ward‹« (IX, 9; zitiert nach der Übersetzung Schönberger (Reclam 8469). Stuttgart 1988. S. 25/27; vgl. zur Nachwirkung der Schrift bis zu Hegel das Nachwort, ebd. S. 151–155; außerdem Konrad Ziegler: Das Genesiszitat in der Schrift peri hypsus. In: Hermes 50 (1915). S. 572–603. Hamann kommt bereits in den Biblischen Betrachtungen auf Longin zu sprechen: N I, 15,12–14 (Schaffen als Sprechen), I, 20,3–6 u. 61,17 (dichterische Schönheiten); vgl. N II, 176,29 (Hahnengeschrey) und N III, 126,18 (Blitz des mosaischen Bonmot; vgl. mit N II, 97,24–27 und ZH 111, 83,13–15); die früheste Erwähnung: N IV, 87,26. – Ein entferntes Echo möchte man bei Lichtenberg finden, der natürlich Lavater persifliert: »O was wird die Nachwelt sagen, wenn sie von der daunigten, hinbrütenden Wärme des Genies und dem Wort: Es werde, das man von den Schattenrissen dieser Leute so zuverlässig weglas […] nicht eine Spur in den Werken derselben finden wird?« (Über Physiognomik. In: Schriften und Briefe (Promies). III. Band. München 1972. S. 261 (vgl. auch Sudelbuch F 848; zur Lavater-Anspielung vgl. Kommentar zu Bd. 111 (1974). S. 113). 86 Vgl. Curtius. Europäische Literatur. S. 402. 87 »Hanc tu ne divinam Aeneida tenta, Sed vestigia pronus adora« (WA 48, 241; 5. Febr. 1546. Es folgt das bekannte: »Wir sind Bettler: hoc est verum«; vgl. auch WATR 5, 318f. (Nr. 5677) sowie die Auffassung der Aeneis als »heiliges Gedicht« bei Macrobius, Sat. 1, 24, 13). Zum ersten Male wurde der Text 1712 in Valentin Ernst Löschers Unschuldigen Nachrichten gedruckt. Hamann hat das Dictum erst 1780 kennengelernt: N V, 354,28–39. Gleichsam in

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schwenglichen Preis des Vergil durch Statius88 und findet in der heiligen Schrift das unausschöpfbare Welt-Epos selbst.89 Zumindest indirekt ist Gott als Weltendichter und absoluter Schriftsteller aufgefaßt. 2. Um die außerordentlich komplexen und hier nur schlagwortartig anzudeutenden wirkungs-geschichtlichen Zusammenhänge, in denen solche Gleichnisse wie das Luthers, aber schließlich auch Hamanns theologische Poetik zu sehen sind, wenigstens kurz zu bezeichnen, seien zwei Hauptstränge dieses unübersehbaren Traditionsgeflechtes namhaft gemacht. 2.1 Die Bibel als Dichtung90 Die ganze patristische Literatur ist voll von Ausführungen über die Kunstform der biblischen Schriften. E.R. Curtius hat in seinem bewunderungswürdigen Werk dafür vielfältige Belege gegeben. Es seien hier nur Namen genannt wie Hieronymus und Augustinus, dessen De doctrina christiana ausdrücklich die Bildung in den Dienst des Glaubens stellen will,91 Cassiodor und Isidor von Sevilla92 sowie Beda

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Umkehrung Luthers nennt Hegel Homers Epen »eine poetische Bibel« und spricht von den »epischen Bibeln« der Völker. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 15. S. 331 u. 339, 346, 386, 402, 419 u. ö. Thebais XII, 816f. (Curtius. S. 401). Schon Macrobius hat die Aeneis mit dem Kosmos verglichen (Curtius. S. 404) und ihren Dichter mit dem Weltenbildner (s. o. Anm. 80). »Seit Homer ist das Epos die Gattung, um Welt zu absorbieren, sich der Fülle und dem Realitätsgehalt nach an Stelle der Welt zu setzen, um die Intensität der Wirklichkeitsbeziehung ganz auf sich zu sammeln« (Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 222; vgl. die folgenden Seiten über Goethes Projekt eines »Romans über das Weltall« und bei Anm. 262–265 zum Weltbuch bei James Joyce und Arno Schmidt. In diesen Fällen wird das Buch selber (tendenziell) eine Welt für sich und, weit entfernt, die reale nur zu beschreiben, hebt es sie in sich hinein auf, will sie überbieten und ersetzen: »hic liber est mundus« (J. Owen. I, 3; vgl. Curtius. S. 326). Goethe meint vom »Buch aller Bücher«, es sei uns gegeben, »damit wir uns daran wie an einer zweiten Welt versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen« (Noten und Abhandlungen. Hebräer, wie o. Anm. 1, S. 416). Luther kann die hl. Schrift auch mit einem großen, unerschöpflich reichen Wald und seinen Früchten vergleichen (WATR 1, 320 (Nr. 674); ausführlicher ebd. S. 320,17–22; so auch bei Bernhard Duhm: Jeremia. 1901. S. XX). Die Unerschöpflichkeit der Thora kommt in einer fiktiven Totalisierung aller Momente von »Schreiben« zum Ausdruck, die Jacque Derrida nach einem Rabbi Eliezer zitiert (Grammatologie (Suhrkamp tbw 417). Frankfurt a. M. 1983. S. 31). Zur Bibel der Weltgeschichte als »the grand sacred Epos« s. u.Anm. 294. Cf. James L. Kugel: The Idea of Biblical Poetry: Parallelism and its History. New Haven / London 1981; Northrop Frye: The Great Code: The Bible and Literature. Routledge 1982; Stephen Prickett: Words and The Word. Language, poetics and biblical interpretation. Cambridge 1986; bes. S. 37–68 (The religious and the poetic; zu Coleridge, Wordsworth. J. Dennis, J. Keblen, R. Lowth u. a.), ab S. 95 (Poetry and prophecy) sowie S. 123–148 (The book of Nature). Curtius. Europäische Literatur. S. 50 und 56. Freilich findet sich auch bei Hieronymus, Cassiodor u. a. ästhetische Kritik am sermo humilis zumal der lateinischen Bibel (ebd.). Darauf weist bereits Augustin hin. In: Ep. 137. V, 18 (PL 33, 524). Vgl. Curtius. S. 82f. und 83f.

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Venerabilis.93 Bei Cassiodor findet sich bereits die Inanspruchnahme von Ps 19, 2– 5: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«94 dafür, dass die Sprache der Himmel über die ganze Welt hin Gottes Herrlichkeit bekannt macht, so dass die Kenntnis des Schöpfers und seines Gesetzes bei allen Völkern vorhanden ist.95 Hamann wiederholt diesen Gedanken in der Aesthetica.96 Im Zusammenhang einer ähnlichen Bibelpoetik sind sodann die vielen, heute meist nicht mehr bekannten mittelalterlichen Bibelepen zu sehen, auf die insbesondere Curtius immer wieder hinweist.97 Sie stellen eine Art biblisch orientierter Fortschreibung Vergils dar. Die gewaltige Bedeutung dieser Literaturtradition führt ein Satz Friedrich Ohlys vor Augen: »Die deutsche Dichtung, um nur diese zu nennen, ist für Jahrhunderte, von etwa 770 bis 1150 fast ausschließlich und weiterhin mit einem starken Anteil Bibeldichtung«.98 Hinter der Auffassung der Bibel als des großen Reservoirs für die Künste und Wissenschaften steht die von der Patristik bis in die protestantische Orthodoxie herrschende Überzeugung, das Alte Testament sei nicht nur älter als alle griechischen Dichter und Philosophen, sondern die Griechen, zumal Platon, hätten über die Ägypter von Mose gelernt.99 So konnte man im biblisch geoffenbarten

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Umgekehrt findet sich auch scharfe Polemik gegen weltliche Literatur, deren weitere Lektüre dem hl. Hieronymus in einem Traum verboten wird: »Quae enim communicatio luci ad tenebras [2Kor 6, 14]? qui consensus Christo et Belial [2Kor 6, 15]? quid facit cum psalterio Horatius? cum euangeliis Maro? cum apostolo Cicero?« (Ep. XXII, 29. Ad Eustochium. In: Jérôme Labourt (Ed.). Saint Jerôme. Lettres. Tom 1. Paris 1949. S. 144,7–10). Auf diese Stelle machte mich freundlicherweise Herr Kollege Robert Hanhart, Göttingen, aufmerksam. Curtius. S. 56, 84f., ab 447, 534. Ebd. S. 57. Ps 18, 2–5 (V): »Caeli enarrant gloriam Dei et opera manum eius adnuntiat firmamentum. / Dies diei eructat verbum; et nox nocti indicat scientiam. / Non sunt loquelae neque sermones, quorum non audiuntur voces eorum. / In omnem terram exivit sonus eorum, et finis orbis terrae verba eorum«. Die Verse sind in viele Choräle eingegangen; am bekanntesten ist vielleicht Christian F. Gellert geworden: »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre«. PL 70, 19–21; vgl. Curtius. S. 51. N II, 198,28–32; dazu s. u. bei Anm. 230. Europäische Literatur. S. 46, 248, 425, 454, 457. Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 21983. S. 16. Man denke auch an die frühen Versuche zur Versifikation der Bibel bei Arator (+ ca. 550) und Sedulius (um 450); vgl. Curtius. S. 59 u. ö. Man muß in diesem Zusammenhang auch an den christlichen Choral und insbesondere das evangelische Kirchenlied erinnern. Das von der Reformation ausgehende Evangelische Gesangbuch – ich erinnere nur an Luthers wunderbare geistliche Lieddichtung – ist als ein von der Bibel sich herleitendes (»Psalmen«-) Buch von hohem ästhetischen Rang und einer unabsehbaren poetischen Wirkungsgeschichte aufzufassen; vgl. dazu den Beitrag von Martin Rößler: Die Verwendung von Kirchenliedern in Hamanns Frühschriften. In: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft (Acta 1992). S. 41–64. Nicht zufällig bezieht Hamann sich gerade in der Aesthetica auf Kirchenliedverse (N II, 213,12–14); s. auch u. Anm. 216). Damit kann sich auch die Wertung verbinden, außerhalb der Offenbarung sei nicht vom Buchstaben zum Geist vorzudringen: »Plato, licet esset acutissimus, verba Moysis, quae potuit

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Monotheismus die eigentliche Quelle der Weisheit und allen Wissens sehen und sich auch gewisse Übereinstimmungen zwischen alttestamentlichen Geschichten und den heidnischen Mythen erklären – so z. B. Clemens Alexandrinus.100 Ganz nahe an Hamann kommen wir, wenn wir auf dieser Linie auf das berühmte Werk des Oxforder Poetik-Professors und späteren Bischofs von London Robert Lowth verweisen: De sacra Poesi Hebraeorum (1753).101 Nach Lowth, der bekanntlich Hamann und Herder stärkstens beschäftigt hat,102 verrät sich in der antiken Auffassung der Poesie als göttlich inspiriert,103 dass es eine ursprünglich der Menschheit gemeinsame Urpoesie gegeben habe – Hamanns »Muttersprache des menschlichen Geschlechts«104 –, die bei den Griechen verlorengegangen, dagegen im AT für uns aufbewahrt worden sei.105 Hier fallen also Bibelpoetik und theologische Poetik in eins, und das Theorem von Lowth führt uns auf den zweiten großen Zweig der Tradition. 2.2 Poesie als Theologie Dieser erstaunlich verbreitete Topos106 ist gleichsam die Umkehrung des ersten, der Auffassung der Bibel als Dichtung. Hier werden an aller Dichtung bibelartige

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legere, non potuit multis in locis intelligere, quia caruit gratia adiutrice« (Dist.s Monasticae II, 225). Vgl. dazu knapp Eckart Otto: Mose. Geschichte und Legende. München 2006. S. 91f. Curtius. S. 226f. Genauere Nachweise: strom. I, 176, 2 (wahre Theologie im AT); I, 10, 1 (Griechen als Schüler der Bibel); I, 150, 4 (vgl. V, 24, 1 und 78, 4) (Orpheus als Prophetenschüler); vgl. überhaupt V, 46, 1 und 56, 3. Dass Platon in Ägypten von den Propheten gelernt hat, kann man auch bei Luther lesen: WA 42, 4,16–19; vgl. ähnlich noch Johann Gerhard: Loci theologici (Preuss). Tom. I. Loc. sec. c. I. n. 9. Bd. 1. Berlin 1863. Sp. 244a. Vgl. dazu auch Curtius. S. 244 mit Anm. 1. N II, 175,21; 198,40; 214,36; 215,27. Seit Platon gilt der Dichter für göttlich inspiriert (Apol. 22 c 1; Leg. 682 a 3. 719 c; vgl. lon 533 e; Men. 81 b 1f.) bzw. vom göttlichen Wahnsinn (mania) erfüllt (Phaidr. 245 a; vgl. auch Demokrit bei Diels / Kranz: Fragmente der Vorsokratiker. 2. Bd. Berlin 61952. S. 146f. (B 17,18 u. 21 (Homer)); Cicero: Pro Arch. Poet. 8,18; De orat. II, 46,194; De div. I, 37,80 und dazu Bader, wie u. Anm. 106, S. 202. Hamann hat in den Wolken dazu sein Scherflein beigetragen, vgl. N II, 104,8–106,10. Steht nach dieser platonischen Tradition am Ursprung der Dichtung ein furor poeticus (M. Ficino; dazu Rüfner, wie o. Anm. 80, S. 264f.), so hat man gewissermaßen ein spätestes Echo davon, sie freilich umkehrend, in der gesprächsweise geäußerten Formulierung eines bekannten Psychiaters aus unserm Jahrhundert: »Gott schickt eine Schizophrenie wie ein Gedicht« (Kurt Schneider. Freilich heißt es auch bei Platon schon: μανίας γιγνομένης ἀπὸ θεῶν, Phaidr. 246 b; vgl. 244 d 6 – e 5). Man könnte daraus die Ansicht ableiten, in Hölderlins späten Gedichten aus der sogen. Umnachtungszeit seien jener Anfang und diese späte Wendung der Tradition wie in eins zusammengefallen. N II, 197,15; dazu s. u. bei Anm. 220. Vgl. bei Hamann: »Mosis Fackel erleuchtet selbst die intellectualische Welt« (N II, 199,13); dazu »die lebendigsten Quellen des Alterthums« (209,19) und »Wasserbrunnen« (217,19) mit 210,1: »Das Heil kommt von den Juden« (Joh 4, 22). Vgl. die höchst instruktive und materialreiche Abhandlung von Günter Bader, Theologia poetica, ZThK 83 (1986), S. 188–237. Dort auch der Hinweis auf das Kapitel »Poetische Theologie« in: Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance. Frankfurt a.M. 21984.

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Züge wahrgenommen. Das betrifft schon den äußeren Umgang mit ihr: Homer wurde lange zitiert und ausgelegt wie die Bibel.107 Ein wichtiger Grund dafür lag darin, dass man im Homer das Buch der Natur rein wiedergegeben fand.108 Auch im Mittelalter pflegte man die allegorisierende Deutung heidnischer bzw. außerbiblischer Texte wie Homer, Vergil, Ovid (Ovide moralisé).109 Beispiele für eine geistlich-spirituelle Deutung weltlicher Dichtung finden sich im Artusroman, in der Minnegrottenallegorese in Gottfried von Straßburgs Tristan sowie in Dantes Convivio.110 Aber es gibt auch Beispiele für eine programmatisch theologische Dichtungstheorie; Curtius erörtert exemplarisch Albertino Mussato (1261–1329), dessen Programm freilich nicht unwidersprochen blieb.111 Aus den Parallelen zwischen bestimmten alttestamentlichen Geschichten und griechischer Mythologie zieht Mussato in der Nachfolge von Clemens Alexandrinus112 den Schluß, die Poesie selber sei eine zweite Theologie: ars divina, altera Theologia, und die alten Dichter schon seien Künder Gottes gewesen (vates).113 Entsprechend kann

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Ab S. 28.Vgl. auch den bei Bader zitierten Satz Walter Bröckers: »Die einzige Theologie, die noch möglich ist, ist die poetische« (In: W. Bröcker: Poetische Theologie. Frankfurt a. M. 1980. S. 47), der freilich ein »erinnerndes« Verfahren meint. Curtius. S. 312; vgl. Hamann: »Was Homer den alten Sophisten war; sind für mich die heiligen Bücher gewesen« (ZH I, 314,21f.). P. della Mirandola fand in der Odyssee das System einer divina scientia (vgl. dazu Bader, wie Anm. 106, ab S. 190). Noch bei Goethe findet sich: »Ich trete vor den Altar hin / Und lese, wie sichs ziemt, / Andacht liturgscher Lektion / Im heiligen Homer« (Künstlers Morgenlied (1773). In: Gedenkausgabe, wie o. Anm. 1, 1. Bd. S. 384). Aus Robert Wood’s berühmtem Essay on the original Genius and Writings of Homer (1769) führt Curtius den Satz an: »Nur das große Buch der Natur konnte Homer studieren« (Europäische Literatur. S. 328); Wood bei Hamann: N III, 151,18. Für Hamanns Blick auf Homer waren allerdings die Conjectures on Original Composition (1759) von Edward Young ausschlaggebend; vgl. N II, 75,3–6. Übrigens meinte auch Lichtenberg, es sei das Buch der Natur, »aus dem Homer selbst lernte« (Sudelbuch G 5. In: Schriften und Briefe (Promies), 2. Bd. München 21975. S. 133. Zum Topos Buch der Natur s. u. Anm. 146). Vgl. auch Karl Stackmann: Ovid im deutschen Mittelalter: In: Arkadia 1 (1966), S. 231–254. Vgl. Ohly, wie o. Anm. 98, S. 25 mit Anm. 46. Dante hat dies Verfahren auch für seine Commedia als durchführbar angesehen (ib.), s. u. Anm. 112 u. 114. Curtius. S. 222–228; zur thomistischen Bestreitung vgl. 223f. Curtius. Ebd. S. 226f. und 225. Zu Dantes »Beispielfiguren« vgl. S. 367–369. Bader bringt die charakteristischen Verse von Mussato über die allegorische heidnische Dichtung: »Quae Genesis planis memorat primordia verbis / [Ae]Nigmate maiori mystica Musa docet« (zitiert wie o. Anm. 106. S. 200 Anm. 40). Curtius. S. 222f.; für Chr. Landino vgl. Tigerstedt, wie o. Anm. 79, S. 469 mit Anm. 94. Vgl. das Zitat bei Hamann N II, 199,19 und dazu N I, 241,30: »Die wahre Poesie ist eine natürliche Prophezeyung«; cf. auch N II, 175,29: vis divinandi. Auch Calderón behauptete eine Konkordanz zwischen der göttlichen Stimme in den Propheten und der menschlichen Stimme der Poeten (vgl. Curtius. S. 251).

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auch Dante als theologus bezeichnet114 und Ariost bei Cervantes und noch von Hamann mit dem Namen christiano poeta bedacht werden.115 Der Begriff des Dichtertheologen, auf Cicero zurückgehend,116 ist über Augustin117 und Lactanz118 und vorzüglich durch Isidor ans gesamte Mittelalter vererbt worden.119 In der Rede von Dichtertheologie schlägt – freilich in völlig anderer Bewertung – etwas von den vorchristlichen Ursprüngen des Begriffs Theologie selber wieder durch.120 Denn bei Platon heißt θεολογία ursprünglich die dichterische Darstellung des Wesens der Gottheit im Epos, in Liedern oder in der Tragödie.121 Aristoteles nennt als die »ersten Theologen« (οἱ πρῶτοι θεολογήσαντες) Dichter wie Homer und Hesiod122 sowie andere, die wie Thales über die Entstehung der Welt mythische Lehren vorgetragen hätten.123 Eine Entgegensetzung von Theologie und Mythologie findet sich erst in der Stoa124 und christlich dann bei Clemens Alexandrinus.125 Die heidnische Herkunft der Ausdrücke theologia und auch poeta theologus bleibt indes den christlichen Autoren noch lange bewußt.126 114 Curtius. S. 221f. Umberto Eco schreibt über Dantes bibelorientierte Hermeneutik: »Der Dichter setzt also für Dante das Werk der Heiligen Schrift fort, und sein eigenes Gedicht ist mit spirituellen Bedeutungen befrachtet wie die Bibel, und der Dichter ist von Gott inspiriert« (In: Der Streit der Interpretationen. Konstanzer Bibliothek Bd. 8. Konstanz 1987). Dante spricht selber von sacrato poema (Par. 23, 62) und poema sacro (Par. 25, 2); vgl. zu Dante theologus auch Bader, wie o. Anm. 106, S. 204 u. Anm. 63. 115 Vgl. N III, 368,21; 369,32; N IV, 427,22. 116 Nat. deor. 3, 53. 117 Civ. dei VI, 5–7 (PL 41, 180–186); über Varro. 118 De ira dei 3, 53. 119 Vgl. Ernst Robert Curtius: Theologische Poetik im italienischen Trecento. In: ZRPh 60 (1940). S. 1–15. 120 Vgl. Werner Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart 1953. 1. Kap: Der Begriff der natürlichen Theologie (S. 9–19) und Bader, wie o. Anm. 106, ab S. 223 (auch S. 203 und ab S. 210; vgl. besonders die Augustin-Zitate: Civ. Dei V1, 10; XVIII, 14,24 u. 37). 121 Polit. II, 379 a 5–9. Bemerkenswerterweise hat derselbe Herodot, der als erster das Verb poiein vom dichterischen Machen eines Dithyrambus gebrauchte (Hist. 1, 23), zugleich ausgesprochen: »Homer und Hesiod haben den Griechen ihr Göttergeschlecht gemacht« (θεογονία. Hist. Ι, 53); vgl. im Zusammenhang damit über den prophetisch-poetischen Ursprung der Religion Hegel: Werke. Bd. 16. S. 214 (Religionsphilosophie I). Noch Nietzsche bezieht sich umwertend auf diesen Kontext, wenn er sagt: »Gott, der Verfängliche, / Ist Dichter-Erschleichnis« (Lieder des Prinzen Vogelfrei. An Goethe. In: Werke (Schlechta). 2. Bd. S. 261; dazu ist § 153 (Homo poeta) der Fröhlichen Wissenschaft (Drittes Buch) zu vergleichen (vgl. auch den Beitrag von Johannes von Lüpke in: Acta 1992. S. 305–329; bes. 309f.). Umgekehrt beschäftigte Nietzsche auch der Gedanke des Kunstwerks ohne Künstler: »Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk« (Werke. 3. Bd. S. 495). 122 Met. A 983 b 29–33 und B 1000 a 9. 123 φυσικοί.vgl. Met. A 1071 b 26f und 1075 b 26f. Freilich nennt Aristoteles auch die Metaphysik selber »theologisch«: Met. E 1026 a 19, K 1064 b 3. 124 Panaitios stellt der mythischen Theologie der Dichter die »natürliche Theologie« der Philosophen entgegen (Stoic.Vet. Fragm. II, 1009). 125 Strom. I, 13, 57,6.

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Im Mittelalter aber ist von Hieronymus und anderen her die theologische Poetik (man denke etwa an Alanus ab Insulis)127 weit verbreitet und die Bezeichnung der Poesie als Theologie ein fester Topos.128 Dieser führt uns direkt zu Hamann. Heißt es schon bei Petrarca: »Fast möchte ich sagen, die Theologie sei eine aus Gott kommende Poesie«,129 so setzt Boccaccio das gesteigert fort: »non solamente la poesia essere teologia; ma ancora la teologia essere poesia«.130 Das hört sich dann im 17. Jahrhundert so an: »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie, und unterricht von göttlichen Sachen«.131 Eben auf diesen Satz von Opitz beruft Hamann sich 1763 im 5. seiner Hirtenbriefe, das Schuldrama betreffend,132 kennt ihn aber bereits 1759133, vermutlich über Klopstock.134 In diesem Horizont schreibt er an seinen Freund, den Schriftsteller J. G. Lindner: »Christ oder Poet. Wundern Sie sich nicht, daß dies Synonyma sind«.135

126 Tertullian und Augustin gebrauchen das Wort Theologie überwiegend für die heidnische Götterlehre, vgl. Curtius. S. 226. 127 Über ihn Curtius. S. 127–131. 128 »Car la Poesie n’estoit au premier âge qu’une theologie allegoricque«. In: Alphonse Delbene: Abrégé de l’Art Poétique Francois. Paris 1565. S. 1. 129 »theologiam Poeticam esse de Deo«. In: Le Familiari X, 4; ausführlich zitiert bei Bader, wie o. Anm. 106, S. 205f. Anm. 69. 130 La vita di Dante (1373). S. 22, zitiert nach Curtius. S. 223 Anm. 2 (deutsch: Das Leben Dantes. Leipzig 1920. Insel 275). S. 43); zur Abhängigkeit von Boccaccio und Mussato vgl. Curtius. S. 234 Anm. 1. Vgl. auch die interessante Parallelstelle bei Boccaccio (mit Bezug auf Arist., Met. A 983 b 30): »Dico che la teologia e la poesia quasi una cosa si possono dire, […] anzi dico più, che la teologia niun’ altra cosa è che una poesia di Dio« (Commento alla Divina Commedia. Bari 1918. S. 42; zitiert nach Rüfner, wie o. Anm. 80. S. 266). Boccaccio bezieht sich für Orpheus auf Aristoteles, vgl. Bader, wie o. Anm. 106, S. 204 Anm. 64 (hier auch C. Salutati: Anm. 65 und S. 206f. Anm. 72; M. Ficino: S. 204 Anm. 66). 131 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey (1624), c. 2 (Anfang). Ausführlich zitiert bei Sven Aage Jörgensen: Johann Georg Hamann. Fünf Hirtenbriefe. Einführung und Kommentar. Kopenhagen 1962. S. 132. Zu Vorstufen bei Scaliger und Ronsard vgl. Bader, wie o.Anm. 106. S. 208f. (mit ausführlichen Zitaten und weiterer Literatur), sowie zu den OpitzBezügen bei Herder (ebd.). Vgl. dazu besonders Rolf Bachem: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn 1956. (Unter diesem Titel auch zu Celan: Albrecht Schöne Göttingen 22001). Auch Walter Benjamin bezieht sich auf die Opitz-Stelle. In: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften I.1. Frankfurt a.M. 1980. S. 349. 132 N II, 365,12–14. 133 ZH I, 438,29f. 134 ZH I, 367,24–31. 135 Ebd. Z. 31.

Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos

IV.

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Schöpfung als Schrift

Der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller – das besagt für Hamann aber auch: Gott als Schriftsteller und sein geschriebenes Werk sind der Schlüssel für Gottes Schöpfung und Gott als Schöpfer überhaupt. Denn indem Gott durch sein Wort die Schöpfung hervorbringt, sein Schaffen also Sprechen, »Autorhandlung« ist,136 sind alle geschaffenen Dinge Worte. »Omnis creatura significans«: alle Schöpfung ist bedeutungsvolle Rede.137 Hamann konnte dies vor allem bei Luther in zahllosen Wendungen lesen. Ich gebe nur zwei Belege: Deus enim vocat ea, quae non sunt, ut sint [Röm 4, 17] et loquitur non grammatica vocabula, sed veras et subsistentes res; ut apud nos vox sonat, id apud Deum res est. Sic Sol, Luna, Coelum, terra, Petrus, Paulus, Ego, tu etc. sumus vocabula Dei, Imo una syllaba vel litera comparatione totius creaturae. Sic verba Dei res sunt, non nuda vocabula.138

Wie die Natur, so ist auch die Geschichte nach Luther ganz von Gott gewirkt; wie bei den Heiden auf verborgene Weise (Larva Dei), so in der Geschichte Israels explizit durchs Wort hervorgerufen und gelenkt.139 Schöpfung imWort bedeutet für Luther indes nicht nur eine Aussage über die Entstehung von allem, sondern viel mehr noch über den ontologischen Status alles Seienden, das eben nur als worthaft da ist. Dazu der zweite Beleg: Und hüte dich, wenn du diese Worte hörst: Und Gott sprach, daß du nicht etwa denkest, als seien es vergängliche Worte, wie wir Menschen sprechen, sondern wisse, daß es ein ewig Wort sei, das von Ewigkeit gesprochen ist, und immer gesprochen wird. So wenig als Gottes Wesen aufhöret, so wenig höret auch das Sprechen auf […] Darum, so lange eine Creatur währet, so lange währet das Wort auch, so lange die Erde trägt […] so geht 136 Bei Tomaso Campanella heißt es: »Dicere autem Dei ac scribere est ipsum facere realiter«. In: Universalis Philosophia 1, 1; Prooem.; zitiert nach Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 83 Anm. 73. 137 Alanus de Insulis, PL 210, 53. Zur Schöpfung als Rede vgl. Augustin, Civ. Dei XI, 8 (PL 41, 323): »verbo intelligibili et sempiterno, non sonabili et temporali«. Zu Alexander von Hales vgl. De Bruyne, wie o. Anm. 23, III, ab S. 111. Als Grenzphänomen von sprechender Wirklichkeit kann gerade auch der »schweigende Zuspruch« der Natur erfahren werden; vgl. bei Martin Heidegger: Der Feldweg. Frankfurt a. M 31962. Ähnlich das Zeugnis einer mystischen Naturerfahrung aus Südafrika: »When you are alone in the veld like this and the sun shines so on the bushes, does it ever seem to you that something speaks? It is not anything you hear with ear, but it is as though you grew so small, so small, and the other so great. Then the little things in the world seem allnothing« (zitiert in: Rudolf Otto: Das Heilige. München 351963. S. 27). 138 WA 42, 17,16–23. »Omnes creaturae nobiscum loquuntur« (WA 46, 494,21); vgl. ähnlich WA 37, 119,39–120,4; 46, 494,15–36; 49, 434,16–18 und Bayer, wie o. Anm. 31, S. 71. Vgl.: »alles vol Bibel« (WA 49, 434,16). 139 Vgl. WA 14, 567,16–33 und 17/II, 192,28; 15, 373,14 u. ö. Zur Welt als Buch vgl. WA 48, 201,5– 9 und Bayer, ebd. S. 63; s. auch u. Anm. 187.

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Rede, daß ich dich sehe

immer das Sprechen, ohn Aufhören […] Siehe, da ist Gott, also daß alle Creaturen in ihrem Wesen und Werken ohn Unterlaß getrieben und gehandhabt werden durch das Wort.140

Damit ist verbunden, dass, wenn Gott den Geschöpfen sein Wort entzöge, alles Seiende wieder ins Nichts zurückfiele.141 Noch 1747 erschien in Königsberg ein Buch von Kants Lehrer Martin Knutzen mit dem Titel Betrachtung über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt durch ein göttliches Sprechen, worin die Schöpfung als die »natürliche« Offenbarung Gottes behandelt wird.142 Wenn und insofern Gott sprechend schafft, ist das Sein der Dinge aber auch so etwas wie Schrift, sinnlich-materiell fixierte Rede.143 Ist Gottes Schaffen das Hervorbringen von einer Schrift – noch bei Mallarmé erscheint umgekehrt Schreiben als creatio ex nihilo144 –, so ist die ganze Schöpfung Text, eine Art Buch.145 Mit diesem Gedanken stellt sich Hamann wiederum in eine unabsehbare Tradition, die der Metaphern vom Buch der Schöpfung bzw. Buch der Natur146 140 WA 24, 37,21–38,10. 141 WA 24, 41,29–35; vgl. WA 21, 521,20; 46, 558,20. 142 Vgl. Gründer, wie o. Anm. 14, S. 56–60 (dort zur Kondeszendenz S. 58). Auch Hippel schreibt 1781 ähnlich in den Lebensläufen nach aufsteigender Linie: »Die Schöpfung ist ein hingestellter göttlicher Gedanke, ein Buch Gottes! Bei uns sind die Gedanken Wasserblasen; beim lieben Gott eine Welt! […] Der Gedanke, es ist ein Gott, ist der Anfänger aller bildlichen Poesie!« (3. Theil. 2. Bd. Leipzig 1859. S. 120. (Sämmtliche Werke. Bd. 4. Berlin 1828. S. 140)). 143 Nach Jakob Böhme ist die »Sprache der Natur« sogar »die Wurtzel oder Mutter aller Sprachen die in der Welt seind« (Morgen-Röte im Aufgangk. XX. Kap. In: Werke. Hg. Von F. van Ingen. Deutscher Klassiker Verlag (TB 33). Frankfurt a. M. 2009. S. 373,8f.). 144 Vgl. dazu bei Blumenberg: »Abgrund des weißen Nichts, über dem sich der Text in seiner Faktizität abhebt […] Die Sichtbarmachung der absoluten Faktizität erfordert die Weiße des Papiers« (wie o. Anm. 12. S. 313; vgl. S. 311f.). Schreiben heißt für Mallarmé gleichsam, »das Nichtseiende rufen, dass es sei« (Röm 4, 17); vgl. auch Blumenbergs Ausführungen zum Igitur (Gen 2, 1; V) bei Mallarmé, S. 320f. Luther kennt die hübsche (sprichwörtliche) Formulierung über Schrift: »Ein weis feld, darin ist schwartze saat« (WA 54, 30,8). Zur Weiße (album) vgl. auch Curtius. S. 313f. und Marianne Kesting, Der Schrecken der Leere. Zur Metaphorik der Farbe Weiß bei Poe, Melville und Mallarmé. In: Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste. München 1970. S. 99–119. 145 Vgl.: »Cum Deus res facit, codicem vivum facit« (T. Campanella; zitiert bei Blumenberg, ebd. S. 82). Den Zusammenhang der Anschauung vom Buch der Natur mit der Physikotheologie zeigt sehr schön das Zitat aus der Religio Medici (I, 15) von Thomas Browne (1643), das Curtius. Europäische Literatur. S. 326f. wiedergibt. 146 Einige Belege: »Mundus ergo ipse calamo Dei inscriptus littera quaedam est intelligi, repraesentans artificis potentiam cum sapientia eiusdem et benignitate, Sicut autem totus mundus inscriptus est [sc. calamo Dei], ita totus littera est, sed intelligenti et naturas rerum investiganti ad cognitionem et laudem Creatoris« (Alexander Neckam: De naturis rerum. 2.Buch. Prologus. Hg. von Th. Wright. London 1863. S. 125); »Nonne creatorem testatur cuncta creata, quin velut in libris illum cognoscere quibus« (Otloh von St. Emmeran; PL 146, 283). Bei Meister Eckart steht: »wan ein ieglîchiu creature ist vol gotes und ist ein buoch« (Deutsche Werke (J.Quint) Bd. I. Stuttgart 1958. S. 156,35). Dass Hamann auch hier etwas

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und Buch der Geschichte.147 Es ist nicht möglich, die gewaltige Wirkungsgeschichte dieser Metapher hier auch nur zu skizzieren148 oder auch ihre Verwendung bei Hamann genauer zu interpretieren.149 Ich kann nur auf wenige Punkte hinweisen. Großartig setzt bereits das Alte Testament mit einem einschlägigen Vergleich ein; Jes 34, 4 heißt es: »et complicabuntur, sicut liber, caeli«, was im letzten Buch der Bibel, eschatologisch gewendet, wiederholt wird: »et caelum recessit sicut liber involutus« (Offbr 6, 14). Man darf aber auch an 1Kor 14, 10 denken: »Tam multa, utputa genera linguarum sunt in hoc mundo: et nihil sine voce est«.150 Nimmt man die vielfältige biblische Rede vom Buch des Lebens noch hinzu151 und berücksichtigt überdies, dass durch jahrhundertelange Bibellektüre und -meditation auch das geschaffene Universum eine spirituelle Bedeutung annehmen mußte,152 so wird die Ausbildung der Metapher von Gottes Schöpfung als Buch der Natur und der Geschichte wohl verständlich. Wir müssen uns hier mit Andeutungen begnügen. Das eschatologische Bild ist immer festgehalten worden, so z. B. bei Thomas von Celano im Hymnus Dies irae: »Liber scriptus proferetur, / In quo totum continetur, / Unde mundus indice-

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von Hume hätte lernen können, zeigt das Hume-Zitat bei Rothacker, wie o. Anm. 32, S. 102f. (P. 33); cf. N III, 254,35f.! Vgl. Curtius. Europäische Literatur. Kap. 16: Das Buch als Symbol. S. 306–352. Eine besonders eindrückliche Anwendung dieses Motivs findet sich bei dem Hamann-Kenner Johannes Bobrowski in der Erzählung Boehlendorff. In: Gesammelte Werke (Haufe). 4. Bd. Berlin 1987. S. 101; vgl. S. 105 u.107; instruktiv dazu Günter Hartung: Bobrowskis Boehlendorff. In: Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk (Hg. G. Ritter). Stuttgart 1976, ab S. 282 und S. 288 (mit historischen Nachweisen). Eine große Fülle einschlägigen Materials hat Erich Rothacker (sowie Wilhelm Perpeet) zusammengetragen; vgl. o. Anm. 31. Gedanken- und materialreiche Studien zu dieser Metaphorologie bei Blumenberg, wie o. Anm. 12; vgl. die Art. Buch der Natur und Buch der Schöpfung. In: HWbPh Bd. 1, Sp. 957–959 u. Sp. 959f. Vgl. auch Axel Goodbody: Natursprache. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in der modernen Naturlyrik. Neumünster 1984. Vgl. dazu besonders O. Bayer, wie o. Anm. 31, passim. Eine hübsche Wendung ins Humoristische findet sich bei Jean Paul: »Das Werk […] soll alles befassen, was man in Bibliotheken viel zu zerstreut antrifft; denn es soll ein kleiner Supplementband zum Buche der Natur werden und ein Vorbericht und Bogen A zum Buche der Seligen« (Flegeljahre. Erstes Bändchen. Nr. 2. In: Werke (N. Miller). Bd. 2. München 31971. S. 595,8–11). Vgl. dazu Joachim Ringleben: Leib Christi und die Sprachlichkeit der Welt bei Paulus. In: Ders.: Arbeit am Gottesbegriff III. Göttingen 2021. S. 59–71. 2Kor 3, 2f. vergleicht Paulus die Gemeinde mit einem lebendigen Brief Christi für ihn und alle Menschen. Zu diesem Motiv im NT vgl. ThWbNT 1, 618f. (Schrenk) und bei Augustin Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 29f.; vgl. auch den Art. Buch des Lebens in HWbPh 1, Sp. 956f. Als säkulares Echo sei das Gedicht von Alphonse de Lamartine zitiert: »Le livre de la vie est le livre suprème, / Qu’on ne peut ni fermer ni rouvrir a son choix; / Le passage attachant ne s’ y lit pas deux fois. / Mais le feuillet fatal se tourne de lui-même: / On voudrait revenir à la page où l’on aime, / Et 1a page où l’on meurt, est déjà sous nos doigts!« Vgl. Ohly, wie o. Anm. 98, S. 20.

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tur«.153 Auch Hamann hat ein literarisches Bild vom Gericht: Gott als der endzeitliche Ausleger seines Textes (vgl. N II, 203,18–204,3 und u. bei Anm. 275). Und vom Buch der Natur redet bereits Alanus: »Omnis mundi creatura / Quasi liber et pictura«.154 Als Reflex der Trinität erscheint das Schöpfungsbuch schon bei Bonaventura: »creatura mundi est quasi quidam liber in quo relucet […] Trinitas fabricatrix«;155 er hat auch die beiden Bücher: Natur und Schrift.156 An Hamann fühlt man sich erinnert, wenn man bei Hugo von St. Viktor liest, dass, weil Gott die Natur durch sein Sprechen sein läßt, »omnis natura Deum loquitur«,157 so dass Gottes Rede (vox Dei ad homines) durch die Geschöpfe uns seinen Willen zu erkennen gibt.158 Auch der Satz über das opus Dei der Schöpfung, »quod numquam desinit esse, in quo opere visibili invisibilis sapientia creatoris visibiliter scripta est«,159 erinnert sowohl an Luther wie an Hamanns Rede von der »sinnlichen Offenbarung« (N II, 198,1).160 Hamann selber – um einen Riesensprung über viele Namen hinwegzumachen, die hier anzuführen wären161 – bezieht sich häufig auf jene Metapher. Und wie ihm Gottes Autorschaft seine Schöpfertätigkeit erschliesst,162 so auch das Buch der Bibel (Liber scripturae) die Bücher von Natur und Geschichte: Natur und Geschichte sind daher die 2 grossen Commentarii des Göttlichen Wortes163 und dies hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen (N I, 303,35–37; vgl. 308,34–36).164

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Zitiert nach Curtius. S. 322. Zu Gott selber als einem alles enthaltenden Buch s. o. Anm. 47. Pl 210, 579 A; weitere Stellen bei Curtius. S. 323–329. Breviloq. II, 12. Breviloq. II, 5 u. 11; vgl. Ez 2, 9 u. Offbr 5, 1. Dazu Curtius genauer S. 324f. (auch zu Nikolaus von Cusa). Zum heilsgeschichtlichen Sinn der zwei Bücher bei Bonaventura vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 53f. sowie (neben dem o. Anm. 48 genannten Buch von W. Rauch) Paul Werner Scheele: Die Schöpfung als Buch Gottes. In: Weisheit Gottes – Weisheit der Welt (FS J. Ratzinger). Hg. von Walter Baier u. a. Bd. 1. St.Ottilien 1987. S. 97–114 und Ulrich Winkler: Vom Wert der Welt. Salzburg 1997. S. 312–333. PL 176, 805 C. »Omnis natura hominem docet« (ebd.; vgl.: »Voces ex humana, res ex divina institutione significant. Sicut enim homo per voces alteri, sic Deus per creaturas voluntatem suam indicat« (PL 177, 375 C). PL 176, 645. Über Buchstabenschrift als sinnliche Fixierung flüchtigster Laute vgl. schon Augustin: De doctrina christiana. 11, 4,5 (PL 34, 38). Das dem »visibiliter scripta« korrespondierende Motiv ist »pictura loquens«; Hamann fand es bei Johann Georg Wachter (vgl. N II, 409 (24) mit 199,21 u. Z. 36f.). Vgl. vor allem Rothacker, wie o. Anm. 31 und Blumenberg, wie o.Anm. 12. Umgekehrt spricht Herder in der Aeltesten Urkunde von der »Poetischen Sprache der Schöpfung« als »Unterpfand des unvergeßlichen Wortes Gottes« (l. Bd. 1. Th. VI: Hieroglyphe. In: Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 6. S. 289; die ganze, stark von Hamanns Aesthetica inspirierte Stelle bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 109 (P. 53). Ihm entsprechen die »Lesarten« von Philosophie und Theologie, s. dazu u. Abschn. VI bei Anm. 240.

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Die Rede von der Bibel, bes. Neuen Testamentes, als Schlüssel für das Verständnis des Textes aller Wirklichkeit in Natur und Geschichte165 ist selber auch schon alt und läßt sich z. B. bei Augustin,166 Bonaventura,167 Bernhard von Clairvaux,168 Calvin und anderen nachweisen.169 Wenn Gott im Buche der Geschichte schreibt, und besonders da dieses auch die Geschichte aller Bücher (Geschichte als Literaturgeschichte) in sich begreift, so tut er es nach Hamann im Medium unserer Selbsttätigkeit: Gott führt gleichsam unserer Freiheit die Hand, und – wie man heute gern sagt – Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade: »weil es menschlicher und Gott anständiger aussieht, uns durch unsere eigene Grillen und Hirngespinste […] zu seinen Absichten zu regieren« (N II, 69,16–20).170

Jedenfalls ist auch die Geschichte, inclusive der Büchergeschichte, ein von Gott dem Schriftsteller fort- und weitergeschriebenes Buch; wenn auch vielleicht keine unendliche Geschichte, denn der Autor wird sich auch als der definitive »Ausleger« seiner Worte erweisen. Indes vorläufig beherrscht noch Gottes Vorsehung das Geschehen, und nichts ist für Hamann so typisch, wie dass er zum einen die

164 Zur Interpretation s. o. Anm. 121 (mit weiteren Stellen) sowie Gründer, wie o. Anm. 14, S. 160–163. Schon bei Bonaventura heißt es, dass, weil der gefallene Mensch die Erkenntnis Gottes verloren hat, »dieses Buch Welt gleichsam erstorben und ausgelöscht war und ein anders Buch nötig, wodurch jenes erleuchtet würde« (Collationes in Hexameron XIII, 12). Bonaventura stellt dann fest: »Liber ergo Scripturae reparativus est totius mundi ad Deum cognoscendum, laudandum, amandum« (ebd.). 165 In der altkirchlichen Theologie weithin die hl. Schrift als hermeneus auch Gottes des Vaters. 166 Die Offenbarung hilft zum Verständnis der Schöpfung; vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 97 u. 106. 167 Cf. Blumenberg, S. 53f. (Schöpfung durch die Sünde unverständlich geworden); bei Bonaventura: Coll.i.Hex. XIIl, 12 und Brevil. II, 12. 168 Beim Kreuzestod Christi zerriß der »Vorhang des Tempels« (Mk 15, 38 parr.) so dass das AT und (nach Petrus von Poitiers) die ganze Welt geistig durchschaubar wurde; vgl. Ohly, wie o. Anm. 98, S. 4. Zu Christus als Schlüssel der Schrift vgl. N II, 212/213. 169 Nach Calvin erklärt erst die Schrift den stummen Lehrmeister Natur; vgl. Institutio I, 6, 1und I, 5, 15. Für Schopenhauer hingegen steht der Mensch ratlos vor der Geschichte wie »vor seiner eigenen alten Ziffernschrift, deren Schlüssel er vergessen hat« (zitiert bei Blumenberg. S. 327); vom Schlüssel reden auch Novalis (Blumenberg. S. 248) und Friedrich Schlegel (S. 275). Der alte Goethe erhofft sich die durchsichtige Einheit von Natur und Sprache wohl erst vom Paradies, wo man horcht »Der Grammatik, der versteckten, / Deklinierend Mohn und Rosen« (West-Östlicher Divan. Buch des Paradieses: Höheres und Höchstes). Vgl. dazu Werner Frühwald: »Deklinierend Mohn und Rosen«. In: W. Böhme (Hg.): Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrung von Meister Eckhart bis Paul Celan. Frankfurt a. M. 1990 (Suhrkamp TB 1765). Ab S. 229. 170 Vgl. auch N II, 68,32–34: »daß sich Apoll nach den Menschen richte […] so handelt er als ein Gott« und N I, 91,15–17: »um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen die Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren«; vgl. auch ZH I, 446,15.

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ganze Schöpfung als Gottes Bibliothek auffaßt (N II, 349,7),171 so zum andern Gottes Vorsorge sich über Schriften erstrecken läßt: »da Er Selbst ein Schriftsteller geworden« ist (N II, 64,21f)!

V.

Hamann als Autor

Wendet man vor diesem Hintergrund den Blick nochmals auf den Autor J. G. Hamann zurück, so ist als erstes hervorzuheben: Gott ein Schriftsteller – das sagt einer seiner inspiriertesten Leser, der genau darum selber zum Schriftsteller wurde – und sogar eben damit, dass er es sagte: Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, und aus Lesern entstehen Schriftsteller. Die meisten Bücher sind daher ein treuer Abdruck der Fähigkeiten und Neigungen, mit denen man gelesen hat und lesen kann (N II, 341,15–18).172

Und wie hat nicht Hamanns Sprach-Eros die Schriften seines Gottes zu erkennen gestrebt, mit den »erleuchtete(n), begeisterte(n), mit Eyfersucht gewaffnete(n) Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers« (N II, 171,14–16)173 aufmerksam die wundersame »Schreibart des Liebhabers« schlechthin (N Il, 150,12) lesend! Gewiß hat er auf seine Art, leidenschaftlich und fromm, auch im Buch der Natur gelesen:174 171 Vgl. zu diesem beziehungsreichen Bild, besonders bei Leibniz, Blumenberg S. 121–1 49 und Ernst Bloch: Subjekt – Objekt. Frankfurt a.M.1962. S. 351 (zu der Hegel-Stelle: Werke. Bd. 19. S. 489); s. u. Anm. 199 u.200. 172 Freilich erschafft der wahre Autor sich auch als seine Muse oder Gehilfin (Gen 2, 18) die »Idee des Lesers« (N II, 349,51). Bei Kierkegaard wird der Leser mit dem Bräutigam verglichen; vgl. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten (1845. Vorwort). In: Gesammelte Werke (Hirsch). 14. Abt. Düsseldorf / Köln 1964. S. 113. Zur Metaphorik von Text und Schrift bei Kierkegaard vgl. Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Asthetischen. Frankfurt a. M. 1974 (stw 74). S. 46–50. 173 Vgl. Goethe: »daß doch am Ende jedes Buch nur für Teilnehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben sei«. In: Gedenkausgabe, wie o. Anm. 1, S. 488 (»Künftiger Divan«, Einl.). 174 Vgl. J. Böhme: »Du wirst kein Buch finden, da du die Göttliche Weisheit köntest mehr inne finden zu forschen, als wenn du auf eine grüne und blühende Wiese gehest, da wirst du die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und schmecken, wiewohl es nur ein Gleichniß ist« (De tribus principiis c. 8, § 12; zitiert nach Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 49 (R. 21)). Dass das Buch der Natur gegen die literarische Gelehrsamkeit ausgespielt wird, ist schon bei Bernhard von Clairvaux zu finden: »aliquid amplius invenies in silvis quam in libris« (nach Curtius. S. 341 Anm. 2; vgl. auch die Bernhard-Zitate bei Rothacker S. 47 (R. 13)) und geht über Nikolaus von Cusa, Paracelsus und Raimond de Sabunde weiter (Curtius. S. 323 u. 325f., ebenso Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 58–67); eine sehr frühe Verwendung in einem Antonius-Apophtegma belegt Bader, wie o. Anm. 106. S. 14. Vgl. auch den Nachklang bei Rousseau: »Was werden Sie aber in Büchern Neues finden? O Wolmar, Sie brauchen nur im

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Wie schwellen, wie glühen, wie rauschen die sinnlichen Eindrücke zum Gefühl und Augenschein des Glaubens und des Geistes (N I, 190,28f.).175

Und gerade der »Wortklauber« Hamann (ZH V, 328,27) konnte schreiben: Aus Wollüsten und Bedürfnissen dieser Erde besteht unser ganzer Vorgeschmack des Himmels (ZH IV, 60,6f.; vgl. ZH V, 167,16–18).

Auch hat er die Bibel benutzt, um aus dem Buch der Geschichte zu lernen; alles was er über die mythologischen Vorahnungen des christlichen Gottesgedankens,176 was er über die Prophezeiung im Munde der Heiden,177 über die Typologie178 und über die spezielle Vorsehung zu sagen weiß,179 belegt das. Überhaupt

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Buche der Natur lesen zu lernen, so sind Sie der weiseste unter den Sterblichen« (Julie oder Die neue Heloise; 6. Teil, 3. Brief); die Replik lautet: »Das wahre Buch der Natur ist für mich das menschliche Herz; und der Beweis dafür, daß ich darin zu lesen verstehe, ist meine Freundschaft gegen Sie« (4. Brief. In: dtv 2191 (München 1988). S. 690f.); hier klingt wohl auch die Imitatio Christi noch an: »si rectum cor tuum esset, tunc omnis creatura speculum vitae esset« (II, 4). Zur »Natur als Wörterbuch« vgl. auch Charles Baudelaire: Der Salon 1859. In: Sämtliche Werke / Briefe. Hg. von F. Kemp. Bd. 5. München 1989. S. 145f. Zum »Fühlen, Riechen und Schmecken« bei Böhme (vgl. Ps 34, 9 u. s. u. Anm. 226) passen die Strophen 24 und 25 in B. H. Brockes großem Gedicht »Die Welt« (zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 106). Andererseits ist gegen die einseitige Bewertung der Natur mit Jean Paul daran zu erinnern: »Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur« (Motto zur Unsichtbaren Loge; abgewandelt aus der Auswahl aus des Teufels Papieren. In: Sämtliche Werke (Miller). 2. Abt. (Schmidt-Biggemann). Bd. 2. München 1976. S. 241)! Mit diesem Motiv spielt Georg Büchner weiter: »Leonce. Mensch, du bist nichts als ein schlechtes Wortspiel. Du hast weder Vater noch Mutter, sondern die fünf Vokale haben dich miteinander erzeugt. / Valerio. Und Sie, Prinz, sind ein Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen. –« (Leonce und Lena I, 3). Für Hamann ist »die ganze körperliche Natur ein Ausdruck, ein Gleichnis, der Geisterwelt« (N I, 112,22f.; vgl. 228,32–229,7; 304,19–22; 68,16f.; und ZH I, 352,25–28; IV, 148,1–10). Dies »versiegelte Buch« kann aber nicht aus sich allein verstanden werden (cf. N I, 8f.; 119,19–21; 148,19f.; 156,13–19 u. ö.). Berkeley fand in der Natur »Visuale Language« (dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 154 u.157f.); so war für ihn die Materie eine der Sprachen Gottes oder auch das Licht eine, »die unser feinster Sinn in tausend Gestalten und Farben unablässig Buchstabiret«, wie Herder über Berkeley schreibt (Ideen I, 4. Buch, III. In: Sämtliche Werke (Suphan). Bd.13. S. 138). Vgl. N II, 348,7–9 und ZH I, 352,4–18; 394,11–19 u. ö. sowie das u. bei Anm. 257 zur Odyssee Angeführte. Vgl. z. B. ZH IV, 4,16–18 (Pilatus); N II, 205,2 (Kaiphas) und N I, 304,6–14. Überhaupt gilt: »Die wahre Poesie ist eine natürliche Art der Prophezeyung« (N I, 241,30; dem Apostel Paulus zufolge: Z. 28f.). Rudolf Unger weist auf eine ähnliche Auffassung der Poesie bei Novalis hin (Hamann und die Aufklärung, Bd. 1. Jena 1911. S. 232). Sokratische Denkwürdigkeiten! Zur Typologie bei Hamann vgl. Gründer, wie o. Anm. 14. S. 93–158 und zur Typologie überhaupt Volker Bohn (Hg.): Typologie (Internationale Beiträge zur Poetik 2 (Suhrkamp ed. NF 451). Frankfurt a. M. 1988; bes. die Beiträge von Fr. Ohly, N. Frye und H. Blumenberg. Zur Erfüllung in der Sicht des Urchristentums vgl. ThWbNT 1, 758–760. Vgl. die vielen einschlägigen Stellen bei Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. München 1988 (SP 918). S. 214–229.

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gehörten ihm die Bücherwelten der Antike und der morgen- wie abendländischen Literatur, die er unersättlich lesend verschlang, wohl in dieses große Buch des Herrn über alles hinein: Gottes ist der Orient! /Gottes ist der Okzident! – auch literarisch. Aber vor allem war er doch Philologe, Liebhaber des Logos – in geschriebener Gestalt.180 Was für ein Leser des einzigartigen Schriftstellers er war, zeigt die bis ins Leibliche ausstrahlende Metaphorik: Ich habe die Bibel mit einem fame canina verschlungen […] Sie war mein Element und Aliment; es war also gantz natürlich, daß mein gantzer Nervensaft tingirt war (ZH II, 443,32–34).181

Auch die Fürstin Gallitzin nahm an Hamann wahr, wie von der Heiligen Schrift »sein ganzes Wesen impregnirt« sei.182 Diesem Leser der Bibel kam Gott wortwörtlich zur Sprache, in die Sprache.183 Darum fand er den großen Wunsch »Schreibe, daß ich dich sehe« (ZH V, 408,2) unendlich erfüllt.184 Alles und jedes wollte und konnte Hamann »in diesem deinem Worte sehen«, das ihm dadurch zum Schlüssel der Wirklichkeit der Welt und seiner selbst wurde,185 und dies, weil das Sichtbare der Schrift, das Hörbare der Sprache den unsichtbaren Gott als Wirklichkeit über alle Wirklichkeit vertreten.186 180 Vgl. N II, 263,50–264,15 (mit Hebr 4, 12f.). Ein abschätziger Sinn von Philologie findet sich gelegentlich bei Platon, Theait. 146 a 6; vgl. aber 161 a 7. 181 Vgl. Offbr 10, 10 und Ez 3, 1–3 sowie Hamanns Hunger und Durst nach »Zeichen«, ZH IV, 6,5–7. Vgl. auch in diesem Bande meinen Aufsatz: Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls. 182 Vgl. ZH V, 490 und Luthers Selbstcharakterisierung als eines guten Textualis (WATR 4, 433 (Nr. 4691), vgl. 1, 44 (Nr. 116) und 3, 598 (Nr. 3767)). Auch Luther sagt vom Glauben: »impregnatur anima verbo dei« (WA 5, 176,13f.). 183 Ähnlich schon Klopstock: »Die Religion selbst, in so fern die heiligen Schriften, in welchen sie enthalten ist, als menschliche Werke anzusehen sind, ich meine in so fern sie sich zu der Denkart der Menschen herunterlassen, um dieselben zu unterrichten, und zu rühren, die Religion ist durch Muster der Poesie und der Beredsamkeit offenbart worden, die sich der tiefsinnigste Kenner nicht reizender, stärker und erhabner denken kann. Und es ist keine geringe Ehre für uns, daß die Sprache, welche in der Offenbarung geredet wird, unsre Sprache ist« (Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. (Nordischer Aufseher. 1. Bd. 43. St.). In: Sämmtliche Werke. 10. Bd. Leipzig 1857. S. 246). 184 Unmittelbar eine Anspielung auf Klopstocks Orthographie-Reform ist die Wendung »Schreibe, daß ich dich höre« (N III, 237,24f.; laut Nadler N III, 460 mit Bezug auf Über Sprache und Dichtkunst. 323 Anm. 25). Beides sind Varianten von Hamanns Lieblingswendung »Rede, daß ich dich sehe«; dazu s. den vorausgehenden Beitrag in diesem Bande; über das Verhältnis von Reden, Sehen, Hören und Lesen vgl. ebd. Abschn. II. 185 Vgl. N I, 49,3lf. und 71,3; dazu Georg Baudler: Im Worte sehen. Das Sprachdenken J.G. Hamanns. Bonn 1970. 186 Nur wenn (sinnlich vermittelte) Bedeutung und (übersinnliches) Bedeutetes nicht identisch werden, gibt es etwas zu lesen bzw. Lesbarkeit; vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 35.

Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos

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Die zuletzt genannte Hinsicht der Selbsterkenntnis macht sogar die Schlüsselund Initialerfahrung des Schriftstellers Hamann aus. Beim Lesen des AT187 widerfuhr ihm mit lebensentscheidender Wucht: »Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eignen Lebenslauf« (N II, 40,25–27).188 Indem Hamann sich mit seiner Lebenswirklichkeit in diesem Text wiederentdeckte, wußte er als Leser, dass in seinem Lesen Gott in ihm las,189 fand er sich selbst als von diesem Text Entzifferter und in ihn hinein aufgehoben.190 Wahre Selbsterkenntnis widerfuhr ihm als ein von Gott Erkanntsein.191 Darüber wurde der Leser selber zum Autor, denn »Selbsterkenntnis ist und bleibt das Geheimnis ächter Autorschaft« (ZH VI, 343,7). Das war in Hamanns Fall identisch mit dem Satze, »la science du mot propre« mache erst den Schriftsteller.192 Als Leser des einen göttlichen Wortes fand er seine Sprache und seinen Stil, wurde er Schriftsteller. Denn indem Gott sich in unsere Menschensprache heruntergelassen hat, ahmte (er) uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern (ZH I, 393f.).193

187 Für Hamann gilt: Auch das Buch der Geschichte ist als von Gott geschrieben lesbar – und krankt nicht an dem neuzeitlichen Schwebezustand, »autorenlos« zu sein (vgl. Blumenberg S. 163), eben weil die Bibel, besonders das AT, selber schon Geschichtsbuch ist (zu Israel vgl. Blumenberg S. 169). 188 Vgl. N I, 297,25–35; 303,14–18 und N III, 311,6–8 sowie ZH IV,147,17–19. Ähnliche Erfahrungen verallgemeinert der Satz von Arno Schmidt: »Wir leben Alle wie in ei’m kolossal’n Roman«. In: Die Schule der Atheisten. Frankfurt a. M. 1972. S. 148 (s. u. Anm. 267). Schmidt spielt auf Novalis an: »Nichts ist romantischer, als was man gewöhnlichWelt und Schicksal nennt – Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman«. In: Schriften (Samuel). 3. Bd. Darmstadt 1968. S. 434 (Nr. 853). Die Anspielung ist nachgewiesen bei Leibl Rosenberg: Das Hausgespenst (ed. text und kritik. Erg.Bd.). Hg. von K. Jürgen u. a. Bd. 2. S. 121. 189 Vgl. schon Quirinus Kuhlmann: »O Gottes Lamm […] / Eröffne mich, und lies mich als dein Buch« (Kühlpsalter II (1685), 5. Buch, 64. Ps., v. 9689 u. 94; zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31. S. 83 (R. 157). 190 Zur Selbsterfahrung im und am Buch vgl. Curtius. S. 322, und zur Absorption des Lesers ins absolute Buch (der Moderne) Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 309 u. 323f. Handeln die von Curtius (bes. aus Shakespeare) beigebrachten Beispiele (vgl. S. 323, 325 u. 340!) aber davon, in sich wie in einem Buch zu lesen, so spricht Hamann davon, in einem Buche sich selber zu lesen; s. u. Anm. 293 u. 294. 191 Vgl. 1Kor 8, 2f. und 13, 12b mit N II, 74,23–27. So wurde Albrecht Bengels Bibelhermeneutik für Hamann zur Selbsterfahrung: »Te totum applica ad textum, rem totam applica ad te« (vgl. ZH 11, 9,30f.). 192 Cf. N IV, 457,30 (gemeint ist die ipsissima vox) und ZH II, 23,9–17. 193 Aus dieser Mimesis läßt sich die Eigenart von Hamanns Stil erklären (s. o. Anm. 3). Vgl. auch in meiner o. erwähnten Arbeit Abschn. V und S. A. Jörgensen: Zu Hamanns Stil. In: Germ.roman. Monatsschrift. NF 16,4 (1966). S. 374–387. Schon für Platon bedeutet μιμεῖσθαι sich einem andern in Stimme und Gebärde (σχῆμα) nachbilden, d. h. ihm ähnlich werden (Polit. 393 c 5–6).

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Und genau darum, weil der absolute Schriftsteller bei der Schöpfung Wort und Handlung vereinte,194 betont Hamann so sehr die rhetorische actio (hypokrisis)195 und bildet er den charakteristischen Begriff der »Autorhandlung«.196 Alles andere als ein naiver Biblizismus ist also diese Ausrichtung der Hamannschen Lektüre auf die Bibel.197 Sie war ihm sein Hen, weil sie ihm das Pan erschloß.198 Die Bibel ist nicht nur in dem äußerlichen Sinn ein »Buch der Bücher«, dass sie in sich eine kleine Bibliothek von Schriften enthält,199 in deren Zentrum auch nicht der böse Bibliothekar von Babel im Sinne von Jorge Luis Borges steckt.200 Vielmehr war sie auch für Hamann das Buch im absoluten Sinn, das Buch der Bücher, liber instar omnium, auf das alle anderen Bücher zu beziehen und hinzuordnen sind. So konnte Hamann das eine Verbum Dei in der copia verborum

194 N II, 200,2f.! 195 Vgl. z. B. N II,16,17f.; 247,15f. (vgl. auch 255,20); ZH II, 69,10f. und V 25,17–19. Ähnlich schon Klopstock: »Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Action, in welche sie unsre Seele setzt« (Gedanken über die Natur der Poesie. In: Sämmtliche Werke. Bd. 10. Leipzig 1856. S. 216). Bei Paul Valéry kann man lesen: »Nul encore n’avait entrepris […] de donner à le figure d’un texte une signification et une action comparables à celles du texte même« (zitiert bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 314 Anm. 374) – stimmt das so für Hamann?! 196 N III, 366,5–14, vgl. N I, 128,18–29 und Unger, wie o. Anm. 177, S. 537–541.Einschlägig und belehrend immer noch die schönen Stil-Analysen bei Elfriede Büchsel: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G. Hamann (1953). Gießen / Basel 1988, passim (bes. S. 100–116; ab S. 117 und S. 202–232); cf. auch Bayer, wie o. Anm. 179, S. 41–45 u. ö. 197 Scharfsichtig urteilte Hegel: »in der Bestimmtheit des positiven Elements bleibt er der freieste, unabhängigste Geist« (Werke. Bd. 11. S. 317; vgl. 280). 198 Vgl. ZH IV, 295,21–26 und dazu ZH V, 314,21–29. Der Vergleich mit dem Gebrauch von Homers Epen ist zutreffend (s. o. bei Anm. 107). 199 Ein Beispiel für die Auffassung der Bibel als einer systematischen Bibliothek gibt Curtius. S. 322 sowie Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 23 (das Zukunftsprojekt von Novalis); vgl. aber Joh 21, 25! Über die singularische Zusammenfassung der Bücher des AT und NT zu einem Buch, vgl. ThWbNT 1, 615,5–15 u. Anm. 13, sowie zum umgekehrten Vorgang (Buch = Bibliothek), ebd. 616,1 u. Anm. 3. Über den Zusammenhang der spezifischen Singularität des einen Bibelbuches, die für die Ausbildung der Buchmetapher überhaupt ausschlaggebend war, mit der Vorstellung der Welt als einer Bibliothek in Bänden und Heften vgl. Blumenberg. S. 35. Auch Hamann kann die Schöpfung als Gottes Bibliothek ansprechen: N II, 349,7; s. die folgende Anm. 200 »Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) […] Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit […] kann kein denkender Verstand zweifeln. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar, mag ein Werk des Zufalls oder böswilliger Demiurgen sein; das Universum […] kann nur Werk eines Gottes sein« (Die Bibliothek von Babel. In: Fiktionen. Werke, wie o. Anm. 64. Bd. 5 (1992). S. 67f. Hier hat seinerzeit U. Ecos Roman Der Name der Rose angeknüpft. Vgl. Jürgen Blasius: Die Lesbarkeit des Unlesbaren. Zu J. L. Borges’ »Die Bibliothek von Babel«. In: V.Bohn: Romantik. Literatur und Philosophie (Internationale Beiträge zur Poetik 1). Frankfurt a.M.1987 (ed. Suhrkamp NF 395). S. 356–377. Vgl. auch o. Anm. 47.

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aller Literatur wiederfinden und gleichsam den Logos spermatikos der frühchristlichen Apologeten ins Literarische übersetzen. Seine Maxime als nahezu universeller Leser und als Autor lautet daher: Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn (N I, 243,18).201

So legt Hamann 1Petr 4, 11a aus: »Si quis loquitur, quasi sermones Dei«! Und ehe er in diesem Sinne schreibt und davon seinen Stil durchdringen läßt,202 liest er dieser Maxime gemäß. Denn im wörtlichen Sinne ist die Bibel, besonders Alten Testamentes, für ihn ein lebendiges Geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Literattur im Himmel, auf und unter der Erde – – (N III, 311,5–8).

Weil alle Schriftsteller auf Erden nur den Text des einen Schriftstellers im Himmel variieren und fortschreiben können, lautet Hamanns theologische Lektüreerfahrung, die zugleich eine theologische Literaturtheorie einschließt: »Jedes Buch ist mir eine Bibel« (ZH I, 309,11).203 Das heißt doch wohl:204 eine 201 Nach Bolingbrokes Empfehlung kann Hamann allerdings auch antike Mythologie und Geschichte als »ein poetisch Wörterbuch« ansehen (N II, 65,9). Shakespeare verweist auf seine eigenen Verse als eine »Redekunst« (Übersetzung Stefan George): »O, let my books be then the eloquence« (Sonett 23). Jean Paul schließlich fordert: »voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen« (Vorschule der Ästhetik. 2. Abt. 12. Progr. (Über den Roman). § 69. In: Werke (N. Miller) Bd. 5. München 41980. S. 250). In der von Hamann geliebten Vorrede auf den Psalter redet Martin Luther 1528 von diesem als einer Art Sprachlehre des Glaubens, vgl. WADB 10/1,100–103 (bes. 102,23–27). 202 Die eigentümliche Konsequenz: »Schreiben als Form des Gebetes« findet sich erst bei Franz Kafka formuliert. In: Nachgelassene Schriften und Fragmente II (in der Fassung der Handschriften). Hg. von J. Schillemeit. Frankfurt a.M. 1992. S. 354; vgl. Kafkas Aussage, »daß Schreiben meine einzige innere Daseinsmöglichkeit ist« (Briefe an Felice. Frankfurt a.M. 1982 (Fischer TB 1697). S. 367 (20. 4. 1913); ähnlich ebd. S. 407 (21.6. 1913)). Hier liegt nicht eine Säkularisierung vor, wie umgekehrt Kafkas Texte auch nicht einfach Ausdruck seiner Auseinandersetzung mit der Religion seiner Väter sind; viel eher scheinen für ihn auch alle religiösen Probleme im Kern literarische zu sein. 203 Vgl. Novalis: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel« (Blütenstaub. Frgm. 102. In: Schriften (Samuel). 2. Bd. S. 457). Vgl. auch: »Jedes Menschen Geschichte soll eine Bibel seyn – wird eine Bibel seyn« (ebd. 3. Bd. S. 321). Karl Barth schreibt: »Im Blick auf diese in der heiligen Schrift schon gegenwärtige Zukunft jedes menschlichen Wortes wird man wohl auch Homer, Goethe, ja auch die Zeitung etwas anders lesen«. In: Die Kirchliche Dogmatik. Bd. I/ 2. Zürich 1938. S. 523; vgl. S. 538. In der Sache entspricht das Hamanns theologischer Literaturtheorie. 204 Die Bibel bleibt unbedingter Maßstab; denn Hamann dürfte seine Beschämung in London nicht vergessen haben, alle seine Bücher »gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben« (N II, 40,15–17; vgl. S. 39f. und N II, 19,21–28). Der alte Topos: »Die Sänger lügen viel« (Aristoteles. Met. A 983 a 3; nach Solon, Frgm. 29; vgl. Poet. Ab 1460 a 18; Platon, Polit. 605 a2 – c4 und Augustin, De ord. II, 14,40 (PL 32,1014)) gilt auch bei Hamann: »Alle Schriftsteller sind Lügner« (N IV, 457,24f; vgl. Ps116, 11 und 58, 2; s. o. Anm. 11 und u. bei Anm. 217) wie später

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Abschattung des absoluten Buches, eine Abwandlung und »Lesart« des Grundtextes von Welt und Menschenleben, wie er in dieser »göttlichen Aeneis« (Luther) kodifiziert ist. Bekanntlich hat die Romantik das umgedreht und in einem hybriden Bibelprojekt es als höchste Aufgabe der Schriftstellerei erklärt, eine neue und endgültige Bibel zu schreiben, in der alle Lebenswirklichkeit versammelt sein werde.205 Hier tritt an die Stelle des großen schöpferischen und schriftstellerischen Genies (ZH II, 446,13f.) die sich verabsolutierende sogenannte Kreativität des religiösen Subjektes.206 Ganz anders Hamann, der von der unüberholbaren Kondeszendenz Gottes aus dachte, einer Selbstvergegenwärtigung des Absoluten als der Bedingung unseres mimetischen Tuns. Will er im Umgang mit der Weltliteratur zwar wie Photius im Gefolge des Heiden-Apostels Paulus, »alles unter den Gehorsam Christi gefangen nehmen« (2Kor 10, 5) und das »bis auf die Heydnischen Floskeln und Phrases aus«-dehnen (N II, 172,13f.),207 so bleibt das – weit entfernt von jedem theologischen Imperialismus – doch stets der Grenzen endlicher Lektüreund Rezeptionsfähigkeit bzw. der geschöpflichen Beschränktheit, einen Text total zu konstituieren, eingedenk. Wenn der Magus die schönen Geister liest, dann plündert der Schriftsteller Kabinett und Bibliothek, verstümmelt Bücher und Gemälde, um ein Kind des Himmels mit Lumpen zu kleiden (N II, 342/43).208

Lesen heißt hier also, die Spuren aufzulesen,209 die sich in aller Literatur von der Wahrheit des einen Schriftstellers finden, des »Poeten am Anfange«.210

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noch für Nietzsche (vgl. Werke (Schlechta). Bd. 2. S. 382 u. 638 und Bd. 3. S. 1293), und wird für Hamann nur durch le mot propre des wahren Schriftstellers eingeschränkt (ebd.). Genaueres bei Blumenberg, wie o. Anm. 12. S. 240–246 und 268–271; außerdem vgl. Hermann Timm: Die heilige Revolution. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel. Frankfurt a.M. 1978. Bes. ab S. 159. »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte« (Fr. Schleiermacher: Reden über die Religion (1799). Urauflage S. 122). Ganz anders Luther, der sich »ein new Testament machen« nur zutraut in Fortschreibung der hl. Schrift; vgl. WA 21, 235,9–11 u. 33–35. Anders steht es freilich mit so etwas wie einem »Dekalog«; vgl. WA 39/1, 47,27f. (Th. 53). Vgl. die starken Aufstellungen Luthers über das Zeugnis aller Kreaturen und der Philosophie für Christus, in einer Disputation von 1539 (WA 39/II, 15,17–16,l). Zum Beute-Motiv vgl. das Motto der Aesthetica aus Ri 5, 30 und N III, 365,15–366,4 mit Act. 7, 22. Die Rede von »Lumpen«, die doch zum Heil dienen, begegnet drastisch N I, 5 (vgl. ZH I, 341,13–16; IV, 7,32–34 und V, 314,24–29). Ähnlich berichtet Thomas von Celano, dass der hl. Franz von Assisi als Grund dafür, warum er jeden beschriebenen Papierfetzen von der Erde auflese und das sogar im Falle heidnischer Schriften, angegeben habe: »litterae sunt, ex quibus componitur gloriosisssimum Dei nomen« (Vita prima S. Francisci Assisiensis.I, 82 (c. 29); vgl. Curtius. S. 323). Borges weiß etwas Entsprechendes von Cervantes zu berichten (Vom Bücherkult. In: Inquisitionen. Werke, wie o. Anm. 64. Bd. 7 (1992). S. 122). Vgl. über die Fetzen eines zerrissenen heiligen Buches bei Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949 (Manesse). S. 809.

Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos

VI.

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Eschatologische Autorschaft

Versuchen wir, uns das Konzept von Gott als Schriftsteller und der Welt als seinem Text durch exemplarische Einblicke in eine der Hauptschriften Hamanns, die Aesthetica in nuce von 1762, noch etwas näher zu bringen. 1. Auch hier heißt es, die Schöpfung »geschah durchs Wort« (N II, 200,2f.).211 Darum ist der göttliche »Urheber« von allem, was ist,212 in Wahrheit »der kräftige Sprecher« gemäß Ps 33, 9 (N II, 200,7). Das qualifiziert die Schöpfung spezifisch. Denn dass Gott durch das Wort und nichts ohne das Wort schafft (Joh 1, 3)213 bedeutet nicht, er rufe wie durch einen Zauberspruch etwas aus dem Nichts hervor, sondern dass Gott das Geschaffene als von ihm Gedachtes und Ausgesprochenes existieren läßt. Das Geschöpf hat sein Sein im Wort, als Rede Gottes. Erschaffen heißt sprechend hervorbringen, und darum greift Hamann hier den griechischen Doppelsinn von poieistai auf,214 und nennt Gott den »Poeten am Anfange« (N II, 206,20) – eine Formel zwischen Platon und Whitehead.215 210 Das gilt auch für die Rhapsodie in kabbalistischer Prosa (N II, 217,2), die (Literar-)Ästhetik Hamanns. Denn der »Rhapsodist hat gelesen […] gedacht« (N II, 217,7) und ist derart einer der ἑρμηνέων ἑρμηνεῖς, wie es unter Bezug auf Ion 535 a heißt (ebd. Z. 20; nach Ion 530 c ist der Rhapsode ein hermeneus für die Gedanken der Dichter); er ist also ein Ausleger der Ausleger von »Lesarten« (vgl. N II, 203,17–204,l). Wie Gott endgültiger »Ausleger« der philosophischen Lesarten der Natur und der gottesgelehrten Lesarten der Schrift ist (ebd.), so ist sein großer Apostel »hellenistischer Weltweisen und talmudischer Schriftgelehrten« (N II, 200,9f; vgl. Röm 11, 13 u. Act 22, 3) ein hermeneus der Stimme(n) Gottes (vgl. Clemens Alexandrinus: Protreptikos IX, 87,4). Der Rhapsode indes hat »angenehme Worte gesucht und gefunden, treulich angeführt« bzw. »weit hergeholt, und von ferne gebracht« (N II, 217,7f. u. 9f.; vgl. Sprüche Salomos 31, 14 mit N II, 101,20). Das stimmt wiederum dazu, dass nach Platon οἱ δὲ ποηταὶ οὐδὲν ἀλλ᾽ ἢ ἑρμηνεῖς ει᾿σιν τῶν θεῶν (»die Dichter aber sind nichts anderes als Hermeneuten der Götter«), (Ion 534 e; vgl. anders Joh 1, 18! Nach Euseb ist Christus, der einzige Sohn hermeneus des Vaters (De eccles. theol. II, 22); vgl. Bader, wie o. Anm. 106, S. 237 und zu diesem Thema: Jean Pépin: Die frühe Hermeneutik. Worte undVorstellungen. In: V. Bohn (Hg.), Typologie (Intern. Beiträge zur Poetik 2), Frankfurt 1988 (ed. Suhrkamp NF 451). Ab S. 97. 211 Hamann kombiniert an dieser Stelle den Unterschied von Erschaffung der Welt und der des Menschen mit dem Unterschied von Epik und Dramatik, vgl. ebd. 212 Vgl. N II, 198,4 und 204,7. Zum »allmächtigen Sprecher« vgl. schon Luther, WA 49, 405,27. 213 Vgl. dazu Joachim Ringleben: Das philosophische Evangelium. Tübingen 2014. S. 32–39 (HUTh 64). 214 Zum Verbum ποιέω und seinen Ableitungen vgl. den Artikel von Herbert Braun im ThWbNT VI, 456–483 sowie überhaupt Hans Robert Jauss: Poiesis. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1977. 41991 (stw 955). Kap. A.5. S. 103–124. Poiein kann sowohl »machen« (facere) wie »schaffen« (κτίζειν, creare) bedeuten. Im Griechentum herrscht eindeutig die Bedeutung machen, herstellen vor. Das gilt sowohl für den Dichter (poietes; seit Hesiod und Pindar belegt. Dichter sind künstlerische Macher, Schaffende, vgl. Aristophanes, ran. 96 u.103; Platon, Phaidr. 61; Symp. 205 b 8 – c 9; Polit. 393 c 5–6; Herod. II 53 u. ö.; vgl. auch Aristototeles, Poet.1447 b 13–16; 1451 b 27–30 (zur Mimesis: 1448 a)) wie

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Damit ist die protologische Einheit von Schöpfung und Dichtung, von Theologie und Ästhetik ausgesprochen, die Hamanns ganze Schrift zum Thema hat. Freilich bemüht er nicht das deutsche Wort »dichten« und seine Derivate für

für den göttlichen Verfertiger der Welt (Demiurg): ποιητὴς καὶ πατὴρ τοῦδε τοῦ παντός (»Urheber und Vater dieses Weltalls«, Tim. 28 c; vgl. 76 c; Chalcidius: opificem genitoremque universitatis, Plat. Lat. IV, 21). Es wird weithin als zutreffend angesehen, dass Poiesis bei den Griechen gar nicht »Schöpfung« (sc. aus dem Nichts) bedeutet habe; bei ähnlich lautenden Stellen (z. B. Symp. 205 b 7–8) ist nur gemeint, etwas, das vorher nicht da war, überhaupt ins Sein treten zu lassen – ohne Reflexion darauf, ob absolut oder nur relativ (z. B. Soph. 219 b 4; vgl. in diesem Sinne Curtius. S. 155f.; Lieberg, wie o. Anm. 26, S. 16lf. u.163f.; May, wie o. Anm. 23, S. 7f.). Immerhin ist diese Auffassung zumindest bei einer Stelle wie Soph. 265 c nicht so eindeutig auszumachen; zur Annäherung an einen Schöpfungsbegriff im strengen christlichen Sinn vgl. den Kommentar von Helmut Meinhardt zum Soph. (Stuttgart 1990. Reclam 6369), S. 251 (Anm. 222) und S. 242 (Anm. 175)! Für die biblisch bestimmte Tradition ist maßgeblich geworden, dass LXX in Gen.1, 1 bara mit ποιεῖν übersetzen: ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ Θεός, wenngleich biblisch Poietes als Schöpfer nicht belegt ist (Braun. S. 458,18f.), aber sehr häufig bei Philo vorkommt (ebd. S. 459,22–460,6; übrigens auch die Einheit von λέγειν und ποιεῖν, ebd. S. 459; 481). Im NT wird Gottes Schaffen nur höchst selten mit poiein ausgedrückt (mit Stellenangaben dazu Braun. S. 460,50–461,4; 461,45f.; Poietes kommt einmal für Dichter vor: Act 17, 28!). Findet sich auch die Bedeutungseinheit von poiesai und ktizai z. B. bei Gregor von Nyssa (Contr. Eun. IV; PG 45, 656 D; zur Schöpfungsthematik vgl. Ekkehard Mühlenberg: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Göttingen 1966. S. 135–141), so hat doch Justin den (quasiplatonischen) Ausdruck für Gott: ποιητὴς παντῶν (z. B. Apol. I, 20, 2; ähnlich in morgenländischen Symbolen, vgl. Braun. S. 462,2f.). Traditionsbestimmendes Gewicht bekommt die Ausdrucksweise erst durch das Symb. Nic.: ποιητὴν οὐρανοῦ καὶ γῆς bzw. factorem coeli et terrae; im Anschluß an Gen 1, 1 (LXX); vgl. BSLK 26, 31. Von hier aus konnten Poeten und Poesie auch legitimiert werden. So wendet sich ein benediktinischer Abt im Spätmittelalter gegen die Verächter der profanen Literatur (vgl. dazu o. Anm. 91): »Crimen est apud vos legisse poetam, carmen recitasse scelus […] Sed dicite mihi, qui hoc nomen poeta tantopere contemnitis, si, quid sit poeta, scitis […] deum vocari poetam etiam apud christianos [Hinweis auf das Symb. Nic.: poetam coeli et terrae, Synod. B2]. Nunc ergo si malum est esse poetam, quare hoc nomen deo ascribitur? Sed […] poeta honestissimum vocabulum est. Nam poeta graece factor interpretatur latine. Non ergo omnis poeta mendax« (zitiert nach Berthold Frank, Ein Entwurf zu einer Kapitelansprache des Abtes Johannes Trithemius aus dem Jahre 1496. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 80 (1969, H. 111–lV). S. 181. Ich verdanke diese Stelle Herrn Kollegen K. Elm (Berlin). Wurde dem Mittelalter folgend poiein (vielleicht wegen mangelnder Griechischkenntnis) zunächst nur als fingere oder facere, also nicht als creare verwendet (vgl. Tigerstedt mit Bezug auf Petrarca, Boccaccio, C. Salutati, wie o. Anm. 79, S. 468f.), so ist dann – wohl vorbereitet durch die Analogisierung von creare und gignere (d. h. produktiver kosmischer Physis und künstlerischem Hervorbringen) etwa bei Zeno (nach Cicero: De nat. deor. 2, 57, vgl. Lieberg, wie o. Anm. 26, S. 179) – bei den Poetotheologen der eigentlichen Renaissance wie Chr. Landino poiein als zwischen creare und facere schillernd bzw. beides einschließend gebraucht (Zitate bei Tigerstedt. S. 458f. mit Anm. 26; S. 469f.; S. 478 Anm. 21 u. 23 sowie Curtius. S. 493–498). Tigerstedt kann diese Entwicklung resümieren: »the linguistic ambiguity of ποιέω becomes an argument for elevating the poet to a middle station between God and man« (S. 459). Ein schöner Beleg findet sich in der Bayerischen Chronik von Johannes Aventin (1526. I, cap.187): »›Poet‹ ist ein kriechisch wort, ist in unser sprach ›schöpfer‹ oder ›macher‹, haist einen, der etwas beschaft

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Gottes Tun.216 Wo er von dem »alten Dichter« spricht (N II, 198,23), da meint er den Erfinder und Verderber von Anfang, den Vater der Lüge (Joh 8, 44), und wendet so das platonische: Alle Dichter sind Lügner.217 Poiein und Poiesis dagegen bringen die Einheit von Sprechen und Machen als göttliches Privileg zum Ausdruck.218 Damit soll freilich zugleich das Tun aller Poesie auf den absoluten Poeten zurückbezogen werden, und indem Hamann die beiden Traditionen von Gott als Poietes (Schöpfer) und vom schöpferischen Poeten zusammenbringt, sichert er neu den unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch.219

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und aus nichtig etwas macht, wie gots des almechtigen art ist in peschaffung der welt«. In: Johannes Turmair’s genannt Aventinus Sämmtliche Werke, 4. Bd. München 1883. S. 422,23– 25. Aventin gibt den ersten Artikel des Credo wieder mit: »got vater, den almechtigen poeten himels und ertrichs« (S. 311) und vergleicht die Poeten mit den Propheten (S. 321; s. u. zu Hamann!). Unter Anspielung auf Hebr. 11, 3 und das Symb. Nic. (factorem visibilium et invisibilium) sowie auf Leibniz schreibt Johann Jakob Breitinger: »Ein jedes wohlerfundenes Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme poietou, eines Schöpfers zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet« (Critische Dichtkunst. Zürich und Leipzig 1740. S. 60). Ähnliches kann man auch bei Johann Jakob Bodmer lesen: »Die Art Erschaffung, da das Mögliche durch die Kraft der Phantasie vollfüret wird, kömmt dem Poeten kraft seines Amtes vornehmlich zu, nach welchem er ein Schöpfer, poietes, ist« (Critische Betrachtungen Über die poetischen Gemählde der Dichter. Zürich und Leipzig 1741. S. 573). Vgl. Tim. 28 c (zitiert o. Anm. 214) und Alfred N. Whitehead: Process and Reality. New York (1929) 1977. S. 618; dazu Hans Friedrich Geisser: Poet der Welt und Schöpfung aus dem Nichts. In: NZSysTh 32 (1990). S. 166–180 sowie Roland Faber: Gott als Poet der Welt. Darmstadt 2003. Nadler stellt fest, die Wörter dichten, Dichtkunst und Dichter seien bei Hamann relativ selten zu finden (N V1, 95). »Dichten« ist meist mit erdichten identisch oder hat die Bedeutung von: vorstellen, imaginieren, fabulieren, cf. N II, 99,29; 116,3; 357,7; 365,18; N III, 78,13; 190,7; 294,10. »Dichter« wird von Klopstock gesagt (N IIl, 232,10) oder zitierend (N II, 148,26); sonst heißt es Poet (vgl. N I, 241,22; N Il,199,3), und »Dichtkunst« kommt kaum vor (im Lebenslauf N II, 14,10). Einmal wird Luther wegen des Chorals Vom Himmel hoch als »glücklicher Dichter und scharfsinniger Kunstrichter« gepriesen (N II, 139,16f.; vgl. ZH I, 285,20–30); zum Terminus »Kunstrichter« an dieser Stelle vgl. Büchsel, wie o. Anm. 6, S. 198 Anm. 13. N II, 115,9f. ist allerdings von den (Theologen als) »Kindern unseres schriftstellerischen, gleissnerischen, unzüchtigen Geschlechts« die Rede. S. o. Anm. 204. Hans-Georg Gadamer bemerkt zum Begriff Poet überhaupt: »Durch nichts als durch Worte etwas dasein zu lassen, erfüllt offenbar das Ideal des Herstellens. Denn das Wort ist von unbeschränkter Macht und idealer Perfektion«. In: Gesammelte Werke. Bd. 8. Tübingen 1993. S. 82. Gemäß der Formel des 4. Laterankonzils (1215): »quia inter creatorem et creaturam non potest similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda« (Denz. 806). Hamanns Formel von dem »unendlichen Mißverhältnisse des Menschen zu Gott« (N III, 312,36f.; vgl. ZH V, 329,20–29) scheint über Kierkegaards Krankheit zum Tode (In: Gesammelte Werke (Hirsch). 24. Abt. S. 123, 188, 99 u. ö.) als der »unendliche qualitative Unterschied von Gott und Mensch« zum frühen K. Barth gelangt zu sein.

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Auch der hochberühmte Satz der Aesthetica: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts« (N II, 197,15) meint darum zutiefst die Vater-Sprache schöpferischen göttlichen Redens.220 Darum sind die grundlegenden Zeichen »poetisch oder kyriologisch« (N II, 199,6)221 und hat Christus wie ein Dichter in »Gleichnissen« (Parabeln) geredet, die älter sind »als Schlüsse« (N II, 197,17).222 Eine theologische Ästhetik ist also möglich, weil das große schöpferische Genie223 der absolute Autor ist.224 Gott der Schriftsteller – das ist der sich selbst Offenbarende. Die Offenbarung seiner selbst in seinem ewigen Wort erfüllt das letzte Sehnen des Menschen nach seinem schöpferischen Ursprung, es erfüllt den großen Wunsch der logos-haften Kreatur: »Rede, dass ich Dich sehe« (N II, 198,28).225 Für das sprach-sinnliche Wesen Mensch kann dieser Wunsch nach der Herrlichkeit des unsichtbaren Gottes aber nur durch eine »sinnliche Offenbarung« erfüllt werden (N II, 198,1),226 und darum ist der Menschgewordene, die ει᾿κῶν τοῦ θεοῦ ἀοράτου (Kol 1,

220 In der Wiedergeburt im Geiste werden wir aus dem »Dialekt, in dem wir geboren wurden« (Act 2, 8) von Gott neu in seinem Wort gezeugt (Jak 1, 8). Luther redet vom Wort Gottes als matrix, vulva, uter (WA 10 I/1, 114; vgl. Jes 46, 3 und WA 5, 505,33; 42, 146,25f.). Hamann nimmt das mit Wendungen wie »Gebärmutter« (der Begriffe, des Redegebrauchs) auf (vgl. N III, 31,21; N II, 97,23; ZH V, 328,28, bes.: N III, 239,23f.!). Zur Dichtung ganz am Anfang nach Vico, vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 171. 221 Die »Wunder der Natur« und »Originalwerke der Kunst« werden auch N II, 140,26–32 als »Zeichen« des Göttlichen angesprochen. 222 Vgl. ZH I, 394 (zitiert o. Anm. 44). 223 Vgl. N II, 140,30–32 mit 294,26 (créateur); 294,33 u. 203,18 (Autor). Vgl. auch N III, 366,1. Da zum Genie »Herablassung« (N 1, 362,3) und »Selbstverleugnung« (363,10) gehören, kann auch Christus als Genie bezeichnet werden (N II, 214,26; 104,32; 294,26: Médiateur). Vgl. den christologischen Grundsatz theologischer Ästhetik: ZH II, 168,23f.! Zur Geniefrage bei Hamann vgl. Hans Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu J. G. Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Tübingen 1970. S. 107–143 und Jochen Schmidt, Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. Darmstadt 1985. S. 96–119. Zum génie créateur vgl. o. Anm. 52 (Diderot); auch von Maler Müller wird Gott als »das größte Genie« bezeichnet (Brief vom 23. 10. 1776; zitiert bei Walzel, wie o. Anm. 80, S. 25). 224 N II, 203,18 u. 294,33; vgl. auch »Urheber« (s. o. Anm. 212). Jeder menschliche Autor bleibt ein »Säugling der Schöpfung« (vgl. N II, 201,1 mit 374,5f.). Zwar kann man Mensch sein, ohne auch »Autor« sein zu müssen (vgl. N II, 201,8f. mit 78,20–27; umgekehrt: ZH III, 98,28– 30!), aber »den Schriftsteller ohne den Menschen denken sollen« (N II, 201,10; vgl. ZH II, 415,22f.), das ist eine »dichterische Abstraktion« (ebd. Z.11) im Sinne jenes »alten Dichters« (N II, 198,23), wenn man an den Schriftsteller denkt, der zugleich Mensch geworden ist (N I, 5). Zum absoluten Autor vgl. R.W. Emerson; zitiert o. im Exkurs. 225 Zur Interpretation dieser Hamannschen Lieblingsformel vgl. den voranstehenden Aufsatz in diesem Bande. Diese Formel hat wie Hamanns ganze Ästhetik und Poetik eine eschatologische Ausrichtung: auf »Autopsie« (1Kor 13, 12); vgl. dazu ZH IV, 5f und N III, 305,13–19. 226 N I, 11,14–20 wird die Notwendigkeit einer sinnlichen Offenbarung auch mit der »Hartnäckigkeit« unserer verdorbenen Natur in Verbindung gebracht. Auch für B.H. Brockes ist der Mensch von Gott »wunderbarlich sinnlich« gemacht, damit er im großen Buch der Natur

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15), die Bedingung, unter der allein wir fähig sind, »seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen« (N II, 207,3–5).227 Christi Doppelnatur entspricht der der Offenbarung selber, die für uns in Gottes Reden und Schreiben als einer »sinnlichen Offenbarung« des Unsichtbaren besteht (vgl. N II, 198,5).228 Das stiftet den Bezug Gottes zur Aisthesis: Wie die »Natur durch Sinne und Leidenschaften (wirkt)« (N II, 206,1), so gilt von uns: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder« (N II, 197,22). Gottes uns zugut sinnliches Wort legt darum seine ästhetische Doppelnatur zweifach aus: in der Bilderschrift der Schöpfung229 und der Buchstabenschrift der Bibel. Gottes eines, ewiges Wort ist vom sprachsinnlichen Menschen nur als zweifaches, aber doch zwei-einiges Reden zu vernehmen.230 Gottes erstes und grundlegendes Reden ist die Schöpfung, es ist ein Reden in der Dimension der Sinnlichkeit: die Schöpfung […], die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme (N II, 198,29– 32).

Gemäß Ps 19 (2–5) versteht Hamann die geschaffene Natur als eine »poetische« Bilderrede. Das sinnlich Erfahrbare wird hier zur Sprache: Jeder Eindruck der Natur in dem Menschen ist nicht nur ein Andenken, sondern ein Unterpfand der Grundwahrheit: Wer der HERR ist (N II, 207,5–7).

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lesen kann; zitiert bei Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Kronberg/Ts 21975. S. 285. Vgl. 1Petr 2, 3; Tit 3, 4; Ps 34, 9; 1Joh 1, 1 und N II, 74,3–5. Nach N I, 157,39–158,3 redet die hl. Schrift in Gleichnissen, weil unsere Erkenntnis sinnlich und auf Bilder angewiesen ist; vgl. auch N I, 112,23–25. Dass Malerei »älter« ist als die Schrift (so wie anschauliche Gleichnisse älter als abstrakte Schlüsse sind) (N II, 197,16), dürfte – außer mit Hamanns biographischer Erfahrung: N II, 16,13–33 – mit der Vorgängigkeit der Schöpfung zu tun haben, wenngleich die Entgegensetzung nicht schlechthin gilt; Malerei kann auch als älteste Schrift aufgefaßt werden (N III, 286,20f.), und Hamann kennt von J. G. Wachter den Begriff pictura loquens (vgl. N II, 409 (24) mit 199,21–24 u. 36f.). Nach Plutarch findet sich bei Simonides: ποίησις ζῳογραφία λαλοῦσα (De gloria Athenies. 3, 346; vgl auch De audiendo 18 A: φθεγγομένη); kritisch dazu Lessing in der Vorrede zum Laokoon. Eine Entsprechung von Malerei und Dichtung ist seit De arte poetica des Horaz vertraut und wird z. B. bei Alanus de lnsulis aufgegriffen, vgl. Rüfner, wie o. Anm. 23, S. 263 und das bei Rothacker abgedruckte Gedicht von Tomaso Campanella (wie o. Anm 31, S. 99 (P. 25)). Die Doppelung von Sprache der Dinge und der Offenbarung findet sich auch bei dem Renaissance-Denker Campanella: »Deum, qui loquitur nobis, aut res facta exprimendo, aut voce relevando. Homines vero omnes mendaces [!] in libro Dei, qui est Mundus, vel ab ore Dei, ut divini scriptores« (Univ. Philos. I, 1; Summa; zitiert bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 82 Anm. 72).

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Gott kommuniziert mit dem Menschen durch seine Kreaturen und ihr gegenseitiges Verhältnis; er läßt sein Wort durch die Geschöpfe und ihr Sein weitersagen, so dass es die Geschöpfe vernehmen können, und das All ist diese ununterbrochene, unendliche Sequenz göttlichen Redens und Anredens. Allein, Reden, dass es sichtbar wird und dass der unsichtbare Redende sich sichtbar macht – das bedeutet zu schreiben.231 Der Wunsch, Gott reden zu hören, um ihn zu sehen, d. h. sinnlich wahrnehmen zu können, wird auf eine zweite Weise erfüllt. Indem Gottes Reden als Sichtbarmachen seiner Sprache als solcher sich ereignet, gilt: das Wort ward Schrift.232 Zum »Buch der Schöpfung« (N II, 204,4) kommen »die Bücher des Bundes« (Z. 5), in denen »GOTT durch Menschen dem Menschen« seinen eigentlichen Willen »hat offenbaren wollen« (vgl. Z. 6f.). Bedient sich die Schöpfung der Sprache der Sinnlichkeit, so Gottes Willensoffenbarung in der Schrift der Sinnlichkeit der Sprache.233 Beides zusammen

231 Der romantische Naturphilosoph Johann Jakob Wagner behauptete wegen der Sinnlichkeit der Sprache: »erste Sprache ist also Schrift« (zitiert nach Rothacker, wie oben Anm. 31, S. 122 (P. 91), was mit Derrida zu vergleichen wäre. Schon Klopstock dichtete 1799: »Auch Gott spricht. Von der Sprache des Ewigen / Erblickt das Auge mehr, wie das Ohr von ihr / Hört« (Wißbegierde. In: Sämmtliche Werke. 5. Bd. Leipzig 1856. S. 11; weitere Stellen zur Sprache Gottes bei Klopstock bietet G. Kaiser, wie o. Anm. 226, S. 72f., 118f. u. 308); vgl. entsprechende Aussagen in B.H Brockes Gedicht Die Welt, abgedruckt bei Rothacker. S. 105f. Tiefsinnig ist Klopstocks schönes Bild von den den unaussprechlichen Gott ankündigenden Worten als einer »Morgenröte« (Das Schweigen. Ebd. S. 35f., 4. u. 5. Str.). Wie aus Anspielungen auf Hamann gewoben, wirkt dieStelle bei Friedrich Schlegel: »ich bin nun einmal ganz und gar ein Autor. Die Schrift hat für mich ich weiß nicht welchen geheimen Zauber, vielleicht durch die Dämmerung von Ewigkeit, welche sie umschwebt. Ja, ich gestehe Dir, ich wundre mich, welche geheime Kraft in diesen todten Zügen verborgen liegt; wie die einfachsten Ausdrücke […] so bedeutend scheinen, daß sie wie aus hellen Augen blicken, oder so sprechend wie kunstlose Accente aus der tieffsten Seele. Man glaubt zu hören, was man nur lieset […] Die stillen Züge scheinen mir eine schicklichere Hülle für diese tiefsten unmittelbarsten Aeußerungen des Geistes als das Geräusch der Lippen. Fast möchte ich in der etwas mystischen Sprache unseres H[amann ? Herder?]. sagen: Leben sey Schreiben; die einzige Bestimmung des Menschen sey, die Gedanken der Gottheit mit dem Griffel des bildenden Geistes in die Tafeln der Natur zu graben« (Über die Philosophie. An Dorothea. In: Athenaeum, 2. Bd. 1. St. (1799; ND 1960). S. 3. Zur Differenz und Einheit im Verhältnis: mündlich – schriftlich vgl. den Beitrag von Hans Graubner in: Acta 1992. S. 277–304. 232 Zum Verhältnis von Lesen und Schreiben bei Vico vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 173f. 233 In ästhetisch-stilistischer Wendung spricht Moses Mendelssohn vom »Mittel eine Rede sinnlich zu machen« (Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: Philosophische Schriften. 11. Teil (1761). Ab S. 67 bzw. (verb. Aufl. 1771) II, ab S. 95); vgl. dazu dazu Hamann N 111, 364,29f. und I. Kant, KdU § 49. Bekannt ist Herders Definition lyrischer Dichtung als »sinnliche vollkommene Rede« (Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 32. S. 18; vgl. Bd. 3. S. 138), die sich an die o. zit. Formel Baumgartens anschließt (s o. Exkurs) Noch Johannes Bobrowski hat sich 1960 in einem Vortrag über moderne Lyrik auf Herders Programmformel berufen; vgl. Roland Rittig: Zur Bedeutung der klassischen Odentradition für Johannes Bobrowski. In: Erworbene Tradition. Hg. von G. Hartung. Berlin 1977. S. 172.

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gehört ist die eine Rede Gottes für den sprachsinnlichen Menschen.234 Und richtig vernommen wird Gottes zweieiniges Wort nur im Hinblick auf die Einheit des Autors: Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung! (N II, 204,7–10).

In der Unreinheit jedes Dialektes diese eine Stimme zu hören,235 die coincidentia oppositorum von »unendlicher Ruhe« und »innigster Zuthätigkeit«,236 von reinem »Nichts« und »unendlicher Kraft, die Alles in Allem erfüllt« (vgl. ebd. Z.10– 14) wahrzunehmen, das erst heißt im vollen Sinne, den Autor und Schriftsteller zu gewahren, der der lebendige Gott selber ist.237 2. Doch mag es dies lebendige Schöpfungsbuch geben und mögen wir sogar darin unser Leben haben, seine Lesbarkeit ist für uns entscheidend behindert, was auch mit der Sünde zusammenhängt; darüber ist nachher genauer zu reden (s. u. Abschn. VII. 2. u. 3.).238 234 Die von Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 49 Anm. 36 beigebrachte Regel des 2.Konzils von Lyon (1274): »unum esse auctorem« (Denz. 854) hat bei Augustin nur gewisse Anklänge; z. B. ist sie bei der von Blumenberg zitierten Stelle En. in Ps 45,4 (PL 36, 518 (7.) nur vorausgesetzt. In den ersten Büchern von De Gen. ad litt. (PL 34, 245–280) ist von den beiden Büchern überhaupt nicht die Rede, wie Blumenberg S. 49 (mit Verweis auf eine falsche Angabe im HWbPh behauptet (Anm. 35)). Vom Buch der Schöpfung redet die folgende Stelle bei Augustin: »At si universam creaturam ita prius aspiceres, ut auctori Deo tribueres, quasi legens magnum quemdam librum naturae rerum« (C. Faust. Man. 32, 20; PL 42, 509). Dem englischen Bischof James Butler war die Einheit des Stiles beider »Bücher« problematisch und Gott ein dunkler Autor, so dass dem Buch der Natur der Vorzug zu geben wäre; vgl. Blumenberg S. 98. 235 Vgl. N II, 198,31f. Überhaupt gilt für Hamann: »Dei Dialectus Soloecismus« (N II, 171,17); vgl. zur Wichtigkeit des Dialektes auch N II, 181,16. 236 Ein Beleg für »Zuthätigkeit« bei Johann Fischart: Geschichtklitterung. c. 5. Hg. von U. Nyssen. Darmstadt 1977. S. 93,5. Lesbarkeit bedeutet selber schon, dass es einen angeht: »Lesbares zu lesen heißt, daß der Adressat sich dem nicht verweigert. was ihn betrifft oder betreffen könnte, auch wenn er nicht mehr glauben mag, er könne gemeint sein« (Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 408f.); Lesbarkeit impliziert so etwas wie einen Kommunikationswillen, vgl. ebd. S. 123. Hamann versteht demgemäß Lesbarkeit als Anrede. 237 Zur genaueren Interpretation der erregenden Stelle N II, 204,7–14 vgl. Joachim Ringleben: Der lebendige Gott. Tübingen 2018. S. 396–398. 238 Schon 1759 schreibt Hamann an Kant: »Die Natur ist ein Buch, ein Brief […] Die Natur ist eine Aequation einer unbekanten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Punkte setzen muß« (ZH I, 450,12 u. 18–20 = Kant’s Briefwechsel, Bd. I (Akad.-Ausg. Bd. 10). S. 28; dazu s. u. Anm. 256). Das wird von Hegel in der Naturphilosophie zitiert (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. § 246 Zusatz. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 9. S. 19). Luther hatte im Unterschied dazu von Christus als dem »vocalis« bezüglich des AT gesprochen (WA 48, 701,21). Bei Herder heißt es (1774): »was soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten

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Daher gilt für die Philosophie des Menschen ebenso wie für die Theologie: Die Meynungen der Weltweisen sind Lesarten der Natur und die Satzungen der Gottesgelehrten, Lesarten der Schrift (N II, 203,17f.).

Zwar ist es des Philosophen Aufgabe, den zerstückelten Text des absoluten Autors »auszulegen« (N II, 199,lf.), – aber seine Hermeneutik ist ebenso beschränkt wie dessen Lesbarkeit.239 Auch die Bibel benötigt, will sie ein Verstehen über philologische Gelehrsamkeit hinaus freisetzen, einen Schlüssel, um wahrhaft ausgelegt werden zu können. Der von Hamann hier gebrauchte Plural »Lesarten« weist auf die Endlichkeit jeder in sich konsistenten Lektüre des unendlichen Textes und jeder zu seiner Auslegung aufgebotenen philosophischen oder theologischen Hermeneutik hin.240 Eine Lesart bezeichnet hier einerseits – als hermeneutischer Terminus – die subjektiv verschiedene Weise, den vorgegebenen Text zu lesen,241 d. h. Interpretationsversuche vorzunehmen.242 Auslegungen

gehet! Von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe – –« (Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 5. S. 585). Auch Kant redet in den Prolegomena vom Buchstabieren der Erfahrung (vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 190 u. 192 mit 195; zur »Kinderphysik«: S. 190f.; s. u. Anm. 248). Bei Schiller (Blumenberg. S. 221) und bei Jean Paul kann man Ähnliches lesen (Vorschule der Ästhetik, 1. Abt., II. Programm. § 7: die Erfahrung reißt aus dem Naturbuch nur Blätter. In: Werke (Miller), 5. Bd. S. 47). Aber schon Vico und Brockes wissen von der Behinderung der Lesbarkeit (Blumenberg. S. 175 u. 182); vgl. auch Maurice Merleau-Ponty über die Unvollendbarkeit des Menschheitssatzes (bei Blumenberg. S. 404). Anders als Hamann wendet Lichtenberg das Problem: »Wir sehen in der Natur nicht Wörter, sondern immer nur Anfangsbuchstaben von Wörtern, und wenn wir alsdann lesen wollen, so finden wir, daß die neuen sogenannten Wörter wiederum bloß Anfangsbuchstaben von andern sind« (Sudelbuch J 2154. In: Schriften und Briefe (Promies), 2. Bd. München 21975. S. 394; zur Problematik eines Natur-Alphabets vgl. die Stelle aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (l. Buch, 3. Kap), die Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 49 (R. 22) mitteilt). Wie ein Echo sowohl auf Hamann wie auf Lichtenberg (und vielleicht Kant) liest es sich, wenn S. Kierkegaard den Hiatus zwischen Tugend und Erfahrung festschreibt: »daß die Tugend nicht lehrbar sei, sofern der Erfahrung unendliche Summe wie ein Haufe von lauter stummen Buchstaben sich um so weniger aussprechen läßt, je mehr sie wächst« (Über den Begriff der Ironie. Gesammelte Werke (Hirsch), 31. Abt. (1961). S. 63); vgl. auch die Krankheit zum Tode. 24. Abt. (1957). S. 34. Umgekehrt Peter Handke in: Versuch über den geglückten Tag. Frankfurt a. M. 1951. S. 71. Wieder ganz anders steht es bei Hippel: »Ein Frauenzimmer ist ein Consonant, den man ohne den Vocal des Mannes nicht aussprechen kann« (In: Über die Ehe. 1774). Hg. von G. de Bruyn. Berlin 21982. S. 22 bzw. hg. von M. Faust. Stuttgart 1972. S. 30). Vgl. auch u. Anm. 277. Zur Motivgeschichte von Chiffre und Hieroglyphe vgl. auch Curtius. S. 350f. und Rothacker, ab S. 23. 239 Zur Sprachverwirrung in der Philosophie vgl. N I, 30,35–31,3 (Der erste Satz sollte wohl mit einem Fragezeichen schließen). 240 Mit eschatologischem Vorbehalt und unter Zitierung von 1Kor 13,9–12 heißt es bei Hamann: »Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk« (ZH IV, 6,11f.). Für Hippel war die antike Literatur die »erste Version der Natur«; in: Lebensläufe. Erster Theil. Leipzig 1859. S. 222; vgl. S. 241. 241 Dazu genauer ZH IV, 314,22–26 und N II, 209,32f. (Fn. 45) mit 208,29–209,4.

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und Satzungen in diesem Sinn sind die unausweichlichen Versuche, die vorgefundene Herrenrede in eigene Rede zu übersetzen – »aus einer Engelsprache in eine Menschensprache« (N II, 199,4f.)243 –, in menschliche Lesarten des göttlichen Textes.244 Andererseits meint Lesart hier aber auch – als philologischer Terminus – die Textvariante.245 Philosophie und Theologie bringen nur differente Lesarten des einen Urtextes hervor, bzw. er ist ihnen nur in ihren Lesarten (als den disiecti membra poetae) gegeben, und das heißt: sie schreiben den göttlichen Text von Schöpfung und Bibel nur fort, schreiben ihn weiter aus. Das Hervorbringen solcher Varianten seiner bleibt aber dem Grundtext unentrinnlich verpflichtet, und seine Ausleger bewegen sich immer noch in ihm.246 Auch für ihr Tun gilt: »Reden ist [nur] übersetzen« (vgl. N II 199,4).247 Von hier aus ergibt sich eine Möglichkeit, literarische Kultur als Variieren des unendlichen Grundtextes der Wirklichkeit zu verstehen: als eine creatio continuata, vermittelt durch die literarisch-schöpferische Tätigkeit des Menschen.248 Menschliche Poesie kann in solchem Kontext nur imitatio der absoluten sein: die Turbatverse »nachzuahmen – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen, (ist) des Poeten bescheiden Teil« (N II, 199,2f.). Von daher bestimmt sich Hamanns Stellung zu dem Satz zeitgenössischer (von Ch. Batteux bestimmter) 242 Zu möglichen falschen Lesarten des autographum codicem Dei bei Campanella vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 84 und das Zitat Anm. 75; zu Campanella überhaupt Ernst Bloch: Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance. Frankfurt a.M. 1977 (stw 252). S. 51–53. 243 Dass der ausgesprochene logos als ἑρμενεύς des gedanklichen aufzufassen ist, sagte bereits Philo Alex. (De migr. Abrah. 13, 71–73; vgl. Quod deterius 12, 40; Aaron als Hermeneut des Mose, ebd. 14, 78) und Macrobius (In somn. Scip. I, 12, 14). hermeneuein als Übersetzen ist u. a. belegt bei Clem. Alex. (Strom. I, 22, 148–149) und Justin (Dial. c. Tryphon 124, 4). Vgl. auch Xavier Tilliette: Hamann und die Engelspache. Über eine Stelle der Aesthetica in nuce. In: Acta 1976. S. 66–67. 244 Vom Streit um Lesarten der Schrift in der Natur ist in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre die Rede (1. Buch, 3. Kap.; zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 49 (R. 22)). 245 Lichtenberg meinte, dass wir das Buch der Natur »ganz ohne Varianten, ohne Dialekte vor uns« haben (Sudelbuch G 5. In: Schriften und Briefe (Promies). Bd. 2. München 21975. S. 133). Claude Lévi-Strauss war bekanntlich der Ansicht, es gäbe keinen Grundmythos, sondern nur je andere Versionen, Varianten ohne ein Original. Hier ist logisch das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem berührt. 246 Auf die kritische Bemerkung von Seneca: »Omnes itaque istos, nunquam auctores; semper interpretes sub aliena umbra latentes« (Ad Luc. IV, ep. 33, 8) hätte Hamann wohl mit Stellen wie Ps 17, 8; 36,8; 52, 2; 63, 8 und 91, 1 (Luther) geantwortet. 247 Wie für Hamann bekanntlich Reden überhaupt ein »Übersetzen« ist (N II, 199,4), so für Marcel Proust das Schreiben (vgl. Die wiedergefundene Zeit. In: Werke. Frankfurter Ausgabe (L.Keller). Bd. II/7. Frankfurt a. M. 2002. S. 294. Vgl. auch u. Anm. 251. 248 Hermeneutisch gesprochen: der Text reichert sich durch seine Lesarten selber an. Geschichtsphilosophisch hat Hegel betont, dass die Schöpfung nicht im Dasein einer Natur fertig ist, sondern sich – als vernünftige Macht des Geistes – in der von Menschen gemachten Geschichte gleichsam fortsetzt; vgl. Werke Bd.12. S. 21 u. 28 und s. o. bei Anm. 170. So wird das Buch der Natur zu dem der Geschichte; vgl. zu Bacon bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 91. Zum Thema: Geschichtlichkeit (d. h. Nicht-Ewigkeit) von Gottes Rede vgl. ebd. S. 80f.

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Ästhetik: »Poesie ist eine Nachahmung der schönen Natur« (N II, 205,20f.).249 Sie kommt – als »Muttersprache des menschlichen Geschlechtes« – dem ursprünglichen Wortlaut, dem Logos tou kyriou, noch am nächsten, indem sie »Bilder in Zeichen« übersetzt, »die poetisch oder kyriologisch seyn können«.250 Jeder Poet hat etwas vom vatis imitator (N II, 199,19. Fn. 8), denn: »Natur und Schrift […] sind die Materialien des schönen, schaffenden, nachahmenden Geistes« (N II, 210,7f.). Mit diesen Materialien nachschöpferisch umgehen heißt, Lesarten von Gottes Text generieren.251 Gott selber ist allumfassend, Proton und Eschaton: Der Poet vom Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage (N II, 206,20; vgl. 2Kor 4, 6 u. Offb 16, 5).252

Und wie er das A und das Ω ist (Offb 1, 8), so ist die Bibel Buch der Totalität, Arche und Punkt Omega, Schöpfung und Vollendung umfassend. Von dieser sprachlichen Präsenz des absoluten Poeten lebt alle menschliche Poesie, wie Hamann tiefsinnig scherzend am 1.Vers der Ilias, d. h. am Epos schlechthin, demonstriert: versucht es einmal, die Iliade zu lesen, wenn ihr vorher durch die Abstraction die beyden Selbstlauter A und Ω ausgesichtet habt, und sagt mir eure Meynung von dem Verstande und Wohlklange des Dichters. Μηνιν *ειδε θε* πηληι*δε* *χιληος (N II, 207,16–20).

Sind mit A und Ω absoluter Anfang und absolutes Ende in jedem endlichen Texte präsent, so hindert nach Hamann auch umgekehrt die Endlichkeit des natürlichen Alphabetes nicht, die Unendlichkeit alles von Gott Gesprochenen, d. h. alles überhaupt Sagbaren, Schreibbaren und Lesbaren gegenwärtig zu machen: Verlieren die Elemente des A B C253 ihre natürliche Bedeutung, wenn sie in der unendlichen Zusammensetzung willkührlicher Zeichen254 uns an Ideen erinnern, die, wo nicht im Himmel,255 doch im Gehirn sind? (N II, 203,2–5).256

249 Cf dazu auch Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen. In: Stud. Gen. 10 (1975). S. 266–283. 250 Das Kyriologische konnte Hamann außer bei J. G. Wachter auch bei William Warburton finden; vgl. den Beitrag von Ulrich Gaier in: Acta 1992. S. 177–195. 251 R.Unger schreibt zu »Reden ist Übersetzen«: »Eine schattenhafte Nachbildung jener göttlichen Tatendichtung […] ist die menschliche Wortpoesie«. In: Hamann und die Aufklärung. 1. Bd. Jena 1911. S. 251. Nach Jean Paul soll die Dichtung »die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten noch wiederholen, sondern entziffern« (Vorschule der Ästhetik. 3. Abt. III. Kantate Vorlesung über die poetische Poesie. In: Werke (Miller), 5. Bd. München 1980. S. 447); Klopstock hingegen will »den großen Gedanken / Deiner Schöpfung noch Einmal (denken)« (Der Zürchersee, v. 3f.). 252 Cf. auch 1Thess 5, 2 u. Mt 24, 42–44. 253 »Elemente« (στοιχεία) ist die ursprüngliche Bezeichnung für Buchstaben und die Atome, aus denen sich das All aufbaut; vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 37 und s. u. Anm. 256.

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Dass die menschlichen Autoren nur den Text des einen Autors (pagina divina) nachahmend variieren, wird ebenfalls an Homer gezeigt: Die Geschichte des Bettlers, der am Hofe zu Ithaka erschien, wißt ihr; denn hat sie nicht Homer in griechische und Pope in englische Verse übersetzt? (N II, 211,2–4).

Es ist in Homerischer Fassung (Od. 17, 483–606) die göttliche Geschichte257 der verborgenen »Majestät seiner Knechtsgestalt« (N II, 212,11; vgl. Phil 2, 7b), nach 254 Dieser Gedanke kehrt in Humboldts wiederholt gebrauchter Formel von der Sprache als dem Verfahren wieder, »von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch (zu) machen« (In: Gesammelte Schriften (Leitzmann). Bd.7. S. 99; Bd. 4. S. 4 u. ö., sowie in Ferdinand de Saussure’s These von der »Arbitrarität« der sprachlichen Zeichen; vgl. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 21967. S. 79f., 134f. u. ö.; auch Blumenberg, wie o. Anm. 12., S. 41! Zum Gleichnis wird das Thema in der modernen Naturwissenschaft, z. B. bei Erwin Schrödinger und Friedrich Miescher; vgl. dazu Blumenberg. S. 378 mit 381 u. 395. 255 Galten schon in Babylon die Buchstaben als »Schrift des Himmels«, so sind für Plotin »die Sterne […] gleichsam Schriftzeichen (γράμματα), welche am Himmel immer neu geschrieben werden oder geschrieben stehen und ihre Bahn ziehen« (Enn II 3, 7, 4–6; Übers. Harder; vgl. IIl 1, 6 u. 3, 6). Als catena aurea geht dies Motiv durch die Geschichte vom Buch der Natur, so etwa bei Paracelsus: »Nicht, daß alle Dinge durch das Alphabet den Ursprung nehmen […] aber im Firmament, da ist es im Ursprung, und der litera, das ist die Letter, ein Ding […] der Arzt wird gezwungen, wie einer ein Buch liest, so die Sterne des Firmaments zusammen als Buchstaben und nachfolgend die Sentenzen daraus zu nehmen« (Labyr. medic. errant., c. 2; zit. nach Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 100 (P. 55) und seinem Schüler Joachim Rhetoricus: »Coelum per astronomiam loquitur nobiscum« (zitiert bei Blumenberg. S. 69; vgl. S. 70 mit Anm. 61). Ebenso findet sich der Topos bei Athanasius Kircher: »Num coelum liber quidam sit, et num variae stellarum combinationes scripturam quandam conficiant, in qua futura digito Dei inscripta legi possint« (Oedipus Aegypt. (1653), II; zitiert bei Rothacker. S. 103 (P. 36)); die Zukunftsbedeutung thematisiert schon Plotin, ebd.) und noch B.H. Brockes Gedicht »Die himmlische Schrift« (cf. das Auswahlzitat bei Rothacker. S. 111f. (P. 56). Auf dieser Linie dürfte auch noch Kants Rede vom »gestirnten Himmel über mir« (KprV, Beschluß) zu verstehen sein; zum Weiterwirken des Topos »Sternenschrift« bei Mallarmé und Valéry, cf. Blumenberg. S. 313f. u. 318. 256 Vgl. ZH I, 393f.! N I, 236,21–24 werden die Elemente der Welt mit bloßen Buchstaben verglichen (s. o. Anm. 253). Dazu sei auf eine Stelle bei Philo Alex. hingewiesen, der vom Logos als dem handelt, welcher das All stützt und sich so zwischen die Elemente stellt, wie die tönenden Buchstaben zwischen den tonlosen stehen, damit das Ganze wie beim geschriebenen Wort zusammenklinge (De plant. 2.10; vgl. [Platon?], Hor. 414d). Vgl. auch Ulrike Hirsch: Das Alphabet als Modell. »Buchstabieren der Welt« bei Demokrit und Platon. In: Kl. Döring (Hg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption 6 (1996). S. 41–49. Vgl. auch o. Anm. 238. Borges teilt aus dem kabbalistischen Sefer Jetsira eine Stelle mit, nach der die Welt mittels der 22 Buchstaben des Alphabets erschaffen worden ist (Vom Bücherkult, wie o. Anm. 209, Bd. 7. S. 125f.). Zur kabbalistischen Sprach- und Thora-Symbolik vgl. Johann Maier in: W.Böhme (Hg.), wie o. Anm 169, ab S. 43, bes. S. 53. 257 Nach Hamann hat schon Sophokles vom wahren Charakter des Ulysseus als »ehrwürdig, heilig, geheim« gewußt (N II, 178,23–25). Bei Herder wird übrigens notiert, dass die Irländer »den Homer für eine Übersetzung aus ihrer Sprache zu erklären«, versucht haben (Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Hg. von D. Irmscher. Stuttgart 1966 (Reclam 8729). S. 117. Die arabische Version dieser Geschichte hat J.L. Borges in spanische Verse übersetzt in dem Gedicht Iuan 1,14 (aus: El otro, es mismo). In: wie o. Anm. 64, Bd. 10, S. 84/

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der das ewige Wort in sein Eigentum kam, und die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh 1, 11)258: »Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung« (N II, 204,9f.), – von der vom griechischen und vom englischen Epiker in je ihrer Muttersprache eine Lesart geboten wurde, denn »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache« (N II, 199,4). Sogar Voltaire muß bezeugen, dass Religion der Eckstein der epischen Dichtkunst ist (N II, 204,18). 3. Hätte Hamann also, ähnlich wie Luther, von der Bibel als »göttlicher Odyssee« sprechen können,259 so hat unser Jahrhundert eine Reformulierung bzw. Lesart 85. Sicher an Borges angelehnt, erscheint das Thema auch bei Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Müchen 1992 (dtv 11581). S. 525; Eco hat ebd. S. 47 auch das Zitat aus Sefer Jetsira (s. vorige Anm.) als Motto.Verblüffend die Parallele in C.F. Meyers Novelle Der Schuß von der Kanzel, wo folgendes Gespräch geführt wird: »Der Heimgekehrte wird als ein fahrender Bettler an seinem eigenen Herde mißhandelt? […] das ist Poesie. Aber Ihr habt recht […] was nützt mir die Poesie, wenn nicht eine Moral dahintersteckt? Da der Odysseus nicht bloß Odysseus bedeuten darf, wen bedeutet er denn? Unsern Herrn und Heiland – so beweist Ihr und habt es drucken lassen – wenn er kommt zu richten Lebendige und Tote. Nein, Kandidat, Odysseus bedeutet jede in Knechtesgestalt mißhandelte Wahrheit mitten unter den übermütigen Freiern, will sagen Faffen, denen sie einst in siegreicher Gestalt das Herz durchbohren wird« (Sämtliche Werke in zwei Bänden, Darmstadt 1982. Bd. 1. S. 72). In erstaunlicher Nahe zu Hamann, der ihm unbekannt war, kann man bei Borges über Sokrates lesen: »Er sagt merkwürdige Dinge: Orpheus mußte sich in eine Nachtigall verwandeln; Agamemnon, Hirte der Menschen, in einen Adler; Odysseus, seltsamerweise, in den niedrigsten und unbekanntesten aller Menschen« (Unsterblichkeit. In: Die letzte Reise des Odysseus, Werke, wie o. Anm. 64. Bd.16. S. 31; vgl. S. 142). Borges bezieht sich hier, wenn auch in entstellter Weise, auf Platon, Polit.X, 620a–d. 258 Nur im Verborgenen wird Odysseus an seiner Narbe erkannt (N II, 348,19–22; vgl. Erich Auerbach: Die Narbe des Odysseus. In: Mimesis (1946) Bern / Stuttgart 81988 (Slg. Dalp 90). S. 5–27) – so wie der Auferstandene an seinen Wundmalen (Joh 20, 25–28). Es sei hier notiert, dass Emanuel Hirsch seinerzeit (als einer der ersten) das Johannes-Evangelium nach seiner literarischen Eigenart als eine »gewaltige Dichtung« zu beschreiben versucht hat (Das Vierte Evangelium, in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt. Tübingen 1936. S. 78). Dies Evangelium ist in historisch-kritischer Sicht »seinem Hauptbestande nach nicht geschichtlicher Bericht, sondern freie dichterische Deutung der Geschichte« (sc.Jesu) durch einen gläubigen Christen (S. 77), und der unbekannte Verfasser sei »ein streng und bewußt gestaltender Künstler« (S. 67). Denn das Evangelium ist, wie Hirschs Einzelinterpretation immer wieder nachzuweisen sucht, »nach einem strengen und durchdachten Plane aufgebaut, mit der unerbittlichen Logik des Dramatikers« (S. 83). Wenngleich manches im Evangelium »an die feierliche Art der klassischen griechischen Tragodie« erinnert (S. 68), so gilt für Hirsch, was diese literarische Gestaltung angeht, zuletzt doch: »ich weiß keinen Dichter der alten Welt, der dergleichen gekonnt hätte und als Vorbild genommen wäre« (ebd.). Vgl. auch Walter Jens: Die Evangelisten als Schriftsteller. In: Sie werden lachen – die Bibel. Hg. von H.J. Schultz. Stuttgart / Berlin 21976. S. 113–123. 259 S. o. bei Anm. 87. Vgl. auch die berühmten Sätze Schellings: »Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht« (System des Transzendentalen Idealismus. 6. Hauptabschn. § 3 (Folgesätze). In: Sämmtliche Werke 1/3. S. 628; Hervorh. J. R.). Vgl. auch Bd. 1/6.

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des alten Epos kennengelernt,260 in der es als das Buch des Menschen schlechthin neu gelesen und der Mythos zum Muster des modernen Alltags wird.261 Die Rede ist von James Joyce’ Ulysses, welcher Buch der Geschichte und Buch der Natur in ein umfassendes Buch verarbeitet, das einen All-Tag so inszeniert,262 dass Trivialstes und das Mysterium, der unergründliche Brunnen der Vergangenheit und kontingente Gegenwart, fleischliche Faktizität und literarische Spiritualität koinzidieren. Wollte schon Goethe einen »Roman des Weltalls« schreiben263 und wünschte sich Jean Paul: »Ich möchte aus allen meinen Romanen 1 großen Roman machen«,264 so führt diese Linie, wohl nicht ohne Berührung mit dem hybriden Bibelprojekt der Romantiker265 und an Joyce anknüpfend, schließlich

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S. 57 u. XI. S. 494. Zum »Dichter« dieses Weltgedichts s. o. Exkurs; einschlägig ist auch der Vergleich: »Die Erde ist ein Buch, das aus Bruchstücken und Rhapsodien sehr verschiedener Zeiten zusammengesetzt ist […] In der Geologie wird der Wolf noch erwartet, der die Erde ebenso wie den Homer zerlegt und ihre Zusammensetzung zeigt« (Dritte der Vorlesungen über die Methode des akademischenStudiums. Bd. 1/5. S. 481). Auch Vergil schreibt schon Homer weiter. Zu den komplexen Beziehungen zwischen Joyce und Homer vgl. Wolfgang Iser: Der Archetyp als Leerform. Erzählschablonen und Kommunikation in Joyces ULYSSES. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik 4), Paderborn 1971. S. 369–408. Vgl. Hölderlin: »Taglauf oder Kunstwerk«. In: Anmerkungen zur Antigone (2). Sämtliche Werke (KlStA. Beissner), Bd. 5. Stuttgart 1954. S. 290. An Charlotte von Stein, 7. 12. 1781; dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 223f. GedankenHefte 3. S. 550 (ungedr.); vgl. auch o. Anm. 149. Dieser Wunsch findet sich, auf die unübersehbar vielfältige Bücherwelt überhaupt bezogen, schon in einem Briefe Jakob Böhmes ausgesprochen; vgl. Theosophische Sendbriefe 10,45f. In: Sämtliche Schriften (ND der Ausg. von 1730). Hg. von W.E. Peuckert. 9.Bd. Stuttgart – Bad Cannstadt 1956. S. XXI,40. George Sand schrieb über Balzac: »chacun de ces livres est la page d’un grand livre«, und Victor Hugo wiederholte an dessen Sarge: »Tous ses livres ne forment qu’un livre« (zitiert bei E.R. Curtius: Balzac. Bern 21951. S. 335 u. 385). Bei Giorgos Seferis ist zu lesen: »Die Bücher, die wir lesen, verwirren sich in unserm Innern. Manchmal denke ich daran, aus allen Büchern, die ich gelesen habe, ein einziges zu machen« (Sechs Nächte auf der Akropolis. Frankfurt a.M. 1995 (BS 1147). S. 57). W.G. Sebald gibt die Bemerkung Robert Walsers über sich wieder: »er schreibe im Grunde, von einem Prosastückchen zum nächsten, immer an demselben Roman, einem Roman, den man bezeichnen könne ›als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch‹« (In: Logis in einem Landhaus. Frankfurt a.M. 42003 (Fischer Tb 14862). S. 147). So sollten z. B. für Fr. Schlegel, wie alle Gedichte des klassischenAltertums in Wahrheit »nur Ein Gedicht«, eigentlich überhaupt »alle Bücher nur Ein Buch sein« (zitiert bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 269); zum Bibelprojekt in diesem Zusammenhang s. o. bei Anm. 205 und Blumenberg S. 238f. Dazu paßt das Schlegel-Zitat: »Der systematische Winckelmann, der alle Alten gleichsam wie einen Autor las, alles im ganzen sah« (zitiert nach W. Benjamin. In: Gesammelte Schriften I.1 (1974). S. 90). Borges führt eine verwandte Stelle aus Shelley über die Einheit aller Gedichte als ein unendliches an (In: Coleridges Blume, wie o. Anm. 64. Bd. 7. S. 19), die ich aber dort nicht nachweisen kann. Shelley redet in A Defence of Poetry nur davon, dass die Poesie unendlich ist.

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zu dem Großbuch266 Zettels Traum von Arno Schmidt, in dem Literatur und Gegenwart, Bücher und Menschen ähnlich interferieren wie bei Joyce. Und nicht zufällig findet sich bei Schmidt der Satz: »Die ›Wirkliche Welt‹ ?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!«267 Literatur wird hier zur eigentlichen Wirklichkeit; wir alle sind »verbucht«,268 und die Schriftsteller können Bücher nur noch so machen, dass sie Literaturen weiterschreiben. Jeder Text jeder Sprache ist prinzipiell für alles und jedes, insbesondere für alle anderen Texte, durchlässig. Was mit Hamanns Cento beginnt,269 das Ineinandersprechen bzw. -klingen aller Texte und Textarten, wird – ermöglicht durch die gemeinsame Voraussetzung, dass alle Literatur am Selben buchstabiert bzw. aus Demselben – schließlich zum gigantischen Weltspiel mit den Echos von allem in allem: in Finnegans Wake,270 in A. Schmidts Etym-Theorie, in Hans Blumenbergs metaphorologischen Längs- und Querschnitten, und findet literaturwissenschaftlich Ausdruck in der heutigen Theorie der Intertextualität.271 266 Zum volumen immense der französischen Enzyklopädisten, vgl. Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 167f. Über das absolute Buch als Buch aus Büchern (Flaubert) und Le Livre (Mallarmé) vgl. ebd. S. 308f. u. 310. 267 Die Schule der Atheisten (1972) S. 166 (s. schon o. Anm. 188). Der Satz ist eine Umkehrung des Novalis-Fragmentes: »Die Bücherwelt ist in der That nur die Carricatur der wirklichen Welt. Beide entspringen aus derselben Quelle«. In: Schriften (Samuel). 2. Bd. (1965). S. 578 (Nr. 273); zitiert bei Blumenberg S. 255 Anm. 283. Fernando Pessoa beobachtete: »Ich bin eine Romangestalt geworden, ein gelesenes Leben« (Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Hg. von R. Zenith. Zürich 2003. S. 197) bzw.: »Ich bin wie eine Geschichte, die jemand erzählt hat, so gut erzählt, daß sie Fleich geworden ist zu Beginn eines der Kapitel dieses Romans« (ebd. S. 186). Es war eine Maxime Hamanns, dass »(ich) die ganze Welt wie einen alten Roman ansehe, der den Titel zu führen verdient: Man muß nicht glauben, was man sieht« (ZH III, 357,6–8). Die Welt als Roman auch bei Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. 3.Theil. 2. Bd. Leipzig 1859. S. 356. 268 Nach einer Formulierung von Hermann Timm. Dasselbe christlich: Lk. 10,20b! Als ewiges Buch, in welchem das Ziel allen Lebens geordnet und terminiert ist, versteht sich auch der Koran; vgl. Sure 3, 139; 22, 69; 30, 56; 34, 3; 35, 12; 57, 22. Bei Emanuel Lévinas heißt es einmal: »Wir sind vom Buch her« (Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe. Ein Gespräch. In: Concordia 4 (1983). S. 53). Insofern kann man den Menschen wesentlich als ein »Lesewesen« auffassen; so Klaas Huizing. In: Lesen und Leben. Hg. von Kl. Huizing, U.J. Körtner, P. Müller. Bielefeld 1997. S. 22. 269 Zur Cento-Dichtung überhaupt vgl. Reallexikon für Antike und Christentum. Bd II (1954). Sp. 972f. Besonders interessant sind die Hinweise auf das biblisch-heilsgeschichtliche VergilCento der Pompa (ca. 360/370) und die christlichen Homer-Centi der Eudokia u. a., sowie das Sp. 973 zitierte kritische Urteil des Hieronymus (ep. 53, 7). 270 Nach Valéry soll das Eine Buch »aus allen Sprachen« bestehen; cf. dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 316. Bei Hamann ist das Universum der Literatur tendenziell in seinen Texten präsent, und diese sind (oder enthalten) Konzentrate der Allgegenwart der Bibel ebenso wie Spurenelemente der Durchlässigkeit der Weltliteratur. 271 Vgl. die Beiträge von Anne Bohnenkamp-Renken und Manfred Beetz in: Acta 1992. S. 123– 142 u. S. 79–106 und zur Kultur als Text die Arbeiten von V. Turner, Cl. Geertz, St. Greenbatt u. a. sowie Matthias Freise: Michael Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur. Frankfurt a.M. 1993. S. 203–205 mit S. 177f. u. 191f. Man beachte aber auch die These U. Ecos: »Das

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Was unterscheidet Hamann von diesen säkularen Analogien seines Verfahrens? Doch wohl vor allem das Festhalten am absoluten Horizont: der Kondeszendenz des ewigen Gottes ins Menschenwort der Bibel. Seine universale Schöpfungsästhetik hat daher zu ihrer Mitte und zum unersetzbaren Schlüssel sowohl für die Schrift wie für Natur und Geschichte Jesus Christus, ohne den alles unverständlich wird.272 In einer wundersamen Paraphrase von Hebr 1, 1 heißt es: Nachdem GOTT durch Natur und Schrift [also die beiden großen Bücher der Welt], durch Geschöpfe und Seher [also durch die Kreatur für die Kreatur und durch Menschen für Menschen], durch Gründe und Figuren [also durch Philosophie und Geschichtstheologie], durch Poeten und Propheten [also durch heidnische Propheten und biblische Poeten; vgl. 1Chr 25, 1; 2Chr 29, 30; vgl. N I, 241,30] sich erschöpft, und aus dem Othem geredet hatte [so »daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß«]: so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch Seinen Sohn, – gestern und heute! – bis die Verheißung seiner Zukunft – nicht mehr in Knechtsgestalt – auch erfüllt seyn wird – (N II, 213,6–11).

Hier hat die Schöpfung – im erhabenen Sichausgeben Gottes an die Welt273 – ihr Ziel antizipiert und Gott sein definitives Wort, sein ewiges Selbstwort, sich selbst letztgültig ausgesprochen. Der das erste Wort hatte, behält in Ewigkeit auch das letzte.274 Darum gilt angesichts unseres Gestümpers mit entstellten Lesarten: Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte (N II, 203/204)275 –

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Mittelalter irrte, als es die Welt als Text verstand, die Moderne irrt, wenn sie den Text als Welt betrachtet« (Der Streit der Interpretationen, wie o. Anm. 114). Das »Genie der Geschichte« (N II ,104,7–14 (Joh10, 19f.); 140,30f.; 214,26f. (Mt 2, 16–18); 294,29). Dies Genie kann Hamann auch ästhetisch auffassen: »Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt« (ZH II, 168,23; vgl. N III, 259f). Hamann reagiert so wohl auf soteriologische Erwartungen in der Geniezeit; vgl. J. Schmidt, wie o. Anm. 223) S. 116; s. auch u. Anm. 280) und die Arbeit des Verfassers Dornenkrone und Purpurmantel. Theologische Betrachtungen zu Bildern von Grünewald bis Paul Klee. Frankfurt a. M. / Leipzig. 1996 (Insel Buch 1159). S. 9–12. Zur Herablassung und Selbstverleugnung des wahren Genies s. o. Anm. 14 und ZH I, 450,23– 28. Blumenberg macht (unter Bezug auf Bonaventura, G. Bruno u. a.) darauf aufmerksam, dass die Buchmetapher nur dann sinnvoll ist, wenn das »Buch« (als Ausdruck) nicht als vollständig erschöpfende, soz. vollendete Erscheinung aufgefaßt wird, – in welchem Falle die Metapher gegenstandslos wird (vgl. wie o. Anm. 12., S. 56, 62, 90). Insofern ist gerade die Rede von Gottes Büchern schon für die Eschatologie offen. Cf. Robert Lowth: »qui eius auctor fuit, idem sit solus interpres« (De sacra Poesi Hebraeorum. Prael. 31. S. 616). In der traditionellen Hermeneutik zählen vor allem »authentische Autoritäten« als Auslegungsinstanz. Auch an das protestantische Axiom, dass die Bibel sui ipsius interpres sei, mag man denken; vgl. zu dessen Vorgeschichte Jean Pépin: Allegorie und Auto-Hermeneutik. In: V. Bohn (Hg.) Typologie (Internat. Beiträge zur Poetik 2). Frankfurt a.M. 1988 (ed. Suhrkamp, NF 451). Ab S. 126 sowie für den Zusammenhang mit der Gotteslehre Joachim Ringleben: Sui ipsius interpres. Gott und die hl. Schrift. In: Ders.: Arbeit am

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so etwa sagt der Traumdeuter Josef (Gen 40, 8),276 und auch Hamann spricht vom Schlaf im gegenwärtigen und vom Erwachen zum nächsten Aeon (N II, 200,17– 24). Wenn das Vollkommene kommen wird, hört das Stückwerk auf (1Kor 13, 10), und unsere vieldeutigen Lesarten werden unendlich überholt durch den, der selber seinen Text durch eine – mit Kant zu reden – »authentische Interpretation« vollendet.277 Diese definitive Auslegung ist Gottes »Majestätsrecht« (ZH III, 314,24), und sie wird Hamann von Francis Bacon schon bestätigt.278 Dass Gott allein letztgültiger Ausleger seines Textes ist,279 bedeutet für Hamann, dass eine schöpfungstheologische Ästhetik als worttheologische zugleich

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Gottesbegriff III. Göttingen 2021. S. 119–132. Schon Luther hatte 1518 festgehalten: »Nullus enim est divinorum verborum Magister praeter ipsammet verbi sui Authorem« (WABr I, 133,35–37; zu Gott bzw. dem H. Geist als alleinigem Schreiber und Ausleger vgl. WA 53, 644,25–29; 7, 97,1–3. Entsprechend ist auch der Apostel Paulus »sui ipsius interpres optimus« (WA 18, 765,6). Das wird in der altprotetantischen Orthodoxie stets wiederholt: »Spiritus sanctus est autor simul et explicator Scripturae« (M. Flaccius: Clavis scripturae sanctae (1567): II, Sp. 8 (ed. Geldsetzer S. 30f.); »Idem ergo qui scripturae autor, is supremus et authenticus eiusdem est interpres« (J. Gerhard: Loci theol. (Cotta). I, 1. II, 43 (§ 8; vgl. II, 55. § 72); »ut certissimus uniceque infallibils sui ipsius interpres est Spiritus Sanctus (2Petr 1, 20)« (A. Calov: Paedia theologica (1652). S. 199). Josef deutet in Agypten die Träume Pharaos und Anderer (Gen 40 u. 41, 14–36) und eben nach ägyptischem Verständnis stammten von den Göttern nicht nur die Träume, sondern auch das Instrument ihrer Auslegung; so jedenfalls die Behauptung W. Warburtons in The divine legation of Moses (1742), ein Werk, das Hamann kannte (Nachweise aus Warburton bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 352f. Anm. 423); s. auch u. Anm. 293. Kant’s Werke (Akademie-Ausgabe). Bd. VIII. S. 264,28f. (1791); vgl. dazu Hamanns Brief an Kant ZH III, 89,32 (= Kant’s Briefwechsel Bd. I (Akadem. Ausg. Bd. X). S. 164,6)! Ist die Welt nach Kant »für uns oft ein verschlossenes Buch«(!) (Werke. Ebd. S. 264.), so gibt Gott als sein eigener Ausleger »dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn« (ebd.). In der KdU spricht auch Kant davon, dass die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht, und davon als von einer »wahre(n) Auslegung der Chifferschrift« (§ 42; als Motto zitiert von Hölderlin: Hymne an die Schönheit (2. Fassung), KlStA (Beissner). Bd. 1 (1944). S. 157 und erwähnt bei August W. Schlegel. In: Vorlesungen über die Schöne Literatur und Kunst, Erster Theil, zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31. S. 60 (R 69). Vgl. N II, 202,28–30 (Fn. 1). Auch der in der Apostille (N II, 271,1–19) mehrfach angespielte Text Pred. Sal. 12, 8–14 endet: »Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles was verborgen ist, es sei gut oder böse« (14). Sollte nicht auch der Schöpfer und Richter von allem in seinem Verhalten wie jener »sorgfältige Ausleger« verstanden werden können, von dem N II, 71,25–31 die Rede ist? Vgl. Jochen Hörisch: Auslegen gehört Gott zu. In: Die Wut des Verstehens. Frankfurt a.M. 1988 (ed. suhrkamp 1485). S. 29–35. – Der Gedanke von Gottes authentischer Selbstinterpretation ist bereits bei Michel de Montaigne nachzuweisen: »C’est à Dieu seul de se cognoistre et d’interpreter ses ouvrages« (Essais (Thibaudet, Pleiade). Paris 1950. S. 555). Der nächste Satz lautet interessanterweise: »Et il faict en nostre langue, improprement, pour s’avaller et descendre à nous, qui sommes à terre, couchez« (ebd.). Auch für Pascal ist der Schöpfer der Wirklichkeitschrift ihr absoluter Leser: »L’auteur de ces merveilles les comprend. Tout autre ne le peut faire.« (Pensées, ed. Brunschvicq, frg. 72). Dazu gehört die Fähigkeit, Widersprüche ineins schauen und setzen zu können: »Pour entendre le sens d’un auteur, il faut accorder tous les passages contraires« (frg. 684), was für Pascal bereits die hl. Schrift aus-

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entschieden eschatologisch sein muß, denn: »Der Poet am Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage« (N II, 206,20; vgl.1Thess 5, 2).280 Und seine Selbstauslegung »durch Geschöpfe« der Natur- und »durch Begebenheiten« der Geschichtswelt vollendet sich im eschatologischen Handeln von Gericht und Vollendung: »oder durch Blut und Feuer und Rauchdampf reden, worinn die Sprache des Heiligthums besteht« (N II, 204,1–3).281 Von Anfang bis zum Ende seiner Ästhetik »in der Nuß« – als Gleichnis des Senfkorns – ist diese eschatologische Dimension bei Hamann gegenwärtig.282 Bereits im ersten Satz begegnet die befremdliche Gestalt einer eschatologischen Muse: Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Literatur zu fegen! (N II, 197,10f.).283

Und in der Mitte des Werks die verfremdete traditionelle Musenanrufung – zum Gericht:

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zeichnet (vgl.ebd. und frg. 428) und in Jesus Christus erfüllt ist (frg. 684 u. 862). Uns entgeht die völlige bzw. eindeutige Lesbarkeit Gottes in der Welt auch wegen unserer Unfähigkeit, die Extreme seines Redens noch wahrzunehmen: »Quand on lit trop vite ou trop doucement, on n’entend rien« (frg. 69). Vgl. Bruno Liebrucks: »Natur ist uns an sich seiende Vernünftigkeit. In unserer Religion ist sie das gesprochene Wort Gottes. Diese Sprache ist gemessen an unserem kurzen Erdenleben langsam. Daher hören wie sie als Sprache nicht« (Sprache und Bewußtsein. Bd. 6/3: Der menschliche Begriff. 1974. S. 577; s. o. Anm. 238. Weil der leidende Gottesknecht (Jes 53, 2f.) und »Kunstrichter« für Hamann die christologische Umwertung von Schönheit bedeutet (vgl. N II, 68,15–20 mit Ps 45, 3) – Joh 1,14b redet von der Knechtsgestalt des ans Kreuz Erhöhten! –, muss die Ästhetik eschatologisch werden, d. h. Schönheit im Licht der (künftigen) Auferstehungsherrlichkeit als Überwindung von Leiden, Schmach und Sterben verstanden werden: »Wundert euch nicht […] wenn die schöne Natur der schönen Künste für unsere schönen Geister ein Noli me tangere bleibt« (N II, 346,15f.; vgl. Joh 20, 17); s. o. Anm. 272. Zu Gericht und Vollendung vgl. N II, 211,14–18 u. 213,18–214,10. Das Eschaton ist die Parousie Christi, des »kleinen Lichtes« (N II, 206,18), das dann alle (anderen) Farben verblassen macht (Z. 22), an jenem alles überstrahlenden Sonn-Tag (206,16 u. 213,19). In eschatologischer Perspektive erst kann theologisch auch der eigentümliche, hintergründig humoristische Umgang verstanden werden, den Hamann bisweilen (z. B. im Cento) mit Bibelstellen pflegt und den als erster wohl öffentlich Johann David Michaelis 1762 als »leichtsinnigen Mißbrauch der biblischen Ausdrücke« getadelt hat (vgl. N II, 253,10f., aber auch schon 251,11f. (Chr. Ziegra)). Zur Situation vgl. Joachim Ringleben: Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen. In: Ders.: Arbeit am Gottesbegriff II. Tübingen 2005. S. 23–53. Für Hamann steht die letzte Eindeutigkeit eben noch aus! Weil in der empirischen Ununterscheidbarkeit von profanen und religiösen Metaphern eschatologisch noch etwas aussteht und auf Gott den Letzten Kunstrichter zutreibt, liegt darin auch ein Maßstab gegenüber einer sog. Kunstreligion. Vgl. Jer 51, 2; Mt 3, 12; Dan 10.

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Deine Muse wie das Feuer eines Goldschmieds, und wie die Seife der Wäscher! (N II, 207,10; vgl. Mal 3, 2).284

Zwar sind Natur und Schrift die Materialien der schönen und nachahmenden Geister (vgl. N II, 210,7f.), aber vor der Muse des Endgerichts erscheinen Weltweise und Schriftgelehrte nur wie die frechen Buhler am Hofe von Ithaka (vgl. N II, 211,1f.), deren Materie die weise Penelope (N II, 210/211) wieder auflösen wird – ohne dass »Schriftsteller und Leser« von ihren Absichten das geringste erraten (vgl. N II, 191,22–192,3). In der List dieser Muse bringt sich nur zur Geltung, dass Gott das Auslegen seiner Worte sich allein vorbehalten hat. Darum gilt: Die Furcht des grösten Kunstrichters der Herzen und Nieren prüft und die Energie des großen schöpferischen so wol schriftstellerischen Genies ist die wahre Muse. και συντελεια λογων το Παν εστιν Αυτος (ZH II, 446,12–15; Jes.Sir 43, 27).285

Eben diese Gottesfurcht ist aller Ästhetik wahrer Anfang und wirkliches Ende und die Hauptsumme dessen, was Hamann seine »neuste Ästhetick« nennt (N II, 217,15), die als Lehre von der »sinnlichen Offenbarung« des Schöpfers aller Dinge (N II, 198,1) unausweichlich zur Lehre von den neuesten Dingen, den novissima, den Eschata wird.286 In solche eschatologische Vollendung ist für Hamann dann auch die Poesie einbezogen, so dass er mit Vergil sagen kann: Carmina tum melius, cum venerit IPSE, canemus.287

VII.

Autorschaft im Widerspruch

Anstatt die Interpretation der Aesthetica weiterzuführen, ist es verlockend, abschließend an einer Stelle die Rede von Gott als Schriftsteller über Hamann hinaus zu verfolgen. Ich wähle dazu Søren Kierkegaard, einen der bedeutendsten literarischen Schüler Hamanns.288 Bei ihm nimmt der Topos etwa 90 Jahre später eine höchst befremdliche Wendung. Allerdings durchdringen sich bei Kierkegaard an dieser Stelle verschiedene andere Echos der Metapherngeschichte, so dass ein wenig auszuholen ist.

284 Vgl. auch Ps 51, 9 u. Jes 4, 4 – eine Tradition religiöser Neuwerdungsdivination, die poetische Nachklänge etwa bei Hölderlin (Wie wenn am Feiertage. 1. Str.) und P. Celan hat (Einmal. In: Gesammelte Werke. Bd. II (1983). S. 107). 285 Vgl. Hiob 28, 28; Eph 1, 19; 3, 17; Phil.3, 21; Kol 1, 29 und Jes. Sir. 42, 27–43, 29. Auch Christus ist der endzeitliche »Kunstrichter«; vgl. den gewaltigen biblischen Cento N II, 346,24–36 mit 342,35f. u. 345, 13f. 286 Man hat auch auf den Ausdruck agmen novissimum (Nachhut) hingewiesen. 287 Ecl. III, 27; IX, 67; vgl. N III, 404,28. 288 Vgl. dazu den letzten Aufsatz in diesem Bande.

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1. Schon bei Luther ist vorhin die charakteristische Wendung begegnet, dass wir individuellen Menschen so etwas wie Vokabeln, Silben oder Buchstaben im von Gott verfaßten Text der Wirklichkeit seien.289 Im Spätbarock findet sich dieser beliebte Vergleich bei dem Hamburger Poeten Barthold Heinrich Brockes, der in seinem Irdischen Vergnügen in Gott (1721–1748) überhaupt die Weltbuch-Metapher sehr häufig einsetzt,290 in den folgenden Versen: O unbegreiflichs Buch! O Wunder-A, B, C! Worin, als Leser, ich, und auch als Letter, steh! Laß, großer Schreiber, mich im Buche dieser Erden, zu Deines Namens Ruhm, ein lauter Buchstab werden!291

Worauf ich aufmerksam machen möchte, ist die geistreiche Wendung, dass der Mensch als Buchstabe im Weltbuch zugleich auch sein Leser ist.292 Nur darum kann er so etwas werden wie »ein lauter Buchstab«, z. B. selber ein Schriftsteller. Gerade an dies Motiv des zum Laut werdenden Buchstabens wird dann bei Kierkegaard wieder anzuknüpfen sein. Dass der Mensch dasjenige minimale Element im Text des Universums sei, dem sich an seinem Orte zugleich die Bedeutung des Ganzen irgendwie zeigt und für das zumindest die Lesbarkeit dieses Textes irgendwie erschlossen ist, so dass an diesem Ort die Schrift sich selber zu entziffern wenigstens beginnen kann,293 das hat dann, nach Hamann, auch Herder zum Ausdruck gebracht: 289 S. o. bei Anm. 138. Bei John Owen (1563–1622), der sein Buch mit einer Welt vergleicht (s. o. Anm. 89), findet sich die Umkehrung: »homines sunt versus« (zitiert nach Curtius. S. 326). Von allen Kreaturen als »lebendigen Buchstaben«, die vom Menschen reden, handelt ein Zitat von Benedictus Figulus; vgl. bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 116 (P. 75). 290 Zu Brockes vgl. auch Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 180–198 (Kap. XIII: Das Hamburger Buch der Natur und sein Königsberger Reflex). 291 Die Welt. 19. Str. In: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott (1738). ND Stuttgart 1965. S. 341. Zu den beiden letzten Versen vgl. auch Blumenberg. S. 183. Wenn auch Brockes wohl einen »lauteren« Buchstaben gemeint haben dürfte, so darf im Folgenden mit poetischer Lizenz dies Wort auch mit dem Laut sinnvoll in Zusammenhang gebracht werden. 292 Bei Karl Barth findet sich im Blick auf den Menschen die Feststellung: »die von Gott geschaffene Welt ist zugleich ihr eigener Leser und Ausleger« (KD IV/ 3 (1.Hälfte. 1959). S. 159). Auch Barth versteht die Welt als sprechend (vgl. ebd.). 293 Das in sich selbst (den Autor) lesende Buch ist für den Cusaner Metapher für den endlichen Geist: »Mens vero est ut liber intellectualis in se ipso et omnibus intentionem scribentis videns« (De apice theor., Memor. V. In: Philosophisch-Theologische Schriften (Gabriel), II. Bd. Wien 1982. S. 380/381). Als besondere Möglichkeit, sich selber zum Text zu werden, identifiziert Blumenberg in seiner Interpretation der Freudschen Psychoanalyse die Traumdeutung: »Der Traum ist die einzige Möglichkeit das eigene Unbewußte in einer auslegbaren Sprache vor sich zu haben und zu lesen. Es ist die einzige Möglichkeit des psychischen Subjekts, bei ausgeschlossener Reflexion sich hinter seinem eigenen Rücken zu objektivieren, indem es sich einen lesbaren Text über sich selbst liefert« (wie o. Anm. 12. S. 351; vgl. überhaupt S. 337–371). Von hier aus gewinnt Schopenhauers Vergleich von Leben

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kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten! Was ich auch sei! Ruf von Himmel zur Erde, daß wie alles, so auch ich an meiner Stelle etwas bedeute.294

2. Freilich wußte gerade der lutherische Christ Hamann, dass die Lesbarkeit des Schöpfungsbuches für uns auch entscheidend gestört ist. Er reflektiert die Situation des Lesers im absoluten Buch als eine gefallene: Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig (N II, 198f.).295

Als durcheinander geworfene Bestandteile von Versen, die wir kaum wieder zu einem sinnvollen Text zusammenzusetzen, »in Geschick zu bringen« vermögen (N II, 199,2f.), stellt sich die Schrift Gottes in der Welt unsern mühseligen Entzifferungsversuchen dar. Dies Verwirrspiel wie vor einem unendlichen Puzzle, zu dem leider nur das geistige Band fehlt, geht entweder auf eine tiefe Störung im Menschen selbst zurück, oder ist, was Hamann offen läßt, das Werk eines turbators außer uns,296 des διάβολος, auch eines »alten Dichters« (N II, 198,23). Aber nach Hamann hat sich der Schöpfer selbst in diese Situation des Widerspruchs und der Zerrissenheit hineingegeben.297 Die disiecti membra poetae (nach Horaz, Sat. I, 4, 62) reden davon; aber auch von der heillosen Vieldeutigkeit

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und Träumen mit den verschiedenen Blättern eines Buches und von dessen zusammenhängender Lektüre als dem »wirklichen Leben« einen aktuellen Sinn (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Buch. § 5. Sämtliche Werke (Grisebach, Reclam). Bd. I. S. 51). Kaum zufällig nimmt Hamann Gottes Selbstauslegung seiner Bücher vom Traumdeuter Josef her in den Blick; s. o. Anm. 276. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). In: Sämmtliche Werke (Suphan) . Bd. 5. S. 561; vgl. auch S. 585 (zitiert o. Anm. 238). Bei Knut Hamsun wird von jemandem gesagt: »er ist nicht einmal ein Komma in dem großen Buch, sondern nur ein Flecken im Papier« (Mysterien. Kap. 5. In: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bd. 1. München 1977. S. 223). Vgl. auch die erstaunliche Aussage von Th. Carlyle über »the grand sacred Epos«, das die Weltgeschichte darstellt, in dem die Leser sich selbst als Text wiederfinden: »Remark […] whether it is not in this same Bible of World-History that all men, in all times with or without clear consciousness, have been unwearied to read, what we may call read; and again to write or rather to be written!« (Count Cagliostro (1833). In: Collected Wotks. Vol.lX (1869). S. 313). Auf diese Stelle kommt J.L. Borges immer wieder zu sprechen; vgl. wie o. Anm. 64, Bd. 7. S. 59; Bd. 16. S. 46; Bd. 18. S. 46f. sowie Epilog. In: Borges lesen (Fischer Tb 11009). Frankfurt a.M. 1991. S. 151. Zu den »Turbatversen« vgl. auch das u. bei Anm. 301 über Tacitus Gesagte. Vgl. Helmut Heißenbüttel: »Sonderbares Leben: Bruchstücke eines Textes, in den beständig andere Bruchstücke eingeschoben werden. Aber welches ist der richtige Text?« (zitiert nach Kurt Leonhard: Moderne Lyrik. Bremen 1963. S. 15). Als Fürst der (babylonischen) civitas confusionis erscheint der Teufel schon bei Augustin, Civ. Dei XVIII, 5; vgl. XVI,4 (PL 41, 613f.; vgl. 432f.); vgl. auch Gen 11, 9 (V). Zerrissen wie Tammuz (Adonis) oder auch Orpheus.

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erfahrener Wirklichkeit,298 einer Zersplitterung, in der zahllose Stimmen die eine Stimme übertönen und unkenntlich machen, einer unüberwindlichen Fragmenthaftigkeit, die Sinn überhaupt nur in widerspruchsvollen Spuren, gebrochen und unvereinbar, erfahren läßt, so dass ein Urtext von uns aus nicht wieder zu rekonstruieren bzw. gar nicht zu konstituieren wäre. Es ist die Situation durchgängiger Sprachverwirrung.299 In solcher Situation kann es nicht mehr als »Winke« geben (N II, 201,30 u. 94,32; 133,24). Allerdings sieht Hamann noch in eben der Teilnahme Gottes an der verwirrenden Aufspaltung der Sprachen (confundere) und der Zerstreuung der Völker (dividere), wie sie Gen 11, 7f. (V) berichtet wird, auch den Beginn seiner gnädigen Herablassung zum Menschen: Kommt, sagt Gott, wir wollen uns vom Himmel herunterlassen [V: descendamus]; laßt uns niederfahren. Dies ist das Mittel, wodurch wir dem Himmel näher gekommen sind (N I, 30,29–31).

Mit dieser »Herunterlassung Gottes auf diese Erde« (Z. 32) ist er in den status exinanitionis der »disiecti membra poetae« eingetreten, in die unreine Vielfalt verstreuter und disparater Dialekte. Deren Einheit ist allenfalls noch als coincidentia oppositorum auszusagen, und die eindeutige Lesbarkeit ist dahin: wir müssen uns an Turbatverse halten.300 Außerdem entspricht dem uns nur korrumpiert und durchlöchert vorliegenden Text und seiner weithin zerstörten Lesbarkeit auch die von Hamann genau vermerkte, tiefe Beschädigung unserer Sprache überhaupt. Seine feierliche Schilderung paradiesisch unentfremdeter Kommunikation zwischen Schöpfer und Geschöpf bricht jäh ab mit dem Hinweis auf die postlapsarische Verkehrtheit, die unsere reale Situation ist: Noch war keine Creatur, wider ihren Willen, der Eitelkeit und Knechtschaft des vergänglichen Systems unterworfen, worunter sie gegenwärtig gähnt, seufzet und ver-

298 Montaigne: Essais II, 12, der eben so den Menschen überhaupt beschreibt (In: Essais. Hg. von H. Stillet. Frankfurt a.M. 1998. S. 268 (Sp. b). Übrigens beschreibt Montaigne hier (im vermeintlichen Anschluss an Platon) die Natur als eine rätselhafte Dichtung, durch die die Wirklichkeit von einer undurchdringlichen Finsternis umgeben ist (vgl. ebd. Sp. a). 299 Vgl. ähnlich Schelling: »und der Mensch dürfte wieder frei und froh in dem Buch der Natur selbst lesen, dessen Sprache ihm durch die Sprachenverwirrung der Abstraktion und der falschen Theorien längst unverständlich geworden ist« (Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806). In: Sämmtliche Werke. Bd. I/7. S. 65); vgl. N II, 207,11–14 und 206,1–3. 300 Paul Celan dichtet unter solchen Bedingungen: »UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt« (Schneepart. In: Gesammelte Werke. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1983. S. 338. Diese Verse sind auch zitiert in Kap. II/3 (Erfahrungsfähigkeit als Lesbarkeit der Welt) des Buches von G. Bader, das die Metapher der Lesbarkeit der Welt intensiv problematisiert: Melancholie und Metapher. Tübingen 1990. S. 58–64.Vgl. auch u. Anm. 301.

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stummt [vgl. Röm 8, 20–22] oder höchstens in der wassersüchtigen Brust eines Tacitus keucht, röchelt und zuletzt erstickt – (N III, 32,15–21).301

An die Stelle des gottesfrohen »lauten Buchstab« bei Brockes ist hier die deformierte Sprache, der pervers restringierte Code und das Absacken ins Vorsprachliche getreten. Dies alles reflektiert am Menschen selbst seine radikale Unfähigkeit, die Sprache des Schöpfers noch lesen und ihr entsprechen zu können. Wir haben also nicht nur Turbatverse vor uns, sondern sind am Ende selber welche. Irgend etwas stimmt nicht mehr im Buch der Schöpfung.302 Zwei Reaktionsweisen scheinen möglich. Die eine ist die heroisch sich selbst behauptende, z. B. von J. J. Rousseau: Mag die Posaune des Jüngsten Gerichtes wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch [sc. Les Confessions] in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich!.303

Man ersetzt also das Buch im Himmel, indem man selber der Autor des »Buchs des Lebens« wird und als solcher auftritt.304 Authentische Selbsterkenntnis tritt auf gegen eine Erkenntnis Gottes (als Gen. obj. u. subj.).305 Die andere Reaktion schiebt alles auf ein unzulängliches Verständnis des Lesers, der überall da einen verderbten Text unterstellt, wo nur seine »philologische« Kompetenz nicht ausreicht; beispielsweise sagt Johann Wilhelm Ritter, der romantische Naturphilosoph: Was der Mensch nicht versteht, sieht er für Druckfehler im Buche der Natur an.306 301 Zur Interpretation vgl. E. Büchsel: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G.Hamann. Giessen / Basel 1988. S. 16 und HHE 4. S. 198. Zu Tacitus passt es, wenn P. Celan von der »NACHZUSTOTTERNDE(N) Welt« spricht (ebd., wie o. Anm. 300, S. 349). 302 Von dieser Unleserlichkeit des Weltbuches handelt auch das Gedicht von J.L. Borges Ein Kompaß (wie o. Anm. 64, Bd.10. S. 46/47). Vgl. auch über das Universum: »aber die Mehrzahl der Produkte jenes sete Boss war Fusch-Werk, schnell & schludrich […]: wenn’s n Buch wär’, würde der Autor schon das seinige zu hören bekomm’n« (Arno Schmidt: Terpsichore. In: Kühe in Halbtrauer. Das erzählerische Werk in 8 Bänden (Haffmans) 1985. Bd. 8. S. 238). Indes zitiert schon Kant einen James Quin (1693–1766): »Wenn dieser Kerl nicht ein Schelm ist, so schreibt der Schöpfer keine leserliche Hand« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 2. Teil A (Zerstreute Anmerkungen). In: Kant’s Werke. (Akademie-Ausgabe). Bd. VII. S. 302,28f.). 303 Jean Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. München 1984 (dtv 2096). S. 9. 304 Ganz anders wird von Augustin jeder durch erinnerndes Lesen im eigenen Buch des Lebens (liber vitae unius cuiusque) auch zu seinem eigenen Richter; cf. dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 29f. und 32. 305 Vgl. auch Blumenberg. S. 32 und o. Anm. 293. 306 Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers (1810). Bd. II. Leipzig / Weimar 1984. S. 213; vgl. ebd. »Naturforscher sind ihm Correctoren in der Druckerey Gottes«. Zu Ritters Verwendung der Buch-Metaphorik Blumenberg. S. 257–266. D’Alembert schreibt in den Discours préliminaires zur »Encyclopédie«: »On pourroit comparer l’Univers à certains ouvrages d’une obscurité sublime, dont les Auteurs en s’abaissant quelquefois à la portée de

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3. Nun kann Kierkegaard zu Wort kommen. Der »laute Buchstab« Brockes, der Druckfehler und die trotzige Selbstbehauptung gehen eine bemerkenswerte und verstörende Verbindung ein, wenn Kierkegaard die dämonisch potenzierte Verzweiflung beschreibt, die sich als skandalöser Einwand gegen die Güte des Daseins gerade in der Verzweiflung trotzig festhalten will: Es ist wie wenn einem Schriftsteller ein Schreibfehler unterliefe, und dieser würde sich seiner als eines solchen bewußt […] es ist, wie wenn nun dieser Schreibfehler gegen den Verfasser Aufruhr machen wollte, und in wahnwitzigem Trotz zu ihm sprechen: nein, ich will nicht ausgestrichen werden, ich will stehenbleiben als Zeugnis wider dich, ein Zeugnis davon, daß du ein mäßiger Schriftsteller bist.307

Hier wird die Metapher von Gott als Schriftsteller zum Anhalt einer Rechthaberei metaphysischen Ausmaßes.308 Der sich empörende »Schreibfehler« macht sich in verzweifelter Selbstermächtigung309 zum virtuellen Autor seiner selbst, indem er als schreiender und anklagender Buchstabe gegen den ganzen Kontext sich behauptet und so gleichsam einen ganz neuen Text konstituiert, den unauslöschlichen Protestes.310 Dass das Geschriebene in Konkurrenz zum ersten zum an-

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celui qui les lit, cherchent a lui persuader qu’il entend tout à-peu-près« (Tome I. Paris 1751. S. VII). Die Krankheit zum Tode. In: Gesammelte Werke (Hirsch). 24. Abt. Düsseldorf 1957. S. 74. Im selben Buch heißt es in scharfer Wendung gegen das bestehende Staatskirchentum, »daß die sogenannte Christenheit eine Schundausgabe des Christlichen ist, die von sinnstörenden Druckfehlern und gedankenlosen Auslassungen und Zusätzen wimmelt« (ebd. S. 102). Vgl. Thomas Bernhard: »die Menschen lassen sich, jeder für sich, ganz gut als tagtäglich fortgesetzter Zeitungsroman. der in der Natur abgedruckt wird, denken. In den Redaktionen herrscht allerdings eine grauenhafte Willkür« (Verstörung. Frankfurt a.M. 1988 (Suhrkamp TB 1480). S. 175). Vgl. o. Anm. 47 u. 302. Vgl.: »Das Leben ist der Korrekturbogen, daran die im Setzen begangenen Fehler offenbar werden« (Schopenhauer, zitiert bei Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 332). Ganz entgegengesetzt formulierte in eschatologischer Hoffnung einst Quirinus Kuhlmann: »Gott kan seinWort verlängern und verkürtzen: […] / Bei Gott ist stets der Königreiche Wahl […] / Was Gott einst drukkt, wird nimmer ausgestrichen, / In dem die Frucht im warmen Sommer reifft« (Kühlpsalter (1684), 2. Buch, 25. Ps., v. 2065/66 u. 2069/70; zitiert bei Rothacker, wie o. Anm. 31, S. 86 (R. 168)). Ein säkulares Echo bei Goethe: »Was in der Zeiten Bildersaal / Jemals ist trefflich gewesen / Das wird immer einer einmal / Wieder auffrischen und lesen« (Sprichwörtlich, wie o. Anm. 1), 1. Bd. S. 417). Vgl. bei Blumenberg im Zusammenhang der Schriftmetapher: »Die Singularität, die Einsamkeit der genetischen Problemlösung bleibt. Sie sieht, aufs Ganze gerechnet, so aus wie die Improvisation für eine Episode, in der sich ein peripheres Teilchen dem großen Zuge und Entwurf in einem Akt des vergeblichen Aufbäumens widersetzt« (wie o. Anm. 12, S. 405). Noch einmal anders wendet Kierkegaard das Bild in eschatologischer Blickrichtung: »Vermöge des Gewissens ist es so eingerichtet. daß die gerichtliche Anzeige jede Schuld unverzüglich begleitet, und daß der Schuldige der ist, welcher sie selber schreiben muß. Jedoch sie wird mit sympathetischer Tinte geschrieben, und wird daher erst richtig wahrnehmbar, wenn sie in der Ewigkeit gegen das Licht gehalten wird« (wie o. Anm. 307, S. 125f.). Im Begriff Angst wird die Existenz des »geistlos« Dahinlebenden mit der alten, für einen Leser sinn-

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dern Autor wird, der den Text als Anklageschrift umschreibt und dem eigenen ursprünglichen Autor eine Lesart aufzwingt,311 die diesen zum passiven Leser macht312 – das ist eine Form, in die Theodizee einzutreten, die auch Kafka oder Borges sich hätten ausdenken können.313 Der Abstand zu J.G. Hamann ist evident. Diese Wendung der Rede von Gott als Schriftsteller ist eine spezifisch moderne Verschärfung und Radikalisierung. Freilich wollte auch Hamann keinen theoretischen Scheinlösungen eines Antagonismus, den auch er sah, das Wort reden. So kennt doch Hamann selbst den Menschen als einen »lauten Buchstaben«: Wie jeder Buchstabe im Buch der Natur den weisen Schöpfer; jede Zeile in der Geschichte der Völker, den gerechten Regierer; so ruft, so schreyt jeder Sünder in der heiligen Schrift den Erlöser der Welt für die Menschen aus (N I, 106,4–7).314 Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, So geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.315

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verwirrenden, weil ungegliederten scriptura continua verglichen; vgl. Gesammelte Werke (Hirsch).11. Abt. (1958). S. 96. Die Entschlüsselung der genetischen Grammatik macht es zukünftigen Wissenschaftlern vielleicht möglich, neue und eigene Texte ins Buch der Natur zu schreiben (vgl. dazu Blumenberg, wie o. Anm. 12, S. 383) – in Konkurrenz zu Gott dem Schöpfer (vgl. S. 398f.), so dass J. W. Ritters o. Anm. 306 zitierter Satz (bei Blumenberg S. 263) ungeahnte Realität erhielte und das Buch der Natur endgültig in eins der Geschichte transformiert wäre (zur Erweiterung der Lesbarkeit der Welt vgl. auch Blumenberg. S. 164). »Wir schreiben das Buch unseres Lebens für den einen, idealen Leser«, nämlich für Gott, heißt es bei dem Prozess-Philosophen Charles Hartshorne (A Natural Theology for Our Time. La Salle 1967. S. 112). Ähnlich der Marburger Theologe Henning Luther: »Gott ist nicht der Autor meiner Lebensgeschichte, sondern ihr Leser (Hörer)« (Das unruhige Herz. Über implizite Zusammenhänge zwischen Autobiographie, Subjektivität und Religion. In: W.Sparn (Hg.): Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Gütersloh 1990. S. 385). Zu J. L. Borges vgl. den o. Anm. 200 genannten Aufsatz von Blasius. Es ist wiederum Borges, der mit Berufung auf den amerikanischen Kierkegaard-Forscher Walter Lowrie Kierkegaard unter die Vorläufer Kafkas zählt; vgl. die Beispiele in: Kafka und seine Vorläufer. Werke, wie o. Anm. 64, Bd. 7. S. 119. Zu Kierkegaards lebenslangem Ringen mit einer Unvereinbarkeit des Religiösen und des Dichterischen vgl. Emanuel Hirsch: Kierkegaard-Studien, Erster Band. Gütersloh 1933. S. 133–302. Solch ein »Schreien« vernahm Hamann bei seiner Londoner Bibellektüre mit lebensentscheidendem Nachdruck; vgl. N II, 40,40–41,15. Die biblischen Belege für Schreien sind reich (vgl. besonderes im NT das ekstatische »Ausrufen« Jesu: κράζω). Vielleicht steht auch Luthers Rede vom Evangelium als einem »Geschrey von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes« (WA 12, 259,8f.) im Hintergrund. ZumThema Sünde vgl. Martin Seils: Krise und Gericht. Hamanns Sündenverständnis. In: Acta 1988. S. 385–393 und ausführlich Tom Kleffmann: Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns. Tübingen 1994 (Beitr.z.hist.Theol. 86). S. 247–305 (Kap. 4). Cherubinischer Wandersmann VI, 263. In einem Gedicht von J.L.Borges ist die Rede von der Ewigen Schrift, die genau so viele wahre Bedeutungen bzw. Versionen wie Leser habe und von Gott als dem, der sie vorher alle festgesetzt habe, also von »Ihm, der Leser, Buch und Lektüre ist« (An Manuel Mujica Lainez. In: Rose und Münze. Gedichte 1973–1977, wie o.

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Anm. 64, Bd. 14. S. 124/125). Die Einheit von Lesenden, Schreibenden und Geschriebenen macht nach Th. Carlyle die »heilige Schrift« der Weltgeschichte aus; vgl. wie o. Anm. 294, S. 18,46f; S. 204 und o. Anm. 257.

Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls

I Die prominenteste und, soweit ich sehe, einzige Stelle, wo Hamann selber den Ausdruck Sakrament gebraucht, ist die in einem der letzten Sätze der Metakritik: Was die Transcendentalphilosophie metagrabolosirt, habe ich um der schwachen Leser willen, auf das Sacrament der Sprache, den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet […] (N III, 289,20–23).1

Ohne mich hier auf den Bezug dieser Formulierungen zum Kontext der Auseinandersetzung mit Kant einlassen zu müssen – ihn hat Oswald Bayer detailliert herausgearbeitet –,2 will ich zunächst nur versuchen, die »geballte Faust« der Formel Sacrament der Sprache in die »flache Hand« des um Klärung bemühten Systematikers zu entfalten (vgl. N III, 289,23f.). Mir scheint diese sprachtheologische Begriffsprägung Hamanns unmittelbar lutherisch bzw. in Luthers Bahnen weitergedacht und gesprochen zu sein. Und dies aus dem doppelten Grund, weil bei Luther wie dann bei Hamann l. in der Sprache und im Sakrament Sinnliches und Geistiges untrennbar beieinander sind, und 2. Gott im Wort bzw. als Wort nahe kommt, was sowohl für das Sakrament wie für die Sprache gilt. Der Genitiv der Formulierung »Sacrament der Sprache« scheint mithin in doppelter Richtung aufzulösen zu sein. Es geht Hamann an dieser Stelle primär um das Sakrament, das die Sprache selber ist: das Wort als Sakrament.3 Das schließt aber m. E. unvermeidlich ein, dass auch das kirchliche Sakrament selber theologisch ganz von der Sprache her, die in ihm – als worthaftem Sakrament – die entscheidende Rolle spielt, gedacht wird; auch so verstanden ist das kirchliche 1 Vgl. auch ZH 5, 216, 20–34. 2 Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. Bes. ab S. 413. 3 Zum Wort Gottes als sacramentum audibile vgl. Joachim Ringleben: Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her. Tübingen 2010. S. 145–149 (HUTh 57); s. u. Anm. 26.

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Sakrament »Sacrament der Sprache«. Kurz: die Sprache ist Sakrament, und jedes Sakrament ist sprachlich; beides impliziert sich wechselseitig, und ich beginne meine Erläuterungen mit dem zuletzt genannten Akzent. 1. Das Sakrament selber wird bei Hamann sprachlich gedacht. Dies ist, wie gesagt, auch die theologische Voraussetzung dafür, dass er die Sprache hier als Sakrament verstehen kann. Im Ausgangszitat werden die sprachlichen Elemente, die »Buchstaben«,4 mit dem sakramentalen Begriff des »Elementes«,5 der theologisch für Brot und Wein steht, und wird das, was Sprache als wirklichen Geist konstituiert, durch den theologischen Begriff der »Einsetzung« näher bestimmt, der an die seinen Leib und die sinnlichen Elemente zusammensprechenden Einsetzungsworte Jesu erinnert (Mk 14, 22 u. 24 parr.; 1Kor 11, 23–25). Das entspricht aber nicht bloß Hamanns Absicht, den – gleich genauer zu erörternden – sakramentalen Charakter der Sprache darzutun, sondern das verweist, um jenes zu leisten, zunächst einmal auf die Wortbestimmtheit des kirchlichen Sakramentes selber. Diese steht in Luthers Sakramentstheologie unübersehbar im Vordergrund.6 Nicht nur macht sich Luther modifiziert Augustins klassischen Satz zu eigen: accedat verbum ad elementum et fit sacramentum,7

sondern für ihn ist das göttliche Wort konstitutiv für das Sakrament als solches; dieses ist creatura verbi schlechthin: das auff erden keyn grossers heyltumb ist dan Gottes wort, dan auch das Sacrament selbs durch Gottes wort gemacht und gebenedeyet und geheyliget wirt.8

Daher ligt auch alles am wort Gottes […] Mussen doch alle sacrament durchs wort werden als durch fur nemest stucke ynn allen sacramenten […].9

4 Zur Arbitrarität der Buchstaben vgl.: »Verlieren die Elemente des A B C ihre natürliche Bedeutung, wenn sie in der unendlichen Zusammensetzung willkührlicher Zeichen uns an Ideen erinnern […]?« (N II, 203,2–4; vgl. N III, 310,36f.). Vgl. auch ZH V, 332,32f. (zitiert bei Bayer: Vernunft, wie o. Anm. 2, S. 385 Anm. 35; auf die »Einsetzung« bezogen; vgl. ebd. S. 386: Zeichen und Sachen). 5 Vgl: »Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori […] und die wahren, ästhetischen Elemente« (N III, 286,14–16). Zum christologischen Sinn der Buchstaben vgl.: »Das äußerliche Ansehen des Buchstabens ist dem unberittenen Füllen einer lastbaren Eselin ähnlicher« (N II, 171, 26f.; vgl. Mt 21, 5). 6 Vgl. mein o. Anm. 3 genanntes Buch S. 144–169. 7 In Joh. c. 3, tract. 80 (MPL 35, 1840); bei Luther vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Göttingen 1967; zitiert als BSLK, hier: BSLK 449,33; 694,29f.; 709,37f. 8 WA 10/III, 70,28–30. 9 WA 38, 253,12–15.

Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls

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Insofern ist Luther mehr am Wort gelegen als am Sakrament selber,10 ja das Wort ist »hoher […] dan das sacrament«.11 Zwar ist beim Sakrament in beidem, im Wort wie im Element, dasselbe,12 und das Sakrament ist nur das ganz äußerlich (sinnlich) gewordene Wort Gottes,13 aber das alles nur »ümb des Worts willen, welches ist ein himmlisch, heilig Wort, […] denn es hat und vermag alles, was Gottes ist«.14 Denn mit und in diesem schöpferischen Wort Gott selbs seine Ehre hinansetzet, sein Kraft und Macht daran legt.15

Daher geht das Sakrament letztlich auf Gottes eigene Einsetzung zurück, was auch für Hamann grundlegend wichtig ist,16 und die Einsetzungsworte Jesu enthalten die Summe des ganzen Evangeliums.17 Damit gilt spezifisch beim Sakrament: »der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, d. h. den Elementen als solchen, »sondern von einem jeglichen Wort, das aus Gottes Mund geht« (Mt 4, 4). Eben von den Einsetzungsworten gilt Gottes Kondeszendenz in die Sprache Jesu: sie sind nicht von menschen, sondern von Gott selbs aus seinem eigen munde mit solchen buchstaben und worten gesprochen und gesetzt.18

Derart fallen Glauben und geistliches Essen hier in Bezug auf das Wort zusammen,19 und Luther kann sich sogar das augustinische »Crede […] et manducasti« zu eigen machen.20 Es sind diese wort- und sakramentstheologischen, lutherischen Zusammenhänge, die in Hamanns Formel vom »Sacrament der Sprache« vorausgesetzt sind und mitklingen.21 Bestimmend ist in ihr eine programmatische Analogie: so wie 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. WA 11, 432,25f.; zur Begründung: WA 6, 518,17f. WA 10/III, 71,1f. WA 19, 504,27. WA 2, 692,36. Luthers Großer Katechismus; BSLK 694,24–27. Ebd. Z. 19f. Vgl. BSLK 691,38f.; 692,3f. u. Z. 6. WA 11, 432,24f.; vgl. Joh 15, 3: »Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch gesprochen habe.« WA 26, 446,2f. Ebd. 296,17f. WA 6, 518,19f.; vgl. WA 2, 742,28. Für Luther erfüllt sich – wegen des neutestamentlichen »Für euch« [gegeben] (Lk 22, 19f.; 1Kor 11, 24; vgl. BSLK 714,31–45 sowie 520,24–521,10; 711,35–712,5) – die Intention des Sakramentes in seinem »Gebrauch« bzw. »Genuß«, d. h. der Aneignung im Glauben (als usus verbi; vgl. WA 7, 51,17 u. 23, 189,14). Dieser Begriff des usus ist auch für Hamanns religiöses Sprachdenken leitend. So wie die h. Schrift auf »Gebrauch und Anwendung« zielt (ZH V, 322,53f.; vgl. schon N I, 4. Abs. (Londoner Schriften 59, 29)!), so geht es überhaupt um den »Gebrauch« der Sprache (N III, 27,19f.; vgl. WA 18, 700,35 u. N III, 75,19). Denn Sprache ist für Hamann selber USUS (N III, 234,20; vgl. Horaz, Ep. II, 3, 72). Vgl. auch Ludwig Wittgenstein:

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Rede, daß ich dich sehe

Buchstaben erst in ihrer Zusammensetzung zu Wörtern und elementare Wörter erst in der zum Satz wirkliche Sprache sind, d. h. lebendig zu vernehmender bzw. abzulesender (im Lesen zu aktualisierender) Geist sind, eben so werden die Elemente des Abendmahls (Brot und Wein) erst durch die Einsetzung, d. h. durch das sie zu Momenten im lebendigen Geist aufhebende Einsetzungswort Christi, zum wirklichen Sakrament. Metakritisch gewendet, gehen für Hamann dabei Sinnlichkeit und Verstand wie Buchstabe und Geist zusammen: im »ästhetischen und logischen Vermögen« der Wörter (N III, 288,1). Von den sprachlichen Wörtern gilt: Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung zum Verstand und Begriffen (N III, 288,2–5).22

2. Vor dem Hintergrund der lutherischen Auffassung von der Sprachlichkeit des Sakraments23 ist nun auch Hamanns eigentliche These vom »Sacrament der Sprache« und »dem Geist ihrer Einsetzung« zu interpretieren. Die Sprache selber wird hier sakramental verstanden. Ich vertrete die These, dass auch diese Sicht Hamanns auf die Sprache sich noch von Luthers Sakramentsverständnis herschreibt. Dass Hamann im letzten Zitat »Anschauung« ins Spiel bringt, hat nämlich außer dem offenkundigen Kant-Bezug auch einen sakramentstheologischen Sinn. Das Sakrament ist, indem es als äußerlich-sinnliche Gestalt von Gottes Wort zu verstehen ist,24 in der lutherischen Tradition im Anschluss an Augustin als verbum visibile bezeichnet worden.25 Sinnlich »anschaubar« ist es Wort bzw. in unlösbarem Zusammenhang mit ihm. Das besagt aber implizit, verbum visibile ist das Abendmahlssakrament nur daraufhin, dass und weil das Wort (Christi bzw. Gottes) selber schon sacramentum audibile, hörbares Sakrament ist.26 Für

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Philosophische Untersuchungen. § 10 und § 43. Frankfurt a. M. 1967. S. 18 u. 35. Hamann betont immer wieder den »Sprachgebrauch« (ZH V, 95,23–26) und redet von »Einsetzung und Gebrauch« der Sprache (N III, 288,14f.). So gehört zur Sprache konstitutiv »Überlieferung und usus« (ebd. 284,25f.), und Hamann wendet sich daher im Namen von Offenbarung gegen »natürliche« Sprache wie gegen »natürliche Religion« (als ein ens rationis) (ZH, IV, I95,13– 16). Denn »kein Genuß ergrübelt sich« (ZH V, 265,1f.), und letztlich ist auch Gott wesentlich zum »Genuß« da (ebd. Z. 2f.). Auch dieser Satz entfaltet Hamanns Grundsatz: »Vernunft ist Sprache« (vgl. ZH V, 177,16–21; N III, 231,10–12). Nach Oswald Bayer ist »Wortzeichen« (N III, 288,21) wie Sakrament aufzufassen (Bayer, wie o. Anm. 2, S. 383 Anm. 26). WA 2, 692,36. Vgl. BSLK 292f.; Apol. XIII, 5. S. o. Anm. 3. Die Auffassung vom Wort als Sakrament findet sich – auf Luther zurückgehend – bei H. Bezzel u. a.; auch Bayer spricht vom sakramentalen Verständnis der Sprache (Vernunft. S. 390). Kommunion und Kommunikation können zusammenfallen (vgl. »kommunizieren«)!

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Luther wiederum sind die heilbringenden verba Christi »sacramenta«,27 und das Evangelium ist als solches »sacramentaliter notandum«.28 Auch so ist begründet, dass für ihn das rechte Hören ein geistlich-sakramentales Verzehren (Essen) ist.29 Die historische Einsetzung des Wort-Sakramentes von Brot und Wein ist bei Hamann umgriffen von der universalen Einsetzung der Sprache – für Nadler »das denkbar feierlichste Wort« (N VI, 108) – durch Gott selber. Gott kommt dabei als schöpferische »Natur« ins Spiel: Weil die Werkzeuge der Sprache30 wenigstens ein Geschenk der alma mater Natur sind,31 […] und weil […] der Schöpfer dieser künstlichen Werkzeuge auch ihren Gebrauch hat einsetzen wollen32 und müssen: so ist allerdings der Ursprung der menschlichen Sprache göttlich (N III, 27,15–21).33

Entsprechend ist auch der Mensch als Sprachgeschöpf eingesetzt.34 Durch göttliche Einsetzung ist die Sprache in ihrer menschlich-göttlichen Beschaffenheit unauflösbar – wie das Sakrament der Ehe:35 durch eine Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt hat, wird Glaube und Treue aufgehoben (N III, 300,33–35).

Ähnlich hat Luther sich ständig gegen das Zertrennen von Wort und Element, göttlichem und menschlichem Tun beim Sakrament gewehrt.36 Für Hamann gilt überhaupt (hier: bezüglich der gemeinsamen Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand):

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Hamanns »mitgetheiltes« Sein (als Gnade) ist »communiziertes Sein« (vgl. ZH V, 271,28f.). Gott als Wort findet sich z. B. N III, 32,26. WA 9, 440,9f. Ebd. Z. 10f. Auch sonst vergleicht Luther die öffentliche (volkssprachliche) Zugänglichkeit des Verkündigungswortes mit der allgemeinen Sichtbarkeit des Sakraments (vgl. z. B. WA 6, 524,29–35). Vg1. WA 26, 296,17f. Vgl. N III, 21,14f. (Ohr u. Zunge). Vgl. N I, 288,29 (Natur als Tochter Gottes). Durch »Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und Ω«, »sind alle Dinge gemacht« (ZH VI, 108,21f. u. 24f.). Vgl. WA 18, 700,35: »grammatica et usus loquendi habet, quam Deus creavit in hominibus«. Gott ist »der Vater der Vernunft und Religion«, die als »Geist und Wahrheit« auch Sprache sind (vgl. N III, 105,15f. mit Z. 13 [Mt 5, 18]; vgl. N III, 231,10–12). Vgl. N III, 299,4f. (Pflichtträger der Natur) u. 22,7–21 u. Z. 22–27 sowie N IV, 425,39f. (LutherZitat: WA DB 10/1, 101,12–14). Auch beim Thema Ehe gehen für Hamann Sprache, Religion und Geschlechtlichkeit zusammen. Vgl.: »Hier schnarcht der Homer der reinen Vernunft ein so lautes Ja! wie Hans und Grethe vor dem Altar« (N III, 289,6–8). Zur Ehe als von Gott eingesetzt: ZH II, 186,10 (vgl. 193,20f.); Hamann hat eine »katholische Denkungsart« über die Ehe als »Sacrament« (ZH IV, 131,10 u. 136,36f.). Vgl. BSLK (am Beispiel der Taufe) 694,6f.; 695,19f. sowie WA 6, 530,27.

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Rede, daß ich dich sehe

Zu welchem Behuf nun so eine gewaltthätige unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat! (N III, 286,32–34).37

Diese falsche »Scheidekunst« ist insbesondere die Gefahr der »kritischen« Philosophie.38 Wiederum ähnlich hat sich Luther in seiner Abendmahlslehre gegen falsche logische Unterscheidungen beim Sakrament und zugunsten einer sprachlichen Einheit (in der Figur der Synekdoche) ausgesprochen.39 Bei Hamann heißt es aber auch: Was Gott zusammengefügt hat, kann keine Philosophie scheiden; eben so wenig vereinigen, was die Natur geschieden hat (ZH V, 158,16f.).40

Es geht also um die wahre Verhältnisbestimmung von untrennbarem Zusammenhang und unvermischbarer Unterschiedenheit, von Identität und Differenz zugleich.41 Eben dies »Geheimnis« einer Zweieinigkeit hat die Sprache als Sakrament mit dem christlichen Sakrament gemeinsam, und wie für Luther schon das Wort Sakrament sekundär war,42 so deutet es auch für Hamann vor allem auf dies μυστήριον hin.43 Daher hat Hamann die Sprache als Sakrament christomorph begriffen: es giebt uns die schlechte Busenschlange der gemeinen Volkssprache44 das schönste Gleichnis für die hypostatische Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den gemeinschaftlichen ldiomenwechsel45 ihrer Kräfte, die synthetischen Geheimnisse beyder correspondirenden und sich widersprechenden Gestalten […] samt der 37 Vgl. Augustinus: De Trinitate XII, 3 (MPL 42, 999f.). 38 »Die Philosophen haben von jeher der Wahrheit dadurch einen Scheidebrief gegeben, daß sie dasjenige geschieden, was die Natur zusammengefügt hat und umgekehrt« (N III, 40,3–5; vgl. Mt 5, 31 u.19, 6!). Vgl. auch zur »Contingenz« (N III, 219,14f.). 39 Vgl. Luther WA 26, 437,30–445, 17; bes. 444f. Dazu vom Vf.: Luther zur Metapher. In: Arbeit am Gottesbegriff. Band I. Tübingen 2004. S. 91–94. Ausführlich, wie o. Anm. 3, S. 158–165. 40 S. auch ZH VI, 534,18f. 41 Die Wahrheit erscheint als Widerspruch: Vgl.: N III, 131,25–29 (ZH III, 88,35–89,2) und N IV, 281,37–41. Widersprüche zu vereinigen, ist das »Geheimnis der göttlichen Weisheit« (N I, 264,20–23; Londoner Schriften 367, 4–6)! Zur coincidentia oppositorum vgl. N III, 224,3; 392,13–15 und bes. ZH IV, 287,10f.; 462,7f. (Kant !); vgl. ZH V, 327,12–17; ZH VII, 457,36–458, 2. 42 Weil nicht aus der Bibel stammend; vgl. WA 26, 407,31f. 43 So schon Augustinus: Confessiones. Vl, 5,8 u. zur Erläuterung Josef Bernhart (lat.-dt. Ausgabe. München 31966. S. 872 A 14 sowie S. 917 A. 30). Zu Hamann vgl. Bayer: Vernunft. S. 337. Zur Mysterien-Stelle N III, 221,15–17 (Ceres!); vgl. HH V, 217 A. 3 (Cicero: De legibus II, 14!) sowie N III, 226,5f. u. 9–15. 44 In ihr ist auch die Kritik der reinen Vernunft verfasst! Siehe dazu ZH V, 95,19–31. 45 Von der communicatio idiomatum des Geistigen und des Materiellen bezüglich der Sprache ist ZH VII, 158, 3–10 die Rede. Den Zusammenhang von Sinnlichkeit und (geistigem) Sinn in jedem sprachlichen Wort stellt das Sakrament (als Einheit von Wort und Element) noch einmal spezifisch und explizit dar. Wie die Sprache (für Hamann) schon sakramental ist, so ist das religiöse Sakrament die artikulierte Wahrheit der Sprache (bzw. des sprachlich existierenden Menschen).

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Transsubstantiation subjectiver Bedingungen und Subsumtionen in objective Prädicate und Attribute (N III, 287,16–22).

Hier klingen ebenso die bekannten Bestimmungen des christologischen Dogmas46 wie der traditionellen Abendmahlslehre ineinander.47 Ermöglicht aber wird dieses »Gleichnis« allein, wie Hamann sagt, »durch die copulam eines Macht- oder Flickworts […] per Thesin et Antithesin« (N III, 287,23–25).48 Hinter der Copula im Urteil (sc. »ist«) taucht hier also das identifizierende EST in Christi Einsetzungsworten auf: »Das ist mein Leib […]« (vgl. Mk 14, 22), mit denen das radikal unterschiedene Brot und Leib bzw. Wein und Blut doch in Eins gefasst, schöpferisch zusammengesprochen werden.49 Luther hat die Einsetzungsworte mit Gottes Schöpferwort am Anfang gleichgesetzt50 und sagt von Christi seinen Leib mit den Elementen identifizierender Rede: So ist sein wort freylich nicht ein nachwort, sondern ein machtwort, das da schaffet, was es lautet. Psalm 33 [,9].51

Freilich lassen die verständigen Anbeter der Vernunft (wie Lessing) »sich mit einem Hoc est Corpus meum! oder Geheimniße(n) sub ubtraque specie« nicht »abspeisen« (N III, 30,30f.). Für Hamann ist dies Macht-Wort ebenso göttliche Anrede wie das »το αιμα μου αληθης εστιν ποσις« [Joh 6, 55: »Mein Blut ist der wahre Trank«] (N ΙΙ, 336,15 – darauf folgt ein Horaz-Zitat zu Bacchus: ebd. 16– 24!)52 – dieses απαξ λεγομενον schlechthin (ebd. Z. 35; vgl. N III, 392,17).53 46 Vgl. die Stichworte: hypostatische Vereinigung, Naturen, Idiomenkommunikation, Attribute. Zur »Zweieinigkeit« von göttlicher und menschlicher Natur Christi in ihrer Ungetrenntheit und Unvermischtheit vgl. Joachim Ringleben: Zweieinigkeit. Logische Überlegungen zur Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus nach dem Chalcedonense. In: Ders.: Arbeit am Gottesbegriff III. Göttingen 2021. S. 107–118. 47 Stichworte: Gestalt (species; vgl. N III, 218,31!), Transsubstantiation. 48 Vgl. dazu auch Bayer: Vernunft. S. 358f. 49 Vgl. dazu in meinem Buche, wie o. Anm. 3, S. 154–158. 50 Vgl. WA 26, 283,1–3. 51 Ebd. Z. 4f. 52 Typologisch hintergründig dürfte Hamann N III, 141,22 den Horaz zitieren: »[nos] nisi damnose bibimus, moriemur inulti« (Serm. 11, 8, 34: »Wenn wir nicht mörderisch trinken, werden wir ungerächt sterben«). Es folgt aus Julius Firmicus Maternus (ebd. Z. 23 mit Fn.10): Εκ τυμπανου βεβρωκα, εκ τυμπανου πεπωκα, γεγονα μυστικος (»Aus der Handpauke habe ich gegessen, aus der Zimbel habe ich getrunken, ich bin ein Myste geworden«). Vgl. dazu auch N II, 336,8: »Et calices poscunt maiores« (Horaz: Serm. 11, 8, 35: »Und sie verlangten größere Kelche«), wo wenige Zeilen später Joh 6, 55 b zitiert wird (ebd. Z. 15); nach Hamann das ἅπαξ λεγόμενον (ebd. Anm. 7)! Dann folgt die Horaz-Strophe (Od. III, 25, 2 u. 14–20) auf den »Keltertreter« Bacchus (v. 16–24). 53 Zur päpstlichen Bulle: Coena domini vgl. N IV, 263,29–36; N V, 335,14f. Anspielungen auf die Katholische Messe finden sich z. B. ZH III, 295,24–26; 347,29 u. ZH V, 297,22f. (opus operatum).

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Aus dem allen erhellt schon: Hamann hat die historische Einsetzung des Sakraments von Leib und Blut Christi eingeholt und überboten durch eine universale christologische Interpretation der Sprache als Sakrament. Dafür steht der bekannte Satz des Ritters von Rosencreuz: Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung (N III, 27,11–14).54

Denn für Hamann ist Christus der realisierte Plan Gottes mit der ganzen Welt schlechthin.55 Darum umgreift die Menschwerdung Gottes Natur und Gnade, Schöpfung und sakramentales Heil: Die Natur setzt in ihren Hervorbringungen die Menschwerdung Gottes zum voraus und die Gnade gleichfalls (N II, 293,27–29; Londoner Schriften 399,12–14).

II Wie hängen nun das Sakrament der Sprache und das sakramentale Essen und Trinken für Hamann, d. h. bei ihm und in seinem eigenen Leben und Verhalten, genauer zusammen?56 Einen Fingerzeig dazu gibt unser Basiszitat aus der Metakritik: Hamann hat die Umdeutung der Transzendentalphilosophie ja »um der schwachen Leser willen« vorgenommen (N III, 289,21) – als deren ersten er sich natürlich selber wusste. Seine Herablassung wie schon die des absoluten Autors zum Sakrament bezieht sich genauestens auf die Bedürfnisse der menschlichen Natur und deren Stärkung: Dein Brodt ist der Stab unseres Lebens und unserer Kräfte (N I, 275,21; vgl. Ps 23, 4 u. Jes 11, 4).

1. Nicht nur ist das Brot Grundnahrungsmittel für den Menschen, diesen »Brodwurm« (N IV, 403,20), so »daß Brod in der Reyhe menschlicher Bedürf-

54 Vgl. dazu Friedemann Fritsch: »Die Wirklichkeit als göttlich und menschlich zugleich«. In: Oswald Bayer (Hg): Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Tübingen 1998. S. 52–79 sowie umfassend Ders: Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken J.G. Hamanns. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (TBT 89). 55 Vgl. N III, 192,12–19 u. Eph 1,10; 3,9. 56 Zum Sakrament der Taufe bei Hamann vgl. Knut-Martin Stünkel: Semper repetendus baptismus. Name, Taufe und Heilszeit nach Luther, Hamann und Kripke. In: NZSTh 46 (2004). S. 112–137.

Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls

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nisse, gleich den Elementen, oben an stehe […]« (N IV, 406,15; Hervorh. J. R.),57 sondern weil Hamann Mt 4, 4 kennt, ist ihm Sprache »das sichtbare Element« (ZH V, 95,20f.) – eben sakramental. Protologisch wie soteriologisch steht für ihn fest: Das erste Gebot heißt: Du sollt eßen […] und das letzte: kommt, es ist alles bereit.58 Eßen und Trinken […] sind göttliche Geschäfte und Werke [nämlich für den Christen] (ZH I, 341,8–10).59

Für Hamanns unersättlichen »Wolfshunger«60 und seine Trinklust sind hier nicht noch einmal die überreichlich vorhandenen Selbstzeugnisse anzuführen;61 es ist so, als wollte auch er den pharisäischen Vorwurf auf sich ziehen, der schon Jesus traf: »ein Fresser und Weinsäufer« (Mt 11, 19 und ZH VII, 437,15f.).62 Sachlich wichtiger ist, dass dieser Wolfshunger sich auch als unstillbarer Lesedurst äußert, wie viele Briefstellen bekunden.63 Daher favorisiert Hamann für seine geistige Tätigkeit den Begriff der ruminatio, also des »Wiederkäuens« (N II, 49,36f.; vgl. N I, 277,17–2864 und III, 141,4). Denn die Buchstaben sind etwas Sinnlich-Materielles (ZH II, 416,22f.), wenn auch gilt: Der Geist ist es, der lebendig macht; der Buchstabe ist Fleisch (N III, 107,13f.).

Aber zugleich wurde der Geist Buchstabe (ZH VI, 255,21f.)65 wie das Wort Fleisch und Christi Leib zum Brot. So ist 57 Ebd., Z. 13: »Schlüssel der Erkenntnis«! »Brot ist aus kultischen Gründen ein Hauptwort Hamanns, zumeist durch Synonyme vertreten« (Nadler; N VI, 63). Das Wort aus Pred 9, 7: »Iß dein Brot mit Freuden und trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott«, zieht sich seit London (vgl. ZH I, 427,35–37) durch Hamanns Gedanken (ZH V, 286,15–19; ZH VI, 474,28f. u. 480,14f.). 58 ZH V, 275,27f.; vgl. Gen 2, 16 u. Lk 14, 17. Vgl. auch ZH V, 286,15; 459,3f.; ZH VI, 480,14–21 u. 240,35; N I, 427,35–37; N II, 49,15. 59 In Hamanns Schlafzimmer hing ein Kupferstich von Christian Ludwig Stahlbaum, der »unsern Heiland beym Brodtbrechen zwischen den 2 Jüngern von Emahus« darstellte (ZH III, 345,9–11; 1772). 60 Vgl. ZH VI, 12,29 u. V, 87,21. Hunger (und Angst) kennzeichnen den Verlorenen Sohn (vgl. ZH II, 225,29–32). 61 Vgl. Nora Imendörffer: Johann Georg Hamann und seine Bücherei. Königsberg u. a.1932. Ab S. 6. S. dazu auch den aufschlussreichen Aufsatz von Ildikó Pataky: Abgebauter Körper – Katalogisiertes Corpus. Leib und Bibliothek bei Johann Georg Hamann. In: Elena Agazzi/ Eva Koczinszky (Hg): Der fragile Körper. Göttingen 2005. S. 133–148 (bes. 135: zu Buch und Leib). 62 Er nennt die eigene Unmäßigkeit seinen »Satans Engel« (ZH VII, 501,4; vgl. 2Kor 12, 7) und spricht von seinem leidigen »Bauchdienst der Gefräßigkeit und Völlerey« (ZH VII, 420,33; vgl. Röm 16, 18; Phil 3, 19). 63 Mit Hunger lesen: ZH III, 240,28–32.; vgl. ZH V, 60,28 u. 61,20; 87,21; ZH VII, 442,12; 459,19f.; 506,9f.; ZH VI, 12,29; ZH VII, 360,12 (Wolfshunger); ZH V 430,15 (Hunger und Durst auf Bücher); beim Lesen wie beim Essen und Trinken ein horror vacui (ZH VI, 52,16–21.); lesen wie ein Schmarotzer (ZH VII, 292,29f.; 33,18f. u. 264,37–265, 3). 64 N II, 49,36 u. N I, 277,17–28 (Londoner Schriften 432,16f. u. 380,24–35); zum »Geschmack« der Bücher vgl. N II, 39,29 (Londoner Schriften 342,16). 65 Vgl. die zentrale Stelle ZH I, 393, 27–394,9!

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das äußerliche Ansehen des Buchstabens […] dem unberittenen Füllen einer lastbaren Eselin ähnlicher (N II, 171, 26f.; vgl. Mt 21, 5).66

Aber »Fleisch und Buch ohne Geist ist kein Nütze« (N III, 227,9f.), und entsprechend bringt eine zentrale Stelle in Konxompax Fleisch und Buch, Buchstabe, Geist, historischen Glauben, Leib des Herrn und littera scripta in engsten Zusammenhang (N III, 227,11–22).67 Und eben die Extreme des Göttlichen und Menschlichen müßen schlechterdings verbunden werden, um das Ganze zu erklären, ουσια του σωματος und εξουσια του αξιωματος. Durch diese Vereinigung wird das Buch heilig […] Eine κοινωνια ohne Transsubstantiation68 – weder Leib, noch Schatten; sondern Geist (ZH IV, 254,29–33).69

Auch in der typologischen Verkleidung der Anrufung von Bacchus und Ceres70 wird die Auflösung der hl. Schrift, d. h. die Trennung von Göttlichem und Menschlichem, Buchstabe und Geist verworfen: 66 Vgl. zu »lastbar« und »Füllen« Nadler: N VI, 221 u. 138. Der Buchstabe als »das einzige vehiculum« des Geistes (vgl. ZH VI, 331,17–22). 67 Siehe auch den Entwurf zu Konxompax mit den Ausführungen über die Mysterien der Ceres und Brodt und Wein: ZH IV, 61f. Der Vergleich mit Hölderlin legt sich nahe. Vgl. auch u. Anm. 70. 68 Zu einer falschen Transsubstantiation vgl. N ΙΙΙ, 106,32–40 (und übertragen: 385,35 / 387,1). 69 Vgl. Bayer. Vernunft. S. 31f. 70 Hamann erwähnt 1775, dass er eine Abhandlung von J. A. Bachlius über die Eleusinischen Mysterien (1767) gelesen habe (ZH III, 184,4f.; vgl. schon eine andere: ZH II, 211,7; 1763). Zu diesem Thema hier einige Hinweise. Er sieht bekanntlich in diesen »Geheimnissen« Ceres (Demeter) für die Sinne und Bacchus (Dionysos) für die Leidenschaften figurieren (N II, 201,13f.; es folgt Tibull: Elegien. II, 1, 3f.; vgl. auch den Hinweis auf die Zerreißungs-Orgien N II, 201 Fn 18). Insbesondere durch Horaz ist er auf die Cereris sacrum arcanae aufmerksam gemacht (N II, 255,44f.). Er findet ironisch, das »heilige Feuer« unter dem »Scheffel der Ceres« (Lk 11, 33) und dem »Thalamus des Weingottes« (vgl. Lk 8, 16: »Bank«) versteckt. (N III, 217,2–5; zur »Verwässerung« vgl. 2Makk 1, 2), und »Weinlese- und Erntefeste« sind ihm »fruchtbare Typen und beredte Vorbilder« (N III, 222,9–11). Da ist von den »Priester(n) der Tenne und Kelter« die Rede (ebd. 217,5f.) bzw. von »Erndte oder Kelter« (N II, 366,2; vgl. 365,29 u. 31; vgl. 4Mose 13, 24) oder von Hamanns eigener »Kelter« und der »Weinlese Jerusalems« (N III, 374,24). Der Keltergott aber ist Bacchus (N II, 336,16–24; vgl. Horaz: Oden III, 25, 2 u.14–20), der sogleich nach dem Zitat von Joh 6, 55b herangezogen wird (N II, 336,15; vgl. ebd. 13: »thracische Wunden«!), und überhaupt ist Dionysos das »göttliche Mündel« (N IV,387,34f.)! Zugleich ist der Keltertreter mit dem besudelten Gewand (vgl. Jes 63, 3) und den lachenden Augen (vgl. Hohel. 5, 12), der seinen Mantel im Weinbeerenblut wäscht (vgl. 1Mose 49, 11 u. Apk 1, 5; 7, 14), ein Typos Christi (N II, 346,30–32). An einer anderen Stelle scheint die »gestörte Bacchantenfrisur« (N IV, 411,10) der Dornenkrone Christi zu entsprechen (vgl. ebd.: »sanftmüthig und demüthig«), und »der Gesetzgeber der enormsten und paradoxesten Republik« (sc. des Gottesreiches; ebd. Z. 9f.) entspricht ganz dem »reichsten und größten Scribent(en) in zerlumptem« Gewand (ebd. Z. 8f.), was an die zerrissenen alten Lumpen des göttlichen »Schriftstellers« bei Hamann erinnert (vgl. N I, 5; Londoner Schriften 59,25–30); vgl. ZH I, 341,13–15; ZH IV, 7,32–34; ZH V, 314, 21–29 mit WA DB 8, 13, ab Z. 1. (Windeln) u. WA TR 6,16 (Nr. 6524). Vgl. auch den ersten Aufsatz in diesem Bande). Zwar

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Ah scelus indignum! soluetur litera diues? Frangatur potius legum veneranda potestas. Liber et alma Ceres succurrite! (N II, 203,14–16).71

Die göttliche Macht von Brot und Wein soll für die Einheit des Unterschiedenen, das Abendmahl für die hl. Schrift einstehen, d. h. das sprachlich verfasste Sakrament für das Sakrament der Sprache. Denn weil für Hamann die Bibel – als sacramentum audibile bzw. legibile – selber den sakramentalen Charakter des Wortes hat, hat er sie »mit einem [sic!] fame canina [dem ›Wolfshunger‹] verschlungen und laß tägl. darinn. Sie war mein Element und Aliment […]« (ZH II, 443,32f.). Er hört aus der Bibel den sakramentalen Imperativ: Laß die Bibel Dein täglich Brodt seyn, nimm und iß es […] (ZH I, 401,22f.).72

Hamann verzehrt und genießt sinnlich-geistlich die hl. Schrift wie das Sakrament: er verschlingt dies Buch wie der Prophet Ezechiel (3, 1) und der Seher der Apokalypse (Apk 10, 9;73 vgl. N III, 207,16). Aber es ist ihm auch wie ein Kelch, dessen Wein ihn geistlich stärkt: Wie die alten Sophisten am Homer, so hat er sich aus den Quellen der heiligen Bücher »bis zum Misbrauch vielleicht […] überrauscht ευκαιρος, ακαιρος« (ZH V, 314,2123; vgl. 2Tim 4, 2).74 2. Hatte Hamann nicht etwas von einem (stadtbekannten) Schmarotzer, auch in seinen eigenen Augen? 75 Wir kennen seine exzessiven Vorlieben, aber er generalisiert sie auch:

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werden die Bacchanten und Propheten zusammen genannt (N II, 105,12; vgl. Z. 10–16 u. N III, 151,17), aber trotz aller Typologie bleibt Hamann sich bewusst: es gibt, wie den »Kelch seines Sophisten«, d. h. des Sokrates unter dem Kreuz (N 2, 273,4f.), so auch »Kelch und Tisch der Dämonen«, die vom Leib des Herrn zu unterscheiden sind (N III, 227,16f.). »Ach vermessene Tat! Aufgelöst wird die kostbare Schrift? / Eher soll die verehrungswürdige Macht der Gesetze zerbrechen. / Bacchus und nährende Ceres kommt zu Hilfe«. In: Anthologia Latina 672; 4, 17, 8; Verse gegen die Vernichtung der Aeneis, vgl. Nadler. N VI, 11 u. N II, 410 (z.St.). »Nimm hin und iß« ist die individuelle Zueignungsformel beim kirchlichen Abendmahlsempfang, vgl. Mt 26, 26. Vgl. N III, 207,16 u. ZH I, 305, 6–8. Mit Pope fordert Hamann aber auch »Trinkt tiefer« (vgl. ZH II, 106,36f.; ZH VII, 442,10f. u. ö.; vgl. dazu in diesem Bande den Aufsatz zur Michaelis-Rezension bei Anm. 107). Zur Unterscheidung zwischen heiligem und unheiligem Trinken vgl. N I, 50,12–14 (Londoner Schriften 110,10–12). Vgl. ZH V, 297,1; 412,6f.) u. N III, 37,6f. Vgl. z. B. den Titel Näschereyen (N II, 185) u. ZH VII, 409,15f. (»Ueberall ist meine Weide!«) oder auch: Brocken (N I, 298–309; zu Joh 6, 12).

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Das menschliche Leben ist gleich einem SauerBraten, bey deßen herrlichem erquickendem Genuß mir die Schweißtropfen auf der Nase wie Perlen stehen (ZH IV, 360,15– 17 und z. B. auch 388,6f.).76

Von Sauerbraten, Essenseinladungen und Weintrinken ist auch in der charakteristischen Briefstelle vom 3. Dez. 1785 (an Jacobi) die Rede; dann geht es übergangslos weiter: Es fiel mir ex abrupto ein der Ordination [sc. von Scheller] in der Schloß Kirche beyzuwohnen.Vor Kälte konnte nicht das Ende abwarten, sondern gieng nach mitgehörten Einsetzungsworten [!] 77 […] mit dem Anfange des Verses: Jesu! wahres Brodt des Lebens78 zu Hause. Den ganzen Weg durch murmelte ich immer mit einem unwiderstehlichen Geschmack die letzten Worte unterm Bart. Daß ich mög, wie jetzt, auf Erden Dort ein Gast im Himmel werden.79 Meine Diät im Eßen ist ungefehr wie ich mir meinen lieben Alcibiades seine im Trinken vorstelle […] (ZH VI, 156,14–24).

Und dann ist gleich wieder von Suppe, Butterfischen, Hamburger Rauchfleisch, braunem Kohl, saurem Schweinsbraten, Kuchen und Obst, einer Schale Bischof die Rede (vgl. ebd. Z. 25–31).80 Da hat man Hamann ganz vor sich: als ἔξω und ἔσω ἄνθρωπος (2Kor 4, 6).81

76 Auf den – auf Thales Meinung, alles sei voller Götter (vgl. Aristoteles. De anima A 5. 411a 8) zurückgehenden – Satz Heraklits vom Wohnen der Götter auch in der Küche (vgl. Aristoteles, De partibus animalium A 5. 645 a 20f.) bezieht Hamann sich häufiger: ZH III, 7,16f; ZH IV, 315,1f.; ZH V, 373,18f.; ZH VII, 140,13; 339,7f. u. 426,34f. und dies voller Zustimmung. 77 Vgl. das augustinische Wort, zitiert o. bei Anm. 20. 78 Es handelt sich um das Abendmahlslied: »Schmücke dich, o liebe Seele« von Johann Franck (1646f). In: Evangelisches Gesangbuch Nr. 218, bes. Strophe 2 (Christus als Lebensbrot). 79 Ebd. Strophe 6, Schlussverse (von Hamann aus dem Gedächtnis zitiert). Es ist auffallend, dass Theodor Gottlieb v. Hippel, bei dem Hamann zeitweise regelmäßig zu Gast war (vgl. ZH VI, 19f. u. ö.), in seinem Roman: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Zweiter Theil (1779) in der humoristischen Beilage B. (»Abdankung des Organisten in L-.«) das menschliche Leben ausführlich mit einer Mahlzeit vergleicht. In: Lebensläufe… Leipzig 1859. S. 383–395. Nicht nur werden die Lebensalter mit den Hauptmahlzeiten verglichen (S. 393), sondern es wird auch betont, dass man im irdischen Leben nur als Gast weilt (S. 384) und danach eine himmlische Speisung kommt (S. 386). Gott selber wird ein Sinn für Essen und Trinken zugesprochen (S. 386 u. 389) und der einschlägige Ps 145, 15f. zitiert. Diese Nähe zu Hamann ist, wie manches in dem Roman, einer eigenen Untersuchung wert. 80 Von seinen eigenen Schriften redet Hamann auch als von »aufgewärmtem Kohl« und »zwo neue Würste« (ZH II, 128,33–35; vgl. ZH VI, 217,22–24: »Wurststil«); anderswo »Oblate« (N IV, 461,1) oder auch ein Brief (von Franz Kaspar Buchholtz) als stärkender »Kelch« (ZH VI, 334,2; anders ZH III, 49,27). An Herder: »gieb Ihnen Broth und Wein« (ZH III, 17,20). 81 Vgl. zu dieser »Ehe«: N III, 40,10–15.

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Wie jetzt auf Erden, einst dort im Himmel – ein Gast.82 Auch wenn das Reich Gottes nicht einfach in Essen und Trinken besteht (Röm 14, 17), wird die Vollendung im Neuen Testament doch im Gleichnis vom Hochzeitsfest (Mt 22, 1–14; vgl. Apk 19, 9) oder vom »Großen Abendmahl« ausgesagt (Lk 14, 15–24), und auch Jesus selber spricht vom erneuten Trinken des Weines im Gottesreiche (Mk 14, 25 parr.) und sagt: »Selig ist, der das Brot ißt im Reich Gottes« (Lk 14, 15).83 Und genau diesen eschatologischen Zusammenhang macht Hamann geltend: Wie die Natur alles dasjenige zum Voraus vorbereitet und vorgedacht hat, was die Stimme unserer leiblichen Bedürfnisse von dem Schöpfer hätte fordern können: so hat die Gnade für uns geschlachtet und zugerichtet und wir haben nichts nöthig als ihren Ruf zu folgen, um an ihrem Abendmal theilzunehmen,84 zu dessen Zubereitung sie früher aufgestanden, […] als wir uns unsres Daseyns und künftigen Hungers […] bewußt waren. Ja, um uns an diesem Gastmahl theilnehmen zu lassen, wurden wir aus dem Schooß der Nacht zum Leben aufgeweckt (N I, 294,13–21; Londoner Schriften 399,34–400,6; vgl. Spr 9, 2 u. 5),

So bereitet die Natur schon die Gnade vor (ebd. 9–15), und so sehr ist unsere Religion für unsre Bedürfnisse, Schwachheiten und Mängel eingerichtet, daß sie alle diese zu Wohlthaten und Schönheiten verwandelt […] (N II, 46,6–8; Londoner Schriften 349,8–10).

Daher konnte Hamann auch niederschreiben:

82 Als solcher Gast auf Erden spricht Hamann vom »Abendmal meines Lebens« (ZH V, 469,15; vgl. ZH VI, 513, 13 (!) u. 24,27f.). Auch ein normales Abendessen kann »Abendmal« heißen: z. B. ZH III, 21,13 u. ZH IV, 112, 18. In eschatologischer Perspektive rücken die Autorschaft als »Excremente der menschl. Natur« und das natürliche wieder Loswerden der Speisen eng zusammen (vgl. ZH VII, 332,6–10; 1787). Diese »ungezogene Natursprache« entspringt Hamanns »dürftiger Philosophie« und deren »ldeal«, »welche mit ihren Füßen auf der Erde steht und geht, nur mit ihren Augen den Himmel erreichen kann, von ferne, von weitem und je länger, desto dunkler« (ebd. 10–14). Dieser Weg ist für ihn zugleich der von der Natur zur hl. Schrift: »Je mehr die Nacht meines Lebens zunimmt, desto heller wird der Morgenstern im Herzen« [vgl. 2Petr1, 19], »nicht durch den Buchstaben der Natur, sondern durch den Geist der Schrift, dem ich mehr als jenem zu verdanken habe« (ebd. 14–17; vgl. 2Kor 3, 6b). 83 Zum (eschatologischen) Sinn des Abendmahls hat Hamann schon früh notiert; »Ja, daß wir ihn sichtbar, mit verklärtem Leibe genüßen sollen, daß wir unsern eigenen Leibes gewiß seyn sollen, speist er uns hier mit seinem Leibe und Blute als ein Unterpfand des Mahls, das wir an der himmlischen Tafel und an unserm Hochzeittage zu gut haben sollen« (N I, 273,17–21, Londoner Schriften 376,21–25; vgl. Apk 19, 7–9). Vgl. das Abendmahlsgebet, ebd. 314,16–21; Londoner Schriften 445,20–27 und Hebr 6, 5; Phil 3, 20. Zur geistigen Wirkung des Abendmahls (auf Hamann selber) vgl. in N II, 48,35–40; Londoner Schriften 431,12–17 (mit Joh 14, 26 u. 1Kor 11, 26). 84 Zu Hamanns Abendmahlsbesuch vgl. z. B. N II, 48,35 (Londoner Schriften 431,12); 50,19 (Londoner Schriften 432,39); 51,35 (Londoner Schriften 434,14f.); ZH II, 185,22f. (vgl. 192,29f.); ZH V, 202,6; ZH VI, 103,10–12; ZH VII, 406,8f.

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Aus Wollüsten und Bedürfnissen dieser Erde besteht unser ganzer Vorgeschmack des Himmels (ZH IV, 60,5f.; 1779).85

Derart ist das Christentum ein Geschmack an eschatologischen »Zeichen« und den Elementen: Wasser, Brot und Wein (vgl. ZH IV, 6,5f.), und Hamann will – im Glauben – hier wie dann auch dort »schmecken und sehen wie freundlich der Herr ist« (Ps 34, 9; 1Petr 2, 3).86 Hamanns eschatologische Sicht sowohl des Abendmahlssakramentes wie der Sprache teilt er mit Luther und dessen Sicht des »fiat« in unserem Sein.87 Und wenn er daher seinen unbändigen Appetit und seine innerliche Unruhe mit einem tiefen »Seelenhunger« zusammenbringt,88 dann dürfte er sich dabei wohl Mt 5, 6 getrösten, wo Jesus sagt: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden«.

85 Indes soll das Fleisch gekreuzigt werden: »samt den Lüsten und Begierden« (ZH VI, 164,16f.). So bleibt uns nichts übrig »als der Wunsch, die Hofnung und der Vorgeschmak eines neuen Himmels und einer neuen Erde [vgl. Jes 65, 17; 2Petr 3, 13; Apk 21, 1] – im schönen und lieblichen, aber eben so vergänglichen und flüchtigen Augenblick, wie die Liebe in Wollüsten« (ZH V, 266,10–13; 1784). Vgl. auch: »Alle unsere Glückseligkeit besteht doch in nichts als einem Vorgeschmacke einer beßern Welt und daran müßen wir uns hienieden begnügen« (ZH VII, 243,5–7; 1787). 86 Vgl. N II, 74,4f. (Glaube); 207,3–5 (u. 74,2–5); ZH I, 384,31f.; ZH VII, 299,8–10; 304,15f. (hier Schmecken und dort Sehen); 406,l (Vorgeschmack). 87 Vgl. ZH IV, 182,25–30 und ZH V, 265,27–29 (mit 173,25–30) und dazu Luther WA 7, 337,30– 35! 88 ZH VI, 417,l; 418,17; vgl. ZH VII, 323,21. Vgl. auch die tiefe Einsicht in den psychosomatischen und geistlichen Zusammenhang: »Wenn ich auch meinen Hunger besser mäßigen könnte; aber auch diese Leidenschaft meines Magens ist Seelenschwäche, und […] ein Zwang und Druck langer Weile, ein horror vacui, das man gleichviel womit auszufüllen sucht« (ZH VII, 9,35–37). Entsprechend charakterisiert er seine Autorschaft als ein »verdeckte(s) Gericht« (ZH VI, 208,16).

Der »Eckelname« des Narziß. Interpretation einer rätselhaften Stelle in Hamanns Aesthetica in nuce1 Unter meiner Sammlung befinden sich einige seiner gedruckten Bogen, wo er an dem Rande eigenhändig die Stellen zitiert hat, auf die sich seine Andeutungen beziehn. Schlägt man sie auf, so gibt es abermals ein zweideutiges Doppellicht, das uns höchst angenehm erscheint […] Goethe über Hamann. Dichtung und Wahrheit. 12. Buch.

Zu den vielen Stellen in Hamanns Werken, die den Interpreten Schwierigkeiten bereiten, gehört zweifelsohne eine Passage in der sowohl theologisch als auch poetologisch wichtigen Schrift Aesthetica in nuce (1762), in welcher die Spiegelmetapher aus dem Jakobusbrief (Jak 1, 23) mit dem Selbstporträtieren und dem ovidischen Narziß in einer Polemik gegen die von Winckelmann inspirierte Antikenverehrung verbunden wird. Die rätselhafte Stelle lautet: [16] Gerade, als wenn unser Lernen ein bloßes Erinnern wäre, weist [17] man uns immer auf die Denkmale der Alten, den Geist durch das Ge- [18] dächtnis zu bilden. Warum bleibt man aber bey den durchlöcherten [19] Brunnen der Griechen stehen. und verläst die lebendigsten Quellen des [20] Alterthums? Wir wissen vielleicht selbst nicht recht, was wir in den [21] Griechen und Römern bis zur Abgötterey bewundern. Daher kommt [22] der verfluchte Widerspruch in unsern symbolischen Lehrbüchern, die [23] bis auf diesen Tag in Schaafsfell! zierlich gebunden werden, aber in- [24] wendig – ja inwendig, sind sie voller Todtenbeine, voller hypokritischer [25] Untugend. [26] Gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, [27] nachdem er sich aber beschaut hat, von Stundan davon geht und ver- [28] gißt, wie er gestaltet war; eben so gehen wir mit den Alten um – [29] Gar anders sitzt ein Maler zu seinem eignen Contrefait. – Narciß, [30] (das Zwiebelgewächs schöner Geister) liebt sein Bild mehr als sein [31] Leben. (N II, 209,16–31; Kursivierung im Original).

Als Beleg führt eine Anmerkung zu »Leben« (31) aus Ovids Metamorphosen (Liber III) die Verse 416–510 (mit einigen Auslassungen) an; ein sehr langes Zitat,

1 Dieser Aufsatz wurde ursprünglich gemeinsam von mir und meinem germanistischen Kollegen Sven-Aage Jørgensen (Kopenhagen) veröffentlicht. Auf ihn gehen insbesondere die (von ihm allein verfassten) wichtigen, gelehrten Abschnitte I sowie II zurück, während ich III und IV verfasst habe. Ich bin Herrn Prof. Jørgensen für die seinerzeit gewährte Zustimmung zum Wiederabdruck dankbar und widme diese Studie dem Andenken des verdienten HamannForschers.

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Rede, daß ich dich sehe

das die Hauptzüge der allen Lesern Hamanns zweifelsohne wohlbekannten Verwandlung enthält.2 Trotz der ironischen Formulierung »das Zwiebelgewächs schöner Geister« (Z. 30) zeigt der Kontext, dass der in sein Spiegelbild verliebte Narziß wie der in sein Selbstporträt vertiefte Maler im Gegensatz zum vergesslichen Mann des Jakobusbriefes positiv aufzufassen ist. Wie das Verhältnis zwischen »Lernen« und »Erinnern« auch sein mag, so vermag sein ebenso vergessliches modernes Ebenbild weder durch das Studium der Alten »den Geist durch das Gedächtnis zu bilden« (N II, 209,17f.) noch tiefer zu dringen und den »verfluchten Widerspruch« (Z. 22) zwischen dem Spiegelbild in den »durchlöcherten Brunnen« (Z. 18f.) und den »lebendigsten Quellen« (Z. 19) aufzulösen. Die positive Interpretation des narzißtischen Verhaltens ist bemerkenswert.

I.

Motivgeschichtlicher Hintergrund

Narziß war weder in der Antike noch im Mittelalter eine vorbildliche Gestalt. Die Geschichte des negativen Narziß-Bildes ist so alt wie die Geschichte der OvidRezeption. Insbesondere in den vielen Ovid-Allegoresen, die sich im Mittelalter finden, wo Ovid vor Vergil als der beherrschende Dichter der Antike (lange vor Homer) rezipiert wurde,3 gilt, gemäß dem Ovidius moralizatus4 und weithin christlich bestimmt,5 allgemein die moralische Verurteilung der Narziß-Gestalt als Inbild eines falschen amor sui, einer »eitlen« Selbstbespiegelung und -verliebtheit, kurz als Inbegriff des homo incurvatus in seipsum. Sein Verhalten ist also keineswegs erst seit Sigmund Freud negativ konnotiert. Befragen wir Hamanns Zeitgenossen, erfahren wir in Zedlers Großem Universallexikon, der monumentalen Zusammenfassung des zeitgenössischen Wissens, hinter der Gestalt des Narziß stecke »nichts als ein Bild der närrischen Philautie oder Eigen-Liebe, nach welcher einer andere Leute verachtet, endlich 2 Zum Terminus μεταμορφοῦσθαι im NT sind Hamann sicher die Stellen Mk 9, 2 (Mt 17, 2); 2Kor 3, 18 (!) u. Röm 12, 2 bestens bekannt. 3 Vgl. Karl Stackmann: Ovid im deutschen Mittelalter. In: Arcadia 1 (1966). S. 231–254; Franco Munari: Ovid im Mittelalter. Zürich/Stuttgart 1960. 4 Vgl. Arnulf von Orléans: Ovidius maior (um 1175); Johannes von Garlandia: Integumenta Ovidii (um 1234). Hg. von Fausto Ghisalberti. Milano 1933; Chrétien Legouais: Ovidius maior (13. Jhdt.); Giovanni del Virgilio: Allegorie librorum Ovidii Metamorphoseos (um 1325); Ovide moralisé (14. Jhdt.). Narziß. 3. Buch. V.1547–1846 u. 1847–1964. Hg. von Cornelis de Boer. Amsterdam 1915. Bd. 1, bes. S. 332–341. Petrus Berchorius: Reductorium morale (um 1325– 1330). Liber XV: Ovidius moralizatus. Cap. I: De formis figurisque deorum; Tom Walley: Metamorphoseos Moralizate (1509). Liber Tertius. Fo. XXVIII; Guillaume de Lorris: Le roman de 1a rose (13. Jhdt.). V. 1439–1510. 5 Vgl. Martin Luther, WA 18, 178,14f.: »[von einem] der Ovidii Methamorphosin gantz auff Christum zogen hat«. Genaueres und ablehnend vgl. auch WA 43, 668,8f.

Der »Eckelname« des Narziß

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aber ein Narr wird und selbst vergehet«.6 Mit »närrisch«/ »Narr« wird der pathologische Charakter der Philautie angegeben. Eine weitere autoritative Quelle, Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon,7 schließt sich fast wortwörtlich Zedler an. Philautie bzw. caecus amor war außerdem die in den Emblematabüchern gängige Auslegung des Mythos gewesen – um so auffallender die positive Verwendung der Gestalt in der Aesthetica. Preist Hamann im Ernst dem Leser diese leidenschaftliche, narzißtische Vertiefung in das antike Gegen- oder Spiegelbild an? Sie führt ja offenbar in eine tödliche Illusion, in den Untergang. Die Stelle ist deshalb oft, z. B. in der reich kommentierten Ausgabe von Hans-Martin Lumpp,8 als Warnung vor der aufkommenden Gräkomanie interpretiert worden. Beide oben erwähnten Lexika verweisen indessen auf das Speculum imaginum veritatis occultae exhibens symbola, emblemata, hieroglyphica, aenigmata […] R. Jacobo Masenio e Societate Iesu. Köln 1650. Dort heißt es: Narcissus: Suae imaginis (quam in fonte conspexit) amore captus, ac in florem sui nominis. (1) qui sine fructu est, versus (2) significat illos, qui vel sui amore peccant, resque suas alienis, quamvis melioribus, caeco amore proponent; vel, qui corporis sui pulchritudine (quae est umbra quaedam Dei atque etiam animae) plus quam divinae gratiae atque animae specie delectantur; nimirum flores illi sunt, at sine fructu. Ficinus orat. 6. c. 17; conv. Platon. Alciat. Embl. 69. Est vero etiam quaedam imago Dei amore hominum capti atque incarnati. (1) Amor proprius corrumpit fructum operis (2) Deus amore hominis homo factus.9

Die von Ficino inspirierte Auslegung10 bieten die Worte »quae […] animae«, die zwar die Schönheit als Schattenbild Gottes und der Seele definieren, andererseits 6 Bd. 23. Halle und Leipzig 1740. Sp. 644f. 7 Leipzig 1770 (Reprint Darmstadt 1986). Sp. 1686f. 8 Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur »Aesthetica in nuce« (1762). Tübingen 1970. S. 89. Rudolf Unger übergeht kommentarlos das Problem; vgl. Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Bd. 1. Jena 1911. S. 260. 9 Kap. 23, 11. In Göttingen war die erweiterte Neuauflage (Köln 1664) zugänglich. Mario Praz verweist in seinen Studies in Seventeenth-century imagery. Rom 1964. S. 174 zu Masen nur auf einen Aufsatz von A. [N] Scheid: Der Jesuit Jakob Masen, ein Schulmann und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts. In: Vereinsschrift der Görres-Gesellschaft […]. Köln 1898. Heft 1. S. 1–72. Der Aufsatz schildert das Leben Masens (1608–1681), bespricht sein theologisches und dramatisches Werk, behandelt aber kaum das Speculum, das als ein symbolisches Lexikon charakterisiert wird, welches Fabeln, Sagen, Naturereignisse etc. für den Gelegenheitsdichter aufbereiten sollte. Es war ein großer Erfolg und erlebte innerhalb eines halben Jahrhunderts sieben Auflagen und kann folglich auch nach einem Jahrhundert noch leicht zugänglich gewesen sein. 10 Marsilio Ficino vermittelt eine orthodox neoplatonische Interpretation des Mythos: »Der Jüngling Narkissos, d. i. die Seele des unbesonnenen und unerfahrenen Menschen, hat nicht

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Rede, daß ich dich sehe

Narziß das bloß leibliche Abbild der seelischen oder göttlichen, urbildlichen Schönheit auf verhängnisvolleWeise verabsolutieren lassen. Interessanter in unserem Zusammenhang ist der letzte Satz, worin Narziß als Bild des in Liebe zum Menschen geradezu verstrickten fleischgewordenen Gottes erscheint, wie es die Anmerkung noch hervorhebt. Falls Hamann mit Narziß nicht einen Leser auf Irrwegen, sondern Christus meint, erhält die paradoxe Stelle einen ganz anderen Sinn. Ist eine solche Auslegung möglich und wahrscheinlich? Die Interpretation des Narzißmythos bei Masen ist kurz und scheint anzudeuten, dass die negative Deutung zwar die häufigere, auch poetisch fruchtbarere war, dass die christologische, uns paradox erscheinende Auslegung jedoch nicht weiter ausgeführt oder begründet werden musste – wohl weil auch sie eine vielleicht durch eine emblematische oder allegorische Tradition gestützte Evidenz besaß. Gibt es eine solche? Einen Hinweis auf die positive Deutung bei Jacob Masen bringt auch Louise Vinge in ihrer sehr gründlichen und materialreichen Habilitationsschrift11 und verweist auf das Gedicht Le Tableau de Narcisse des wenig bekannten Pierre de Marbeuf (1596–1645). In seiner Sammlung von Gedichten Recueil des vers (1628) findet man das Gedicht in einer Folge, die die unbefleckte Empfängnis der heiligen Jungfrau preist. In der Louise Vinge zugänglichen modernen Ausgabe von A. Héron (Rouen 1897) fehlt eine Illustration, aber der Titel und der erste Vers lassen ein emblematisches Gedicht vermuten. Die erste Strophe beschreibt die Flucht des in sich selbst verliebten Jünglings vor der Göttin Echo, bringt also die gängige Deutung: Voyez cet amour extreme, Nymphes, Narcisse qui fuit La Deesse qui le suit Est amoureux de soy-même, Et luy-mesme à soy se nuit: […]

Fast so unvermittelt wie im Text des Masen folgt in der letzten Strophe des vierstrophigen Gedichts der Übergang zu einer christologischen Deutung, die jedoch in der Schilderung der Liebesqualen des Gottes schon anklingen mag:

acht auf das eigene Antlitz; dies bedeutet: sie mißachtet die eigene Substanz und das eigene Vermögen. Statt dessen geht er seinem Schatten im Wasser nach und sucht ihn zu umarmen; das bedeutet: die Seele staunt die Schönheit in dem gebrechlichen Körper, die gleich dem Wasser dahinschwindet, an, obwohl diese nur das Schattenbild der Seele ist«. In: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt von Karl Paul Hasse. Hg. und eingeleitet von Paul Richard Blum. Hamburg 1984. S. 287. 11 Louise Vinge: The Narcissus theme in western European literature up to the early 19th Century. Lund 1967.

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Vous mesme a vous sacrifice, Vous vous tuez sur ces bords Ce que vous cherchez dehors, Contentez-vous beau Narcisse Vous l’auez dans vostre corps. […]

Deutlich reiht sich die folgende Strophe in eine Tradition ein: La Vierge est une fontaine, Qui parmy l’impureté, Qui parmy la salleté De nostre nature humaine, Conserue sa netteté. En ce cristal tu te mires, Grand Dieu Narcisse parfait, Et toy-mesme en toy t’admire, Amoureux de ton objet.12

Diese sinnbildliche, auf dem Dogma der unbefleckten Empfängnis beruhende Auslegung stellt Maria als die klare, von der Erbsünde nicht getrübte Quelle dar, als den reinen Spiegel Gottes (speculum sine macula); es ist ein charakteristisches Beispiel einer im Mittelalter und im Barock beliebten Metaphorik, die sich in mystischem und erbaulichem Schrifttum bis heute erhält: in der reinen Seele kann Gott sich spiegeln.13 Neu und verblüffend bleibt jedoch immer noch »Grand Dieu Narcisse«, und da der recht unbekannte Marbeuf schon aus chronologischen Gründen als Anregung für Masen ausscheidet, nimmt Louise Vinge eine gemeinsame, wohl emblematische Quelle an, die sie jedoch nicht hat ausmachen können.14 12 Zitiert nach Vinge, ebd. S. 227. 13 Vgl. August Langen: Zur Geschichte des Spiegelsymbols in der deutschen Dichtung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 28 (1940). S. 269–280; besonders S. 276: »Selbstschau im Spiegel ist Vorrecht des Göttlichen. Nach alter Überlieferung hat Gott durch Betrachten der eigenen Vollkommenheit im Spiegel des Himmels die Welt geschaffen, und ebenso ist alles Geschaffene ein Spiegel seines Schöpfers, in dem dieser seine Vollendung genießt und in der Selbstschau selig ruht«. Deshalb deutet Böhme »den Sündenfall des ersten Menschen als Spiegelschau« und Spaltung des androgynen Adam. 14 Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart 1967 bringt nur negativ konnotierte Deutungen der »Philautie« des Narcissus. Zwei Hinweisen auf Emblemata mit dem positiven Motto »NOSCE TE IPSUM« bin ich (S.-A. J.) in der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel nachgegangen; die Deutung des Narcissus ist auch bei Nicolaus Reusner: Emblemata. Frankfurt am Main 1581 und Ders.: Thronus Cupidinis. Amsterdam 1620 uneingeschränkt negativ: »caecus amor sui«. Es gibt jedoch auch eine positive, aber nicht mit Narziß verknüpfte Auslegung der Spiegelschau; vgl. Emblemata. Sp. 1346: FAlRE CE, QUI EST CONDESCENT À BEAULTÉ. / Qui bien regarde au miroir sa semblance: / Il a de soy parfaicte cognoissance. / Qui se cognoist en ce mondain passage: / Il est de tous estimé comme sage.

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Sie erläutert ein weiteres Beispiel einer christologischen Deutung des Narziß. Die mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz schrieb ein Fronleichnamspiel (auto sacramental) El Divino Narciso (um 1685), in welchem Christus, als bonus pastor und göttlicher Narziß von der teuflischen Echo verfolgt, sich in das Spiegelbild der »Naturaleza humana« verliebt, als sie sich gleichzeitig mit ihm über den Brunnen beugt. Hier macht Schwester Juana de 1a Cruz eine Anleihe bei einer Variante des Mythos, nach welcher Narziß eine innig geliebte Schwester hatte, die er im Spiegelbild zu erkennen vermeint. Unter dem Sturz des göttlichen Narziß in den Brunnen ist der Tod am Kreuz zu verstehen; der transfigurierte Narziß/Christus, den die menschliche Natur nicht anfassen darf (noli me tangere), bleibt ihr doch nach der Himmelfahrt als die den Tod und die Selbstliebe überwindende Narzisse erhalten,15 unter der auch die liebliche Lilie des Hohenliedes (2, 2) und der Leib des Herrn in der Kommunion zu verstehen sind. Louise Vinge hält es für möglich, dass Schwester Juana de la Cruz, die in der spanisch-lateinamerikanischen Literatur einen wichtigen Platz hat, die kurze Interpretation des Masen gekannt hat. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass beide auf eine emblematische Tradition, auf eine vielleicht auf den katholischen Raum beschränkte interpretatio christiana dieses Mythos zurückgreifen. Dem Polyhistor Hamann, der auch die interkonfessionelle Erbauungsliteratur des Pietismus kannte, mag eine solche Tradition bekannt gewesen sein; er kann Masen, der noch in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts benutzt wurde, gelesen haben, aber von einer geistig so andersartigen Spiritualität wie der Marbeufs oder Schwester Juanas hat er sich nicht inspirieren lassen können. Ihm mag jedoch die Möglichkeit einer positiven, christologischen Deutung aufgegangen sein, so dass er in seiner Schrift dem verliebten Narcissus den Odysseus typologisierend an die Seite stellen konnte: Unmittelbar nach dem Ovidzitat präfiguriert am Hofe in Ithaka der unerkannte Bettler Christus in Knechtsgestalt, der von den Seinen, von seiner Ehefrau nicht erkannt und aufgenommen wurde.16 Es gibt jedoch ein anderes Beispiel einer positiven Deutung des Narziß, die Hamann vielleicht zum »Zwiebelgewächs schöner Geister« (Z. 30) inspiriert hat. In einem Hauptwerk eines zeitgenössischen Erfolgsautors, das Hamann gründlich gelesen hatte, in Edward Youngs The Complaint, or Night-Thoughts on life, death and immortality (1742–1745) hat Louise Vinge eine interessante Stelle gefunden: 15 Das Wörterbuch der Symbolik. Hg. von Manfred Lurker. Stuttgart 51991. S. 517 charakterisiert zuerst die Narzisse in der Antike als Blume des Todes und der Unterwelt; darauf folgt ein Befund, der die Annahme einer Tradition der interpretatio christiana des Mythos zu stützen scheint: »Im Christentum findet eine Sinnumdeutung statt: die N. wird – als neue Seinsstufe nach der transformatio – zum Symbol des Sieges über die Selbstliebe und über den Tod; in der Tafelmalerei wird sie selten dargestellt und dann gewöhnlich der Maria zugeordnet«. 16 N II, 211,2f.; vgl. Joh 1, 10–11.

Der »Eckelname« des Narziß

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Man’s greatest strength is shown in standing still. The first sure symptom of a mind in health Is rest of heart, and pleasure felt at home. False Pleasure from abroad her joys imports; Rich from within, and self-sustain’d, the true. The true is fix’d, and solid as a rock; Slippery the false, and tossing as the wave. This, a wild Wanderer on earth, like CAIN: That, like the fabled self-enamour’d boy, Home-contemplation her supreme delight; She dreads an interruption from without, Smit with her own condition; and the more Intense she gazes, still it charms the more.17

An dieses Beispiel einer optimistischen, gefühlvollen Auslegung der Selbstversunkenheit des Narziß wird Hamann sich erinnert haben, denn in diesem Gedicht wird nicht nur an dieser Stelle die These des Jahrhunderts empfindsam verfochten: Die Selbsterkenntnis bildet die Basis der recht verstandenen Selbstliebe und ist Voraussetzung für, ja identisch mit der Nächstenliebe, mit der Tugend. Es sind Ideen, die der junge Hamann in weniger subjektiver Form auch als Beiträger zu der Königsberger moralischen Wochenschrift Daphne verfochten hatte, und in dieser Tradition sieht ihn Louise Vinge, deren vorsichtige Formulierungen jedoch eine berechtigte Unsicherheit verraten: For Hamann Narcissus is the prototype of the man who tries to get to know himself for ever. Hamann seems to say the one ought to be able to attain this kind of self-knowledge by studying classical antiquity in the correct way. The juxtaposition of the artist and Narcissus, »das Zwiebelgewächs schöner Geister« is a result of the same idea as the one in Conjectures and perhaps goes back to its formulations. Hamann’s aphorism is very remarkable in that it shows clearly how the new attitude to self-knowledge results in finding a positive meaning in the mythical figure’s position in front of his reflection. But it also makes us understand that the study of one’s own self is primarily regarded as the concern for a particular sort of man, the »Schöngeist«.18

»Schöngeist«, bel esprit, ist bei Hamann immer negativ konnotiert, der Gedanke, er könne Selbsterkenntnis als ein Vorrecht der »schönen Geister« (Z. 30) betrachten, ist abwegig, aber Louise Vinge hat mit diesem Hinweis eine wahrscheinliche Quelle der ironischen Allusion identifiziert. Für Hamann war die Selbsterkenntnis bekanntlich eine »Höllenfahrt«19 und nicht »supreme delight«,

17 Zitiert nach Vinge, wie o. Anm. 11, S. 286. 18 Ebd. S. 296f. 19 N II, 164,18.

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er hätte sich dieser positiven Deutung der narzißtischen Selbstversunkenheit nie anschließen können.20 Fassen wir zusammen: Die zunächst sehr paradox und unwahrscheinlich anmutende positive Deutung des Narziß ist nicht völlig singulär. Narziß war sogar von den beaux esprits positiv interpretiert worden. Eine ältere Interpretation der Gestalt als figura Christi ist belegt und mag auf einer schon damals halb verschütteten Tradition basieren und von der mystisch-pietistischen Spiegelmetaphorik beeinflusst sein. Wo, falls überhaupt, schließt sich Hamann an?21

II.

Der Kontext

Nachdem Hamann etwa in der Mitte der Schrift die Zerstörung der wahren Natur durch den abstrakten Verstand der Aufklärung kritisiert und zugleich für die erkenntnisleitende Bedeutung der Leidenschaften plädiert hat, kommt er auf die Rolle von Tradition und Geschichte für die Erkenntnis des Menschen zu sprechen. Als das hervorragende Mittel zur Bildung des menschlichen Geistes gelten die Literatur-Denkmale der Antike, die, durch historisches Gedächtnis und antiquarische Gelehrsamkeit vermittelt, gültige Muster für die Gegenwart darstellen (Z. 16–18). Hamann findet darin eine platonische Erkenntnis- und Bildungstheorie: »Gerade, als wenn unser Lernen ein bloßes Erinnern wäre« (Z. 16).22 Gegenüber dieser humanistischen Anamnesis als Garant der Unsterblichkeit 20 Herder schließt sich 1796 in den Briefen zur Beförderung der Humanität auf eine differenzierte Weise der negativen Deutungstradition an und verwendet sie wie Hamann zu einer allerdings völlig anderen Auseinandersetzung mit der Klassikverehrung in der Nachfolge Winckelmanns; wir sehen nach Herder in den »Alten« nicht sie selbst und ihre Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, sondern bleiben bei uns selbst und unseren Projektionen stehen: »Am öftersten schauen wir sie wie Narcisse an, denken daran, was Wir über Sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem flüssigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch sie den gesunden Brauch ihrer eignen Glieder«. In: Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 18. Berlin 1883. S. 80. 21 Da die bei Masen lediglich gestreifte christologische Sinnbildtradition damals schon fast versunken zu sein scheint, könnte man einwenden, Hamann mute seinen Lesern ziemlich viel zu. Er hat jedoch Deutungshinweise gegeben, die in der historisch-kritischen Ausgabe Nadlers und auch in der Reclam-Ausgabe. Hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968 leider nicht wiedergegeben wurden. Das Satzbild ist in der Originalausgabe sehr bunt und verwendete Kursiv-, Fett-, Sperrdruck, Versalien usw. in Hinweis- und Hervorhebungsabsicht in einem solchen Ausmaß, dass die heutigen Druckkosten die Reproduktion des originalen Druckbildes verboten. Bei der hier besprochenen Stelle beeinträchtigt diese Sparmaßnahme die Möglichkeit der Interpretation auf fatale Weise, denn die Typographie soll den zarten mythologischen Flötenhauch lt. Bacon-Zitat. N II, 204,21–23 (vgl. u. Anm. 129) andeuten, den Widerhall der orientalischen Verheißungen. 22 Vgl. Platon: Menon 85 d.

Der »Eckelname« des Narziß

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wird Hamann die biblische Hypomnesis behaupten.23 Denn gegen »die lebendigste Quelle des Alterthums« (Z. 19f.) – »Bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht«24 – bietet die Antike nur »durchlöcherte Brunnen« (Z. 18f.).25 Bei diesen »stehen« zu bleiben, heißt bloß »Hörer des Worts« und nicht zugleich dessen »Thäter« zu sein,26 also das wahre Leben zu »verlassen« bzw. zu verfehlen, nämlich es nicht »durch eine persönliche Anwendung uns zuzueignen wissen«.27 Die Griechen-Begeisterung, wie sie Hamann repräsentativ an Winckelmann erlebte, versteht sich in ihrer Ausschließlichkeit wohl selber nicht völlig und ist sich nicht durchsichtig darin, dass diese Bewunderung heidnischer Poesie an »Abgötterey« grenzt (Z. 20f.). Über den »symbolischen Lehrbüchern« (Z. 22), d. h. den ästhetischen Bekenntnisschriften der Zeit, wie z. B. den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, liegt daher der Fluch des Sündenfalls28 als ein Widerspruch,29 der Menschliches mit Göttlichem verwechselt bzw. bloß historisches Lernen mit lebendigem Geist30 und jene kanonischen Schriften als Wölfe im Schafsfell31 und übertünchte Gräber32 qualifiziert.33

III.

Die rätselhafte Stelle

1. Gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem er sich aber beschaut hat, von Stundan davon geht und vergißt, wie er gestaltet war; eben so gehen wir mit den Alten um – (Z. 26–28).

Hamann zitiert hier bekanntlich ziemlich genau Jak 1, 23b–24. V. 23a lautet: »Denn so jemand ist ein Hörer des Worts, und nicht ein Thäter, der ist […]«. Wer bloß ein »Hörer des Worts« ist, der »betrügt sich selbst«.34

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Joh 14, 26. Ps 36, 10. Jer 2, 13; vgl. ZH II, 84,22f. Jak 1, 23a. N II, 209,2f., gemäß dem Satz Bengels: Te totum applica ad textum; rem totam applica ad te, zu dem sich Hamann differenziert äußert; vgl. ZH II, 9. Gen 3, 14–19. Ps 59, 13. Joh 16, 13. D. h. falsche Propheten; Mt 7, 15. D. h. heuchlerische Schriftgelehrte und Pharisäer, die den Propheten Grabmäler bauen; Mt 23, 27 u. 29. Auch Jak 1, 21 erinnert an diese Mt-Verse (23, 27 u. 29). Vgl. v. 22 und Mt 7, 26.

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Rede, daß ich dich sehe

Zwar »sehen wir jetzt [nur] durch einen Spiegel in einem dunklen Wort«,35 aber wer sich selber im Spiegel anschaut, der erblickt doch sein »Bild«; genauer, er erblickt vultum nativitatis suae bzw. πρόσωπον τῆς γενέσεως αὐτοῦ, und er erkennt, »wie er gestaltet war«. Der Mensch aber »ist gemacht nach dem Bilde Gottes«,36 und eben dies sieht der Mann im Spiegel, denn »der Mann ist Gottes Bild«.37 Indem einer sich selbst erblickt, sieht er sich als Gottes Ebenbild, denn der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen.38 Geht er aber »von Stundan davon« (Z. 27),39 gedankenlos und wie blind,40 so hat er nicht nur sich selbst vergessen, sondern auch »Gottes, der dich gemacht hat«.41 So sein Bild zu vergessen, heißt es verlieren.42 So sich als Ebenbild, wenn nicht schon verlieren, so doch vergessen, heißt in Vergessenheit seines wahren Selbst, in Selbstentfremdung, vor Gott »davongehen«; dies – als »der verfluchte Widerspruch« (Z. 22)43 – ist, wenn nicht schon Sünde,44 so doch ihre Bedingung: »Woher kommt es nun, daß wir uns jener Gleichheit mit GOTT als eines Diebstahls oder Raubes schämen? Ist nicht diese Schaam ein heimlicher Schandfleck unserer Natur […]?«45 Narziß dagegen bleibt wenigstens seinem »Bilde« (Z. 30) treu! Jenes Vergessen des Bildes im Spiegel ist ein »Verlassen« des göttlichen Wortes, denn das Bild entspricht göttlicher Rede.46 »Jede Geschichte [der Bibel] trägt das Ebenbild des Menschen […]«.47 Wer sein Bild vergisst, »verläst die lebendigsten Quellen des A1terthums« (Z. 19f.): er verfiel […]

35 36 37 38 39 40

41 42 43 44 45 46 47

1Kor 13, 12. Vgl. N II, 91,19, und N III, 410,1. Jak 3, 9. 1Kor 11, 7. N II, 198,21f.; vgl. Gen 1, 26f.; 5, 1; 9, 6; Weish 2, 23; Sir 17, 3. Vgl. auch N I, 250,5f.: »Ich bin Gottes Bild. Er schuf mich nach seinem Bilde. Dies wurde verloren«. Vgl. Mt 13, 25: »Der Feind säete Unkraut zwischen den Weizen, und ging davon«. »Die Hand des Herrn kommt über dich, und du sollst blind sein, und die Sonne eine Zeitlang nicht sehen. Und von Stundan fiel auf ihn Dunkelheit und Finsternis, und ging umher und suchte Handleiter« (Act 13, 11); vgl. N II, 206,16: »Wenn eine einzige Wahrheit gleich der Sonne herrscht; das ist Tag«. Dtn 32, 18; Jes 51, 13; Hos 8, 14. Auch für den Mann des Jak-Briefes, der ein »vergesslicher Hörer« ist (auditor obliviosus), wäre wahres Lernen ein Sicherinnern an das wirkliche Wort Gottes. Vgl. Gen 3, 14f. und 17! Vgl.: »[…] gereichte mir zu einem neuen Tode, indem ich die Göttlichkeit und Herrlichkeit des zweyten Schöpfers verleugnete« (N I, 250,14f.). Gilt dies vom in Christus wiederhergestellten Ebenbild Gottes, so auch schon vom adamitischen. N III, 199,24–26. Dies Verhalten ist eine Verkehrung des Vorbildes Christi; vgl. Phil 2, 6! Vgl. N II, 197,25–27 und 198,1–5 sowie N VI, 55. N I, 315,6f.

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in die zwiefache Sünde seiner Väter, verschmähte den Geist der Weissagung in den lebendigen Quellen historischer und prophetischer Wahrheit, und machte sich hie und da ausgehauene Brunnen, die mehr Löcher als Wasser hatten;48

so ist er gänzlich »ein schöner Geist«.49 Wahres Lernen wäre also doch ein Erinnern, nämlich »der Worte, die zuvor gesagt sind«,50 also etwa »wie unser Vater Abraham versucht«51 »und Gottes Freund geworden ist«.52 Daher: »Das Heil kommt von den Juden –«.53 Auch im Glauben gibt es – unter Anleitung des Heiligen Geistes – ein Lernen und Erinnern: »derselbige wird euch alles lehren, und euch erinnern alles des, was ich euch gesagt habe«.54 Wer nur »Hörer des Worts« ist, sich darin nicht dauerhaft wiederfindet und es verlässt, der ist nur darum nicht auch »Thäter« des Wortes, weil er den wahren Täter des Wortes, »den kräftigen Sprecher«55 und seine »Handlung«,56 Gott, den Schöpfer, Maler und Schreiber des Ebenbildes, nicht nachahmt, sondern aus den Augen verliert.57 Sünde ist Selbstentfremdung vor Gott als falsche Selbstemanzipation von seinem Wort, als Spiegel-Bild des Menschen, »der […] davon geht und vergißt« (Z. 27f.). »[…] eben so gehen wir mit den Alten um« (Z. 28) – trotz aller Bewunderung »bis zur Abgötterey« (Z. 21), dient auch der Umgang mit den Texten des Altertums nicht der wahren Selbsterkenntnis, sondern führt statt zur Selbsterfahrung vor einem Spiegel, in dem man sich selber begegnet und das eigene Bild vorgehalten bekommt, nur in die Zerstreuung und Selbstvergessenheit. Es so zu sagen, setzt voraus, dass an sich »die Denkmale der Alten« (Z. 17) durchaus dazu dienen könnten, »den Geist durch das Gedächtnis zu bilden« (Z. 17f.). Und wenn nun zwei Sätze später ein langer und prominenter antiker Text in auffälligem Zusammenhang zitiert wird, – sollte man da nicht annehmen, dass einem daran ein Exempel echter und fruchtbarer Selbsterkenntnis vor Augen gestellt wird!

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N III, 388,16–20. Ebd. 387,8. Jud 17. Gen 22. Jak 2, 21. Jak 2, 22 wird das auf »Glaube und Werke«, d. h. »Hörer« und »Thäter« bezogen, und v. 23 spricht von der Erfüllung der Schrift! N II, 210,1 (Joh 4, 22). Joh 14, 26. Vgl. 2Tim 2, 8 (Gedächtnis) mit N II, 209,17f. N II, 200,7. Vgl. ähnlich bei Luther der »Allmechtige Sprecher«, WA 49, 405,27. N II, 200,3. Vgl. dazu den für diesen Interpretationszusammenhang vorbildlichen Aufsatz von Hans Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar und seine sprachtheologische Deutung des Stils. In: Acta 1992. S. 277–303; besonders S. 292 und Anm. 127. Graubners Anwendung auf Hamanns Verständnis vom »Stil« kann hier nicht mit berücksichtigt werden, zeigt aber die weitreichende Verflechtung unseres Gesichtspunktes.

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2. Gar anders sitzt ein Maler zu seinem eignen Contrefait. – (Z. 29)

Der Maler bleibt bei »seinem« Bilde, anders als jener Mann (hebr.: adam); er bleibt ihm liebevoll zugewandt, ähnlich wie Narziß seinem Spiegelbild.58 Diese Treue zum »Werk seiner Hände, das er nicht lassen will«,59 ist stark motiviert. Einmal, er »sitzt […] zu seinem eignen Contrefait«, d. h. zu einem Selbstbildnis, seinem »Ebenbild«.60 Er sitzt also sich selber Modell: sieht sich selber an im Blick auf das Bild seiner selbst und schaut im Bilde selber immer auch sich an, begegnet sich in diesem Konterfei ihm gegenüber als dem Andern seiner selbst, seinem eigenen Anderen. »Gott sieht jetzt Sich selbst in meiner Seelen gleichsam im dreyeinigen Glanz seines Wesens«!61 Darum ist bei aller Zuwendung auch ein Abstand konstitutiv: ὡς γραφευς τ᾽ἀποσταθεις, als »ein müßiger Zuschauer«.62 Denn nur im Abstand, im Unterschied zu sich selbst, ja als Selbstunterscheidung kann der Maler sein Bild hervorbringen. Er »sitzt« (Z. 29) dazu, d. h. um es zu schaffen. Und da es sein eigenes Porträt ist, liebt er es so wie sich selbst, denn er erkennt sich darin wieder.63 Er liebt das lebendige Produkt seiner schöpferischen Tätigkeit, so wie Pygmalion es tat »als ein Bildhauer seines Weibes«!64 58 »So pflegte ich […] zu sagen, jener Narcissus, der in eine Blume verwandelt wurde, sei der eigentliche Erfinder der Malerei gewesen. Denn wie einerseits die Malerei die Blüthe jeder Kunst ist, so stimmt die Geschichte von Narciss auch noch nach anderer Seite hin. Denn könntest du wohl sagen, daß die Malerei etwas Anderes sei, als künstlerisch ein Ebenbild zu umfassen (festzuhalten) suchen, gleich jenem, welches dort aus dem Spiegel der Quelle blickte?« (Leon Battista Alberti: De Pictura II, 28; zitiert nach: L.B. Albertis kleinere kunsttheoretische Schriften. Wien 1877 (ND Osnabrück 1970). S. 93f.). Übrigens wurden Selbstbildnisse tatsächlich oft ex speculo gemalt; dies ist schon von der antiken Malerin Marcia bekannt (nach Plinius); vgl. Stefanie Marschke: Künstlerbildnisse und Selbstporträts. Weimar 1998. S. 116–124. 59 Vgl. Ps 138, 8. 60 Luther erwähnt Gottes Sich-Abmalen im Sohn WA 36, 412,25–30 (1532) und das »Contrefait« (conterfeyt) im trinitarischen Zusammenhang WA 11, 225,8–13 (1523) und 50, 276,35–277,18 (1538). 61 N I, 250,9f. Vgl. auch ebd. 253f.: »Wie muß es den Gott, dem es gereuete, Menschen gemacht zu haben, erfreuen, sich selbst in denselben wiederzuerkennen; sein Bild neu, rein und mit frischem Glanz zu sehen –«. 62 N II, 63,19f. Vgl. Euripides: Hecuba. v. 807; zur Umkehrung, d. h. zum Nähertreten, vgl. Platon: Theaitetos 208c und Parmenides 165c. 63 Vgl. Nikolaus von Kues: De visione Dei XXV. In: Philosophisch-theologische Schriften. Hg. und eingeführt von Leo Gabriel (Lat.-dt.). Bd. 3. Wien 1967. S. 214 und 216: Tu Domine, […] quasi pictor , qui diversos temperat colores, ut demum se ipsum depingere possit ad finem, ut habeat sui ipsius imaginem, in qua delicietur ac quiescat ars sua. 64 N II, 62,19. Zu Gott als Bildhauer vgl. auch ebd. 66f. – ein Text, der enge Bezüge zu einer entsprechenden Metaphorik Luthers aufweist (auch »Zimmermann«; ebd. 62,8f.). Graubner, wie o. Anm. 57, S. 284 und 297 Anm. 56, weist auf Hamanns 1dentifikation Christi mit einer Mecurii statua hin: N IV, 429,48.

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Dieser schöpferische Autor und bildende Künstler, das ist Gott,65 der »das Gepräge eines ebenso großen Schriftstellers als Beobachters« an sich trägt.66 Ihn nicht zu gewahren, das ist eigentlich die »Abgötterey« (Z. 21), die dazu führt, dass »wir […] vielleicht selbst nicht recht [wissen], was wir […] bewundern« (Z. 20f.). Das »Auge eines Malers« gehört eben dazu, den Unterschied »zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion« deutlich zu machen,67 und dies ist eigentlich »die Spitze eines Sehpuncts«.68 Dieses »unbekannte Genie«69 erkennt sich in seinem Ebenbilde wieder, und daraufhin wird uns wahre Selbsterkenntnis möglich – in seinem geoffenbarten Wort: SUmma, Wiltu die heiligen Christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe und gestalt, in einem kleinen Bilde gefasset. So nim den Psalter fur dich, so hastu einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sey. Ja du wirst auch dich selbs drinnen, und das rechte Gnotiseauton finden. Da zu Gott selbs und alle Creaturn.70

In der »gleitenden Logik« (Musil) seiner Bilder-Rede greifen von hier aus Spiegel, (fehlende) Selbsterkenntnis und Täter-des-Wortes-sein der Jakobus-Verse (Jak 1, 23f.) mit dem göttlichen Maler und Autor, seinem Selbstbildnis und Wort für Hamann in einer Weise ineinander,71 die sich dann im folgenden Satz über Narziß zur dichten Konklusion fügt.

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Zu dieser Metapher vgl. in diesem Bande: Gott als Schriftsteller bei Anm. 24–26. N IV, 419,9f. N I, 303,38 und 304,4. N II, 209,7. Ebd. 140,30. Luther, WA DB 10/1. S. 105 (Hervorhebungen J. R.). Es handelt sich um die von Hamann besonders geliebte Vorrede Luthers auf den Psalter (1528). Von dieser wichtigen Stelle geht Graubner, wie o. Anm. 57, S. 279 aus und bezieht sie, ebd. S. 292, auf unsere AestheticaPassage: »Schon an dieser Stelle der ›Aesthetica‹ liegt m. E. Luthers Malereimetaphorik zugrunde. Dann ist der ›Maler‹ sowohl der Miniatur-Maler Gott, der sein ›Contre-fait‹ im Ebenbild des Menschen liebt, das in Christus wieder rein hervortritt, als auch der gläubige Mensch, der als nachahmender Fresco-Maler dieses Ebenbild als sein eigentliches Selbst liebt, und, wie Gott, nicht von ihm läßt«; ebd. S. 302 Anm. 117 (Hervorh. J. R.). Das Bildernetz könnte nicht dichter geknüpft sein; vgl. zur »Fresco- und Miniaturmalerey« N IV, 423,56; Graubner, ebd. S. 289; zur »Miniaturautorschaft« N III, 372,5; Graubner, ebd. S. 291. Auch hier verfolgt Graubner erhellend den Bezug zu Hamanns Stil-Gedanken: »Stylus homo est (ein Contrefait)«; N IV, 459,30f.; Graubner, ebd. S. 292. Auch den Bezügen zu Hamanns Nachahmungs-Gedanken kann hier nicht nachgegangen werden; »Thäter des Worts« gehört ebenso dazu; vgl. Graubner, ebd. S. 292. 71 Vgl. Graubner, der auch auf die Jak-Stelle Bezug nimmt: »Ersichtlich liegt an dieser Stelle der ›Aesthetica‹ der Verknüpfung des ›Spiegels‹ aus Jacobus mit dem ›Maler‹ des eigenen ›Contrefaits‹ als Kompositionsidee unausgesprochen das Lutherzitat aus der Psaltervorrede […] zugrunde, das Malen, Bild und Spiegel im ›Gnotiseauton‹, in der Selbsterkenntnis vereinigt«; ebd. S. 302 Anm. 120. Zum Gnotiseauton vgl. auch N II, 70f. und 164,18.

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3. Narciß, (das Zwiebelgewächs schöner Geister) liebt sein Bild mehr als sein Leben. (Z. 29–31)

Der Satz scheint, für sich gelesen, nur das jedem Gebildeten Bekannte zu sagen: Narziß »liebt sein Bild mehr als sein Leben«, insofern er, verguckt in ein bloßes Spiegelbild seiner selbst, sein wirkliches Leben verfehlt. Dieser scheinhaften Selbstverliebtheit fällt er schließlich zum Opfer.72 Insofern könnte das lange Ovid-Zitat, das Hamann hier anschließt, auch als Warnung vor einem falschen Umgang mit der klassischen Literatur aufgefasst werden, die sich sogar auch dort schon findet.73 Aber nicht nur der Kontext der beiden vorausgegangenen Sätze lässt einen mit dieser zunächst als selbstverständlich erscheinenden Lesart unzufrieden sein. Es ist insbesondere die witzige Kennzeichnung des Narziß als »Zwiebelgewächs schöner Geister«, die als eine Art Widerhaken das traditionelle Verständnis aufhält. Der Genitiv scheint ja die zu bezeichnen, für die Narziß bzw. die Narzisse ein solches beißendes Lauchgewächs ist. Ist aber die moralische Verurteilung, bei der es gerade »schönen Geistern« Tränen in die Augen treibt, etwas, das Hamann ernst nehmen könnte? »[…] – und die Schaamröthe eurer Jungferschaft, ihr schönen Geister! ist gallicanische Schminke […]!«74 Stehen die schönen Geister also nicht eher für die gewöhnliche Heuchelei eines jeden Moralismus? Man könnte auch an einen Genitivus explicativus denken: die »schönen Geister selber sind ein blasses Zwiebelgewächs, zumal wenn sie, wie beispielsweise Edward Young, den Narzißmus (und so auch ihren eigenen) sentimental verklären, indem sie die unmittelbare Selbstliebe für ›supreme delight‹ ausgeben.«75 Oder sollte es sich eher um einen Genitivus possessivus handeln, so dass das Zwiebelgewächs gerade ihr Emblem, die ihnen von Hamann charakteristisch zugeschriebene Wappenblume ist? Dann aber wäre Narziß (bzw. die Narziß-Episode bei Ovid) ein »verkehrter« Spiegel – jedenfalls für die Augen aller schönen Geister, denen das Zwiebelgewächs in die Augen beißt; verkehrt auch darum 72 Vgl. dazu Joachim Ringleben: Woran stirbt Narziß? Widerhall und Spiegelbild als tödlicher Schein. Zum Liebestod von Echo und Narziß (Ovid, Metam. III, 339–510). In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse. Jg. 2004. Nr. 10. Göttingen 2004. S. 3–30. 73 Zu Hamanns auffälliger Lesart dieses Textes s. u. Abschn. IV. Eine ganz andere positive Deutung des Narziß findet sich bereits bei Friedrich Schlegel der in seinem Roman von schönem Egoimus und Vertiefung in die inneren Perspektiven des eigenen Geistes spricht; vgl. Lucinde (Reclam-Ausgabe). Stuttgart 1999. S. 37 wie auch Kritische Ausgabe. Bd. 5. Hg. von U. Behler. München 1962. S. 60. 74 N III, 202,22f. 75 Vinge, wie o. Anm. 17. Young ist für Hamann auch ein schöner Geist. An anderer Stelle der Aesthetica wird – auch ironisch – »die neueste Ausgabe der menschlichen Seele« erwähnt, »die der Barde mitternächtlicher Gesänge in seinem Morgentraum sahe«; N II, 200,19–21.

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– und so von Hamann mit Bedacht beigezogen –, weil unter der Gestalt des allgemein Verachteten – wie in einem entlarvenden Spiegel – die Wahrheit über einen selbst zutage tritt. Wie steht es mit der Selbstliebe und der Liebe zum eigenen Bilde? 76 Der »Grundtrieb der Selbstliebe«77 ist, das sieht Hamann ganz realistisch, »der Grundtrieb aller unserer Wirksamkeit«.78 Sie ist eine Tugend – ähnlich wie die Selbsterkenntnis, an die sie sogar geknüpft ist: »So lange es den [sic] Menschen nicht möglich ist, sich selbst zu kennen, so lange bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn, sich selbst zu lieben«.79 Darum ist geboten: »du sollst lieben […] deinen Nächsten wie dich selbst«.80 Denn um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar.81

Das ist der christlich vorausgesetzte »Narzißmus«: Wie das Bild meines Gesichts im Wasser wiederscheint, so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen!82

Aber sieht man, »wie nothwendig unser Selbst in dem Schöpfer desselben gegründet ist«,83 so ist evident: »Gott und mein Nächster gehören also zu meiner Selbsterkenntnis, zu meiner Selbstliebe«.84 Denn »die wahre und einzige Selbstliebe des Menschen«85 lebt davon, »daß dieser Gott selbst sein Nächster und seines Nebenmenschen Nächster im strengsten Verstande geworden ist«.86 76 Mit Bezug auf das Schlüsselwort si se non noverit (Ovid: Metam. Liber III, v. 348) – vgl. auch ebd. v. 430! – hat Hermann Fränkel Narziß als umgekehrte Erfüllung des delphischen γνωθι σεαυτον zu interpretieren versucht; in: Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten. Darmstadt 1970. S. 90 und 223 Anm. 234. 77 N I, 307,23. 78 N IV, 424,47. 79 N I, 300,20–22. 80 Lk 10, 27. Vgl. N I, 302,23–31. Kierkegaard versteht in diesem Gebot »wie dich selbst« im Sinne von: als dich selbst. Vgl. dazu Joachim Ringleben, Logos und Agape. In: Arbeit am Gottesbegriff III. Göttingen 2021. S. 199–214. 81 Ebd. Z. 16f. 82 Ebd. Z. 16–18. Stimmt es, dass das geliebte Selbst in Wahrheit die »Eine […] Muse« (!) ist (vgl. N IV, 424,49. und Graubner, wie Anm. 57, S. 292) – alles Folgende wird es bestätigen –, so stößt »der Mensch in der Selbsterkenntnis und in der Selbstliebe auf sein innerstes Selbst als die Unteilbarkeit […] des Einen Christus«; (Graubner, ebd. S. 302 Anm. 126). Er liebt also Christus als seinen wahren Nächsten »wie sich selbst« und ähnelt auch hierin dem Narziß: »Wie ein lieber Bule mit dem Namen seines lieben Bulen das willige Echo ermüdet und keinen jungen Baum des Gartens noch Waldes mit den Schriftzügen […] des Markinnigen Namens verschont […]« (N III, 399,26–29). 83 N I, 301,18f. 84 Ebd. 302,22f. 85 Ebd. Z. 25f. 86 Ebd. Z. 29f.

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Ist dies die wahrhaft freimachende Lehre der »himmlischen Weisheit, die deswegen in die Welt kam, uns Selbsterkenntnis und Selbstliebe zu lehren«,87 so ist Hamann damit wieder bei der Bild- und Spiegelmetaphorik.88 Denn die – nach Hebr 1,3 mit Christus identifizierte – Weisheit ist »ein fleckenloser Spiegel des göttlichen Wirkens und ein Bild seiner Güte«.89 Christus ist die wahre imago Dei,90 ja Bild des »unsichtbaren Gottes«.91 Was für Christi Verhältnis zu seinem himmlischen Vater gilt, gilt für das der Glaubenden zu Christus. Weil der neue Mensch der ist, qui renovatur in agnitionem secundum imaginem eius, qui creavit illum,92 darum sind die Glaubenden conformes […] imagines Filii sui.93 In Hamanns Umdeutung der Narziß-Gestalt sind sowohl der Christ wie Christus selber immer zusammen im Blick. Narciß […] liebt sein Bild mehr als sein Leben (Z. 29–31)!

Das lässt sich jetzt positiv lesen.94 Er negiert seine unmittelbare Selbstaffirmation (»sein Leben«) und setzt in wahrer Selbstliebe »sein Bild« (als von ihm differente Instanz) höher und sich voran.95 D. h. die Selbstvergessenheit bzw. -verlorenheit jenes Mannes und die vermittelte Selbstbeziehung des »Malers« sind hier in einem durch unmittelbare Selbstnegation hindurchgegangenen Selbstgewinn zusammengeführt. Wenn das »Bild« die eigene Wahrheit ist, dann bedeutet, »sein

87 Ebd. 300,23f. 88 Die Selbstbetrachtung des Narziß (»spectat«; Ovid, Metam. III, v. 420, 439, 505; »adspicere«; ebd. v. 479, 486) entspricht dem gründlichen Durchblick auf das »vollkommene Gesetz der Freiheit« in Jak 1, 25 (perspexerit; griech. παρακύψας: sich bückt, um zu schauen). Jenes »Gesetz« entspricht dem Paulinischen »Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus« (Röm 8, 2). 89 Weish Sal 7, 26b. 90 2Kor 4, 4. 91 Kol 1, 15; zitiert N II, 207,2f. und o. bei Anm. 36! 92 Kol 3, 10; vgl. Eph 4, 24. 93 Röm 8, 29. Daher ist schon Adam forma futuri (Röm 5, 14). Mit dieser »Analogie des Menschen zum Schöpfer« (N II, 206,32) ist vermittelt die lebhafte »Idee, das Ebenbild des unsichtbaren Gottes in unserem Gemüth« (ebd. 307,2f.), nämlich Christus (vgl. ebd. Z. 25), der uns die Schöpfung aufschließt. 94 Louise Vinge, wie o. Anm. 11), bes. S. 36 und Anm. 134, hat auch altchristliche Quellen untersucht; sie fand jedoch nur bei Clemens von Alexandrien eine Narzißdeutung, und zwar die gängige neuplatonische: Narziß verfällt der Liebe zu der äußeren, vergänglichen Schönheit; dabei zitiert Clemens 2Kor 4, 18: quae enim videntur, temporalia sunt, quae autem non videntur, aeterna sunt. 95 Ähnlich heißt es von Sokrates – Hamanns Brücke zwischen Antike und Christentum –: »er hatte einen Genius […], den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte« (N II, 75,7–10). Vgl. Phil 4, 7. Gott »fürchten und lieben« erinnert an Luthers Kleinen Katechismus.

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Leben hinzugeben«, gerade eine gesteigerte Identifikation mit sich. Qui perdiderit animam suam propter me, invenit eam.96 Narziß ist insofern zunächst ein Gleichnis des Christen: »Ich bin […] gestorben, auf dass ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir«.97 Durch den Tod hindurch nur erreicht der wahre Narziß sein wirkliches Ebenbild – in der Gemeinschaft mit dem wahren Ebenbilde Gottes: »nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung«.98 Und was der mythologische Narziß auch, wenn auch verkehrt, veranschaulicht, das ist: »seinen Nächsten« zu lieben »wie sich selbst«. Das bedeutet: wer seinen Nächsten wirklich liebt wie sich selbst, der ist der wahre Narziß oder besser: die Wahrheit des Narzißmus. Narziß, der sein Leben hintansetzt zugunsten von dessen Wahrheit, erfüllt das Hauptgebot,99 denn Gott »über alle Dinge« zu lieben, das heißt doch ihn »mehr als sein Leben« zu lieben. Er erfüllt – in Hamanns Sicht – dieses Gebot so, als lautete es – in kühnem Zusammenschluss –: Dilige Dominum Deum tuum [..] sicut te ipsum. Indem Narziß sich in sein wahres Ebenbild »versenkt«, tut er, was den Christen bei der Taufe, als dem »Ersäufen des alten Adam«,100 in Christus versetzt: »die wir in Jesum Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft […]. So sind wir ja mit ihm begraben durch dieTaufe in den Tod, auf dass gleich wie Christus ist auferweckt von den Toten […], also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln«.101

96 Mt 10, 39b. Anima (psyche) ist gleich: »Leben«. Der Vers meint mit dem me Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen! 97 Gal 2, 19f. Vgl. Joh 17, 23: Ego in eis, et tu in me mit v. 22: ut sint unum, sicut et nos unum sumus. 98 N II, 164,17f. Vgl. ZH I, 374,11f. Zum christologischen Zusammenhang von descensus und ascensio vgl. Luther WA 3, 124,6–14. Genau hiermit ist die Spannung zwischen Hamanns christlichem und dem gewöhnlichen Verständnis von »Selbstliebe« bezeichnet. Eben durch den Tod des unmittelbaren Ich, den sie in sich hat, unterscheidet jene sich von der sentimentalen Selbstversunkenheit und -verliebtheit à la Young; vgl. o. bei Anm. 17. 99 Vgl. Lk 10, 27. 100 Vgl. Luther WA 30/1, 312 (Kleiner Katechismus, 1529): »Was bedeut denn solch wasser teuffen? Antwort. Es bedeut, das der alte Adam ynn uns durch tegliche rew und busse soll erseufft werden und sterben mit allen Sünden und bösen lüsten. Und widderumb teglich eraus komen und aufferstehen Ein newer mensch, der ynn gerechtigkeit unnd reinigkeit Gott ewiglich lebe«. Vgl. ebd. 220,19–22 (Großer Katechismus). Hamanns Rede von »Brunnen« und »Quellen« (Z. 19), der »Wasser-Spiegel« der Ovidschen Quellen (fons; Metam. III, v. 407 u. ö.), die johanneische Durst-Metapher (ebd. v. 415), die Taufanspielung und die Sintflut-Episode der Metamorphosen (zu Deukalion und Pyrrha vgl. u. Anm. 141 und N II, 216,14) stellen eine Bilderkette dar, die auch sonst die Aesthetica durchzieht; vgl. N II, 207,22f.: »gleich einer Sündfluth, überschwemmt […] zu Wasser werden« und ebd. 217,19: »und die Wasserbrunnen« (das sind die letzten Worte dieser Schrift!). 101 Röm 6, 31; vgl. Kol 2, 12.

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Der Christ ist sodann mit dem allen nur imitator Christi. Denn Christus hat sein Leben nicht zu erhalten gesucht, sondern hat es verloren, um es lebendig wiederzufinden.102 So ist er selbst mit seinem Sterben und Auferstehen die wahre imago Dei invisibilis.103 Wer dessen Bild mehr liebt als sein eigenes Leben, der kann sagen: »Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn«.104 Indes, auch Christus war der, der »sein Bild mehr [liebt] als sein Leben« (Z. 30f.) – das Bild, das Gott von ihm als dem wahren »Glanz seiner Herrlichkeit und Ebenbild seines Wesens« hatte.105 Indem Christus sein Bild liebt, liebt er zugleich – mit stellvertretender Hingabein den Tod – den Menschen, der als Gottes Ebenbild und Gleichnis geschaffen ist,106 welcher aber in Sünde verfiel und sich in Abgötterei unwahre Bilder gemacht hat.107 Darum eben, weil er, »ob er wohl in göttlicher Gestalt [in forma Dei] war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern nahm Knechtsgestalt an [formam servi], ward gleich wie ein andrer Mensch [in similitudinem hominis], erniedrigte sich selbst, und ward gehorsam bis zum Tode […]«.108 Für den Christen gilt wie für Christus, dass »das Korn aller unserer natürlichen Weisheit verwesen, in Unwissenheit vergehen muss«, damit »aus diesem Tode, aus diesem Nichts das Leben und Wesen einer höheren Erkenntniß neugeschaffen hervorkeimen kann«!109 Bei solcher Gottesliebe in extremis erst kann es zu einer Erkenntnis des Selbst in Wahrheit kommen.110 Von ferne und zuletzt bildet sich im Narziß mit dem Weg des Christen zum wahren Leben – als »Thäter des Worts« – auch der Weg Christi selber ab – als »Schatten des Himmlischen«.111 Darum tragen die Christen das »Bild des himmlischen [Menschen]« an sich: Christi. Ist aber bezüglich des sterbenden und auferstehenden Christus auch Narziß ein Typos des Künftigen,112 so leuchtet wohl ein, dass das »Zwiebelgewächs schöner Geister« (Z. 30) in Wahrheit eine Osterblume ist.113 102 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. Lk 17, 33; Joh 12, 25. Kol 1, 15. Phil 1, 21. Hebr 1, 3; vgl. 2Kor 4, 4. Gen 1, 26. Röm 1, 23. Vgl. N III, 224,22–25, wo soz. von Narziß die Rede sein könnte. Phil 2, 6–8. N II, 74,28–32. Vgl. Joh 12, 24 und 1Kor 15, 36–46 mit 1Kor 1, 19–25; 1Kor 1, 28b und Röm 4, 17b mit 24; 2Tim 1,10b! Hamann führt noch Voltaire als Zeugen an: »Dans son propre néant il puisse la sagesse«; N II, 74,40. Wo »die Nase eines Sophisten« nicht einmal hinreicht (ebd. Z. 32), wenn es um des Sokrates Unwissenheit geht, da halten die schönen Geister ihre zu, wenn es um den wahren Narziß geht. 110 2Kor 8, 3. Diese apostolische Wahrheit der Selbst-Erkenntnis wird von Hamann im Blick auf Apolls Verhältnis zu Sokrates griechisch und lutherisch zitiert; N II, 74,24 und 26f. 111 Hebr 9, 23; 8, 5. 112 1Kor 15, 49 und 10, 11.

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4. Ehe letzteres und überhaupt die Deutung des Narziß-Verweises am Ovid-Text belegt werden soll (Abschn. IV), ist zunächst noch der anschließende Satz Hamanns zu bedenken, der erst im Horizont des bisher Verstandenen – und gerade als Konsequenz daraus – selber verständlich wird: Das Heil kommt von den Juden.114

Mit diesem Satz, der Christi Wort aus Joh 4, 22 zitiert,115 fängt in der Aesthetica ein neuer Abschnitt an. Doch die letzten beiden Absätze116 zielten darauf, dass dies jetzt gesagt werden kann. Hamann bleibt mit der Narziß-Typologie und dem ausführlichen Ovid-Zitat nicht »bey den durchlöcherten Brunnen« (Z. 18f.) der Alten »stehen«,117 sondern er »verläst« sie (Z. 19) – gerade durch sie selbst über sie hinaus verwiesen –, um zu den »lebendigsten Quellen des Alterthums« (Z. 19f.), nämlich zu den Quellen der Juden, von wo das Heil kommt, zur Bibel- als die »lebendigen Quellen der göttlichen Rathschlüsse« enthaltend,118 zu gelangen und zieht sie den »durchlöcherten Cisternen und Legenden menschlichen Unsinns und Aberglaubens« vor.119 Nicht nur hatte er selbst erfahren, dass für ihn das Heil von den Juden kommt: »Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eignen Lebenslauf […]«.120 In diese Schriften sich zu »versenken«, um darin sich selbst zu begegnen, das führt zur Selbsterkenntnis: »Herz! sey wie ein stilles Meer!«121 Das führt aber auch zur wahren Selbstliebe: »Die Juden bleiben noch immer ein Spiegel, in dem wir Gottes Geheimnisse in der Erlösung des Menschlichen Geschlechts als ein Rätzel sehen«,122 d. h. der Spiegel für wahres Leben, wirkliches Heil. Die Juden sind zwar »das kleinste unter den Völkern«,123 aber auch Bethlehem im jüdischen Lande ist

113 Vgl. o. Anm. 15. 114 N II, 210,1. 115 Vgl. Hebr 7, 14 u. Jes 2, 3. Zum theologischen Verständnis der Joh.-Stelle 4, 22b vgl. Joachim Ringleben: Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens. Tübingen 2014 (HUTh 64). S. 167, 185 u. 383. 116 N II, 209,16–31. 117 Jene »Brunnen« entsprechen nun auch dem Wasserloch des Narziß! 118 Vgl. Ps 1, 3 u. ö. 119 N III, 385,5–7; zitiert Jes 2, 13 (Fn. 56). 120 N II, 40,25–27; vgl. N I, 303,13–18; N III, 311,4–8. Vgl. Luthers Hinweis auf den Psalter, wie o. Anm. 70. In Oetingers (unveröffentlichtem) Aufsatz Wie ich durch meine eigenen Prinzipien ein guter Lutheraner geworden (1735) heißt es über Luther selbst: »das Vorbild der heiligen Worte höher achtend, als sein Leben«. In: Friedrich Christoph Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta. Teil 1. Hg. von Konrad Ohly. Berlin 1979 (Texte zur Geschichte des Pietismus VII/2). S. 283. 121 N II, 200,3. 122 N I, 319,2–4. Vgl. 1Kor 13, 12a! 123 Dtn 7, 7; vgl. Jes 60, 22: minimus; 1Sam 9, 21.

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die kleinste (minima) unter den Städten Judas nur deshalb nicht, weil gerade in ihr der Erlöser geboren wird.124 Darum gilt nicht nur für Hamann selbst, sondern auch für Natur und Geschichte (und die Ästhetik): »Das Heil kommt von den Juden«. »Um das Urkundliche der Natur zu treffen, sind Römer und Griechen durchlöcherte Brunnen«,125 eine »philosophische Abgötterey unser[es] Jahrhundert[s]«.126 Von den Juden her werden so erst auch die Alten und ihre Geschichten verständlich: »Natur und Geschichte sind daher die 2 grossen Commentarii des Göttlichen Wortes und dies hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen«.127 Vom göttlichen Wort in der Bibel her bzw. mit Christus als dessen Schlüssel kommt es zur wahren Selbsterkenntnis im Buch der Geschichte und in den Geschichtsbüchern; diese aber, wie Ovids Metamorphosen, können durchaus ein (typologischer) »Commentar« dazu sein. Nach dem Ovid-Zitat betont Hamann: »Das Heil kommt von den Juden«, vorher nennt er die Griechen und Römer »durchlöcherte Brunnen«;128 ihre Fabeln vermitteln jedoch Momente der (panorientalischen) Uroffenbarung Gottes, wie Hamann es mit einem Zitat aus Bacon behauptet,129 oder er stellt sich die antike Mythologie »als einen geflügelten Knaben des Aeolus vor, der die Sonne im Rücken, […] auf einer griechischen Flöte pfeift«.130 In ihr ist wie in dem Genesisbericht (Gen 3, 15), nur dunkler, ein Messias den Menschen verheißen worden.

IV. 410

Hamanns Zitat der Metamorphosen Ouid. Metamorph. Lib. Ill. – bibit visae correptus imagine formae, Spem sine corpore amat, corpus putat esse, quod vmbra est. Adstupet ipse sibi, vultuque immotus eodem Haeret vt e Pario formatum marmore signum.

124 Mt 2, 6. Überhaupt gibt es so etwas wie eine göttliche Vorliebe für das »Kleinste«: selbst bei den Buchstaben (Mt 5, 18f.), aber auch in Bezug auf die Kinder (Lk 9, 48; Mt 10 42: uni ex minimis); und gerade die geringsten Bedürftigen sind Brüder des Herrn: uni ex his fratribus meis minimis […] (Mt 25, 14). 125 ZH II, 84,22f. 126 Ebd. Z. 25f. 127 N I, 303,35–37; vgl. auch ebd. 308,34–36. Zur Geschichte dieses Topos vgl. in diesem Bande über Gott als Schriftsteller bei Anm. 163–169. 128 Gemäß Jer 2, 13. 129 Fabulae mythologicae videntur esse instar tenuis cuiusdam aurae, quae ex traditionibus nationum magis antiquarum in Graecorum fistulas inciderunt (N II, 204,43–45. Fn. 28). 130 Ebd. Z. 21–23. Die Rückwendung zur Antike ermöglicht zugleich ein Vorausschreiten zu den Juden.

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Spectat humi positus geminum, sua lumina, sidus, Et dignos Baccho, dignos & Apolline crines, Impubesque genas & eburnea colla, decusque Oris, & in niueo mistum candore ruborem; Cunctaque miratur, quibus est mirabilis ipse. – opaca fusus in herba Spectat inexpleto mendacem lumine formam, Perque oculos perit ipse suos; paulumque leuatus Ad circumstantes tendens sua brachia siluas: »Ecquis io! Siluae, crudelius, inquit, amavit? (Scitis enim & multis latebra opportuna fuistis) – Et placet & video; sed quod videoque placetque Non tamen inuenio. Tantus tenet error amantem! Quoque magis doleam, nec nos mare separat ingens Nec via, nec montes, nec clausis moenia portis. Exigua prohibemur aqua – Posse putes tangi. MINIMUM est quod amantibus obstat. Quisquis es, huc exi! – Spem mihi nescio quam vultu promittis – lacrymas quoque saepe notaui Me lacrymante tuas, nutu quoque signa remittis. In te ego sum. Sensi, nec me mea fallit imago Quod cupio, meum est: inopem me copia fecit. O vtinam nostro secedere corpore possem! Votum in amantem nouum –« DIXIT & ad faciem rediit male sanus eandem, Et lacrymis turbauit aquas, obscuraque moto Reddita forma lacu est. Quam quum vidisset abire – clamauit: »Liceat quod tangere non est Aspicere & misero praebere alimenta furori« Ille caput viridi fessum submisit in herba; Lumina nox clausit domini mirantia formam. Tum quoque se, postquam est inferna sede receptus, In Stygia speetabat aqua – Planxerunt Dryades; plangentibus assonat Echo, Iamque rogum quassasque faces feretrumque parabant, Nusquam corpus erat. Croceum pro corpore florem Inueniunt foliis medium cingentibus albis.131

131 N II, 209,41f. und 210,9–49. Von mir beigefügt ist die Zeilenzahlung Metam. III, 416–510. Die Auszeichnungen folgen der Originalausgabe der Aesthetica (1762). In der Übersetzung (In: Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Hg. u. übertr. von Erich Rösch. München/Zürich 12 1990 (Sammlung Tusculum). S. 109–113) lautet die Passage (ausführlicher) so: 416 Während des Trinkens liebt er, berückt von dem Reiz des erschauten Bilds einen leiblosen Wahn, was Welle ist, hält er für Körper, staunt sich selber an; und reglos bleibt mit gebanntem

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1. Das Ovid-Zitat ist aus der zuletzt angedeuteten Perspektive mit den von Hamann ausgewählten Versen als eine Art Palimpsest zu lesen, in dem ursprünglichere Schriftzüge durchschimmern und der ursprüngliche Sinn noch zu erah-

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Blick wie ein Standbild er starr, das aus parischem Marmor gehauen. Liegend am Boden schaut er das Sternenpaar, seine Augen, schaut das Haar, das würdig des Bacchus, würdig Apollons, schaut die Wangen, die glatten, den Elfenbeinhals, des Gesichtes Anmut, das Rot auf ihm, gepaart mit schneeiger Weiße, und er bewundert alles, worum er selbst zu bewundern.

424 […] 438 – Gestreckt auf den schattigen Rasen 440 schaut er mit unersättlichem Blick die Lügengestalt und geht an den eigenen Augen zugrund. Ein wenig erhoben ruft er, die Arme gestreckt zu den ringsum stehenden Bäumen: »Hat so grausam gequält, ihr Bäume, geliebt schon ein Andrer? 443 Wißt ihr es doch, denn ihr botet schon vielen erwünschte Verstecke. […] 446 Denn ich liebe und schaue, doch, was ich liebe und schaue, finde ich nicht, den Liebenden hält eine solche Verwirrung. 450 Und, meinen Schmerz zu erhöhn, uns trennt kein gewaltiges Meer, uns trennt kein Gebirge, kein Weg, mit verschlossenen Toren nicht Mauern, nur ein geringes Wasser trennt uns. – […] 453 ihn berühren zu können, glaubst du. Was zwischen den Liebenden steht, es ist ein Geringstes. 454 Wer du auch seist, tritt heraus! – […] 457 Hoffnung gibst du, ich weiß nicht worauf, mir mit freundlicher Miene. […] 459 – deine Tränen auch merkte ich oftmals, 460 wenn ich selber geweint, auch erwiderst du Zeichen und Winke. […] 463 Der da bin Ich [In dir bin ich, J.R.]! Ich erkenne! Mein eigenes Bild ists! […] 466 Was ich begehre ist an mir! Es läßt die Fülle mich darben. Könnte ich scheiden doch von meinem Leibe! 468 O neuer Wunsch eines Liebenden –» […] 474 Sprach es und kehrte mit krankem Sinn zurück zu dem gleichen 475 Anblick und störte mit Tränen die Flut. Da ward von des Wassers 476 Regung getrübt die Gestalt. Er sieht es und ruft, wie sie schwindet: 478 »– Es bleibe, was nicht zu berühren vergönnt ist, 479 doch mir zu schauen und Nahrung dem elenden Wahne zu geben!« […] 502 Nieder senkt er sein mattes Haupt in die grünenden Gräser, Tod [Nacht, J.R.] schloß die ihres Herren Gestalt bestaunenden Augen. Auch, als ihn auf dann genommen die unterirdischen Sitze, 505 schaut er sich selbst im Wasser des Styx. – […]

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nen ist.132 Hamann gibt Deutungshinweise, indem er ebendiese durch Kursive und zweimal mit fettgedruckten Majuskeln kennzeichnet. Folgt man seinen Winken, lässt sich ein Hypotext (re)konstruieren:Wir haben laut der Aesthetica in nuce zwar nur verworrene Fragmente der Überlieferung, Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig,133

aber dieser Poet hat sie schon halbwegs »in Geschick« gebracht.134 Geht man den typographischen Hinweisen Hamanns nach, schimmert bei Ovid eine rätselhafte Verheißung durch. Der Dichter hat in der prophetischen Fabel nur das Wenigste angedeutet (»MINIMUM […] DIXIT«, v. 453 und 474), weil er nur um den Schatten (umbra, v. 417), nicht schon um die kommende Wirklichkeit (corpus, v. 417) wusste, sie nur ahnen konnte. Diese Metaphorik berührt sich eng mit Kol 2, 17 : »Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen, leibhaftig ist es in Christus«, oder mit der Vulgata: quae sunt umbra futurorum, corpus autem Christi. Die Mythen wie die Philosophie und das Gesetz sollen den Weg zum künftigen Heil ebnen; zu vergleichen ist Hebr 10, 1: umbram enim habens lex bonorum futurorum, non ipsam imaginem rerum. Der Kontext zeigt da, dass imago bzw. ει᾿κών als wesenshaltig gegenüber dem bloßen Schatten (σκιά) zu verstehen ist. Der göttliche Liebhaber (wie Bacchus135 oder Apollo) starrt gebannt (vultuque immotus eodem, v. 418) auf sein Spiegel- und Ebenbild und findet darin die ursprüngliche, die eigene göttliche Schönheit (cunctaque miratur, quibus est mirabilis ipse, v. 424). Die Gestalt ist jedoch als Folge des Sündenfalls scheinhaft, trügerisch, eine Lüge. Bei mendacem […] formam (v. 439) ist theologisch wohl an Röm 3, 4 zu denken: est autem Deus verax, omnis autem homo mendax.136 Der liebende Gott lauert immer wieder dem flüchtigen und untreuen Menschen auf (latebra opportuna, v. 443),137 geht ihm nach, der seinen Augen gefällt (quod videoque placetque, v. 446), aber ohne das zu finden (non tamen inuenio, v. 447), 507

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Auch die Dryaden klagen, es klagt mit den Klagenden Echo. Scheiter, spänige Fackeln, die Bahre wurde gerüstet – nirgends der Leib. 510 Man fand eine Blume statt seiner, dem Crocus gleich, die mit weißen Blättern umhüllt das Herz ihrer Blüte. Zur Interpretation des Ovid-Textes für sich selber vgl. die o. Anm. 72 genannte Abhandlung. N II, 198f. Vgl. dazu in dem Aufsatz Gott als Schriftsteller in diesem Bande: Abschn. VII.2. (bei Anm. 295) mit VI.2. (bei Anm. 239). N II, 199,2. Zu Bacchus bei Hamann vgl. den vorhergehenden Aufsatz in diesem Bande, Anm. 70. Vgl. Ps 116, 111. In mehreren Briefen deutet Hamann die »Bulerkünste« Jupiters figural als mythologische Hinweise auf die liebevolle Herunterlassung Gottes zu den Mensehen; vgl. ZH I, 352. So verwandelt sich in diesem Brief der höchste Gott in einen Stier, um die Königstochter Europa zu entführen.

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was er sucht: sein eigenes Spiegelbild, obwohl es greifbar nahe ist (exigua prohibemur aqua, v. 450). Das Gesicht gibt dem Werbenden zwar ermunternde Zeichen (vultu, nutu, signa, v. 457 und 460), aber die sich (menschlich gesprochen) zum Wahnsinn steigernde Liebe (male sanus, v. 474)138 führt in das Reich des Todes: vom Pathos zur Passion (lumina nox clausit domini mirantia formam. […] Stygia spectabat aqua, v. 503 und 505), womit der Tod am Kreuz und die Höllenfahrt Christi präfiguriert werden. Das Grab ist leer, der Leib nicht zu finden (nusquam corpus erat, v. 509), im Garten Gethsemane aber blüht die, wie oben (Anm. 15) erwähnt, in christlicher Tradition die Überwindung der Selbstliebe und des Todes symbolisierende Narzisse. 2. Diese positive Deutung des Narziß fügt sich nahtlos in die interpretatio christiana der Antike ein, verlangt jedoch auf eine barock anmutende Weise dem Leser recht viel »kombinatorische Spielenergie« ab.139 Gerade die Vorliebe für die indirekte Mitteilung, die versteckte Verkündigung, für die verkappte Wahrheit ist jedoch für die dem Philologen Hamann beliebte Spielart des acutum dicendi genus charakteristisch.140 Mit diesem Ovid-Zitat, das nicht nur das längste Ovid-Zitat in Hamanns Schriften,141 sondern auch das ausführlichste Zitat der Aesthetica überhaupt darstellt, hat er offensichtlich eine Erklärungshilfe für jene rätselhaften Sätze (N II, 209,26–31) geben wollen, die dem Leser an einem Beispiel zeigen soll, was es eigentlich ist, »was wir in den Griechen und Römern bis zur Abgötterey bewundern« und was wir üblicherweise »vielleicht selbst nicht recht [wissen]« (Z. 20f.). Eine sorgfältige Lektüre dieses Zitats, seiner Auslassungen, seiner Hamannrelevanten wörtlichen Anklänge und der von Hamann selbst darin vorgenommenen Akzentuierungen, soll also versuchen herauszustellen, was der Ovidsche Text für ihn ουτε λεγει ουτε κρυπτει αλλα σημαινει.142 Nur um Spuren und An-

138 Zum göttlichen »Wahnsinn« bei Christus (mit Hinweis auf Joh 10, 20!), bei David und Paulus, Orest und Sokrates vgl. Wolken, N II, 103–108. 139 Vgl. Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart u. a. 1972. S. 110. 140 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013. S. 17–34. 141 Von Hamanns Bezügen auf Ovid ist ferner N II, 345,16–22 und 38f. wegen der Sintflut (Ertrinken!) und der Schöpfungsthematik (Autor – Muse) vielleicht erwägenswert. In den Kreuzzügen (ebd. 190,4f.) wird Ovid als ein Schriftsteller gewürdigt, der »hie und da mehr als Schulerkänntniß über den Begriff des Guten und Bösen verräth«. Hamann spricht ihm offenbar eine – in seinem Sinn des Wortes – »prophetische« Gabe zu (im zitierten Vers aus den »Heroiden« ist vom »Malen« die Rede; ebd. Z. 3). Eine mögliche Anspielung auf die Narziß-Episode könnte N III, 399,26–28 vorliegen. 142 Ν ΙΙ, 94,32 (Heraklitzitat).

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deutungen freilich kann es sich dabei handeln,143 denn natürlich konnte auch Hamann aus diesem Ovid-Text, als einem der »durchlöcherten Brunnen« (Z. 18f.), nicht mehr entnehmen wollen; diese aber nahm er theologisch (typologisch) sehr ernst. 3. Der Einsatz des Zitierten mit dem zweiten Wort von v. 416 bibit weist auf den »Durst« von v. 415, der nicht zitiert ist, zurück und erinnert locker an die johanneische Sprache.144 Auffällig ist aber die Wendung imagine formae.145 Nicht nur verweist das auf die christliche imago-Lehre und Hamanns Bild-Begriff überhaupt,146 sondern er hat selber die Formulierung »Form des Bildes« hervorgehoben,147 und zwar – mit Bezug auf Luther – für Sokrates und seinen Vater als »Larven« des Schöpfergottes als eines Bildhauers.148 Bei Ovid ist wenige Verse später denn auch von e Pario formatum marmore signum (v. 419) die Rede. V. 417 spricht von der Hoffnung auf Unsichtbares149 und von der Schattenhaftigkeit des Körperlichen.150 Bacchus und Ceres151 werden auch in v. 421 und 437 erwähnt. Bei niueo […] candore ruborem (v. 423) kann man an Bibelstellen wie Hoheslied 5, 10 und Weisheit 13, 14 denken.152 Charakteristisch dürfte sein, dass Hamann v. 424 (cunctaque miratur) noch zitiert, aber die folgenden Verse (v. 425–438a) auslässt. Denn diese passen eher zum herkömmlichen Narzißbild »eitler« Selbstliebe (amor sui).153 143 Die Worte nutu und signa bei Ovid (v. 460) passen vorzüglich zu Hamanns Geschmack für Zeichen und Winke; vgl. ZH IV, 6,4–13 und dazu Oswald Bayer: »Geschmack an Zeichen«. In: NZSTh 53 (2011). S. 1–15. 144 Vgl. insbesondere Joh 4, 7–15 mit Ovid: Metam. III, v. 415: dumque sitim sedare cupit, sitis altera crevit! Hamann zitiert Joh 4, 22 in N II, 210,1. 145 Das Wort forma findet sich häufig in den Metamorphosen – es entspricht dem griech. μορφή; vgl. Liber I, v. 1; Liber III, v. 354, 439, 476, 503. Und es ist wiederum neutestamentlich für den Zusammenhang einschlägig: Adam est forma futuri (Röm 5, 14), griech. τύπος; vgl. Röm 8, 29: conformes fieri imaginis Filii sui. Correptus imagine lässt sich auffassen als raptus ins Bild: Hingabe seiner selbst an ein »alter ego« (Christus). Indem Gott ins Antlitz dieses Andern kondeszendiert, darin »aufleuchtet« (2Kor 4, 6), erfährt der Glaubende die Gottesebenbildlichkeit im Spiegelbilde. 146 Bild ist nach Nadler Hamanns »Geschwister« für Wort; N VI, 55. 147 N II, 66,27. 148 Vgl. auch ebd. 62,16–19 und 67,1 mit N III, 46,14f.! 149 Vgl. Röm 8, 24f.; 2Kor 4,18; Hebr 11, 1. 150 Vgl. Hi 17, 7 und 1Chron 29, 15; Hi 8, 9; Pred Sal 6, 12. In v. 434 der Metamorphosen (von Hamann ausgelassen) findet sich imaginis umbra. S. o. im Text zwischen Anm. 134 u. 135. 151 N II, 203,16 u. o. Anm. 135. 152 Vgl. auch Metam. III, v. 482f. und 491. 153 V. 430: quid videat, nescit hätte der von Hamann gemeinten gläubigen Selbsterkenntnis widersprochen. Der Christ bekennt: »Ich weiß, woran ich glaube«. In: Evangelisches Gesangbuch (1994), Nr. 357. In v. 432 taucht bei Ovid der Ausdruck simulacra auf, der biblisch »Götzenbild« bedeutet; z. B. Act 7, 41; 1Kor 12, 2: Offb 9, 20 u. ö.: vgl. »Abgötterey« (N II,

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Angeführt werden dann wieder die vv. 438b–443 und – nach Auslassung von v. 444f. – vv. 446–450a, die die Situation der Trennung und Sehnsucht nach Vereinigung beschreiben, wobei für Hamann in v. 446f. vielleicht Röm 7, 18–22 anklingt. VV. 450b–452 sind wieder autoerotisch und wohl daher weggelassen. In v. 453 hat Hamann die Majuskeln gesetzt: MINIMUM est quod amantibus obstat. Denn dieses Wort ist für ihn gleich zweifach determiniert, zum einen neutestamentlich,154 sodann aber durch sein Lieblingszitat aus Persius: MINIMUM est, quod scire laboro – nämlich bezüglich Jupiters!155 Es geht bei der Selbsterkenntnis des Narziß in Wahrheit um Gotteserkenntnis. Die folgende Auslassung, v. 454b–456, betrifft nur das Ausmalen des Erotischen. Dann wird allein v. 457 zitiert, der die Hoffnung und ihre Verheißung thematisiert.156 Der ausgelassene v. 458 redet vom Umarmen. V. 459b und v. 460, die von den Tränen handeln, könnten an Mk 14, 34 erinnern.157 Die fortgelassenen vv. 461f. passen nicht in eine christliche Lektüre der Episode, denn am Wort hängt christlich alles. Dagegen hat v. 463a: In te ego sum158 unverkennbar einen johanneischen Klang159 und ist eine Formel für das Christusverhältnis als In-Christus-Sein (Paulus). Die zweite Vershälfte: nec me mea fallit imago (v. 463b) unterstreicht, dass Narziß das Recht göttlicher Wahrheit hatte, wenn er »sein Bild mehr als sein Leben [liebt]« (Z. 30f.), denn es ist die imago Dei,160 in die wir verklärt werden.161 Die dagegen, die nur »Hörer« und nicht »Thäter des

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209,21). V. 436: tecum discedet, si tu discedere possis ließe sich mit Paul Gerhardt kontrastieren: »Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir« (O Haupt voll Blut und Wunden). In: Evangelisches Gesangbuch. Nr. 85. Strophe 9. Vor allem ist Lk 12, 26 zu nennen, was sich mit dem Persius-Zitat verknüpfen lässt. Vgl. aber auch Lk 16, 10 (qui fidelis est in minimo); Mt 13, 31 (Senfkorn; vgl. N III, 373,28); 5, 19 (Gebote) und o. Anm. 124. Man kann auch an 1Kor 4, 3 denken, was sich auf das »Zwiebelgewächs schöner Geister« (Z. 30) beziehen lässt. Eine gewisse Nähe könnte auch zwischen diesem »Minimum« (und dem exigua von v. 450a) und dem neutestamentlichen modicum bestehen; vgl. Joh 13, 33; 14, 19; 16, 16–19; Hebr 10, 37. Vgl. auch 2Kor 5, 6! Persius: Satiren. Liber II, v. 17f. und ZH III, 89,29. Vgl. ZH VI, 339,29f. (De Joue quid sentis?); ZH VII, 321,23, sowie N III, 132,23. Vgl. außerdem zu minimum noch N IV, 413,30 und 423,34. Zur Bedeutung für Hamanns Stil vgl. HH VII, 172f. und Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München/Zürich 1988. S. 40f. Möglich wäre auch ein Zusammenhang mit dem »klein[en] Licht«; N II, 206,18. Vgl. u. bei Anm. 177 zu v. 510. Vgl. o. bei Anm. 149 zu v. 417. Vgl. Hebr 5, 7. Andere Ausgaben lesen sogar: Iste ego sum. Vgl. Joh 17, 21 u. 23. Von Christus ähnlich: Joh 10, 38; 14, 10f. (vgl.17, 10); von den Christen: Joh 14, 20; 15, 4f.; vgl. 1Joh 3, 24; 4, 13. 15f. sowie (als Umkehrung) Gal 2, 20. 2Kor 4, 4b. 2Kor 3, 18.

Der »Eckelname« des Narziß

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Worts« sind, »betrügen sich selbst«!162 Nach den weggelassenen vv. 464f. über die Liebesqual zitiert Hamann v. 466–468a. Quod cupio, meum est (v. 466a) erinnert an Hoheslied 2, 16163 und der folgende Wunsch o vtinam nostro secedere corpore possem (v. 467) an Phil 1, 22f. Und der »neue Wunsch eines Liebenden« (v. 468a) wird verständlich durch Phil 1, 21. Die dann wieder ausgelassenen vv. 468b–473 enthalten dagegen eine Klage über das eigene Sterben und die Unbeständigkeit des Geliebten sowie den Wunsch, zusammen zu sterben, was Hamann nicht ins Konzept passen konnte. Er setzt betont mit eigner Großschreibung in v. 474 wieder ein: DIXIT & ad faciem rediit […] eandem. Hier dürfte ein Anklang an das dixit von Gethsemane gehört werden.164 v. 475: lacrymis turbauit lässt in Hamanns Lektüre wohl auch Neutestamentliches aufscheinen.165 Indem er v. 477 und 478a übergeht, setzt Hamann bei v. 478b wieder ein: clamauit: »Liceat quod tangere non est / Aspicere […]«. Narziß erfährt das Noli me tangere,166 das er zuvor zu Echo geäußert hat (v. 390: manus complexibus aufer) und das die Nymphen und Dryaden amEnde von Hamanns Ovid-Zitat faktisch erfahren. weil sie den toten Leib nicht finden.167 Die darauf folgende lange Auslassung (vv. 480–501) betrifft die Selbstzerfleischung des Narziß, sein Sichverzehren und seinen körperlichen Verfall sowie die trauernde Reaktion Echos (vv. 494–501); beides war für Hamann hier nicht brauchbar. Erst wieder die Schlußphase der Narziß-Episode wird von Hamann zitiert: über den Tod des Jünglings.168 V. 502: caput […] submisit könnte von Ferne an inclinatio capite erinnern.169 In v. 503 lässt domini […] formam an die forma Dei und forma servi (griech: μορφὴ θεοῦ – μορφὴ δοῦλου) aus Phil 2, 6f. denken. V. 504: est inferna sede receptus ließe sich als Entsprechung zu Christi Höllenfahrt170

162 Jak 1, 22: fallentes vosmetipsos; vgl. Hebr 3, 13: fallacia peccati. Vgl. bei Ovid fallaci; Metam. III, v. 427. 163 Hohesl. 6, 3; 7, 11; vgl. auch Lk 13, 51 und Joh 17, 10. Vgl. auch Paul Gerhardt: »du bist mein, ich bin dein«. In: Evangelisches Gesangbuch. Nr. 370 (Warum sollt ich mich denn grämen?). Strophe 11, sowie Christian Fürchtegott Gellert: »Jesus lebt! Sein Heil ist mein«; ebd. Nr. 115 (Jesus lebt, mit ihm auch ich). Strophe 4. Vgl. Hamann: Mein Geliebter ist mein. N I, 283–291. 164 Mk 14, 36. Vgl. Mk 14, 34: Et ait illis: Tristis est anima mea usque ad mortem. Dixit ist sonst vollmächtige Rede Gottes; vgl. Gen 1, 3 u. ö. Vgl. auch Mk 15, 34 (Golgatha): dicens. 165 Vgl. Joh 12, 27: anima mea turbata est sowie Joh 11, 33: turbavit seipsum (Auferweckung des Lazarus). 166 Joh 20, 17. 167 Vgl u. nach Anm. 180; vgl. auch Joh 20, 13 und 15. 168 Hamann hat in v. 503 aber nox statt mors gelesen (oder vorgefunden?): vgl. Mk 15, 33 und Joh 13, 30b. Vielleicht hat nox hier zu tun mit N II, 206,18–21. 169 Joh 19, 30c. 170 descendit ad inferna; Symb. Apostolicum.

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Rede, daß ich dich sehe

lesen.171 Die Erwähnung von »Schwestern« (v. 505b) und Najaden (v. 506) wird übergangen.172 Es folgen die letzten vier Verse der Episode. Sie handeln von der Trauer der Frauen (hier Dryades und Echo; v. 507) und von ihrer Zurüstung zur Bestattung des Toten (faces fecerumque parabant; v. 508), wobei man einen Anklang an Lk 24, 1 hören könnte.173 Wichtig ist sicher der Anfang des vorletzten Verses: Nusquam corpus erat (v. 509a). Hier ist die Nähe zur Entdeckung des leeren Grabes Christi unübersehbar: non invenerunt corpus eius174 bzw. non invento corpore eius.175 Ähnlich wie bei Ovid die Frauen statt des Toten schließlich eine Blume mit weißen Blütenblättern (foliis[…] albis; v. 510) finden (inueniunt), so die Frauen am Grabe Christi Engel mit Kleidern »weiß wie Schnee«.176 Für Hamann besagt das auch: »Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: sobald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt«.177 Die Suche nach dem Leib des Toten ist ac si viuos quaeras inter mortuos.178 Sie können ihn auch gar nicht finden, denn sein »Leben ist verborgen […] in Gott«,179 und da die Frauen bei Ovid statt einer Erscheinung180 nur die weiße Blume sehen, ist der Rest Schweigen. Für »schöne Geister« (Z. 30) aber ist wie Narziß – als »Zwiebelgewächs« (Z. 30) ähnlich wie der gekreuzigte Menschensohn mit einem »Eckelnamen« behaftet181 – so auch der Auferstandene überhaupt unzugänglich: ein Noli me tangere.182

171 Vgl. Offb 1, 18. 172 So auch schon v. 456 die Nymphen. N II, 336,18 werden die Najaden allerdings im Zusammenhang von Abendmahl (ebd. Z. 15) und Bacchus (als ihrem Herrn: ebd. Z. 18) erwähnt. 173 portantes, quae paraverant, aromata. 174 Lk 24, 3. 175 Lk 24, 23; non est hic. Mt 28, 6; Mk 16, 6; Lk 24, 6 und – wichtig für das Folgende – 12! Vgl. Joh 20, 5f. Zu Maria Magdalenas vergeblicher Suche nach dem Leichnam ihres Herrn vgl. o. bei Anm. 166 zu v. 478b. 176 Mt 28, 3; Mk 16, 5: stola candida; Joh 20, 12: angelos in albis; vgl. Act 1, 10. 177 N II, 206, 22f.; vgl. Joh 8, 12; 12, 46. 178 N II, 202,22; vgl. Lk 24, 5! 179 Kol 3, 3. 180 Sokrates erschien quasi als Auferstandener an seinem Grabe; N II, 81,12f. Von einer »Himmelfahrt« ist später bei Ovid die Rede; Metam. XV, v. 869f. (caput Augustum); vgl. dazu Godo Lieberg: Apotheose und Unsterblichkeit in Ovids Metamorphosen. In: Silvae. (FS Ernst Zinn). Hg. von Michael von Albrecht und Eberhard Heck. Tübingen 1970. S. 125–135; hier ab S. 125. 181 N II, 210,5. Für das Gegenteil zitiert Hamann Jak 2, 7; ebd. Z. 4 und 50. 182 Vgl. N II, 346,15–17 und 347,17f.!

Der »Eckelname« des Narziß

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4. Aufgrund der hier versuchten Lektüre mit dem Aufweis einzelner möglicher Anspielungen auf die Christologie (Tod und Auferstehung)183 und das gläubige Christsein lässt sich sehr wahrscheinlich machen, dass Hamann das lange OvidZitat zu Narziß angeführt hat, weil er darin so etwas wie »ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme« fand.184 Demgemäß hätte er in der Aesthetica auch formulieren können: »Die Geschichte des Menschensohnes, der sein Bild mehr liebt als sein Leben, wisst ihr; denn hat sie nicht Ovid in lateinische Verse übersetzt«!185 Denn überhaupt ist »Reden […] übersetzen aus einer Engelsprache in eine Menschensprache […]«.186 Und wenn schon die libri prophetici, ohne Bezug auf Christus gelesen, insipidum et fatuum erfunden werden,187 um wieviel mehr der heidnische Poet Ovid! Sollen doch Hamann »die Poeten und Philosophen zum Vorspann dienen«,188 so können ihm gerade auch die Metamorphosen ein »poetischer Almanach« sein.189 In der Sache gilt jedenfalls, dass Hamann gerade durch seine christliche bzw. christologische Lesart dieser Episode die dichterische Intention Ovids hinsichtlich des Narziß unmittelbar bestätigt: dass zu sehr mit sich selbst identisch sein zu wollen, gerade Verlust der Identität ist. Denn während Echo für jeden anderen unerreichbar ist, weil sie ihn immer nur sich selber begegnen lässt,190 sucht Narziß (vergeblich) an sich selber den Anderen; er strebt verzweifelt danach, mit dem eins zu werden (nämlich als einem Anderen), mit dem er immer schon (nämlich als er selber) eins ist: infelix, quod non alter et alter eras!191 Die Auflösung einer solchen Aporie des Selbstseins liegt im Christus-Verhältnis: in Christus als seinem Nächsten begegnet das Selbst seiner eigenen Wahrheit192 als einem Anderen.193 Dieses wahre Selbst ist in der Tat nur erreichbar, wenn man »sein Bild mehr [liebt] als seinLeben« (Z. 30f.), d. h. eschatologisch.194

183 Eine christologische Deutung der Ovidschen Herkules-Episode (Metam. Liber IX, v. 251– 272) hat Hermann Fränkel vorgeschlagen, wie o. Anm. 76, S. 88f. mit Anm. 227–233. 184 N I, 304,19f. 185 Vgl. N II, 211,2–4. 186 Ebd. 199,4f. 187 Ebd. 212,14–16; vgl. ebd. 88,39–41. 188 Ebd. 176,19; vgl. ebd. 172,13–15. 189 Ebenso wie Ovids Fasti; vgl. ebd. 274,10. 190 N III, 317,14: reparabilis adsonat Echo! (Persius: Satiren. Liber I, v.102). 191 So Narziß bei Ovid: Fasti, Liber V, v. 226. Zur genauen Interpretation der Echo- und NarzißEpisodc vgl. die o. Anm. 72 genannte Arbeit. 192 Hamann: »Ein sterbender ist dem von Rausch aufwachenden Noah gleich«; N I, 318,27. 193 Vgl. Gal 2, 20 (zitiert o. Anm. 97). 194 Vgl. 1Joh 3, 2.

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Rede, daß ich dich sehe

Das Metamorphosen-Zitat aus dem »durchlöcherten Brunnen« (Z. 18f.) Ovids hat aber darüber hinaus, dass überhaupt »unser Weissagen Stückwerk« ist,195 für Hamann noch eine grundsätzliche und zentrale Bedeutung. Denn es dient in einem spezifischen Sinne dazu, die »Metempsychosin der Meynungen und Metamorphosen der Sprache zu erläutern«,196 weil es – Hamanns eigene Worte ihm im Munde umdrehend – zeigen kann, dass »unsere Theologie nämlich […] soviel werth ist als die Mythologie«; denn sonst wäre »es uns schlechterdings unmöglich, die Poesie der Heyden zu erreichen«!197 Hamann ist gerade an den Metamorphosen (als solchen) darum so interessiert, weil schon dieser Titel ein Zentralwort des Apostels Paulus anspricht, das er in den Wolken zum Schluss zitiert hat: Dann sehen wir alle mit aufgedeckten Angesichte des HERRn Klarheit wie im Spiegel, und werden verwandelt in dasselbige Bild von Klarheit zu Klarheit als vom HERREN des Geistes.198

Vorausgeschickt ist u. a. der Satz: »[…] und bis auf den heutigen Tag, in allen Schulen, wo gelesen wird, hängt die Decke vor dem Herzen der Lehrer und Zuhörer«,199 und das gilt, wie die Aesthetica sagt, auch für die sich selbst nicht durchsichtige Bewunderung für die Griechen und Römer (Z. 20f.). Diese Blindheit – bis zur »Abgötterey« (Z. 21) – hört erst in Christus auf, diesem »wahrhaftig[en] Licht«.200 Dass, wo der Geist des Herrn ist, Freiheit ist,201 reicht auch in den Jakobus-Brief hinein.202 In direktem Bezug zum Narziß der Metamorphosen ist danach der Schlussvers von 2Kor 3203 zu lesen: Nos vero omnes, revelata facie gloriam domini204 speculantes (κατοπτριζόμενοι: »wie im Spiegel«!),205 in eandem imaginem206 transformamur207 (μεταμορφούμεθα)208 a claritate in claritatem […].209

195 N III, 398,7; vgl. 1Kor 13, 9. Vgl. auch die Betrachtungen über Newtons Abhandlung von den Weissagungen; N I, 315–319. 196 N II, 248,27f. 197 Ebd. 205,3–5. 198 2Kor 3, 18 (vgl. vorher 15–17) und N II, 108,33–35. 199 Ebd. Z. 28f.; vgl. 2Kor 3, 15 (Unter dem Gesetz!). 200 Ebd. Z. 30; vgl. Joh 1, 9 und N II, 206,18. 201 N II, 108,32f. und 2Kor 3, 17. 202 Jak 1, 25. 203 2Kor 3, 18. 204 Vgl. Metam. Liber III, v. 503: domini mirantia formam. 205 So N II, 108,34; vgl. 1Kor 13, 12 und 2Kor 5, 7. 206 Vgl. Metam. Liber III, v. 416: visae correptus imagine formae und v. 463: nec me mea fallit imago. 207 Vgl. reformamini in novitate sensus (Röm 12, 2) und transfiguratus est ante eos (Mt 17, 2; Mk 9, 2).

Der »Eckelname« des Narziß

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Darum liebt der Christ – mit dem »Eckelnamen«210 eines »Zwiebelgewächses« für schöne Geister – »sein Bild mehr als sein Leben« (Z. 30f.) und hofft über den Tod hinaus auf ein Auferstehen mit Christus211 – in der Wahrheit seines Selbst – zur Herrlichkeit des Schauens facie ad faciem […] sicut et cognitus sum.212

208 Das Wort hat sachlich eine große Nähe zu Hamanns Lieblingsausdruck Metaschematismus, die übrigens auch sprachlich im Neuen Testament vorgegeben ist; vgl. 1Kor 4, 6 (μετεσημάτισα, transfiguravi): ähnlich 2Kor 11, 13–15! Phil 3, 31 wird es durch reformare wiedergegeben. 209 Diese Metamorphose bestimmt das christliche Leben: »wir tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserm Leibe, auf dass auch das Leben des Herrn Jesu an unserm Leibe offenbar werde«; 2Kor 4, 10; vgl. Röm 6, 8; 2Tim 2, 11. 210 Vgl. N II, 210,5 (Menschensohn). 211 Vgl. Röm 6, 5; 2Kor 4,14 u. ö. 212 1Kor 13, 12.

Hamanns Michaelis-Rezension

Nachdem Anfang des Jahres 1764 von dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis der zweite Teil seiner Erklärung des Briefes an die Hebräer in Frankfurt und Leipzig herausgekommen war,1 erschien schon am 16. April desselben Jahres eine 4-seitige Rezension von Hamann im 22. Stück der Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen (N IV, 284–288).2 Die Rezension zeigt, dass Hamann ein guter Kenner des griechischen Textes und der Theologie des Hebr war.3 Ich will sie hier theologisch genauer vorstellen und diskutieren.4 1 S. 167–411. Im Folgenden mit M und Seitenzahl angeführt. Später erschien von Michaelis in der Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes. Zweiter Theil (Göttingen 1788) nochmals eine Darlegung zum Hebr überhaupt (S. 1339–1404; § 217–235), auf die ich hier gelegentlich Bezug nehme. 2 Zitiert mit Seiten- und Zeilenzahl. Hamanns Vorhaben ist: »Wir wollen eine kurze Anzeige einiger merkwürdigen Stellen thun, so wie selbige unserm Auge und Gedächtniß bey einer wiederholten Überlaufung aufstoßen werden« (284,6–8). Zu Hamanns »überlaufendem« Lesen und Gedächtnis vgl. ZH IV, 311,14–17. »Aufstoßen« hat den Doppelsinn von Auffallen (evtl: anstößig) und »aus dem Magen aufstoßen« (dies passt zur ruminatio, s. u. Anm. 25); vgl. auch u. Anm. 94. Hamanns Rezension kann, wie manche Formulierungen erkennen lassen, als eine Art Retourkutsche zu der Rezension aufgefasst werden (vgl. auch ZH II, 213,31–34; 251,28f.; 253,10f.), die Michaelis über die Kreuzzüge des Philologen in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (28. Stück. Göttingen 1762. S. 593–595) veröffentlicht hatte (abgedruckt N II, 253–255 u. 256). Hamann äußert sich über das Verstehen und Nichtverstehen(wollen) von Michaelis ZH II, 183,23–26; vgl. auch N II, 255,32–34 (Fn.39). Über Hamanns Kenntnis der Michaelisschen Rezension vgl. Joachim Ringleben: Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen. In: Arbeit am Gottesbegriff II. Tübingen 2005. S. 38 Anm. 93. Hier auch detailliert über Hamanns Verhältnis zu Michaelis überhaupt: S. 29–41. Eine positive Würdigung des Göttinger Orientalisten findet sich N II, 179,16–25; aber auch hier ist der Tenor: mehr Modeabhängigkeit als wissenschaftliche Zuverlässigkeit. Zu Michaelis bei Hamann vgl. auch Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Stuttgart 1972. S. 161–171. 3 Der tiefere Sinn von Hamanns ironischen Äußerungen in dieser Rezension und seiner oft nur indirekt erkennbaren Kritik erschließt sich nur dem, der den Text des Hebr selber mit der Auslegung von Michaelis, sofern Hamann sie zitiert, vergleicht; vgl. u. zum »Prüfen« bei Anm. 103. 4 Einen knappen, an der hermeneutischen Frage interessierten Überblick über Hamanns Rezension gibt Wolf-Dieter Baur: Johann Georg Hamann als Publizist. Berlin – New York 1991. S. 152–163 (Theologische Bibliothek Töpelmann 49). Vgl. auch Oswald Bayer: Die Form der

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Rede, daß ich dich sehe

I Hebr 8, 1 benennt die Hauptsache (κεφάλαιον) der ganzen Schrift: »Wir haben einen solchen Hohepriester, der da sitzt zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel« und fährt in v. 2 fort: »und ist ein Diener am Heiligtum und an der wahren Stiftshütte (σκηνή), die Gott errichtet hat und nicht ein Mensch«. Νach Hamann hat Michaelis κεφάλαιον »als ein Beywort genommen« und so gedeutet: »das wichtigste, so Paulus zu dem bisher gesagten hinzufügen wollen« (285,40f.; M 215 A. 162).5 Wenn das bei Michaelis keine bewusste Relativierung ist – es geht in Wahrheit um das Hauptanliegen bzw. die Summe der Theologie des Hebr ! –, ist es zumindest doch eine starke Untertreibung oder Abschwächung (durch eine formale Ausdrucksweise). Schon Hebr 4, 14, mit dem dieser zweite Teil des Kommentars von Michaelis beginnt, worauf Hamann eigens hinweist (284,5f.), redet von dieser Hauptsache: »Weil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat […]«. Das Thema kehrt potenziert Hebr 10, 7 im Munde Jesu selber wieder, der vom Alten Testament sagt: »In der Schriftrolle (ἐν κεφαλίδι βιβλίου) steht von mir geschrieben« (vgl. Ps 40, 8). Dazu äußert »der Herr Hofrath«, wie Hamann ihn immer wieder ironisch apostrophiert, lediglich die folgenden »Machtworte«, die er aber nur zitiert oder paraphrasiert: »das ist, was in den Büchern Mosis von Opfern steht, handelt von mir« (286,20–22; M 270 A. 224). Das ist insofern unterbestimmt, als die Worte »handelt von mir« im Hebr bedeuten: sofern ich (Christus) die alte Opferpraxis durch mein Selbst-Opfer definitiv beende und Gottes eigentlichen Willen ein für allemal erfülle (vgl. Hebr 10, 5b. 6 u. 7c). Das aber impliziert die Inkarnation; es heißt da auch: »einen Leib hast du mir geschaffen« (Hebr 10, 5c). Insofern besagen die Worte »siehe, ich komme« (7a): Gottes Handeln zielt von weit her auf das Erscheinen seines Sohnes in der Welt (vgl. Hebr 1, 2a). Hamann weist also darauf hin, dass Michaelis hier durch Ausblenden des Kontextes dieser Stelle die Christologie des Hebr im Wesentlichen überspielt. Was ist zur Inkarnation bzw. christologisch überhaupt bei Michaelis auszumachen?

Rezension. In: Zeitgenosse im Widerspruch. J.G. Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988. S. 58f. (Serie Piper 918). Es sei vorweg betont, dass das Verhältnis von Hamanns Kritik an Michaelis zu dessen Text oft komplizierter ist, als es die Rezension und meine Interpretation (aus Gründen des Umfangs) zu explizieren erlauben. Zur Theologie des Hebr vgl. Joachim Ringleben: Wort und Geschichte. Göttingen 2019. 5 Paulus galt lange als der Verfasser des Hebr; die heutige Exegese teilt diese Auffassung nicht mehr. Michaelis äußert sich 1788 zu seiner früheren Auffassung kritisch (Einleitung in die göttlichen Schriften, wie o. Anm. 1, S. 1395; § 232).

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II Im Hebr ist wohl die tiefste inkarnationstheologische Stelle 5, 7, wo mit Bezug auf das leidenschaftliche Gebet Jesu in Gethsemane (Mk 14, 32–39 und bes. Lk 22, 44! Vgl. auch Phil 2, 7–8 und Hebr 5, 9) von der äußersten Selbsterniedrigung des Gottessohnes »in den Tagen seines Fleisches«, d. h. als Inkarniertem (vgl. Hebr 2, 14), die Rede ist. Michaelis nun wünscht, »daß jemand die Redensart Tage des Fleisches bey einem Schriftsteller auffände, der sie Paulo nicht abgeborgt hätte, und [er] wagt, unter Anspielung auf einen Psalm,6 die sylleptische und etwas harte Übersetzung:7 ›Gott hat ihn von der Furcht erlöst‹ anstatt: Gott hat ihn erhört und von den Banden der Furcht erlöset« (284,29–33, vgl. M 175f. u. A. 104). Inhaltlich gilt: die Michaelissche Übersetzung relativiert die Erhörung (psychologisch: bloß von der Furcht) und überspielt sowohl die Gebetskommunikation von Gottvater und seinem Sohn wie auch die Rede des Hebr von der Auferstehung8 als dem erlösenden Gotteshandeln. Methodisch ist für Michaelis die Suche nach außerchristlichen, religionsgeschichtlichen Parallelen bezeichnend.9 Sie verkennt hier aber die paulinische Rede von der σάρξ (vgl. Röm 1, 3; 8, 3; 9, 5 sowie Eph 2, 14; Kol 1, 22) und die dem entsprechende von der Fleischwerdung (Joh 1, 14).10 6 Gemeint ist Ps 34, 5 (vgl. 55, 5), wo tatsächlich, anders als Hebr 5, 7, nur von der Errettung aus der Furcht geredet wird. 7 »Sylleptisch« heißt: zusammenziehend; das entspricht dem »Wagnis« Michaelisscher Theologie-Vermeidung. 8 Hebr 5, 7 heißt es σώζειν ἐκ τοῦ θανάτου. Zur Auferstehung vgl. Hebr 13, 20 und zur Himmelfahrt u. Anm. 22. 9 S. u. So bleibt beispiels- oder bezeichnenderweise die Rede κατάρας ἐγγύς (Hebr 6, 8: »dem Fluch nahe«, d. h. der Verfluchung durch Gott, »zweydeutig und wird daher von irgend eines gelehrten Mannes aufmerksamem Auge noch ein Beyspiel dieser Redensart in völligem Zusammenhange oder Bedeutung erwartet« (285,28–31; M 194 A.128). Michaelis versucht hier also keine Erklärung mit Hilfe der synoptischen Evangelien (vgl. z. B. Mk 11, 21) oder bei Johannes (Joh 15, 6; zu »brennen« vgl. Hebr 12, 18 u. 29; 10, 27), sondern erwartet wohl wiederum eine außerbiblische Parallele. Vgl. zu dieser Suche von Michaelis nach anderweitigen religionsgeschichtlichen Belegen Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen aus vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft. Göttingen 2017. S. 147. 10 Hamann kommt auf die Inkarnation in einer Art Parenthese später noch einmal zu sprechen: »(Es würde übrigens sehr leicht seyn, zu Melchisedechs Gleichniß von des Messiä Ankunft ins Fleisch noch ein zweites hinzuzufügen, Jaebez, herrlicher denn seine Brüder, wurde von seiner Furcht vor dem Argen erhört, und der einzelne Auftritt seiner Mutter, die ihn mit Kummer geboren, 1 Chron. IV, 9.10 ist wenigstens eben so wunderbar, als Melchisedechs Erscheinung in der Geschichte Mosis ohne Vater und Mutter.)« (287,6–12; vgl. M 203f A. 142). Hamann lässt hier erkennen, dass er Mechisedek, der »ohne Vater und Mutter« war (Hebr 7, 3), typologisch der Inkarnation des Gottessohnes zuordnet (»Gleichniß«). Zu »herrlicher denn seine Brüder« vgl. Röm 8, 29 und zu »Furcht vor dem Argen« vgl. Hebr. 5, 7 (s. o. im Text) und 5, 1. Die Mutter des Jaebez (»mit Kummer geboren«) enthält vielleicht eine Anspielung auf die Schmerzensmutter Maria und damit auf Christi Passion und Kreuz – gegen Michaelis.

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Für die Christologie des Hebr ist der Begriff des Sohnes Gottes für das Sein Jesu Christi entscheidend (vgl. 4, 14; 5, 8; 6, 6; 7, 3; 10, 29). Michaelis kommt in einem eher nebensächlichen Zusammenhang bzw. marginalisierend darauf zu sprechen: Wie kein Priester, auch nicht Aaron, sich seine Amtswürde von sich aus anmaßen durfte, sondern von Gott dazu berufen wurde (vgl. Hebr 5, 4 und 284,12–16), so gelte auch von Christus, er habe sich diese »Ehre« nicht selbst genommen, sondern – so Michaelis –: »eben der Gott, der ihn in den Worten des zweiten Psalms: Du bist mein Sohn [Ps 2, 7; Hebr 1, 5; 5, 5b] – zum Könige und Messias eingesetzt, hat auch zu ihm gesagt: Du bist ein Priester – [Hebr 5, 6b; Ps 110, 4]« (284,16–18; M 175). Es ist schon auffallend, dass Michaelis bei beiden Zitaten etwas Wichtiges weglässt: Bei der Sohnesformel wird dazugesagt: »heute habe ich dich gezeugt«, und beim Priester: »in Ewigkeit« (vgl. auch Hebr 7, 3. 17. 21. 24. 28). Vollends aber wird dessen Einstellung zu diesen christologischen Hauptaussagen im folgenden Satz Hamanns deutlich: In den Anmerkungen rechnet der Herr Hofrath den Schluß von der Schönheit und Richtigkeit des Ausdrucks auf die göttliche Eingebung zu den Schmeicheleyen, die man der Schreibart heiliger Männer aus guter Meynung macht, wobey aber die Sache der Religion bey Unpartheyischen, (vornehmlich solchen, denen es an einer Gattung eines gewissen innern Sinns und feinern Gehörs ganz oder zum Theil fehlt) mehrmals verlieren kann. (284,18–24; M 174f. A. 101).

Hier wird die als Unparteilichkeit11 empfohlene, kritisch-aufgeklärte Distanz von Michaelis zur h. Schrift unübersehbar.12 Nach ihm darf man nicht von der Schönheit und Angemessenheit des Ausdrucks biblischer Schreibart – also ästhetisierend13 – auf die Inspiration der Schrift schließen.14 Man mache so der

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Diesem wird hier übrigens eine leicht zu findende Parallelstelle in der Bibel selber vorgeführt – wenn man nur sucht. Das in Klammern Stehende nimmt Hamann aus M 178 A. 107. Unparteiisch können nur solche sein, die (wie Michaelis selber; s. u.) religiös »unmusikalisch« sind, d. h. die gar nicht wissen, wovon die Rede ist. Was hier »innerer Sinn und feineres Gehör« heißt, kommt aus dem Glauben, der freilich »nicht jedermanns Ding« ist (2Thess 3, 2; dazu s. u. bei Anm. 53). Wahre Leser hingegen sind die »Liebhaber« der Schrift (vgl. N II, 171,14–17) und als solche gerade »parteiisch«. Hamann möchte die »Unpartheylichkeit der Critic und die ehrfurchtsvolle Einfalt eines christlichen Herzens« miteinander verbinden (N I, 8,17f.). »Unpartheyisch« bei Michaelis M 303 A. 276. Zur »Schreibart« des Apostels Paulus vgl. 285,7f. (s. u. bei Anm. 34). Zur ästhetischen Würdigung bei Michaelis selber vgl. die lebendige Schilderung bei Smend, wie Anm. 9, S. 142 sowie S. 150. Vgl. auch N II, 170,40–171,3. Wie anders Hamann über Gott als Schriftsteller (vgl. N I, 5,1)! Michaelis meint den orthodoxen Leipziger Theologen Johann Benedikt Carpzov I (1607–1657), der in seinem Systema theologiae (Leipzig 1653) die ästhetischen Qualitäten der biblischen Sprache als Indiz für die Inspiriertheit der Bibel angeführt hat, wogegen Michaelis hier protestiert (vgl. M 174f. A. 101). Carpzov, den Michaelis häufig kritisch berücksichtigt, hatte sich auch stark an Philo von Alexandrien orientiert (Baur, wie o. Anm. 4, S. 156 u. S. 157). Michaelis will allerdings an der

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Schreibart heiliger Männer,15 wie es in pseudopsychologischer (wenn nicht moralisierender) Diktion heißt, »aus guter Meinung« (Absicht) bloße Schmeicheleien – das wird beispielsweise auf Ps 2, 7 und Hebr 5, 6 zu beziehen sein (s. o.). Nach Michaelis kann dabei die Religion in den Augen vorurteilslos aufgeklärter Leute nur »mehrmals verlieren«.16 Das ist schwächliche Apologetik, und eine solche unreligiöse Erklärung beschädigt de facto nur die Religion selber. Entsprechend ist auch die Empfehlung von Michaelis zu beurteilen, »Worte, Redensarten und Gedanken eines andern zu entlehnen«, ohne dass »mit ihnen Wahrheit intendiert zu sein brauchte« (286,32; M 290 A. 259; vgl. 246 A. 197; 255 A. 207; 377 A. 357).17 Hamann kommt zu der ironischen Folgerung: Auf diesem guten Wege fährt der Verfasser fort, die Anmerkung zu wiederholen, daß der Sohn Gottes ein königlicher Amtsname des Messias sey (284,24–26; M 175 A. 101).

Die sarkastische Bemerkung weist auf den Schaden der Michaelisschen Erklärung für die religiöse Wahrheit des Bibelglaubens hin. Sohn Gottes wird philo-

göttlichen Eingebung der h. Schrift festhalten (Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Band IV. Gütersloh 41964. S. 33). 15 Vgl. dazu N II, 171,4–8 u. 13–21; hier geht es um die göttliche Herablassung in die (ansonsten von Michaelis kritisierte) Schreibart der Bibel. 16 Von den Hamannschen Kreuzzügen hatte Michaelis gesagt, sie seien »wohl nicht« gegen die Religion gerichtet (N II, 253,12f.). 17 Das Michaelis-Zitat geht weiter: (und sie) »bey einer andern Gelegenheit anzuwenden und zu den seinigen zu machen«. Das entspricht, insbesondere auch im Falle biblischer Wendungen, formell natürlich Hamanns eigenem Cento-Stil (vgl. in der Rezension von Michaelis: »Leichtsinniger Mißbrauch der biblischen Ausdrücke«; N II, 253,10f.), der sich also mit ins Spiel bringt. Was Michaelis an Hamann kritisierte, empfiehlt er hier selbst, und wie Hamann ironisch bemerkt, hat er »eine Menge Schwierigkeiten … in seiner Erklärung dadurch glücklich gehoben« (286,30f.). Die Michaelissche Indifferenz in der Wahrheitsfrage – er veröffentlichte 1750 (21773) eine Abhandlung: Von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden! – kommt so zum Ausdruck: »Bey solchen erborgten Wortspielen ist nichts daran gelegen, ob sie aus einer richtigen Übersetzung genommen und in eben der Construction und [dem] Sinn gebraucht werden, als der sie setzt, dem wir sie schuldig sind; denn man will aus ihnen nichts beweisen, sondern sich bloß seiner Sprache bedienen. Wenn dahero Worte der Bibel gewählt werden, geschieht es nicht zum Beweise, sondern weil sie dem Schriftsteller und Leser die geläufigsten sind und etwas sententiöses an sich haben, das sich zu einem Einfall vorzüglich schickt« (286,33–40; vgl. M 290 A. 259; 377 A. 357 u. 393 A. 365). Nichts beweisen wollen, sondern sich bloß bedienen (zumal der Sprache!) – genau das ist bei Hamann in seinen Autorhandlungen anders. Bei Michaelis geht es hingegen um die Unverbindlichkeit einer facon de parler (»die geläufigsten«, »sententiös«); das ist der eigentliche Missbrauch biblischer Wendungen: als bloßer »Wortspiele«. Hirsch attestiert Michaelis ein »halbherziges Ja zur Überlieferung« (wie o. Anm. 14, S. 35). Zur bloß bildlichen Art biblischer Reden nach Michaelis vgl. auch 284,10 und zu ihrer »vorsichtigen« Auslegung 284,43–46 (dazu u. bei Anm. 88).

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logisch und historisch-kritisch als bloßer Amts-Name, d. h. nur als ein messianischer Titel aufgefasst.18 Die anti-christologische Tendenz von Michaelis wird auch bezüglich Hebr 11, 26 deutlich.19 Dort wird die Materie und Stelle von der Schmach Christi unter diejenigen gerechnet, welche einer neuen Ausführung und eines vorzüglich auf sie gewandten Fleißes noch bedürfen (287,17–19; M 324 A. 294;

Michaelis deutet hier auf die Schmach Israels M 323 A. 294). Das besagt, das christlich zentrale inkarnations- und (vor allem) kreuzestheologische Motiv der Passion wird von Michaelis ins Unbestimmte und einer neuen (zeitgenössischen) Interpretation Bedürftige abgeschoben.20 Hinzu kommt, dass der ὀνειδισμὸς τοῦ Χριστοῦ im Hebr zunächst typologisch im Blick auf Mose prädiziert wird (11, 26; vgl. Ps 68, 10; 88, 51f. LXX; vgl. aber M 323 A. 294) und dann auch den Christen angesonnen wird (13, 13; vgl. Act 5, 41; Ps 69, 8). Ein neutestamentlich so wesentliches Motiv wird von Michaelis hermeneutisch überspielt. In diesen Zusammenhang gehört auch sein Umgang mit der Rede vom »Blut des Bundes« (Hebr 13, 20; vgl. 9, 20–10,29; M 258 A. 209).21 Der Vers bezieht sich auf die Auferweckung des Gekreuzigten und redet in diesem Kontext vom αἷμα διαθήκης αι᾿ωνίου.22 Dies ist der für den Hebr durchgehend wesentliche christo18 Vgl. aber Hebr 7, 2 (von Melchisedek als Vorläufer Christi): βασιλεὺς δικαιοσύνης (vgl. auch 4, 14). Mit dem Ausdruck »Eine Erfindung des neuen philologischen Geschmacks« (284,26f.) und mit expliziter Namensnennung weist Hamann auf die neueste Abhandlung des Göttinger Johann David Heilmann über eine rein messianische Bedeutung des Titels Gottessohn (1763) hin; vgl. dazu Hirsch, wie Anm. 14, S. 36. Sie wurde »ungleich aufgenommen« (284,28), weil sie rein historisch-philologisch argumentierend an der theologischen Wahrheitsfrage vorbei geht; Hamann: »mehr … ausgedehnt als tief« (ZH II, 331,27). 19 Vgl. auch die christologische Ermäßigung von Hebr 13, 8: M 394 A. 368. Hirsch stellt fest, Michaelis sei der Überzeugung, »daß bestimmte kirchliche Lehrstücke, z. B. Trinitätslehre und Christologie, auf gar keine Weise als vernunftgemäß sich darlegen lassen« (wie o. Anm. 14, S. 34), und weiter: »In … [der] Christologie bleibt Michaelis’ Dogmatik [1760] hoffnungslos im Halben hängen« (ebd.). Kant hat laut Hamann diese Dogmatik geschätzt (ZH VI, 78,3). 20 Friedrich Wilhelm Graf sprach einmal davon, etwas »auf die lange Bank des Historismus« zu schieben. 21 Vom Blut Christi: Hebr 9, 12 u. 14; 10, 19; 13, 12. 22 Ähnlich wie Michaelis dem Thema Auferstehung nichts abgewinnen kann, steht es mit der Himmelfahrt. So hat er in rationalistischer Manier die Himmelfahrt Henochs (sie wird Hebr 11, 5 erwähnt (μετετέθη; vgl. Gen 5, 24; 44, 16 u. Sir 49, 16 bzw. auch 2Kön 2, 11) sowie auch die des Elia »in einen seligen frühzeitigen Tod« umgedeutet (287,1–3; M 304 A. 274; zur Himmelfahrt s. auch 307 A. 274; vgl. u. Anm. 54). Hamann insistiert demgegenüber darauf, diese Himmelfahrts-Berichte seien »Vorbilder [d. h. Typoi] von dem Ausgange des Messias gewesen« (287,4f.), also der Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Der Grund bei Michaelis ist nach Hamann, dass »er kaum andere [sc. Vorbilder] für canonisch zu halten geneigt ist, als welche er selbst mit großer Furchtsamkeit und Gelehrsamkeit in seine typische Gottesgelahrtheit aufgenommen« hat (287,4–6). »Kanonisch« ist hier also nur Michaelis sich selber,

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logische Bezug (vgl. 7, 22; 9, 15; 10, 29; 12, 24). Von der Besprengung mit Tierblut, die Michaelis unter Rekurs auf Sach 9, 11f. heranzieht, von der auch Ex 24, 8 die Rede ist (vgl. typologisch Hebr 9, 20), gilt aber, dass davon die Selbsthingabe Jesu am Kreuz gerade definitiv abgehoben wird (Hebr 8, 9 u. 13).23 Christologisch relevant sind noch die Bemerkungen bei Michaelis zu Hebr 9, 17, die Hamann aufgreift. Es handelt sich dabei um den Vergleich des durch Christi Tod erlangten neuen »Bundes« (9, 15) mit dem Inkrafttreten eines »Testamentes« nach dem Tod des Erblassers (griech. beides διαθήκη).24 Einerseits und seine »typische« Theologie ist gerade nicht typologisch (wie die des Hebr), sondern typisch im pejorativen Sinn, d. h. charakteristisch für seinen Skeptizismus. Übrigens erklärte er noch 1788 das kanonische Ansehen des Hebr für »zweifelhaft« (Einleitung in die göttlichen Schriften, wie o. Anm. 1), S. 1400–1403; § 234). (Zu »Furchtsamkeit und Gelehrsamkeit« s. u. bei Anm. 88). Die Himmelfahrt Christi führt zum Sitzen »zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln« (Hebr 8, 1b; dazu o. Abschn. I.). 23 Im Übrigen ist zwar Michaelis exegetisch darin Recht zu geben, dass er das Wort τοῦτο (Hebr 13, 17c.α) syntaktisch auf »Rechenschaft geben« (17b.β) bezieht (287,34f.). Für Hamann aber ist wohl die eigentliche Frage, ob Michaelis (als »Meister in Israel« (N II, 201,18), d. h. auch eine Art ἡγούμενος (Lehrer; Hebr 13, 17a) seiner christlichen Leser) seine Rechenschaft als Ausleger der h. Schrift selber μετὰ χαρᾶς (in freudiger Affirmation) gibt – wie Paulus im Verhältnis zu seiner Gemeinde (vgl. Hans Conzelmann. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament IX. Stuttgart – Berlin – Köln 1990. S. 360,2f.) oder aber mit »Seufzen« (στενάζων; 17c), wie es in der mehrfach geäußerten Furchtsamkeit zum Ausdruck gelangt (s. u. bei Anm. 88). Zu Hebr 13, 22 wird bemerkt, der Hebr sei kurz »in Vergleichung dessen, wovon er [sc. Paulus] zu sagen gehabt und wovon sein Herz voll war« (M 410 A. 393; vgl. Mt 12, 34; vgl. auch 288,1 u. dazu u. Anm. 115), was offensichtlich so nicht für Michaelis gilt; für seine Leser aber will Hamann Hebr 13, 9 mahnend in Erinnerung rufen. Außerdem hat er sich selber in der Rezension solcher Kürze befleißigt (vgl. 284,7), identifiziert sich insofern also mit dem Auctor ad Hebraeos (s. u. Anm. 104). 24 Eher rein philologisch ist Hamanns Michaelis korrigierende Bemerkung: »Cap. IX, 1 geht η πρωτη auf Bund und wird mit Hütte gelesen« (285,49). »Bund« (διαθήκη) entspricht theologisch dem größeren Kontext (Jer 31, 31–34); die Lesart »Hütte« (σκηνή) findet sich aber im kritischen Apparat. Zu Hebr 10, 15f. kritisiert Hamann die Michaelissche Übersetzung: »Nachdem er vorher gesagt hatte, dieß ist der Bund –; so spricht der Herr ferner [M: »weiter«]: ich will mein Gesetz – [sc. in ihr Herz geben; Jer 31, 33]« (286,22–24; M 273f.). Es geht, wie Hamann richtig sieht, nicht um eine zeitliche Reihenfolge, bei der der Bund vom Gesetz abgelöst würde, sondern der Neue Bund besteht gerade darin, dass Herz und Sinn der Frommen mit dem Gesetz innerlich geeinigt werden, dieses ihnen also nicht mehr als Gesetz äußerlich gegenüber steht. Das ist, lutherisch gesehen, richtig. Wieder eher nur philologischhistorisch von Belang ist die Frage nach Urim und Thummim; Michaelis vermutet, »daß es zwey uralte Steine gewesen, mit denen man vielleicht gelooset« (285,47–49). Es handelte sich dabei jedoch um zwei urtümliche Steine im Brustschild des Hohepriesters, die als Sinnbild der göttlichen Offenbarung galten (»Licht und Recht«; vgl. auch M 227 A. 175). Ob Hamann das wusste (vgl. N II, 332,9)? Andere philologische Fragen werden zu Hebr 9, 9.10 u. 11 erörtert (286,8–14; der Abdruck zählt die Verse fälschlich als 10. 11 u. 12). Indem Michaelis das Relativpronomen ἥτις (9) als Neutrum nimmt (»nämlich daß Niemand ins Allerheiligste gehen dürfte« (286,8f.; M 240 A. 189), verfehlt er den wirklichen Bezug auf den »Weg der Heiligen« (v. 8: die ὁδός), der als noch nicht offenbart zum Thema Typologie gehört. V.10 hat Michaelis zutreffend auf die Opfermahlzeit eingeschränkt (286, 10; M 241 A. 191; vgl. aber

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bringt Michaelis hier »manches Gelehrte« vor, das, wie Hamann wohl ironisch mit Bezug auf sich selber schreibt, »dem Gelächter einfältiger Leser kaum entgehen möchte« (286,17; Anspielung auf M 400 A. 377). Dem Göttinger wird vorgehalten, dass er »bis zum Eckel an einem Sprachgebrauch wiederkäuet« (286,18),25 d. h. in seiner akademischen Pedanterie als Philologe sich als ein Gelehrter ohne Urteilskraft erweist.26 Zugleich aber, und das ist viel wichtiger, begeht er den »Irrthum«, gegen alle exegetische Wahrscheinlichkeit, »διαθεμενον [sc. durch] einen Mittler und ἐπι νεκροις durch Opferthiere [wieder-] zu geben« (286,18–20; M 249f. A. 200). Der Irrtum besteht in dem doppelten Missgriff, den Testator (διαθέμενος) auf der Seite des Vergleichs als einen »Mittler« auszugeben und diesen Begriff damit zu entleeren, der ja im Hebr exklusiv für Jesus Christus gebraucht wird (z. B. 9, 15; 8, 6; 12, 24). Genauso abwegig ist es sodann, an dieser Stelle die Rede vom Tode des Testators (ἐπὶ νεκροῖς) auf die Opfertiere im alten Kult zu beziehen (vgl. M 250 A. 200; 252 A. 204). Gleichfalls sind auch die vier Sätze christologisch bedeutsam, die Hamann zu Michaelis’ Äußerungen über Philo von Alexandrien vorbringt.27 Weil der Göttinger überhaupt im Umgang mit den alttestamentlichen Bildern vor einem »gefährlich spielenden Witz« warnt,28 kommt es bei ihm zur generellen Kritik an der Auslegungspraxis des Philo:29

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auch Hebr 13, 9 u. 11!). In v. 11 hat Michaelis der Wendung »Nicht von Hand gemacht, das ist nicht aus dieser Schöpfung [stammend]« (vgl. auch Hebr 8, 2; s. o. Abschn. I) ihren eschatologischen, auf Gottes eigenes Handeln bezogenen Sinn genommen, und statt dessen mit »nicht von dieser Bauart« wiedergegeben (286,11f.; M 243 A. 194). Das aber blieb ihm 1. so dunkel, dass er es »mit Fleiß in seiner Paraphrase ausgelassen« hat (286,12f.; M 242) – der Apostel Paulus muss sich vom »Hofrath« korrigieren lassen! – und 2. diese Dunkelheit der von ihm dem Hebr hypothetisch unterstellten »hebräischen Urfassung« zuschreibt (286,14; vgl. M 242f. A. 194); zu dieser vgl. auch 287, 46 (s. u. bei Anm. 91). ruminatio (Wiederkäuen) ist an sich ein üblicher Terminus (z. B. auch bei Luther) für wiederholtes Durchdenken einer Textstelle; bei Michaelis kommt das im abusus vor. Vgl. Immanuel Kant, der schreibt: »so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel [sc. an Urteilskraft] häufig blicken lassen« (KdV A 134 Fn. In: Kant’s Werke (Akademie Ausgabe), Band 4. Berlin 1911. S. 97,36–38); vgl. auch ebd. A 134 (S. 97,6–14) bzw. B 172f. Philo wird auch in der heutigen Exegese des Hebr immer wieder zum Vergleich herangezogen; s. die einschlägigen Kommentare. 284,44; M 180f. A. 111. Vgl. genauer u. Anm. 89. Auch Hamann wird von Michaelis sein Witz vorgehalten; vgl. N II, 253,21 u. 23–254,15). Zu dem eigenen Witz von Michaelis vgl. Smend, wie o. Anm. 9, S. 143. Die Philo-Kritik wird 1788 wiederholt (Einleitung in die göttlichen Schriften. S. 1385; § 230). Der Alexandriner übte bekanntlich die Allegorese; vgl. Edmund Stein: Die allegorische Exegese des Philo aus Alexandrien. Giessen 1929 (Beihefte zur Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 51). Michaelis scheint sie von dem Typologischen Verfahren des Hebr nicht recht zu unterscheiden (vgl. M 180 A. 111), zumal er dessen spezifisch christologische Typologie nicht rezipieren will. Hamann redet (wie Luther) von »figürlich« (N III, 232,18; 366,6; 367,6). Wohl mit Bezug auf Michaelis schreibt Hamann: »der noch lange nicht gelehrt genug

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Er wünscht daher nur seinem ärgsten Feinde des Philo Witz und schilt ihn für einen elenden und unvernünftigen Schriftsteller,30 […] ob man ihn gleich aus Herrendienst, und weil er die biblischen Redensarten erläutern hilft, lesen muß. Was findet man in seinen Deutungen der mosaischen Gesetze als Zwang und Wortklauberey?31 Und am Ende sind in dunkeln Bildern alltägliche Sätze gesagt, die man ohne Bilder gewußt hätte (284,46–285,4; M 212f. A. 157).32

Hamann hingegen gehört zu den von Michaelis bemitleideten Leuten, die Philo mit Vergnügen gelesen haben.33 Michaelis unterstellt sodann im Vergleich von Philo und Paulus (als Verfasser des Hebr) beim Apostel eine verborgene »Antithese« gegen die »unrichtigen Auslegungen von des Philo Schlage« (285,4f.; M 173 A. 98 (»Gegensatz«); vgl.

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zu seyn scheint, den Gebrauch der figürlichen Sprache gehörig einzusehen, geschweige geistliche Erfahrungen prüfen zu können« (N II, 212,47–213,20 (Fn. 54). Vgl. auch M 248 A. 200. Eine ähnlich Philo-Kritik äußert Michaelis auch noch in seiner Einleitung (1788). Witz bedeutet hier natürlich esprit, »Sagacität« bzw. »good wit« (John Locke). Was »Wortklauberei« angeht, so hat Hamann dazu bekanntermaßen eine andere Einstellung; vgl. ZH V, 328,27–29. In seinen Anmerkungen zu dem Kapitel Hebr 8 gibt Michaelis »einen Vorgeschmack seiner künftigen Abhandlung vom Mosaischen Rechte« (285,43; M 232 A. 177). Dies Werk erschien 1770–1775 in 6 Bänden (vgl. dazu Smend, wie o. Anm. 9, S. 149), und Hamann besaß es später (Biga 65, 103) und äußerte sich darüber auch (z. B. N III, 186,2; N IV, 285,43). Michaelis kritisiert im Kommentar (nach Hamanns Ansicht zurecht) Autoren, die die »mosaischen Einrichtungen und bürgerlichen Gesetze« für so vollkommen erachten, »daß sie selbige als Muster der Nachahmung wo nicht Obrigkeiten, doch wenigstens ihren Zuhörern empfehlen« (285,44–47; M 223 A. 171). Diese historische Distanzierung von den alttestamentlichen Gesetzeskorpora (vgl. dazu bei Smend. S. 149) entspricht zunächst auch der Haltung Luthers, der von »der Juden Sachsenspiegel« sprach. Es könnte unter der Textoberfläche bei Hamann indes vielleicht doch ein theologischer Gedanke verborgen sein, nämlich der spezifische Bezug zur Typologie des Hebr. Denn dieser führt 1. »mosaische Einrichtungen« wie z. B. den Opferkult auf den νόμος (»Gesetz«) zurück (Hebr 8, 4; 10, 8; vgl. 7, 1f. 16 (»fleischlich«). 28; 9, 22). 2. findet der Hebr »Vollkommenheit« erst beim Antitypos Christus (2, 10; 7, 28; vgl. 9, 11) und gerade nicht im Gesetz (7, 19; vgl. 9, 9 u. 10, 1; vgl. zu Christus als Erfüller des mosaischen Gesetzes: N III, 200,16). Michaelis freilich hält nicht viel von der Typologie, wie sich mehrfach zeigen wird. In der Zurückführung auf »alltägliche Sätze«, d. h. Triviales, äußert sich der aufklärerische Reduktionismus von Michaelis; vgl. o. bei Anm. 18. Nach Josef Nadler hat Hamann den Philo gerade im Frühjahr 1763 (wegen des Logos-Begriffs) »eifrig gelesen, viel angeführt und geliebt« (In: Johann Georg Hamann. 1730–1988. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, S. 218; vgl. S. 160). Er besaß die Ausgabe: Philonis Opera. Griechisch und lateinisch. Frankfurt 1691 (statt 1695: Biga 3, 42), die er 1763 eben erstanden hatte (ZH II, 231,5; 4. 10. 1763). Angeführt wird Philo (von den Briefen abgesehen): N III, 32,38 (De mundi opif; Quod Det. pot. insid.; De sacrific.) für die Schöpfung durch das Wort; N III, 47 Fn. 16 u. 47,29–38 (= Fn. 17 u. 19) über γονιμον φωτην bezüglich der Genesis der Sprache und Fn. 18 (θειος ἐστι λογος: vom menschlichen Logos!), sodann hier in der Michaelis-Rezension (N IV, 285,9–14; s. u.) und schließlich N IV, 402,45 (zu Gen 32 u. Hos 12, 3f.: Jakobskampf).

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M 170 A. 96; 211 A. 157; 212 A. 157; 213 A. 159; 302 A. 273) und »als ein feiner Kenner« – so Hamann – bemerkt er auch an Pauli Schreibart, daß die Wahl seiner einzelnen Ausdrücke nicht willkürlich, sondern genau auf den gewissen Gegenstand gerichtet zu seyn pflege (285,7–9; vgl. M 407 A. 389).34

Trotz aller Kritik, die Michaelis an Philo übt (M 248 A. 200),35 gibt es ein Thema, bei dem der Aufklärer und Neologe diesem voll zustimmt; das ist der Begriff des Logos.36 Aber wie dieser vom Hofrat gewendet wird, das findet Hamanns Zustimmung begreiflicherweise überhaupt nicht: Wenn der Logos, den Philo zu unserm Fürbitter bey Gott macht, unsere eigene Vernunft ist, und er keinen andern Fürsprecher nöthig findet,37 so ist sein Gedanke eine Frucht des natürlichen Hochmuths, womit sich das menschliche Herz gegen die geoffenbarte Religion gebärdet (285,9–13; M 212 A. 157).

Diese Verwechselung Christi und der Vernunft (als Fürsprecher bei Gott) wird von Michaelis ebenso wie von Hamann als der »natürliche Hochmut des menschlichen Herzens gegen die göttliche Offenbarung« diagnostiziert und sowohl dem Philo (= »er«) wie auch faktisch seinem aufgeklärten Anhänger Michaelis angelastet; beide erscheinen hier als Vertreter einer natürlichen Vernunftreligion. Dass der eine wie der andere dabei keinen andern Fürsprecher als unsere eigene Vernunft nötig finden, beweist theologisch, dass sie keinen zu34 Wie die Antithese bei Michaelis faktisch aussieht, ergibt sich aus dem nächsten Satz der Rezension (s. u.). Zum Lob der Schreibart, das hier ans Triviale grenzt, s. auch o. bei Anm. 17. 35 Michaelis nennt als die von ihm benutzte Philo-Ausgabe die (von mir nicht nachweisbare) Mangeyische (M 210 A. 152; 363 A. 350). 36 Im Hebr ist mit λόγος meist nur das Wort und insbes. das Wort Gottes (z. B. 4, 12) gemeint, sicher aber nicht die menschliche Vernunft. Bei Hamann vgl. N I, 52,33–35: »Da unsere Vernunft vom Saamen des göttlichen Worts geschwängert werden sollte«. Von der Stelle Hebr 4, 12f. her versteht Hamann überhaupt sein Philologe-Sein: N II, 263,49–53(!); diese Erklärung mag daher paradigmatisch für sein eigenes, sonstiges Verhältnis zum Hebr stehen; vgl. auch die grundlegende Paraphrase von Hebr 1, 1f.: N II, 213,6–11. 37 Bei Philo wird mehrfach gesagt, dass der Logos bei Gott für die Menschen bittend einsteht (ἱκέτης). Das darf aber nicht mit dem neutestamentlichen Begriff des »Fürbitters« bzw. »Fürsprechers« vermischt werden. Dies ist allein Christus. Der spezifische Terminus παράκλητος (advocatus) kommt nur bei Joh vor (1Joh 2, 1; vgl. Joh 14, 16. 26; 15, 26; 16, 7). Im Hebr bedeutet παράκλησις lediglich »ermahnen« (6, 18; 12, 5; 13, 22). Hier heißt es 7, 25, dass der lebendige Christus bei Gott für uns eintritt (ει᾿ς τὸ ἐντυγχάνειν ὑπέρ …; ad interpellandum pro nobis). Zu dieser intercessio pro nobis vgl. auch Hebr 7, 25a sowie 13, 6 (βοηθός; adiutor). Bei Philo hingegen kommt »Paraklet« nur in ganz anderem Kontext vor: 1. als Fürsprecher für die Priester (De vita Mos. II, 134; wo mit »Sohn« nicht der Logos (so Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen. Bd. III/2. Darmstadt 61963. S. 420 A. 3), sondern die ganze Welt gemeint ist (Benno Badt: Die Werke Philos von Alexandrien in deutscher Übersetzung I (1909), S. 329 A.1)); 2. als Mahnung des Gewissens (De special. Leg I, 237) und 3. als die drei Helfer bei der Versöhnung: göttliche Güte, Frömmigkeit der Erzväter und Besserung (Leopold Cohn: Die Werke Philos. II (1910), S. 424 A.1).

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reichenden Begriff von Sünde (bzw. Erbsünde) haben,38 und genau das drückt sich bei Michaelis im Ausfall einer eigentlichen Christologie aus. Dieser Befund ist Hamann so wichtig, dass er noch einen weiteren Satz zu dem Thema anfügt: Philo will alsdenn so viel sagen: Die Würde unserer Natur ist unser Priester und Fürsprecher bey Gott. Ein Satz, sagt der Herr Hofrath, an dem manche Philosophen ihre Denkungsart nicht mißkennen werden (285,13–15; vgl. M 212 A. 157).

Hiernach ist die »Würde« der menschlichen Natur, d. h. die autonome Vernunft des Menschen, an die Stelle unseres wahren Priesters und Fürsprechers getreten, der im Hebr allein Jesus Christus ist (2, 17; 4, 14; 5, 5 u. ö.). Das ist nicht nur eine völlige Verkennung der durch die Sünde verdorbenen menschlichen Natur, sondern es scheint auch eine Umdeutung der Position des Philo durch Michaelis zu sein.39 Wäre – zumal der Logos als Paraklet bei Philo nicht nachweisbar ist40 – Logos einfach mit der menschlichen Vernunft identifizierbar, so läge ein stoischer Begriff vor.41 Jedenfalls begeht Michaelis einen Kurzschluss, indem er die Teilhabe des menschlichen Logos am unendlichen Logos, der im endlichen Geist wirksam ist, umstandslos auf die bloß menschliche Vernunft reduziert. Bei Philo ist der Weltenlogos auch der Ermöglichungsgrund des menschlichen Logos. Michaelis indes nimmt diese schlechte Identifikation vor, um sich faktisch bzw. indirekt doch denjenigen »aufgeklärten« Philosophen zu empfehlen, die die Sünde bestreiten und die menschliche Natur mit ihrer Würde verabsolutieren, deren »Denkungsart« mithin christentumskritisch bis -feindlich ist. Damit aber überführt Michaelis sich in Hamanns Augen selber einer unchristlichen Denkungsart – als Ausleger der Bibel. Charakteristisch, dass er zwar weiß, Philos Ansicht sei nicht die paulinische, aber meint, dass, wer von beiden Recht habe, nur »mit Hintansetzung des göttlichen Ansehens Pauli zu beurtheilen« sei (M 212 A. 157). Eine letzte Stelle in der Rezension, die den Zusammenhang der Christologie mit dem Glaubensbegriff betrifft, soll noch kurz erörtert werden. Hier verfehlt Michaelis Hebr 6, 18f. durch eine fehlgeleitete Suche »nach einer heiligen Sache« (285,31f.; vgl. M 199f. A. 137) den offenkundig christologischen Sinn des »Ecksteins« (vgl. Mk 12, 10 parr; Act 4, 11; 1Petr 2, 7; vgl. Ps 118, 22).42 Das von Michaelis in v. 19 fälschlich allein auf ἐλπίδος (v. 18) zurückbezogene Wort 38 Vgl. M 282 A. 244. Michaelis veröffentlichte 1752 Gedanken über die Lehre der hl. Schrift von der Sünde als eine vernunftgemäße Lehre. Nach Hirschs theologiegeschichtlichem Urteil kommt er über eine rationalistische Zurechtlegung der Erbsünde (»Giftbaum«) nirgends hinaus (wie o. Anm. 14, S. 35). 39 Vgl. »will alsdenn soviel sagen« (285,13). 40 Vgl. o. Anm. 37. 41 Wie passt das aber zu Philos Rede vom λόγος als δεύτερος θεός (z. B. Leg. All. II, 86)? 42 Daher wird auch die Bedeutung von »Freystätte« unterbestimmt (vgl. 285,34; M 199 A.137).

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ει᾿σερχομενην (285,35) führt zu dem abwegigen Rekurs auf einen »heiligen Anker« bei den Griechen (285,36f.; M 201f. A. 138).43 Es muss aber zu »Hoffnung« bzw. dem »Anker« auch noch παράκλησιν (v. 18c: »starker Trost«) hinzugenommen werden, um es mit »hineinreichen« bzw. »-gehen« (ει᾿σερχομένην) zu verbinden. Es geht der Sache nach um das »Hoffnungsgut« (Erich Grässer), d. h. spezifisch Christus selbst mit seinem Verheißungswort. Er ist es in Wahrheit, der »bis [ins Allerheiligste] hinter dem Vorhang« (v. 19b) hineingegangen ist (vgl. Hebr 8, 1f.; 9, 12b), und mit ihm reicht unsere Hoffnung, die sich an ihm festhält, bis dahin. Das ist der »sichere und feste Anker unserer Seele« (v. 19a).44

III Von der zuletzt besprochenen Stelle aus lässt sich auch untersuchen, wie Hamann den Umgang von Michaelis mit dem Begriff des Glaubens einschätzt. Bezüglich des Kap.11 im Hebr über die großen Gestalten der alttestamentlichen Glaubensgeschichte, denen die berühmte Definition von Glauben vorangestellt ist,45 schreibt Hamann: Weil im eilften Capitel von Glauben als einer Pflicht und Tugend geredet wird, die man in Trübsalen ausüben muß,46 so nimmt der Herr Hofrath Michaelis Anlaß, über das Wort Glauben ein wenig zu philosophiren, aber immer auf der glücklichen Mittelstraße, die sich vom seichten Leichtsinn und mißlichen Tiefsinn gleich weit entfernt. (Eine Pflicht und Tugend, die in einem Jahrhundert des guten Geschmacks, jedermanns Ding ist). (286,40–45).

43 Michaelis redet hier auch noch von irgendeinem Sprichwort, das die Zuflucht zum Tempel betroffen haben soll (285,36f.; M 199 A. 137). 44 In Klammern fügt Hamann noch eine Verspottung von Michaelis an, wonach bei manchen Auslegern der »Anker« in einer den Vorhang im Tempel haltenden Klammer bestanden haben soll (285,37–40). Derart überbietet Hamann ironisch die untheologische Suche nach abwegigen Realien noch durch ein völlig äußerliches, nebensächliches Detail; vgl. dazu das Urteil von Heinrich Ewald über Michaelis: »mehr zu einem naturforscher oder geschäftsmanne als zu einem Orientalisten und Exegeten oder gar Theologen bestimmt« (zitiert bei Smend, wie o. Anm. 9, S. 150). Hamanns Botschaft hier ist: so verstiegen kann die »gelehrte« Suche nach Parallelen außerhalb des Textes enden! 45 Hebr 11, 1: »Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht (ὑπόστασις) auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln (ἔλεγχος) an dem, was man nicht sieht« (vgl. auch 11, 2f.). Das ist ein eschatologisches und somit nicht-platonisches Verständnis des (noch-) nicht-Sichtbaren! 46 Vgl. z. B. Hebr 11, 26. 34f. 36f. 38. Immerhin kann Michaelis den Glauben als »seligmachend« ansehen (M 291 A. 261 u. ö.).

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Michaelis überspielt durch die moralisierenden Begriffe Pflicht und Tugend47 die theologisch grundsätzliche, weil eschatologische Bedeutung des Glaubensbegriffes für den Hebr (vgl. Hebr 11, 1).48 Entsprechend ist der Ausdruck »Trübsale« wohl eher ein abschwächender Ausdruck für das Martyrium der Glaubenszeugen (11,35f. M 295 A. 265; vgl. aber anders M 332f. A. 307 u. A. 309–311). Darüber lediglich »ein wenig zu philosophieren« heißt, sich auf die Sache dieser Theologie gar nicht einzulassen. Dazu passt der goldene Mittelweg des Auslegers Michaelis, der absichtlich im Mittelmäßigen einer Ermäßigung verbleibt.49 Daher sucht er in Hamanns Augen immer zwischen radikal-konsequenten Positionen hindurch zu steuern, die er als »seichten Leichtsinn und mißlichen Tiefsinn« apostrophiert; damit meint Michaelis die philosophischen Denkungsarten von Lamettrie einerseits und David Hume andererseits (285,20f.; M 188 A. 119).50 Während so programmatisch oberflächlich zu verfahren, für Michaelis in einem Jahrhundert des »guten Geschmacks«, der in Wahrheit nur seicht ist – man denke an Hamanns Bestimmung von Genie und Geschmack!51 – angeblich »jedermanns Ding« ist, ist der Glaube gerade nicht jedermanns Ding (2Thess 3, 2b),52 wie Hamann zu betonen nicht müde wird.53 47 M 295 A. 265 u. ö. Vgl. auch die Verbindung beider Begriffe im letzten, eingeklammerten Satz mit dem sog. guten Geschmack (286, 44f.). Von »philosophieren« redet Michaelis bezüglich des Paulus; vgl. M 296f. A. 265. 48 Vgl. dazu mein o. Anm. 4 genanntes Buch S. 56–60 u. S. 931–18. 49 Hamann traut Michaelis wenig philosophischen Sinn zu: ZH II, 327,22. Bezüglich Hebr 11, 30 macht sich Michaelis über den »Schülerwitz« lustig, den Fall der Mauern von Jericho (Jos 6, 14–16 u. 20) auf das israelitische Feldgeschrei zurückzuführen – ähnlich wie Glas bei gewissen Tonhöhen springt (287,19–22; vgl. M 327 A. 297) –, um stattdessen die »unterirdische Stimme« eines Erdbebens in Vorschlag zu bringen (287,22–24). Das bedeutet: Michaelis spottet über eine (zeitübliche) aufgeklärt-rationalistische Erklärung nur, um sie durch eine ebenso aufgeklärte, »natürliche« (des Erdbebens) zu ersetzen. Die Hauptsache bei diesem Text, der ausdrücklich von Glauben redet (v. 30 beginnt betont mit dem Wort πίστις), also die Frage des Gottesglaubens, bleibt unbeachtet. 50 Hier ist vom »allzuleichtsinnigen La Mettrie und […] allzutiefsinnigen Hume«, den »Widersachern der Religion«, die Rede (s. auch u. bei Anm. 90). Man denke an die Bedeutung von David Hume für Hamann (vgl. ZH VII, 167,9–30)! Zu Julien Offray de Lamettrie vgl. N III, 27,30; N IV, 285,20 u. Biga 128, 443. Zur optimistischen Affirmation der menschlichen Natur durch gewisse Philosophen vgl. o. nach Anm. 38 (zu 285,13–15). Michaelis beruft sich charakteristischerweise auf den »gesunden Menschverstand« (vgl. Hirsch, wie o. Anm. 14, S. 33 u. S. 34); gleichwohl gilt von ihm überhaupt: »Die Vernunft bekommt ihr Recht und bekommt es nicht« (Hirsch. S. 34). Was Hamann über die »gesunde Vernunft« dachte, ist N II, 103,24; N III, 179,33; 190,8 u. N IV, 163,9–18 nachzulesen; vgl. auch N III, 189,11. 51 »Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt« (ZH II, 168,23f; 3. 8. 1762); vgl. dazu Joachim Ringleben: Dornenkrone und Purpurmantel. Frankfurt / Leipzig 1996. S. 9f. (Insel-Bücherei Nr. 1159). 52 In der ersten Vershälfte (2Thess 3, 2a) ist von »falschen und bösen Menschen« (Luther) die Rede. 53 Mit Luther (Vorrede zum Römerbrief) heißt es: »O es ist ein lebendig, geschäftig, thätig, mächtig Ding – das nicht Jedermanns ist« (N II, 361,31f.; 1763). Die Fortsetzung Hamanns:

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Bezüglich des Terminus Glaube (πίστις) heißt es dann mit Bezug auf Hebr 11, 5 u. 6,54 hier werde von Michaelis eine alexandrinische Bedeutung eines griechischen Worts entdeckt, vermöge welcher Dienstfertigkeit und Gefälligkeit übereinkommen, und noch bemerkt, daß vor Gott wandeln, stehen und sich ihm nahen priesterliche Handlungen bedeuten, die sich auf den Gottesdienst beziehen (286,45–49).

Das griechische Wort, das von Michaelis hier gemeint ist, ist eindeutig πίστις bzw. πιστεύειν.55 Den Glaubensbegriff aber durch »Dienstfertigkeit und Gefälligkeit« wiederzugeben, ist entschieden eine moralisierende Verharmlosung der Aussage des Hebr (vgl. M 309 A. 274).56 Denn nach Hebr 11, 6a ist es überhaupt »ohne Glauben unmöglich, Gott zu gefallen« (vgl. auch 10, 38).57 Genau dafür steht hier paradigmatisch Henoch. Wenn »vor Gott wandeln, stehen und sich ihm nahen«, d. h. überhaupt »zu Gott zu kommen«,58 als priesterliche Handlungen interpretiert werden (M 309 A. 274), so ist das ersichtlich falsch, weil die Verse am Beispiel oder Vorbild des Henoch von jedem Glaubenden sprechen.59 Michaelis umgeht hier das Thema des Glaubens im eigentlichen (theologischen) Sinn zugunsten kultischer Vollzüge von beamteten Priestern.60

54

55 56 57 58 59 60

»etwas ganz anders, das weit unmittelbarer, weit inniger, weit dunkler und weit gewisser als Regeln« ist (vgl. ebd. Z. 32f.), ist ein Zitat nach Diderot; vgl. ZH II, 84,11f.). Vgl. auch ZH I, 306,4; II, 60,30; 459,34f; VII, 176,6–8. V. 5: »Durch den Glauben wurde Henoch entrückt, damit er den Tod nicht sähe, und wurde nicht mehr gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte [s. dazu o. Anm. 22]; denn vor seiner Entrückung ist ihm bezeugt worden, daß er Gott gefallen habe. (v. 6.) Aber ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, der muß glauben«. Es bezieht sich nach Hebr 11, 6b darauf, »daß er [sc. Gott] ist und für die, die ihn suchen, ein Vergeltender ist«. »Alexandrinisch« (wohl Bezug auf Philo) passt zu der »gelehrten«, wenn auch sachlich abwegigen Philologie von Michaelis. Zu »Gott gefallen« (εὐαρεστῆσαι) vgl. auch das »vor Gott« (13, 21). προσερχόμενον τῷ θεῷ (11, 6b) und ἐγγίζειν τῷ θεῷ , dies nach 7, 19b durch »Hoffnung«! Vgl. ἐκζητοῦσιν αὐτόν (6c). Abgesehen von einer weniger wichtigen, etwas eigenwilligen syntaktischen Beziehung, die Michaelis zu Hebr 11, 7 (bezüglich πίστει und εὐλαβηθείς) herstellt (287,12), nimmt er bei v. 11 eine heute als möglich angesehene (wenn auch nirgendwo bezeugte) Textänderung vor (287,12–14), und dies mit der (plausiblen) Folge, dass dann auch hier Abraham das Subjekt des Satzes wäre (vgl. Erich Grässer: An die Hebräer. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament XVII/3. Zürich / Neukirchen 1997. S. 131f.). Ob »Sara« hier in den Dativ zu setzen ist, entscheidet sich sachlich an der Frage, ob die griech. Wendung δύναμις ει᾿ς καταβολὴν σπέρματος λαμβάνειν (»die Kraft zum Samenerguß empfangen«) auch von ihr ausgesagt werden kann (Grässer. S. 132). Was Hamann betrifft, so ist seine Rede vom erstorbenen Uterus der Sara wichtiger (N II, 182,19–183,2; vgl. N II, 179–184 u. ZH II, 23, 5–9; 27,5–7). Hier findet sich auch eine Anspielung auf den »ohnmächtigen Exegeten« Michaelis, die in der Rezension als – ein wenig unter die Gürtellinie zielend – mit dem Hinweis auf mangelnde Erfahrung bei Michaelis wiederkehrt, der sich in Fragen der Geschlechtlichkeit auf Johann Georg Roederer (1726–1763) verlassen habe (M ab 312 A. 279), welcher als

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IV Auch zu einigen Themen, die mit dem Begriff des Glaubens im Zusammenhang stehen, gibt es in Hamanns Rezension Bemerkungen.

1.

Buße (μετάνοια)

Hamann notiert: »Cap. XII, 17 wird [sc. von Michaelis] nicht Esaus Reue, sondern seines Vaters Sinnesänderung gemeynet, welche jener mit Thränen suchte« (287,24f.; M 357 A. 341). Wie man heute weiß, deutet der Hebr die Esau-Episode, der jüdischen Halacha folgend, anders als sie Gen 25, 29–34 erzählt wird und versteht Esau als büßenden Sünder (E. Grässer, wie o. Anm. 60, S. 296). Daher geht es hier tatsächlich um μετάνοια. Eine solche echte Reue und Buße bezüglich der eigenen Sünde wird von Michaelis, wie Hamann genau sieht, nivellierend in eine bloße »Sinnesänderung«, und zwar die Isaaks, umgedeutet.

2.

Heiliger Geist

Michaelis versteht in Hebr 6, 5 »unter ρημα die Verheißung des heiligen Geistes« (285,27f.; M 192 A. 122).61 Das ist insofern eine verengte Auslegung, als die im ῥῆμα empfangene Verheißung des endgültigen Heils mit ihrer δύναμις in den Glaubenden schon wirksam ist.62 Die Depotenzierung des theologischen GeistBegriffs (zu bloßer Verheißung) wird bei Michaelis ganz offenkundig, wenn er bei Hebr 9, 14 »durch den ewigen Geist den ›uralten Sinn der levitischen Vorbilder‹« versteht (287,14f.; M 245 A. 192). Denn der Text redet eindeutig vom πνεῦμα αι᾿ῶνιον, kraft dessen Jesus Christus, sich, sich selbst opfernd, an Gott hingegeben hat. D. h. der Göttinger Exeget verfehlt 1. die christologische Hauptaussage des Hebr, und 2. geht er durch die Reduktion auf den »uralten« Sinn der levitischen Vorbilder – »ewig« wird untheologisch-umgangssprachlich als »uralt« aufge-

Chirurg und Geburtshelfer Professor in Göttingen und Mitglied der Akademie der Wissenschaften war und Einschlägiges veröffentlicht hatte (287,15–17); vgl. M 313 A. 279). 61 V. 4 ist von den »erleuchteten« Glaubenden die Rede, die Anteil am heiligen Geist bekommen haben (μετόχους γενηθέντες πνεύματος ἁγίου), und v. 5 heißt es weiter: »und geschmeckt haben (γευσαμένους) das gute Wort Gottes (καλὸν θεοῦ ῥῆμα) und die Kräfte (δυνάμεις) der zukünftigen Welt«. (Zu den Sakramenten in diesem Zusammenhang s. u. 3.). 62 ῥῆμα ist im Hebr das Schöpfungswort (1, 3 u. 11, 3); wie umgekehrt auch das πνεῦμα ἅγιον als redend gedacht wird (3, 7 u. 10, 15; vgl. 2, 4). Der h. Geist ist eine von Gott ausgeteilte Kraft (2, 4), die als »ewiger Geist« in Christus wirksam war (9, 14) und für uns der wahre »Geist der Gnade« ist (10, 29).

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fasst – die Typologie des Hebr, dem es hier gerade um den neuen Sinn im Antitypos Christus geht. Angesichts solcher Verbiegung der theologischen Aussage nimmt es nicht wunder, wenn Michaelis unter »Geist der Gnade« (Hebr 10, 29) nicht mehr verstehen will als »den geschenkten Geist« (286,24f.; M 288 A. 250), wie Hamann nur vermerkt – so offensichtlich ist die theologische Abschwächung, die auf das Inhaltliche am Geist- und Gnadenbegriff verzichtet.63

3.

Sakramente und Kirche

Michaelis versteht bei Hebr 6, 4 unter »Erleuchten [φωτισθῆναι] die Taufe, unter himmlischer Gabe [δωρεά ἐπουράνια] das Manna des heiligen Abendmahls« (285,26f.; M 190f. A. 120 u. 121).64 Mit dieser kirchlichen Identifikation der Ausdrücke an dieser Hebr-Stelle durch die Sakramente mag er einigermaßen Recht haben;65 aber seine philologische Begründung ist eher problematisch: »(weil außer Wettsteins Anführungen66 auch in den sibyllinischen Büchern gefunden wird: ›durch das Wasser erleuchtet werden‹)« (285,24–26; M 190 A. 120).67 Auch wenn der Hinweis auf die Sakramente nicht abwegig sein sollte, so ist wiederum die Berufung auf die Sibyllinischen Bücher als Begründung dieser Exegese (»weil«) kompromittierend. Denn in solchen dubiosen religionsgeschichtlichen »Parallelen« ist das spezifisch Christliche gerade nicht enthalten. Was die Entstehung der Kirche angeht, so hat Michaelis als Ursachen, »warum Gott eine Kirche [sc. überhaupt] verordnen müssen«, auch die folgende »erfunden«:68 »daß eine bloß in unser Herz eingeschlossene, ganz einsame und eremitische Religion, die keine Gefährtin zur Ewigkeit hat, bey den meisten noch vor Ablauf ihres Lebens ersterben möchte, und nur Enthusiasten so viel Affect haben würden, sie lange genug fort zu setzen« (286,25–30; M 279 A. 241). Hier 63 Michaelis hatte selber eingestandenermaßen kein Verhältnis zum Thema Heiliger Geist und erklärte die Schriftstellen zur übernatürlichen Gnade programmatisch »anders« (Zitate bei Smend, wie Anm. 9, S. 152). 64 Zur Fortsetzung des Textes s. o. 2. 65 Zur Taufe würde das ἅπαξ (v. 4a) und zum Abendmahl das »Schmecken« (v. 4b) passen (vgl. Ps 34, 9). 66 Johann Jakob Wettstein (1693–1754) war ein Theologe, der eine philologisch-kritische Ausgabe des NT (nur teilweise) veröffentlichte; zu den Einzelheiten vgl. Hirsch, wie Anm. 14, Bd. II (31964). S. 415–417. 67 »Durch das Wasser erleuchtet« kommt weder im Text des Hebr noch in den überlieferten Textvarianten vor. 68 Das Wort ist doppeldeutig: es kann ebenso »gefunden« wie »sich bloß ausdenken« besagen. Zu Michaelis’ Erfindungen s. u. Anm. 87 u. 114.

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wird die sichtbare Kirche zur »Gefährtin der Ewigkeit« – statt Jesus Christus selber. Dazu kommt es, weil für Michaelis psychologische und pädagogische Gründe für die Kontinuität des religiösen Lebens bei einzelnen Subjekten im Vordergrund stehen; eine weniger theologische als vielmehr pragmatische Sicht.69 Aber nach dem Hebr hat Christus die an ihn Glaubenden zu seinen Brüdern gemacht (2, 17; vgl. 2, 10f. u. 13 mit 3, 6) und so eine Gemeinde (Kirche) der Erlösten auf ihrem Wege in die Ewigkeit begründet.

4.

Gottes Gericht

Anlässlich von Hebr 4, 16 hat Michaelis dem »Thron der Gnade« von sich aus einen »Thron des Gerichtes« beigesellt, von dem Gottes Strafe ausgehe, und beides der »bildlichen Art« alttestamentlich-jüdischen Redens zugeschrieben (284,9–11; M 170f. A. 97). Das gewaltigste und schrecklichste (φοβερόν) Gerichtsszenario findet sich Hebr 12, 18–21 (vgl. Ex 19, 13): ein feuriger Berg, von Ungewitter und Posaunengedröhn umgeben, die den zornigen und strafenden Gott mit seiner verzehrenden Heiligkeit vergegenwärtigen. Von dem Berg heißt es, seine furchterregende Realität betonend, er sei »zu berühren« (ψηλαφώμενος) gewesen (12, 18). Μichaelis gibt dies Wort mit ausdrücklichem Lob der neuen und »sehr artigen« Auslegung von Georg David Kypke70 als einen »fühlbaren Berg« wieder, bezieht es auf einen Blitz und erwartet im übrigen noch einen weiteren Beleg dafür in irgendeinem anderen Text (287,25–28; M 357 A. 342). Gegenüber der vom Hebr mit jenen Worten gemeinten betastbaren, materiell greifbaren Realität (vgl. auch Dtn 4, 11; 5, 22f.) ist die Übersetzung von Michaelis mit »fühlbar« deutlich spiritualisierend, wozu andererseits die naturalistische Deutung auf einen Blitz passt. Der furchtbare Ernst dieses alttestamentlichen Gerichtsszenarios, den der Text krass betont (vgl. v. 20!), wird also von Michaelis umgangen, und dazu trägt die eine entschiedene Stellungnahme aufschiebende Erwartung irgendeines zusätzlichen, philologischen Belegs aus anderer Literatur ein weiteres Mal das Ihre noch bei.71

69 Dass Treue im Glauben und spezifisch Hamanns eigenes Verhältnis zur »Langen Weile« hier als Enthusiasmus abgewertet werden, muss diesen empört haben. 70 Es handelt sich um die Observationes sacrae in Novi Foederis libros (Breslau 1755) des Königsberger Professors Georg David Kypke, den Michaelis im Kommentar häufig zitiert; vgl. dazu N II, 270,35–37 und Biga 30, 230. Sein Nachfolger wurde der Michaelis-Schüler Johann Christian Wilhelm Diederichs. Übrigens war auch Johann August Starck ein Schüler von Michaelis (vgl. ZH III, 77,25). 71 S. o. Anm. 9.

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Die Abschwächung der tödlichen Drohung von Gottes Gericht72 kommt noch in einer zweiten Hinsicht zutage, auf die Hamann auch aufmerksam ist. Der Satzteil »und so schrecklich (φοβερόν) war die Erscheinung, dass Mose sprach […]« (v. 21) wird von Michaelis noch auf das Ende des vorausgehenden Verses bezogen;73 dadurch wird die Gerichtsandrohung aber auf die »Bestrafung« von Tieren reduziert (Ex 19, 12f.; vgl. aber M 359f. A. 345). Hamann hingegen bezieht richtig auf die folgende Reaktion von Mose: Selbst Moses, mit dem Gott gleichwohl als ein Freund mit dem andern umging [Ex 33, 11], sagt bey Gelegenheit des Kälberdienstes: ›Ich zittere und bebe vor Furcht‹ [Ex 32, 11; Hi 4, 41; 18, 20] (287,30f.).

Damit unterstreicht Hamann das unbedingte Tremendum einer Begegnung mit dem zornigen Gott (vgl. dazu passend Hebr 10, 31 mit 12, 29). Außerdem überblendet er die Rede von irgendeinem dem Gottesberg nahekommenden Tier mit der menschlichen Sünde einer Anbetung des goldenen Kalbes (Ex 32, 1–6)! Was am Berg des Gerichtes also eigentlich »fühlbar« war, ist Furcht und Zittern als Ausdruck wahrer Gottesfurcht im Angesicht des lebendigen Gottes (Phil 2, 12) – der denkbar schärfste Kontrast zur akademischen »Furchtsamkeit« von Michaelis.74

V In diesem Abschnitt sollen einige allgemeinere Charakteristika benannt werden, die Hamann in Michaelis’ Hebr-Kommentar herausarbeitet. Auffällig ist für den Rezensenten zunächst der Umgang mit dem Thema Wahrheit. Zu Hebr 5, 13 schreibt er über Michaelis: er verstehe »unter dem »Wort der Wahrheit« den Unterricht von dem Gegenbilde oder der Sache selbst, welche ein Vorbild bedeutet, getraut sich aber nicht diese Vermutung aufzunehmen, so lange ihm eine Stelle, wo die Redensart λογος δικαιοσυνης vorkommt, mangelt« (284,33–36; vgl. M 179 A. 110). »Wort der Wahrheit« kommt zwar so im Hebr nicht vor,75 obwohl dieser betont von der »Erkenntnis der Wahrheit« handelt (10, 26), aber eben bei Michaelis (M 179 A. 110).76 Doch möglicherweise ist diese Wendung von Hamann, der das ja weiß, statt des im Hebr stehenden Ausdrucks »Wort der Gerechtigkeit« (λόγος δικαιοσύνης) absichtlich wiederholt worden, weil das 1. die theologische Bedeutung des paulinisch-lutherischen Rechtferti72 73 74 75 76

Sie wird Hebr 12, 22–24 durch den heilvollen Berg Zion neutestamentlich abgelöst. V. 20b: »Und wenn auch ein Tier den Berg berührt, soll es gesteinigt werden« (Ex 19, 13). Dazu s. u. bei Anm. 87. Vgl. aber Joh 17,17; 2Kor 6, 7; Eph 1, 13; Kol 1, 5; Jak 1, 8. ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας.

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gungsgedankens herausstellen (vgl. Röm 4, 5 u. ö.) und 2. insbes. dem λόγος τοῦ θεοῦ von Hebr 4, 12 (und 13, 7) entsprechen würde.77 Anstatt wie Michaelis wieder ängstlich nach einer Parallel-Stelle anderswo zu suchen,78 bzw. genau wegen dessen dadurch begründeter Urteils-Epoché, kann Hamann den Kontext des Verses auf ihn, Michaelis selber, beziehen. Denn da ist von einem die Rede, der gänzlich »unerfahren« (ἄπειρος) mit dem Wort der Gerechtigkeit ist (Hebr 5, 13).79 Michaelis wird dadurch wieder mit dem unverständigen »Lehrer in Israel« Nikodemus (Joh 3, 10) verglichen.80 Mit dem »Wort der Wahrheit« (bzw. der Gerechtigkeit) verfehlt dieser letztlich die Grundlehren des Christentums: Glaube an Gott, die Lehre von der Taufe, von der Auferstehung (Christi) von den Toten und vom ewigen Gericht, wie sie Hebr 6, 1 explizit benannt sind.81

77 Michaelis scheint ein theologisches Verständnis des Wortes Gottes zu umgehen. Zu der einschlägigen Stelle Hebr 12, 25, die er für die schwerste im ganzen Brief hält (M 366 A. 366), bietet er mit einer, wie Hamann spottet, »sinnreichen Nothwendigkeit« die den Text verdrehende Lesart an: »›Wenn jene nicht entflohen sind, die sich den ausbaten, der auf der Erde redete‹, worunter er Mosen versteht« (287,32–34; vgl. M 366f. u. 368 A. 354). Die Hebr-Stelle handelt aber nicht von Mose, sondern absolut von Gott selber, als dem Redenden überhaupt (τὸν λαλοῦντα)! Und bei der Verbform παραιτήσεσθε, die eindeutig bezeugt ist, geht es (statt um ein »sich ausbitten« M 370 A. 355) um ein Abweisen, nämlich Gottes und seines Wortes. Ist das bei Michaelis noch eine »Fehlleistung« nur im Freudschen Sinne? Er verfälscht – mit theologisch abschwächender Intention – den Text zweifach: 1. macht er aus dem Imperativ μὴ παραιτήσεσθε (abweisen) das Partizip αι᾿τησάμενοι (sich ausbitten) – eigentlich schon zwei Verfälschungen –, und 2. versteht er unter dem Redenden nicht Gott (M 366 A. 354), sondern (vom Text her ganz abwegig) den Menschen Mose. Die »sinnreiche Nothwendigkeit« für ihn bestand offensichtlich darin, die Warnung des Hebr vor Unglauben zu unterdrücken. 78 Vgl.: »getraut sich aber nicht …, solange ihm eine Stelle … mangelt« (284,35f.). Vgl. Hamanns ironischen Satz in Klammern (284,36f.). 79 Der Kontext vergleicht die Adressaten mit einem unmündigen kleinen Kind (νήπιος), dem man statt fester Speise nur Milch geben kann (5, 12) und erhebt den Vorwurf der »Harthörigkeit« (5, 11) aufgrund »ungeübter Sinne« (vgl. 5, 14b). 80 Vgl. »Meister in Israel« (N II, 201,18); auch: »Hoch- und Wohlgelehrtester Rabbi« (201,22f.). Vgl. auch bezüglich der Rezension von Michaelis über die Kreuzzüge: N II, 255,14f. (Fn. 36). 81 Hamann weist anschließend ausdrücklich auf diesen Vers hin: »Cap. VI, 1 wird ein Unterschied gemacht zwischen dem ›Anfangsunterricht von Christo‹, oder solchen Lehren, auf welche der Apostel bey der Bekehrung eines Juden zum Christenthum dringt, und zwischen den ›Anfangsbuchstaben [στοιχεῖα] der göttlichen Lehre‹ im 12ten Vers des vorigen Capitels [5], woselbst nur die bildliche Geschichte und Gesetze Mosis gemeynet würden, wenn man solche von ihrer Deutung absondert« (284,38–43; M 181 A. 113; vgl. 178 A. 108). Der »Rabbi« Michaelis (vgl. o. Anm. 80) hat wie ein Jude beides, Anfangsunterricht und christliche Grundlehren, nötig, zumal, wie der Kontext von Hebr 6, 1–8 dann zeigt, sie vom »Vergessen« bedroht sind. Statt »göttliche Lehre« steht Hebr 5, 12 übrigens »Wort(e) Gottes« (λόγια τοῦ θεοῦ). Mit »bildlicher Geschichte und Gesetze Mosis« ist das Thema der Typologie (s. o. im Text) angesprochen. Michaelis, der damit nicht viel anfangen kann, reduziert alles auf die anschaulich fassbaren, historischen Realien; d. h. theologisch, er nimmt den Typos, weil ohne Antitypos (»von ihrer Deutung abgesondert«), gar nicht als Typos, wie der Hebr es programmatisch tut. Vgl. in meinem o. Anm. 4 genannten Buch S. 119–156.

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Michaelis verfehlt das »Wort der Wahrheit« auch, weil er die christologische Typologie (insbes. die Hohepriester-Typologie) des Hebr ausblendet, und zwar durch ängstliche Skepsis (»getraut sich … nicht«).82 Er führt zwar die Begriffe der Typologie an, so z. B. mit dem Ausdruck »Gegenbild«, also Antitypos (vgl. Hebr 10, 1a und 8, 5), und versteht sehr wohl, dass damit im Sinne des Hebr »die Sache selbst« gemeint ist,83 lässt sich aber (übervorsichtig) nicht darauf ein. Μan wundert sich nicht, dass sich in Hamanns Rezension schon bald der Satz findet: Da auch unser Schriftsteller ein großer Feind von Machtsprüchen ist,84 so macht er artige Anmerkungen darüber, wie das Vermögen zu zweifeln in Krankheit des Gemüths und Unempfindlichkeit gegen die Wahrheit ausschlagen könne (285,15–18; M 188 A. 119).

Die Anmerkungen des Hofrats sind »artig«, weil seicht moralisierende bzw. psychologisierende (»Krankheit im Gemüth«, »Unempfindlichkeit«), oberflächlich bleibende Räsonnements. Michaelis ist beflissen unanstößig, weil er sich dem durchschnittlichen aufklärerischen Zeitgeist anpasst und so seiner in Wahrheit skeptischen Haltung in Glaubensfragen das Gewand des »guten Geschmacks« (s. o. bei Anm. 51) überstreifen kann. Die Rede vom »Vermögen zu zweifeln« bedeutet einerseits eine Verharmlosung der religiösen Macht des Zweifels, andererseits weist sie aber auch auf den Umgang von Michaelis mit dem »Wort der Wahrheit« bzw.

82 Vgl. o. Anm. 22. Vielleicht ist es diese akademische Ängstlichkeit, die Michaelis bei (verwässernden) Paraphrasen des Textes seine Zuflucht suchen lässt; vgl. 284,12; 286,13 u. 30; 287,40 u. o. Abschn. I. Hamann spricht ihm dagegen Joh 16, 33 und 1Joh 4, 4 zu (N II, 255,49f.; Fn. 41). N II, 183,1f. steht mit Bezug auf Michaelis: »die wunderthätigsten Sprachforscher sind bisweilen auch die ohnmächtigsten Exegeten«. 83 Vgl. Hebr 10, 1 (ει᾿κὼν τῶν πραγμάτων). Zu »Vorbild« (ὑπόδειγμα) vgl. 9, 23. Zum grammatischen Verständnis der Wendung »welche ein Vorbild bedeutet« (284,34f.): entweder steht »Vorbild« im Akk.; dann ist es gleich ει᾿κὼν τῶν πραγμάτων (10, 1) bzw. τύπος (8, 5b), oder »Vorbild« ist im Nom. das Subjekt des Relativsatzes; dann ist es = Typos und »bedeutet« das, worauf der Typos schon hinweist, »die Sache selbst«. 84 Vgl. M 270 A. 224 u. ö. Im Gegensatz dazu 286,1: »Machtworte«, sc. im Munde Christi! Im Text o. geht es um die aufgeklärte Aversion gegen angeblich heteronom-autoritäre oder unüberprüfbare, dogmatische Aussagen. Vgl. aber: »der Verfasser dogmatisirt aber bey dieser Stelle [sc. über Philo; s. o. bei Anm. 32] bzw. Hume und Lamettrie [s. o. bei Anm. 50] mit einer so künstlichen Wärme, daß der Faden seiner Gedanken auf einen Wink abbricht, gleich einer flächsernen Schnur, wenn sie ans Feuer reicht« (284,21–23). Er bringt also doch eigene Machtsprüche vor, wenngleich er, wo es dogmatisch wird, abbricht (vgl. M 189 A. 119). Seine gespielte bzw. affektierte Wärme (»flächserne Schnur«) vergeht als nichtig vor dem »Feuer« echter Leidenschaft zur Wahrheit (vgl. Tom Kleffmann: Hamanns Begriff der Leidenschaft. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns (Acta 2005), S. 161–178) oder sogar dem Feuer des lebendigen Gottes (Hebr 12, 29). Jedenfalls wird Michaelis das Opfers seiner eigenen Heuchelei (»Faden … abbricht«).

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der Wahrheit hin. Die Unempfindlichkeit gegen die Wahrheit85 ist ja das, was in Hamanns Augen Michaelis selber beherrscht.86 Nicht nur versäumt Michaelis keine Gelegenheit, betont »auf die Bescheidenheit seiner Gelehrsamkeit sich etwas zu gut zu thun« (286,2f.),87 sondern so, wie »Furcht und Gelehrsamkeit« seine eigene »typische Gottesgelahrtheit« kennzeichnen (M 180 A. 112),88 empfiehlt er sie auch gegen falsch angebrachten »Witz« (esprit)89 und meint sogar, nur »Furcht und Erstaunen« brächten den natürlichen Verstand wieder zurecht.90

85 Als ob die Wahrheit des Glaubens ohne (überwundenen) Zweifel zu finden wäre. 86 Dieser hat ja ausdrücklich für ein nivellierendes Mittelmaß plädiert; die »glückliche Mittelstraße« (286,43; vgl. M 295–297 A. 265 u. o. nach Anm. 48). 87 Das ist eine Ironie auf den heimlichen Stolz von Michaelis; man ist an Hamanns Rede vom »Bauernstolz des reichen Polyhistors« erinnert (N II, 70,22; vgl. Lk 12, 16–21), wobei das »sich etwas zu gute tun« an Lk 12, 19b anklingt: εὐφραίνου. Bei Gelegenheit des Textes zu Hebr 9, 2–4 (286,1–10) spricht Hamann von den »seltensten Eingebungen« (d. h. seltsamsten oder ausgefallensten) von Michaelis, wobei er ihm die »Erdichtung neuer Lesarten« unterstellt (vgl. M 237 A. 181), die, so Hamanns Sarkasmus, dem Göttinger Exegeten dazu dienen, »Ruhm und Vorteil zu erlangen«, also weltliche (gesellschaftliche) Vorteile (wie z. B. Hofrat zu werden); vgl. dazu bei Smend, wie Anm. 9, S. 141f. u. S. 143. Das fällt freilich einem so genannten »Criticus« wie Hamann »nicht so leicht«! Dass die neue Lesart, von Michaelis bei »seiner Lampe« ersonnen (vgl. M 235–237 A. 181: altisraelitischer Kult), kaum »jemals nöthig haben wird ans Licht zu kommen« – so falsch ist sie –, spielt wohl auf das Gleichnis von den Törichten Jungfrauen an (Mk 4, 21 u. Lk 8, 17; vgl. Mt 25, 8!). 88 Zur Typologie s. o. bei Anm. 23 (287,5f.). Da Michaelis’ Furchtsamkeit sich auf den Spott von Seiten der Aufklärer bezieht, fragt man sich, ob es sich dabei um wahre Gottesfurcht handelt (vgl. Act 5, 29); zu dieser s. auch o. bei Anm. 74. Von Michaelis war 1753 erschienen: Entwurf einer typischen Gottesgelahrtheit; dazu Hoffmann, wie o. Anm. 2, S. 188f. 89 Michaelis warnt davor »Ungeübte« (vgl. aber zu Hebr 5, 13 u. 14b o. bei Anm. 79 und Anm. 79), »falls sie nicht mit Furchtsamkeit und Gelehrsamkeit« ihre Auslegung alttestamentlicher Bilder betreiben (285,45f.; M 180f. A. 111). Zu »Witz« vgl. Smend, wie Anm. 9, S. 143; »gefährlich spielender Witz« (284,44) könnte auch eine Anspielung auf die Beschuldigung von Michaelis sein, Hamann mache sich eines »Leichtfertigen Mißbrauchs der biblischen Ausdrücke« schuldig (vgl. N II, 253,10f.). 90 Im Unterschied zu »des allzuleichtsinnigen La Mettrie und des allzutiefsinnigen Hume Verstand«, die Michaelis wohl zur »Krankheit des Gemüts« rechnet (285,18f.; vgl. M 187– 189 A. 119 s.o. bei Anm. 50), kann dieser Verstand durch gelehrte Furcht und ein Erstaunen – statt »Furcht und Zittern« (Phil 2, 12; Hebr 21, 21; dazu o. bei Anm. 74) – »wieder natürlich« werden (285,19–21; M 188. A. 119). Hamann sieht das freilich anders, was die pure Gelehrsamkeit angeht: »rohe unverdaute Belesenheit« attestiert er 1774 z. B. Johann Salomo Semler (ZH III, 79,25; vgl. auch IV, 311,25f.). Erinnert sei an den Aphorismus von Luc de Vauvenargues: »Ein gefräßiger Mensch, der schlecht verdaut – das ist wohl ein getreues Bild der Geistesart der meisten Gelehrten« (Reflexionen und Maximen. In: Die französischen Moralisten. Hg. von Fritz Schalk. Leipzig 1962 (Samlung Dieterich 22). S. 167). Das mag mitschwingen, wenn Hamann Michaelis den »gelehrten Scholiasten« nennt (N II, 198,12).

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VI In den seine Rezension abschließenden Bemerkungen äußert Hamann dreierlei. Zunächst bringt er eine scharfe Kritik an der speziellen literarkritischen These einer dem Hebr zugrundeliegenden, hebräischen Urfassung vor, die es dem Göttinger Exegeten erlaubt hat, sich dem theologischen Anliegen des Textes zu entziehen:91 Der Verfasser hat von seiner hebräischen Urkunde dieses Paulinischen Briefes einen so blöden oder vielmehr so unschuldigen Gebrauch gemacht, daß es künftigen Auslegern kaum lohnen wird, dieses Kalbfell auf eine Heerpauke zu spannen (287,45–48).92

»Blöde« wird der Gebrauch genannt, den Michaelis von seiner Hypothese macht, weil er ebenso unsinnig wie nur scheinbar unschuldig (bzw. »verzagt«) ist und dem Ausweichen vor dem neutestamentlichen Text dient. Hier ist »mit einem andern Kalb, als unserer [sc. aufgeklärten] Vernunft zu pflügen« (N II, 65,12; vgl. Röm 14, 18). Ein solches kälbern-unreifes Verfahren wie das von Michaelis hat kaum Aussicht, zukünftige Exegeten zu überzeugen oder gar diesen als »Heerpauke«, also als hermeneutische Großprämisse, zu dienen; d. h. es werden ihm mitnichten Heerscharen von Lesern nachfolgen – im Kampf gegen die Botschaft des Hebr vom gekreuzigten Jesus Christus als Mittler des Neuen Bundes.93 Sodann gibt es zum Schluss dieser Rezension noch zwei Hamann-typische Bemerkungen, typisch auch in ihrer Gebrochenheit, um nicht zu sagen Ambivalenz, gleichwohl aber von starker Plastizität. Die eine: Gleichwie ein ägyptischer Hund, weil er den Crocodil fürchtet, den Schlamm des Nils leckt; eben so flüchtig und fahrlässig94 haben wir einen Theil dieser gelehrten Paraphrase und Erklärung angekündigt,95 in keiner andern Absicht, als Leser, die zur Prüfung des Wahren und des Neuen und der Tünche fähig sind, dazu aufzumuntern (287,38–42).

91 S. z. B. o. Anm. 20. Die heutige historische Kritik zieht diese, auf Clemens Alexandrinus zurückgehende Hypothese überhaupt nicht mehr in Betracht. 92 Das Kalbfell erinnert an die Kuhhaut N II, 209,6. 93 Hamann wendet das »Wort vom Kreuz« (als Ärgernis und Torheit; 1Kor 1, 18 u. 23) gegen Michaelis: N II, 255,24f. (Fn.37). 94 Zu Hamanns Absicht s. o. Anm. 2. »Flüchtig und fahrlässig« ist eine rhetorische Selbstzurücknahme. Hamanns »Bescheidenheit« antwortet hier der angeblichen von Michaelis (vgl. o. bei Anm. 87), und entspricht dem nur ängstlich »Lecken« des Hundes. Über die Kürze im Verhältnis zum vollen Herzen s. o. Anm. 23; der leckende Hund folgt nach zwei Gedankenstrichen und ohne Punkt bezeichnenderweise unmittelbar auf eben diesen Satz (287,37f.)! Darf man auch lesen: als ebenso flüchtig und fahrlässig (sc. wie der Text von Michaelis selber ist), was inhaltlich ja zutreffend wäre (»Schlamm«)? 95 Verdient sie in Hamanns Augen auch nicht mehr?

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Jener Hund traut sich nicht ins Wasser des Flusses, um davon zu trinken.96 Das verborgen drohende Krokodil steht – wenn nicht gar für Michaelis selbst – für den alles verschlingenden historischen Relativismus bei diesem, vielleicht auch für Hamanns Sorge, davon hilflos verschlungen zu werden.97 Der »Schlamm« freilich entspricht dem theologisch Ungenügenden in Michaelis’ Auslegung; sie ist in wesentlichen Dingen ebenso unklar wie verunklärend98 und gelangt nicht an das wahre »Wasser des Lebens« im Gotteswort (Joh 4, 10; vgl. Ps 23, 2; 42, 2). Eben indem Hamann seine eigenen (und vereinzelten) Beobachtungen als unmaßgeblich in Frage zu stellen vorgibt (»flüchtig und fahrlässig«),99 kann er den Leser zu einem eigenen Urteil im Sinne von Sapere aude! auffordern.100 Jeder mündige Christ soll bei dieser Lektüre selber die Unterscheidung des Wahren,101 von Gott her »Neuen«, das der Hebr verkündet, und der aufgeklärt-gelehrten »Tünche«, die Michaelis darüber zieht,102 vollziehen – im Sinne des paulinischen »Prüfens« (1Thess 5, 21 u. Röm 12, 2; vgl. Eph 5, 10)103. Aber auch hier hält Hamann selber nicht mit seinem Urteil zurück:

96 Ist hier vom Nil und von Ägypten vielleicht wegen Michaelis’ Interesse an der Arabienexpedition 1761–1767 (Carsten Niebuhr) die Rede, über die Michaelis 1762 Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer […] schrieb (vgl. dazu N II, 137–141; 182,8–183,4; III 151, 19f. und ZH II, 183,10f. u. 13–30 sowie M 228 A. 172)? Gegen diesen großen Fluss steht auch der »kleine Bach meiner Autorschaft« (N III, 399,20). Nil und Krokodil kommen (im Zusammenhang mit Hume) schon 1759 vor (ZH I, 355,28; vgl. 27–29; den Hinweis verdanke ich Thomas Brose). 97 Vgl. seine Rede vom »Triebsande kritischer ModeGelehrsamkeit« (ZH III, 89,21; 10. 4. 1774). Andererseits kann er gegen die »Meister philistinischer, arabischer und kretischer Gelehrsamkeit« sagen: »Du siehst die Schatten der Berge für einen dichtgeschloßnen Phalanx an – Judic. [Ri] IX. 36« (N III, 132,36f.). 98 Vgl. auch: »Die Kunst sich zu verschanzen macht dem Verfasser dieses Werks [sc. Michaelis] die meiste Ehre« (N II, 180,30f.; nach Baur, wie o. Anm. 4, S. 161). 99 Hamanns Selbstzurücknahme – zugunsten des eigenen Urteils jedes Lesers – drückt sich vielleicht auch in der Anonymität seiner Rezension aus. Überhaupt aber versteht er bekanntlich jeden seiner Texte auch als ein (selbstkritisches) Zwiegespräch des Autors mit sich selbst im Angesicht des höchsten »Kunstrichters« (vgl. o. Anm. 51). 100 Das ist für das Gesamtverständnis der Rezension als »Autorhandlung« wichtig! 101 Zur Wahrheit bei Michaelis vgl. o. Anm. 17 u. Abschn. V. 102 Vgl. »Schlamm« bzw. »Dünste« (s. u.). N II, 181,7 steht: »Blauer Dunst«. 103 Hamann hat auch in diesem Text nur »Winke« gegeben; vgl. N II, 201,29–31 (Hamlet I, 4). Er favorisiert bekanntlich das delphische σημαίνειν (N II, 94,32; nach Heraklit, Frgm. 93). Daher handelt es sich auch in dieser Rezension um eine Art »indirekter Mitteilung« (im Sinne Kierkegaards) und nicht um das Einklagen einer fraglos vorgegebenen Orthodoxie! Die freie Aneignung des Lesers wird strukturell einbezogen. Das ist wichtig für diesen ganzen Text, sofern er mit Polemik eher zurückhaltend, dafür indirekt-kritisch (oft mit dem rhetorischen Stilmittel der Ironie) verfährt, was eben nur für den mitdenkenden und den neutestamentlichen Text berücksichtigenden Leser nachvollziehbar ist.

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Von den Zweifeln und Gründen, welche in den Anmerkungen abwechseln,104 müssen wir überhaupt selbige den Dünsten vergleichen, die den vollen Mond bald vergrößern, bald sein kleines Licht gar überziehen (287,43–45).

Der Mond (des Hebr-Textes und seiner Theologie) kommt hier als Abglanz des wahren Lichtes der Sonne, die Christus ist, ins Spiel, gegen die auch Hamanns Text nur eine »kleines Licht« ist,105 während Michaelis mit seiner flachen Verständigkeit sogar einen geringen Widerschein der Wahrheit entweder noch verschleiert, indem er ihn mit seiner Tünche überzieht, oder soz. ungewollt zu dessen stärkerem Glanz beiträgt (»vergrößern«)106. Die andere und letzte Bemerkung ist nicht weniger Hamann-typisch. Die Rezension endet mit dem denkwürdigen Satz: Wir machen uns übrigens Popens Rath zu Nutz, tiefer zu trinken, um nüchtern zu werden, und halten ein gesundes Herz für die wahre Quelle guter Erfindungen, mittlerweile zu einem berühmten Schriftsteller freylich ein wüster Kopf und eine leichte Hand wenigstens erfordert werden dürften (287,48–288,3).

Den Ratschlag Alexander Pope’s: »drinking largely sobers us again« bezüglich des »Pierischen Quells«, d. h. der Quelle der Musen,107 eignet Hamann sich christlich an: als die Aufforderung des wahren Musagetes Christus, bei ihm vom Wasser des Lebens zu trinken (Joh 4, 14),108 um zur wahren Nüchternheit zu gelangen (vgl. 1Kor 14, 19) – als ein Nüchterner unter lauter Trunkenen.109 Dem wird mit scharfer Antithese sarkastisch entgegen gehalten, was in unseren fortgeschrittenen, aufgeklärten Zeiten (»mittlerweile«) zumindest (»we104 Damit sind unmittelbar die zahlreichen Anmerkungen des Michaelisschen Kommentars gemeint; sie könnten daneben aber auch auf Hamanns Rezension bezogen werden. 105 Hübsch ist die Selbstironie, mit der Hamann über seinen sibyllinischen Versuch über die Ehe schreibt: »so sonnenklar […], als der heutige Mond« (ZH III, 157,11), in Bezug auf den es weiter heißt: Hamann sei »kein Autor seines Glantzes« (ebd. Z. 23). Vgl. die Rede vom »kleinen Bach meiner Autorschaft« (o. Anm. 96) sowie 286,4: »Lampe« (Anm. 87); wichtiger ist aber wohl die Stelle N II, 206,18f. (mit Bezug auf Horaz, Od I, 12,46–48). 106 Einschlägig hierfür, wenn man über Hamann liest: »daß Dieser ein Sonnenlicht fordert, mehrere Wahrheiten zu erleuchten, und daß er das noch nicht für den Tag hielt, wenn man [wie z. B. Michaelis; J.R.] mehrere Wahrheiten sammelt und nur ein kleines Licht dazu sucht oder besitzt« (Alfred Nicolovius: Johann Georg Schlosser’s Leben und literarisches Wirken. Bonn 1844. S. 90). 107 An Essay in Criticism (1771), v. 2005. 108 »Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, der wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt«. Zum »Trinken« s. auch o. zu 287,38f. (bei Anm. 96) sowie o. im 3. Aufsatz dieses Bandes, bei Anm. 74. 109 So Aristoteles über Anaxagoras (Met. A 3; 984 b 17f): οἷον νήφων παρ᾽ ει᾿κῇ λέγοντες. Spricht Aristoteles wörtlich von »Irreredenden«, so hat sich später (der Sache nach richtig) die Rede von »Trunkenen« eingebürgert; so z. B. Hegel (Werke in zwanzig Bänden. Bd. 18. Frankfurt 1971. S. 379) oder auch Nietzsche (Sämtliche Werke. Krit. Stud. Ausg. Bd. 1. Berlin / New York 1980. S. 87,6f.).

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nigstens«, d. h. wenn nicht Schlimmeres) dazugehört, um ein »berühmter Schriftsteller« zu werden oder zu sein,110 nämlich einerseits eine stupende Gelehrsamkeit ohne (theologische) Urteilskraft,111 und dies nennt Hamann einen »wüsten Kopf«,112 weil dieser »trunken«, aber gerade nicht in Pope’s Sinn »heilignüchtern« ist (1Kor 15, 34, 1Thess 5, 6 u. 8; vgl. 2Tim 2, 26; 1Petr 1, 13; 5, 8). Andererseits ist eine »leichte Hand« erfordert, und in solcher oberflächlichen Gewandtheit ist der prominente Schriftsteller Michaelis offensichtlich ein Meister. Aber »leichthändig« heißt gerade nicht, tiefer eindringend, sondern eher leichtsinnig, weil die Wahrheit und den Ernst des göttlichen Wortes überspielend.113 Für Hamann hingegen liegt der wahre Ursprung »guter Erfindungen«114 in einem gesunden Herzen,115 das christlich ein »volles Herz« ist,116 d. h. »gesund im Glauben« (Tit 1, 13; 2, 2), weil an Gott und seinem Wort ausgerichtet (Mt 8, 8). Was geht den gläubigen Christen ein »berühmter« Schriftsteller an, wenn er doch den absoluten Schriftsteller, den »Poeten am Anfang der Tage« (N II, 206,20) vor Augen hat? Er bleibt diesem verbunden mit der »Wolke der Zeugen« (Hebr 12, 1; vgl. N II,117,24f.), zu der am Ende auch der Hebr selber gehört.

VII Resümierend kann gesagt werden: Es handelt sich bei Hamanns MichaelisRezension nicht einfach um eine wissenschaftliche oder »journalistische« Besprechung, sondern die Auseinandersetzung mit dem Göttinger Orientalisten und Bibel-Ausleger ist strategisch in eine theologische Großkampflage eingeordnet, wobei der neutestamentlich-christliche Glaube im Detail gegen den aufgeklärten Zeitgeist in Stellung gebracht wird. Damit stellt diese Rezension eine echte Hamannsche Autorhandlung dar. Der lutherische Wort-Theologe und Sprachdenker tritt darin gegen den Meister zeitgenössischer, historisch-kritischer Philologie an,117 und gerade der Hebräerbrief bot dafür ein als paradigmatisch zu nutzendes Zeigfeld. Dass die in ihm beherrschenden Themen von 110 111 112 113 114 115 116 117

Zum Ruhm cf. o. Anm. 87. Vgl. o. bei Anm. 26. Vgl. o. bei Anm. 90 (Semler). Obwohl Michaelis meint, vom »seichten Leichtsinn« maßvoll entfernt zu sein (vgl. 286,43 u. o. Abschn. III zu Beginn). Zum »Erfinden« des Exegeten Michaelis vgl. o. Anm. 87: »Erdichtung« (286,7) sowie »Eingebungen« (286,1) oder »Einfall« (286,39). Zum Herzen vgl. schon o. Anm. 23. »Volles Herz« ist Michaelis’ Paraphrase von Hebr 13, 22: M 410. Im gewöhnlichen Verstand dieser Redewendung; vgl. Mt 12, 34. Vgl. dazu Hamann an Kant: ZH III, 86,21–87,5 (1774).

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Glaube und Christus und entsprechend auch das Thema der Sünde bei Michaelis, wie Hamann deutlich sah, keine adäquate Resonanz fand, wirft – besonders hinsichtlich der Sündenthematik – ein spezifisches Licht auf seine an sich überraschende Charakterisierung des Göttingers: Dies ist der große Erasmus unseres Jahrhunderts.118

Wieder einmal stellt der Königsberger sich auf die Seite Martin Luthers.

118 ZH III, 6,18 (1771 an F. Nicolai).

Søren Kierkegaard als Hamann-Leser allicit et terret (Kierkegaard über Hamann)

I Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, und aus Lesern entstehen Schriftsteller. Die meisten Bücher sind daher ein treuer Abdruck der Fähigkeiten und Neigungen, mit denen man gelesen hat und lesen kann (N II, 341,15–18).

Ein Leser von Hamann und Kierkegaard kann jetzt, ungeachtet aller Fähigkeiten und Neigungen, in einer halben Stunde nur einige im Vorübergehen gepflückte Lesefrüchte – um nicht zu sagen: abgeschlagene Mohnköpfe, eine »Menge kleiner Inseln« (N II, 61,30) – mitteilen, soz. Philologische Brocken. D. h. die großen Themen eines systematischen Vergleichs, die z. T. auch schon untersucht wurden, können hier nicht einmal angesprochen werden; Themen also, die für Kierkegaard in einer gewissen Aneignung und Umformung Hamannscher Motive kennzeichnend sind, wie, um nur die auffälligsten zu nennen: die Pseudonymität, die damit verbundenen Autor-Strategien, der Existenzbegriff (dieser ist bei Kierkegaard dann auch noch von Jacobi mitgefärbt worden), das große Anliegen der indirekten Mitteilung, die Sokrates-Deutung, in der Kierkegaard außer von Hamann auch von Hegel und Schleiermacher und nicht zuletzt von seinem Kopenhagener Lehrer Poul Martin Møller beeinflußt worden ist, der Begriff der Ironie und ihr Verhältnis zum Humor oder auch die auffälligen Parallelen in der Verhältnisbestimmung von Christentum und Zeitgeist: in Königsberg Luther gegen Kant und die Aufklärung, in Kopenhagen das ursprüngliche Christentum gegen Hegelsche Philosophie und Staatskirche. Dies alles und mehr muss hier – wie man heute mit einer (auch) dänischen Wendung gern sagt – außen vor (udenfor) bleiben, ebenso wie die unübersehbaren Differenzen beider Autoren: in Persönlichkeit, Lebensstil und -weg, intellektuellem und bildungsmäßigem Zuschnitt.

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II Fest steht immerhin, dass Kierkegaard Hamann früh und gerne (in der Rothschen Ausgabe) gelesen hat. Die Tagebücher bzw. Papirer geben darüber Auskunft; etwa seit 1833 hat diese Lektüre Spuren hinterlassen. Fest steht auch, dass er ihn immer wieder einmal zitiert – oft etwas frei – oder auf ihn anspielt (übrigens so gut wie nie in den Erbaulichen Reden). Wo er Hamann erwähnt, tut er es so, als handle es sich um eine allgemein bekannte und anerkannte literarische Autorität. Beim geistigen Mannbarwerden Kierkegaards und bei seinem Weg vom Leser zum selbständigen Schriftsteller hat – neben vielen anderen – also für ihn auch Hamann eine Rolle gespielt. Vielleicht darf man sogar sagen: er stellt neben Herder die andere große Variante der Schülerschaft zu Hamann dar. Insofern dürfte es kein Zufall sein, wenn Kierkegaard in seinem ersten großen literarischen Werk Entweder-Oder (1843) gerade Hamanns eingangs zitiertes Dictum wiederholt: Wenn man nämlich zur ›Sekte der Leser‹ gehört, wenn man auf die eine oder andere Art sich als ein fleißiger und aufmerksamer Leser auszeichnet, so wächst […] die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein bißchen von Schriftsteller aus einem herauskommen werde, denn es ist, wie Hamann sagt: ›Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, aus Lesern werden Schriftsteller‹.1

Kierkegaard mag in dieser Formulierung seine eigene Genesis als Autor wiederholt gefunden haben – formuliert von einem, der eben selber einer der Väter dieser Genesis war.

III Dass aus Jungfern Bräute werden, evozierte auch für Kierkegaard den erotischen Kontext der eigenen Schriftstellerei, gerade nach ihren pseudonymen Strategien: »Masken, Masken, das man Eros blende« (Rilke).2 Und so überrascht es nicht, in einem der Vorworte zu den Erbaulichen Reden (1845), die ja stets auch jener Einzelnen gewidmet waren, die Regine Olsen hieß, zu lesen: dies kleine Buch

1 Ich zitiere Kierkegaard nach der deutschen Ausgabe von Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes (Hg.): Gesammelte Werke. Düsseldorf/ Köln ab 1952, mit Angabe der Abteilungsziffer und Seitenzahl; hier: 1. Abt. S. 262. 2 Vgl. ZH V, 350,29–31 (furor uterinus); von Kierkegaard 12. Abt. S. 212 zitiert. Das Motto o. findet sich in: Die Tagebücher. Hg. von Hayo Gerdes. Düsseldorf/ Köln ab 1962. Hier: Bd. 1. S. 198 (A II 442).

Søren Kierkegaard als Hamann-Leser

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wartet […] in der Stille, daß jener rechte Leser kommen möge dem Bräutigam gleich und die Gelegenheit mit sich bringen […]. Die Bedeutung liegt in der Aneignung. Daher die freudige Hingebung des Buches […] die Aneignung ist des Lesers […]Hingebung.3

Das Stichwort Aneignung reicht weit über diese Texte hinaus. Für Hamann, den Bibelleser, dem die Schrift sein Hen kai Pan war (ZH VI, 295,21–26; vgl. ZH V, 314,21–29) und der sie als sein »Element und Aliment« mit »einem fame canina verschlungen« hat und täglich darin las (ZH II, 443,32–35), ist diese Leseerfahrung als Lebensbrot seines Glaubens zugleich die Quelle seiner Autorschaft gewesen: »Ich glaube; darum rede ich« (ZH I, 453,8f.; vgl. Ps 116, 10) bzw. »Credidi, propter quod locutus sum. 2 Cor IV. 13« (N III, 25). In diesem Geist des Lesemeisters Hamann formuliert Kierkegaard: ja, es ist erbaulich, wenn es jemandem gelingt […], durch demütige Begnügung mit dem Schriftwort, durch dankbare und innerliche Aneignung des von den Vätern Überlieferten, eine neue Bekanntschaft zu stiften mit dem – alten Bekannten […] wahrlich eben dies ist Ernst, im geistigen Sinne jenen im Ernst erbaulichen Scherz fortsetzen zu können, daß man mit dem alten Bekannten Verkleiden spielt.4

Dies Verkleiden erinnert an Hamanns Rede von den alten Lumpen, die uns zur Rettung dienen (N I, 5; ZH I, 341,13–15; ZH V, 314,24–29). Aneignung des Glaubens vollzieht sich auch als Leserhandlung, als Akt der Lektüre. Ähnlich verweist es zurück an die geistige Atmosphäre von Hamanns Lese- und Autorhandlungen, wenn man bei dem Dänen liest: darin, aus einem Abstand […] solo die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen zu wollen.5

Das klingt wie eine Beschreibung des Universal-Lesers Hamann, dem ja jedes Buch eine Bibel sein konnte (ZH I, 309,11) und der wusste »Reden ist übersetzen« (N II, 199,4), der nur »Lesarten« des einen Grundtextes kannte (N II, 203,17f.) und der daher konsequent den Stil des Cento virtuos handhabte. Wie er es lebenslang praktizierte, so war auch für Kierkegaard die Bedingung wahrer, innerlicher Aneignung eines Textes das »wieder« Lesen und »neu Lesen«6 und »ein guter Leser zu sein […] eine Kunst«7 – eben die Kunst der aneignenden Wie-

3 14. Abt. S. 113. 4 19. Abt. S. 234 (Der Liebe Tun). Vgl. 16. Abt. S. 254. 5 16. Abt. S. 344. Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (1933). Frankfurt a.M. 1974 (stw 74). S. 46–51. 6 5. Abt. S. 75 und 76. 7 Ebd. S. 91.

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derholung, die die alten Texte fortschreibt.8 Und so suchen wiederum die Erbaulichen Reden meinen Leser […]; jenen Einzelnen, welcher mit bereitem Willen langsam liest, aufs Neue liest, und welcher laut liest – um seiner selbst willen.9

IV Den »Fähigkeiten und Neigungen, mit denen man […] lesen kann« (N II, 341,17f.) will freilich der Autor schon sich entgegen schreiben, damit es zur Zeugung im Geist des Lesers kommen und aus seiner Jungfernschaft ein Brautstand werden oder auch: der Leser als der »rechte Bräutigam« dem jungfräulichen Text die »Gelegenheit« abgewinnen kann. Daher heißt es bei Hamann, dass die Idee des Lesers [d. h. seine Idee vom Leser] die Muse und Gehilfin des Autors

sei (N II, 348,10). Der Autor schreibt so »an Niemand und an Zween« (N II, 57), d. h. eine Sprache für Eingeweihte, in verwirrender Unkenntlichkeit – für »den inspirierten Leser«.10 Damit sind wir bei Kierkegaards zweitem Buch, Furcht und Zittern (1843), dessen Motto aus Hamann genommen ist: Was Tarquinius Superbus in seinem Garten mit den Mohnköpfen sprach, verstand der Sohn, aber nicht der Bote. Hamann.11

Dieser hatte 1762 in der Hamburgischen Nachricht und der Göttingischen Anzeige darauf angespielt (N II, 248,37f. u. 255,20) und war in Briefen von 1763 deutlicher geworden (ZH II, 195,11–13 (Entwurf) u. 202,3lf; vgl. auch ZH VI, 496,10). Überhaupt zitierte Kierkegaard hauptsächlich aus Hamanns Briefen, die er offenbar – wie Goethe – besonders schätzte. Das Buch Kierkegaards, bei dem man sich an Hamanns verrätselnden, mimischen und »Heuschreckenstil« (ZH I, 379,24–27; N II, 107,21) mit seiner 8 Ein Preis der »tiefen Freude der Wiederholung« im Literarischen findet sich auch bei Ossip Mandelstam. In: Über den Gesprächspartner (Gesammelte Essays I). Hg. von Ralph Dutli. Zürich 1991. S. 85. Schon bei Novalis heißt es: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn«. In: Schriften. Bd. II. Hg. von R. Samuel u. a. Darmstadt 1965. S. 470 (125.). 9 18. Abt. S. 9 (1847); vgl. auch 5. Abt. S. 101! Hamann zur Wiederholung: N I, 124,17–21! 10 Ähnlich vom Verhältnis Autor – Leser Paul Valery: Werke (Frankfurter Ausgabe). Bd. 3. Frankfurt a.M. 1989. S. 73f.; der »Inspirierte Leser« wird auch Bd. 5 (1991). S. 149 erwähnt; vgl. dazu Ralf-Rainer Wuthenow: Paul Valery – zur Einführung (Junius. Hamburg 1997). S. 117 u. 125. Theologisch: Ulrich H.J. Körtner: Der inspirierte Leser. Göttingen 1994. 11 4. Abt. S. 2. Dies Motto geht auf Livius zurück: Ab urb. cond. I, 54; von Kierkegaard wiederholt 15. Abt. S. 345.

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gleichwohl »strengere(n) Logic und […] geleimtere(n) Verbindung« (ZH I, 378,24f.)12 wohl besonders stark erinnert sieht, ist Die Wiederholung (1843).13 Hier wird die Autorhandlung als solche enthüllt. Kierkegaard schreibt: (Indem ich nach Hamanns Beispiel) mit mancherlei Zungen mich ausdrücke, und die Sprache der Sophisten, der Wortspiele der Creter und Araber, Weißen und Mohren und Creolen rede, Critik, Mythologie, Rebus und Grundsätze durcheinander schwatze, und bald κατ᾽ ἄνθρωπον bald κατ᾽ἐξοχήν argumentiere.14

Dies steht ziemlich genau so in einem Brief an Lindner (18. August 1759; ZH I, 396,30–34)15 und beschreibt das Erscheinungsbild des Cento. Hamann hatte freilich vorausgeschickt: Ein Lay und Ungläubiger kann meine Schreibart nicht anders als für Unsinn erklären, weil […].16

Diesen Satz nimmt Kierkegaard etwas später im Buche wohl auf, wenn er dezidiert erklärt: ein Schriftsteller, welcher meiner Meinung nach am richtigsten handelt, wenn er gleich Clemens Alexandrinus auf die Art schreibt, daß die Ketzer es nicht verstehen können.17

Auch das ist ein Echo auf Hamann, der 1759 (1. Juni) an Lindner von einer ihn beeindruckenden Stelle aus Augustins Confessionen berichtet hatte18: Er bittet von Gott um eine solche Beredtsamkeit, daß der Ungläubige nicht seine Schreibart verwerfen könne, weil sie ihm zu schwer zu verstehen wäre, der Gläubige hingegen, wenn seine Denkungsart noch so verschieden wäre, doch einen Zusammenhang und eine gewisse Uebereinstimmung derselben mit den Worten des Schriftstellers erriethe (ZH I, 334,23–27).

Hamann eignet sich das dann so an: 12 Vgl. auch ZH I, 311,10f. 13 Dazu vom Vf.: Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Ein eschatologischer Versuch. In: Joachim Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff II. Tübingen 2005. S. 103–130. Kierkegaards Buch praktiziert die »Wiederholung«, indem er Hamann zitierend wiederholt. 14 5. Abt. S. 22. Natürlich spielt Hamann hier auch auf die Pfingstgeschichte an (vgl. Act. 2; bes. vv. 6–11). Gemeint ist eigentlich: nur für die Nichtglaubenden erscheint als Galimathias, was in Wahrheit die eine Sprache (Gottes) in vielerlei »Zungen« ist. 15 Von E. Hirsch nicht identifiziert (5./6. Abt. S. 153 A. 30). 16 ZH I, 96,29f. 17 5. Abt. S. 91. 18 Conf. XII 26, 36; zu der im Brief folgenden Stelle (ZH I, 334,28–335,8) vgl. Conf. XII 31, 42. Schon Johann Gerhard hatte in seinen Loci theologici (1610–22) geschrieben, die Dunkelheit einiger biblischer Schriftsteller solle u. a. die Heiden von eigener Erkenntnis abhalten (Loci I.1. II, 42, § 2) und sich dafür auf Augustin berufen (De doctr. chr. II, 6 u. Ep. 3, Ad Volusianum; vgl. PL 34, 38f. u. 33, 515–525).

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Sollte aber nicht ein ehrlicher Mann bisweilen eine Schreibart nöthig haben, die er lieber getadelt als gemisbraucht wünschen möchte, und wo er genöthigt ist zu wünschen: Ich will lieber gar nicht als unrecht verstanden werden (ZH I, 335,6–8).19

V Zum rechten Verstehen aber ist eine wesentliche Bedingung, darin sind sich Hamann und Kierkegaard gleichfalls einig, dass man sich selber recht verstehe.20 Und ein entscheidendes Moment im Sich-Verstehen ist eben, zwischen dem eigenen Verstehen und Nichtverstehen von etwas unterscheiden zu können. Im Motto zum Begriff Angst (1844) wird Sokrates antihegelianisch gepriesen vermöge seiner absonderlichen Unterscheidung, die er selber ausgesprochen und vollzogen hat, die erst der sonderliche Hamann 2000 Jahre später wiederholt hat: denn ›Sokrates ist dadurch groß gewesen, daß er unterschied zwischen dem, was er verstand und was er nicht verstand‹.21

Im Buche selber wird diese Unterscheidung dann noch einmal eingeschärft – mit der Bemerkung, »der einzige Ironiker«, das ist Sokrates, und »der größte Humorist«, das ist Hamann,22 hätten sich zusammengetan, um diese – an sich von selbst sich verstehende – Unterscheidung einzuschärfen.23 Kierkegaard bezieht sich hier natürlich frei auf die Sokratischen Denkwürdigkeiten und des nicht »gemeinen« Kunstrichters Sokrates Umgang mit Heraklits Schriften (N II, 61,23– 27). Doch der Bezug auf die Sokratischen Denkwürdigkeiten reicht noch weiter, wenn es im Begriff Angst heißt, dass selbst »der geistloseste Mensch wortwörtlich das Gleiche zu sagen vermöchte«,24 und dies später an dem Ausspruch »alles ist eitel« (Pred 1, 2) im Munde des ernsten Predigers (Salomo) und im Munde eines schwermütigen oder leichtsinnigen Witzlings illustriert wird,25 was genau so bei Hamann vorkommt (N II, 72,3–5), der es wohl von Young hat, den auch Kierkegaard sehr schätzte. Im übrigen endet der Begriff Angst mit einem anderen Hamann-Zitat, das für die ganze Schrift m. E. eine Schlüssel-

19 Jean Paul schreibt: »Im ganzen ist es daher recht, wenn alles Große […] nur kurz und dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber für Unsinn erkläre als in seinen Leersinn übersetze« (Vorschule der Ästhetik. In: Werke (Miller). Bd. 5. S. 388. 20 Vgl. auch N II, 70,33–71,4 sowie ZH I, 369,15f. (Gotteserkenntnis) und ZH VI, 343,7 (Autorschaft). 21 11. Abt. S. 2. Wiederholt: 16. Abt. (II). S. 269; 19. Abt. S. 257 und 24. Abt. S. 92. 22 Vgl. 11. Abt. S. 139 (mit A. 225) und Die Tagebücher. Bd. 1 (1962). S. 140 (II A 136). 23 Ebd. S. 97; vgl. S. 148. 24 Ebd. S. 97. 25 Ebd. S. 152.

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funktion hat.26 Zum Stichwort »Hypochonder«(!) setzt Kierkegaard folgende Fußnote: Daher nimmt Hamann das Wort Hypochondrie in einer höheren Bedeutung, wenn er sagt: ›Diese Angst in der Welt [vgl. Joh 16, 33] ist aber der einzige Beweis unserer Heterogeneität. Denn fehlte uns nichts, so würden wir es nicht besser machen, als die Heiden und Transzendental-Philosophen, die von Gott nichts wissen und in die liebe Natur sich wie Narren vergaffen; kein Heimweh würde uns anwandeln. Diese impertinente Unruhe, diese heilige Hypochondrie ist vielleicht das Feuer, womit wir Opfertiere gesalzen und vor der Fäulnis des laufenden seculi bewahrt werden müssen.‹27

Dies schrieb Hamann am 3. Juni 1781 an Herder über sich als ἑαυτοντιμωρούμενος (ZH IV, 301,33–302,2).

VI Ähnlich tief wie die Angst sitzt die existentielle Erfahrung der eigenen Unwissenheit28: »Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung« (N II, 73,10), also nach Hamann nahezu eine Leidenschaft.29 Wenn es um authentisches SichVerstehen geht, muss die Unterscheidungskraft zwischen Verstehen und Nichtverstehen tief im Selbst wurzeln.30 Ist es so, daß einerley Wahrheiten mit einem sehr entgegengesetzten Geist ausgesprochen werden können (N II, 72,4f.)

und dass das Wissen des Sokrates um die eigene Unwissenheit ihn »gleichgültig gegen das, was man Wahrheit hieß« machen musste (N II, 76,4),31 so kann es – wie im Falle von David Hume – »ein Zeugnis der Wahrheit in dem Munde eines Feindes und Verfolgers derselben« geben (ZH I, 356,21f.).32 Weil also die Wahrheit eine ist, »die im Verborgenen liegt« (N II, 77,7; vgl. Ps 51, 8) – Kier-

26 Vgl. Wilhelm Rodemann: Hamann und Kierkegaard. Gütersloh 1922. S. 29. 27 11. Abt. S. 168f. Was Hamann angeht, so ist im Zitierten die eschatologische Ausrichtung und mithin ein Bezug zur »Langen Weile« erkennbar. 28 Vgl. ZH I, 404,36f. 29 Vgl. dazu Kierkegaard. 24. Abt. S. 99! S. u. Anm. 50. 30 Vgl. ZH I, 427,10–13 (Lesen). 31 »Der Sokrates, dessen Denkwürdigkeiten ich geschrieben, war der gröste Idiot in seiner Theorie und der gröste Sophist in seiner Praxi« (ZH I, 428,34f.). Vgl. damit: »ich glaube wie Socrates alles, was der andere glaubt – und geh nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu stöhren. Dies muste der weise Mann thun, weil er mit Sophisten umgeben war« (ZH I, 377,26– 28). Vgl. Kierkegaard mit Berufung auf Hamann, 15. Abt. S. 110f. sowie Blaise Pascal: Pensées (Brunschvicg). Frgm. 420. 32 Zur Anwendung auf Vernunft = Gesetz, vgl. ZH I, 355,32–356,9 u. 379,30–35 (Hume) sowie N II, 73,29–74,5.

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kegaard wird behaupten: Die Wahrheit ist die Subjektivität bzw. die Aneignung33 –, ist verständlich, dass Hamann schreibt: ich höre öfters mit mehr Freude das Wort Gottes im Munde eines Pharisäers, als eines Zeugen wider seinen Willen, als aus dem Munde eines Engels des Lichtes (ZH I, 431,18– 20; an Lindner, 12. 10. 1759).

Genau diesen Satz führt Kierkegaard in den Philosophischen Brocken (1844) sinngemäß an.34 Und er gesellt dem – unter Bezug auf seinen Paradoxbegriff – gleich noch ein Hamann-Zitat bei: Komödien und Romane und Lügen müssen wahrscheinlich sein, aber wie sollte ich [– sagt das Paradox selber –] wohl wahrscheinlich sein.35

Hamann redet an der angeführten Stelle – abgesehen von anderen Abweichungen – von »den Wahrheiten und Grundlehren unseres Glaubens« (ZH I, 359,4), die nicht wahrscheinlich zu sein hätten, und zitiert vorher Tertullian: »Incredibile sed verum« (ebd. Z. 3),36 womit wir genau bei Kierkegaards Begriff des Absurden in den Philosophischen Brocken sind.37

VII In diesem Buch werden die sachlichen Berührungen mit Hamann überhaupt besonders deutlich. Ich kann nur auf drei Sachverhalte hinweisen. Erstens, der Titel. Natürlich denkt man an Hamanns Londoner Aufsatz von 1758 (N I, 298–309),38 der an Joh 6, 12 orientiert ist, wo es κλάσματα heißt (vgl. Mt 14, 20; Mk 8, 19 – so auch Luther). Hamann redet auch von »Brocken, Fragmenten, Grillen, Einfallen« in dem Brief an Lindner vom 12. Okt. 1759 (ZH I, 431,30), der nach meinem Eindruck für Kierkegaards Buch besonders anregend gewesen ist. Daneben gibt es auch den Ausdruck »Brosamen« (ψιχία; vgl. Mk 7, 28; Mt 15, 27; Lk 16, 21; Luther); Kierkegaards Titel wurde auch so übersetzt. Schließlich redet Hamann (am Schluss der Sokratischen Denkwürdigkeiten) selber von »Brosamen« (N II, 82,2)39 und zwar mit Bezug auf Platons Hippias mai. 33 Vgl. 16. Abt. (I). S. 179–245. 34 10. Abt. S. 50. Auch schon 1837/38; vgl. 30. Abt. S. 147 Fn. – es geht darum, »sich zu Kindern herabzulassen«, ebd. 35 10. Abt. S. 50. 36 De carne Christi 5. 37 10. Abt. S. 49. 38 Jacobi zitiert daraus in Allwill’s Briefsammlung. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Hg. von F. Roth u. F. Köppen. 1. Bd. (ND 1980). S. 131f. Kierkegaard konnte die Schrift in seiner Rothschen Ausgabe Hamanns lesen (Bd. I. (1821). S. 125–148). Joh 6, 8f. wird auch N II, 351 zitiert; vgl. ZH II, 175,16f. 39 Vgl. auch N III, 300,8 sowie 333,29 u. N IV, 385,30.

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304 a 6, wo es κνήσματα heißt, und genau diese Stelle hat Kierkegaard als Motto für die Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846) gewählt (16. Abt. (I). S. 2). Zweitens, Hamanns Einfluss ist unbestreitbar für das Hauptthema der Philosophischen Brocken: die Herablassung Gottes in Menschen- und Knechtsgestalt, um unser Lehrer, Offenbarer und Erlöser zu sein.40 Für Hamanns Kondeszendenz-Denken braucht es jetzt keine Einzelbelege.41 Nun geht es Kierkegaard bekanntermaßen hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit der Lessingfrage, die er so aufnimmt: Kann es einen geschichtlichen Ausgangspunkt geben für ein ewiges Bewußtsein; […] kann man eine ewige Seligkeit gründen auf ein geschichtliches Wissen?42

Seine christliche Antwort auf diese Fragen, die von einem geschichtlichen Anfangen des Ewigen in der Zeit ausgeht,43 hat aber durchaus auch mit Hamanns Rede von »zeitlichen und ewigen Geschichtswahrheiten« zu tun (N III, 311,37),44 die dieser in Golgatha und Scheblimini stark machte: Weil ich auch von keinen ewigen Wahrheiten als unaufhörlich Zeitlichen weiß […] (N III, 303,36f.).45

Die Philosophischen Brocken nennen dies das Paradox des Glaubens: Die Ewigsetzung des Geschichtlichen und die Geschichtlichsetzung des Ewigen.46

Kierkegaard hebt diese christliche Position ständig von der sokratischen ab, »dem griechischen Pathos der Erinnerung«,47 wonach Lernen wesentlich Anamnesis ist;48 auch Hamann streift diesen Gedanken schon: so ist doch lernen im eigentlichen Verstande eben so wenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung (N III, 41,11f.).49

40 Vgl. 10. Abt. S. 29f., 52 u. ö. 41 Nur auf Stellen wie N II, 68,32–35; 69,16–20 und ZH I, 343,2–4 sei hier ausdrücklich hingewiesen. 42 10. Abt. S. 1. 43 Ebd. S. 55 u. 106. 44 Vgl. auch N III, 304,32–305,6. 45 Kierkegaard, 10. Abt. S. 58f. u. 84! 46 Ebd. S. 58. 47 Ebd. S. 19. 48 Ebd. S. 7–11. 49 N II, 209, 16: »Gerade, als wenn unser Lernen ein bloßes Erinnern wäre […]«. Vgl. dazu im Narziß-Aufsatz o. in diesem Bande die Anm.n 23, 42, 50 u. 54.

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Drittens, Hamann hat bekanntlich das Christsein durch Leidenschaft gekennzeichnet (vgl. ZH I, 339,30f.; 428,21; 431,10–12).50 Scheint es zunächst so, dass für ihn gilt: Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder (N II, 197,22),

und dass der Zuordnung von Bild und Leidenschaft die von Begriff und Vernunft nur gegenübersteht (vgl. ZH V, 95,2–4), so kennt Hamann doch auch einen fruchtbaren Zusammenhang von Leidenschaft und Vernunft: Ein Herz ohne Leidenschaft, ohne Affeckt ist ein Kopf ohne Begriffe […]. Ob das Christentum solche Herzen und Köpfe verlangt, zweifele ich sehr (ZH 1, 428,21–23).

Dazu kommt die andere Stelle aus der Aesthetica: Leidenschaft allein gibt Abstractionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge (N II, 208,20–22).51

Schon bei Klopstock findet man den tiefsinnigen Vers: Der, leer des Gefühls, den Gedanken nicht erreicht.52

Für welchen Gedanken gelte das mehr als für den Gedanken Gottes! Die Leidenschaft des Glaubens verbindet sich also produktiv mit dem Verstand und seinen Begriffen.53 Kierkegaard nun bezeichnet in den Philosophischen Brocken den Glauben als die glückliche Leidenschaft für das Paradox.54 Aber das Paradox ist eben auch »des Gedankens Leidenschaft«,55 insofern es nämlich »des Denkens höchstes Paradox« ist: »etwas entdecken zu wollen, das es selbst nicht denken kann«.56 So ist die Leidenschaft des Glaubens vernünftig möglich, nämlich, wenn der Verstand und das Paradox in dem Augenblick glücklich aufeinander stoßen, wenn der Verstand sich selbst beiseiteschafft und das Paradox sich selbst hingibt.57

In solcher docta ignorantia koinzidieren Leidenschaft und Paradox, Glaube und der Verstand, der sich in seiner Grenze selber versteht. Verstehen und Nichtverstehen unterscheiden sich aneinander in der Selbstbegrenzung des Verstan50 51 52 53 54 55 56 57

Dazu Tom Kleffmann: Hamanns Begriff der Leidenschaft. In: Acta 2002. S. 161–178. Vgl. auch ebd. 208,11–15. Unsere Sprache (1767). In: Klopstocks sämmtliche Werke. Bd. 4 (Leipzig 1856). S. 195. 16. Abt. (I). S. 152 Fn. wird von Kierkegaard unter Berufung auf Plutarch gesagt, bei der ethischen Tugend seien die Leidenschaften die Materie, Vernunft die Form. 10.Abt. S. 56; vgl. S. 45f. u. 51. Ebd. S. 35. Ebd. Ebd. S. 55f. Zur genaueren Interpretation vgl. von Joachim Ringleben: Paradox und Dialektik. Bemerkungen zu Kierkegaards Christologie. In: Arbeit am Gottesbegriff II (Tübingen 2005). S. 131–145; hier: S. 136–139. Vgl. auch 16. Abt. (I). S. 269.

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des. So ist auch der Glaube angewiesen auf die »Leidenschaft der begrifflichen Unterscheidung«,58 die die »Leidenschaft der Philosophie« ausmacht,59 für die auch wieder der Unterscheidungsheros Sokrates einsteht, was wir vorhin schon erörtert haben.60

VIII Eine Unterscheidung gibt es in den Philosophischen Brocken selber, mit der Kierkegaard theologiegeschichtlich ungemein wirksam geworden ist: die schlechthinnige Verschiedenheit von Gott und Mensch,61 die allein der ParadoxGlaube zusammenhält.62 Sie kehrt in der Krankheit zum Tode wieder als der »unendliche qualitative Unterschied von Gott und Mensch«63 und ist von Karl Barth einseitig unter die Formationsbedingungen seiner neuen »dialektischen« Theologie gerechnet worden.64 Das Motiv geht, wie auch Martin Seils beobachtet hat,65 auf Hamann zurück, der in Golgotha und Scheblimini von dem »unendlichen Misverhältnisse des Menschen zu Gott« gesprochen hat (N III, 312,38),66 dabei aber – wie noch Kierkegaard67 – die Sünde im Blick hatte, was Karl Barth dann formalisiert hat. Aus Hamanns Golgatha und Scheblimini (1786) ist wohl auch der Ausdruck »bewaffnete Neutralität« (N III, 312,27f.) an Kierkegaard gelangt (vgl. Einübung im Christentum. 26. Abt. S. 285–291); er taucht freilich schon 1786 bei Lichtenberg im Göttinger Taschen-Calender auf,68 woher beide ihn haben könnten. Thomas Carlyle gebraucht ihn übrigens 1833/34 bzw. 1838 auch in Sartor Resartus III, 12.69 58 Kierkegaard. 10. Abt. S. 87. 59 11. Abt. S. 151 Fn. 60 Ebd. S. 2. Nach einer anderen Stelle in den Philosophischen Brocken macht zweierlei den guten Dialektiker aus: »das unerschütterliche Bestehen auf dem Unbedingten und den schlechthinnigen Begriffsunterschieden« (10. Abt. S. 106). 61 Ebd. S. 44 u. 45. 62 Vgl. ebd. S. 56. 63 24. Abt. S. 99; vgl. S. 118, 123, 129, 131 sowie in anderen Schriften Kierkegaards wie z. B. 20. Abt. S. 66; 26. Abt. S. 26, 62 u. ö. 64 Der Römerbrief. München 41926. S. XIII; vgl. S. 14, 73, 75 u. ö. 65 Martin Seils: Wirklichkeit und Wort bei Johann Georg Hamann. In: Rainer Wild (Hg.): Johann Georg Hamann. Darmstadt 1978 (WdF 511). S. 332f. Vgl. bei Luther: »summa dissimilitudo et contradictio immutabilis« (WA 40/II, 331,15 f.). 66 Vgl. dazu auch ZH V, 319,23–30 (Jacobi!) u. 329, 20–24. 67 10. Abt. S. 45. 68 Vgl. auch Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 3. Bd. München 1972. S. 951 u. 1031. 69 Ein zufälliger weiterer Beleg bei James Russel Lowell (1904) sei hier notiert. In: Vögel in der Weltliteratur. Hg. von F. Hindermann. Zürich (Manesse) 1986. S. 85.

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IX Ich muss jetzt leider manche weitere einzelne Berührungspunkte wie das Ärgernis,70 die Publikumsbeschimpfung71 oder auch die verborgene Lilie aus dem Hohenlied (7, 14; vgl. Sir 39, 18) 72 u. a. übergehen,73 um nur noch einen Punkt anzusprechen.74 In der umfänglichen Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846) findet sich eine zusammenfassende Charakteristik Hamanns durch Kierkegaard, die hier zum Schluss noch mitgeteilt werden soll. Ich möchte nicht verhehlen, daß ich Hamann bewundere, wenn ich auch gern einräume, daß der Elastizität seiner Gedanken die Gleichmäßigkeit und seiner übernatürlichen Spannkraft Selbstbeherrschung fehlt, falls er zusammenhängend hätte arbeiten sollen. Aber die Ursprünglichkeit des Genies ist da in seinen kurzen Worten, und die Prägnanz der Form entspricht ganz dem sprunghaften Herausschleudern eines Gedankens. Er ist mit Leib und Seele und bis zum letzten Blutstropfen in einem einzigen Wort zusammengefaßt, dem leidenschaftlichen Protest eines hochbegabten Genies gegen ein System des Daseins. Aber das System ist gastfrei! Armer Hamann, du bist von Michelet auf einen § reduziert worden […].75

Diese Klage ist bekannt; weniger bekannt ist, wie Kierkegaard schon in der Wiederholung sich mit Hamann solidarisiert hat: täte ich vielleicht am besten, wenn ich meinen Gedankenstrohhalm einem systematischen Gutachter einsendete, vielleicht könnte dann etwas aus ihm werden, eine Anmerkung im System – großartiger Gedanke! so hätte ich nicht umsonst gelebt! 76

Die »Schreibart des Liebhabers«, wie es Søren Kierkegaard als leidenschaftlicher Hamann-Leser war – lesend mit den »gewaffnete(n) Augen eines Freundes, eines 70 10. Abt. S. 46–51. und ZH I, 431,29 (NT). 71 Vgl. 26. Abt. S. 127–131; 33. Abt. S. 31–33; S. 110–112 und N II, 59f. 72 ZH I, 344,18–20; N II, 235,16 und 3. Abt. S. 381; 24. Abt. S. 136 (Regine!); vgl.18. Abt. S. 163–222 u. 20. Abt. S. 6–10. 73 Z. B. das Thema: Geld – Autor – Gebären (12. Abt. S. 217 und ZH V, 350,28–34) oder »Schlangenbetrug der Sprache« (12. Abt. S. 249 und N III, 298,3). 74 Weiterführende Literatur: Hans Emil Weber: Zwei Propheten des Irrationalismus. Neue Kirchliche Zeitschrift 28 (1917). Ab S. 23 u. ab S. 77; Fr. Schulze-Mainzinger: Hamann und Kierkegaard. In: Die Tat (1937); Nils Thulstrup: Incontro di Kierkegaard e Hamann. In: Studi Kierkegaardiani. Brescia 1957. S. 323–357; Steffen Steffensen: Hamann und Kierkegaard. In: Orbis litterarum 18 (1963), S. 399–417; Georg Baudler: »Im Wort sehen«. Bonn 1970. S. 317– 326; Ronald Gregor Smith: Hamann und Kierkegaard. In: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann). Hg. von Erich Dinkler. Tübingen 1964. S. 671–683. 75 16. Abt. (I). S. 242f. Vgl. Karl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Berlin 1837–38. Bd. I. Ab S. 339. 76 5. Abt. S. 22f. Vgl. auch 12. Abt. S. 216.

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Vertrauten, eines Liebhabers« (N II, 171,15f.) –, bedient sich hier derjenigen Figur, mit der schon Hamann als Leser einem noch größeren »Originalautor« nachgeeifert hatte (N II, 150,12 u. 14f.), der Figur des Metaschematismus (vgl. 1Kor 4, 6).

Nachweise

»Rede, daß ich dich sehe«. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken (1985). In: J. Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II. Tübingen 2005. S. 3–22. Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos. In: Acta 1992. S. 215–275. Hamanns Verhältnis zum Sakrament des Abendmahls. In: Johann Georg Hamann. Religion und Gesellschaft. Hg. von M. Beetz u. A. Rudolph (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 45). Berlin / Boston 2012. S. 196–207. Der »Eckelname« des Narziß. Interpretation einer rätselhaften Stelle in Hamanns Aesthetica in nuce. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1997. Tübingen 1997. S. 28–63. Wieder abgedruckt in: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II. Tübingen 2005. S. 54–87. Hamanns Michaelis-Rezension. Ungedruckter Vortrag (2019). Søren Kierkegaard als Hamann-Leser. In: Acta 2002. S. 455–466. Wieder abgedruckt in: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II. Tübingen 2005. S. 91–102.