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German Pages 395 [396] Year 2003
STEFFEN AUGSBERG
Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 925
Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft Möglichkeiten differenzierter Steuerung des Kapitalmarktes
Von Steffen Augsberg
Duncker & Humblot • Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11112-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2002 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Inauguraldissertation angenommen. Sie ist im wesentlichen während meiner Zeit am dortigen Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht entstanden. Zu danken habe ich an erster Stelle meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Eberhard Schmidt Aßmann. Seine methodische Stringenz, die von ihm gepflegte sprachliche Klarheit und sein Forschung wie Lehre gleichermaßen umfassendes Arbeitsethos waren Vorbild, Ansporn und Rückhalt. Herrn Privatdozent Dr. Christian Schubel schulde ich Dank für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens, Herrn Dr. Christoph Möllers, LL. M., für die freundschaftlich-kritische Durchsicht des Manuskripts. Dank sagen möchte ich auch meinen ehemaligen Kollegen, vor allem Frau Dr. Antje David, Frau Bettina Schöndorf-Haubold, Herrn Dr. Klaus Knipschild, Herrn Privatdozent Dr. Hans Christian Röhl sowie Herrn Dr. Johannes Junker. Mit ihm insbesondere habe ich Freud und Leid des Dissertierens geteilt und schon früh erkannt, daß wir später voll Wehmut auf die schöne Heidelberger Zeit zurückblicken werden. Die wissenschaftlich wie menschlich angenehme und bereichernde Atmosphäre am Institut werde ich immer in bester Erinnerung behalten. Schließlich danke ich meiner Freundin Barbara Mittler sowie meinen Eltern für ihre fortwährende Anteilnahme und Unterstützung. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. Hamburg, im März 2003
Steffen Augsberg
Inhaltsübersicht Einleitung
19 Erstes Kapitel Wirk- und Rahmenbedingungen
A. Begriffsklärung I. Recht II. Norm III. Rechtsnorm IV. Private V. Kapitalmarktrecht B. Wirkungen privater Normsetzung I. Fehlende Rechtsnormqualität ausschließlich privater Normen II. Sozial-normative Bindungswirkungen III. Normativität IV. Funktionen privater Normsetzung V. Rechtspraktische Analyse VI. Fazit C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung I. Regulierungstheoretische Analyse II. Verfassungsrechtliche Analyse III. Gemeinwohlkompatibilität als gesellschaftsgerichtete Anforderung IV. Kompensatorische Sicherungsmechanismen V Fazit D. Gesellschaftliche Anforderungen an private Normsetzung I. Kooperationsfähigkeit II. Kooperationswilligkeit (Gemeinwohlkompatibilität) III. Fazit E. Gesamtfazit
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Zweites Kapitel Typologie der Normsetzungsverfahren A. Zur Einordnung B. „Verstaatlichte" private Normsetzung I. Öffentlich-rechtliche Satzungen II. Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer III. Normsetzung durch die Börse
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Inhaltsübersicht
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen I. Inkorporation II. Verweisungen III. § 292 a HGB als normergänzende dynamische Verweisung? IV. § 342 II HGB als normkonkretisierende dynamische Verweisung? V. Die Harmonisierung der Rechnungslegung in der EU D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung I. Verbandsrecht II. Vertragsrecht E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit (Kodizes) I. Der Übernahmekodex II. Die Zuteilungsgrundsätze III. Corporate Governance Kodex IV. Ehrenkodex für Finanzanalysten
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Drittes Kapitel Normsetzungsstrategie
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A. Vom Pluralismus der Normsetzungsmechanismen zur Normsetzungsstrategie I. Status quo der Normsetzung im Kapitalmarkt II. Ziele normsetzungsstrategischen Vorgehens III. Vor-und Nachteile der Regelungsformen I V Fazit B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen I. Staatliche Auswahlsituation II. Regelungsbedürfnis („Ob") III. Erforderliche Intensität der Regelung („Wie") IV. Kontinuierlicher Beobachtungs- und Nachbesserungsprozeß V Fazit C. Ausblick
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Zusammenfassung
341
Anhang
351
Literaturverzeichnis
355
Sachverzeichnis
382
Inhaltsverzeichnis Einleitung
19 Erstes Kapitel Wirk- und Rahmenbedingungen
A. Begriffsklärung I. Recht 1. Friedensfunktion 2. Imperativer Charakter 3. Sanktionen als Kennzeichen des Rechts 4. Gewaltmonopol des Staates 5. Rechtsetzungsmonopol des Staates? 6. Ergebnis II. Norm III. Rechtsnorm IV. Private 1. Staat und Gesellschaft 2. Zum Begriff der privaten Norm 3. Privatrecht und öffentliches Recht V. Kapitalmarktrecht 1. Individualschutz 2. Funktionsschutz 3. Konnexität der Schutzgedanken B. Wirkungen privater Normsetzung I. Fehlende Rechtsnormqualität ausschließlich privater Normen II. Sozial-normative BindungsWirkungen III. Normativität IV. Funktionen privater Normsetzung 1. Standardisierung 2. Lückenschließung, Konkretisierung und experimentelle Normsetzung 3. Gesetzesverhinderung oder -beseitigung V. Rechtspraktische Analyse 1. Effizienz- und Effektivitätskriterien 2. Insbesondere: Internationalisierung, Europäisierung, Globalisierung a) Europäisierung b) Globalisierung c) Normsetzungspluralisierung 3. Pluralität der (privaten) Normsetzer VI. Fazit
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nsverzeichnis
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung I. Regulierungstheoretische Analyse 1. Krise des Rechts? 2. Lehren aus der Privatisierungsdiskussion a) Privatisierungstypen b) Private Normsetzung als Verfahrensprivatisierung? c) Ergebnis 3. Verantwortungsstufung bzw. Verantwortungsteilung 4. Verpflichtung auf das Gemeinwohl a) Staatliche Gemeinwohlverantwortung b) Kooperative Gemeinwohlkonkretisierung 5. Ergebnis II. Verfassungsrechtliche Analyse 1. Subsidiaritätsprinzip 2. Demokratieprinzip a) Demokratieverständnis des Grundgesetzes b) Art. 20 II GG c) Legitimationsniveau d) Legitimationsverantwortung e) Ergebnis 3. Rechtsstaatsprinzip a) Gewaltenteilung b) Bestimmtheit und Normklarheit c) Publizität d) Ergebnis 4. Grundrechtliche Aspekte a) Grundrechte als Abwehrrechte b) Grundrechte als Partizipationsrechte c) Staatliche Schutzpflichten 5. Ergebnis III. Gemeinwohlkompatibilität als gesellschaftsgerichtete Anforderung IV. Kompensatorische Sicherungsmechanismen 1. Gemeinwohlkompatibilität sichernde Bedingungen a) Etatisierung b) Materielle Steuerung aa) Ziel vorgaben bb) Steuernde Rezeption c) Prozeduralisierung und Organisation als Kompensationsfaktoren aa) Pluralistische Besetzung (Repräsentanz) bb) Distanz- und Neutralitätsschutz? cc) Transparenz und Publizität d) Aushandlung in privatautonomen Modellen e) Ergebnis 2. Grenzen der Partizipation 3. Umsetzung der Bedingungen
71 71 71 72 73 73 74 75 75 76 77 79 79 79 81 81 82 83 84 85 85 86 88 89 90 91 91 92 93 96 97 99 99 99 100 100 101 102 102 104 104 106 107 107 109
nsverzeichnis 4. Kontrolle, Revisibilität und Justitiabilität a) Eigen- und Selbstkontrolle b) Parlamentarische bzw. administrative Kontrolle c) Gerichtskontrolle d) Reduzierte Kontrolldichte e) Prozeduralisierung als Kompensationsfaktor f) Kontrolle durch die Öffentlichkeit V Fazit D. Gesellschaftliche Anforderungen an private Normsetzung I. Kooperationsfähigkeit 1. Organisationsfähigkeit 2. Organisations- und Beteiligungsdefizite 3. Trittbrettfahrerproblematik 4. Bereichsspezifische Anforderungen II. Kooperationswilligkeit (Gemeinwohlkompatibilität) III. Fazit E. Gesamtfazit
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Zweites Kapitel Typologie der Normsetzungsverfahren A. Zur Einordnung B. „Verstaatlichte" private Normsetzung I. Öffentlich-rechtliche Satzungen 1. Private als Träger der Satzungsautonomie? 2. Satzungsautonomie als Rechtsetzungsautonomie 3. Legitimation II. Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer 1. Die Kammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften a) Errichtung durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes b) Rechtsfähigkeit c) Mitgliedschaftliche Organisationsstruktur d) Doppelfunktion der Kammern 2. Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer a) Erlaß von Satzungen b) Verabschiedung von Richtlinien c) Legitimation aa) Demokratische Legitimation bb) Autonome (mitgliedschaftliche) Legitimation cc) Grenzen der autonomen Rechtsetzungsbefugnis d) Revisibilität aa) Berufsgerichtsbarkeit bb) Verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Satzungen e) Finanzierung der Wirtschaftsprüferkammer f) Ergebnis
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nsverzeichnis
3. Exkurs: Das System für Qualitätskontrolle (peer review) 147 a) Funktionieren des Systems für Qualitätskontrolle 148 b) Der Status der Prüfer für Qualitätskontrolle 149 c) Verfassungsmäßigkeit des Peer Review 151 4. Das Institut der Wirtschaftsprüfer 152 5. Die Kursmaklerkammer 153 III. Normsetzung durch die Börse 153 1. Die Rechtsnatur der Börse 154 a) Privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Organisation? 154 b) Die Börse als Anstalt oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts? ... 158 aa) Die Börse als Anstalt 158 bb) Die Rechtsfähigkeit der Börse 159 cc) Die Börse als Körperschaft 160 c) Zwischenergebnis 163 2. Der Erlaß der Börsenordnung als Rechtsetzung 163 3. Legitimation 164 a) Demokratische Legitimation 164 b) Autonome Legitimation 167 4. Revisibilität 169 5. Ergebnis 170 6. Exkurs: Auswirkungen einer möglichen Börsenreform 170 a) Privatrechtliche Satzung bzw. Vereinbarung 171 b) Erstreckungsvertrag 171 c) Kontrolle 172 d) Ausblick 173 C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen 173 I. Inkorporation 174 II. Verweisungen 175 1. Allgemeines zur Regelungsmethode 175 2. Statische Verweisung 176 3. Dynamische Verweisung 177 III. § 292 a HGB als normergänzende dynamische Verweisung? 179 1. Verfassungsmäßigkeit 180 2. Legitimation 181 a) Materielle Vorgaben 181 b) Formalien und Angabepflichten 184 3. Zur Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung 185 4. Ergebnis 185 IV. § 342 I I HGB als normkonkretisierende dynamische Verweisung? 186 1. Autonome Rechtsetzungsbefugnis 187 2. Beleihung 188 a) Voraussetzungen der Beleihung 188 b) „Besonders anerkannter Beliehener"? 190 3. Normkonkretisierende Verweisung 191 a) Gesetzliche Rechtsvermutung 192 b) Kompetenz zur Normkonkretisierung 193
nsverzeichnis 4. Gemeinwohlkompatibilität sichernde Bedingungen a) Gesetzliche Vorgaben b) Steuernde Rezeption aa) Die Bekanntmachung durch das Bundesjustizministerium bb) Kontrolle durch die Gerichte cc) Ergebnis c) Standardisierungsvertrag aa) Reichweite des Gesetzesvorbehalts bb) Allgemeinwohlverpflichtung cc) Unabhängigkeit (1) Organisatorische Unabhängigkeit (2) Personelle Unabhängigkeit dd) Besetzung ee) Beschlußfassung ff) Transparenz und Publizität (1) Öffentlichkeit des Verfahrens (2) Konsultationsrat gg) Informationspflichten hh) Dokumentationspflichten ii) Finanzierung (1) Mitgliedsbeiträge (2) Spenden (3) Verwertung der Arbeit (4) Alternative Finanzierungskonzepte (5) Abhängigkeit des DSR d) Internationale Vorgaben 5. Ergebnis V. Die Harmonisierung der Rechnungslegung in der EU 1. Frühere Harmonisierungsbestrebungen 2. Die Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 a) Vorgesehenes Verfahren aa) Sachverständigenebene bb) Regelungsebene b) Primärrechtliche Bedenken aa) Dynamische Verweisung bb) Stärkung der Kommission cc) Publikationserfordernisse c) Sachverständige Beratung 3. Ergebnis D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung I. Verbandsrecht 1. Allgemeines zur Regelungsmethode a) Begriff des privaten Verbandes b) Die Rechtsnormen der Verbände c) Legitimationsbedürftigkeit und Legitimation d) Korporatisierung und Kartellierung e) Revisibilität
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nsverzeichnis 2. Das Institut der Wirtschaftsprüfer a) Organe des IDW b) Normsetzung durch das IDW c) Internationale Harmonisierung 3. Die DVFA a) Die Standesrichtlinien der DVFA aa) Zur Erforderlichkeit eines Anforderungsprofils bb) Vereinsrecht und Wesentlichkeit cc) Rechtsnatur der Standesrichtlinien (1) Voraussetzungen der Verpflichtungserklärung (2) Auswirkungen möglicher späterer Änderungen der Richtlinien . dd) Ergebnis b) Sanktionierung und Revisibilität aa) Die Ehren- und Schiedsgerichtsordnung bb) Regelmäßige Selbstauskunft c) Ähnliche, parallel bestehende private Regelwerke aa) GAIP/AIMR bb) DEVFP cc) VTAD dd) Bundesverband Finanzdienstleistungen d) Private Zertifizierung aa) Grundgedanke und Funktionen der Zertifizierung (1) Zertifizierung als Wettbewerbsfaktor bzw. Sanktionsinstrument im Innenverhältnis (2) Zertifizierung als Anhaltspunkt für Anleger im Außenverhältnis bb) Zertifikate (1) DVFA (2) GAIP (3) DEVFP (4) VTAD cc) Anforderungen an Zertifizierungssysteme e) Pluralität der Regelwerke und Zertifikate aa) Qualitätswettbewerb bb) Informationslücke contra Erwartungslücke cc) Internationale Ausrichtung f) Ergebnis Vertragsrecht 1. Die Richtlinien für den Freiverkehr an der FWB a) Börsenrechtliche Struktur des Freiverkehrs b) Rechtscharakter der Freiverkehrsrichtlinien aa) Rechtsnorm sui generis bb) AGB c) Ergebnis 2. Das Regelwerk Neuer Markt a) Börsenrechtliche Struktur des Neuen Marktes b) Rechtscharakter des Regelwerks c) Insbesondere: Einseitige Änderungsmöglichkeit
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nsverzeichnis aa) Einseitiges Änderungsrecht der Deutsche Börse AG bb) Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten d) Ergebnis 3. Börsengeschäftsbedingungen 4. Börsenindizes (DAX, MDAX, SDAX) E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit (Kodizes) I. Der Übernahmekodex 1. Regelungsmaterie 2. Rechtscharakter des Übernahmekodex a) Normsetzungsgremium b) Fehlen einer Rezeptionsnorm c) Vertrag d) Faktische Bedeutung der Anerkennung 3. Probleme der fehlenden Rechtsverbindlichkeit 4. Die Übernahmerichtlinie a) Verlauf des Rechtsetzungsverfahrens b) Umsetzung durch den Übernahmekodex c) Ergebnis 5. Das Wertpapiererwerbs- und Übemahmegesetz (WpÜG) 6. Ergebnis II. Die Zuteilungsgrundsätze III. Corporate Governance Kodex 1. Grundsatzkommission Corporate Governance a) Regelungsmaterie und -ziele b) Rechtscharakter der Grundsätze aa) Normsetzungsgremium bb) Rechtsunverbindlicher Verhaltenskodex c) Einhaltung aufgrund öffentlichen Drucks d) Ergebnis 2. Parallele Regelungsbemühungen a) OECD-Grundsätze b) Berliner Initiativkreis c) Corporate Governance in der Europäischen Union d) Regierungskommission Corporate Governance aa) Erforderlichkeit eines einheitlichen Kodex bb) Organisation und Verfahren der Kommission cc) Implementation des Kodex 3. Deutscher Corporate Governance Kodex und TransPuG 4. Ergebnis IV. Ehrenkodex für Finanzanalysten 1. Kodex für anlegergerechte Kapitalmarktkommunikation a) Normsetzungsebene aa) Selbstverwaltungsstrukturen bb) Gesetzliche Regelung cc) Freiwilliger Verhaltenskodex b) Sanktionsebene c) Ergebnis
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nsverzeichnis
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2. Einbeziehung in das 4. FMFG 3. Ergebnis
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Drittes Kapitel Normsetzungsstrategie
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A. Vom Pluralismus der Normsetzungsmechanismen zur Normsetzungsstrategie I. Status quo der Normsetzung im Kapitalmarkt II. Ziele normsetzungsstrategischen Vorgehens III. Vor- und Nachteile der Regelungsformen 1. Öffentlich-rechtliche Satzungen 2. Verweisungen 3. Privatautonome Regelungen 4. (Unverbindliche) Kodizes I V Fazit B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen I. Staatliche Auswahlsituation II. Regelungsbedürfnis („Ob") III. Erforderliche Intensität der Regelung („Wie") 1. Hoheitliche Eigenerfüllung 2. Kooperative Aufgabenwahmehmung a) (Kapitalmarktrechtliches) Kooperationsprinzip? b) Funktionsadäquanz der Normsetzungsvarianten c) Gemeinwohlkompatibilität sichernde Bedingungen d) Erforderlichkeit eines Privatverfahrensrechts? e) Verwaltungsorganisatorische Begleitung IV. Kontinuierlicher Beobachtungs- und Nachbesserungsprozeß V Fazit C. Ausblick
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Zusammenfassung
341
Anhang
351
Literaturverzeichnis
355
Sachverzeichnis
382
Abkürzungsverzeichnis Im Text verwendete Abkürzungen entsprechen grundsätzlich den Vorschlägen von Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage Berlin New York 1993, und sind darüber hinaus bei der ersten Nennung erläutert. AICPA AIMR AltZertG BAFin BAKred BAV BAWe BKR BörsG BörsO BSK CEA CESR CFA CPA DAI DRSC DSR DSW DVFA DEVFP EFAA EFFAS EFRAG ESBG FEE FESCO FESE FMFG FWB GAIP GASB GASC GATT GEBC IAS 2 Augsberg
American Institute of Certified Public Accountants Association for Investment Management and Research Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (Zeitschrift für) Bank- und Kapitalmarktrecht Börsengesetz Börsenordnung Börsensachverständigenkommission Comité Européen des Assurances Committee of European Securities Regulators Chartered Financial Analyst Certified Financial Planner Deutsches Aktieninstitut Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee Deutscher Standardisierungsrat Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Assetmanagement Deutscher Verband Financial Planners European Federation of Accountants and Auditors for SMEs European Federation of Financial Analysts Societies European Financial Reporting and Advisory Group European Savings Banks Group Fédération des Experts Comtables Européens Forum of European Securities Commissions Federation of European Securities Exchanges Finanzmarktförderungsgesetz Frankfurter Wertpapierbörse German Association of Investment Professionals German Accounting Standards Board German Accounting Standards Committee General Agreement on Tariffs and Trade European Association of Cooperative Banks International Accounting Standards
18 IASB IASC IDW IFAC IOSCO KapAEG
KapCoRiLiG
KonTraG LSE NASD RWNM SEC SIA SMAX S ME TransPuG UEAPME UNICE VerkProspG VerkProspVO WpDRL WpHG WPK WPO WPOÄG WpÜG WTO
Abkürzungsverzeichnis International Accounting Standards Board International Accounting Standards Committee Institut der Wirtschaftsprüfer International Federation of Accountants International Organization of Securities Exchange Commissions Gesetz zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Konzerne an Kapitalmärkten und zur Erleichterung der Aufnahme von Gesellschafterdarlehen (Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz) Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Änderung der Bilanz- und der Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich des Anwendungsbereichs (90/605/EWG), zur Verbesserung der Offenlegung von Jahresabschlüssen und zur Änderung anderer handelsrechtlicher Bestimmungen (Kapitalgesellschaftenund Co-Richtlinie-Gesetz) Gesetz für Kontrolle und Transparenz im Untemehmensbereich London Stock Exchange National Association of Securities Dealers Regelwerk Neuer Markt Securities and Exchange Commission Securities Industry Association Small Caps Index Small and Medium-sized Enterprises Transparenz- und Publizitätsgesetz European Association of Craft, Small and Medium-sized Enterprises Union des Confédérations des l'Industrie et des Employeurs d'Europe Verkaufsprospektgesetz Verkaufsprospektverordnung Wertpapierdienstleistungsrichtlinie Wertpapierhandelsgesetz Wirtschaftsprüferkammer Wirtschaftsprüferordnung Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungsgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz World Trade Organisation
Einleitung Steuerungsaufgaben können ordnungsrechtliche Regulierung in Gesetzesform überfordern. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu1. Während sie allerdings zunächst bedeutete, in Ergänzung zur dominierenden parlamentarischen Gesetzgebung vereinfachte Rechtsetzungsverfahren auf der Ebene der Exekutive zu installieren, ist gegenwärtig vor dem Hintergrund allgemeiner staatlicher Kooperationsbestrebungen auch nach Möglichkeiten der Nutzung gesellschaftlichen Selbstregelungspotentials im Rahmen arbeitsteiliger Normsetzungsverfahren zu fragen. Begründen läßt sich dieses Kooperationsbedürfnis mit den deutlich gestiegenen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Sozial- und Erfüllungsstaates, der dadurch an die Grenzen insbesondere seiner finanziellen Belastbarkeit gelangt ist. Gleichzeitig werden Steuerungssachverhalte immer komplexer und weniger beherrschbar. Ursächlich sind daneben staatliche Informationsdefizite, Steuerungsunwilligkeit gesellschaftlicher Subsysteme sowie eine Ausrichtung gerade der Wirtschaft an internationalen Entwicklungen, die Anpassungen erfordern, bevor der nationale Gesetzgeber zu reagieren imstande ist. Speziell im Finanzmarktsektor verbindet sich eine rasch wachsende Institutionalisierung der Märkte und Marktteilnehmer mit einer immer stärkeren globalen Streuung der Kapitalanlage und -aufnähme. Neu entwickelte, innovative Finanzinstrumente entziehen sich den tradierten rechtlichen Parametern. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien führen zu beschleunigten Reaktionsgeschwindigkeiten der Marktteilnehmer und lockern bestehende lokale Bindungen. Es drohen regulatorische Arbitragesituationen. Die Unzufriedenheit mit der gesetzlichen steigert sich so zur Unzufriedenheit mit der rechtlichen Regelung2. In den letzten Jahren sind deshalb Mechanismen gesellschaftlicher Selbststeuerung und Selbstregulierung verstärkt in den Blickpunkt der wissenschaftlichen Diskussion geraten. Im Konflikt zwischen freier Entfaltung des Einzelnen und Ordnungsnotwendigkeit des Gesamtgefüges wird wie1 G. Jellinek , Gesetz und Verordnung, 369: „[...] ist das Gesetz doch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine abstrakte Regel, welche nicht die Flexibilität besitzt, sich den rasch wechselnden concreten Bedürfnissen des Staates anzupassen. Der Apparat der Gesetzgebung ist viel zu schwerfällig, um in jedem Fall mit der nötigen Schnelligkeit das Geeignete zu verfügen". 2 Die bisweilen beklagte sinkende Steuerungskraft des Rechts bezieht sich indes weniger auf das von Privaten gesetzte Recht als vielmehr auf die staatlichen Regelungsanstrengungen, weshalb eine Titulierung als sinkende Steuerungsfähigkeit des Staates - will man nicht Staat und Recht in eins setzen - vorzugswürdig wäre.
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Einleitung
der auf die Aktivierung privatinitiativer Steuerungs- und Kontrollmechanismen gesetzt. Gesellschaftliche Vorgänge sollen aus der Verantwortung des Staates herausgelöst und der Gesellschaft zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung (zurückbegeben werden. Dennoch kann und darf sich der demokratische Rechtsstaat seiner Verantwortung für das Gemeinwesen nicht gänzlich entziehen. Bloßes Lamentieren über die verlorene Steuerungskraft des Rechts führt hier nicht weiter. Es kommt darauf an, im individuellen Anwendungsfall nicht vor der Erwägung alternativer Regulierungsformen zurückzuschrecken. Das setzt die Bedeutung des Rechts nicht herab. Im Gegenteil sind die dem Recht - und nur dem Recht - inhärenten Steuerungsmöglichkeiten so einzusetzen, daß die hohen Anforderungen, mit denen unsere Verfassung staatliche Aufgabenwahrnehmung belegt, beibehalten werden können. Das muß auch für die hier betrachtete Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft gelten. Die Öffnung gegenüber privaten Handlungsbeiträgen ermöglicht es, deren Kreativität und Innovationsdynamik für die Normsetzung fruchtbar zu machen. Auf der anderen Seite können private Normsetzer durch die Kooperation mit staatlichen Stellen ihren Regelwerken zu rechtlicher Verbindlichkeit verhelfen. Öffentliches Recht und Privatrecht können zu diesem Zweck verschränkt zusammenwirken, indem das Privatrecht Strukturen der Selbstregulierung zur Verfügung stellt, das öffentliche Recht dagegen die Grenzen sowohl der Autonomie als auch der Überwachung bestimmt. Insbesondere die verschiedenen denkbaren und praktizierten Erscheinungsformen selbstregulativer Normsetzung und die staatliche Rechtsquellenlehre müssen systematisch stärker aufeinander bezogen werden. Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, hierzu einen kleinen Teil beizutragen, indem sie anhand von Beispielen aus dem Bereich des Kapitalmarktrechts verschiedene Regelungsvarianten auf ihre rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche, Zulässigkeit sowie auf ihre praktische Nutzbarkeit hin untersucht. Beide Elemente ergänzen sich, eine separate Prüfung scheidet aus. In der Verbindung eines allgemeinen mit einem besonderen Teil sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, Private in die Normsetzung als einem zentralen Element der Regulierung zu reintegrieren. Dabei wird die Notwendigkeit regulierender Eingriffe gerade in einem jungen, expandierenden, relativ unerfahrene und schutzbedürftige Bürger betreffenden Rechtsgebiet nicht grundlegend in Frage gestellt. Das Kapitalmarktrecht ist in Deutschland, anders als möglicherweise andere, klassische Referenzbereiche des Besonderen Verwaltungsrechts, nicht überreguliert. Die vorgestellten Möglichkeiten privater und kooperativer Normsetzungsverfahren eint, daß sie auf einem zuvor ausgemachten Regelungsdefizit beruhen, gleich, ob die konkrete Maßnahme eigeninitiativ oder durch staatliche Ingerenz erfolgt. Es geht der vorliegenden Schrift deshalb nicht um Deregulierung im Sinne von Regelungsabstinenz. Statt dessen richtet sich das Augenmerk auf differenzierte Formen der Regulierung, insbesondere der Selbstregulierung. Letztere ist in keinem Falle mit Deregulierung gleichzusetzen: Sie folgt dieser bisweilen nach, ist aber nicht an sie gebunden und führt auch nicht automatisch zu einer Entlastung des Staates.
Einleitung
Nach einer grundlegenden Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten gilt es zunächst, sich allgemein mit positiven und negativen faktischen und rechtlichen Aspekten privater bzw. privat-staatlich kooperativer Normsetzung sowie insbesondere deren (verfassungs-)rechtlichen Rahmenbedingungen vertraut zu machen. Diesem Zweck dient das erste Kapitel. Es liefert damit zugleich den Maßstab für die sich im zweiten Kapitel anschließende ausführliche Darstellung verschiedener kapitalmarktrechtlich relevanter Steuerungsmechanismen. Die dabei verwendete Typologie versucht, möglichst umfassend, wenn auch paradigmatisch, Kooperationsmechanismen aufzuzeigen und darf daher auch vor der Einbeziehung scheinbar altvertrauter Regelungsmechanismen nicht haltmachen. Gerade das Privatrecht mit seinen vielfältigen und individuell-flexiblen Steuerungsvarianten verdient stärkere Aufmerksamkeit aus der Perspektive eines übergreifenden Regelungskonzepts. Im dritten und Schlußkapitel soll versucht werden, auf den Erkenntnissen der ersten beiden Kapitel aufbauend Ansätze einer möglichen Normsetzungsstrategie zu skizzieren, die situationsabhängig nach dem jeweils funktionsadäquaten Normierungsinstrument forscht. Dabei geht es nicht um Plurifizierung des staatlichen Rechtsnormsetzungsprozesses. Das ist, wie nachfolgend gezeigt werden soll, nicht möglich. Vorstellbar ist es aber, nach Normsetzungsalternativen zu fragen und damit dem inhaltlichen „Wie" der Regulierung ein strukturelles „Wodurch" an die Seite zu stellen, das eine gezieltere Einbeziehung nichtstaatlicher Normsetzer umfaßt.
Erstes Kapitel
Wirk- und Rahmenbedingungen A. Begriffsklärung Vorab soll Klarheit über die der Untersuchung zugrunde gelegte Terminologie geschaffen werden. Soweit es sich bei den verwendeten Begrifflichkeiten teilweise um vielfältig einsetzbare Grundbegriffe handelt, muß eingestanden werden, daß eine abschließende Klärung an dieser Stelle nicht erfolgen kann. Indes bedarf es einer solchen auch nicht: Intendiert sind lediglich Arbeitsdefinitionen. Diese treten naturgemäß nicht mit dem Anspruch umfassender Bindung an, sondern sollen lediglich den folgenden Überlegungen eine Ausgangsbasis bieten und ihrem Verständnis dienen; jene Überlegungen gelten im wesentlichen entsprechend auch dann, wenn man von einem alternativen Begriffsverständnis ausgeht. In diesem Sinne werden in den Blick genommen die Begriffe des Rechts (I), der Norm (II) und der Rechtsnorm (III), des Privaten (IV) und des Kapitalmarktrechts (V). I. Recht Insbesondere die Beschreibung, was „Recht" ist, ist kaum im Rahmen dieser Untersuchung zu leisten. Ungeachtet der Frage, ob der Begriff einer allgemeinen Definition überhaupt zugänglich ist oder sich doch zumindest immer nur in Zusammenhang mit seinen konkreten Wirkbedingungen verstehen läßt1, kann es hier einzig darum gehen, sich ihm durch einige Beobachtungen der Funktionen und Eigenheiten von Recht zu nähern, um damit jene Rückschlüsse auf das Verhältnis von Staat und Recht zu gewinnen, die für die Einordnung der privaten und der staatlich-privat kooperativen Normsetzungsmechanismen entscheidend sind. 1. Friedensfunktion
Das Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft wird geprägt von sich aus sozialen Kontakten notwendig ergebenden Spannungen und Konfliktmöglichkeiten. Es bedarf eines ordnenden Mediums, um es in allgemein wohl verträgliche, geordne1
Vgl. nur die Darstellung des Definitionsproblems bei K.F. Röhl , Rechtslehre, 9 ff. Eine allgemeine Definition hält er für „wenn nicht überflüssig, so doch ziemlich unwichtig", da der Rechtsbegriff sich im jeweils konkreten Zusammenhang präzisieren lasse, dort, 57.
A. Begriffsklärung
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te Bahnen zu lenken. Dieses Mittel ist das Recht, dessen Hauptaufgabe in der Schaffung und Erhaltung einer gesellschaftlichen Friedens- und Schutzordnung liegt2. Das Recht wirkt zunächst präventiv konfliktvermeidend, insofern es normative Verhaltensmuster vorgibt. Daneben kommt ihm repressive Bedeutung im Rahmen der Konfliktschlichtung und gegebenenfalls der Bestrafung von Übertretungen des rechtlich Vorgeschriebenen zu. Voraussetzung hierfür ist es, daß sich die Rechtsordnung gegenüber anderen sozialen Systemen durchsetzt. 2. Imperativer Charakter Mit der Ordnungsfunktion einher geht ein grundlegendes Kennzeichen des Rechts: Recht ist prinzipiell imperativ, nicht bloß deskriptiv. Rechtliche Regeln sollen nicht etwas beschreiben, sondern etwas vorschreiben 3. Reale ökonomische, technische und soziale Bedingungen des Gemeinwesens sind a priori vorgegeben und daher kein Regelungsthema4. Die Grundbausteine der Rechtsordnung sind vielmehr jene Rechtssätze, in denen die Rechtsgemeinschaft den Rechtsunterworfenen ein bestimmtes Verhalten abverlangt (Gebote) bzw. untersagt (Verbote)5. Die zentrale Ausrichtung auf diese Grundformen rechtlichen Handelns ist dennoch nicht einer Auswahl in dem Sinne gleichzusetzen, nur solche konkreten Rechtsbefehle seien als der Rechtsordnung zugehörig zu betrachten, die selbst ein Gebot oder Verbot enthalten. Eine solche Betrachtungsweise verengte die Zuordnung in unnötiger und unzulässiger Weise, indem sie beispielsweise Verfahrens- oder Kompetenznormen, Vorschriften über Organisation oder Legaldefinitionen ausklammerte6. Diese sind jedoch immer im Zusammenhang mit den durch sie vorbereiteten Rechtsakten zu verstehen; sie sind notwendiger Bestandteil eines in seiner Gesamtheit imperativ ausgerichteten Rechtssystems7.
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Meyer-COrding, Rechtsnormen, 3; G. Müller, Rechtssetzungslehre, Rn. 14ff. Unzulässig wäre der Schluß von einem tatsächlichen Verhalten auf eine noch nicht bestehende Norm: Vom Sein kann nicht auf das Sollen geschlossen werden, Kelsen, Normen, 3. Hiervon zu unterscheiden ist die normative Kraft des Faktischen, die Regelbildung teils anregt, teils verhindert, aber nicht ersetzt. Dazu G. Jellinek, Staatslehre, 337 ff. 4 Isensee, HStR I, § 13 Rn. 129. Zur Dichotomie Sein und Sollen vgl. Kantorowicz, Begriff des Rechts, 40 ff. sowie die Darstellung bei K. F. Röhl, Rechtslehre, 109 ff. m. w. N. Zum Einfluß der Wirklichkeit auf das Recht W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 13 ff. 5 Ausführlich K.F. Röhl, Rechtslehre, 200 ff. 6 Die Funktion einer Rechtsnorm muß daher nicht auf Ge- oder Verbieten beschränkt sein, sondern kann auch Ermächtigen, Erlauben und Derogieren umfassen, Kelsen, Reine Rechtslehre, 4f., 15f., 57f., 73; ders., Normen, Anm.76 a. E.; vgl. Jesch, Gesetz und Verordnung, 145f.; K.F. Röhl, Rechtslehre, 209ff. 7 F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 32f.; vgl. W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 112. Enger (zu eng) Thon, Rechtsnorm, 2f., 7 f. Zu den der Festlegung von Grundentscheidungen dienenden sog. Bestimmungsnormen nur H. Schneider, Gesetzgebung, 11 f. m. w. N. 3
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
3. Sanktionen als Kennzeichen des Rechts Soll die Rechtsordnung wirklich friedenstiftende Wirkung entfalten, ist es erforderlich, ihren Imperativen zu möglichst unbedingter Durchsetzbarkeit zu verhelfen. Die von ihr postulierten Anforderungen müssen allgemeinverbindlich gelten, d. h. grundsätzlich von allen Rechtsunterworfenen befolgt werden8. Einzelne Zuwiderhandlungen vermögen die allgemeine Geltung nicht zu unterminieren, solange die Rechtsgemeinschaft insgesamt sie nicht akzeptiert, sondern mit Sanktionen belegt9. Diese negative Reaktion auf ein sich den aufgestellten Regeln widersetzendes Verhalten ist ein notwendiges Merkmal der Rechtsordnung. Sie ist jedoch kein allein dem Recht vorbehaltenes Charakteristikum. Auch soziale bzw. moralische Anforderungen können mit Sanktionen versehen sein und sind dies auch regelmäßig 10. Sie können zudem über das rechtliche Geforderte hinausgehen; und sie werden nicht nur unter Umständen ebenso streng beachtet, sondern es kann sogar zu Situationen kommen, in denen sittliche und rechtliche Anforderungen miteinander kollidieren und sich erstere gegenüber letzteren durchsetzen11. Trotzdem ist die Sanktion von besonderer Bedeutung für das Recht. Denn der Rechtsetzer bringt erst durch die Sanktionierung zum Ausdruck, daß das von ihm formulierte Sollen nicht einen irrelevanten und ignorierbaren Wunsch, sondern ein rechtlich verbindliches Ge- oder Verbot darstellt. „Das Recht gebietet ein bestimmtes Verhalten nur dadurch, daß es an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft, so daß ein bestimmtes Verhalten nur dann als rechtlich ,geboten', als Inhalt einer ,Rechtspflicht', angesehen werden kann, wenn sein Gegenteil die Bedingung ist, an die eine Norm eine Sanktion knüpft" 12 . Die Pflicht folgt aus der 8
Luhmann, Legitimation, 114: „notwendige Intoleranz des Rechts gegen Verstöße". F.Kirchhof Private Rechtsetzung, 45ff. 10 Wie in der Rechtsordnung gilt auch hier, daß Schwere des Verstoßes und der Sanktionierung korrelieren, vgl. Opp, Entstehung sozialer Normen, 219f.: „Je größer die negativen Externalitäten sind, die durch einen Normbruch verursacht werden, desto größer sind auch die negativen Extemalitäten, die dem Normbrecher auferlegt werden dürfen". 11 Krüger, Staatslehre, 499 unter Hinweis auf die Nichtbeachtung des Duellverbots. Das Beispiel weist allerdings bereits darauf hin, daß es sich hierbei um eng umgrenzte Ausnahmefälle handeln dürfte, die eine besonders strikte (unter Umständen fragwürdige) Moral- bzw. Ehrvorstellung voraussetzen. Aus jüngerer Zeit sind v. a. Konfrontationen zwischen rechtlichen und religiösen Anforderungen zu nennen. Grundsätzlich sind solche Kollisionsfälle zugunsten des Rechts zu lösen. Anderes kann nur gelten, wenn die sozialen Konventionen ihrerseits grundrechtlich fundiert und daher staatlicherseits zu achten sind. Als grundlegender Unterschied wird teilweise auch geltend gemacht, daß sich moralische Anforderungen regelmäßig auf das innere Verhalten bezögen, rechtliche dagegen auf das äußere Verhalten beschränkt seien, vgl. nur Kantorowicz, Begriff des Rechts, 56 ff. Tatsächlich ist dem Recht die innere Einstellung gleichgültig, solange sich das äußere, gesellschaftliche Interaktion erzeugende und somit sozial relevante Verhalten in den vorgegebenen Maßstäben bewegt. Umgekehrt kann hingegen eine moralische Verpflichtung auch über die innere Geisteshaltung hinausgehen. Zur Möglichkeit selbständiger billigender oder mißbilligender Gesetze W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 110 f. 12 Kelsen, Normen, 115; ähnlich W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 110f. 9
A. Begriffsklärung
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Bestrafung des widerstrebenden Verhaltens . Im Gegensatz hierzu besteht in der moralischen bzw. sozialen Ordnung ein solch zwingender Zusammenhang zwischen Norm und Sanktion nicht: Ein Verhalten ist nicht erst deshalb moralisch verboten, weil es mit Sanktionen wie öffentlicher und allgemeiner Mißbilligung versehen ist, sondern das Verbot ergibt sich ebenso wie das Gebot der Mißbilligung unmittelbar aus den Anforderungen der Moralordnung 14. Zudem beschränkt sich die soziale Reaktion nicht auf negative Reaktionen auf normwidriges, sondern beinhaltet auch positive Reaktionen auf normgemäßes Verhalten 15. Dem moralischen Tadel korreliert das moralische Lob, die moralische Auszeichnung. Hier ist allerdings eine Anpassung der Rechtsordnung zu beobachten, die in zunehmendem Maße die Bedeutung positiver Anreize erkennt und diese in Ergänzung zur negativen Sanktionierung als Steuerungsmittel einsetzt16. 4. Gewaltmonopol des Staates Wichtiger noch als die besondere Bedeutung der Sanktion für das Recht ist die besondere Qualität der rechtlichen Sanktionen, d. h. die dem Recht vorbehaltene Sanktionierung mit Zwangsakten. Als grundlegende Regeln des menschlichen Zusammenlebens („ethisches Minimum") bedürfen die rechtlichen Bestimmungen einer besonderen Vollzugsgarantie. Im Gegensatz zu sozialen können rechtliche Verhaltensanforderungen daher auch unter Anwendung physischer Gewalt durchgesetzt werden, wenn sie auf Widerstand stoßen. Die Rechtsordnung unterscheidet sich von anderen sozialen Ordnungen mithin primär dadurch, daß sie neben der Normbildung die Sanktionierung in besonderer Weise institutionalisiert und mit einer potentiellen Durchsetzung mit Gewalt verbunden hat. Recht ohne (potentiellen) Rechtszwang ist ein Widerspruch in sich 17 . Es erscheint zwar vorstellbar, daß verschiedene als Normsetzer agierende Gruppen auch die gewaltsame Durchsetzung selbst in die Hand nehmen, sofern sie über die hierfür real erforderlichen Machtmit13 Dies hat auch Auswirkungen auf die Normformulierung, die dahingehend vereinfacht wird, daß die gesonderte Festlegung des primären Ge- oder Verbots in der sekundären Sanktionierung aufgeht. Beispielhaft vergegenwärtige man sich, daß das StGB keine Vorschrift enthält, die „Du sollst nicht töten!" fordert, sondern daß die §§211 ff. StGB nur sich an eine dieses inzident zu prüfende Verbot mißachtende Verhaltensweise anknüpfende Strafen, also Sanktionen beinhalten („Der Mörder wird [...] bestraft"). Vgl. Kelsen, Normen, 115. 14 Kelsen, Normen, 78, 116; hingegen unterstreicht Thon, Rechtsnorm, 5 ff. die auch der „nackten", i.e. sanktionslosen, Norm innewohnende „ideale Macht" und „Wucht des allgemeinen Willens". 15 Kelsen, Normen, 18 f. 16 V. a. die Subventionsgewährung ist hier zu nennen. Zwischen positiver und negativer Reaktion liegt die kartellrechtliche „Bonusregelung", vgl. Bundesanzeiger vom 4.5.2000, Nr. 84, 8336 (zuvor schon ABl. EG 1996 Nr. C 207/4). Insgesamt zweifelnd allerdings K.F. Röhl, Rechtslehre, 187, der als Beispiel für eine positive Sanktion im Recht allenfalls den Finderlohn des §971 BGB gelten lassen will. 17 Anders Thon, Rechtsnorm, 7: „Der Zwang ist kein wesentlicher Bestandtheil im Begriffe des Rechts".
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
tel verfügen. Im modernen Staat hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, daß der physische Zwang nicht Aufgabe und auch nicht Option Privater ist, sondern nur die staatlichen Organe berechtigt sind, Gewalt auszuüben18. Keine Einzelperson, keine Gruppe und kein Verband kann sich hoheitliche, richterliche, polizeiliche oder militärische Macht bzw. Rechte anmaßen. Allein der Staat darf Gesetz und Recht notfalls gegen Widerstrebende auch mit Gewalt durchsetzen19. Dieser als Gewaltmonopol des Staates hinlänglich bekannte Grundsatz ersetzt die sich aus einer Belassung im Bereiche des Privaten ergebende Unsicherheit, die letztlich zu einem Recht des Stärkeren führte, und ermöglicht so erst die Entfaltung und allgemeine Geltung des Rechts. Der Gedanke einer monopolisierten Berechtigung zur Anwendung von Gewalt wirkt befriedend und herrschaftssichernd; ihm folgt der staatliche Anspruch, verbindlich und allein über das Schicksal anderer entscheiden zu können, ohne im Einzelfall an deren Zustimmung gebunden zu sein. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes wird diese Befugnis zur Machtausübung über Menschen durch die rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Bindungen beschränkt, vor allem aber durch die im Erfordernis demokratischer Legitimation liegende Rückbindung an den Volkswillen abgemildert. Das Gewaltmonopol ist dennoch nicht auf das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament beschränkt. „Rechtsunterworfenheit ist nicht nur die Subordination unter ein sich von selbst vollziehendes Gesetz, sondern setzt sich in der Subordination unter die gemäß gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage bestehenden Entscheidungsbefugnisse der Verwaltung und der Gerichte fort" 20 . Auch Verwaltung und Gerichte üben Staatsgewalt aus; auch sie müssen mithin eine demokratische Legitimation aufweisen, sind aber auch - in den ihnen von der Verfassung gesetzten Grenzen - zur Rechtsetzung befähigt 21. 5. Rechtsetzungsmonopol des Staates? Ergibt sich folglich aus dem staatlichen Gewaltmonopol, daß zu einer gewaltsamen Durchsetzung von Normen nur dem Staat eingegliederte oder von ihm explizit beauftragte Personen oder Institutionen, also Hoheitsträger, befugt sind, und sieht man diese Möglichkeit der gewaltsamen Sanktionierung von Verstößen als das prä18 Ausführlich Isensee, FS Sendler, 39 ff. Kritisch zur Herleitung aus Staatstheorie bzw. Rechtsstaatsprinzip C. Möllers, Staat als Argument, 272ff., vgl. auch dort, 303. 19 Daraus folgt zugleich, daß private Regelbildung als soziale, nicht jedoch physische Gewaltausübung nicht mit dem staatlichen Gewaltmonopol in Konflikt gerät, F. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, 119; Ossenbühl, HStR III, §61 Rn.31. 20 Schmidt-Aßmann, DVB1 1989, 539. 21 Der Begriff der Rechtsetzung bereitet Probleme, als er sich bisweilen nicht scharf abgrenzen läßt. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung ist umstritten, vgl. G. Müller, Rechtssetzungslehre, Rn. 26 ff. Schon der Begriff der „Rechtsfindung" läßt aber einen Schluß auf das schöpferische Potential der Rechtsanwendung zu, vgl. Taupitz, Standesordnungen, 1102 ff. m. w. N. In der klassischen Rechtsquellenlehre wird dennoch eine allgemeine Geltung verlangt, wofür Verträge, Verwaltungsakte und ähnlich individuell-konkrete Maßnahmen nicht ausreichen sollen. Dazu K. F. Röhl, Rechtslehre, 16f., 531 ff.
A. Begriffsklärung
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gende Merkmal des Rechts an, könnte hieraus auf die Unzulässigkeit privater Rechtsetzung geschlossen werden. Es bestünde ein staatliches Rechtsetzungsmonopol. Indes ist in der Rechtspraxis private Rechtsetzung vielfältig nachweisbar. Sie erfolgt insbesondere unter Zuhilfenahme der Kategorie des Vertrages. Dabei ist es der Vertrag selbst, der bindendes Recht schafft. Denn die Rechtsbeziehung zwischen den Parteien besteht aufgrund der spezifischen zwischen ihnen getroffenen Vereinbarung, nicht etwa aufgrund der gesetzlich vorgesehenen speziellen Vertragsvarianten bzw. der in den §§ 241, 311 BGB (i.V. m. Art. 21GG) enthaltenen Möglichkeit, Verträge auch eigener Art abzuschließen22. Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung fallen hier zwar auseinander. Eine derartige personelle und sachliche Divergenz zwischen Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung stellt jedoch in der deutschen Rechtsordnung keinen außergewöhnlichen oder gar unzulässigen Einzelfall dar; im Gegenteil beruht das Zivilrecht mit dem es beherrschenden Grundsatz der Privatautonomie im wesentlichen auf eben dieser Unterscheidung, nach der sich staatliche Stellen aus den Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern solange heraushalten, als weder eine Entscheidung zwischen zwei einander widersprechenden Positionen noch eine Durchsetzung gegen einen sich sträubenden Rechtsbrecher erforderlich ist. Ohne die Inanspruchnahme einer staatlichen Rahmenordnung wäre es den Privaten jedoch nicht möglich, Recht zu setzen. Die auf Einzelfälle beschränkte freiwillige Beachtung allein schafft keine Rechtsverbindlichkeit. Die Verträge „gelten" nur, d. h. sie können vor staatlichen Gerichten und notfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Zwangsmaßnahmen nur durchgesetzt werden, weil und solange sie sich im Rahmen des gesetzlich Vorgegebenen halten23. Privatautonomie ist letztlich nichts anderes als die von der Rechtsordnung gewährte Ermächtigung zum Vertragsschluß 24. Rechtsgeschäfte sind keine Rechtsquellen25. Dies zu erkennen bereitet gerade im allgemeinen Zivilrecht Schwierigkeiten, das sich von der Statuierung strenger Anforderungen gelöst hat und weitgehend auf die Aushandlung zwischen den Parteien setzt26. Dennoch gilt 22
Vgl. Meyer-COrding, Rechtsnormen, 13 ff. Zur Privatautonomie statt vieler nur Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 15 ff. m. w. N.; Manssen, Privatrechtsgestaltung, 126ff. Nicht unter die tradierten Vertragsformen zu subsumieren sind z.B. Koalitionsvereinbarungen, denen keine rechtliche, sondern nur politische Verbindlichkeit eignet. Zum Verhältnis Verfassung/Privatautonomie Ruffert, Eigenständigkeit des Privatrechts, 55 ff., 59. 23 Mißverständlich Hoeren, Selbstregulierung, 359: „Private können kein Recht,setzen', da ihnen die Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung mittels staatlicher Organe fehlt. Sie können nur Regelungen schaffen, die der Staat als Grundlage von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen anerkennt". Dem Staat steht es nicht mehr frei, über die Anerkennung zu entscheiden, wenn er sich durch die Bereitstellung einer Rahmenordnung selbst gebunden hat. Rechtsetzung beinhaltet die Möglichkeit, staatliche Organe (v. a. die Gerichte) zu verpflichten. 24 K.F. Röhl, Rechtslehre, 210. Vgl. F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 38 f.; H. C. Röhl, VerwArch 86 (1995), 539; Thon, Rechtsnorm, 12 f. Nach a. A. liegt keine Ermächtigung, sondern eine staatliche „Anerkennung" vor, Ruffert, Eigenständigkeit des Vertragsrechts, 55 m. w.N.; Taupitz, Standesordnungen, 598 ff. m. w. N. - i. E. dürften sich kaum Unterschiede ergeben. 25 Vgl. nur Taupitz, Standesordnungen, 550ff., 558 m. w.N. 26 Aktuell sind aber teilweise Tendenzen in Richtung einer stärkeren staatlichen Vörformung der Privatrechtsverhältnisse zu beobachten: So stellt beispielsweise die Schuldrechtsmoderni-
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
auch hier, daß die Erlangung der Rechtswirksamkeit die Konformität mit den Anforderungen der Rechtsordnung erfordert. Damit läßt sich eine allgemeingültige Aussage treffen: Die Entscheidung darüber, ob eine Regel der Rechtsordnung zugehörig ist, steht dem Staat als Inhaber des Gewaltmonopols und Garanten der Rechtsordnung zu. Denn die Letztverbindlichkeit der Regeln fordert nicht nur eine fest strukturierte, in Aufgabe und Verfahren festgelegte und die gesamte Rechtsordnung umfassende Organisation, sondern vor allem die Verantwortlichkeit des Trägers der höchsten Gewalt. Berufen zur Bestimmung dessen, was zur Rechtsordnung gehört, ist folglich nur „der Staat als der Gebietsverband, der von allen anderen Gruppen unabhängig und ihnen übergeordnet ist" 27 . Die Zuerkennung von Rechtsverbindlichkeit ist Teil der staatlichen Souveränität. Daß sie teilweise Selbstbeschränkungen enthält, wie sie insbesondere die Freiheitsgrundrechte darstellen, ist kein Argument gegen, sondern spricht für diese Souveränität 28. Gleiches gilt für die Selbstbindung des Staates, die aus der Zurverfügungstellung einer rechtlichen Rahmenordnung resultiert 29. Der Staat besitzt damit zwar kein Rechtsetzungsmonopol im engeren Sinne, da Rechtssätze auch von Privaten erlassen werden können, sofern ihnen die staatliche Rechtsordnung die Möglichkeit, d. h. die entsprechenden Rechtsformen, hierzu offeriert. Monopolisiert ist aber die Zuerkennung des Rechtscharakters (Rechtserzeugung)30. Der moderne Staat und das Recht stehen demnach in einer besonderen Beziehung, einem Abhängigkeitsverhältnis, zueinander: Das Recht bildet eine den Staat erhaltende und kennzeichnende, aber auch voraussetzende Ordnung.
sierung als bei weitem bedeutsamste gesetzgeberische Reformanstrengung der jüngeren Zeit auf dem Gebiet des Privatrechts in den geänderten Vorschriften des Kaufrechts auf das Leitbild eines Verbrauchervertrags ab. Da dessen Vorschriften weitgehend nicht disponibel sind, wird zugunsten des für schutzwürdig und -bedürftig erachteten Verbrauchers die privatautonome Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. Vgl. hierzu nur die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 14/6040, 80 sowie den Überblick bei Schubel, JuS 2002, 313 ff. 27 F.Kirchhof\ Private Rechtsetzung, 50f. m. w. N.; vgl. dort, 116ff., 133, aber auch 124 m. w. N.: „Der Träger der Rechtsordnung muß (jedoch) nicht notwendig zugleich einzige Rechtserzeugungsquelle sein". Vgl. auch Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 18; Marburger, Regeln der Technik, 352f.; Meyer-Cording, Rechtsnormen, 25, 57; Ossenbühl, HStR III, § 61 Rn. 31: Rechtsetzungsmacht des Staates muß allen anderen normsetzenden Stellen im Staat übergeordnet sein. Pointiert O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 87: „Für uns gibt es kein Recht ohne die öffentliche Gewalt". 28 F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 51 m. w.N.; hierzu allgemein G. Jellinek, Staatslehre, 367 ff. 29 Vgl. Ossenbühl, HStR III, §61 Rn.31. 30 F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, passim, insbesondere 48f. (wenn auch terminologisch abweichend, vgl. dort, 124); Kloepfer/Eisner, DVB1 1996, 968; Taupitz, Standesordnungen, 594ff., jeweils m. w.N. auch zur Gegenansicht (strenges Rechtsetzungsmonopol).
A. Begriffsklärung
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6. Ergebnis Letztlich kann somit an einer klassischen Beschreibung von Recht festgehalten werden: Recht ist die Gesamtheit der Normen und Einzelakte, die eine Verhaltensanforderung enthalten oder konkrete Rechte oder Pflichten begründen und notfalls mit staatlichen Zwangsmitteln durchsetzbar sind 31 . Zu Recht werden sie dadurch, daß der Staat sie als Bestandteil der Rechtsordnung anerkennt. I I . Norm Der Normbegriff wird von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet, ohne daß vollständige begriffliche Einigkeit bestünde32. Ex negativo läßt sich in einem ersten Schritt festhalten, daß eine Norm jedenfalls nicht nur dann vorliegt, wenn bei Zuwiderhandlungen auf hoheitliche Zwangsmittel zurückgegriffen werden kann. Auch bloßen Empfehlungen oder rechtlich unverbindlichen Aufforderungen kann Normcharakter zukommen. Normen erscheinen daher nicht nur als Rechtsnormen, sondern auch in der Religion, der Sitte und Moral, der Politik, der Technik, kurzum in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens33. Ein staatliches Normsetzungsmonopol existiert nicht. „Wer als Normschöpfer auftritt, richtet sich vielmehr nach der Organisation der jeweiligen Gemeinschaft, für die und innerhalb welcher das soziale Verhalten geregelt werden soll" 34 . Ist somit die Rechtsverbindlichkeit kein typisierendes Merkmal, ist nach anderen Spezifika zu fragen. Normen sind verhaltensleitend, d. h. sie bestehen im wesentlichen aus der Vorgabe bestimmter Verhaltensmuster. Erwartet und verlangt wird ein den von ihnen aufgestellten Anforderungen entsprechendes, ein normgemäßes bzw. normkonformes Verhalten. Dieser Norminhalt stellt ein „Sollen" dar, das einem Willensakt entspringt, also abhängig von einer autonomen Entscheidung des Normsetzers ist 35 . 31
Vgl. Engisch, Gerechtigkeit, 26ff., 93; weitergehend dagegen Kantorowicz, Begriff des Rechts, 36f., 90. Weitere Nachweise bei K.F. Röhl Rechtslehre, 9f. 32 Zum Meinungsstand näher Alexy, Theorie der Grundrechte, 40 ff. 33 Dabei ist ein Wechselspiel zwischen außerrechtlichen und Rechtsnormen zu beobachten, als erstere mit der Zeit zu Rechtsnormen werden können (so v. a., wenn der Gesetzgeber sie aufnimmt und in Gesetzesform überführt, unter Umständen auch qua Gewohnheitsrecht), andererseits aber auch soziale Normen entstehen können, wenn der Geltungsbereich einer Rechtsnorm auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist, gesellschaftlich aber auch von anderen Gruppen ein entsprechendes Verhalten erwartet wird. 34 Meyer-COrding, Rechtsnormen, 24. 35 Kelsen, Normen, 2; ähnlich G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 227; Thon, Rechtsnorm, 2 f. Dennoch ist es zur Geltung nicht notwendig, daß die Norm das Produkt eines bewußten Normsetzungsprozesses ist; sie kann auch durch Gewohnheit erzeugt werden. Auch hier ist aber ein Normsetzer in Person der sich entsprechend Verhaltenden gegeben. Das Prinzip, daß ein Befehl immer einen Befehlsgeber voraussetzt, wird daher durch die Anerkennung der Rechtsetzung durch Gewohnheit nicht durchbrochen, sondern bestätigt. Vgl. hingegen Ladeur, Negative Freiheitsrechte, 131, demzufolge Regeln „primär unbeabsichtigte Nebenprodukte der Interaktion von Individuen" sind.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
(Dagegen fehlt bei dem oft synonym verwandten „Müssen" 36 eigentlich eine solche Entscheidungsfreiheit; hier werden lediglich kausale Gegebenheiten anerkannt37.) Normen richten sich weiterhin nicht an einen individuellen Adressaten, sondern an eine unbestimmte Vielzahl von - nach generellen Maßstäben bestimmbaren - Personen, die auf eine einheitliche, eine regelmäßige Verhaltensweise verpflichtet werden. In sachlicher Hinsicht erschöpfen sich Normen ebenfalls nicht mit der Regelung eines Einzelfalles, sondern sind auf eine Vielzahl auch künftiger Sachverhalte anwendbar. Die Allgemeinheit der von ihnen postulierten Erwartungen und die Verbindung von abstrakt formuliertem Tatbestand und abstrakter Folge ermöglichen eine dauerhafte und umfassende Anwendung. Wenn man somit Verhaltenssteuerung als Kernpunkt der Norm ansieht, liegt es nahe, sie als freiheitsbeschränkend einzustufen. Konstitutiv ist aber auch ihre Freiheit begründende und erst ermöglichende Wirkung. Denn ihre Leistung besteht gerade darin, den Normadressaten derart vereinfachte Informationen zukommen zu lassen, daß ihnen ein situationsgerechtes Verhalten ermöglicht wird, also ein Verhalten, das den Erwartungen ihrer Umwelt entspricht. Eine vollständige Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der eigenen Tätigkeit kann unterbleiben, wenn von kompetenter Stelle die Konvergenz mit den Umwelterfordernissen zugesichert wurde. Normen schaffen so die Voraussetzung für ein Handeln auch bei - faktisch unvermeidbarer - unvollständiger Informationslage. Gerade durch das Zusammenwirken rechtlicher und nichtrechtlicher Normen wird hierzu ein Netzwerk von eng miteinander verbundenen und sich gegenseitig stabilisierenden Handlungsroutinen generiert, die auch unter den Bedingungen begrenzten Wissens die Möglichkeit der Orientierung auf dem Markt bieten38. Rechtsnormen sind dabei zur Herstellung einer Rahmenordnung erforderlich; sie müssen Zurechnung und Begrenzung von Verantwortlichkeiten, die Festlegung von Entscheidungsrechten und die Selektion von relevanten Entscheidungsfolgen sicherstellen 39. Sie schaffen damit die grundlegenden Bedingungen für die produktive Abstimmung von Konventionen und den Aufbau eines Beziehungsgeflechts zwischen den Individuen. Die speziellere Abstimmung kann dagegen auch mittels nichtrechtlicher Normen geschehen bzw. durch Arrangements rechtlicher und nichtrechtlicher Normen geleistet werden. Normsetzung als Steuerungsmittel erhält Bedeutung gerade im Zusammenspiel verschiedener Normsetzer auf unterschiedlichen Normebenen. Dabei ist darauf zu achten, daß auch nichtstaatlichen Normsetzern aufzugeben ist, sich an den Vorstellungen und Gerechtigkeitsideen der Gemeinschaft zu orientieren und diese zu beachten. Inwieweit sich hier Konflikte zwischen den unterschiedlichen Partikularinteressen der beteiligten Kreise und der Allge36 Vgl. z. B. Opp> Entstehung sozialer Normen, 4: Unter einer Norm versteht man eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. 37 Kelsen, Normen, 7 f. 38 Ladeur, Negative Freiheitsrechte, 131 m. w. N.; vgl. Luhmann, Legitimation, 143; Pitschasy Normsetzung, 242; Schmidt-Preuß, Regelwerke, 90: „Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion". 39 Ladeur, Negative Freiheitsrechte, 131 m. w.N.; ders., DÖV 2000, 222.
A. Begriffsklärung
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meinheit ergeben und wie diesen entgegengewirkt werden kann, wird noch herauszuarbeiten sein.
III.
Rechtsnorm
Aus der Kombination des Rechts- und des Normbegriffes läßt sich die Rechtsnorm entwickeln. Teilweise wird vertreten, ihr entscheidendes Kriterium sei nicht die Herkunft aus dem Bereich des Staatlichen, sondern ihre soziale Funktion, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen als dauerhaftes Strukturelement zu dienen 40 . Tatsächlich ist für die Qualifizierung einer Norm als Rechtsnorm nicht so sehr die staatliche Herkunft, also die Tatsache, daß als Normsetzer ein staatliches Organ agiert, kennzeichnend, sondern vielmehr, daß die normierten Anforderungen potentiell mittels staatlicher Sanktionen durchsetzbar sind 4 1 . Wie jede Norm dient auch die Rechtsnorm i m Regelfall nicht der bloßen Beschreibung, sondern enthält eine Vorschrift 42 . Zur Rechtsnorm wird eine Norm aber erst dann, wenn Gegenstand des Sollens ein rechtlich geschuldetes, verbindliches Verhalten ist. Benutzt wird die Rechtsnorm weiter, um als Gegenpol zum Einzelbefehl den Oberbegriff für diejenigen Rechtsbefehle zu bilden, die sich nicht an einen bestimmten Adressaten wenden 4 3 . Rechtsnormen sind generell 44 und abstrakt 45 . Als besonderes Merkmal der 40 Meyer-COrding, Rechtsnormen, 24f.; H. Kronstein, Kartelle, 237f., 508. Hiergegen ausdrücklich z. B. Marburger, Regeln der Technik, 349 ff. 41 Vgl. F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 155; Taupitz, Standesordnungen, 183 f., 573 ff. Es existieren zwar auch sanktionslose Rechtsnormen (sog. leges imperfectae). Diese stellen jedoch seltene Ausnahmen dar (praxisrelevant ist v. a. die Neuregelung der rechtswidrigen, aber straffreien Abtreibung, bei der sich die Sanktionsfreiheit mit dem zusätzlichen neuartigen Instrument der prozeduralen Rechtfertigung verbindet, vgl. zu letzterer nur Eser, FS Hassemer, 43 ff.) und sind somit nicht geeignet, die Sanktionsbewehrtheit als grundsätzliches Kennzeichen in Frage zu stellen, K. F. Röhl, Rechtslehre, 191. Vgl. auch W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 113 m. w. N. Auf der anderen Seite darf die Betonung des Rechtsnormsetzungsprivilegs des Staates und des unverbindlichen Charakters der von Privaten gesetzten Normen jedoch nicht zu dem Umkehrschluß verleiten, staatliche Normen seien stets verbindlich. Auch staatliche Stellen können Regelwerke erlassen, die auf eine Geltungsanordnung verzichten und auf freiwillige Befolgung setzen. Die Rechtsnatur des Normsetzungsgremiums stellt allenfalls ein Indiz für die Rechtsnatur der Norm dar. Für die staatlichen unverbindlichen Maßnahmen bleibt es jedoch dabei, daß sie als Ausübung von Hoheitsgewalt an die allgemeinen verfassungsrechtlichen Beschränkungen gebunden sind, also insbesondere in grundrechtsrelevanten Bereichen einer Ermächtigungsgrundlage bedürfen. Vgl. hierzu nur das Beispiel der Warnungen durch die Bundesregierung, BVerfG NJW 1989, 3269; BVerwGE 82, 76ff.; 87, 37 ff. Kritisch Schoch, DVB1 1991, 667 ff. Weitere Nachweise bei Maurer, Verwaltungsrecht, § 15 Rn. 8. 42 Aus diesem Grunde stuft Schwierz, Privatisierung des Staates, 52 f. auch die technischen Normen als Rechtsnormen ein. So richtig seine Erkenntnis ist, daß technische Normen nicht rein deskriptiver Natur sind, sondern Wertungen enthalten, so falsch ist doch ein allein hierauf gegründeter Schluß auf den Rechtsnormcharakter, der „die Frage der Rechtsverbindlichkeit [...] zurückstellt" (dort, 53 Fn. 18). Folgerichtig ist - soweit ersichtlich - Schwierz mit dieser Einschätzung auch niemand gefolgt. 43 So die mittlerweile überwiegende Einordnung. Andere verwenden den Begriff sowohl für die Norm mit individuellem als auch die Norm mit generellem Charakter, so Kelsen, Normen,
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
Rechtsnorm tritt die Heteronomie hinzu: Eine Rechtsnorm ist auf einen Adressatenkreis auch dann anwendbar, wenn dieser sich (potentiell) nicht mit der Geltung einverstanden erklärt hat. Der Normadressat wird somit zum Rechtsunterworfenen 46. Die Heteronomie fehlt dort, wo eine Anerkennung im Einzelfall erforderlich ist. Zu pauschal ist es hingegen, zu fordern, Normsetzer und -adressat dürften nicht identisch sein47. Hiermit drohen in unzulässiger Weise diejenigen (v. a. organisatorischen) Rechtsnormen ausgeschlossen zu werden, die sich ein Gremium selbst gibt (z. B. Geschäftsordnungen). Heteronomie ist auch dort zu bejahen, wo Mehrheitsentscheidungen dazu führen, daß die unterlegene Gruppe sich dem Majoritätswillen beugen muß. Nur soweit man lediglich diese Mehrheit als eigentlichen Normsetzer erachtete, vermöchte man der obigen Aussage zustimmen. Eine solche Betrachtung entspräche aber weder demokratischen Standards noch den Entscheidungsrationalitäten von Gremien. Selbst einstimmige Entscheidungen sind schließlich dann als heteronom anzusehen, wenn die Gruppe der Normsetzer gegenüber Neuaufnahmen zugänglich ist und diese keine individuelle Anerkennung voraussetzen48. Die klassischen Typen der Rechtsnorm sind die nach dem Grundgesetz zulässigen Formen staatlicher Rechtsnormsetzung, Gesetze, Rechtsverordnungen sowie Satzungen49. Hinzu treten die - allerdings innerstaatlich an Bedeutung verlierenden - Normen des Gewohnheitsrechts. Ob es über den überkommenen Rechtsquellenkanon hinaus weitere Formen zulässiger Rechtsnormen gibt, ist umstritten 50, braucht aber an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. Rein private Regelwerke können nach dem eben Gesagten keine Rechtsnormen beinhalten; trotz ihrer Rechtssatzähnlichkeit haben die Normen privater Vereinigungen aus sich heraus keine Rechtsnormqualität51. Rechtliche Außenverbindlichkeit kann ihnen nur mit6f.; ihm folgend z.B. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 24. Kritisch auch G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 233 ff. 44 Vgl. zur Allgemeinheit einschränkend aber G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 239 („höchstens ein Naturale, kein Essentiale des Gesetzes im materiellen Sinne"). 45 Kritisch zum Kriterium der Abstraktheit aufgrund der Unbestimmtheit des Begriffs des „Einzelfalles" F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 60 ff. Dagegen stellt Brunner, Rechtsetzung, 76 ff. zentral gerade auf dieses Merkmal ab. 46 Ausführlich F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 84ff. m. w. N.; vgl. Taupitz, Standesordnungen, 557 ff. 47 So aber z.B. Holle, Normierungskonzepte, 102; Schwierz, Privatisierung des Staates, 50. 48 F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 93 ff. betont die die private Anerkennung überlagernde Bedeutung des staatlichen Geltungsbefehls und zieht einen Vergleich zwischen einem Vereinsbeitritt bzw. Arbeitsvertrag und der Einbürgerung bzw. Beamteneinstellung. 49 BVerfGE 8, 274 (323); 24, 184 (199); vgl. BVerfGE 34, 307 (315 f.); 44, 322 (347). 50 Vgl. für einen numerus clausus der zulässigen Rechtsetzungsformen BVerfGE 8, 274 (323); 24, 184 (199); offengelassen in BVerfGE 34, 307 (315f.); 44, 322 (347). Gegen einen numerus clausus z.B. Axer, Normsetzung, 208ff.; Clemens, FS Böckenförde, 261 f.; F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 112ff.; Sachs, VerwArch 74 (1983), 32ff. 51 Insbesondere sind rein private Normen nicht geeignet, Bindungs Wirkungen gegenüber Gerichten hervorzurufen, vgl. nur Brohm, HStR II, § 36 Rn. 27,43; Ossenbühl, HStR III, § 65 Rn. 60; Papier, HStR VI, § 154 Rn. 68 ff. Zur Kontrollpflicht der Gerichte unten unter C. IV. 4. c).
A. Begriffsklärung
33 52
tels eines staatlichen Rezeptionsaktes zukommen . Ohne diese Rezeption besitzen sie keine (rechts)normative Kraft. Die Rezeption erlangt in zweifacher Hinsicht Bedeutung: Sie vermittelt zum einen die Rechtsverbindlichkeit, indem sich der Staat in Gestalt des Gesetzgebers, der Regierung oder der Verwaltung die Regeln zu eigen macht. Damit erfolgt zum anderen eine VerantwortungsVerschiebung: Von der normformulierenden privaten Vereinigung geht die Verantwortung auf den rezipierenden Staat über. Die Privaten stellen ihren Sachverstand zur Verfügung, indem sie ein ausformuliertes Regelwerk anbieten, das anzunehmen die staatlichen Stellen selbstverständlich nicht verpflichtet sind. Tun sie es doch, übernehmen sie hiermit Verantwortung für das neu entstandene Recht53. Demnach kann für den (Rechts-)Normsetzungsprozeß bereits an dieser Stelle zwischen zwei wichtigen Phasen unterschieden werden: Zum einen die Phase der Erarbeitung der Norm, in welche die Erforschung des Ob und Wie der Regelung fällt. Hier ist häufig ein hohes Maß an Sachverstand und personellem wie finanziellem Aufwand erforderlich; Rechtsfolgen werden noch nicht ausgelöst. Dieser Bereich ist Privaten zugänglich. Normsetzung ist insoweit Ausdruck grundrechtlicher Freiheit 54. In einem zweiten Schritt kann die Verleihung der Rechtsverbindlichkeit hinzukommen. Dies ist eine genuin staatliche Aufgabe. Soweit damit ursprünglich rein private, unverbindliche Normen Rechtsgeltung erlangen, ist Aufklärung erforderlich, inwieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen eine solche kooperative Normsetzung zulässig ist.
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Ausführlich F. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, 133 ff.; Taupitz, Standesordnungen, 611. Nach Brohm, HStR II, § 36 Rn. 26,43; Jestaedt, Demokratieprinzip, 49 vollzieht sich diese Rezeption meist mittels Transformation in Form gleichlautender VerwaltungsVorschriften. Demgegenüber soll hier gerade versucht werden, darzustellen, daß die staatliche Rechtsordnung eine Vielzahl von Rezeptionsmechanismen bereithält, denen jeweils bestimmte Vorteile und Nachteile eignen und unter denen eine Auswahl zu treffen daher ebenfalls eine wichtige öffentliche Aufgabe darstellt. 53 Diese Überlegung Jestaedts (Demokratieprinzip, 49 f.) gilt uneingeschränkt nur dort, wo eine Rezeption in der Weise erfolgt, daß eine private Norm durch Verweisung oder Inkorporation volle Rechtswirkung erhält. Eine vollständige Verantwortungsübernahme kommt dagegen dort nicht in Betracht, wo Private innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung agieren bzw. ihren Normen über indirekte Rezeptionsmechanismen nur eine unvollständige Rechtsverbindlichkeit zukommt. Hier gilt es, die Verantwortungsbereiche gegeneinander abzugrenzen, und hier können entgegen Jestaedts Annahme auch Problemfelder liegen, die denen gruppenpluralistischer Entscheidungsteilhabe vergleichbar sind. Auf die genannten Probleme - Weisungsfreiheit, pluralistische Zusammensetzung, (Mit-)Entscheidungskompetenzen und -befugnisse nichtstaatlicher Funktionsträger - wird noch zurückzukommen sein. 54 Schmidt-Preuß, Regelwerke, 91 spricht sogar von grundrechtlich verbürgter „Normungsautonomie". 3 Augsberg
34
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
I V . Private Dazu bedarf es zunächst der Klärung des bislang umstandslos vorausgesetzten Begriffs des „Privaten". Als Ausgangspunkt der Überlegungen genügt es erneut, eine Negativdefinition vorzunehmen: Privat ist folglich alles, was nicht dem Staat unmittelbar angegliedert ist. Als Unterscheidungskriterium im positiven Sinne untauglich ist ein Abstellen auf die Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Eine solche materielle Differenzierung stünde nicht nur vor der Schwierigkeit einer exakten Festlegung dessen, was allgemein als „Staatsaufgabe" anzusehen ist 55 . Sie würde zudem der Grundannahme nicht gerecht, daß auch die Einbeziehung Privater der Erfüllung öffentlicher, im Allgemeinwohl liegender Aufgaben dienen kann und soll 56 . Denkbar erscheint es dagegen, für die gesuchte Definition auf die Grundrechtsfähigkeit zu rekurrieren. Auch dies ist jedoch nicht unproblematisch. Zwar sind Private jedenfalls diejenigen Privatrechtssubjekte, die dem Staat als Grundrechtsberechtigte gegenüberstehen. Eine Gleichsetzung von Privatheit und Grundrechtsträgerschaft kann aber schon deshalb nicht vorgenommen werden, weil „privat" in dem hier interessierenden Sinne auch die ausländischen juristischen Personen des Privatrechts einschließt, die gemäß Art. 19 III GG keine Grundrechtssubjekte sind 57 . Umgekehrt sind die öffentlich-rechtlich organisierten Rundfunkanstalten, Universitäten und Kirchen (partiell) grundrechtsfähig und gleichwohl nicht als privat einzuordnen 58. Es bleibt als Orientierungshilfe letztlich doch nur der formal-negative Begriff des Privaten 59. Entscheidend ist das personelle, nicht das funktionelle Verhältnis zum Staat; Private sind diejenigen natürlichen wie juristischen Personen, die nicht der Staatsverwaltung angehören.
55 DiFabio, JZ 1999,586f.; T. Groß, Kollegialprinzip, 26f.; C. Möllers, Staat als Argument, 319ff.; Voßkuhle, Regelungsstrategien, 57 f., jeweils m. w.N.; vgl. aber auch Burgi, Privatisierung, 62ff., insbes. 81 ff. 56 Vgl. Schock, DVB1 1994, 962. 57 Hierauf weist Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 27 zu Recht hin. 58 Vgl. nur BVerfGE 15, 256 (262) - Universitäten; 18, 385 (386f.) - Kirchen; 31, 314 (322) - Rundfunkanstalten. Vgl. auch umgekehrt die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts ablehnend BVerfG (K) NVwZ 1997,783 - Ärztekammer; BVerfG (K) NJW 1996,1588 f. - Kassenärztliche Vereinigung; BVerfG (K) NVwZ 1994,262 f. - Handwerksinnung; BVerwG DVB1 2001, 563 ff. - Genossenschaft. Zur Grundrechtsberechtigung bzw. -Verpflichtung im sog. Dritten Sektor vgl. z.B. C. Möllers, VerwArch 90 (1999), 191 ff. m. w. N.; speziell zur funktionalen Selbstverwaltung Kluth, Selbstverwaltung, 391 ff. Nach Bethge, Selbstverwaltungsrecht, 154 f. präkludiert die Grundrechtsberechtigung einer Organisationseinheit deren Qualifizierung als mittelbare Staatsverwaltung (im Gegensatz zur grundrechtlich postulierten Selbstverwaltung). Ihm folgend z.B. Faber, Selbstregulierungssysteme, 45. 59 Ebenso Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 28.
A. Begriffsklärung
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1. Staat und Gesellschaft Die Schwierigkeiten der Determinierung dessen, was als privat anzusehen ist, leiten über zur allgemeineren Frage nach der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Inwieweit stellen sich diese wirklich als Gegenpole dar? Soziologisch betrachtet dürfte eine solche Trennung abzulehnen sein. Die Gesellschaft als schlichtes Phänomen menschlichen Zusammenlebens bedarf des Staates (d. h. vor allem des Rechts) zur Koordination der entstehenden sozialen Wechselwirkungen. Der Staat ist in dieser Sichtweise zunächst nichts anderes als die verfaßte Gesellschaft. Dies zumal in der demokratischen Staatsform, in der Kongruenzen von Staat und Gesellschaft stärker hervortreten 60. Auf der anderen Seite ist die Unterscheidbarkeit jedoch rechtsdogmatisch von Bedeutung, insofern sie das SpannungsVerhältnis, das sich aus dem Gegenüber von grundrechtlicher Freiheit und Beliebigkeit einer- sowie rechtlicher Verfaßtheit, staatlicher Gemeinwohlbindung und demokratischem Legitimationserfordernis (und - hier besonders interessierend - staatlicher Rechtserzeugungsbefugnis) andererseits ergibt, verstehen und in ein System einzugliedern hilft 61 . Staat ist insoweit die Gesamtheit der grundrechtsverpflichteten staatlichen Organe. Verschiedene „Grenzgänger" haben hier zwar Erklärungsbedarf verursacht62; die grundsätzliche Funktion der Unterscheidung bleibt davon unberührt 63. Fraglich ist dennoch, ob es sich bei dieser Abgrenzung tatsächlich um ein Verfassungsgebot handelt und die sektorale Staatsidee als „normative Aussage" immun gegenüber Vermischungstendenzen ist 64 . Dies ist deshalb so wichtig, weil eine hieraus abgeleitete Forderung nach Zurückhaltung hinsichtlich kooperativer Regulie60
Noch weitergehend Hesse, Grundzüge, Rn. 11 (ähnlich bereits DÖV 1975, 438 f., 441, dort auch zur Ambivalenz des Sozialstaates als „Bedingung und Bedrohung von Freiheit"), demzufolge die demokratische Staatsform ein Zusammenfallen von Staat und Gesellschaft beinhaltet, insofern der Staat gesellschaftliches Leben ermögliche und umgekehrt sich nur in gesellschaftlichem Zusammenwirken konstituiere. Vgl. demgegenüber Böckenförde, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 11, der den Begriff der „gesellschaftlichen" Selbstregulierung ablehnt, weil die Gesellschaft im demokratischen Staat aufginge, aber am Staat als einer gegenüber der Gesellschaft verselbständigten, funktional unterschiedlichen und organisatorisch gesonderten Einheit festhält, dort, 24 ff. Für Kelsen, Demokratie, 11 f. folgt gar die Personifikation des Staates aus der demokratischen Ideologie, d. h. aus dem Verlust einer (autokratischen) Herrscherfigur. Zur Doppelrolle des Bürgers als Herrschaftsbeteiligter wie -unterworfener Isensee, Subsidiaritätsprinzip, 152f.; Rupp, HStR I, § 28 Rn. 18. 61 Vgl. z.B. v.Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 81; Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 274; Horn, DV 26 (1993), 551 ff.; Isensee, HStR III, §57 Rn. 61; Weidemann, VerwArch 90 (1999), 543. Hingewiesen wird häufig darauf, daß sich bestimmte (v.a. organisationsrechtliche) Normen nur an den Staat richten, vgl. Brohm, HStR III, § 36 Rn. 36; T. Groß, Kollegialprinzip, 26ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 11 f. Zur Notwendigkeit der Trennung des soziologischen und des juristischen Staatsbegriffes Lepsius, Steuerungsdiskussion, 18 f. m. w.N. 62 Zur Grundrechtsfähigkeit intermediärer Institutionen C. Möllers, Staat als Argument, 305 ff. sowie die Hinweise in Fn. 58. Vgl. auch Schmidt-Aßmann, Verfahrensgedanke, v. a. 21 f. 63 C. Möllers, Staat als Argument, 348 mit Hinweis auf Canaris. I. E. auch Hesse, DÖV 1975,439 f. 64 So Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 274 Fn. 152 (Leitsatz 27), vgl. dort, 258 ff. 3*
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
rungsformen - Kooperation beinhaltet stets Grenzverwischungen - einem ebenfalls verfassungsrechtlich begründeten „Postulat größtmöglicher Aktivierung selbstregulativer Beiträge 4'65 diametral gegenüberstünde66. Der bloße Hinweis auf die Tradition ausdifferenzierter Verwaltungsorganisation genügt hier nicht; die innerhalb der historischen Entwicklung zahlreich nachweisbaren Interdependenzen stellen für sich gesehen natürlich noch kein verfassungsrechtliches Argument dar. Immerhin liefert diese Beobachtung aber ein Indiz dafür, daß ein rigoroses Trennungsgebot weder der allgemeinen Staats- noch der grundgesetzlichen Verfassungslehre entnommen werden kann. Verfassungsrechtliche Kriterien für ein solches Gebot sucht man denn auch vergeblich. Die „Immunität" der sektoralen Staats Vorstellung kann nicht gleichbedeutend sein mit einer Festschreibung des status quo. Wenn daher nach einer Phase wachsender Publifizierungstendenzen das Pendel scheinbar wieder in Richtung gesellschaftlicher Selbststeuerung schwingt67 und damit Überschneidungen zunehmen, steht dem kein unumstößliches Trennungsgebot entgegen. Die neuen Kooperationsformen werfen zwar gerade deshalb, weil sie sich dem Entweder-oder-Schema entziehen, neue rechtliche Probleme auf. Sie sind aber nicht schon aus diesem Grunde unzulässig. 2. Zum Begriff der privaten Norm Hinsichtlich unverbindlicher, auf privater Basis erstellter Normen eine durchgängig verwendbare stringente Bezeichnung zu entwickeln ist bisher nicht gelungen. Es existiert eine Vielzahl von Normen, deren gemeinsames Merkmal die zunächst fehlende rechtliche Verbindlichkeit ist, die sich jedoch in ihrer konkreten Ausgestaltung, insbesondere in ihrer intentionalen Orientierung auf staatliche Rezeption hin, deutlich unterscheiden. Entsprechend vielfältig sind die möglichen Bezeichnungen: Norm, Regel, Konventionen, Standards, Grundsätze, Kodizes, Richtlinien, Prinzipien, Reglement, Richtschnur, Maxime sind denkbare Termini, denen gemein ist, daß sie so wenig konturenscharf sind wie allgemein gebräuchlich. Mißverständlich ist es, wenn unverbindliche Normen unter „soft law" firmieren. Der Begriff ist als paradox abzulehnen; denn Recht (law) ist nach hier vertretener Ansicht immer verbindlich, also „hart" 68 . Für die technisch-wissenschaftliche Steuerung hat sich die 65
Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 170f. CMöllers, VerwArch 90 (1999), 200. 67 Vgl. bereits Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 150; Ritter, AöR 104 (1979), 410. 68 Vgl. den Begriff ebenso ablehnend Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1436; Taupitz, Standesordnungen, 575 f. Ähnlich Stürner, Pressefreiheit, 111, der dem Pressekodex die Qualifikation als Standesrec/z/ abspricht und statt dessen von Standesethik sprechen will. Schwierigkeiten bereitet auch die Einfügung einer sog. „Normzwischenschicht" und ein angebliches Bedürfnis nach einem halbstaatlichen, „halbimperativen" Recht. Hierzu Di Fabio, Risikoentscheidungen, 464; ders., NZS 1998,451. Eine wichtige Rolle kommt dem Terminus „soft law" aber zu, soweit es darum geht, Entwicklungsprozesse in Richtung auf Rechtsverbindlichkeit zu beschreiben, so v.a. im Völkerrecht, vgl. z.B. Hillgenberg, EJIL (10) 1999, 499ff.; Riedinger Rolle nichtstaatlicher Organisationen, 168ff.; Wulsdorf, Selbstregulierung, 152ff., jeweils m. w. N. 66
A. Begriffsklärung
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Bezeichnung „technische Norm" eingebürgert. Diese beschreibt jedoch weniger den Rechtscharakter der Regelwerke bzw. ihre Herkunft als ihren Regelungsgegenstand. Sie umfaßt alle technischen Detaillierungen, unabhängig davon, ob sie von staatlichen, halbstaatlichen oder privaten Gremien erlassen werden. Für die Benennung derjenigen Regelwerke, die sich hinsichtlich ihrer Schaffung nur auf privaten Sachverstand gründen können, fehlt hingegen eine konsistente Terminologie. Sie werden bisweilen als „ausschließlich private Normen" bezeichnet69, vor allem im Wirtschaftsrecht hat dagegen die Orientierung an anglo-amerikanischen Begrifflichkeiten verstärkt den Sprachgebrauch „private Standards" ergeben. Ausgehend von den zuvor angestellten Überlegungen soll im folgenden der - zugegebenermaßen im Einzelfall präzisierungsbedürftige - Begriff „private Norm" verwandt werden, wenn von von Privaten formulierten, rechtlich zunächst unverbindlichen, verhaltensleitenden generell-abstrakten Regeln die Rede ist 70 . 3. Privatrecht und öffentliches Recht Die Trennlinien zwischen privaten Normen und staatlichen Rechtsnormen entsprechen nicht denen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Auch das Privatrecht ist staatliches Recht71. „Die unterschiedlichen Legitimitätsgrundlagen: für individuelles Handeln die natürliche Freiheit hier, für staatliches Handeln die kompetentielle Pflichtigkeit dort, müssen gewahrt werden. [...] Die Grenzziehung zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich ist mit der Scheidelinie zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht nicht identisch. Die beiden Rechtsregime bilden die Trennung von Staat und Gesellschaft vielmehr nur in ihren grundlegenden Systemgedanken, nicht aber in allen ihren einzelnen Bereichen ab. Beide Bereiche er69
Holle, Normierungskonzepte, 98 ff. (der aber auch von „privaten Regeln" spricht). Vgl. ähnlich Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 250: „Unter privater Normgebung verstehe ich die Setzung freiwilliger, generell-abstrakter Regeln über Produkte, Verfahren oder Spezifikationen im weitesten Sinn durch private Unternehmen, Verbände oder gemischte Einrichtungen mit maßgeblichem privatem Einfluß". Unter den Begriff der privaten Norm können jedoch jene Regeln nicht subsumiert werden, die von Organisationen erlassen werden, die aufgrund ihrer Ein- bzw. Angliederung in den staatlichen Verwaltungsapparat nicht mehr Grundrechtsträger, sondern -verpflichtete sind. Soweit diese aber nicht in die hierarchische Staatsverwaltung eingebunden sind, sondern autonom über die Angelegenheiten ihrer Mitglieder bzw. Nutzer entscheiden, verbleibt ihnen dennoch eine gegenüber den hierarchisch voll eingegliederten Verwaltungsstellen größere Distanz dem Staat gegenüber, die ihre Einbeziehung in die vorliegende Untersuchung rechtfertigt. Dies auch deshalb, weil, wie noch zu zeigen sein wird, die Grenzen zwischen einer bloßen Heranziehung privater Normen und der „Etatisierung" Privater verschwimmen oder uneinheitlich beurteilt werden. Auch diesen Mechanismen soll daher Aufmerksamkeit gewidmet werden. Selbstregulierung ist nach dem hier vorgeschlagenen Begriffsverständnis nicht auf die rein gesellschaftliche Selbststeuerung beschränkt, sondern kann auf den Bereich der funktionalen Selbstverwaltung ausgedehnt werden. Selbstregulative Normsetzung i.d.S. umfaßtu.a. auch öffentlich-rechtliche Satzungen. Hierzu z.B. Trute, Funktionen der Organisation, 265 f. sowie unten das zweite Kapitel A. 70
71
Vgl. bspw. C. Möllers, Staat als Argument, 303 f.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 241.
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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füllen daneben Aufgaben technischer und funktioneller Zuordnung. Das öffentliche Recht ist nicht das ausschließliche Sonderrecht der Verwaltung, sondern das Sonderrecht der typischen staatlichen Interessenverfolgung. Umgekehrt vindiziert die Option für das Privatrecht dem Staat nicht die Privatautonomie, sondern eröffnet ihm nur ein Normenregime, das typischerweise das marktgesteuerte Verhalten rechtlich verfaßt" 72. Auch die Heranziehung privater Normen kann mithin sowohl durch das Privatrecht als das öffentliche Recht erfolgen; ebenso stellen beide Teilrechtsgebiete Rahmenbedingungen. Im Zusammenspiel von staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung mag man eine allgemeine Relativierung der Systemzäsuren erkennen 73; die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht wird jedoch nicht aufgehoben, wenn man ihre Funktionen und ihr Verhältnis zueinander in der Absicht neu durchdenkt, sich ihre unterschiedlichen Steuerungsansätze zunutze zu machen74. V . Kapitalmarktrecht Abschließend steht ein Begriff zur Erläuterung an, der die Zusammenstellung der im zweiten Kapitel enthaltenen Beispiele bedingt: Kapitalmarktrecht. Benannt ist damit nicht ein gesetzlich abgegrenzter Rechtsbereich. Der Terminus wird vielmehr benutzt, um verschiedene ineinander verschränkte unterschiedliche Rechtsgebiete75 einheitlich und vereinfachend zusammenzufassen. Hierin liegt eine so wichtige Funktion, daß die Überlegung gerechtfertigt erscheint, ob das Element der Kapitalmarktbezogenheit eines Tages so starke BindungsWirkung wird erzeugen können, daß von einem neuen, eigenständigen Rechtsgebiet gesprochen werden kann. Einstweilen ist es noch nicht soweit; die Bezeichnung hat eher heuristischen Charakter 76. Definiert man den Kapitalmarkt als ein Verfahren zur Steuerung des Wertpapierangebots und der Wertpapiernachfrage durch Individuen77, dann enthält das Kapital72
Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn.60. Trute, DVB1 1996, 958. Vgl. Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 275. 74 Vgl. die Beiträge in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen; umfassend zuletzt Ruffert, Eigenständigkeit des Privatrechts, passim. 75 Umfaßt werden v. a. Aktienrecht, Konzernrecht, Wertpapierrecht, Börsenrecht, Bankrecht. 76 Ähnlich U.H. Schneider, AG 2001, 271, der vom Kapitalmarktrecht als „Methode" spricht; bei Hopt, ZHR 141 (1977), 431 handelte es sich noch um eine „Aufgabe". Mit dem Erlaß des WpHG existiert seit 1994 ein „rein" kapitalmarktrechtliches Regelwerk, und mit dem WpÜG liegt seit Januar 2002 eine weitere kapitalmarktrechtliche Kodifikation vor. Vgl. Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.9. Zur Entwicklung des Kapitalmarktrechts auch Martin Weber, NJW 2000, 2061 ff., 3461 ff. Zu der zu überwindenden Zweiteilung in zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Regelungen bereits Schwark, Anlegerschutz, 13. 77 Ausführliche Herleitung bei S. Weber, Kapitalmarktrecht, 9 ff. Hopt, ZHR 141 (1977), 419 ff. stellt hingegen v.a. auf den öffentlichen Vertrieb der „fungiblen Kapitalmarktpapiere" ab, vgl. dens., Anlegerschutz, 84 ff. Jedenfalls ausgegliedert bleiben die Gütermärkte, nicht jedoch die Terminmärkte, vgl. nur Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.8 ff. 73
A. Begriffsklärung
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marktrecht jene Rechtsvorschriften, die das Verfahren zum Austausch von Wertpapieren und Geld regeln 78. Erfaßt werden demnach zunächst nur die Beziehungen zwischen Emittenten und Anlegern sowie zwischen Anlegern untereinander. Das Recht des Kapitalmarktes kann sich allerdings nicht in der Regelung dieses marktbezogenen Verfahrens erschöpfen. Zusätzlich sollen hier auch die mit diesem Verfahren verknüpften, also kapitalmarktbezogenen, Dienstleister (v. a. Banken, Börsen, Wertpapierdienstleistungsunternehmen, Analysten), aber auch die Kapitalmarktaufsicht als wichtige Akteure mit in den Begriff des Kapitalmarktes einbezogen werden 79. Das Kapitalmarktrecht ist mehr als bloßes Verfahrensrecht; es ist auch funktionales Aufsichtsrecht. Als Eigenheiten, die das Recht des Kapitalmarktes von anderen Rechtsgebieten scheiden, sind zunächst seine beiden dominierenden Schutzzwecke zu nennen: Zum einen der Schutz des individuellen Anlegers (1), zum anderen der Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes (2) 80 . Diese Schutzgedanken schließen sich nicht etwa aus, sondern bedingen sich wechselseitig (3). Sie werden ergänzt durch die immer mehr an Bedeutung gewinnende Internationalisierung der Finanz- bzw. Kapitalmärkte, die allerdings an dieser Stelle nur kurz Erwähnung finden soll, da sie später Objekt eingehenderer Betrachtung sein wird 81 . 1. Individualschutz Obwohl gerade in den Massenmedien immer wieder von den Risiken der Finanzbzw. Kapitalmärkte die Rede ist, unterfällt das Kapitalmarktrecht nicht dem Begriff „Risikorecht" im Sinne der neueren juristischen Terminologie 82. Denn die Gefährdungen, die auf den Bürger wirken, sind nicht gesundheits- oder gar lebensbedroHopt, ZHR 141 (1977), 420 zweifelt zudem an, daß es überhaupt sinnvoll sei, ökonomische Begriffe wie den des Kapitalmarktes unmittelbar in die Rechtswissenschaft zu übernehmen. Dem ist zuzustimmen, als der ökonomische und der juristische Sprachgebrauch sich soweit unterscheiden, daß eine unmittelbare Verwendung in der Wirtschaftswissenschaft entwickelter Begriffe als Rechtsbegriffe, aus denen sich Rechtsfolgen herleiten lassen, ausscheiden muß. Ihnen kann jedoch auch in der juristischen Analyse eine wichtige deskriptive Rolle zukommen. 78 Vgl. S. Weber, Kapitalmarktrecht, 11: „Kapitalmarktrecht ist somit ein Verfahrensrecht: das Verfahrensrecht des Kapitalmarkts". Andere wollen den Geldmarkt separat behandelt sehen, vgl. v. Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 38 m. w. N.; Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.42 ff. 79 Vgl. Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.4, der den Begriff „als die Gesamtheit von Normen, Geschäftsbedingungen und Standards, mit denen die Organisation der Kapitalmärkte und die auf sie bezogenen Tätigkeiten sowie das marktbezogene Verhalten der Marktteilnehmer geregelt werden" umschreibt. 80 Grundlegend hierzu Hopt, Kapitalanlegerschutz, 333 ff. 81 Die Internationalisierung stellt selbstverständlich kein auf das Kapitalmarktrecht beschränktes Phänomen dar, sondern ist eine Herausforderung für die gesamte Rechtsordnung. Hier präsentiert sie sich jedoch in „Reinform". 82 Z. B. Di Fabio, Risikoentscheidungen, passim. Vgl. auch Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 145 f. m. w.N.
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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hend. Zudem handelt es sich regelmäßig nicht um solche Risiken, denen auszuweichen er nicht in der Lage wäre. Die Risiken ergeben sich vielmehr regelmäßig aus einem freiwilligen Zusammenwirken des - unzureichend informierten - Bürgers/ Anlegers mit ihm fachlich oder wirtschaftlich überlegenen Institutionen83. Hier gebietet jedoch das Sozialstaatsprinzip den Schutz des Schwächeren84. Die Anleger, die ihr Vermögen am Kapitalmarkt investieren, sollen vor dem Verlust desselben, auch aufgrund eigener Unvorsichtigkeit, bewahrt werden. Dieser Individualschutzgedanke des Kapitalmarktrechts ergänzt den gesellschaftsrechtlichen Aktionärsschutz, ist mit diesem jedoch nicht identisch85. Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht haben nicht nur unterschiedliche Regelungsgegenstände, sondern differieren auch in ihren Zielsetzungen86. 2. Funktionsschutz Neben dem sozialstaatlich veranlaßten individuellen Schutz des Anlegers verfolgt das Kapitalmarktrecht auch den Schutz des Kapitalmarktes als gesamtwirtschaftlicher Institution87. Gerade angesichts der sinkenden Bedeutung der klassischen produzierenden Industrie und der Krise der Umverteilungsmechanismen in Rente und Sozialversicherung besteht ein überragendes öffentliches Interesse an effizienten (Kapital-)Märkten. Einerseits müssen zur Deckung des Kapitalbedarfs der kapitalmarktfähigen Unternehmen die privaten Vermögen an den Kapitalmarkt herangeführt werden 88. Andererseits sollen die Kapitalanlagen einen effizienten und rendi83
Die Anlegerrisiken variieren je nach Art der gewählten Kapitalanlage. Im Anschluß an Hopt, Kapitalanlegerschutz, 82ff., 288ff. läßt sich unterscheiden zwischen fünf grundsätzlichen Risikoarten, denen Anleger am Kapitalmarkt typischerweise ausgesetzt sind: Risiko der Substanzerhaltung, Abwicklungs- und Verwaltungsrisiko, Interessenvertretungsrisiko, Informationsrisiko und Konditionenrisiko. Vgl. hierzu auch Ekkenga, Anlegerschutz, 26ff.; Mues, Börse als Unternehmen, 47. Zu den Anlegerinteressen vgl. Schwark, Anlegerschutz, 10 f. 84 Vgl. Hopt, Kapitalanlegerschutz, 10, 284 ff.; Schwark, Anlegerschutz, 12. 85 Das Gesellschaftsrecht schützt den Aktionär nicht nur als Anteilseigner, sondern auch als Mitglied eines Verbandes. Umgekehrt dient der kapitalmarktrechtliche Vermögensschutz nicht nur dem Individuum, sondern soll über die konkrete Schutzmaßnahme hinaus dem Vertrauensschutz und damit der Funktionsfähigkeit des (zuvörderst nationalen) Finanzmarktes, mithin einem gesamtgesellschaftlichen Interesse zugute kommen. Vgl. Ekkenga, Anlegerschutz, 15 ff.; Hopt, Kapitalanlegerschutz, 334f.; dens., ZHR 141 (1977), 428. 86 Schwark, FS Stimpel, 1087. Das Kapitalmarktrecht ist zudem im Gegensatz zum Gesellschaftsrecht funktionsbezogen und daher rechtsformübergreifend, vgl. dort, 1091. 87 Der Funktionsschutz umfaßt drei Aspekte: Zum einen die allokative Funktionsfähigkeit, zum zweiten die institutionelle Funktionsfähigkeit und schließlich die operationale Funktionsfähigkeit. Haupthindernis ist in jedem Falle fehlende Transparenz der Transaktionen. Vgl. v. Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 35; Mues, Börse als Unternehmen, 46; umfassende Darstellung bei Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.184ff. Zum Informationsbedürfnis der Kapitalanleger ausführlich Hommelhoff, ZGR 2000,748 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität, v.a. 334ff.; T. Möllers, AG 1999, 434. 88 Ende 2000 umfaßte das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland über 7,1 Billionen DM, wovon allerdings trotz gestiegenen Interesses an Wertpapieranlagen immer noch mehr als 50% bei Banken und Versicherungen angelegt waren, vgl. Die Bank 2001,674.
A. Begriffsklärung
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tebringenden Einsatz des privaten Vermögens ermöglichen, der ebenfalls im allgemeinen Interesse liegt. Besonders evident wird dies an den Plänen zur (einstweilen nur teilweise) kapitalmarktgedeckten privaten Altersvorsorge. Schließlich sind vor allem die börsenmäßig organisierten Märkte von großer Bedeutung für die öffentliche Hand, die sich ihrer zur breitgestreuten Emission von Anleihen bedienen kann89. 3. Konnexität der Schutzgedanken Kapitalmarktrechtliche Regelungen können somit entweder den individuellen Anlegerschutz oder den Funktionsschutz für Börse, Kapitalmarkt und Wirtschaft betonen. Die Regulierungsziele bilden indes kein Begriffsgegenpaar 90. Gerade ihre Konnexität stellt ein zentrales Gestaltungselement des Kapitalmarktrechts dar. Der Schutz des Vertrauens des Anlegerpublikums ist zur Erhaltung und Steigerung des Volumens des volkswirtschaftlich benötigten Investitionskapitals unverzichtbar und daher unerläßliches Element moderner Wirtschaftstätigkeit. Ohne hinreichenden Anlegerschutz ist die Glaubwürdigkeit und damit die Allokations- und Koordinationsfunktion des Kapitalmarktes gefährdet 91. Umgekehrt läßt eine Orientierung am Kriterium der Kapitalmarkteffizienz den Anleger nicht notwendig unberücksichtigt, der Fokus verschiebt sich lediglich vom individuellen Anlegerschutz als Selbstzweck zum überindividuellen Anlegerschutz als Mittel zur Optimierung des Vertriebs von und des Handels mit Finanzprodukten 92. Ob man den Funktionsschutz93 oder den Individualschutz94 als primäres Regelungsziel ansieht, ist hingegen von untergeordneter Bedeutung. Aus der Verpflichtung des Staates, ein funktionierendes, Individual- wie Funktionsschutz gewährleistendes Regulierungssystem bereitzustellen, folgt die Aufgabe der wirksamen normativen Steuerung. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine staatsgerichtete Rechtsetzungsaufgabe. Andererseits ist aber durch den Gesetzgeber auch die Kontrollfunktion der Kapitalmärkte anerkannt95. Die Interessen von Markt und Staat sind hier häufig konvergent. Aus diesem Grunde erscheint dieser Bereich auch besonders geeignet, exemplarisch die Verwendung privater Normsetzungsmechanismen und die Rolle Privater im staatlichen Rechtsetzungsprozeß darzulegen. 89
Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn.8.182f. Statt vieler Hommelhoff, ZGR 2000, 771 ff.; v. Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 37 m. w. N. Vgl. auch Erwägungsgrund 35 der WpDRL (Richtlinie 93/22/EWG); Reg.-Begr. 6. KWG-Novelle, BT-Drucks. 13/7142, 57; Reg.-Begr. 3. FMFG, BR-Drucks. 605/97, 58; Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 33 f. Für eine strenge Trennung zwischen dem überindividuellen Anlegerschutz/Funktionsschutz und dem individuellen Anlegerschutz Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn.8.173, 8.204. Zur „Gemengelage von Individualschutz und Funktionenschutz" bereits Hopt, Kapitalanlegerschutz, 334 ff. 91 Statt vieler Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 8.174 f. 92 Ekkenga, Anlegerschutz, 30 m. w. N. 93 So z.B. Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn.8.174. 94 So z.B. Hopt, ZHR 141 (1977), 431. 95 Vgl. Reg.-Begr. KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, 11 f. 90
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
B. Wirkungen privater Normsetzung Der Versuch, die im Bereich der Steuerung des Kapitalmarktes vorfindlichen Normsetzungsmodelle zu analysieren und hieraus gegebenenfalls auf ein optimiertes Normierungskonzept zu schließen, darf nicht von vornherein durch eine Perspektivenverkürzung auf nur staatliche Entscheidungsbildung und rein private Normformulierung behindert werden. Die Erscheinungsformen der Kooperation sind auch zu vielgestaltig, als daß eine Reduzierung auf bloße sachverständige Beratungstätigkeiten Privater deren komplexen Aufgaben entspricht 96. Private Normsetzung geht deutlich darüber hinaus; sie umfaßt im wesentlichen die Formulierung von Verhaltensanforderungen, beinhaltet aber bereits eigene Implementationsstrategien und trägt ergänzend in Verbindung mit staatlicher Beteiligung bereits die Möglichkeit einer weitergehenden - auch rechtlichen - Verbindlichkeit in sich 97 . I. Fehlende Rechtsnormqualität ausschließlich privater Normen Versteht man wie hier vertreten unter Normen generell-abstrakte, zunächst nicht notwendig bereits rechtlich verbindliche Verhaltensstandards, dann ist sowohl die Normformulierung als auch das normkonforme Verhalten Ausfluß der grundrechtlich gewährleisteten Handlungsfreiheit. Ein staatliches Normsetzungsmonopol existiert nicht. Private können jedoch aus sich heraus keine rechtsverbindlichen Normen setzen. Hierzu bedarf es eines hoheitlichen Bestätigungsakts, der in einer ex post erfolgenden Inbezugnahme, aber auch darin liegen kann, daß staatlicherseits eine Rahmenordnung zur Verfügung gestellt wird, innerhalb derer es den Privaten erlaubt ist, eigeninitiativ Recht zu setzen, oder daß bisherige private Organisationen öffentlich-rechtlich organisiert werden. An dieser Schnittstelle von privat gesetzten Normen und staatlicher Rechtsordnung, wo private Gruppen Rechtsverbindlichkeit für ihre Normen zu erlangen suchen oder der Staat sich Entlastung durch einen Rückgriff auf bereits ausformulierte private Normen verspricht, ist eine rechtliche Systematisierung erforderlich. Zu diesem Zweck werden im zweiten Kapitel verschiedene Normsetzungsmechanismen anhand von Beispielen aus dem Kapitalmarkt typologisiert dargestellt. Ho96 Zur Ähnlichkeit von Kooperation und sachverständiger Beratung Krebs, HStR III, § 69 Rn. 10; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 196 f. Brohm, HStR II, § 36 Rn. 24 ff. ordnet nicht nur die Anhörung der Wissenschaft im Rahmen der Anhörung der beteiligten Kreise, sondern auch Standardsetzungsverfahren privater, nach Interessenproporz besetzter Gremien und durch private Vereinigungen der sachverständigen Beratung des Staates zu, erkennt aber gleichzeitig, daß es „angesichts der oft alleinigen und ausschlaggebenden Beurteilungskompetenz der Sachverständigen [...] inhaltlich zwischen Beratung und Entscheidung eine breite Skala von Übergängen" gibt, dort, Rn. 26. 97 Pitschas, Normsetzung, 259 spricht von der „potentiellen Rechtswirksamkeit" privater Regelwerke.
B. Wirkungen privater Normsetzung
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heitliche Eigenerfüllung und gesellschaftliche Selbstregulierung lassen sich als Pole auf einer Achse abgestufter staatlicher Verantwortung ansehen98. Während dabei die staatliche Eigenerfüllung für ein Maximum an Ergebniskontrolle steht, kennzeichnet die Selbstregulierung ein Optimum an Staatsentlastung99. Die vorliegende Darstellung folgt dieser Einsicht und beginnt mit der staatsnächsten Form der Normierung unter Nutzung privaten Sachverstands, der „Etatisierung" durch Überführung in funktionale Selbstverwaltung. Es schließen sich an Mechanismen der Rezeption auf der Rechtsetzungs- und der Rechtsanwendungsebene mittels Verweisung bzw. Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Hierauf folgen private Steuerungsformen innerhalb der Rahmenordnung des Vereins- bzw. Vertragsrechts. Abschließend werden ausschließlich private Regelwerke analysiert. Als Beispiele herangezogen werden u. a. die Satzungen der Wirtschaftsprüferkammer, die Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse, die „international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätze'4 im Sinne des § 292 a HGB, die Rechnungslegungsstandards des Deutschen Standardisierungsrates gemäß § 342 HGB, die Standesrichtlinien für Finanzanalysten und andere sog. Kapitalmarktexperten, die Regeln für den Freiverkehr an der Frankfurter Wertpapierbörse, der Übernahmekodex und die Zuteilungsgrundsätze der Börsensachverständigenkommission, die von verschiedenen Gremien formulierten Corporate Governance Grundsätze sowie der geplante Kodex für Kapitalmarktkommunikation. Die Aufzählung folgt an dieser Stelle bereits der genannten Skalierung. Sie beansprucht aber zunächst nur eine vorläufige, ordnende Funktion; die endgültige Typisierung setzt die eingehendere Beschäftigung mit den einzelnen Normierungskonzepten voraus und bleibt deshalb der Einzelanalyse vorbehalten. Zuvor gilt es jedoch, allgemeine Charakteristika privater Normsetzung zu formulieren, die als Fundament für die unten zu den einzelnen Normierungsmodelle zu entwickelnden speziellen Kriterien dienen können. I I . Sozial-normative Bindungswirkungen Kennzeichen des Rechts und der Rechtsnorm ist die potentielle Durchsetzbarkeit mit Hilfe staatlichen Zwangs. Über diese Sanktionsmittel verfügen solche rein private Normen nicht, an deren Formulierung der Staat nicht beteiligt ist und die er auch nicht in seine Rechtsordnung integriert hat. Die Abwesenheit rechtlicher Sanktionsmechanismen sollte aber nicht vorschnell zu dem Schluß verleiten, diese Normen entbehrten jeglicher Bindungswirkung. Ungeachtet ihrer fehlenden Rechtsverbindlichkeit kommt privaten Normen bisweilen aufgrund ihres Standardisierungseffekts sogar eine ausgeprägte sozial-normative Bindung zu, die sich durch 98 Hoffmann-Riem, Auffangordnungen, 300ff.; Schuppert, Verwaltungseinheiten, 93 ff., 150ff.; ders., Privatisierung, 566f.; ders., Verwaltungswissenschaft, 347ff.; Trute, DVB11996, 952. Grundlegend zum Begriff der Verantwortungsstufung Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 232ff. sowie ders., Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 11 ff. 99 Vgl. Trute, DVB1 1996, 954.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
verschiedene Techniken der Rezeption100 rechtsnormativ verstärken läßt. Je höher der Verbreitungsgrad einer derartigen Norm bei den Marktteilnehmern liegt, desto größer wird die Erwartungshaltung hinsichtlich einer Einhaltung der postulierten Anforderungen und desto mehr steigt der Druck auf die übrigen Normadressaten, die Normen anzuerkennen und zu befolgen. Zusätzlichen Befolgungsdruck verursachen „Solidarnormen", also Vorschriften, die nicht selbst den Pflichttatbestand enthalten, gleichwohl aber ihrerseits die Einhaltung verlangen 101. Bisweilen treten an die Stelle staatlicher Sanktionsmechanismen private „Übertretungsstrafen". Diese umfassen nicht nur die durch das staatliche Rahmenrecht bereitgestellten besonderen Verfahren beispielsweise des Vereinsrechts, sondern auch auf den konkreten Bereich zugeschnittene gesellschaftliche Disziplinierungsmaßnahmen. Das staatliche Gewaltmonopol steht dabei regelmäßig solchen Sanktionen nicht im Wege, die sich auf bloße Publizität beschränken oder denen sich die Normadressaten freiwillig unterworfen haben102. Die sozial-normativen BindungsWirkungen können im Einzelfall zu einem ebenso starken Befolgungszwang führen wie die Androhung staatlicher Gewalt 103 . Unter Umständen kann der Befolgungsdruck sogar so stark werden, daß trotz einer de jure freiwilligen Unterwerfung de facto eine erzwungene Subordination vorliegt. Zum Schutz der Normadressaten vor unbilliger Beanspruchung kann hier der Staat einschreiten, indem er dem Normsetzer besondere Pflichten auferlegt oder den Normunterworfenen Möglichkeiten der Überprüfung der Normen sowie der privaten Sanktionsmechanismen an anerkannten Kriterien bietet 104 . Die strikte faktische Bin100 Vgl. hierzu z.B. Lübbe-Wolff, Konfliktmittlung, 89ff.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 87 ff.; Vieweg, Atomrecht 181 ff. sowie die Typologie des zweiten Kapitels. 101 Für die technische Normung weist Voelzkow, Private Regierungen, 195 f. m. w. N. auf die berufsethischen Grundsätze der Ingenieure hin. Ähnliches könnte auch für professionelle Standards in anderen Bereichen gelten. Kapitalmarktrechtlich relevant sind insoweit v. a. die Regelwerke der Börsen. 102 Im Einzelfall muß jedoch auch hier - zumindest bei Nennung des Namens - abgewogen werden zwischen dem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1,21 GG und dem öffentlichen Interesse an der Aufklärung über Verstöße. Entsprechend war bspw. gem. der Verfahrensordnung der Insiderprüfungskommission eine Veröffentlichung ohne Einwilligung des Betroffenen nur bei groben Verstößen gegen die Insiderhandelsrichtlinien oder die Händler- und Beraterregeln zulässig. Zudem war der Betroffene hiervon rechtzeitig zu informieren, um ihm Gelegenheit zu geben, vor den ordentlichen Gerichten Rechtsschutz gegen die drohende Veröffentlichung zu erlangen. 103 Vgl. z. B. Brugger, VerwArch 78 (1987), 42; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 92; Marburger, Regeln der Technik, 590; Rönck, Technische Normen, 202 ff. m. w.N. und Beispielen. Vgl. auch C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, 50f. m. w.N., der ein weitgehendes Zusammenfallen von Faktizität und Recht bei grenzüberschreitenden technischen Normen und Regeln des Internets sieht, da bei diesen eine Korrektur durch eine staatliche Rechtsquelle immer weniger wahrscheinlich werde. 104 Dies gilt selbst für das allgemeine bürgerlich-rechtliche Vertragsrecht, vgl. §§134, 138, 242 BGB. Grundlegend hierzu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen, BVerfGE 89,214 (230 ff.); vgl. Hoffmann-Riem, Auffangordnungen, 303 f.; Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 4ff.; Spieß, DVB1 1994,
B. Wirkungen privater Normsetzung
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dung stellt jedoch die Ausnahme dar, die zudem mit dem Gegendruck der Regulierungsunwilligkeit zu kämpfen hat. Trotz ihrer teilweise erheblichen Auswirkungen kommt daher allgemein der sozial-normativen Bindung doch ein im Vergleich zur Rechtsverbindlichkeit deutlich geringerer Befolgungsdruck zu. Wäre dies anders, müßte über eine grundlegende Neuausrichtung der Rechtsverbindlichkeit nachgedacht werden, die nur solange am staatlichen Gewaltmonopol ansetzen kann, als dieses eine einzigartige Durchsetzungsmacht garantiert.
I I I . Normativität Mit einer nach wie vor verbreiteten, wenn auch offenbar auf dem Rückzug begriffenen Fehl Vorstellung 105 sollte aufgeräumt werden: Die von Privaten gesetzten Normen sind ebensowenig wie die staatlichen Rechtsnormen rein objektive sachverständige Äußerungen, sondern enthalten in starkem Umfang wertende Elemente. Selbst dort, wo es um die Festlegung scheinbar rein naturwissenschaftlich begründbarer, gleichsam naturgesetzlich feststehender und lediglich der Aufdeckung harrender Grenzwerte oder Standards geht, zeigt sich, daß es im Ergebnis doch weitende Beurteilungen sind, die für den einen und wider den anderen sprechen 106. Das deskriptive Element tritt häufig gegenüber dem normativen Element in den Hintergrund. Dies gilt erst recht für das Wirtschaftsrecht. Die Wirtschaftswissenschaften sind nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinne exakt. Sie können, sollen und dürfen das auch gar nicht sein, denn sie beschreiben im wesentlichen menschliches Verhalten. Sofern zur Erstellung einer wirtschaftslenkenden Norm insbesondere auf den wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand zurückgegriffen werden soll, tut man diesem kein Unrecht, wenn man seine Fähigkeit anzweifelt, eine einzige richtige Antwort zu geben. Gerade aus juristischer, aber auch aus politologischer und politischer, soziologischer und sozialer Perspektive sollte geläufig sein, daß selbst einander diametral gegenübergesetzte Positionen jede für sich nicht falsch sein müssen. Oft gibt es mindestens zwei gleichwertige Alternativen. Zwischen den verschiede1222 ff., 1226ff., jeweils m. w.N. „Typischerweise" liegt eine derartige Zwangslage bei einseitiger Verwendung vorformulierter Vertragsbedingungen und bei existentieller Notwendigkeit der Zugehörigkeit zu einem Verband vor, Hoeren, Selbstregulierung, 359. 105 Diese bezieht sich allerdings v. a. auf die technischen Normen. Vgl. z.B. die Nachweise bei Schwierz, Privatisierung des Staates, 51. Auch SchuppertlBumke, Standardsetzung, 77 f. halten DIN-Normen für weniger durch Wertungen als durch naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse geprägt. 106 Dazu auch BVerwGE 77, 285 (291) - Normenausschüsse des DIN; bestätigt durch BVerwG NVwZ-RR 1997, 215; T. Groß, Kollegialprinzip, 267ff.; Lübbe-Wolff, ZG 6 (1991), 219 ff.; Marburger, Regeln der Technik, 283, 288 ff. m. w. N. Besonders offenkundig wird die Reflexion außertechnischer Kriterien und Wertbezüge bei den technischen Sicherheitsnormen, die den Schutz von Leben, Gesundheit, Sachgütem oder der Umwelt bezwecken, vgl. etwa Voelzkow, Private Regierungen, 143ff. m. w.N. Eine ausführliche Analyse leistet Schwab, Politikberatung, 198 ff., der zwischen der Ebene der wissenschaftlich-technischen und der juristischen bzw. politischen Wertung differenziert.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
nen Lösungsmöglichkeiten eine Auswahl zu treffen oder einen Kompromiß zu finden, stellt den Kernbestandteil des politischen Entscheidungsprozesses dar. Nur weil es somit nicht so sehr um bloß sachverständige, sondern um Entscheidungen mit politischen Dimensionen geht, stellt sich das Problem der Legitimation privater Normsetzung überhaupt 107. Die Bedeutung des privaten Sachverstands wird damit nicht herabgesetzt; er ist jedoch nur Voraussetzung, nicht Geltungsgrund privater Normsetzung. I V . Funktionen privater Normsetzung Zu den Funktionen privater Normsetzung können gezählt werden die Standardisierung (1), die Ergänzung staatlicher Rechtsnormen in Form der Lückenschließung, der Konkretisierung und der experimentellen Normsetzung (2) sowie die Gesetzesverhinderung bzw. -beseitigung (3). 1. Standardisierung Die wohl wichtigste Aufgabe der privaten Normsetzung besteht darin, für unterschiedliche Verhaltensweisen ein einheitliches Verhaltensmuster zu erstellen. Hierin unterscheidet sich indes die private nicht sonderlich von der Rechtsnorm: Beiden eignet ein Lenkungswille, der den Normadressaten ein normkonformes, und das heißt auch ein einheitliches, Verhalten abverlangt. Die angestrebte Einheitlichkeit der Handlungsoptionen besitzt nicht nur für den Rechtsverkehr den Vorteil einer relativen Vörhersehbarkeit der Verhaltensmuster, sondern ermöglicht es auch den Normadressaten, mit den Reaktionen auf ihr Verhalten planen zu können und sich nicht den Risiken unbekannter (Rechts-)Folgen aussetzen zu müssen108. 2. Lückenschließung, Konkretisierung und experimentelle Normsetzung Private Normen sind im Grundsatz dort entbehrlich, wo bereits eine gleichlautende staatliche Vorschrift existiert 109. Die weitgehende rechtliche Durchformung aller Lebensbereiche drängt private Normierung zwangsläufig aus dem Fokus des Ge107
Dies betont auch Holle, Normierungskonzepte, 103. Vgl. hierzu auch schon oben unter A. II. Die für technische Normen angeführte Kombinierbarkeit und Austauschbarkeit und die daraus resultierenden gesunkenen Transaktionskosten sind hingegen dort weniger relevant, wo es weniger um eine produkt- als um eine personenbezogene Steuerung geht, vgl. Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 73; Voelzkow, Private Regierungen, 133 ff. 109 Dazu, daß die erneute Auflistung der verschiedenen rechtlichen Anforderungen in einem für sich gesehenen rechtlich unverbindlichen Kodex Vorteile (größere Publizität), aber auch Nachteile (Verdeckung der Rechtsverbindlichkeit) bietet, vgl. im zweiten Kapitel E.III. 108
B. Wirkungen privater Normsetzung
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schehens. Diese dient deshalb hauptsächlich der Steuerung solcher Bereiche, deren Regelung sich der Staat noch nicht angenommen hat, von deren gesetzlicher Ausformung bewußt abgesehen wurde oder wo eine rechtliche Regulierung solche Schwierigkeiten bereitete, daß der Gesetzgeber auf sie verzichtet. Hier kommt ihr jedoch eine wichtige Aufgabe zu, die sich schlagwortartig mit den Begriffen Lükkenschließung, Konkretisierung und experimentelle Normsetzung beschreiben läßt. Lückenschließung bedeutet nichts anderes als die Steuerung bisher bewußt oder unbewußt reglementierungsfreier Teilbereiche. Die Konkretisierung bzw. Detailsteuerung steht hierzu in einem unabdingbaren Komplementaritätsverhältnis: Aus der Eigenart staatlicher Normen, auf eine große Vielzahl von im einzelnen äußerst unterschiedlich gelagerten Sachverhalten Anwendung finden zu müssen, um eine unüberschaubare Vielzahl von Gesetzen zu vermeiden, ergibt sich ein Bedürfnis nach „unscharfer", d. h. relativ abstrakter Normierung, das auf der Rechtsanwendungsseite im (hier nicht interessierenden) Ermessen, auf der Rechtsetzungsseite in der Aufnahme von Verweisungsvorschriften und der Verwendung von Generalklauseln bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen resultiert 110. Vor allem die Konkretisierung letzterer wird als typische Aufgabe privater Normen genannt, die sich als „selbstregulative Auslegungsofferte" 111 darstellen. Sie können damit zur Verdichtung eines gesetzlich, verordnungsrechtlich oder behördlich nicht oder nicht abschließend geregelten Vakuums beitragen 112. Bedeutung erlangt die private Normkonkretisierung mithin vor allem dort, wo sie Implementationshilfen bietet, indem sie dazu beiträgt, abstrakte Rechtsnorm und konkreten Lebenssachverhalt aufeinander abzustimmen. Experimentelle private Normsetzung nimmt ihren Ursprung in einem Dilemma des staatlichen Normsetzers: Die Kodifizierung einer Verhaltensanforderung in Gesetzesform steht im Regelfall vor dem Problem, ein allgemeines und theoretisches Postulat aufzustellen, dessen Tauglichkeit zur Zielerreichung sich erst noch in der Praxis erweisen muß. Vor allem in Verbindung mit der oft beklagten Starre des gesetzgeberischen Verfahrens kann hieraus ein Steuerungsdefizit entstehen, oder es kann die staatliche Normierung sogar unerwünschte kontraproduktive Wirkungen zeitigen, wenn das Gesetz nicht in der Lage ist, die gewünschte Lenkungsarbeit zu leisten. Zwar nehmen Gesetze teilweise bereits seit längerem bestehende (soziale) Regeln auf. Dies gilt aber vor allem für solche Regeln, deren Bedeutung für das Alltagsleben unmittelbar einleuchtet. Spezialregelungen, deren Erarbeitung besondere Kenntnisse voraussetzt, lassen sich dagegen nicht auf diese Weise rezipieren. Hier 110 Für die Beschreibung der Wirkungen zwingenden Gesetzesrechts wird daher bisweilen das Bild des Prokrustesbettes bemüht, Baums, DAI-Vortrag; speziell für die Börse Mues, Börse als Unternehmen, 84 ff. Demgegenüber ist Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 364 zuzustimmen, der attestiert, daß die „unvermeidliche Offenheit des Gesetzestatbestandes [...] im verfassungsgewollten Legitimationssystem kein pathologischer, sondern ein normaler Befund ist". 111 Ein Begriff von Schmidt-Preuß, ZLR 1997,254 ff.; ders., Regelwerke, 95; ähnlich Voelzkow, Private Regierungen, 198; wohl auch Pitschas, Normsetzung, 251. Vgl. Taupitz, Standesordnungen, 1102 ff. 112 Pitschas, Normsetzung, 242, vgl. dort, 247: „Komplementärfunktion".
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
kann sich in der Kürze der Zeit keine soziale Norm entwickeln 113 . Erst recht gilt dies für solche Normen, die zukünftige Entwicklungen befördern oder erst anstoßen sollen; wo der Gesetzgeber kreativ wirken will, muß er das Risiko in Kauf nehmen, die Auswirkungen der Regulierung nur unzureichend vorhersehen zu können. Die erforderlichen Institutionalisierungen, Regeln und gemeinsame Wissensgenerierung können sich jedoch nur „pfadabhängig, das heißt durch historische Prozesse in der Form von Versuch-Irrtums-Schritten, also durch Lernen bilden" 114 . Experimentelle Normsetzung ist mithin ein notwendiges Element auf dem Weg zu einer möglichst optimierten, ein Maximum an Zielerreichung mit einem Minimum an Eingriffsdichte verbindenden Regulierung. Diese Lernprozesse richten sich in erster Linie an den Staat. Staatliches Lernen setzt aber nicht zwingend staatliche Versuch-IrrtumSchritte voraus, sondern kann auch dadurch erfolgen, daß aus privaten Normierungsaktivitäten entsprechende Schlüsse gezogen werden. Um die Praxistauglichkeit von Regeln zu testen, bietet sich ein Einsatz privater Normen deshalb an, weil diese nicht nur den Vorteil geringerer Verbindlichkeit und damit geringerer Eingriffsintensität haben, sondern auch zeitnahen Modifikationen in inhaltlicher wie in struktureller Hinsicht gegenüber offener sind als staatliche Rechtsetzungsverfahren. Auch das psychologische Moment ist nicht zu vernachlässigen: Von staatlichem Recht wird zumeist eine „ausgegorene" und abschließende Regelung erwartet; das grundgesetzlich vorgeschriebene Rechtsetzungsverfahren dient nicht nur der legitimatorischen Absicherung, sondern soll auch die inhaltliche Qualität der Gesetze sichern. Offenes Scheitern, wie es in einem Versuch-Irrtum-Prozeß nicht nur möglich, sondern bisweilen intendiert oder zumindest förderlich ist, könnte daher dazu beitragen, das Vertrauen in die staatliche Rechtsordnung zu schmälern. Auch hierin liegt ein Grund für die beklagte Inflexibilität der Rechtsnormen; sie sind ihrer Natur nach auf Dauer angelegt und sollen Rechtsklarheit erzeugen, ein Ansinnen, das durch ständige Änderungen konterkariert würde. Freiwillige Selbstkontrolle hat aus diesen Gründen große Vorzüge als experimentelle und Übergangslösung115. Sie kann vom Gesetzgeber bewußt zu diesem Zwecke initiiert werden, er kann aber auch von einer eigenen Regelung zunächst absehen, um die Effekte einer bestehenden Selbstregulierung zu beobachten und aus deren Erfahrungen Rückschlüsse für das potentielle staatliche Regelwerk abzuleiten116. Die private Selbstintervention 113
Zu dieser Entwicklung allgemein Opp, Entstehung sozialer Normen, v. a. 112 ff., 205 ff. Ladeur, Negative Freiheitsrechte, 245. Vgl. auch Wagner/Haffner, Umweltmanagement, 4 ff. Ausführlich Horn, Experimentelle Gesetzgebung, v. a. 141 ff. Zu den Schwierigkeiten einer realistischen Gesetzesfolgenabschätzung Köck, VerwArch 93 (2002), 9 ff. m. w. N. ^Hopt, ZHR 161 (1997), 398. 116 So geschehen im Falle des Übernahmekodex. Vgl. auch die symptomatische Einschätzung von Kronke, FS Lutter, 1461: „Auf den Gesetzgeber zu warten, wäre angesichts der Geschwindigkeit der Entwicklung und der Folgen, mit denen die internationalisierenden Kapitalmärkte unsere Unternehmen bestrafen würden, wenn ihre Leitung dem internationalen Qualitätsvergleich nicht standhielte, nicht vertretbar gewesen. Dem Gesetzgeber ist es unbenommen, von der Praxis entwickelte Regelwerke von Zeit zu Zeit zu evaluieren und zu erwägen, ob es opportun ist, darauf aufbauend zu legeferieren". 114
B. Wirkungen privater Normsetzung
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kann damit nicht nur Vorläufer, sondern unter Umständen sogar Voraussetzung späterer Staatsintervention sein 117 . 3. Gesetzesverhinderung oder -beseitigung Private Normsetzung ist aufgrund ihrer fehlenden Rechtsverbindlichkeit auf freiwillige Befolgung durch die Normadressaten angewiesen. Sie ist daher vor allem dort erfolgreich, wo sich diese über die Regulierungsmaßnahme Vorteile sozialer oder ökonomischer Natur versprechen und deshalb auch in Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit einzuwilligen bereit sind 118 . In diesem Fall kann sie auch aus autonom motiviertem Engagement resultieren. Sofern aber die privaten Regeln den Normadressaten Pflichten auferlegen, die von diesen als einschneidend und hinderlich empfunden werden, ohne daß dem deutliche positive Auswirkungen gegenüberstünden, ist eine breite Akzeptanz und eine eigeninitiative Normsetzung unwahrscheinlich 119. Hier reicht es nicht aus, auf staatliche Interventionen gänzlich zu verzichten und statt dessen auf intermediäre Institutionen zu setzen, sondern es bedarf eines staatlichen Anstoßes. Häufig erfolgt daher Selbstregulierung unter dem Eindruck und zur Vermeidung einer drohenden hoheitlichen Regelung. Vereinfacht lassen sich derartige Koooperationslösungen als Tauschgeschäfte beschreiben, in denen der Markt sich zu einem bestimmten Verhalten selbst verpflichtet und der Staat als Gegenleistung auf eine rechtliche Festschreibung des gewünschten Verhaltens verzichtet 120. In der Vermeidung oder Ersetzung ordnungsrechtlicher Maßnahmen liegt somit eine weitere Funktion privater Normsetzung 121. 1.7
Brunner, Rechtsetzung, 111. Vgl. auch Ladeur, Negative Freiheitsrechte, 242 ff. Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 235 ff.; Fluck/Schmitt, VerwArch 89 (1998), 227; Hopt, ZHR 161 (1997), 398; Oebbecke, DVB1 1986, 793 ff.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 214 ff. Sozialpsychologische Erklärungsversuche bei Opp, Entstehung sozialer Normen, 176 ff., insbesondere 194f.; Weiß, Umweltpolitik, 95 ff. Vgl. auch unten die Nachweise zur Kooperationswilligkeit. 119 Vgl. nur Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 25 ff. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Tatsache, daß dann, wenn nur eine geringe Anzahl von Adressaten sich zu normgemäßem Verhalten verpflichtet, die Anreize für die Nicht-Teilnehmer eher gering sind. Umgekehrt kann selbst in Fällen, in denen eine mehrheitliche oder sogar ganz überwiegende Anerkennung erreicht wurde, es einigen Abweichlern gelingen, sich die Vorteile des Vorhandenseins einer entsprechenden Norm zu sichern, sich den daraus folgenden Verpflichtungen aber zu verweigern. Von besonderer Bedeutung wird dabei die Publizität der Normanforderungen sein: Kann überzeugend vermittelt werden, daß die Einhaltung der Kriterien Vorteile zwar nicht direkt für die Adressaten, wohl aber beispielsweise für die Kunden der Unternehmen bringt, sind mittelbare Bindungswirkungen zu erwarten, die die Einhaltung fördern. 120 Dazu Engel, StWStP9 (1998), 545; Faber, Selbstregulierungssysteme, 221 ff.; Kopp, Norm vermeidende Absprachen, 63 ff.; RenningslBrockmannlBergmann, Nachhaltigkeit, 141 ff. Vgl. Hoffmann-Riem, Verhandlungslösungen, 37. 121 Vgl. UGB-KomE, 501 m. w. N. und Beispielen. Taupitz, Standesordnungen, 512ff. spricht (bezogen auf Standesordnungen) von der antizipativ-gesetzesverhindernden bzw. der reaktiv-gesetzesbeseitigenden Funktion. Vgl. auchM. Schmidt, Standesrecht, 77 f. 1.8
4 Augsberg
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
Die Gesetzesverhinderung als Motivationsfaktor sieht sich aus mehreren Gründen Kritik ausgesetzt: Bemängelt wird zum einen, Selbstverpflichtungen seien kein echter Beitrag zur Deregulierung, wenn an die Stelle des Rechtszwangs lediglich die Androhung alternativer Rechtsetzung trete, falls die Selbstverpflichtung scheitere 122 . Dem ist zuzugestehen, daß die Glaubhaftigkeit der Androhung tatsächlich voraussetzt, ein eigenes Regelwerk konzeptuell bereits erarbeitet zu haben oder doch in kürzester Zeit erarbeiten zu können, um für den Fall des Scheiterns der Selbstregulierung schnelle Abhilfe zu schaffen. Hierdurch wird die Staatsentlastung möglicherweise erheblich geschmälert. Diese Kritik setzt aber voraus, daß Deregulierung das (Haupt-)Ziel der Aufgabenübertragung ist. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, daß es zwar auch, aber nicht nur um Staatsentlastung, sondern um optimierte Steuerung durch diversifizierte Normsetzung unter gezielter Nutzung privaten Sachverstands geht. Die Tatsache, daß aus der Übertragung in den privaten Sektor ein neues staatliches Rechtsetzungsbedürfnis folgt 123 , spricht somit nicht gegen diese Möglichkeit. Entscheidend ist, daß das kreative Potential der Privaten genutzt werden kann. Gleiches ergibt sich im übrigen auch aus der Bedeutung der privaten Normsetzung als experimentelle Lösung, die selbst (oder gerade) im Falle eines Scheiterns wichtige Erkenntnisse für den Gesetzgeber bereithält. Ein zweiter Einwand wiegt hingegen schwerer: Regelmäßig wird dort, wo der Staat auf private Normen setzt, deren Steuerungsansatz hinter der alternativen ordnungsrechtlichen Regulierung zurückbleiben. Neben den Abstrichen in der verfolgten inhaltlichen Zielsetzung124 muß berücksichtigt werden, daß schon die vergleichsweise durchsetzungsschwache konsensuale Form ein Zugeständnis beinhaltet125. Ohne rechtliche Verbindlichkeit und Sanktionsbewehrtheit besteht die Gefahr einer Lossagung126. Der Preis der Akzeptanz ist somit ein Verlust sowohl an Steuerungsstrenge als auch an Steuerungsniveau. Dem steht ein Zugewinn an Regelungstiefe gegenüber 127. Daher spricht auch dieser Einwand noch nicht gegen die private Normsetzung als solche. Statt dessen läßt sich aus den Kritikpunkten eine (gewandelte) Aufgabe des Staates ableiten, die sich in zweifacher Hinsicht äußert: Der Staat muß die angestrebte Staatsentlastung und Steuerungsverbesserung unter Umständen erzwingen, wozu die glaubhafte Androhung einer ansonsten anstehenden Staatsintervention unabdingbare Voraussetzung ist, und er muß zugleich strukturelle Vorgaben machen, 122 Hopt, ZHR 161 (1997), 398; vgl. dens., Kapitalanlegerschutz, 168. Ähnlich HoffmannRiem, DVB1 1996, 227, demzufolge eine formale Verfahrensprivatisierung dann nicht vorliegen soll, wenn die Aktivität Privater zu keiner rechtlich relevanten Entlastung des Staates führt. 123 Schuppen, DV Beiheft 4 (2001), 246; zum „Privatisierungsfolgenrecht" Ruffert, AöR 124(1999), 237 ff. 124 Möglich ist es aber auch, daß der Staat an anderer Stelle vorhandene Überregulierung als „Tauschmasse" einsetzt, Engel, FS Mestmäcker, 132f. m. w. N.; kritisch ders., StWStP9 (1998), 561. 125 Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, 492. Anders aber Di Fabio, JZ 1997, 970 unter Hinweis auf Prognoseschwierigkeiten des Staates. Vgl. hierzu auch Kopp, Normvermeidende Absprachen, 82 ff. m. w.N. 126 Schwark, Anlegerschutz, 238. 127 Vgl. Engel, StWStP 9 (1998), 575.
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welche die privaten Gruppierungen erst in die Lage versetzen, in effektiver Weise Steuerung zu betreiben 128. Im übrigen können auch inhaltlich weniger strikte Anforderungen hingenommen werden, wenn die Vorteile der privaten Normsetzung dennoch überwiegen 129. Der Wahl des Steuerungsmittels muß eine gewissenhafte Prüfung der Erfolgsaussichten der möglichen Varianten vorausgehen (Normsetzungsstrategie). V . Rechtspraktische Analyse Private Normen kommen zur Steuerung regulierungsbedürftiger Sektoren in Betracht, wenn und soweit ihnen gegenüber der alternativ möglichen ordnungsrechtlichen Regelung spezifische Vorteile zukommen. Dabei entsprechen die Vorteile der einen meist den Nachteilen der anderen Regelungsmethode. Die regulatorischen Alternativen sind aber nicht nur aus diesem Grunde gegeneinander abzuwägen, sondern auch deshalb, weil die vorgebrachten Argumente nicht unbestritten und im übrigen selten dagegen gefeit sind, in ihr Gegenteil verkehrt zu werden. 1. Effizienz- und Effektivitätskriterien Als Gründe für die Inanspruchnahme Privater und eine verstärkte staatlich-private Kooperation werden allgemein begrenzte staatliche Ressourcen, Informationsund Steuerungsdefizite auf Seiten des Staates, Steuerungsresistenz gesellschaftlicher Teilsysteme, Komplexität der zu steuernden Sachverhalte, Staatsentlastung, Sachverständigkeit, Flexibilität und Akzeptanz geltend gemacht130. Diese Argu128 Vgl. Grewlich, DÖV 1998, 56ff.; Schulze-Fielitz, DVB1 1994, 659; Trute, DVB1 1996, 954; Voelzkow, Private Regierungen, 214f.; Würtenberger, NJW 1991, 263. Zur „staatlichen Induzierung" gesellschaftlicher Selbstregulierung Faber, Selbstregulierungssysteme, passim, v. a. 81 ff.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 165, 174. 129 Insbesondere bestehende staatliche Informations- und Vollzugsdefizite können freiwillige Selbstverpflichtungen attraktiv erscheinen lassen. Nach Lübbe-Wolff, NVwZ 2001,492 taugen sie nicht zur vollständigen Ersetzung des herkömmlichen ordnungsrechtlichen Instrumentariums, sondern können dieses nur ergänzen, indem sie insbesondere in bisher ungeregelten Bereichen Steuerungswirkung entfalten. Ihr zustimmend Schendel, NVwZ 2001, 496 ff. Ähnlich sieht Schwark, Anlegerschutz, 238 Selbstverpflichtungen v. a. dort als geeignet an, wo die zu regelnde Materien aufgrund mangelnder tatsächlicher Erfahrungen bzw. dogmatischer Durchdringung noch nicht „reif" für eine gesetzliche Regelung sind. Das entspricht der hier vorgenommenen Einordnung privater Normsetzung als Mittel zur Gesetzeskonkretisierung bzw. zur Lückenschließung sowie zur experimentellen Steuerung. Zu den sonstigen Vorteilen vgl. sogleich. 130 Vgl. z.B. Faber, Selbstregulierungssysteme, 226ff.; Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, 152ff.; Kopp, Normvermeidende Absprachen, 102ff.; Merkt, Gutachten, 60ff.; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 93 f.; Trute, DVB11996,950; dens., Kooperation, 14; Voßkuhle, Regelungsstrategien, 50f., jeweils m. w. N. Zur teilweise parallelen Argumentation bezüglich der innerstaatlichen Delegation von Rechtsetzungsaufgaben Staupe, Parlaments vorbehält, 236ff., 261 ff.; ihm folgend z. B. Kluth, Selbstverwaltung, 491 ff.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
mente lassen sich partiell auch auf den Bereich der privaten Normsetzung übertragen, bedürfen aber der Präzisierung im Detail. Staatsentlastend wirken selbstregulative Normen zunächst, indem die Formulierung der Regeln durch private Gremien staatliche Ressourcen schont. Die Aufklärung des Regelungsbedarfs, die sachverständige Feststellung der sinnvollerweise zu treffenden Entscheidungen, ihre Abstimmung und Koordination, namentlich auch die Entwicklung eines in sich stimmigen Regulierungskonzeptes unter Berücksichtigung der verschiedensten beteiligten Interessen beanspruchen im Regelfall der rein staatlichen Normierung eine Vielzahl von Angehörigen und Mitarbeitern der Legislative bzw. der Exekutive. Eine von Seiten des Staates zurückgenommene Regelungsverantwortung ermöglicht dagegen die Verlagerung auf die private Ebene und verlangt vom Staat weniger Einsatz von Mensch und Material 131 . Daß der Staatsapparat zur sachgerechten, detaillierten Regelung einer Materie fachlich und personell nicht in der Lage sei, wie bisweilen behauptet wird 132 , darf bezweifelt werden. Angesichts angespannter Lage der Staatsfinanzen ist jedoch die mit privater Selbstregulierung verbundene unter Umständen erhebliche Kostenersparnis ein nicht zu unterschätzender Faktor. Theoretisch können durch die Beteiligung sachverständiger Betroffener Informations-, Überwachungs- und Durchführungskosten gesenkt bzw. umgekehrt größere Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationskapazitäten mobilisiert werden 133. Zudem finanzieren sich die privaten Normsetzungsgremien in der Regel (auch) durch Beiträge der Normadressaten; es findet eine Kosteninternalisierung statt134. In der Praxis ist indes zu berücksichtigen, daß die 131 Allgemein Kirberger, Staatsentlastung, 236 ff. Insbesondere für das DIN wird häufig auf die große Anzahl der dort eingesetzten, von Unternehmen abgestellten Experten hingewiesen, so z. B. Marburger, Regeln der Technik, 381 f.; Schmidt-Preuß, Regelwerke, 93. Voelzkow, Private Regierungen, 207 f. zufolge besteht hier eine Wechselwirkung dergestalt, daß nur die erwartete Rezeption der (technischen) Normen die Unternehmen dazu bewegt, eine ausreichende Zahl von Mitgliedern in die Ausschüsse zu entsenden. 132 Vgl. z.B. Engel, FS Mestmäcker, 128; Marburger, Regeln der Technik, 381 f.; MüllerFoell, Bedeutung technischer Normen, 16. Tatsächlich sind aber die Aufgaben so groß, daß mit dem vorhandenen Personalbestand nicht auszukommen sein dürfte. Wie hier Brennecke, Normsetzung, 118, demzufolge der Staat bei hohem Handlungsbedarf durchaus in der Lage ist, sich angemessenen Sachverstand zu beschaffen und der das Problem eher auf die Ebene der Flexibilität verlagert sieht; ähnlich P. Kirchhof, ZGR 2000, 689 f. 133 Vgl. Engel, FS Mestmäcker, 125; dens. StWStP 9 (1998), 574, 578; Johnston, The City Take-over Code, 5; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 204; Lübbe-Wolff, ZG 6 (1991), 241 f.; Ogus, OxJLS 15 (1995) 97 f.; Pitschas, Normsetzung, 244; Schwab, Politikberatung, 207. Zum Verhältnis von finanzieller Entlastung und Steuerungsgewinn vgl. auch die Bemerkung von Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 213: „Die tatsächlich entscheidende Antriebskraft der Privatisierungsdiskussion wie der -praxis ist nicht Ordnungspolitik, sondern Finanzpolitik". Zustimmend z.B. Schuppert, StWStP 5 (1994), 546. 134 Vgl. Kirberger, Staatsentlastung, 295 ff. Roßkopf Selbstregulierung, 46 f. weist auf die erforderliche Differenzierung zwischen der tatsächlichen Kostenersparnis und der bloßen Kostenabwälzung hin. Letztere kann auch bei staatlicher Regulierung gegeben sein; sie kann aber auch ergänzend zur Selbstregulierung hinzutreten.
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Staatsentlastung um so geringer ausfällt, je stärker die privaten Normen in die staatliche Rechtsordnung eingebunden werden, je mehr mithin die private Norm der Rechtsverbindlichkeit angenähert wird und je größer damit wiederum die (Letzt-)Verantwortung des Staates und somit auch seine Verpflichtung, die Ausgewogenheit und Sachgerechtigkeit der Regel zu überprüfen, wird 135 . Die Staatsentlastung steht daher in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Verbindlichkeit der Regulierungsmaßnahme136. Sowohl hinsichtlich der Normformulierung als auch hinsichtlich ihrer Implementation kann selbstregulativen Vorschriften eine im Vergleich zu staatlichen Rechtsnormen höhere Geschwindigkeit des Normsetzungsprozesses und damit eine größere Flexibilität attestiert werden. Die Abwesenheit eines an strikte formelle Voraussetzungen gebundenen staatlichen Verfahrens ermöglicht es privaten normsetzenden Organisationen, ohne größere Verzögerungen auf neue Situationen reagieren zu können. Dagegen steht die staatliche Rechtsetzung, zumal das formelle Gesetzgebungsverfahren, in dem Ruf, Vorhaben nur mit langer Anlaufzeit aufzugreifen, sie schleppend zu verfolgen und Anpassungen gegenüber wenig aufgeschlossen zu sein 137 . Das gilt sowohl auf der nationalen als auch (erst recht) auf EUEbene. Demzufolge bietet sich selbstregulative Normsetzung vor allem dort an, wo ein sich rasch veränderndes Umfeld keine Zeit für lange Verfahrensdauern läßt. Auf der Normanwendungsseite folgt die gegenüber der staatlichen Rechtsetzung größere Flexibilität nicht nur aus dem kooperativen Verhältnis zwischen Normformulierer und Normadressaten, sondern auch aus der fehlenden Justitiabilität der privaten Norm bzw. gegebenenfalls den gegenüber den staatlichen Gerichten schnelleren Revisibilitätsmöglichkeiten. Aber hier sind Anpassungen erforderlich, wenn die private Norm der Rechtsverbindlichkeit angenähert wird. In Wechselwirkung mit der oben genannten sozial-normativen Bindung steht der privater Normsetzung zugeschriebene Sachverstand. Selbstregulierende Instanzen 135
C.Möllers, VerwArch 90 (1999), 199 macht zu Recht darauf aufmerksam, daß die Kategorie der staatlichen Letztverantwortung hauptsächlich im Bereich zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Handeln eine eigenständige Bedeutung gewinnt. 136 Hiermit ist jedoch ein Phänomen angesprochen, das in ähnlicher Form auch der staatlichen Normsetzung eignet: Auch bei dieser korrespondieren die angestrebte Beachtung und die hierzu erforderlichen Implementations- und Kontrollkosten. Kostenerhöhend wirkt auch eine detailliertere im Vergleich zu einer bloßen Rahmenregelung, und zwar sowohl hinsichtlich der Ausarbeitung als auch hinsichtlich der Durchsetzung. 137 Vgl. z. B. Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 192ff.; dezidiert H.-P. Schneider, Wandel staatlicher Verantwortung, 128: „Jeder Jurist weiß, daß rechtliche Regelungen als ein Stück geronnener, mit allgemeiner Verbindlichkeit ausgestatteter Politik dem allgemeinen Problembewußtsein meist hinterherhinken, es selten abbilden und ihm fast nie vorauseilen". Roßkopf, Selbstregulierung, 44 Fn. 118 merkt dagegen zutreffend an, eine Anpassung der selbstregulativen Normen erfolge oft nicht aus eigenem Antrieb der Normsetzer, sondern erst unter dem Druck drohender staatlicher Regulierung, was das Flexibilitätsargument schwächt. Skeptisch auch Kopp, Norm vermeidende Absprachen, 102 ff.
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setzen sich typischerweise aus Vertretern des jeweiligen Industriezweiges, Verbandes o. ä. zusammen, die hochspezialisiertes theoretisches Wissen mit praktischer Erfahrung kombinieren 138. Aus der staatlichen Perspektive kann diese Einbeziehung privaten Sachverstands gefragt sein, weil spezifisches zur Normsetzung erforderliches Wissen gerade bei den Adressaten einer potentiellen staatlichen Regulierung vorhanden, gegebenenfalls monopolisiert ist 139 . Die Rechtsordnung verstärkt dieses Informationsungleichgewicht noch, indem sie Unternehmen vor allzu intensiven Eingriffen in ihre Geschäftsgeheimnisse schützt140. In tatsächlicher Hinsicht erschweren Komplexität und Dynamik der zu regelnden Sachverhalte die Steuerung. Auch im staatlichen Rechtsnormsetzungsverfahren ist zwar regelmäßig eine Anhörung von Beteiligten und Experten vorgesehen. Während dort jedoch die endgültige Entscheidung der demokratisch legitimierten staatlichen Instanz überlassen ist, agieren diese Experten in privaten Normsetzungsgremien unmittelbar entscheidungsbildend141. Beratung ist zeitaufwendig und unter Umständen teuer. Insgesamt ist deshalb für das Kapitalmarktrecht davon auszugehen, daß das proklamierte Informationsproblem weniger in einem nicht korrigierbaren Informationsdefizit wurzelt als in der mangelnden Flexibilität sowie vor allem den Kosten der Informationsbeschaffung. In der Berufung auf die sachverständige Normformulierung liegt bereits die weitergehende Frage nach der Akzeptanz begründet 142. Das reguläre Verhalten braucht von den Normunterworfenen nicht als gegenüber dem irregulären vorteilhaft empfunden zu werden. Akzeptanz kann auch aus Einsicht in eine Regelungsnotwendigkeit oder aus Furcht vor einschneidenderen Maßnahmen folgen 143 . Vor allem sollte 138 Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 203 ff.; Rönck, Technische Normen, 216 m. w. N. Vgl. auch Ladeur, DV Beiheft 4 (2001), 62ff.; aus ökonomischer Sicht Wegner, Wirtschaftspolitik, v.a. 156 ff. 139 Vgl. z.B. Oertel, Regulierungsbehörde, 182ff.; Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, 104. Dem korrespondiert ein mögliches Informationsproblem, das dort entstehen kann, wo dem Staat durch den Rückzug auf eine regulierte Selbstregulierung das erforderliche Steuerungswissen verloren zu gehen droht oder doch künftig nur in einer interessenbestimmten Vorauswahl zur Verfügung steht, Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 262 f. Auch dieses Risiko gilt es daher im Auge zu behalten. 140 Engel, FS Mestmäcker, 128; vgl. dens., StWStP 9 (1998), 574. Zur Bedeutung von Information als „Ressource der Zukunft" und den daraus folgenden Anforderungen an die Unternehmensorganisation (v. a. EDV) Mertens, FAZ vom 20.8.2001, 25. 141 Nachweise zur Ähnlichkeit von Kooperation und sachverständiger Beratung bereits in Fn. 96. Vgl. ähnlich Lange, VVDStRL44 (1986), 194 f. 142 Allgemein Hoffmann-Riem, AöR 115 (1990), 414f.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 95 f.; ders., Verfahrensgedanke, 9; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 815 ff.; Würtenberger, NJW 1991, 257 ff. In der Soziologie wird eine entsprechend akzeptierte Norm auch als „internalisiert" bezeichnet, vgl. Opp, Entstehung sozialer Normen, 218. Kritisch zur mangelnden Definition des Begriffs Luhmann, Legitimation, 109ff., 122. 143 Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, 492. Nach Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 60f. ist Akzeptanz sogar der „Kristallisationspunkt der Normsetzung überhaupt": „In ihr spiegelt sich wider, inwieweit die aufgrund der Vorschriften erstellten Daten tatsächlich als ent-
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die persönliche Integrität wie die fachliche Kompetenz der Normsetzer, die für die Befolgung ihrer Normen weitgehend auf freiwillige Unterwerfung angewiesen sind und mangels rechtlicher Durchsetzbarkeit an das Gewissen und die Berufsehre der Beteiligten appellieren, außer Zweifel stehen. Organisations- und Verfahrensvorschriften treten hinzu. Setzt sich das Gremium vollständig oder doch in Teilen aus den Normadressaten zusammen, ergibt sich eine im Vergleich zur notwendig distanzierten staatlichen Normierung stärkere Verbundenheit zwischen Normgeber und Normunterworfenen. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang auch Anhörungsrechte, so wie insgesamt strikte Verfahrensregeln die Reputation des Normsetzungsgremiums verbessern können144. Selbst dort, wo es einem privaten Regelwerk nicht gelingt, sich am Markt durchzusetzen, kann dies positive Wirkungen zeitigen. Zum einen können sich Anhaltspunkte ergeben, wie die Selbstregulierungsmaßnahme zu verbessern ist. Zum anderen kann die Tatsache, daß die private Regelung nicht angenommen wurde, als Argument für die hoheitliche Regulierung dienen und dadurch dieser zu erhöhter Akzeptanz verhelfen. Unter dem Aspekt der Steuerungsunwilligkeit gesellschaftlicher Subsysteme ergibt sich dagegen keine Notwendigkeit privater Selbstregulierung. Typischerweise sind diese Systeme gegenüber rechtlichen Steuerungsversuchen nicht vollständig immun, sondern nur in unterschiedlichem Maße autonom145. Hoheitliche Regulierung kann auch in abgeschlossenen sozialen Systemen durchgesetzt werden; sie erfordert allerdings einen erheblichen Aufwand an Kontrolle und Sanktionierung, der um so stärker werden muß, je höher die Autonomie des Subsystems und damit die gegen die fremdgesteuerte Regulierung gerichteten Energien sind. Aber eine Rechtsordnung, die unfähig zur Steuerung gesellschaftlicher Teilbereiche wäre, also keine Allgemeinverbindlichkeit mehr beanspruchen könnte, verlöre ihre Existenzberechtigung 146. Auch der Schluß, die in „selbstreferentiellen Verhältnissen wurzelnde Systemautonomie gesellschaftlicher Teilbereiche" sei gesetzgeberischen Direktinterventionen unzugänglich, mithin nur indirekte Einflußnahme möglich 147 , scheidungsrelevant, aktuell, vergleichbar, konsistent, neutral, sachgerecht, fundiert, verständlich und international kompatibel angesehen werden. Sie wird zum tatsächlichen Maßstab dafür, ob das Verhältnismäßigkeitserfordernis gewahrt wurde und eine ausgewogene Interessenabwägung stattgefunden hat. Die Akzeptanz der Normen ist somit das entscheidende Kriterium für die Güte des Normsetzungsprozesses". 144 Vgl. insoweit idealisierend Schendel, NVwZ 2001,497: „Selbstverpflichtungen sind das Ergebnis eines gründlichen mehrstufigen Meinungsbildungsprozesses. Er setzt zunächst voraus, daß die notwendigen Fakten und Tendenzen ermittelt werden, um daraus ein Konzept [...] zu entwickeln. Dazu finden intensive Abstimmungsgespräche im Rahmen der Verbände und Firmen statt. [...] Eine Einstimmigkeit wird weitgehend angestrebt". Parallel zu dieser verbandsinternen Sondierung soll eine Abstimmung mit den sonstigen Betroffenen, insbesondere mit den staatlichen Stellen erfolgen. Skeptisch Hoffmann-Riem, DV 28 (1995), 444f. 145 Vgl. nur Teubner, Recht als Autopoietisches System, 95 m. w. N. 146 Ähnlich W.Jellinek, Gesetzesanwendung, 23: „Die ständige Nichtübereinstimmung der Wirklichkeit mit dem Inhalt eines Gesetzes nimmt dem Gesetze den Charakter eines geltenden Rechtssatzes". 147 Teubner, Recht als Autopoietisches System, 96.
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geht noch zu weit. Die Tatsache, daß private Normsetzung nicht zwingend erforderlich ist, bedeutet aber nicht, daß sie nicht praktisch vorzugswürdig sein kann. „Direkte Steuerung ist deshalb nicht prinzipiell ausgeschlossen, aber unklug" 148 . Ebenso wie bei der Informationsverarbeitung geht es mithin nicht darum, daß das mögliche Steuerungsspektrum keine ordnungsrechtlichen Lösungen mehr umfaßt, sondern daß sich der Staat aus der Erweiterung auf den privaten Sektor Vorteile, vor allem Kostenersparnis, verspricht. Gewissermaßen im Widerspruch zur beschriebenen Steuerungsunwilligkeit, gleichwohl nicht in einem logischen Ausschließungsverhältnis zu ihr, steht ein möglicher Vorteil gerade der Statuierung rechtsunverbindlicher Regeln: Sie entlassen die Betroffenen nicht aus der Verantwortung für das eigene Handeln. Rechtliche Regeln können dazu führen, daß zwar ein Verhalten innerhalb des gesetzlich abgesteckten Rahmens erreicht wird, daß aber andererseits nicht nur weitergehende Selbstverpflichtungen gemieden werden, sondern sogar nach Umgehungsmöglichkeiten gesucht wird 149 . Eine gesetzestreue Gesinnung verlangt das Recht nicht 150 . Hält sich der Staat dagegen bewußt zurück und verzichtet auf eigene detaillierte Einzelregelungen, sondern überläßt diese selbstregulativen Normsetzungsgremien, weckt er Eigenverantwortlichkeit und nutzt damit den gesellschaftlichen Bereich 151. Unterstaatliche Regelwerke ohne die Möglichkeit der Erzwingung normkonformen Verhaltens sind aus diesem Grund tendenziell eher als obrigkeitliche gesetzliche Bestimmungen imstande, ein Bewußtsein für ordnungsgemäße Pflichterfüllung zu aktivieren 152. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die als Vorteile privater Regulierung angeführten Argumente nicht nur in sich zum Teil ambivalent, sondern vor allem in einem solchen Maße miteinander verknüpft sind, daß eine isolierte Betrachtung aus148 Engel, FS Mestmäcker, 130. In diese Richtung gehend auch Faber, Selbstregulierungssysteme, 81; Trute, DVB1 1996, 950; Weiß, Umweltpolitik, 92 ff. Vermittelnd Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 170. Ausführlich zum Ganzen Lepsius, Steuerungsdiskussion, 36ff. 149 Engel, FS Mestmäcker, 128; dersStWStP 9 (1998), 576f.; Wegner, Wirtschaftspolitik, 171 ff. 150 Vgl. Isensee, HStR III, § 57 Rn. 91. Zur Unterscheidung zwischen den äußeren Anforderungen des Rechts und den inneren Anforderungen der Moral nur Kantorowicz, Begriff des Rechts, 56ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre, v.a. 61 ff. 151 Pitschas, Normsetzung, 242f.; Stürner, Pressefreiheit, 112; Taupitz, Standesordnungen, 476 m.w.N.; vgl. BVerfGE 33,125 (156). Vgl. auch£«ge/, FS Mestmäcker, 131 f., demzufolge die Vorgabe von Organisations- und Verfahrensregeln nichtrechtliche Standards befördern kann und damit dem Staat die Möglichkeit eröffnet, rechtlich nicht erzwingbare innere Einstellungen zu beeinflussen („to enforce the unenforceable"). Es handelt sich gewissermaßen um eine „Gegenreformation", denn umgekehrt bedeutet nach Ossenbühl, HStR III, § 61 Rn. 56 die rechtliche Durchformung der Gesellschaft den Versuch, verlorengegangene gesellschaftliche Verhaltensstandards und Verhaltensmuster durch positives Recht zu ersetzen. 152 So für Standesordnungen Taupitz, Standesordnungen, 476. Zur Orientierung des Standesrechts an Standesmoral und -würde aber M. Schmidt, Standesrecht, 73 ff. Ähnlich Engel, StWStP 9 (1998), der auf die Problembewußtsein fördernde „kognitive Seite" der Mitarbeit an Normsetzung verweist.
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scheidet . Die Erforderlichkeit detaillierter Regelungen ebenso wie die partielle Abwesenheit rechtlicher Durchsetzungsmöglichkeiten resultiert in einem erhöhten Bedürfnis nach Akzeptanz durch die Normadressaten. Dies wiederum verlangt von den Normsetzern vor allem persönliche Integrität und fachliche Kompetenz. Schon aus Eigeninteresse sollten aber auch die Einrichtung und Einhaltung eines transparenten und interessengerechten Verfahrens hinzukommen. Die oft propagierte Flexibilität wird durch diese Erfordernisse zwar nicht aufgehoben, aber eingeschränkt. Die Staatsentlastung schließlich sinkt in dem Maße, in dem eine weitergehende Bindungswirkung staatliche Beteiligung verlangt und damit auch die staatsgerichteten Anforderungen steigen. 2. Insbesondere: Internationalisierung, Europäisierung, Globalisierung Gerade im Kapitalmarktrecht trägt die gegenwärtige, sich mit wachsender Geschwindigkeit vollziehende Internationalisierung wirtschaftlicher Vorgänge dazu bei, daß eigenständige nationale Regelungen ohne Rücksicht auf internationale Usancen oder transnationale Vereinbarungen immer weniger Aussicht auf eine erfolgreiche, den Erfordernissen des Schutzes der Anleger wie auch der Weiterentwicklung des heimischen Finanzmarktes gerecht werdende Steuerung besitzen. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind als zentrale Aspekte die multinational operierenden und organisierten Unternehmen und Konzerne sowie die internationale Handelbarkeit von Wertpapieren und neu entwickelten, derivativen Finanzinstrumenten154. Beides wird ermöglicht und bedingt durch die elektronischen Kommunikations- und Informationstechniken, die Grenzen nicht nur verschwimmen, sondern im Ergebnis sogar verschwinden lassen155. Auch die (wirtschafts-)wissenschaftliche Durchdringung ist nicht an regionale Vorstellungen oder nationalstaatliche Ökonomien gebunden, sondern verwendet weltweit einheitliche Parameter 156. Entsprechend ist auch die Expertise weltweit verteilt. Das Recht ist hingegen weiter (weitgehend) national157. Zwar legt beispielsweise das internationale Privatrecht in Teil153
Insgesamt sehr positiv dennoch Schuppen, VerwaltungsWissenschaft, 964; ders., DV Beiheft 4 (2001), 229; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 94: „Diese Liste der Pluspunkte gesellschaftlicher Selbstregulierung ist nicht nur auf den ersten Blick beeindruckend und überwiegt bei weitem die geltend gemachten Nachteile". 154 Ausgespart bleiben soll hier die internationale Wahrungspolitik. Vgl. zur Beeinflussung der nationalen Wirtschaftspolitik durch den internationalen Kapitalfluß Siebert, Kapitalmobilität, 41 ff. 155 Voigt, Globalisierung des Rechts, 14 spricht etwas drastisch von der „unheiligen Allianz" zwischen Kapital und Informationstechnologie. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Spindler, W M 2001, 1689ff.; allgemeiner Stober, Globales Wirtschaftsverwaltungsrecht, lff. 156 Man kann darüber streiten, ob die deutsche Bezeichnung „Volkswirtschaftslehre" daher so noch treffend und zeitgemäß ist. 157 Aus diesem Grunde ist auch die bisweilen anzutreffende Behauptung, es gebe nur noch einen einzigen, und zwar einen globalen, Kapitalmarkt, abzulehnen. So richtig hieran die Beobachtung ist, daß in Zeiten rasant wachsender Möglichkeiten elektronischer Kommunikation
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
bereichen fest, welche Rechtsnormen Anwendung finden. I m Regelfall ist jedoch der Geltungsbereich des Rechts auf ein bestimmtes Rechtsgebiet begrenzt, das zumeist mit dem Staatsterritorium identisch ist. Rechts- bzw. steuerungsfreie Räume drohen daher zu entstehen - sofern sie nicht bereits existieren - , wo eine Zuordnung zu einer nationalen Rechtsordnung nicht mehr oder doch nur schwer möglich ist 1 5 8 . Nationale regulatorische Alleingänge müssen sich zudem damit auseinandersetzen, daß die international tätigen privaten Akteure eines bestimmten Standortes nicht mehr bedürfen. Das traditionelle Verständnis, jeder Staat sei souverän und frei bei der Wahl, welches Recht auf seinem Hoheitsterritorium Anwendung finden soll, gilt deshalb in einer Welt des Wettbewerbs der national-immobilen Faktoren um die international-mobilen Faktoren, also um das mobile Kapital und um den mobilen Sachverstand 159 , nicht mehr uneingeschränkt 160 . Es ginge indes fehl, hier anzunehmen, ein derartiger Wettbewerb könne nur darin bestehen, die Marktteilnehmer durch möglichst geringe Anforderungen zu locken 1 6 1 . Dafür sind die Interessengeflechte zu komplex. Die günstigsten Bedingungen sind nicht die am schwächsten reglementierten. Wiewohl den professionellen Finanzdienstleistern und Unternehmen ebenso wie sonstigen wirtschaftlichen Akteuren 1 6 2 prinzipiell an einer weitgehenein Zusammenwachsen der Märkte stattfindet, das noch vor wenigen Jahren als kühne Spekulation abgetan worden wäre, bleibt es doch dabei, daß die nationalen Märkte sich durch ihre jeweiligen (nur territorial beschränkt geltenden) Regulierungssysteme unterscheiden und definieren. Wer an ihnen teilnehmen will, muß sich entsprechend den dort geltenden Maximen verhalten. Es wäre deshalb falsch, von der Verwendung des Plurals abzusehen. 158 Dies gilt v. a. für das öffentliche Recht, das grundsätzlich nur im Inland anwendbar ist. Ein besonders eindringliches Beispiel gibt die - aus anderen Gründen gescheiterte - Börsenfusion der Deutschen Börse AG, der Trägergesellschaft der Frankfurter Wertpapierbörse, mit der London Stock Exchange, deren rechtliche Zulässigkeit kontrovers diskutiert wurde. Vgl. die Gutachten von KümpellHammen, W M Sonderbeilage Nr. 3 2000, 3 ff.; U.H. Schneiderl Burgard, dort, 24ff.; Schwark, W M 2000, 2517 ff. Zur zukünftigen Entwicklung Köndgen, Zukunft der europäischen Börsen, 1401 ff.; zu elektronischen Börsen Spindler, W M 2001, 1696 ff. Zur exterritorialen Anwendung des deutschen Kapitalmarktrechts unter besonderer Berücksichtigung von § 130II GWB U.H. Schneider, AG 2001, 276ff. 159 Vgl. C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, 56; Piel, Steuerungspotential, 206f.; Siebert, Kapitalmobilität, 51. 160 Ebenso Piel, Steuerungspotential, 206: „Wettbewerb zwischen den Standorten ist immer auch Wettbewerb zwischen den nationalen Rechtssystemen. Dabei erzeugen die Imperative des Wettbewerbs einen kompetitiven Anpassungsdruck in Richtung auf eine marktgerechte nationalstaatliche Regulierung". Vgl. Ebke, FS Lutter, 17 ff. Der deutsche Gesetzgeber hat diese kompetitive Situation erfaßt und bezeichnet folgerichtig seine kapitalmarktbezogenen Reformvorhaben als „Finanzmarktförderungsgesetze". Vgl. z. B. Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 33. 161 Die nachfolgenden Überlegungen werden teilweise unter der anglo-amerikanischen Bezeichnung des „race to the bottom" bzw. „competition of laxity" ausgeführt. Ähnlich auch der sog. „Delaware-Effekt", benannt nach dem amerikanischen Bundesstaat mit den geringsten zwingenden gesellschaftsrechtlichen Anforderungen. Klassisch hierzu Carey, Yale Law Journal 83 (1974), 663 ff. 162 Als kostenreduzierende Faktoren der Verlagerung ins Ausland werden herkömmlich niedrigere regulatorische Anforderungen insbesondere in Hinblick auf Umwelt-, Arbeits- und Datenschutz genannt. Häufig beruht die Wahl ausländischer Produktionsstätten jedoch auf An-
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den Abwesenheit von Strukturierung durch Normenprogramme gelegen ist , können sie aus diesen doch auch gewichtige Vorteile ziehen. Oben wurde die Leitfunktion entsprechender Normen genannt. Als kapitalmarktspezifischer Motivationsfaktor tritt das Bedürfnis nach Anlegerpartizipation hinzu. Die Märkte sind auf die Investitionen der institutionellen wie privaten Kapitalgeber angewiesen. Speziell dort, wo neue Investoren gewonnen werden sollen, kann sich der erforderliche Prozeß der Vertrauensbildung noch nicht auf konkrete individuelle Erfahrungen stützen, sondern nur auf die generelle Reputation des Marktes. Um das Vertrauen der Anleger in das Funktionieren des Marktes, seine Seriosität und Integrität, d. h. das Systemvertrauen, zu erlangen, sind hinreichende anlegerschützende Vorschriften zu schaffen 164 , wobei zunächst nicht entscheidend ist, ob es sich dabei um staatliche oder private Normen handelt. Mittel zur Vertrauensgewinnung sind in beiden Fällen vor allem Gleichbehandlung und ein hohes Maß an Transparenz, das sich durch Informations- und Verhaltenspflichten sowie durch Publizitätserfordernisse erzielen läßt. Diese kompetitive Situation des „Buhlens" um Anleger ergibt sich nicht erst aus der Globalisierung; sie wird aber verstärkt durch die jetzt vorhandenen und wachsenden Möglichkeiten international gestreuter Anlagen. Während früher Zielpublikum vor allem die nationalen Anleger waren, müssen sich Unternehmen heute darauf einstellen, daß ein Großteil ihrer gehandelten Anteile nicht im eigenen Land verbleibt, sondern von ausländischen Investoren erworben wird 165 . Das gilt selbstverständlich für die (auch) an ausländischen Börsen gehandelten Werte; es gilt aber ebenso für die an den heimischen Märkten verbleibenden Papiere. Auch rigide Vorschriften und strenge Überwachung derselben können insofern einen kompetitiven Vorteil darstellen: Für die Normadressaten sind nicht nur die Regulierungsintensität und -dichte der konkurrierenden Systeme entscheidungsrelevant, sondern deren Qualität avanciert zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor 166. Im „global village" reizen, die nicht in einem negativen Abwesenheit von Produktionsstandards, sondern in positiven Unterstützungen (Steuervorteile, Subventionsgewährung, Erschließungshilfe) bestehen. Hierauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 163 Dies zu verkennen wäre naiv. Gerade im hochmobilen und stark international ausgerichteten Kapitalmarkt muß daher auch jede Regulierungsmaßnahme daraufhin geprüft werden, daß sie nicht die Betroffenen zur Abwanderung drängt und damit die Situation derjenigen, die eigentlich geschützt werden sollten, eher verschlechtert als verbessert. 164 Das 2. FMFG stellt sich ausdrücklich als eine „vertrauensbildende Maßnahme" dar, vgl. die Reg.-Begr., BT-Drucks. 12/6679, 33; ebenso Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 62. Zusammenfassend Hopt, Kapitalanlegerschutz, 337: „Anlegerschutz ist somit kein Geschenk [...] , sondern eine Notwendigkeit im System, das ohne die Anleger nicht auskommt". 165 Zur Deckung des Finanzierungsbedarfs der deutschen Unternehmen müssen neben den heimischen Vermögen auch die anlagesuchenden Gelder des Auslandes als Finanzierungsquelle erschlossen werden, vgl. Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 33. 166 Piel, Steuerungspotential, 208 m.w.N.; Röhl/Magen, ZRSoz 17 (1996), 40 Fn.65. Vgl. zur „Bereitstellungsfunktion des Rechtsordnung" Schuppert, Steuerungswissenschaft, 65 ff. Aus ökonomischer Sicht Kerber, Rechtseinheitlichkeit, 67 ff., 81 ff. Damit schwindet zugleich auch die Bedeutung, die einer supranationalen einheitlichen Rechtsetzung zukommt: Wo sich das nationale Recht bereits aufgrund der Marktsituation mehr und mehr vereinheitlicht, bedarf es einer speziellen angeordneten Harmonisierung nicht mehr in denselbem Ausmaße.
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werden Fehler einzelstaatlicher Reglementierungsversuche schonungslos aufgedeckt. Der internationale regulatorische Wettbewerb ist daher auch ein mögliches Mittel zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung der Normsetzung 167. Innerhalb des Begriffs der Internationalisierung des Rechts soll hier weiter differenziert werden. Zu unterscheiden ist zwischen Internationalisierung, Europäisierung und Globalisierung. Internationalisierung bezeichnet grundlegend die eben beschriebenen allgemeinen grenzüberschreitenden Wirkungen nationaler Rechtsetzung und umgekehrt die von außen auf die nationale Rechtsordnung einwirkenden Anregungen oder Zwänge. Europäisierung und Globalisierung sind Teilmengen dieser so verstandenen Internationalisierung. Überschneidungen sind dabei unvermeidlich. Die Europäisierung kann auf die Strukturen der Europäischen Union und des Gemeinsamen Marktes zurückgreifen bzw. wird von diesen verlangt und erzeugt. Rechtsvereinheitlichung ist hier mithin nicht bloß Ausfluß ökonomischer Vernunft 168, sondern beruht auf einer politischen Entscheidung169: Europäisierung bedeutet Vereinheitlichung auf EU-Ebene. Der Terminus der Globalisierung 170 dagegen soll hier zur Beschreibung weltweiter Angleichung herangezogen werden, für die es an der Europäischen Union vergleichbaren rechtlichen und politischen Strukturen fehlt. Angleichung schließt dabei einen globalen Wettbewerb nicht aus, im Gegenteil bedarf dieser eines einheitlichen Wettbewerbsmaßstabs als ersten Schrittes 171 . Weitergehende Einschränkungen sind erlaubt, wenn der „kleinste gemeinsame Nenner" festgelegt ist und Mindeststandards etabliert wurden. 167
Pessimistisch hinsichtlich der Rechnungslegung allerdings Großfeld, WPg 2001, 131, der erwartet, daß sich nicht Qualität, sondern wirtschaftliche Stärke durchsetzen werde, vgl. andererseits dort, 135. 168 Die erwarteten Vorteile sind jedoch nicht nur vor dem Hintergrund der Grundidee der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nachzuvollziehen, sondern auch für den konkreten Fall des integrierten europäischen Finanzmarktes zu rekapitulieren: Auf mikroökonomischer Ebene sind dies v. a. rationellere Kapitalallokation, größere Liquidität und mehr Wettbewerb. Unternehmen können ihre Geschäftsvorhaben leichter und billiger finanzieren. Auch höhere Nettorenditen für Verbraucher und kostengünstigere grenzüberschreitende Clearing- und Abrechnungsverfahren zählen zu den mikroökonomischen Vorteilen. Der Nutzen auf makroökonomischer Ebene ergibt sich durch höhere Kapital- und Arbeitsproduktivität, durch mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Vgl. hierzu den Lamfalussy-Bericht, 14f. 169 Ebenso Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1433; anders aber Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung. Zum ökonomischen Hintergrund der Schaffung des Gemeinsamen Marktes vgl. den Cecchini-Bericht; speziell für den Finanzmarkt Wörner, Bankenregulierung, 26 ff. Kritisch Mestmäcker, Marktversagen, 62 unter Verweis auf Sckwartz, FS von der Groeben, 357: „Der EWG-Vertrag strebt nicht den Wettbewerb der Normen, Vorschriften und Rechtsakte an, sondern der Unternehmen, ihrer Standorte und Erzeugnisse ohne künstliche durch das Recht bedingte Verfälschungen". Vgl. auch FAZ vom 17.9.2001,17,19 zu den Beschlüssen des Ersten Europäischen Juristentages, wo ein Wettbewerb der Rechtsordnungen positiv bewertet wurde. 170 Vgl. zur Entwicklung dieses Begriffs den Zwischenbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft, BT-Drucks. 14/6910, 2f. 171 Vgl. Mestmäcker, Marktversagen, 61 ff.; C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, 48. Insgesamt kann eine Gegenüberstellung von Wettbewerb oder Harmonisierung als Antipoden
B. Wirkungen privater Normsetzung
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Europäisierung und Globalisierung stellen zwei unterschiedliche Herangehensweisen dar, sich dem Phänomen verschmelzender Ökonomien zu stellen. Die Europäisierung geht aber aufgrund ihres auch politischen Charakters weit über eine bloße Antwort auf Internationalisierungsprozesse hinaus; sie initiiert diese auch. Ein in sich konsistentes und planvolles Vorgehen i m Sinne der Schaffung einer „Weltrechtsordnung" gibt es hingegen nicht 1 7 2 . Anders formuliert bedeutet dies: Europäisierung ist supranational, Globalisierung ist transnational.
a) Europäisierung A u f EU-Ebene bestehen mittlerweile ausdifferenzierte Rechtsetzungs- und Rechtsumsetzungsmechanismen, wobei teilweise die mitgliedstaatlichen Parlamente und Verwaltungen in Anspruch genommen werden, zunehmend jedoch sich „Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts" 173 herausbilden. Vertikale und horizontale Verfahren der Kooperation unterstützen eine fortschreitende Rechtsvereinheitlichung, die vor den Wertpapiermärkten nicht haltmacht 1 7 4 . Zahlreiche Richtnicht nachvollzogen werden. Beide sind Ausfluß der wirtschaftlichen Globalisierung; beide können sowohl unbewußt oder als Folge von Marktzwängen erfolgen als auch durch bewußte politische Entscheidungen gefördert werden. 172 Das hier vorgelegte Konzept unterscheidet sich damit etwas von anderen, mehr ökonomisch ausgerichteten Darstellungen. Die stärkere Gewichtung der strukturellen Unterschiede erscheint indes aus rechtlicher Perspektive eher als die Betonung des lokalen Bezugs geeignet, systematisierend zu wirken. Europäisierung ist eben mehr als „Regionalisierung" (so aber Voigt, Globalisierung des Rechts, 25). Entscheidend ist nicht so sehr die Begrenzung auf den europäischen Raum, sondern das Bestehen supranationaler, mit Rechtsetzungskompetenzen auch gegenüber den Mitgliedstaaten ausgestatteter Institutionen und die von diesen vorangetriebene Harmonisierung der divergierenden nationalen Rechtsordnungen. Auch die Bezeichnung der Europäisierung als Vorstufe einer Globalisierung des Rechts (Nahamowitz, Europarecht als teilglobalisiertes Rechtssystem) ist daher nicht ganz treffend, jedenfalls aber utopisch als auf globaler Ebene weder den EU-Organen entsprechende Institutionen bestehen noch geplant sind. Schleicher-Tappeser/Hey, Regionalisierung, Europäisierung, Globalisierung, 74f. machen geltend, bei einer genaueren Analyse stelle sich heraus, daß die Internationalisierung der Wirtschaft nicht den gesamten Globus erfaßt, sondern weitgehend nur eine „Kontinentalisierung" stattfände. Ausgangspunkt ist dabei unter anderem die Überlegung, daß die wirtschaftlichen Verflechtungen unter Ländern mit ähnlichem Entwicklungsniveau (und man wird ergänzen können: ähnlicher Wirtschaftskultur) am intensivsten sind. Sie schlagen daher vor, statt von Globalisierung präziser von einer „Europäisierung" zu sprechen. Auch hiermit werden aber die Unterschiede zwischen der weltweiten ökonomischen und der zwar in ihrem Ausgangspunkt auch wirtschaftlichen Interessen geschuldeten, mittlerweile aber politisch verselbständigten europäischen Angleichung nivelliert. 173 Vgl. die Beiträge in dem gleichnamigen, von Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem 1999 herausgegebenen Band; zur EG als Rechtsgemeinschaft z. B. Oppermann, Regulierungswut, 339 ff. 174 Dies gilt unbeschadet der Aussage von Hopt, Europäisches Kapitalmarktrecht, 309, daß im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht „eine auch nur überwiegende Harmonisierung [...] durch den europäischen Gesetzgeber weder realistisch noch wünschenswert ist". Vgl. auch Merkt, Angleichung des Gesellschaftsrechts, 321 ff.; Oppermann, Regulierungswut, 337ff.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
linien sind hier zum Zwecke der Harmonisierung bereits erlassen und umgesetzt worden 1 7 5 , und eine von den Wirtschafts- und Finanzministern der Europäischen Union (ECOFIN) eingesetzte Expertenkommission („Ausschuß der Weisen") hat jüngst einen Bericht veröffentlicht 1 7 6 , in dem ausführlich mögliche weitere Schritte auf dem Weg zu einem integrierten Finanzplatz Europa dargestellt werden. Der Ausschuß bemängelt, daß es trotz der vorhandenen Harmonisierungsbestrebungen noch immer an grundlegenden Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene fehle, und schlägt einige Prioritäten der künftigen Regulierung v o r 1 7 7 . Daneben erfährt die Reform des europäischen Rechtsetzungsverfahrens ausführliche Behandlung: I n dem Nichtfunktionieren des bisherigen Rechtsetzungssystems sieht der Ausschuß das „größte Problem" der Vereinheitlichung. Das System wird als zu langwierig und zu unflexibel kritisiert; es sei damit nicht in der Lage, schnell genug auf Marktveränderungen zu reagieren 178 . Die Zeit, die für die Aushandlung von Richtlinien gebraucht werde und deren Zweideutigkeit, ihre mangelnde Flexibilität und Anpassungsfähigkeit und die uneinheitliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten disqualifiziere das derzeitige Rechtsetzungssystem für eine seiner Bedeutung gerecht werdende Aufgabenwahrnehmung. Der Schlußbericht enthält folgerichtig einen Reformvorschlag zum europäischen Rechtsetzungsverfahren, in dem zwischen politischen Grundentscheidungen und detaillierten technischen Vorschriften unterschieden wird (sog. 4-Stufen-Konzept) 1 7 9 . 175
Vgl. die grundlegende Darstellung von Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 36ff., 528ff. Kurze Zusammenfassung bei Claussen, Börsenrecht, 442ff.; v.Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 42ff.; Merkt, Gutachten, 19ff.; Seitz, BKR 2002, 340ff. Kritisch dennoch U.H. Schneider, AG 2001, 269 m. w. N.: „Die europäische Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Kapitalmarktrechts ist unvollkommen, das Verfahren ist langwierig, Anpassungen sind holprig". Schneider zufolge kann eine Angleichung durch Richtlinien die Unterschiede in den nationalen Ordnungen nicht beseitigen; es bleibe beim Effekt einer kumulativen Anwendung des öffentlichen Kapitalmarktrechts. Erforderlich sei daher eine Rechtsvereinheitlichung mittels Verordnungen, dort, 273, 278. 176 Schlußbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte (nach dem Ausschußvorsitzenden Lamfalussy-Bericht genannt). 177 Die Kernpunkte der Empfehlungen des Ausschusses umfassen die Einführung eines einheitlichen Prospektes für Emittenten mit obligatorischer Globalregistrierung und eines Europäischen Passes für anerkannte Aktienbörsen, Aktualisierung der Börsenzulassungsanforderungen, Einführung einer klaren Unterscheidung zwischen Zulassung zur Börse und Zulassung zum Handel, Herkunftslandkontrolle (gegenseitige Anerkennung) für alle Großkundenmärkte und präzise Definition des professionellen Anlegers, Aktualisierung von Anlagevorschriften für Investment- und Pensionsfonds und Einführung internationaler Rechnungslegungsgrundsätze, vgl. Lamfalussy-Bericht, 6, 16 ff. 178 Lamfalussy-Bericht, 21. 179 Lamfalussy-Bericht, 26 ff. Stufe eins: EU-Rahmenregelung durch Festlegung allgemeiner Grundsätze (Festlegung politischer Grundprinzipien, wobei sich die Regierungen der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament auf diese Prinzipen einigen und gemeinsam Art und Umfang der zu ergreifenden technischen Umsetzungsmaßnahmen festlegen. Der Ausschuß empfiehlt der Kommission ein strengeres und transparenteres Konsultationsverfahren mit den Mitgliedstaaten, Regulierungsbehörden und der Finanzbranche in der Phase vor der Rechtsetzung.).
B. Wirkungen privater Normsetzung
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Für eine eingehendere Analyse der Vorschläge des Ausschusses ist hier nicht der Ort. Es fällt jedoch auf, daß trotz der bezeichneten Mißstände des europäischen Rechtsetzungsverfahrens private Normsetzung nicht oder doch nur am Rande erwähnt wird. I m Grundsatz dürfte dies darauf zurückzuführen sein, daß die Aufgabenstellung nicht von einem Umbau des europäischen Rechtsetzungssystems hin zu einer Kooperation zwischen EU-Institutionen und privaten Organisationen ausging und die Reformvorschläge sich daher prinzipiell innerhalb der bestehenden Institutionen bewegen. Aber auch soweit neue Ausschüsse geplant sind, sollen diese in die europäische Verwaltung integriert werden; Private erhalten nach den Vorstellungen des „Ausschusses der Weisen" nur beratende Funktionen 1 8 0 . Offensichtlich wird private Normsetzung als nicht tauglich zur Erreichung der Harmonisierung angesehen 1 8 1 . Hierfür spricht auch, daß es die fehlende Rechtsverbindlichkeit privater Normen erschweren, wenn nicht unmöglich machen dürfte, diese zur Umsetzung europäischer Vorgaben einzusetzen. A u f europäischer Ebene ist damit ein Trend zum weiteren Ausbau der supranationalen Verwaltung auszumachen, eine zur Einbeziehung Privater gegenläufige Entwicklung 1 8 2 . Stufe zwei: Verabschiedung von EU-Durchführungsmaßnahmen (Zwei neue Ausschüsse sind vorgesehen: Der EU-Wertpapierausschuß - ESC - und der Ausschuß der EU-Wertpapierregulierungsbehörden - ESRC. Aufgabe des ESRC ist die inhaltliche Bearbeitung der technischen Durchführungsbestimmungen und deren Abstimmung mit der Finanzbranche. Auf dieser Basis soll die Kommission dann einen Vorschlag verabschieden und diesen dem ESC zur Zustimmung zuleiten. Das Europäische Parlament hätte das Recht, die Kommission zur sorgfältigen Berücksichtigung der von ihm vorgebrachten Bedenken zu zwingen, und kontrollierte damit, zusammen mit dem Ministerrat, auch den Bereich der Durchführungsbestimmungen.). Vgl. hierzu auch ABl. EG Nr. L191/43 und 45 vom 13.7.2002. Stufe drei: Verstärkte Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Regulierungsbehörden (Der ESRC hätte die Aufgabe, das Funktionieren der Gesetze in der Praxis durch laufend herausgegebene Verwaltungsrichtlinien, Empfehlungen für gemeinsame Auslegungen, gemeinsame Grundsätze in nicht unter EU-Rechtsvorschriften fallenden Bereichen, Vergleichen der Regulierungspraxis zur Verbesserung der Durchsetzung sowie durch Peer Reviews sicherzustellen.). Stufe vier: Bessere Durchsetzung (Die Kommission soll das Gemeinschaftsrecht energischer durchsetzen und die gesetzgeberische Umsetzung strenger überprüfen. Diese Struktur soll nicht auf Dauer beibehalten werden, sondern halbjährlich durch einen Kontrollausschuß überprüft werden. Der sollte aus jeweils zwei Beauftragten jeder EU-Institution bestehen. Im Jahr 2004 sollte die Struktur vollständig überarbeitet werden, damit die Ergebnisse in die nächste Regierungskonferenz einfließen können. Falls jedoch keine Fortschritte zu erkennen sind, sollte die vollständige Überprüfung bereits früher stattfinden.). 180 Zur Beratung durch wissenschaftliche Ausschüsse detailliert Knipschild, ZLR 2000, 693 ff. 181 Eine Ausnahme bildet insoweit der von der Kommission vorgelegte Vorschlag einer Verordnung zur Harmonisierung der Rechnungslegung, KOM (2001) 80 endg. Vgl. das zweite Kapitel C.V. 182 Vgl. auch die entsprechende Skepsis der Kommission hinsichtlich der möglichen Rechtszersplitterung durch nichtstaatliche, private Gremien am Beispiel der Corporate Governance, KOM (1999) 232 endg., abgedruckt in ZBB 1999, 254. Zum Spannungsfeld Harmonisierung/ Systemwettbewerb in der EU bspw. Mestmäcker, Marktversagen, 59 ff.
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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b)
Globalisierung
A u f globaler Ebene fehlt es an entsprechenden Kooperations- und Vereinheitlichungsstrukturen; erst recht besteht keine globale Implementationsgarantie 183 . Es existieren zwar bereits einige international gültige Vorschriften. Beispielsweise hat das Internationale Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts mit den von ihm verabschiedeten Unidroit-Prinzipien Grundregeln für internationale Handelsverträge geschaffen; ähnlich die Welthandelsorganisation, deren Regeln allerdings nur selten unmittelbare Wirkung entfalten und der Umsetzung durch die W T O - M i t gliedstaaten bedürfen 184 . Kapitalmarktspezifischer wäre die internationale Vereinigung der Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörden IOSCO zu nennen 1 8 5 . Diese Regelungsversuche setzen jedoch alle nur punktuell an und können weder mit der Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene gleichgesetzt noch als Versuch zur Schaffung eines einheitlichen Weltrechts angesehen werden. Statt dessen kommt die weltweite Harmonisierung oft ohne eigentliches Recht aus und erfolgt durch sog. „soft law", das zwar eine der rechtlichen Bindungskraft ähnliche, aber keine tatsächlich rechtliche Verbindlichkeit erzeugt 1 8 6 . Hier öffnet sich ein weites AnwenDiese Aussage stellt jedoch lediglich eine auf den Kapitalmarktsektor bezogene Gegenwartsanalyse dar und läßt sich nicht pauschal auf andere Regelungsbereiche übertragen. Insbesondere im Bereich der technischen Normung sind es gerade die europäischen Harmonisierungsbestrebungen, die die Einbeziehung privater Standardsetzer fordern und vorantreiben. Hierzu statt vieler etwa Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, v. a. 31 ff.; Holle, Normierungskonzepte, 259ff.; Rönck, Technische Normen; Schmidt-Preuß, Regelwerke, 92; Zubke-von Thünen, Technische Normung sowie die Beiträge in: Müller-Graff (Hrsg.), Technische Regeln. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht Voelzkow, Private Regierungen, 111 f., 261 ff. 183 Voigt, Globalisierung des Rechts, 16. 184 Im Gegensatz zu Richtlinien der EU handelt es sich dabei nicht um eine Umsetzungspflicht. Vgl. zu WTO und GATT v.Bogdandy, EuZW 2001, 357ff., 360ff. m. w.N.; Nahamowitz, Europarecht als teilglobalisiertes Rechtssystem, 159 ff. Teilweise wird gefordert, den Normen von GATT und WTO unmittelbare Rechts Wirkung zuzugestehen, was insbesondere durch den EuGH geschehen könne, um eine der Entwicklung bei den europäischen Grundfreiheiten vergleichbare Entwicklung anzustoßen, Schwintowski, StWStP 6 (1995), 31 f.; ablehnend aufgrund der fehlenden Rechtssicherheit dagegen v. Bogdandy, a. a. O. Zur privaten Normsetzung in Form der sog. Lex Mercatoria vgl. Mertens, Lex Mercatoria, 31 ff. Ein Überblick über von den UN, der OECD und der ILO erarbeitete, internationale Beachtung beanspruchende, aber rechtlich unverbindliche Regelwerke findet sich unter http://www.multinationalguidelines.org. Vgl. dazu auch Stober, Globales Wirtschaftsverwaltungsrecht, 10 ff. 185
Vgl. z.B. v.Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 153f. m. w.N. Voigt, Globalisierung, 27. Bisweilen wird dennoch die internationale Normierung schon als ein „Weltrecht ohne Staat" bezeichnet; die Globalisierung soll hiemach dazu führen, daß die tradierte Rechtsquellenlehre mit der hierarchischen Ausrichtung auf den Staat überdacht werden muß. Vgl. Teubner, Global Law, xiv, 3 ff. Soweit sind wir indes noch nicht. Der Geltungsanspruch des (immer noch: im wesentlichen nationalstaatlichen) Rechts wird jedenfalls durch die privaten internationalen Regeln auch dann nicht berührt, wenn diese sich selbst für „Recht" erklären, vgl. z.B. K.F. Röhl, Rechtslehre, 277f. Zur Rechtsetzung durch internationale Organisationen und die erforderlichen Umsetzungsmechanismen in den einzelnen Staaten allgemein Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, Rn. 1501 ff., 186
B. Wirkungen privater Normsetzung
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dungsfeld für private Normsetzung, die anders als staatliche Rechtsetzung nicht durch territoriale Differenzierung gebunden ist 187 . Die Vorteile der privaten Normierung, namentlich die größere Schnelligkeit der Normsetzungsverfahren und die daraus folgende Anpassungsflexibilität, können hier in besonderer Weise genutzt werden. Zu berücksichtigen ist ferner die höhere Bereitschaft privater Verbände, fremde Vorstellungen anzunehmen, wenn sie sich davon wirtschaftliche Vorteile versprechen 188 . Im Gegensatz hierzu eignet staatlicher Regulierung oft ein spezifisch nationaler Ansatz; sie muß sich mit nationalen Interessengruppen und deren Lobbyisten auseinandersetzen und endet damit im Ergebnis oft selbst dann in einem nationalen Sonderweg, wenn Ausgangspunkt die Angleichung an internationale Standards war. Vorteilhaft sind weiterhin auf privater Ebene bestehende Kooperationsverfahren, wie sie insbesondere im Verbandswesen existieren. Deutsche Verbände sind in internationale Dachvereinigungen eingebunden und damit nicht nur bereits im Vorfeld eigener Regulierung perspektivisch auf internationale Regeln ausgerichtet, sondern auch zur Mitarbeit an der Schaffung internationaler Standards befähigt. Die Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit können die nationale Normsetzung befruchten, ihr neue Impulse geben und sie in eine gemeinsame Richtung lenken. Umgekehrt eröffnen sie die Möglichkeit, positive Erfahrungen deutscher Regulierungsstrategien weiterzugeben. Selbststeuerungsmechanismen sind aus diesen Gründen im Grundsatz besser geeignet zur globalen Regulierungsvereinheitlichung, allerdings um den Preis einer fehlenden Letztverbindlichkeit. Staatliche Regeln hingegen besitzen diese Letztverbindlichkeit, leiden aber an der unzureichenden Flexibilität. Die Gefahren einer vermehrt an internationalen Vorgaben ausgerichteten Regulierung liegen vor allem in einer nationale Besonderheiten vernachlässigenden, zu rigorosen Adaption. Auch bei zunehmender Annäherung der ökonomischen Bedingungen bleiben Unterschiede bestehen, die sich aus den nationalen Rechtsordnun1701 ff.; vgl. auch U. Immenga, FS Mestmäcker, 593 ff.; Riedinger, Rolle nichtstaatlicher Organisationen. 187 Hierzu Trute, Funktionen der Organisation, 251: „Mit den Internationalisierungstendenzen, also der räumlichen und sachlichen Dispersion von Problemursachen und Folgen, geht ein Verlust an Gestaltungskraft staatlicher Akteure einher, die auf pluralistische und korporatistische Arrangements und intergouvernementale Verhandlungen zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse angewiesen sind". Kritisch zur „Entparlamentarisierung" P. Kirchhof\ ZGR 2000, 690 f.; ihm zustimmend Martin Wolf ZRP 2002, 60. 188 Beispielsweise legen sich in Deutschland Emittenten und Konsortialbanken regelmäßig bei internationalen Plazierungen im Zusammenhang mit einer Wertpapiertransaktion gegenüber der deutschen Gesetzeslage weitergehende Selbstbeschränkungen bei der Öffentlichkeitsarbeit auf, um nicht den Erfolg einer Privatplazierung oder eines „dual listing" außerhalb Deutschlands zu gefährden. Diese Selbstbeschränkungen ergeben sich im wesentlichen daraus, daß nach den Bestimmungen des US-amerikanischen Wertpapierrechts auch bei Wertpapieremissionen außerhalb der USA keine direkten Verkaufsbemühungen oder als solche interpretierbaren Aktivitäten in den Vereinigten Staaten unternommen werden dürfen, vgl. Hutterl DevlinlSchmidt, Kapitalmarktrecht, 71. 5 Augsberg
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
gen, aber auch aus den nach wie vor divergierenden Rechtskulturen speisen. In diese Richtung geht auch die Kritik, bei der Globalisierung des Rechts handele es sich eigentlich um eine Amerikanisierung des Rechts189. Tatsächlich folgt schon aus der wirtschaftlichen Dominanz des amerikanischen (Finanz-)Marktes eine gewisse rechtliche Vormachtstellung. Die USA und auch Großbritannien verfügen zudem gerade im Bereich des Finanz- und Kapitalmarktrechts über einen gegenüber den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen beachtlichen Erfahrungsvorsprung. Als weiterer Grund wird bisweilen die größere Anpassungs- und Innovationsfähigkeit des case law-Systems genannt. Im vorliegenden Zusammenhang muß zudem auf die lange Tradition gesellschaftlicher Selbstregulierung vor allem in Großbritannien hingewiesen werden, die vielfach heute von anderen Ländern zum Vorbild genommen wird 190 . Die Orientierung an der britischen Kapitalmarktsteuerung kann auch in Deutschland möglicherweise eine verstärkte Akzeptanz privater Normsetzung bewirken. Insgesamt gilt es, einerseits die anglo-amerikanischen Erfahrungen zu nutzen, sich andererseits aber gegenüber Usurpationsbestrebungen zu behaupten. Sowohl für die staatliche als auch für die private Normsetzung muß die Maxime unangetastet bleiben, daß die inländischen Normadressaten nicht im Endeffekt der Willkür einer nicht zu kontrollierenden fremdländischen oder internationalen Normsetzungsorganisation ausgeliefert werden dürfen. Anpassung kann nicht gleichbedeutend sein mit Unterwerfung. Die Harmonisierung muß ein gegenseitiger Prozeß sein, und wenn die größere Anpassungsfähigkeit und -Willigkeit privater Normsetzer positiv hervorgehoben wird, muß im Gegenzug sichergestellt werden, daß diese nicht im Ergebnis zu einem fremdgesteuerten Verhalten führen. Die hier angenommene prinzipielle Vorteilhaftigkeit privater Normen zur Reaktion auf die zunehmende Globalisierung wirtschaftlicher Vorgänge ist freilich nicht unangefochten. Teilweise wird argumentiert, die Globalisierung führte nicht zu einem einseitigen Autonomieverlust seitens des Nationalstaates, sondern beeinträchtige auch die Selbststeuerungsfähigkeit der privaten Marktakteure 191. Globalisierung wäre demnach weniger dazu bestimmt, Selbstregulierung zu befördern als zu gefährden. Umgekehrt soll sie sich als Chance für den regulierenden Staat darstellen, dem sie die Möglichkeit eröffne, rechtliche Steuerung als einen „Aktivposten" 189 Hierzu insbes. Shapiro , Global Legal Studies Journal 1993, 39,48. Vgl. auch C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, 52 m. w. N. 190 Als Beispiele wären der City Code on Take-overs and Mergers sowie die Codes of Best Practice zu nennen. Ausführlich und materialreich hierzu Roßkopf \ Selbstregulierung, v. a. 136 ff., 224 ff.; vgl. auch Hoeren, Selbstregulierung, 196 ff. Die USA setzen demgegenüber auf eine starke exekutive Stelle („agency"), die SEC, vgl. z.B. (rechtsvergleichend Nasdaq/Neuer Markt) HutterlDevlinlSchmidt, Kapitalmarktrecht, 54ff.; vgl. aber auch dort, 61, den Hinweis auf die in See. 19 Exchange Act enthaltene Möglichkeit, sog. Self Regulatory Organizations (SRO, z. B. die NASD) zu ermächtigen, bindende Regelungen außerhalb ihres eigenen Wirkungskreises zu erlassen. Skeptisch Hopt, Kapitalanlegerschutz, 152 ff. 191 Fiel, Steuerungspotential, 203 ff. Was allerdings unter dem beklagten „Zusammenspiel von Globalisierung und Wissensbasierung des Finanzsystems" zu verstehen sein soll, bleibt unklar.
B. Wirkungen privater Normsetzung
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192
internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu nutzen . Beispielhaft werden hierfür genannt die durch das Zweite Finanzmarktförderungsgesetz 193 erfolgten „Reregulierungsmaßnahmen", im speziellen die verschärfte Börsenaufsicht und die Ersetzung der selbstregulativen Insider-Richtlinien und Händler- und Beraterregeln durch ein gesetzliches Insiderhandelsverbot (§§ 12ff. WpHG) 194 . Tatsächlich beruht aber dieses Gesetz nicht so sehr auf einem Versagen der freiwilligen Selbstverpflichtung oder eines Erachtens derselben als Wettbewerbsnachteil, sondern auf von außen, nämlich seitens der EU, auf den deutschen Gesetzgeber einwirkende Bestrebungen zur Harmonisierung des europäischen Gesellschaftsrechts 195. Gleichwohl hat die Globalisierung natürlich Auswirkungen auf private Selbstregulierungsinstanzen, sofern diese nicht mehr autonom über ihre Angelegenheiten entscheiden können, sondern sich an internationalen Erwartungen orientieren müssen. Insoweit ist ihr Handlungsspielraum eingeschränkt. Akzeptiert man aber die Prämisse der Erforderlichkeit internationaler Regulierungsharmonisierung, greift es zu kurz, hieraus für die Privaten eine Gefahr, für den Staat hingegen eine Chance zu deduzieren. Entscheidende Bedeutung kommt der Frage zu, wer nach Organisation und Verfahren am besten dazu geeignet ist, die entsprechenden Anpassungen vorzunehmen, was private Normsetzer keinesfalls von vornherein benachteiligt. Die Rechtsverbindlichkeit der erlassenen Normen stellt ein starkes Indiz für adäquate Steuerung dar, allein entscheidend ist sie nicht. Sachnähe und Problemkomplexität können ihr Fehlen unter Umständen mehr als ausgleichen. Umgekehrt ist das Steuerungspotential staatlicher Rechtsetzung eingeschränkt, wenn sie mit Informations- und Vollzugsdefiziten kämpfen muß und mit den ständigen Veränderungen am Weltmarkt nicht Schritt zu halten vermag. Über die Einbeziehung Privater kann daher additives Steuerungspotential erschlossen und größere Steuerungstiefe und -dichte erzielt werden. Hoheitliche Rahmenregulierung wird dadurch nicht entbehrlich. Die Globalisierung setzt eine neue, arbeitsteilige Handlungsweise voraus 196. Gerade die neuen Herausforderungen verlangen ein kooperatives Vorgehen, in dem die privaten 192
So Piel, Steuerungspotential, 204. Zum Systemwettbewerb Mestmäcker, Marktversagen,
59 ff. 193 BGBl. I 1994, 1749ff. Vgl. Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn.8.9, zum 2. und 3. FMFG dort, Rn. 12.27 (allerdings bezogen auf Investmentfonds): „umfangreiche Deregulierungen und Liberalisierungen". 194 Piel, Steuerungspotential, 209 ff. 195 Vgl. Hoeren, Selbstregulierung, 228; dens., ZBB 1993, 112ff. Zur Entwicklung des Insiderrechts außerdem z.B. Assmann, AG 1994, 196ff.; Caspari, ZGR 1994, 530ff.; Hueck, Verbot des Insiderhandelns; F. Immenga, ZBB 1995, 197ff.; Süßlinger, AG 1997, 63 ff. sowie bereits Schwark, Kapitalanlegerschutz, 229 ff. 196 So i.E. dann auch Piel, Steuerungspotential, 216: „Sofern die Defizite rechtlicher Steuerung globalisierter Teilsysteme sich nicht einfach in der mangelnden Reichweite des territorial limitierten Rechts erschöpfen, sondern v. a. auch auf die strukturelle Intransparenz des jeweiligen Regelungsbereiches zurückzuführen sind, heißt die Schlüsselfrage nicht mehr ,to regulate or not to regulate'. Vielmehr dürfte der Erfolg staatlicher Steuerungsversuche mehr denn je von der Einbeziehung privater Ressourcen, auch in Kembereichen staatlichen Handelns, abhängen".
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
Akteure der nach wie vor bestehenden Rolle des Nationalstaates als (primärem) Garanten der Rechtsordnung gewahr bleiben, staatliche Stellen dagegen auf veränderte Staatsaufgaben nicht mit dem Versuch zur Aufrechterhaltung des status quo oder einem Alleinvertretungsanspruch reagieren, sondern den Dialog mit den Betroffenen und die Mitarbeit der Adressaten suchen. Staatlicherseits dürfte dabei darauf zu achten sein, daß die nationalen Besonderheiten sich auch dann in der Regulierungsform wiederfinden, wenn Private zu vollständiger Konvergenz mit ausländischen Vorschriften tendieren. c) Normsetzungspluralisierung Was folgt nun zusammenfassend aus den geschilderten Vor- und Nachteilen der privaten Normsetzung gerade in Hinblick auf die Internationalisierung des Kapitalmarktrechts? Im Rahmen der Europäisierung kann offenbar privater Normsetzung nur eine untergeordnete Rolle zuerkannt werden, denn die EU-Institutionen haben sich gegen eine verstärkte Nutzung privatinitiativer Selbststeuerung des Kapitalmarktes entschieden. Die zunehmende Durchdringung und Überlagerung des nationalen Rechts durch EU-Regelungen - beispielhaft sei die hinlänglich bekannte Feststellung erwähnt, im Wirtschaftsrecht hätten letztere die mitgliedstaatlichen sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Bedeutung schon überholt - führt zu einer doppelten Regelungsschicht, bei deren Durch- und Umsetzung die nationalen mitgliedstaatlichen und die supranationalen europäischen Organe eng miteinander kooperieren. Für private Normsetzung bleibt hingegen nach der gegenwärtigen Konzeption im Kapitalmarktrecht wenig Raum 197 . Aus dem Phänomen der Globalisierung lassen sich demgegenüber durchaus widersprüchliche Schlüsse ziehen: Stellt sie sich eher als eine Chance für den regulierenden Staat dar oder ist in ihrer Folge eine Überforderung des Staates zu erwarten? Führt die wachsende Vernetzung der „financial Community" zu einer Beeinträchtigung der Selbststeuerungsfähigkeit der Marktakteure oder ist im Gegenteil die private Regulierung einer weltweiten Standardisierung gegenüber offener? Die Fragen lassen sich sicherlich theoretisch nur schwer und schon gar nicht in abschließender und alle Teilaspekte berücksichtigender Weise beantworten. Ein „Nullsummenspiel" in dem Sinne, ein Autonomiezugewinn auf Seiten des Marktes bedeutete einen Steuerungsverlust auf Seiten des Staates, ist allerdings unrealistisch. Die Dichotomie Staat/Markt ist nicht als ein konträrer Dualismus zu verstehen, sondern kann auch Kooperation und Ergänzung bedeuten. Die Globalisierung trägt dazu bei, daß auf staatlicher Seite ein Bedürfnis nach Entlastung entsteht, dem auf privater Seite ein Drängen nach Partizipation korrespondiert. Sie befördert mithin - ebenso wie andere, auf der nationalen Ebene angesiedelte Steuerungsproblematiken - eine Pluralisierung der Normsetzungsverfahren, d. h. eine Verlagerung der Aufgabe der Normformulierung auf verschiedene staatli197
Allgemein skeptisch zur Harmonisierung durch „soft law" Merkt, Angleichung des Gesellschaftsrechts, 335 f.
B. Wirkungen privater Normsetzung
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che, private oder staatlich-privat kooperative Gremien und gegebenenfalls unterschiedlich geartete Rezeptionsmechanismen198. 3. Pluralität der (privaten) Normsetzer Von der Pluralisierung der Normsetzungsverfahren zu unterscheiden ist die auf privater Seite bestehende Pluralität der Normsetzer. Häufig ist es nicht eine einzelne gesellschaftliche Gruppe, die sich des Normsetzungsprozesses annimmt, sondern mehrere voneinander unabhängige Organisationen oder Gremien bieten jeweils autark Regulierungsvorschläge an. Die Folge sind Unklarheiten hinsichtlich der an den einzelnen Normadressaten gestellten Anforderungen. Beklagt wird auch die durch parallel arbeitende Organisationen sich ergebende Ressourcenverschwendung, der Zeitverzug und die dem Vorhandensein übermäßiger Konkurrenz geschuldeten Inkonsistenzen in der Standardisierung 199. Um dies zu vermeiden, wird bisweilen versucht, durch staatliche Maßnahmen ein bestimmtes Gremium zu privilegieren und seinen Normen zu erhöhter Aufmerksamkeit und Wirksamkeit, gegebenenfalls sogar zu voller Rechtskraft, zu verhelfen. Hier gilt es, die Vorteile der Rechtsklarheit gegenüber den Vorteilen einer pluralistischen Normsetzung abzuwägen. Trägt eine staatliche Maßnahme solchermaßen zur (erneuten) Monopolbildung bei, ist zum einen zu fragen, ob hierdurch nicht möglicherweise die Konkurrenten in unzulässiger Weise benachteiligt werden. Schon aus diesem Grunde ist eine rechtliche Regelung der Auswahl unter mehreren Systemen bzw. Normkomplexen erforderlich 200. Zum anderen ist aber auch zu klären, ob die Monopolisierung nicht zu einem Minus an Steuerungsfähigkeit, vor allem aber auch zu einem Minus an Innovationskraft führt, wenn der bisherige regulative Wettbewerb wegfällt 201 . Zwar ist richtig, daß eine 198
Eine nähere Konturierung der sich hier ergebenden Chancen neuer Normsetzungsstrategien versucht das dritte Kapitel zu leisten. Diese Pluralisierung der Normsetzungsverfahren führt indes nach der hier vertretenen konservativen Definition von Recht nicht zu einer „Plurifizierung der Rechtsquellen" (so aber C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, 41 ff., 49f.; vgl. dagegen noch dens., Staat als Argument, 348), da auch in einer globalisierten Wirtschaft mit unterschiedlichen Normsetzungskonzepten und starken sozial-normativen Bindungen Rechtsverbindlichkeit weiterhin einen staatlichen Geltungsbefehl voraussetzt. Sieht man dies als allzu sehr dem nationalstaatlich-formalisierten Rechtsbegriff verhaftet an, dann muß möglicherweise tatsächlich eine neue Definition gefunden werden. Solange dies aber nicht in überzeugender Weise gelungen ist und sich Rechtsverbindlichkeit auch in komplexeren Systemen mit der Rückbindung an die demokratisch legitimierten Staatsorgane erklären läßt, besteht keine Veranlassung, von der eingangs angenommenen Sichtweise abzuweichen. 199 Vgl. die Nachweise bei Genschel, Dynamische Verflechtung, 233 f. 200 Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 263. 201 Vgl. allgemein Hopt, Kapitalanlegerschutz, 169, nach dem sich „im Wettbewerb der Erfindungsreichtum der einzelnen als die wichtigste Quelle gesellschaftlicher Produktivität erschließt". Selbst dort, wo die Normsetzer nicht im direkten Wettbewerb stehen, weil sich ihre Aufgabengebiete nur partiell oder überhaupt nicht überschneiden, kann Pluralität doch größere Detailschärfe durch ein näher an den Betroffenen agierendes Gremium bedeuten.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
Mehrzahl von Normsetzern allein noch keine größere Qualität der erzeugten Normen garantiert. Das Interesse daran, den eigenen Normen zu möglichst allgemeiner Geltung zu verhelfen, wird aber in der Praxis zu einem Streben führen, die Akzeptanz der Normadressaten zu gewinnen202. Mittel hierzu sind wie gesehen ein mit sachverständigen und persönlich integeren Mitgliedern besetztes Normsetzungsgremium und ein transparentes Normsetzungsverfahren, das für den Normunterworfenen Möglichkeiten der Einflußnahme bereithält. Der regulatorische Wettbewerb beeinflußt damit nicht nur die materiellen Ergebnisse, sondern auch den formellen Rahmen der privaten Normsetzung und trägt zu beider Optimierung bei. Wenn der Staat einen einzelnen Normsetzer anerkennt und damit den weitgehenden Wegfall der kompetitiven Regelungssituation zu verantworten hat, ist er daher verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß die von diesem formulierten Normen höchsten materiellen und formellen Kriterien genügen, und muß die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen schaffen. V I . Fazit Es zeigt sich, daß die Vorteile der privaten Normsetzung vor allem in deren Flexibilität, stärker noch in der Kostenersparnis für den Staat liegen. Unter hohen finanziellen Anstrengungen wäre auch dieser in der Lage, detaillierte, internationalen Erwartungen entsprechende Regelungen sowohl zu erarbeiten und weiterzuentwickeln als auch sie in gesellschaftlichen Subsystemen durchzusetzen203. Will der Staat diese Belastung vermeiden, bietet es sich an, selbstregulative Maßnahmen zu unterstützen, durch informales Einwirken zu initiieren oder durch die Androhung hoheitlicher Regulierung zu erzwingen. Während die Impulse der Europäisierung für die private Normsetzung im Kapitalmarktsektor vernachlässigbar sind, setzt speziell die wirtschaftliche Globalisierung neue Anpassungsprozesse in Gang, in deren Folge eine weiter wachsende Bedeutung diversifizierter Normsetzungsmechanismen zu erwarten ist.
202
Ausführlich Ogus, OxJLS 15 (1995), 102ff. Kritisch Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 32: „Es deutet aber manches darauf hin, daß Verbände oft eher zur Kartellbindung als zur Konkurrenz und Konfrontation neigen und sich auch dann gegenseitig schonen, wenn ihre Interessen divergieren". Positiv zur Übertragung des Gedankens des „Wettbewerbs der Institutionen" auf die Selbstregulierung hingegen auch Engel, FS Mestmäcker, 124, der allerdings in Deutschland noch Beispiele vermißt. Vgl. auch Ladeur, DV Beiheft 4 (2001), 59 ff., 67, 76. 203 Vgl. noch einmal die gründliche Analyse von Lepsius, Steuerungsdiskussion, v. a. 30 ff.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung Die Rahmenbedingungen privater Normsetzung setzt in erster Linie das Verfassungsrecht. Nach einem kurzen regulierungstheoretischen Einstieg (I) ist daher zu untersuchen, wie sich das Grundgesetz zu privater Normsetzung verhält (II). Dabei können zugleich staatsgerichtete Anforderungen aufgezeigt werden, die sich in Anknüpfung an die tradierte verfassungs- und verwaltungsrechtliche Dogmatik entwickeln lassen204. Ebenso wie die eigene regulierende Tätigkeit des Staates ist auch die Steuerung der privaten Normsetzung, ihre rechtliche Vorformung und insbesondere ihre Überführung in Rechtsverbindlichkeit eine hoheitliche Aufgabe, bei deren Erfüllung die allgemeinen verfassungsrechtlichen Beschränkungen zu beachten sind. Private Handlungsbeiträge sind diesen Bindungen nicht unterworfen. Dennoch ist auch für sie nach Anforderungen zu fragen, deren Erfüllung die Zulässigkeit gezielter staatlicher Nutzung ermöglicht. Nach der Herleitung der gesellschaftsgerichteten Anforderung Gemeinwohlkompatibilität (III) sind mögliche diese sichernde Mechanismen darzustellen (IV). I. Regulierungstheoretische Analyse Die Zulässigkeit privater Normsetzung steht außer Frage, solange es sich um rechtsunverbindliche Normen ohne Anspruch auf allgemeine Befolgung handelt. Anderes gilt, wenn sich der Staat durch den gezielten Einsatz Privater Entlastungen verspricht und zu diesem Zwecke eigene Befugnisse an diese abtritt oder wenn private Gruppierungen ihren Normen zu Rechtsverbindlichkeit verhelfen wollen und hierzu eine staatliche Beteiligung am Normsetzungsprozeß anstreben, die als Transmissionsriemen zur rechtlichen Geltung dient. Hier, wo die Möglichkeit besteht, normkonformes Verhalten von Dritten zu erzwingen, steht die Normierungstätigkeit nicht mehr (allein) unter der befriedenden Wirkung der Einsicht in Regulierungsnotwendigkeit und daraus folgender freiwilliger Unterwerfung. Aus der Kollision mit widerstrebenden Interessen der Normadressaten, aber auch aus der Notwendigkeit, einer Gemengelage unterschiedlicher Interessen Herr zu werden, folgt der Ruf nach einer übergeordneten, neutralen Instanz. 1. Krise des Rechts? Das Zusammenleben in der Gesellschaft bedarf der ordnenden, Vorhersehbarkeit und Transparenz sichernden Funktion des Rechts. Im Rechtsstaatsprinzip hat diese Überlegung Eingang in die Verfassung gefunden; diese enthält eine Grundentscheidung für die Steuerung gesellschaftlichen Lebens durch Recht205. Dabei 204 205
Ruffert, AöR 124 (1999), 244ff., 280; Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 265 ff. Schmidt-Aßmann, HStR I, §24 Rn.21.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
handelt es sich um eine genuine Aufgabe des Staates, denn nur er kann die notfalls gewaltsame Durchsetzung gewährleisten. Die Forderung nach Aktivierung gesellschaftlichen Selbstregelungspotentials geht allerdings einher mit Klagen über die sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts. Insbesondere dem parlamentarischen Gesetz werden Steuerungs- und Implementationsmängel vorgeworfen 206. Für das Kapitalmarktrecht lassen sich die Probleme mit den Schlagworten wachsende Komplexität, Elektronisierung, Internationalisierung und allgemein steigende Bedeutung des Kapitalmarktes (vor allem als Institution zur Allokation privaten Kapitals) holzschnittartig umschreiben. Diese veränderten Wirklichkeiten lassen in Verbindung mit finanzpolitischen Zwängen nach Alternativen zu einseitig hoheitlicher Steuerung fragen. Sie führen hingegen nicht zu einem verringerten Stellenwert des Rechts. Zwar stoßen alte Regelungsstrukturen in neuen Konstellationen an ihre Grenzen. Ein völliger Rückzug des Staates ist aber ausgeschlossen. Das Recht ist unzweifelhaft auch in Zukunft als zentraler regulatorischer Rahmen unersetzlich; die „Krise des Rechts" führt nicht zu sinkender Bedeutung rechtlicher Anforderungen (und auch nicht zu sinkendem Gesetzgebungsbedarf), wohl aber zu veränderten Inhalten der Rechtsnormen, wenn materielle gegenüber formeller Steuerung in den Hintergrund tritt. Auf die gewandelten Funktionsmodi des Rechts wird noch zurückzukommen sein. Einstweilen genügt es festzuhalten, daß Rechtsetzung als Staatsaufgabe bestehen bleibt, auch wenn sich die Inhalte den Erfordernissen des regulatorischen Umfeldes anzupassen haben.
2. Lehren aus der Privatisierungsdiskussion Insbesondere die Privatisierungsdebatte hat gezeigt, daß staatliche Aufgabenzuständigkeit nicht untrennbar mit eigenhändiger Erfüllung verbunden ist 207 . Die aufgrund der Aufweichung antipodischer Positionen und der Fokussierung kooperativer Lösungen gewonnenen Erfahrungen können lehrreich auch für die Analyse unterschiedlicher Normsetzungsverfahren sein. 206 Vgl statt aller die die Debatte kritisch zusammenfassende Darstellung bei Lepsius, Steuerungsdiskussion, 10ff., dort 19: „Die vermeintliche Krise des Rechts als Regelungsinstrument ist keine Krise des Rechts, sondern eine Krise der gesellschaftlichen Erwartungen". 207 Vgl. Schoch, DVB1 1994, 963; zustimmend Schuppen,, StWStP 5 (1994), 555; Schuppert/Bumke, Standardsetzung, 80 ff. Ähnlich bereits W. Weber, Juristen-Jahrbuch Bd. 8 (1967/1968), 141: „Die Überschau läßt auch erkennen, daß öffentliche Aufgaben nicht nur vom staatsunmittelbaren Behördensystem und von Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts wahrgenommen werden können, wie man lange Zeit gemeint hat, sondern daß dafür mancherlei Zwischenformen und sogar privatrechtliche Organisationsformen zur Hand sind". Die Privatisierungsdiskussion selbst wiederum läßt sich in wesentlichen Teilen auf den Einfluß der Europäischen Union zurückführen, vgl. nur Weidemann, VerwArch 90 (1999), 535 f. mit Nachweisen zu Abfallwirtschaft, Telekommunikation, Post, Eisenbahnwesen, Energiewirtschaft, öffentliches Bankenwesen. Zur Differenzierung staatliche Aufgabe/öffentliche Aufgabe nur Isensee, HStR III, § 57 Rn. 136 f. m. w. N.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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a) Privatisierungstypen Möglicherweise lassen sich diese noch näher in die Privatisierungsdiskussion einbetten. Das erfordert einen kurzen Überblick über die einschlägige Typologie208: Die formale oder Organisationsprivatisierung beläßt dem Verwaltungsträger die Zuständigkeit für die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe; zum Zwecke der Aufgabenerfüllung bedient er sich jedoch einer Eigengesellschaft in privatrechtlicher Rechtsform (überwiegend GmbH und AG 2 0 9 ). Private Normsetzung erscheint hier vor allem als Mittel der Binnenstrukturierung der Unternehmen, wenn bisherige öffentlich-rechtliche Vorschriften durch privatrechtliche (Satzungen u. ä.) abgelöst werden. Die materielle oder Aufgabenprivatisierung enthält eine Aufgabenverlagerung in den privaten Sektor. Der Staat übergibt die Verantwortung für die eigenständige Erfüllung einer bislang staatlichen Aufgabe (das „Ob" und „Wie") privaten Wirtschaftssubjekten 210. Private Normsetzung kann dann als Aufgabenprivatisierung angesehen werden, wenn staatlicherseits bewußt auf eine bestehende oder eigentlich erforderliche hoheitliche Regulierung verzichtet und diese statt dessen der Selbstregulierung anheimgestellt wird. Die Aufgabenprivatisierung führte somit nicht nur zu einem Wechsel in der Person des Auf gabenträger s, sondern auch zu einer veränderten Aufgabenwahrnehmung, wenn bisheriger hoheitlicher Zwang durch selbstregulative Akzeptanz ersetzt werden müßte. Im Rahmen der funktionalen Privatisierung verbleibt die Aufgabenzuständigkeit bei dem Träger öffentlicher Verwaltung. Dieser bedient sich jedoch für den Vollzug der Aufgabe, also für die Leistungserstellung bzw. Aufgabendurchführung, eines Privatrechtssubjekts, das als Verwaltungshelfer fungiert 211 . Hier ist ein Vergleich mit der staatlichen Rechtsetzungsaufgabe tauglich. Private können in den Rechtsetzungsprozeß eingebunden werden, indem sie detaillierte Vorarbeiten späterer Legeferierung liefern oder im Rahmen einer staatlichen Rahmenordnung agieren. b) Private Normsetzung als Verfahrensprivatisierung? Bisweilen wird die Aktivierung selbstregulativer Steuerungsprozesse als Verfahrensprivatisierung umschrieben 212. Auch private Normsetzung wird als Beispiel herangezogen213. Teilweise wird jedoch für die Verfahrensprivatisierung ein bestehen208 Zum folgenden allgemein Bauer, VVDStRL 54 (1995), 251 ff.; Schock, DVB1 1994, 962ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 370ff. 209 Hierzu und zu weiteren Organisationsmodellen Mayen, DÖV 2001, 113 ff.; vgl. auch Hecker, VerwArch 92 (2001), 261 ff. 210 Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 210; vgl. Seidel, Sachverständige Beratung, 17 m. w.N. 211 Burgi, Privatisierung, 100; Hoffmann-Riem, DVB1 1996, 226; Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 223; Schock, DVB1 1994, 963; Schuppert, StWStP 5 (1994), 543. 212 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 168 Fn.20. 213 Z.B. von Faber, Selbstregulierungssysteme, 34, die allerdings später nicht mehr explizit auf dieses Beispiel eingeht.
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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des Verwaltungsverfahren vorausgesetzt214. Als Kennzeichen der Verfahrensprivatisierung gilt demnach, daß behördliche Verfahrensleistungen reduziert und durch staatlich induzierte private Verfahrensschritte ersetzt werden. Die Einordnung privater Normsetzung als Verfahrensprivatisierung ist demgegenüber nur möglich, wenn man nicht nur Verwaltungs-, sondern auch Gesetzgebungsverfahren einbezieht. Die Verfahrensprivatisierung als Typus ist an Verwaltungsverfahren entwickelt worden und hat hier ihre „klassischen" Erscheinungsformen 215. Schon bisher werden zu den Verfahrensprivatisierungen aber beispielsweise auch Prüf- und Planungsvorgänge im Baurecht als dem Satzungserlaß vorgeschaltete Vorgänge gerechnet 216. Es ist nicht ersichtlich, warum zwischen unterschiedlichen Rechtsetzungsformen differenziert werden und kooperative Normsetzung zwischen Verwaltung und Privaten als Verfahrensprivatisierung gelten, diese Qualifizierung jedoch Kooperationen auf der Ebene des Gesetzes verwehrt bleiben sollte. Verfahrensprivatisierung weiterentwickeln bedeutet, ihre Spezifika als Maßstab auch anders gearteter Kooperationsmechanismen anzulegen. In diesem Sinne scheint sie insbesondere aufgrund ihrer Mittlerfunktion zwischen materieller und funktionaler Privatisierung geeignet, als Oberbegriff die Möglichkeiten privater Normsetzung zu umspannen. In die Nähe der materiellen Privatisierung rückt sie dabei vor allem, wenn die privaten Handlungsbeiträge staatlicher Kontrolle nur eingeschränkt zugänglich sind und somit eine staatliche Umsetzung oder Anerkennung der im Privatverfahren getroffenen Entscheidungen unterbleibt oder gar unterbleiben muß 217 . Unter Zugrundelegung dieses weiten Begriffsverständnisses kann private Normsetzung unter die Verfahrensprivatisierung subsumiert werden. c) Ergebnis Diese Einordnung führt indes noch nicht zu sofortigem Erkenntnisgewinn. Allgemeingültige rechtliche Vorgaben sind aus der Qualifizierung als (Verfahrens-)Privatisierung allein noch nicht ableitbar. Notwendig bleibt eine am Einzelfall argumentierende differenzierende Betrachtung 218. Mit wachsender Intensität der privaten Aufgabenwahrnehmung und hiermit korrespondierend sinkendem Grad staatlicher Verantwortung steigen dabei die Anforderungen, die an die privaten Normsetzer zu stellen sind. 214 In diesem Sinne z.B. Hoffmann-Riem, DVB1 1996, 225ff.; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 116f.; Trute, DVB1 1996, 960. Anders Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 168 Fn. 20. 215 Hierzu rechnen z.B. die sog. Eigenbeiträge Privater zur Sachverhaltsermittlung, die Eigenüberwachung und die Stärkung der betrieblichen Umweltschutzes durch Organisation und Verfahren (kooperative Verwaltungs verfahren), vgl. die Beispiele bei Hoffmann-Riem, DVB1 1996, 226. 216 Ygi Faber, Selbstregulierungssysteme, 171 f. sowie Hoffmann-Riem, DVB1 1996, 226, der den Begriff Verfahren ausdrücklich weit verstanden wissen will. 217 2,8
Hoffmann-Riem, DVB1 1996, 226. Schoch, DVB1 1994, 967, 973. Ihm zustimmend z.B. Mayen, DÖV 2001, llOf.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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3. Verantwortungsstufung bzw. Verantwortungsteilung Die (teilweise) Übertragung bisher staatlich wahrgenommener Aufgaben auf Private verändert den Steuerungsansatz. Die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen laufen ins Leere, und es fehlt an der erforderlichen demokratischen Legitimation, weil die klassische staatliche Kompetenzordnung verlassen wird. Ein Ausgleich ist erforderlich. Mit Hilfe des nicht rechtsdogmatischen, sondern hermeneutischen Begriffs der Verantwortung können Aufgaben und Anforderungen zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Verwaltungsrechtswissenschaft hat ein differenziertes System gestufter Verantwortungstypen herausgearbeitet 219. Die Aufgabenverlagerung wird als Wechsel von der bisherigen Erflillungs- zur Gewährleistungsverantwortung des Staates charakterisiert 220. An die Stelle der eigenhändigen Wahrnehmung tritt das Verbürgen für eine staatlichen Standards entsprechende Qualität der privaten Aufgabenwahrnehmung. Grundsätzlich erfordert die staatliche Letztverantwortung, daß der Staat die Kontrolle über die privaten Handlungsbeiträge behält 221 . Wo eine materielle Kontrolle nicht möglich ist, weil das erforderliche Fachwissen fehlt oder private Handlungsrationalitäten nicht nachvollziehbar sind, genügt diese staatliche Letztverantwortung nicht mehr 222 . Den Staat trifft dann eine vorwirkende (Legitimations-) Verantwortung; er muß im Vorfeld die Gemeinwohlfähigkeit der privaten Akteure absichern 223. Welche Anforderungen hieraus folgen und welche normativen Standards durch den Staat selbst zu schaffen sind, wird noch näher darzulegen sein.
4. Verpflichtung auf das Gemeinwohl Der damit eingeführte Begriff des Gemeinwohls beschreibt die zu einem Gesamtinteresse zusammengefaßten verschiedenen privaten wie öffentlichen Partikularin2,9 Z.B. Hoffmann-Riem, DÖV 1997, 441 f.; Schmidt-Aßmann, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 44ff.; ders., Auffangordnungen, 29f.; ders., VVDStRL 34 (1976), 232ff.; Schuppen, Verwaltungswissenschaft, 402ff., 920ff.; 7rute, DVB1 1996, 950ff.; ders. Verantwortungsteilung, 13 ff.; vgl. zur Differenzierung staatlicher Verantwortung auch Pitschas, Verwaltungsverantwortung, 257 ff. Kritisch Seidel, Private Sachverständige, 14 ff. 220 Vgl. etwa Hoffmann-Riem, DÖV 1997, 433 ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 404ff., 898 ff. 221 Statt vieler Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 181 ff. Zur normativen Identität von Demokratieprinzip und staatlicher Letztverantwortung C. Möllers, Staat als Argument, 291 f. 222 Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 234ff.; Trute, DVB1 1996, 952f., 955f.; ders., Funktionen der Organisation, 290 f. Vgl. Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 262; C. Möllers, VerwArch 90(1999), 199. 223 Vgl. Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 365 f.; dens., Ordnungsidee, 93f.; dens., DV Beiheft 4 (2001), 267f.; hierzu H.C. Röhl, DV29 (1996), 505 f.; Trute, DVB1 1996, 955 f.; ders., Funktionen der Organisation, 288 ff. Ähnlich auch Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 98. Grundsätzlich ablehnend („entweder unmöglich oder wirkungslos") Engel, StWStP 9 (1998), v. a. 566, der statt dessen auf eine Abwägung der Vorzüge und Nachteile einer Regelung vertrauen will.
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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teressen . Während der Staat als objektive, neutrale Instanz agiert, suchen Private ihre eigenen Interessen zu verwirklichen; Übereinstimmungen mit den Interessen der Allgemeinheit sind eher zufällig 225 . Private Normsetzung scheint somit in einem natürlichen Spannungsfeld zu den Vorgaben eines gemeinwohlorientierten staatlichen Handelns zu stehen. Es wird an dieser Stelle die Frage virulent, wie sich die staatliche Gemeinwohlverantwortung auf die Aufgabenverlagerung in den privaten Sektor auswirkt. Dazu sind zunächst Elemente der staatlichen Gemeinwohlverpflichtung herauszuarbeiten (a), bevor die Möglichkeit kooperativer Gemeinwohlkonkretisierung erörtert werden kann (b). a) Staatliche Gemeinwohlverantwortung Die Orientierung staatlichen Handelns am Gemeinwohl ist kein Selbstzweck, sondern ruht auf einer normativen Grundlage 226. Die staatliche Verpflichtung auf das gemeine Wohl kann gewissermaßen als eine Chiffre für die verschiedenen an den Staat gestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen verstanden werden. Das Gemeinwohl ist allerdings nicht präexistent, sondern muß kontinuierlich neu und sektorspezifisch bestimmt werden 227. Im demokratischen Rechtsstaat ist dies im wesentlichen eine Aufgabe von Kompetenz und Verfahren 228. Abstrakte, schwer festlegbare materielle Gemeinwohlvorstellungen werden so zu konkreten formellen Vorgaben ausgeformt 229. Der Staat ist jedoch nicht schon allein aufgrund seiner demokratischen Organisation befähigt, materiell gemeinwohlrichtiges Recht zu setzen. Das Verfahren trägt zur inhaltlichen Qualität bei, primär vermittelt es aber formale Legitimation, die nicht mit der materiellen Legitimität übereinstimmen muß 230 . Es lassen sich der Verfassung auch materielle Vorkehrungen entnehmen, 224
Hierzu v.Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, v.a. 81 ff.; Häberle, Öffentliches Interesse, passim; Isensee, HStR III, §57. Vgl. auch die Beiträge in: Mayntz (Hrsg.), Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl. 225 Anders bspw. noch das Aktiengesetz 1937, in dessen §701 es hieß: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern". Wiewohl in der lingua tertii imperii verfaßt, stellt die Vorschrift keine spezifisch nationalsozialistische Forderung auf, sondern steht in der weitaus älteren Tradition der besonderen Verantwortung der Aktiengesellschaft für das Allgemeinwohl. Vgl. Hopt, ZGR 2000, 799 m. w. N. in Fn. 52. 226 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 138. Vgl. A. Wahl, Kooperationsstrukturen, 406ff., der Gemeinwohlsicherung als den Nukleus des demokratischen Prinzips versteht. 227 Isensee, HStR III, §57 Rn. 32f.; Denninger, Normsetzung, Rn.32,115; ihm folgend z.B. Böhm, Normmensch, 14. 228 Isensee, HStR III, § 57 Rn. 33, 53, 88f.; Schoch, DVB1 1994, 968. 229 Zur Gemeinwohlsicherung durch Verwaltungsorganisationsrecht Trute, Funktionen der Organisation, v. a. 269 f. m. w. N. 230 Isensee, HStR III, § 57 Rn. 89, 92. Zur Bedeutung des Verfahrens BVerfGE 5, 85 (198); Schmidt-Aßmann, HStR III, § 70 Rn. 3 f., 23 ff. Aus der Konzentration auf das formale Element folgt die Bedeutung der Akzeptanz der Normunterworfenen. Diese zu gewinnen kann durch die Einbindung gesellschaftlicher Gruppen gelingen. Der Verfassungsstaat macht damit aus
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die die Politik zu möglichst rationalen und gemeinwohlfähigen Entscheidungen anhalten sollen. Insbesondere die materiellen Gehalte der Grundrechte und der Staatsaufgabennormen sind zu beachten231. Daneben fallen hierunter Kompetenz-, Organisations- und Maßstabsvorgaben für den Gesetzgeber232. Entsprechend ist die Verwaltung mit spezifischen Gemeinwohlbindungen und einer besonderen Verfahrensverantwortung ausgestattet und aufgrund der rechtsstaatlich gebotenen und umgesetzten Distanz zum Entscheidungsgegenstand zu neutraler Amtsführung und damit zu gleichmäßiger Interessenberücksichtigung imstande und verpflichtet 233. b) Kooperative Gemeinwohlkonkretisierung Die Befähigung zur Festlegung dessen, was das Gemeinwohl ausmachen soll, ist keinesfalls gleichzusetzen mit der Fähigkeit zu altruistischem Handeln. Gemeinwohl und Partikularwohl bedeuten nicht dasselbe wie Selbstlosigkeit und Eigennutz. Statt dessen sind letztere als unterschiedliche Wege anzusehen, auf denen ein gemeinwohlrichtiges Ziel erreicht werden kann 234 . Das Gemeinwohl ergibt sich nach liberaler Idealvorstellung aus einem Wettbewerb der Egoismen. Sofern die gesellschaftlichen Akteure sich des Gemeinwohls nicht oder nicht in ausreichendem Maße angenommen haben, kann der Staat als objektive Autorität herangezogen werden. Er ist „Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen" 235, als ihm eine Bindung an Partikularinteressen untersagt ist und er seine institutionelle Unabhängigkeit sowie ein Mindestmaß an Distanz zu wahren hat. Im Alltag erweist sich das Gemeinwohl als dasjenige öffentliche Interesse, das sich im jeweiligen fachgesetzlichen Rahmen als durchsetzungsfähig erwiesen hat 236 . Seine Festlegung ist damit vorrangig Aufgabe des positiven Rechts. Konkretisierungen sind dem privaten Bereich zugänglich. Dies gilt vor allem dort, wo sich persönliche und allgemeine Interessen überschneiden. Beispielsweise bedürfen die am Kapitalmarkt tätigen Unternehmen der Anleger, daher wäre „ein totales Interessengegeneinander ebenso selbstmörderisch wie unrealistisch" 237. Allgemein sind meist weder rein lobbyistische noch allein individualistische Aspekte bestimmend; statt dessen spielen häufig wirtschaftsordnende und gesamtwirtschaftsbezogene Geder Not des gesellschaftlichen Pluralismus eine Tugend effektiver, freiheitlicher Integration, Isensee, HStR III, §57 Rn.92. Vgl. z.B. Brohm, HStR II, §36 Rn. 18ff., 36ff. 231 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 137. 232 Lerche, Verfahren, 109 ff.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 162; vgl. auch Lücke, ZG 16 (2001), v.a. 25 ff.; Luhmann, Legitimation, 174ff. 233 Trute, DVB11996,961. Vgl. insbesondere als Ausschlußklauseln §§20,21 VwVfG, spezialgesetzliche Ausprägungen z.B. als positive Anforderung in §59 UGB-KomE. Zur Bedeutung von Befangenheitsvorschriften auch Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 348 ff. 234 Eine plastische Gegenüberstellung bietet Isensee, HStR III, § 57 Rn. 28: Ziele/Wege, Sache/Verfahren, Programm/Ausführung. Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, 319 f. 235 BVerfGE 33, 125 (159); vgl. auch Kunig, Rechtsstaatsprinzip, 333. 236 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 137. 237 Schwark, Anlegerschutz, 222.
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sichtspunkte eine charakteristische Rolle 238 . Eine gewisse Sozialverpflichtung besteht schon aus Eigeninteresse; Gemeinwohl und Partikularinteressen schließen sich nicht grundsätzlich aus 239 . Mitunter lassen sich Gemeinwohlziele auch gar nicht anders als in Verantwortungsteilung und im Zusammenwirken mit Privaten erreichen 240. Und das Gemeinwohl, das sich nach innen als Zusammenführung aller beteiligten Partikularinteressen darstellt, ist nach außen, d. h. im internationalen Kontext, seinerseits wieder nur ein Partikularinteresse unter vielen 241 . Soweit hier private Gruppen auftreten, agieren sie regelmäßig gleichsam als Botschafter dieses Landes, mithin als Vertreter des deutschen Gemeinwohls242. Es wäre dennoch blauäugig, Interessenkongruenz als den Regelfall anzusehen. Deshalb müssen, soweit private (Normsetzungs-)Beiträge genutzt werden, rechtliche Vorkehrungen getroffen werden, die der Kompensation verfassungsrechtlicher Defizite dienen243. Gemeinwohlorientierung ist dabei weniger durch materielle als durch organisatorische und Verfahrensvorgaben sicherzustellen. „Je weniger diese strukturelle Voraussetzung erfüllt ist, desto wahrscheinlicher ist eine militant partikularistische Interessenvertretung durch einen dominierenden Verband [...], und um so eher fällt dem Staat die Aufgabe zu, Gemeinwohlforderungen zu vertreten" 244. Indem der Gemeinwohlbegriff derartig dahingehend geöffnet wird, organisatorische Modelle sachgerechter Verwaltungslegitimation mitzubegründen und damit die „Legitimationsleistung [...] vom Erfordernis staatlicher Entscheidung zum Erfordernis staatlicher Verantwortung der richtigen Entscheidung verschoben" 245 wird, werden tatsächlich Ansätze eines expertokratischen Rechtfertigungsmodells sichtbar, das auf sachverständige Entscheidung unter staatlicher Aufsicht setzt. Die Auslagerung wird damit jedoch nicht unzulässig, denn sowohl das grundgesetzliche Demokratie- als auch das Rechtsstaatsprinzip sind nicht als geschlossenes Modell konzipiert, sondern unter veränderten Bedingungen neuen Entwicklungen gegenüber zugänglich und bedürftig 246. 238 So z. B. Schwark, Anlegerschutz, 222,237. Vgl. auch Schmidt-Preuß, Regelwerke, 92ff. Skeptischer Voruba, Wirtschaftsverbände und Gemeinwohl, 97: „Die Wirtschaftsverbände gehen von der (gedachten) Linie ,purer' Interessenverfolgung so weit ab, wie die Vorteile, als ,gemeinwohlorientiert 4 angesehen zu werden, die Nachteile dieses Abgehens überwiegen'4. 239 Vgl. Häberle, Öffentliches Interesse, 88 f.; Kopp, Normvermeidende Absprachen, 91 ff.; Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 20; Pitschas, Normsetzung, 242; SchmidtPreuß, Regelwerke, 91. 240 Trute, DVB1 1996, 954 f. Vgl. Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 32; Schuppen., Verwaltungswissenschaft, 810 ff. 241 Isensee, HStR III, § 57 Rn. 21. 242 Zu grenzüberschreitenden Tätigkeiten Privater vgl. Heintzen, Private Außenpolitik. 243 Holle, Normierungskonzepte, 196ff.; Horn, DV 26 (1993), 551 ff.; Weidemann, VerwArch 90 (1999), 538. Vgl. Trute, Verzahnungen, v. a. 202ff. 244 Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 33. Vgl. Horn, DV 26 (1993), 551 ff. 245 C.Möllers, VerwArch 90 (1999), 201. 246 Vgl. Denninger, Normsetzung, Rn. 111 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 333 f.; dens., HStR I, §24 Rn.7ff.; Trute, DVB1 1996, 955.
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5. Ergebnis Rechtsetzung ist grundsätzlich Aufgabe des Staates. Im Zuge der Privatisierungsdebatte ist aber gezeigt worden, daß staatliche Aufgabenverantwortung und private Aufgabendurchführung sich nicht prinzipiell ausschließen. Im rechtlich schwer zu erfassenden Schnittfeld staatlichen und privaten Handelns können die Begriffe der Verantwortung und des Gemeinwohls helfen, den Umfang staatlicher Verpflichtungen zu bestimmen. Gerade der kooperative Staat muß auf die Gemeinwohlfähigkeit seiner Verfahren und Organisationsgestaltungen achten247 und die der privaten Handlungsbeiträge sichern. Dies gelingt am ehesten dort, wo Allgemein- und Einzelinteressen partiell übereinstimmen. Das Kapitalmarktrecht bietet hierfür aufgrund der ineinander übergreifenden Schutzgedanken ein gutes Beispiel. Anderenfalls sind adäquate Kompensationsmechanismen zu installieren. I I . Verfassungsrechtliche Analyse In der Diskussion konstitutioneller Rahmenbedingungen darf es nicht allein darum gehen, die Verfassung negativ auf Grenzen der Kooperation zu untersuchen; vielmehr muß nach der verfassungsrechtlichen Steuerung der Kooperationsmodalitäten geforscht werden 248. Anknüpfungspunkte hierfür bilden ein mögliches verfassungsrechtliches Subsidiaritätsprinzip (1), das Demokratie- (2) und das Rechtsstaatsprinzip (3) sowie die Grundrechte (4). Diese gilt es darauf zu überprüfen, ob sie von einer unilateralen Aufgabenwahrnehmung durch den Staat ausgehen oder aber kooperative Vörgehensweisen tolerieren, vielleicht gar fordern. Zugleich ist danach zu fragen, welche Anforderungen sich ihnen im Hinblick auf die staatlichen wie privaten Handlungsbeiträge entnehmen lassen. 1. Subsidiaritätsprinzip Ein verfassungsrechtlich fundiertes Subsidiaritätsprinzip bedeutete, daß der Staat eine Aufgabe nicht an sich ziehen dürfte, sofern sie von Privaten sachgerecht ohne überwiegenden Nachteil für die Gesamtheit erfüllt werden könnte 249 . Für den Bereich der Jugend- und Sozialhilfe ist vom Bundesverfassungsgericht anerkannt worden, daß es auf der Ebene des einfachen Rechts möglich (und unter Umständen 247 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 138; vgl. Horn, DV 26 (1993), 545 ff., v.a. 570ff., der von einem „umgekehrten Subsidiaritätsprinzip" spricht. 248 So für die Privatisierung ausdrücklich Bauer, VVDStRL 54 (1995), 267; für „koproduktive Rechtsetzung" ähnlich Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 964. 249 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, 72, 79, 272; Wolff/BachoflStober, Verwaltungsrecht III, § 138 Rn. 11. Ähnlich das „Postulat größtmöglicher Aktivierung selbstregulativer Beiträge" bei Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 170 f. Letzterem wird man allerdings im Gegensatz zum Subsidiaritätsgedanken keine vergleichende Wertung entnehmen können; die Förderung der Selbstregulierung wird als Wert an sich angesehen und muß daher nicht der staatlichen Steuerung funktional vergleichbare Ergebnisse erzielen, vgl. Faber, Selbstregulierungssysteme, 98.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
sinnvoll) ist, ein solches Subsidiaritätsgebot zu installieren 250 . I m Grundgesetz findet es explizite Erwähnung nicht für den innerstaatlichen Bereich, sondern lediglich für das Verhältnis Deutschlands zur Europäischen Union, in Art. 23 G G 2 5 1 . Die verfassungsrechtliche Geltung als umfassender und durchgängiger, alle staatlichen Maßnahmen begrenzender Grundsatz ist daher fraglich. Auch die Argumentation, Subsidiarität sei zum Schutze der Wirkungsbreite und Funktionsfähigkeit der Grundrechte erforderlich 2 5 2 , vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Der Grundrechtsschutz bedarf einer allgemeinen staatlichen Zurückhaltungspflicht nicht, sondern wird in ausreichendem Maße durch das Übermaßverbot und die Auslegungsmaxime der Grundrechtsoptimierung gewährleistet 253 . Das Subsidiaritätsprinzip ist somit kein verfassungsrechtliches Gebot. Das hindert aber nicht daran, es als Strukturprinzip heranzuziehen, das keinen Verfassungsrang besitzt, aber dennoch als Kompetenzverteilungs- und Kompetenzausübungsregel Beachtung verdient 2 5 4 . Bezogen auf die vorliegende Untersuchung läßt sich daher auch die Einbeziehung Privater in Normsetzungsprozesse oder die Überlassung der Normsetzung an private Gremien möglicherweise unter ein auf einfachgesetzlicher Ebene zu schaffendes Subsidiaritätsprinzip als „Klugheitsregel und ein Gebot guter und verhältnismäßiger Wirtschafts Verwaltungspolitik" 2 5 5 subsumieren. Verfassungsrechtlich geboten ist sie aus diesem Grunde noch nicht 2 5 6 . 250 BVerfGE 22, 180 (200 ff.), ohne ausdrücklich vom Subsidiaritätsprinzip zu sprechen. In einer späteren Entscheidung hat das Gericht ausdrücklich offengelassen, ob dem Subsidiaritätsprinzip Verfassungsrang zukommt, BVerfGE 58, 233 (253). Ablehnend BVerwGE 23, 304 (306). Vgl. hierzu die zahlreichen Nachweise bei Faber, Selbstregulierungssysteme, 103 Fn.67. 251 Hierzu C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip; vgl. auch Präambel und Art. B II EUV sowie Art. 5 (ehem. Art. 3 b) EGV. Als Beispiel angeführt wird auch Art. 28 II GG, vgl. zur kommunalrechtlichen Subsidiarität etwa Faber, Selbstregulierungssysteme, 100f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, 253. 252 So z.B. Backherms, DIN als Beliehener, 95f. 253 So zu Recht Denninger, Normsetzung, Rn. 121 („wirkungsvoller und präziser"). Vgl. auch Holle, Normierungskonzepte, 190 f. 254 Vgl. Hendler, Selbstverwaltung, 344: „Orientierungshilfen bei der Verfassungsinterpretation"; Horn, DV 26 (1993), 567 ff.; Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, 37: Nicht strikte Vorgabe, wohl aber „beachtliche Determinante der Optionen wähl"; Taupitz, Standesordnungen, 523: „extrakonstitutionelles Theorem". Isensee, HStR III, §57 Rn. 167 nimmt dagegen eine verfassungsrechtlich bindende Kompetenzregel an. Ähnlich erachtet Vieweg, Normsetzung, 181 m. w.N. das Subsidiaritätsprinzip als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, das aber aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades nicht allein vollziehbar und daher nur als Auslegungsrichtlinie v. a. dann heranzuziehen sei, wenn ein aufgrund von Funktionenüberschneidungen bestehender Kompetenzkonflikt zwischen Staat und Gesellschaft bspw. in einem Grundrecht angelegt sei. 255 Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht AT, § 1212; ähnlich Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht III, § 138 Rn. 12. Holle, Normierungskonzepte, 190 Fn. 243 kritisiert, daß Stober das Subsidiaritätsprinzip einerseits als bloße „Klugheitsregel", andererseits aber gleichzeitig als das zentrale Abgrenzungskriterium ansieht und sieht darin statt dessen „nur eines der Kriterien zur Abgrenzung zwischen staatlicher und privater Aufgaben Wahrnehmung". 256 1. E. ebenso (für das Verhältnis Selbstregulierung/Regulierung) Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 266. Vgl. die Ausführungen zum Kooperationsprinzip im dritten Kapitel B.III.2.a).
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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2. Demokratieprinzip a) Demokratieverständnis
des Grundgesetzes
Demokratische Anforderungen vermitteln Legitimation und rechtfertigen Herrschaftsausübung 257 . Theoretisch läßt sich der demokratische Gedanke der Bürgerbeteiligung in zwei Richtungen weiterspinnen: Zum einen in die Ermöglichung einer Betroffenenpartizipation 258 , zum anderen in die Rückbindung an ein nach allgemeinen Kriterien bestimmtes Legitimationssubjekt. Letzteres bedeutet demokratische Legitimation im Sinne des Grundgesetzes: Denn der potentielle Konflikt zwischen den Sonderinteressen der Betroffenen und dem Allgemeinwohl verlangt nach Legitimation durch das Volk als einer nach allgemeinen Merkmalen bestimmten Personenmehrheit 259 . Diese egalitär angelegten Legitimationsstrukturen verschaffen demokratischen Entscheidungen ihre besondere Qualität. Sowohl demokratische Legitimation „kraft Sachverstands" als auch „durch die betroffenen Kreise" ist dem Grundgesetz fremd: Volk i. S. d. Art. 20 GG ist das Staatsvolk als Ganzes 260 ; einer „Herrschaft der Betroffenen" oder „Interessierten" wird eine klare Absage erteilt 2 6 1 . Autonome Legitimation ist jedoch nicht ausgeschlossen, sondern kann ergänzend zur demokratischen Legitimation hinzutreten 2 6 2 . Nach dem Grundgesetz ordnet sich 257
Zum folgenden vgl. statt vieler Jestaedt, Demokratieprinzip, 138 ff. In diese Richtung gehen die Überlegungen von Menzel, Partizipation, 82 ff. m. w.N. Ansätze auch bei Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 243 ff., v. a. 256f.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, II. Abschnitt, Rn. 56. Ablehnend z. B. Kunig, Alternativen, 62ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 375 f., ders., Ordnungsidee, 40, 81 ff., 97; Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), 209 f. 259 BVerfGE 83, 37 (51, 55); vgl. BVerwGE 90, 104 (108); 106, 64 (73 ff.). Ausführlich Jestaedt, Demokratieprinzip, 204 ff. „Volk" i.d. S. ist das Volk auf Bundes- und auf Landesebene sowie - allerdings unter Besonderheiten, die strukturellen Ähnlichkeiten zur autonomen Legitimation geschuldet sind - auch auf kommunaler Ebene, vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 81 ff., 86f. Folglich kann auch die demokratische Partizipationschance dogmatisch nicht aus einer wie auch immer gearteten Selbstbetroffenheit abgeleitet werden, sondern „bewährt sich als allgemeine, gleiche Mitwirkungsmöglichkeit", Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 336. Der Partizipationsgedanke stellt eine ideelle Schicht des Demokratieprinzips dar, die von der normativen streng getrennt zu halten ist, dort, 376. 260 Vgl. nur BVerfGE 77, 1 (40); 83, 37 (50ff.); 83, 60 (74f.); Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 348 ff. 261 Böckenförde, HStR I, §22 Rn. 33; Jestaedt, Demokratieprinzip, 216ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1993), 348; ders., Auffangordnungen, 20. 262 Vgl. etwa BVerfGE 33,125 (159); Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 248 ff.; Emde, Selbstverwaltung, 11 ff.; Kluth, Selbstverwaltung, 368 ff., 458 ff.; Plantholz, Selbstverwaltung, 105 ff.; Trute, Funktionen der Organisation, 284ff. Vgl. auch Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 369: „Die grundgesetzliche Legitimationsordnung stellt zentral auf die in Art. 20 II GG vorgegebene Legitimation ab. Aber sie muß sich nicht notwendig in ihr erschöpfen". Anders Böckenförde, HStR I, § 22 Rn. 33, der für die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung die in ihr wirksamen autonomen Legitimationsformen nicht als ausreichend erachtet, auch nicht als kompensatorische Legitimationsformen. 258
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demokratische Legitimation staatlicher Handlungsformen in einem Stufenmodell, das hierarchische und autonome Legitimationsstränge miteinander verknüpft; aus diesem Zusammenspiel erwachsen gegenüber parlamentszentrierter Steuerung variantenreichere Regelungsmodi. b) Art. 20 II GG Wenn gemäß Art. 20 II GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, bedeutet dies, daß nicht nur bestimmte, sondern „alle Formen der Ausübung von Staatsgewalt" demokratischer Legitimation bedürfen 263. Demokratische Legitimation wird Hoheitsakten idealiter durch das Zusammenwirken von zwei Faktoren vermittelt, mit denen Legitimation als Vermittlungs- und Rückkopplungsvorgang analysiert und rechtlich (be)greifbar gemacht werden soll 264 : Die personell-organisatorische Legitimation sichert durch das „Prinzip der individuellen Berufung der Amtswalter durch das Volk oder durch volksgewählte Organe" 265 die persönliche Rückbindung des einzelnen Amtsträgers an die politisch-parlamentarische Willensbildung. Erforderlich ist eine „ununterbrochene Legitimationskette"266. Eine unmittelbare Legitimation ist hingegen nicht notwendig; „in aller Regel genügt es, daß sie sich mittelbar auf das Volk als Träger der Staatsgewalt zurückführen läßt" 267 . Die zweite Komponente demokratischer Legitimation ist sachlich-inhaltlicher Natur. Durch die Bindung der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt an „Gesetz und Recht" (Art. 20 III GG) und die Eingliederung des einzelnen Amtswalters in eine bürokratische Weisungshierarchie soll die Umsetzung des Mehrheitswillens und damit die demokratische Gestaltungsfunktion des Gesetzes gewährleistet werden 268. Die beiden Legiti263 BVerfGE 47, 253 (273); 77, 1 (40). Staatsgewalt wird allgemein als „amtliches Handeln mit Entscheidungscharakter" definiert, vgl. BVerfGE 47, 253 (273); 83, 60 (73); 93, 37 (68); Böckenförde, HStR I, §22 Rn. 12f.; C. Möllers, Staat als Argument, 292 m.w.N. Auf Jestaedt (Demokratieprinzip, 225 ff.) geht der Vorschlag zurück, nach formellen und materiellen Aspekten zu unterscheiden. Dabei soll unter Staatsgewalt im formellen Sinne jede Willensbetätigung staatlicher Funktionsträger mit Entscheidungsgehalt zu verstehen sein; dagegen soll materiell Staatsgewalt dann vorliegen, wenn - unabhängig von der Aufgabenkategorie oder der Organisations- oder Handlungsform - es sich bei der in Frage stehenden Tätigkeit um eine Erfüllung öffentlicher Aufgaben handelt (dort, 257f., 226ff., 255). Entscheidend für die Einordnung der Rechtsetzung ist, daß sie in fester Verbindung zum staatlichen Gewaltmonopol steht; es bleibt insoweit bei der eingangs getroffenen Festlegung, daß die Zuweisung von Rechtscharakter dem Staat vorbehalten und folglich Ausübung von Staatsgewalt ist, die demokratischer Legitimation bedarf. 264 Vgl. nur Böckenförde, HStR I, § 22 Rn. 14 ff. 265 Böckenförde, HStR I, §22 Rn. 16, bezugnehmend auf Herzog, Allgemeine Staatslehre, 210; dens., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, II. Abschnitt, Rn.53ff. 266 BVerfGE 47, 253 (275); 77, 1 (40); 83, 60 (72f.); 93, 37 (67). 267 BVerfGE 47, 253 (275); 77,1 (40); 83, 60 (72 f.); ausführlich Jestaedt, Demokratieprinzip, 267 ff. 268 Vgl. z.B. BVerfGE 33, 125 (158). Jestaedt, Demokratieprinzip, 270f. weist daraufhin, daß dem Grundgesetz eine materielle demokratische Legitimation aufgrund seines antiplebis-
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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mationsfaktoren stehen in einem korrelativen Zusammenhang: Je geringer die Weisungs-, Kontroll- und Verantwortungsabhängigkeit eines Funktionsträgers ist, desto strikter muß seine Gesetzesbindung sein und vice versa 269. Mängel können und müssen ausgeglichen werden. c) Legitimationsniveau „Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. Dieses kann bei den verschiedenen Erscheinungsformen von Staatsgewalt im allgemeinen und der vollziehenden Gewalt im besonderen unterschiedlich ausgestaltet sein" 270 . Dieser für das Zusammenwirken von personell-organisatorischer und sachlich-inhaltlicher Legitimation entwickelte Grundsatz gilt entsprechend für Kombinationen aus demokratischer und autonomer Legitimation 271 . Er ermöglicht es einerseits, die Legitimationsanforderungen gegenüber neueren Entwicklungen zu öffnen, andererseits folgt aus dieser Offenheit aber auch die Verpflichtung zur Einfügung im Sinne einer „Gesamtsaldierung aller den Zurechnungszusammenhang konstituierenden rechtlichen und tatsächlichen Faktoren" 272 . Die Bezugnahme auf das Legitimationsniveau lehrt, daß starre Erfordernisse selbst im staatlichen Bereich nicht lückenlos aufrechterhalten werden, sondern bisweilen Mängel durch andere Legitimationsfaktoren aufgewogen werden können; sie darf aber keinesfalls dazu führen, durch die Errichtung von legitimationsfähigen Teilen des Staatsvolkes zur Umgehung des Parlaments als Legitimationsinstanz beizutragen 273.
zitären Charakters grundsätzlich fremd ist. Materiell-demokratisches Legitimationssubjekt muß daher das Parlament sein. Anderes gilt teilweise auf Länder- und v. a. auf kommunaler Ebene. 269 Jestaedt, Demokratieprinzip, 273, der grds. für ein parlamentszentriertes Steuerungsmodell votiert, dort, 45, 257ff., 265 ff. Zur hierarchischen Struktur Loschelder, HStR III, § 68 Rn. 3 ff. 270 BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66f.); vgl. BVerfGE 89, 155 (182); Böckenförde, HStR I, §22 Rn.23; Emde, Selbstverwaltung, 327f.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 366ff. 271 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 92; Trute, Funktionen der Organisation, 284 ff. Enschränkend aber BVerwGE 106, 64 (73 ff.). 272 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht, 58. Nach Böckenförde, HStR I, § 22 Rn.23,33 soll in jedem Fall eine vollständige Substitution von personeller bzw. sachlicher Legitimation ausgeschlossen sein. Vgl. Emde, Selbstverwaltung, 11 ff., 329ff., 517 ff.; Jestaedt, Demokratieprinzip, 283 f. (Totalsubstitution möglich); Kluth, Selbstverwaltung, 458 ff.; Plantholz, Selbstverwaltung, 91 f., 105 ff. 273 Lepsius, Steuerungsdiskussion, 24 unter Verweis auf die in diesem Zusammenhang oft verkannte bzw. unterschlagene entsprechende Warnung des BVerfG, BVerfGE 83, 60 (75). 6*
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
d) Legitimationsverantwortung Die benannten Legitimationsarten betreffen die Ausübung staatlicher Herrschaft. Kooperativ-intermediäre oder private normsetzende Gremien, die systematisch der gesellschaftlichen Seite zuzuordnen sind, werfen jedoch Legitimationsfragen auf, die mit den klassischen Mechanismen nur schwerlich zu erfassen sind. Die rein selbstregulative Normsetzung unterliegt nicht dem Gebot demokratischer Legitimation 274 . Sie verschafft sich ihre legitimierende Wirkung durch den konkreten Anerkennungsakt. Demokratische Legitimationserfordernisse treten hinter dieser Anerkennung zurück. Staatsgewalt üben die privaten Normungsverbände nicht aus. Anderes gilt, sobald die Gremien in den staatlichen Entscheidungszusammenhang integriert werden und ihren Normen (ein gewisser Grad an) Rechtsverbindlichkeit zugewiesen wird. Soweit Privaten die Möglichkeit eröffnet wird, auf amtliche Entscheidungen Einfluß zu nehmen, trifft den Staat die „vorwirkende Legitimationsverantwortung" 115 , die sich nicht in der direkten Entscheidungsfindung, sondern in der Ausgestaltung des Entscheidungsumfeldes manifestiert 276. Gibt der Staat Verantwortung an Private ab, so hat er dafür Sorge zu tragen, daß Einbußen an demokratischer Legitimation ausgeglichen werden. „Das Konzept einer Legitimationsverantwortung zielt darauf, durch legitimatorische Vor- und Nachwirkungen den Status der privaten Akteure ihrer Funktion anzupassen und ihnen bestimmte Bindungen aufzuerlegen, um auf diese Weise eine mangelnde inhaltliche Steuerung des Staates zu kompensieren" 277. Die Legitimationsverantwortung verlangt, die unter dem Begriff der Legitimation zusammengefaßten verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dort zur Geltung zu bringen, wo die staatliche Entscheidung von Privaten beeinflußt wird oder diese über staatliche Machtmittel verfügen. Dabei sind die institutionellen Anforderungen proportional zur Rechtsverbindlichkeit anzupassen278.
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Aus Art. 20 II GG folgt eben keine Pflicht zur Demokratisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse, denn nur die organisierte Staatlichkeit, nicht aber gesellschaftliche Macht bedarf dieser Form der Legitimation, Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 339 f. 275 Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 365 f., 373 f.; ders., Ordnungsidee, 93 f.; hierzu H. C. Röhl, DV 29 (1996), 505 f.; Trute, DVB1 1996, 955 f.; ders., Funktionen der Organisation, 288 ff. Allgemein zur „Steuerung durch Organisation" Schmidt-Preuß, DÖV 2001,45 ff. sowie die Beiträge in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource. 276 Als wichtige Organisationselemente eines demokratischen Organisationsrechts dienen die Akzeptanz der Normen durch die Betroffenen, ihre Partizipation, die Transparenz von Organisationsstrukturen und die Öffentlichkeit der Entscheidungsverfahren. Gefordert ist die Strukturierung der organisationsintemen Entscheidungsbildung, die Sicherung von Rationalität, Effizienz, Transparenz und der Schutz von Minderheitspositionen. Zur Vergleichbarkeit mit den Anforderungen für öffentlich-rechtliche Organisationsformen T. Groß, Kollegialprinzip, 138 ff. 277 Trute, Funktionen der Organisation, 290, vgl. dort, 271. 278 In diese Richtung - vorsichtig - auch BVerfGE 83, 60 (74).
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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Eine Kompensation ist allerdings nur teilweise möglich . So wichtig es ist, nach Maßgabe der Bindungsintensität ansteigende Anforderungen an die privaten Normsetzer zu stellen, darf doch nicht verkannt werden, daß solche Vorgaben niemals zu vollwertiger Legitimation führen. Private Gremien können nicht dieselben demokratischen Anforderungen erfüllen wie auf allgemeine Wahlen rückführbare staatliche Funktionsträger, und diese Anforderungen sind auch nicht durch ein Konvolut von materiellen wie formellen Vorgaben ersetzbar 280. Hieraus folgt, daß die Rechtserzeugung als Kern der Rechtsetzung auf keinen Fall privaten Stellen überlassen werden kann. e) Ergebnis Rechtsetzung als Staatsaufgabe und Ausübung staatlicher Gewalt bedarf demokratischer Legitimation. Dies gilt jedoch nicht für jeden einzelnen Schritt der Normerarbeitung, sondern zunächst nur für den unmittelbaren Akt der Rechtserzeugung. Sofern Aufgaben in den privaten Sektor verlagert werden, folgt aus den an den Staat gerichteten demokratischen Anforderungen die Verpflichtung, diese in Form von materiellen und formellen Vorgaben an die privaten Normsetzer weiterzugeben. 3. Rechtsstaatsprinzip Komplementär zu den demokratischen sind rechtsstaatliche Anforderungen zu beachten, die der privaten Normsetzung Grenzen setzen, sie aber auch formen und ausgestalten281. „Kern des Rechtsstaatsprinzips ist die Sicherung menschlicher Selbstbestimmung durch das Medium des Rechts"282. Dem Staat ist es aufgegeben, eine frieden- und freiheitsichernde (Rechts-)Ordnung aufzustellen, die einerseits dem Einzelnen die Anerkennung und Abgrenzung des eigenen Lebensbereichs garantiert, andererseits das Verhältnis der Individuen zueinander und zur Gemeinschaft ordnet. Auf ihr Verhältnis zur Möglichkeit privater bzw. kooperativer Normsetzung untersucht werden sollen in diesem Sinne die Gewaltenteilung unter besonderer Berücksichtigung des Effektivitätsgebotes (a), das Bestimmtheitsgebot (b) und die rechtsstaatliche Publizität (c) 283 . 279
Kritisch zur Vollwertigkeit der Kompensation auch Lepsius, Steuerungsdiskussion, 23 ff.; C. Möllers, Staat als Argument, 293 f. Fn.56. 280 Mißverständlich Pitschas, Normsetzung, 255: „Mit der personellen Zusammensetzung der Entscheidungsgremien steht und fällt nämlich die Legitimation der sektorautonomen Normgebung". Auch die umfassendste Besetzung vermag keine demokratische Legitimation zu vermitteln. 281 Vgl. Denninger, Normsetzung, Rn. 150. 282 Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 335; ders., HStR I, § 24 Rn. 21 f. 283 Das eigentlich systematisch an dieser Stelle ebenfalls zu erwähnende rechts staatliche Kontrollprinzip, wie es sich insbesondere in Art. 19IV GG findet, wird erst unten dargestellt, um Wiederholungen zu vermeiden.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen a) Gewaltenteilung
Zentralfrage der Gewaltenteilung ist die Bestimmung des Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalts 284 . Vorrangig geht es dabei um die Abgrenzung der Funktionsbereiche von Legislative und Exekutive 2 8 5 . I m Kern steht die vom Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip abgeleitete Forderung, alle „wesentlichen" Regelungen durch formelles Gesetz zu treffen 2 86 . Auch wenn Schwierigkeiten bestehen, hierzu allgemeine Kriterien zu entwickeln 2 8 7 , ist doch weitgehend anerkannt, daß i m grundrechtsrelevanten Bereich „wesentlich" in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" bedeutet 288 . Einer parlamentsgesetzlichen Regelung bedürfen jedenfalls alle imperativen sowie solche mittelbaren Grundrechtseingriffe, die mit einem festen Steuerungsziel erfolgen 2 8 9 . Insoweit findet die Wesentlichkeitsdoktrin Anwendung nicht nur gegenüber staatlichen Behörden und Selbstverwaltungseinrichtungen, sondern auch gegenüber nichtstaatlichen Normsetzern wie privaten Verbänden 290 . 284
Zum Parlamentsvorbehalt Ossenbühl, HStR III, §62 Rn.9. Vgl. BVerfGE 57,295 (321); 58,257 (268); BVerwGE 56,31 (37 f.); 57,130 (137). Die diesem unterliegenden Gegenstände sind „delegationsfeindlich" {Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, 109); mithin handelt es sich beim Parlamentsvorbehalt „um einen zum Delegationsvorbehalt verdichteten Gesetzesvorbehalt" (Erichsen, DVB1 1985, 27). Vgl. auch Di Fabio, Risikoentscheidungen, 363 f. Anders jetzt H. C. Röhl, Regierungsbefugnisse des Parlaments, i. E. 285 Vgl. allgemein Ossenbühl, HStR III, §62. 286 BVerfGE49,89 (126f. m. w.N.); 61,260 (275); 77,170 (231); 83,130 (142). Ähnlich bereits O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 69: „Die Verwaltung kann nicht so abhängig gehalten werden (wie die Justiz). Das verfassungsmäßige Gesetz ist deshalb nur für gewisse besonders wichtige Gegenstände zur notwendigen Bedingung aller Staatstätigkeit gemacht worden. Für alle übrigen ist die vollziehende Gewalt an sich frei; sie wirkt aus eigner Kraft, nicht aufgrund des Gesetzes. Wir nennen den Ausschluß ihres selbständigen Vorgehens, der bezüglich jener besonders ausgezeichneten Gegenstände besteht, den Vorbehalt des Gesetzes". 287 Unter welchen Umständen und in welchem Umfang es tatsächlich einer Regelung durch Parlamentsgesetz bedarf, „läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen", BVerfGE 98, 218 (251); vgl. z.B. Flucki Schmitt, VerwArch 89 (1998), 237. Politische Umstrittenheit einer geplanten Regelung allein genügt jedenfalls nicht, BVerfGE 49, 89 (126); 98,218 (251). Vgl. aber das Konzept einer Sammlung von Indikationen und Gegen-Indikationen bei Denninger, Normsetzung, Rn. 160; Kluth, Selbstverwaltung, 491 f. Kritisch zur Wesentlichkeitslehre Axer, Normsetzung in der Sozialversicherung, 333 ff.; differenziert Janssen, Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, v. a. 40 ff. 288 BVerfGE 34,165 (192); 40,237 (248ff.); 41,251 (260f.); 47,46 (79); 49,89 (126f.); 95, 267 (307 f.). Dies ergibt sich bei den Grundrechten, die einen speziellen Gesetzesvorbehalt enthalten, bereits aus dem Normtext selbst. Fehlt es an einem ausdrücklichen Gesetzes vorbehält, greift der ungeschriebene allgemeine Gesetzesvorbehalt ein. 289 BVerwGE 71, 183 (191); vgl. BVerwGE 90, 112 (121 ff.). Dies gilt auch, sofern die Eingriffe durch Selbstverwaltungsträger gegenüber ihren Mitgliedern erfolgen, zuletzt VGH Baden Württemberg NJW 2001, 1810f.; vgl. BVerfGE 33, 125 (160). 290 BVerfGE 34, 165 (192f.); 47, 46 (78f.); st. Rspr., vgl. BVerfGE 98, 218 (251); hierzu Schmidt-Aßmann, Gesundheitswesen, 57f.; ders., Ordnungsidee, 159f. Anders wohl SchmidtPreuß, ZLR 1997, 254; vgl. auch F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 112.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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Die Wesentlichkeitslehre verfolgt indes nicht das Ziel, „durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts" die gewaltenteilende Ordnung des Grundgesetzes zu unterlaufen 291. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt Rationalität staatlichen Handelns. Der Grundsatz der Gewaltenteilung dient deshalb nicht allein der gegenseitigen Kontrolle von Parlament, Verwaltung und Gerichten. Er zielt auch darauf ab, „daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer jeweiligen Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen" 292. Das gilt grundsätzlich auch für die Rechtsetzung293. Der Gewaltenteilungsgrundsatz liefert auch nach dem Verständnis optimaler Funktionsverteilung indes nur ein Grobraster, er begrenzt nicht die Kompetenzen der Legislative. Eine „umgekehrte Wesentlichkeit" in dem Sinne, daß es dem Parlament verboten wäre, Gesetze zu erlassen, die zuviele und zu detaillierte Vorschriften enthalten, existiert nicht 294 . Das Spannungsfeld zwischen dem absoluten Postulat, wesentliche Entscheidungen nur dem Parlament zu gestatten, und dem Erfordernis optimaler Aufgabenerfüllung kennzeichnet das Gewaltenteilungsprinzip. Wesentlichkeitslehre und rechtsstaatliches Effektivitätsgebot sind verfassungsrechtlich fundierte Prinzipien, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Ergebnis dieser Konkordanz ist eine Regelungstechnik, bei der das formelle Gesetz lediglich allgemeine Kriterien und politische Zielvorgaben enthält, detaillierte Festlegungen aber auf exekutive, apparativ besser geeignete Entscheidungsebenen verlagert werden. Werden Konkretisierungsbefugnisse dergestalt auf die Verwaltung verlagert, steht dieser auch die Wahl der Mittel zur Aufgabenerfüllung zu. Sie ist nicht nur befugt, sondern unter dem Gesichtspunkt der optimalen Aufgabenerfüllung unter Umständen sogar verpflichtet, 291
BVerfGE 49, 89 (125); 68, 1 (86 f.); 98, 218 (252). BVerfGE 49, 89 (125 f.); 68, 1 (86f.); 98, 218 (252). Vgl. grundlegend Küster, AöR 75 (1949), 397 ff.; allgemein v. Bogdandy, Gubemative Rechtsetzung, 40f.; v. Danwitz, Der Staat 35 (1996), 329ff.; T. Groß, Kollegialprinzip, 200ff.; Krebs, HStR III, §69 Rn.77; Ossenbühl, HStR III, §62 Rn.49; Schmidt-Aßmann, HStR I, §24 Rn.79; ders., Ordnungsidee, 157 ff.; ders., Verwaltungsorganisationsrecht, 40 f. m. w. N. Skeptisch hinsichtlich der Existenz eines allgemeinen verfassungsrechtlichen Effektivitätsgebotes (als rechtlicher Begrenzungstopos zu unbestimmt, theoretisch nicht feststellbar, sondern stets weiter steigerungsfähig, mithin bloße Verhältnisbestimmung) Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, 105 unter Bezugnahme auf Leisner. 293 Und zwar ungeachtet der Tatsache, daß es einen subjektiven Anspruch im Sinne eines Grundrechts auf optimale Rechtsregeln (etwa: „Jeder hat Anspruch auf Rechtsregeln, die mehr nützen als kosten") nicht gibt, vgl. aber Lücke, ZG 16 (2001), 5 f.; Schwintowski, StWStP6 (1995), 32. Nach Ossenbühl, ZG 12 (1997), 305 ff. verlangt eine „gelungene Rechtsetzung", daß sie sowohl den demokratischen wie den rechtsstaatlichen Erfordernissen entspricht als auch zugleich möglichst richtige Entscheidungen hervorbringt. Vgl. allgemein v. Bogdandy, Gubemative Rechtsetzung, 41. 294 Denninger, Normsetzung, Rn. 152; Schwab, Politikberatung, 126. Vgl. zum Umweltrecht Ossenbühl, DVB1 1999,1 ff. m. w. N. Deshalb kann es aber dennoch der Fall sein, daß das Parlament mit der Fülle der zu erlassenden Vorschriften schlicht überfordert und aus diesem Grunde verpflichtet ist, den Erlaß von Detailregelungen zu delegieren. 292
1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
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sich externen (privaten) Sachverstandes zu bedienen und diesen in die Verwaltungsorganisation zu integrieren 295. b) Bestimmtheit und Normklarheit In enger sachlicher Verknüpfung mit dem Parlamentsvorbehalt steht das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes296. Eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive zur Vornahme von Verwaltungsakten muß diesem zufolge soweit hinreichend bestimmt und begrenzt sein, daß das Handeln der Verwaltung meßbar und in gewissem Umfang für den Bürger voraussehbar und berechenbar wird 297 . Der Gesetzgeber darf sich seiner Verantwortung nicht dadurch entziehen, daß er unter Verwendung von Generalklauseln und vagen unbestimmten Rechtsbegriffen „offene Normen" schafft, „die sich als eine apokryphe Delegation auf den gesetzesanwendenden Interpreten entpuppen"298. Bestimmtheitserfordernisse intensivieren so den Gesetzesvorbehalt 299. Rechtsstaatlichkeit verlangt zugleich Normklarheit. Die Betroffenen müssen anhand der Norm die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Gesetze müssen sprachlich verständlich sein und Widersprüchlichkeiten oder Irreführungen vermeiden. Auch eine Überladung des Gesetzes mit sehr umfangreichen technisch-wissenschaftlichen Detailbestimmungen ist unzulässig. Dem Gesetzgeber ist es deshalb nicht von vornherein und grundsätzlich untersagt, unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden und Generalklauseln aufzustellen 300 . Die Konkretisierung muß aber in einem Maße fortgeschritten sein, daß für die 295
Di Fabio, VerwArch 81 (1990), 210f.; ebenso Holle, Normierungskonzepte, 188; vgl. auch Ossenbühl, DVB1 1999, 6. Für öffentliche Unternehmen wird in ähnlicher Konstruktion aus dem Effektivitätsgebot das Erfordernis einer Orientierung an den Regeln des Marktes abgeleitet, Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht, 41. Kritisch zum staatlichen Angewiesensein auf die Mitwirkung Privater Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, 104 mit dem Hinweis, dies sei häufig darauf zurückzuführen, daß es gerade die Gefahrenverursacher seien, bei denen eine „Quasi-Monopolisierung" des Spezialwissens erfolge. 296 Denninger, Normsetzung, Rn. 161 zufolge kann möglicherweise das Gebot der Bestimmtheit primär auf das Verhältnis Legislative/Exekutive bezogen werden, das der Normklarheit dagegen das Verhältnis Staat/Bürger determinieren. Ähnliche Differenzierung bei Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 170. Allgemein Lücke, ZG 16 (2001), 7 ff. 297 BVerfGE 56, 1 (12) m. w.N. 298 Ossenbühl, Krankenversicherung, 39; vgl. dens., DVB1 1999, 3. Andererseits fordern verfassungsrechtliche Gewährleistungen teilweise ein gesteigertes Maß gesetzlicher Offenheit, vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 171 f. sowie beispielhaft für die kommunale Selbstverwaltung Janssen, Grenzen des legislativen Zugriffrechts, 128 ff. 299 Lücke, ZG 16 (2001), 10f.; Ossenbühl, Krankenversicherung, 39; vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 170. 300 Vgl. BVerfGE 49, 89 (139 f.); Lücke, ZG 16 (2001), 16; Ossenbühl, HStR III, §65 Rn.7ff.; keine Bedenken auch bei Wieweg, Atomrecht, 182. Vgl. dazu T. Groß, Kollegialprinzip, 90 f. m. w. N.; aber auch Denninger, Normsetzung, Rn. 152 m. w. N. Es kann unter dem Gesichtspunkt des dynamischen Grundrechtsschutzes sogar erforderlich sein.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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Normadressaten die an sie gestellten Anforderungen klar erkennbar bleiben und es nicht einem untergesetzlichen Regelsetzer ermöglicht wird, entscheidende Änderungen vorzunehmen. Die gebotene Gesetzesbestimmtheit kann unter Umständen reduziert werden, wenn Verfahrensbestimmungen interessengerechte Konkretisierung sichern, insbesondere durch Einbindung der Betroffenen 301. Unter diesen Voraussetzungen kann auch private Normsetzung dort sinnvoll und geboten sein, wo die Rechtsordnung ein Bedürfnis nach Konkretisierung erkennen läßt 302 . c) Publizität Das rechtsstaatliche Publikationsgebot beruht - insoweit ähnlich dem Bestimmtheitsgebot - auf dem Postulat, daß die Normunterworfenen nur dann rechtmäßigerweise zu einem Verhalten verpflichtet und gegebenenfalls gezwungen werden können, wenn ihnen die an sie gestellten Erwartungen bekannt sind 303 . Es verpflichtet den Staat, dort, wo er gezielt private Normen zur Feinsteuerung einsetzt, auch deren Publizität zu garantieren. Dafür kann eine Veröffentlichung in einem öffentlichen Verkündungsblatt wie dem Bundesanzeiger erforderlich oder doch zweckmäßig sein 304 . Es kann aber auch genügen, wenn das Gesetz erkennbar zum Ausdruck bringt, daß es die außenstehende Norm zu seinem Bestandteil machen will und diese ergänzende Anordnung hinreichend bestimmt bezeichnet sowie sowohl in der Form ihrer Verkündung für den Normadressaten zugänglich als auch ihrer Art nach für amtliche Anordnungen geeignet ist 305 . Bestehende private Publikationsmittel können damit in den staatlichen Veröffentlichungskanon integriert werden, sofern sie 301
BVerfGE 33,303 (341); 49,168 (181 f.); Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 173. Vgl. aber auch BVerfGE 64, 208 (214ff.); 78, 32 (36). 302 Nach Holle, Normierungskonzepte, 189 f. können private Regeln v. a. dort einheitliche Auslegungen von Rechtsvorschriften gewährleisten und damit ein höheres Maß an Rechtssicherheit herstellen, wo unterschiedliche Interpretationen durch verschiedene Verwaltungsbehörden und Gerichte zu einem verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Maß an Rechtsunsicherheit führten. Dem ist zu widersprechen. Wenn staatliche Instanzen der Administrative oder der Judikative zu unterschiedlichen Auslegungen gelangt sind, kann grundsätzlich nicht eine auch noch so sachverständige private Organisation über diese Differenzen entscheiden. Anderes kann nur gelten, wenn die private Norm durch einen entsprechenden staatlichen Bestätigungsakt auch gegenüber den Behörden und Gerichten eine gewisse Verbindlichkeit erlangt. Zur Methodik der Auslegung Seiler, Auslegung, insbesondere 49 ff. 303 Marburger, Regeln der Technik, 408. Zu den Funktionen der Publikation ausführlich Wittling, Publikation der Rechtsnormen, 120ff. 304 Apodiktisch Ossenbühl, DVB11967,406f.: Der Bürger muß sich „aus dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verkündungsblatt selbst über die Gesetzeslage umfassend unterrichten können"; das Gesetzblatt soll „kein Fundstellenverzeichnis, sondern selbst Fundstelle" sein. Vgl. auch Bohne, VerwArch 75 (1984), 365; Clemens, AöR 111 (1986), 88 ff. für Verweisungen in förmlichen Gesetzen; Karpen, Verweisung, 157; Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, 115 ff. 305 BVerwG, DVB1 1962,138; Brugger, VerwArch 78 (1987), 12 ff. m. w.N.; Clemens, AöR 111 (1986), 97 ff. für Verweisungen in Rechtsverordnungen und sonstigen untergesetzlichen Rechtsnormen; vgl. auch H. Schneider, Gesetzgebung, Rn.405.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
ein vergleichbares Verbreitungsniveau bieten 306 . Nicht nur die Anzahl der erreichbaren Adressaten bei der erstmaligen Bekanntmachung ist zu berücksichtigen, sondern auch die Archivierung einmal publizierter Standards. Weiterhin ist zu fordern, daß die Publikation die Identität des Textes sichert, jeder die ungehinderte Möglichkeit hat, sich Kenntnis von der ergänzenden Norm zu verschaffen und der Weg hierzu hinreichend einfach ist 307 . Der Gedanke einer allgemeinen Normzugänglichkeit wird in Frage gestellt, wenn die Normen zwar für jedermann erhältlich sind, aber eine Schutzgebühr entrichtet werden muß 308 . Diese Anforderungen greifen in voller Schärfe nur dort, wo die staatliche Rezeption privaten Normen volle Rechtsqualität verschafft. Die genannten Kriterien sind namentlich anhand der Verweisung entwickelt worden 309. Wo keine vollständige Rechtsverbindlichkeit angestrebt wird, reduzieren sich die Publikationserfordernisse. Da eine weitreichende und gut dokumentierte Publikation den Normen ein Mehr an Beachtung zu garantieren geeignet ist, liegt sie jedoch auch im Interesse der privaten Normsetzer. d) Ergebnis Das Rechtsstaatsprinzip streitet einerseits für formale und geordnete Verfahren und damit möglicherweise auch für die Unilateralität staatlicher Entscheidung; andererseits verlangt es aber auch Effektivität, Gerechtigkeit und Normklarheit, was für ein kooperatives Vorgehen sprechen könnte 310 . Es hindert Verantwortungsteilung als solche nicht, sondern verweist auf die Notwendigkeit ihrer rechtsstaatlichen Formung und setzt Grenzen, wo es zu einer Verantwortungsdiffusion und einer Beeinträchtigung der Rechtspositionen Dritter kommen kann 311 . Wo Aufgabenverlagerungen rechtsstaatliche Bindungen ins Leere laufen lassen, muß der Staat die an ihn gerichteten Anforderungen an die Privaten weitergeben. 306 In der Praxis dürften Veröffentlichungen bspw. in Fachzeitschriften sogar größere Beachtung finden. „Denn der Normalbürger liest weder Gesetz- und Veröffentlichungsblätter noch die Bundes- und Staats-Anzeiger noch gar die ministerialen Amtsblätter", Denninger, Normsetzung, Rn. 165. Zum Vorrang einer rechtsformalen gegenüber einer rechtsrealistischen Betrachtungsweise aber Brugger, VerwArch 78 (1987), 10 f. 307 Ebsen, DÖV 1984, 662. Das OVG Lüneburg NVwZ-RR 1991, 106 f. hat diesen Gedanken dahingehend fortentwickelt, daß bei einer Verweisung auf Veröffentlichungen privater Normsetzer nicht nur genaue Angaben zu Titel, Datum, Fundstelle und Bezugsquelle in das verweisende Gesetz aufgenommen werden müßten, sondern zudem die archivmäßige Aufbewahrung der in Bezug genommenen Texte bei einer amtlichen Stelle erforderlich sei (zur gesetzlichen Verweisung auf DIN-Normen). 308 Nach Clemens, AöR 111 (1986), 97 dürfen die Kosten der Zugänglichkeit im Einzelfall nicht „unzumutbar hoch" sein; ähnlich Brugger, VerwArch 78 (1987), 14: „nicht zu teuer". Vgl. dazu jetzt auch BVerfG(K) NJW 1999,414ff. 309 Dazu nur Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 20 f. m. w. N.; vgl. §31 UGB-KomE. 310 Kunig, Alternativen, 57; ders., Rechtsstaatsprinzip, 278 ff. 311 Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, 35; Trute, DVB1 1996, 956.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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4. Grundrechtliche Aspekte a) Grundrechte als Abwehrrechte Die Grundrechte binden unmittelbar nur die staatlichen Gewalten, Art. 1 III GG. Eine direkte Bindung der privaten Normsetzer entfällt. Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen hoheitliche Eingriffe in grundrechtlich gewährleistete Freiheitsbereiche 312. In besonders grundrechtssensiblen Regelungssektoren kann aus ihnen ein Verbot direkter Steuerung folgen 313 . Nach dem Übermaßverbot darf der Staat von mehreren gleich wirksamen Maßnahmen nur diejenige verwirklichen, die den geringsten Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen verursacht314. Da private Normsetzung gegenüber der staatlichen ein Mehr an Mitwirkungsbefugnissen der Betroffenen beinhaltet, erweist sie sich grundsätzlich als die jeweils „mildere" Regulierungsform. Wenigstens für den Regelfall ist aber davon auszugehen, daß die Unfähigkeit privater Organisationen, aus sich heraus „Recht" zu setzen, für die von ihnen erlassenen Normen einen geringeren Durchsetzungsfaktor zur Folge hat. Es fehlt somit die Gleichwirksamkeit 315. Aus dem Übermaßverbot folgt demnach keine grundsätzliche Nachrangigkeit staatlicher Rechtsnormsetzung 316 . Es verpflichtet jedoch dazu, die Möglichkeit einer Selbstnormierung in Betracht zu ziehen und ihr dann Vorrang einzuräumen, wenn von ihr - ausnahmsweise - eine gleich wirksame Regelung zu erwarten ist. Imperative Regelungen sind aber in den wenigsten Fällen kategorisch ausgeschlossen. Auch detailliertere Regelungen stellen nicht automatisch eine unzulässige Freiheitsbeschränkung dar, denn ein Optimum an Freiheit verlangt nicht etwa ein Minimum, sondern ein Optimum an staatlicher Regelung317. Sofern aber private Verpflichtungen zu bereits bestehenden gesetzlichen oder verordnungsrechtlichen Vorkehrungen hinzutreten, sind die sich aus der Kooperation ergebenden Kumulationseffekte der Verhaltenssteuerung in die gebotene Abwägung einzubeziehen318.
312
St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (204 f.); zur mittelbaren Drittwirkung Spieß, DVB1 1994, 1225 ff. m. w.N. 313 Vgl. das Beispiel der „Publizistischen Grundsätze" (Pressekodex), dazu H. Baumann, Rechtsprobleme freiwilliger Selbstbeschränkung, 26; M. Schmidt, Standesrecht, 34ff.; Stürner, Pressefreiheit, 105 ff. Zur Verfassungswidrigkeit eines die Presse-Selbstkontrolle statuierenden Gesetzes Löffler, NJW 1981,908 f. Weitere Beispiele zum „verfassungsrechtlichen Verbot direkter Steuerung" bei Engel, FS Mestmäcker, 126. 314 BVerfGE 11, 30 (32f.); 16,194 (202); 17,232 (242); 30, 292 (316); 67,157 (176f.); 68, 193 (218 f.). 315 Insoweit ist eine starke Ähnlichkeit mit dem Subsidiaritätsgedanken auszumachen, Vieweg, Normsetzung, 178 ff. m.w.N. 316 So auch allgemein für kooperatives Vorgehen Brohm, DÖV 1992, 1033 f.; Kunig, Alternativen, 64; Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, 37. 317 v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 52. 318 Trute, Kooperation, 51.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
b) Grundrechte als Partizipationsrechte Ob aus den Grundrechten ein Recht zur Partizipation an Steuerungsmaßnahmen bzw. ein Recht auf Verlagerung staatlicher Steuerungsaktivität in den privaten Sektor gefordert werden kann, erscheint fraglich. Das Bundesverfassungsgericht hat (allerdings in Zusammenhang mit der funktionalen Selbstverwaltung) von dem Grundgedanken gesprochen, „die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand zur Findung nichtigen' Rechts zu nutzen" 319 . Ähnlich folgen nach Schmidt-Preuß aus dem Zusammenwirken von Freiheitsgrundrechten und freiheitlich-sozialer Marktwirtschaft Elemente der Privatinitiative, des Wettbewerbs und der individuellen Risikoübernahme, die sich in der Summe zu einem „verfassungsrechtlichen Postulat größtmöglicher Aktivierung selbstregulativer Beiträge" verdichteten 320. Beide Argumentationslinien stehen vor dem Problem, daß sie, wollte man sie wörtlich verstehen, hoheitliche Steuerung nahezu ausschlössen. Letztlich kann es sich nur um eine Vermutung handeln, derzufolge eine adäquatere und „mildere" Aufgabenwahrnehmung durch sachnähere kleinere Einheiten zu erwarten ist. Ein entsprechendes Postulat kann nicht als verfassungsrechtlich fundierte absolute Forderung Geltung beanspruchen, sondern lediglich als Auslegungsmaxime, mittels derer ordnungsrechtliche Maßnahmen auf ihre Erforderlichkeit hin überprüft werden können321. Umgekehrt stellt die Beteiligung Privater an Normsetzungsverfahren ungeachtet der Tatsache, daß die privaten Gremien hierzu in der Regel nur allzu bereit sind, eine grundrechtsrelevante Maßnahme dar. Denn die Eröffnung von Kooperationsmöglichkeiten beinhaltet regelmäßig eine Pflicht zur Teilnahme322. Es ist daher verständlich, wenn in diesem Zusammenhang vor grundrechtsrelevanter Abbürdung staatlicher Erfüllungsverantwortung und zugemuteter Eigenverantwortung gewarnt wird 3 2 3 . Ein Grundrechts verzieht im Sinne eines volenti non fit iniuria setze eine echte Freiwilligkeit voraus, an der es fehle, wenn eine Selbstverpflichtung nur unter dem Eindruck einer angedrohten staatlichen, regelmäßig sachlich einschneidenderen Regelung eingegangen wurde 324 . Es ist fraglich, ob dem gefolgt werden kann. Zum einen mag eine Pflicht zur Kooperation dogmatisch als Grundrechtseingriff zu werten 319
Vgl. BVerfGE 33, 125 (159). Ähnlich bereits BVerfGE 10, 59 (83): „[...] in erster Linie die kleinere Gemeinschaft wirken soll und mit staatlichen Mitteln erst einzugreifen ist, wenn es unausweichlich wird". 320 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 170f.; vgl. dens., ZLR 1997, 251 f.; dens., Regelwerke, 91: „Grundrechtliche Normungsautonomie". 321 Ähnlich auch Denninger, Normsetzung, Rn. 181 zum Anspruch auf Beteiligung im Normsetzungsverfahren der Exekutive. 322 DiFabio, JZ 1997,970: „Manch »freiwillige' Selbstverpflichtung verdient diesen Namen nicht, weil dahinter massive staatliche Regelungsandrohungen stehen". Ähnlich Buchholz, Zwang zur Freiheit, 77. 323 Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 258ff.; ders., NVwZ 1995, 5; Fluck/Schmitt, VerwArch 89 (1998), 236 f. Ausführliche Analyse bei Faber, Selbstregulierungssysteme, 288 ff.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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sein, im Vergleich zu rein staatlicher Regelung ist sie immer noch als grundrechtsfreundlichere Alternative anzusehen325. Zum anderen kann angezweifelt werden, ob die Annahme eines Subordinationsverhältnisses die reellen Gegebenheiten widerspiegelt. Es verwundert, wenn einerseits vor der Macht gesellschaftlicher Gruppen gewarnt wird, andererseits diese als dem Staat hilflos ausgeliefert präsentiert werden. Manches spricht dafür, hier - gerade angesichts der staatlicherseits angestrebten Entlastungswirkungen - eher von einem koordiniert-kooperativen Vorgehen auszugehen. Wo eine selbstregulative Maßnahme vom Staat initiiert wird, ist zudem in jedem Fall darauf zu achten, daß sich die Mitwirkungsmöglichkeiten nicht auf bestimmte Interessengruppen beschränken. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 31 GG) verlangt, prinzipiell allen Betroffenen dieselbe Partizipationschance zu bieten, und das bedeutet auch, daß die Normsetzungsverfahren entsprechende Mindestvoraussetzungen zu erfüllen haben. Ausnahmen bedürfen besonderer Rechtfertigung 326. Daneben kann der Grundrechtsschutz Dritter, an der Regelerstellung Unbeteiligter, es erforderlich machen, diesen bestimmte Mitwirkungsrechte einzuräumen oder doch ihre Belange erörterungspflichtig zu machen, um die privater Regulierungstätigkeit zugeschriebene asymmetrische Interessenberücksichtigung 327 zu vermeiden. c) Staatliche Schutzpflichten Neben der negativen Abwehrfunktion enthalten die Grundrechte ein positives Schutzmoment. Der Staat hat sich schützend und fördernd vor bestimmte verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren (Schutzpflicht) 328. Im Dreiecksverhältnis Staat-Störer-Op324 Fluck/Schmitt, VerwArch 89 (1998), 236f.; RenningslBrockmann/Bergmann, Nachhaltigkeit, 141. Zur Möglichkeit eines Grundrechtsverzichts Faber, Selbstregulierungssysteme, 305 ff. Für ein Koppelungsverbot für nicht-konnexe Drohmittel Engel, StWStP9 (1998), 561 f.; Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 267; Trute, Kooperation, 50. 325 DiFabio, JZ 1997, 970; Schoch, VVDStRL 57 (1998), 209 mit Fn.257; Trute, Kooperation, 24. Skeptisch auch Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 266: „Soweit sich regulierte Selbstregulierung in Formen der Kooperation und des Vertragsrechts ausdrückt, sind freiwillig begründete Einschränkungen privater Aktionsmöglichkeiten keineswegs durchgängig als Grundrechtseingriff zu definieren". Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit zwischen Vertragsund Vereinsrecht lassen sich diese Überlegungen auch auf die verbandliche Normsetzung übertragen. Entsprechend gesteht aus Sicht der Praxis Schendel, NVwZ 2001,496 zu, daß der Eingehung einer Selbstverpflichtung regelmäßig eine Abwägung ihrer Vor- und Nachteile im Vergleich zu einer möglichen alternativen staatlichen Regelung vorausgeht. 326 Zu den Auswirkungen des allgemeinen Gleichheitssatzes auf die Behandlung sog. Trittbrettfahrer Faber, Selbstregulierungssysteme, 314 ff. m.w.N. 327 So z.B. Nahamowitz, Hierarchie und Kooperation, 130; vgl. auch Engel, StWStP9 (1998), 563 f. 328 BVerfGE 49, 89ff.; 56, 54 (73). Vgl. zur Schutzpflichtlehre allgemein Isensee, HStR V, §111; Stern, Staatsrecht III/l, §69IV; speziell im vorliegenden Zusammenhang F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 522 ff.
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fer müssen die Freiheit des Störers und der Schutz des Opfers zu einem verfassungskonformen Ausgleich gebracht werden 329. Dieser Schutzpflichtgedanke könnte unter dem Aspekt des dynamischen Grundrechtsschutzes private Normsetzung fordern, umgekehrt aber auch auf eine staatliche Regelungspflicht hindeuten. Dynamischer Grundrechtsschutz verlangt, nicht auf einem einmal erreichten Schutzniveau zu verharren, sondern es dem Wandel der wissenschaftlichen Erkenntnisse und dem technischen Fortschritt anzupassen330. Schon der Bedarf an aus Gründen des optimalen Grundrechtsschutzes erforderlichen Detailregelungen dürfte „wegen der vielschichtigen und verzweigten Probleme technischer Fragen und Verfahren" über die Leistungsfähigkeit des Parlaments hinausgehen331. Jedenfalls ist es mit der ständigen zeitnahen Anpassung derselben überfordert 332. Gesetzliche Festlegungen können so aufgrund der Starrheit des parlamentarischen Verfahrens hinsichtlich des Grundrechtsschutzes eher Hindernis denn Sicherungsmaßnahme sein 333 . Gesetze dürfen daher nicht mit umfangreichen technischen Detailregelungen überfrachtet werden. Nur grundlegende Vorgaben und Zielsetzungen bedürfen gesetzlicher Determination 334. Deren Ausfüllung kann Institutionen überlassen werden, die sich den rasch wechselnden Verhältnissen schneller anpassen und sie besser normativ umsetzen können. In erster Linie ist dies Aufgabe der Verwaltung 335 und der Gerichte. Soweit der Konkretisierungsbedarf allerdings - qualitativ oder quantitativ - auch deren Möglichkeiten überschreitet, sind daneben private Stellen zu bemühen336. 329
Stern, Staatsrecht III/l, 946. Insoweit unstreitig, vgl. nur BVerfGE 49, 89 (137, 140); Denninger, Normsetzung, Rn. 137. 331 BVerfGE 49, 89 (134); ebenso Lübbe-Woljf,, ZG 6 (1991), 241 f. Allerdings steht es dem Parlament nicht nur offen, sondern es ist unter Umständen sogar dazu verpflichtet, sachverständigen Beistand einzuholen, vgl. nur Schmidt-Aßmann, Gesundheitswesen, 60 f. unter Hinweis auf die Möglichkeiten der Enquêtekommissionen, Gutachten und Anhörungen. 332 BVerfGE 49, 89 (134f.). Aus der Literatur statt vieler Schwab, Politikberatung, 125 m. w.N. in Fn. 178. 333 So bereits BVerfGE 49, 89 (137): „Die gesetzliche Fixierung eines bestimmten Sicherheitsstandards durch die Aufstellung starrer Regeln würde demgegenüber, wenn sie sich überhaupt bewerkstelligen ließe, die technische Weiterentwicklung wie die ihr jeweils angemessene Sicherung der Grundrechte eher hemmen als fördern. Sie wäre ein Rückschritt auf Kosten der Sicherheit". Andererseits wird man auch hinsichtlich der untergesetzlichen Standards nicht umhin kommen, diese auf ihre Tauglichkeit zur Gefahrenabwehr zu überprüfen. „Anerkennung in der Technik erlangt eine Regel gewöhnlich erst dann, wenn sie in der Praxis »funktioniert', d.h. wenn ein fundiertes Erfahrungswissen existiert, das eine verläßliche Beurteilung der Regel zuläßt und das insbesondere ein verstärktes kognitives Element in die Regel hineinträgt", Schwab, Politikberatung, 207. 334 Denninger, Normsetzung, Rn. 152; vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 169. 335 Zur normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift Ladeur, DÖV 2000, 217 ff. 336 Dezidiert Holle, Normierungskonzepte, 189: „zulässig und häufig sogar geboten, Private zur Aufgabenerfüllung heranzuziehen, weil nur diese über die zur sachangemessenen Regelung erforderliche Fachkompetenz und die personellen Ressourcen verfügen". Vgl. Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 204, die auch darauf hinweist, daß für diese Möglichkeit nicht nur die 330
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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Normdichte, Komplexität und Detailerfordernisse sind aber nur ein Indiz für drohende schwere Grundrechtsbeeinträchtigungen, kein Beweis. Kapitalmarktsteuerung ist komplex und diffizil; sie verlangt hohe fachliche Kompetenz und großen Normierungsaufwand. Die Gefährdungen, denen die Grundrechtsträger hier ausgesetzt sind, sind aber regelmäßig rein pekuniärer Art; es geht letztlich „nur um Geld". Als betroffene Grundrechte sind vor allem die Art. 12, 14 und 21 GG zu beachten. Die Schutzpflichtlehre wurde jedoch am Schutzgut des Art. 2 II 1 GG (Leben und körperliche Unversehrtheit) entwickelt 337 . Prinzipiell kann dennoch als Objekt einer Schutzpflicht jedes Schutzgut eines Freiheitsgrundrechts in Betracht kommen338. Aus Rechtsgütern, deren Ausgestaltung dem Gesetzgeber anheimgestellt ist, läßt sich aber nur schwer eine staatliche Schutzpflicht folgern. Namentlich bei Art. 14 GG ist eine Trennung zwischen der gesetzlichen Schutztätigkeit und der inhaltlichen Formung des Eigentumsbegriffs kaum möglich 339 . Art. 121 GG hingegen ist bereits als Anknüpfungspunkt einer staatlichen Schutzpflicht herangezogen worden 340 . Sein Schutzbereich erfaßt aber die besonders gefährdeten privaten Anleger nicht. Für diese bleibt nur die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 21 GG, der sich aufgrund der Weite ihres Anwendungsbereiches keine konkrete Schutzpflicht entnehmen läßt. Zudem entstehen die Risiken, denen die Anleger am Kapitalmarkt ausgesetzt sind, häufig nur im Rahmen freiwillig eingegangener Rechtsgeschäfte. Die Anwendung des Schutzpflichtgedankens auf Selbstgefährdungen ist aber nicht unproblematisch. Das Bundesverfassungsgericht hat eine staatliche Schutzpflicht zwar für den Fall bejaht, daß die Selbstbestimmung der Betroffenen bei Vertragsverhandlungen aufgrund des wirtschaftlichen Übergewichts der anderen Vertragspartei soweit eingeschränkt ist, daß letztere vertragliche Regelungen faktisch diktieren kann 341 . Geschützt werden soll jedoch hierbei nicht vor Selbstgefährdung, sondern vor dem Ausspielen sozialer Macht 342 . Im Einzelfall ist somit genau zu prüfen, ob die betroffenen Kapitalanleger wirtschaftlich oder intellektuell bzw. informationell deutlich unterlegen und damit rechtlich schutzbedürftig sind 343 ; dabei ist auf indiviÜberforderung der staatlichen Organe in personeller, fachlicher, v. a. aber finanzieller Hinsicht spricht, sondern daß sie zudem dazu beiträgt, einen aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht wünschenswerten Machtzuwachs der Exekutive zu verhindern. 337 Vgl. BVerfGE 39,1 (41 ff.); 49,89 (140ff.); 53,30 (57 ff.); 88,203 (251 ff.); Ausführlich zu dieser Entwicklung Seidel, Private Sachverständige, 76 ff. Zusätzlich stellt das BVerfG auf die aus der Gesamtheit der Grundrechte bestehende objektive Werteordnung ab, vgl. grundlegend BVerfGE 39,1 (41 f.); kritisch Isensee, HStR V, § 111 Rn. 82 f., der das staatliche Gewaltmonopol bzw. die Staatsaufgabe Sicherheit heranzieht; Seidel, Private Sachverständige, 77 f. 338 Vgl. Isensee, HStR V, § 111 Rn. 89, 93; Stern, Staatsrecht III/l, 944. 339 Erichsen, Jura 1997,86 f., der jedoch eine Schutzpflicht der Gerichte und der Verwaltung bejaht (anders Isensee, HStR V, § 111 Rn. 94). 340 BVerfGE 81,242 (255) - Handelsvertreter; 92,26 (46 f.) - Zweitregister. Stober, Grundrechtsschutz der Wirtschaftstätigkeit, erwähnt Schutzpflichten überhaupt nur in Zusammenhang mit Art. 2 II GG (9f., 43 ff.). 341 BVerfGE 81, 242 (252 ff.). 342 So zu Recht Hermes, NJW 1990, 1766. 343 Hopt, Europäisches Kapitalmarktrecht, 322 m.w. N.; ders., Kapitalanlegerschutz, 70ff.
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duelle Vorkenntnisse und persönliche Umstände Rücksicht zu nehmen. Eine allgemeine grundrechtliche Schutzpflicht besteht im Kapitalmarktrecht dagegen nicht. Deshalb liefert das Erfordernis dynamischen Grundrechtsschutzes kein pauschales Argument für private Normsetzung 344. Umgekehrt gibt es auch keine staatliche Regelungspflicht. Kooperation und Aufgabenübertragung können jedoch Veränderungen des Interessengleichgewichts der gesellschaftlichen Akteure herbeiführen. Auch unterhalb der Ebene einer staatlichen Regelungspflicht ist der Staat deshalb aus grundrechtlicher Sicht verpflichtet, dort, wo er Aufgaben an Private abtritt, deren ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung sicherzustellen 345. Monopolisierungstendenzen und konglomeratischen Machtkonzentrationen muß entgegengewirkt werden, um Verhandlungsungleichgewichte und damit potentielle Gefährdungen der unterlegenen Gruppen zu verhindern, und Verfahrensanforderungen müssen die Einwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen sicherstellen.
5. Ergebnis Dem Grundgesetz läßt sich ebensowenig ein Vorrang privater Normsetzung entnehmen, wie es einen allgemeinen verfassungsrechtlichen Zwang zur Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft gibt. Andererseits ist auch keine prinzipielle Präferenz des staatlichen Ordnungsrechts anzuerkennen, besteht keine grundsätzliche Pflicht des Staates zur eigenhändigen Aufgabenerfüllung 346. Die Abwägung zwischen widersprüchlichen Systemprinzipien ist dem Gesetzgeber aufgegeben, der dabei weitgehende Entscheidungsfreiheit genießt. Entscheidet sich der Staat allerdings dafür, demokratisch nicht legitimierte, weder rechtsstaatlichen noch grundrechtlichen Bindungen unterworfene private Stellen in seine Aufgabenerfüllung 344 Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, daß die dogmatischen Grundlagen der grundrechtlichen Schutzpflichten nur ansatzweise dem Grundgesetz zu entnehmen sind und aus ihnen kaum konkrete Handlungsmaßstäbe abgeleitet werden können. Sie erlangen daher Bedeutung v. a. auf der Ebene der grundrechtskonformen Auslegung, vgl. nur BVerfGE 84, 212 (226 f.). Darüber hinaus ergibt sich nur ein wenig konturenscharfer Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, eine „Untergrenze" effektiven Grundrechtsschutzes nicht zu unterschreiten, vgl. zum „Untermaßverbot" BVerfGE 88,203 (254f.); Isensee, HStR V, § 111 Rn. 165 f.; Seidel, Privater Sachverstand, 79 m. w. N. Die Entscheidung darüber, wie staatliche Organe ihrer Schutzpflicht nachkommen, fällt nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem Demokratieprinzip in den Kompetenzbereich der Legislative, der insoweit ein Ermessensspielraum hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung zukommt, BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164); 56, 54 (80f.); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); aus der Literatur nur BurgU Privatisierung, 202 und Seidel, Privater Sachverstand, 78, jeweils m. w. N. 345 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 172ff., 229; dens., Regelwerke, 94. Zustimmend Faber, Selbstregulierungssysteme, 245, die eine Korrelation mit den drohenden Risiken fordert; Pitschas, Normsetzung, 253. 346 Trute, Kooperation, 18 f. Deshalb ist es auch prinzipiell möglich, auf der Ebene des einfachen Gesetzes einen Vorrang der Selbststeuerung zu etablieren, so z.B. §711 UGB-KomE; vgl. Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 266, der eine mögliche „Entwicklungstendenz zur Subsidiarität" sieht.
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einzubeziehen, muß er einen Ausgleich für den Verlust an unmittelbarer Verfassungsbindung schaffen. Das Ziel der Staatsentlastung ist nicht gleichzusetzen mit einem ersatzlosen Rückzug des Staates. Es entsteht nicht nur ein neues Kontrollbedürfnis, sondern in Form der erforderlichen institutionellen Vorfeldsicherungen auch ein neues Rechtsetzungsbedürfnis. Dabei haben die Variationen an staatlicher Beeinflussung, der Grad der erzielten Steuerungswirkung und der Ausgangspunkt der privaten Normsetzung Auswirkungen auf das Maß der staatlichen Verantwortung für das Normergebnis und bestimmen damit auch über die Schranken, die der Staat einerseits zu beachten, andererseits aber auch aufzustellen hat und deren Einhaltung zu überwachen er verpflichtet ist. I I I . Gemeinwohlkompatibilität als gesellschaftsgerichtete Anforderung Verfassungsrechtliche Anforderungen richten sich nicht direkt an Private, sondern dienen der Begrenzung staatlicher Macht gegenüber anderen staatlichen Instanzen, auch und vor allem aber gegenüber dem Bürger 347. Besonders deutlich wird dies am grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt348. Theoretisch ist es vorstellbar, Kooperationsvorgänge in staatliche und private Handlungsbeiträge aufzuspalten und für die staatlichen die benannten verfassungsrechtlichen, für die privaten dagegen nur spezifische gesellschaftliche Anforderungen anzulegen. Praktisch läßt sich diese trennscharfe Unterscheidung häufig nicht mehr durchführen 349. Die vereinfachenden binären Schemata Staat/Markt, Staat/Gesellschaft bzw. Staat/Private können für zahlreiche kooperative Mischformen mit starken Verflechtungserscheinungen nur noch unzulängliche Erklärungsmuster liefern; insbesondere ist es nicht möglich, die traditionellen administrativen Kontrollmechanismen auf die Überwachung privater Organisationen zu übertragen. Wo sich der Staat an privater Normsetzung dergestalt beteiligt, daß er ursprünglich unverbindlichen Regeln mittels Rezeption oder durch die Bereitstellung einer Rahmenordnung rechtliche Verbindlichkeit verschafft, verbindet sich die private Regelsetzung als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit mit dem am Gemeinwohl orientierten, demokratisch legitimierten staatlichen Handeln350. Die private Aufgabenübernahme steht danach in einem Spannungsverhältnis zwischen Sozialstaats- und Demokratiegebot auf der einen und privaten Effizienz- und Profitabilitätskriterien auf der anderen Seite351, das um so intensiver wird, je weniger bloße technische Festlegungen, sondern Wertungsentscheidungen getroffen wer347
Vgl. nur F. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, 507 ff.; Schmidt-Preuß, Regelwerke, 96. Ausführlich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 102 ff. 349 Aus diesem Grunde kritisch zum Zweistufenmodell Normerarbeitung/Normrezeption Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 101 f. 350 F.Kirchhof Private Rechtsetzung, 507. 351 Schock, DVB1 1994,968. Ähnlich Hecker, VerwArch 92 (2001), 284 f.; Hoffmann-Riem, Auffangordnungen, 266; differenziert Teubner, ZRSoz 1998, 9ff., v. a. 29ff., der private Motivation nicht auf ökonomische Aspekte beschränkt sehen will. 348
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den . Die verfassungsrechtlichen Gebote gelten für private Normsetzungsorganisationen nicht direkt; wie gezeigt verpflichten sie jedoch den Staat, kompensatorische Maßnahmen zu ergreifen 353 . Hier ist mithin ein weiterer Gedankenschritt zu integrieren: Aus der Verpflichtung des Staates, i m Rahmen seiner Aufgaben Wahrnehmung demokratische, rechtsstaatliche und grundrechtliche Erfordernisse einzuhalten, folgt, daß er dort, wo er Teile dieser Aufgaben an andere, nichtstaatliche Funktionsträger delegiert, für vergleichbare Voraussetzungen Sorge zu tragen hat. Die den staatlichen Organen auferlegten verfassungsrechtlichen Bindungen zielen letztlich darauf, durch eine legitimatorische Absicherung und ein ausgewogenes Verfahren möglichst interessengerechte Ergebnisse zu ermöglichen. Geht es daher darum, nicht demokratisch legitimierte und weder rechtsstaatlichen noch grundrechtlichen Restriktionen unterworfene private Akteure durch staatliche Anweisungen zu mäßigen, so läßt sich diese Aufgabe mit der Sicherstellung von Gemeinwohlkompatibilität - zugegebenermaßen vereinfacht - zusammenfassen 354 . Die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates, beim eigenen Handeln die benannten Grunderfordernisse einzuhalten, schlägt somit um in eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, entsprechende Maßstäbe auch bei den eingesetzten Privaten anzulegen und deren Einhaltung zu überwachen 355 . Die von den Privaten einzuhaltenden 352
Holle, Normierungskonzepte, 196. Trute, Kooperation, 21 f.: „Ohne daß hierbei schematisch die Anforderungen an staatliche Herrschaft nun auf Private übertragen würden, die damit in letzter Konsequenz etatisiert würden, geht es darum, aus Schichten einer überwirkenden, also über den staatlichen Bereich hinausreichenden Legitimationsverantwortung bestimmte Vorfeldsicherungen zu etablieren, die - vergleichbar der schutzrechtlichen Dimension der Grundrechte für den privaten Interessenausgleich - bestimmte Mindeststandards bei der Verflechtung staatlicher und privater Handlungsbeiträge sicherstellen, um durch legitimatorische Vor- und Nachwirkungen den Status der privaten Akteure ihrer Funktion innerhalb der Kooperationsverträge anzupassen und ihnen Bindungen aufzuerlegen, die eine mangelnde inhaltliche Entscheidungsbeherrschung des Staates kompensieren". Vgl. dens., Verzahnungen, 199ff., 208ff. 354 Vgl. Brennecke, Normsetzung, 297; Denninger, Normsetzung, Rn. 171 ff.; Holle, Normierungskonzepte, 201; ähnlich die „Strukturbeschaffungspflicht" bei Burgi, Privatisierung, 370ff. und das „gemeinwohlsichernde Recht" bei Schuppen, DV Beiheft 4 (2001), 241 ff.; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 116 ff. 355 „Angesichts der Risiken schleichender Entmachtung durch selbstregulative Kräfte im Wege der Generalklauselmethode ist der Rechtsstaat [...] nachhaltig zu einer steuernden Rezeption berufen. Da er seinerseits demokratisch verpflichtet ist, darf er sich nicht kollektiven Privatinteressen ausliefern und deren Normungswerke durch unbesehene Übernahme privilegieren. Von daher müssen private Normungsverbände im eigenen Interesse reflexhaft demokratisch-rechtsstaatliche Mindeststandards erfüllen [...] Nur wenn [...] diese Voraussetzungen gegeben sind, bestehen gegen die Konkretisierungsfunktion privater Normung keine Bedenken", Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 204f. (Hervorhebung nicht im Original). Zur Wechselwirkung von staatsgerichteten und gesellschaftsgerichteten Anforderungen ähnlich, allerdings etwas mißverständlich hinsichtlich der Adressierung bereits BVerfG, NJW 1993, 2599: „Private Regelungen können jedenfalls dann nicht Grundlage staatlicher Maßnahmen mit grundrechtsbeschränkender Wirkung sein, wenn sie den rechtsstaatlichen Anforderungen, die an staatliche Normen zu stellen sind, nicht entsprechen". Dem zustimmend allerdings wohl Holle, Normierungskonzepte, 202. 353
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Standards werden nicht unmittelbar von der Verfassung eingefordert, sondern dies geschieht nur über die „Schaltstelle'4 der staatlichen Funktionsträger 356. Diesen bleibt es aufgegeben, den Verlust an unmittelbarer Verfassungsbindung auszugleichen; hierzu müssen Defizite der gesellschaftlichen Aufgabenerfüllung herausgearbeitet und anhand dieser Ergebnisse neue staatliche Strukturierungs-, Organisationsund Überwachungspflichten entwickelt werden. I V . Kompensatorische Sicherungsmechanismen In einem nächsten Schritt gilt es nunmehr zu klären, welche Mechanismen hierzu erfolgversprechend sein können und auf welche Weise eine rechtliche Institutionalisierung herbeigeführt werden kann. 1. Gemeinwohlkompatibilität sichernde Bedingungen a) Etatisierung Der weitestgehende Sicherungsmechanismus ist die Eingliederung in die gemeinwohlverpflichtete staatliche Verwaltung. Mögliche Beispiele sind vor allem Beleihung und Überführung in öffentlich-rechtliche (funktionale) Selbstverwaltung. In der Folge wären die norm setzenden Gremien strikten rechts staatlichen und grundrechtlichen Bindungen unterworfen und unterlägen staatlicher Aufsicht. Hinsichtlich der demokratischen Legitimation ist die Situation entscheidungsoffener; hier können autonome Legitimationsmomente eingesetzt werden, um Einbußen an parlamentszentrierter demokratischer Legitimation auszugleichen, solange insgesamt ein ausreichendes Legitimationsniveau gewahrt bleibt. Eine solche Eingliederung sieht sich aber Kritik ausgesetzt, da sie als zu eng, zu formal, zu unbeweglich empfunden wird. Sie trägt der Differenzierung der staatlichen Verantwortung nach der mehr oder weniger autonomen, zum Teil grundrechtlich abgesicherten Stellung der Privaten nicht ausreichend Rechnung und kann nicht als für alle Regelungsbereich taugliches Modell angesehen werden 357. Die Anforderungen, die sie an die vormals private Normsetzung stellt, sind hierfür schlicht zu hoch, da sie für hoheit356
Diese weitergeleiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen dürfen nicht mit „reflexivem Recht" verwechselt werden. Reflexives Recht zielt darauf ab, Rahmenbedingungen in einer Weise zu verändern, die es ermöglicht, daß andere Teilsysteme der Gesellschaft Normziele im Eigeninteresse verwirklichen, vgl. hierzu Teubner, Recht als Autopoietisches System, 81 ff.; Teubner/Wilke, ZRSoz 5 (1984), 4ff. Es wurzelt in der Vorstellung, selbstreferentielle Steuerung initiieren zu müssen, um steuerungsresistenter Gesellschaftsbereiche Herr zu werden. Der hier vorgeschlagenen Konzeption geht es hingegen um die Transmission verfassungsrechtlicher Vorgaben, um in zulässiger Weise staatliche Aufgaben an Private zu delegieren bzw. auf private Handlungsbeiträge zuzugreifen; sie enthält für sich genommen noch keinen veränderten Steuerungsansatz. 357 Trute, Funktionen der Organisation, 290. 7*
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liches Handeln entwickelt wurden. Sofern man nicht eine besondere Regelungsintensität benötigt, ist beispielsweise eine Pflichtmitgliedschaft in einer in der Rechtsform der öffentlich-rechtlichen Körperschaft gestalteten Kammer nur schwer rechtfertigungsfähig. Statt dessen sind im Regelfall die Gemeinwohlsicherungen nach Maßgabe der Bindungsintensität auf das institutionelle Arrangement der Verantwortungsteilung zu erstrecken und Defizite innerhalb der Regelungsstruktur auszugleichen358. Die Etatisierung ist als besonders weitgehende Möglichkeit in Betracht zu ziehen; sie bleibt Ausnahme insoweit, als sie sich von der eigentlich intendierten Einbeziehung privaten Sachverstands als außerstaatlicher Ressource löst. b) Materielle Steuerung Ist es nicht möglich oder doch nicht erstrebenswert, private Gremien in die staatliche Verwaltung zu integrieren, könnte es angezeigt sein, materiell Einfluß auf die privaten Normierungsaktivitäten auszuüben. Mittel hierzu können einmal Zielvorgaben sein (aa); daneben ist auf die Möglichkeit einer steuernden Rezeption einzugehen (bb). aa) Zielvorgaben Daß die wesentlichen materiellen Entscheidungen nicht privaten Gremien überantwortet werden können, besagt bereits die Wesentlichkeitslehre 359. Hier ist das Parlament gefordert. Idealiter sind die materiellen Vorgaben so ausgefeilt, daß sich die Bedeutung der privaten Handlungsbeiträge auf eine bloße Normkonkretisierung beschränkt. Haupterscheinungsform ist die Regelung mittels Generalklauseln, bei der im Gesetz normative Standards definiert sind, deren Konkretisierung (auch) privaten Stellen offensteht. Häufig bleibt aber die hiermit vordergründig erzielte materielle Beherrschung illusorisch 360. Erinnert sei daran, daß gerade staatliche Steuerungsmängel eine Ursache für die Verlagerung in den Bereich der gesellschaftlichen Selbstregulierung sind. Weitgehende materielle Zielvorgaben minimierten den Entlastungseffekt; zudem müßten sie sich mit fehlender Einsicht in die Regelungsnotwendigkeit und sozial-normativen Bindungswirkungen auseinandersetzen. Inhaltliche Vorgaben müssen sich somit auf Grundsätzliches beschränken; sie müssen - bildlich gesprochen - die Richtung vorgeben, in die die Privaten allein 358
So Trute, DVB1 1996, 955; ders., Funktionen der Organisation, 290. Nichts anderes ergibt sich aus einer analogen Anwendung von Art. 801 GG; dieser stellt eine bereichsspezifische Konkretisierung der Wesentlichkeitslehre in der Verfassung selbst dar, Engel, StWStP 9 (1998), 566. 360 Das zeigen gerade die von Brugger, VerwArch 78 (1987), 43 exemplarisch angeführten Standards. Das Ziel, „Leben, Gesundheit und Sachgüter [...] zu schützen", ist z. B. so allgemein formuliert, daß sich daraus kaum konkrete Handlungsvorgaben entnehmen lassen. Vgl. zur Erforderlichkeit eines „Conceptual Framework" aus betriebswirtschaftlicher Sicht Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 344ff.; aus rechtlicher Sicht Berberich, DRSC, passim. 359
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weiterzumarschieren berechtigt sind, nicht jedoch den zu beschreitenden Weg. Eine pauschale Verpflichtung auf das Gemeinwohl genügt aber aufgrund der vagen Konsequenzen nicht. Wenigstens Fairneß und Willkürfreiheit sind als elementare Gerechtigkeitsanforderungen unverzichtbar 361. bb) Steuernde Rezeption Als zweiter materieller Ansatz könnte sich die staatliche Aufgabe darauf beschränken, im Zuge „steuernder Rezeption" die privaten Handlungsbeiträge auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Idealtypisch präsentierte sich diese als eine Art nachvollziehende Amtsermittlung 362, die staatliche Organe befähigte, Mängel der privaten Normsetzung aufzudecken und gegebenenfalls eigene Ersatzlösungen anzubieten („Auffangnetz" 363 bzw. „Zugriffsoption" 364 ). Voraussetzung eines derartigen Vorgehens wäre eine ständige Beobachtungspflicht (Monitoring) und eine zur Absicherung und Erhöhung der zeitnahen Kontrollfähigkeit erforderliche Installierung von Kommunikationsprozessen, die für sich gesehen schon einen hohen Verwaltungsaufwand bedeuteten. Abgesehen davon, daß gerade die spezifischen Handlungsrationalitäten, die Gremienentscheidungen zugrunde liegen, im Nachhinein kaum nachvollziehbar sind, verlangte die materielle Kontrolle deshalb darüber hinaus eine spezialisierte Fachbürokratie mit kompetentem internem Sachverstand. Entsprechende Kapazitäten sind aber nur in Ausnahmefällen vorhanden; die Ausbildung einer solchen Bürokratie wäre zeitaufwendig und kostenintensiv. Sie konterkarierte zudem das Ziel der Auslagerung: Eine effektive undflächendeckende Inhaltskontrolle liefe der selbst- bzw. deregulativen Grundidee privater Normsetzung zuwider, die gerade darauf abzielt, die staatliche Rechtsetzung von schwierigen Konkretisierungsaufgaben zu entlasten365. Auch eine nachträgliche materielle Kontrolle muß sich daher darauf beschränken, die Verwirklichung von Mindeststandards sicherzustellen.
361 Pitschas, Normsetzung, 249 bezeichnet - bezogen auf die ärztliche Normsetzung - als Grundvoraussetzung, daß keine methodischen und systematischen Mängel vorliegen dürfen und nennt beispielhaft eine unzureichende Evidenzbasierung und mangelhafte Orientierung an internationalen Qualitätsstandards. Letztlich handelt es sich aber hierbei eher um Verfahrensgrundsätze als um materielle Anforderungen. 362 Dazu Hoffmann-Riem, AöR 119 (1994), 609f.; J.-P: Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 178 f. 363 Hoffmann-Riem, AöR 119 (1994), 609; vgl. dens., Auffangordnungen, 276 f. 364 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 172ff., 229; ders., Regelwerke, 94; zustimmend Pitschas, Normsetzung, 249,253. Ähnlich Schmidt-Aßmann, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 44: „Einstandsverantwortung in den Fällen gesellschaftlicher ,Schlechterfüllung'". 365 Vgl. Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 109f.; Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 256; Trute, Funktionen der Organisation, 290 f.
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c) Prozeduralisierung und Organisation als Kompensationsfaktoren Angesichts der Schwierigkeiten, denen auf materieller Ebene ansetzende Steuerungsversuche begegnen, liegt es nahe, als Hilfskriterium auf die Art und Weise des Zustandekommens privater Normen abzustellen366. Nicht die Qualität des Norminhalts bildet den Gegenstand staatlicher Vorgaben, sondern die Qualität des Normsetzungsprozesses. Anstelle schwer faßlicher materieller Anforderungen sind im Rahmen einer institutionellen Vorfeldsicherung prozedurale und organisatorische Komponenten zu etablieren, die in ähnlicher Form geeignet erscheinen, private Entscheidungsträger auf die Verwirklichung von Gemeinwohlzielen auszurichten 367. Dabei ist sicherzustellen, daß die erzielte rechtliche Verbindlichkeit in einem angemessenen Verhältnis zu Organisation und Verfahren steht368. Letztere müssen so strukturiert werden, daß sie eine hinreichende Richtigkeitsgewähr bieten 369 . Anknüpfungspunkt für die Ermöglichung der hierzu erforderlichen umfassenden Interessenartikulation kann zum einen die organisatorische Sicherstellung von Repräsentanz sein (aa), zum anderen ist zu überlegen, ob den Privaten eine NeutralitätsVerpflichtung aufzuerlegen ist (bb) und welche Anforderungen an Transparenz und Publizität des Verfahrens zu stellen sind (cc). aa) Pluralistische Besetzung (Repräsentanz) Pluralismus bedeutet eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorstellungen und Lösungsvorschlägen und kann daher zu insgesamt verbesserten bzw. in verstärktem Maße gemeinwohlkompatiblen Verhandlungsergebnissen führen. Dabei ist zwischen zwei Pluralisierungformen zu differenzieren: Außenpluralismus bedeutet Nutzung mehrerer voneinander unabhängiger, gewissermaßen im Wettbewerb 366
So auch Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 205; ders., ZLR 1997, 256f.; ders., Regelwerke, 96. Ähnlich Schmidt-Aßmann, Verfahrensgedanke, 5, der Verfahrensregeln als „Aushilfe für (zunächst) inhaltlich nicht Formulierbares" nutzen will. Skeptischer ggü. der Bedeutung der „Organisationsrichtigkeit" Trute, Funktionen der Organisation, 258 f. Vgl. allgemein v.Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 183ff.; Luhmann, Legitimation, passim, v. a. 11 ff., 174 ff. 367 Pointiert ließe sich formulieren, die Einbeziehung Privater in staatliche Verfahren (Verfahrensprivatisierung) setze die staatliche Vorformung privater Handlungsbeiträge voraus (Verfahrens Verstaatlichung). 368 Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998,1232: „Je strikter die Wirkungen sind, die bei einer Verletzung solcher Regeln eintreten sollen, desto höher wird der rechtliche Aufwand, der schon bei der Normierung der Standards betrieben werden muß". 369 Die Grenzen zwischen Organisation und Verfahren sind nicht immer eindeutig zu ziehen. Vereinfacht läßt sich eine Unterscheidung in der Weise durchführen, daß sich organisatorische Vorgaben auf die Zusammensetzung eines Entscheidungsgremiums beziehen („wer"), Verfahrensvorgaben dagegen den Entscheidungsvorgang strukturieren („wie"). Vgl. T. Groß, Kollegialprinzip, 209f. Vgl. auch Gößwein, Normsetzung, 218 ff.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 206 ff.
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stehender Normsetzungsorganisationen. Der wichtigere Binnenpluralismus betrifft hingegen die interne Organisation; diese wird zum Gegenstand rechtlicher Vorgaben und damit als Instrument rechtlicher Steuerung installiert 370. Pluralistisch besetzt sind beispielsweise Gremien gemeinsamer Grundrechtssicherung im öffentlichen Recht, so unter anderem im Rahmen der Regelung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens371. Die Interessen der Betroffenen und ihre Ansichten sind hier „zumindest tendenziell vollständig" zu erfassen 372. Die Übertragung dieses Gedankens auf private Normsetzungsgremien kann dazu beitragen, einseitige Dominanz bestimmter Interessen zu verhindern, und damit Minderheitenschutz befördern 373. Soweit umfassende Repräsentanz der verschiedenen Interessengruppen nicht bereits aufgrund gesellschaftlichen Eigeninteresses eingerichtet wird, kann sie staatlicherseits „inszeniert" werden 374. Hierfür können entsprechende Beteiligungsquoten vorgesehen sein; die Mitwirkungs- bzw. Teilnahmerechte der verschiedenen Betroffenen sind zu garantieren (Gebot ausgewogener Repräsentation) 375. Interessenadäquate Repräsentation ist aber nicht auf organisatorische Ausgestaltung beschränkt, sondern muß sich in der konkreten Verfahrensform niederschlagen. Es muß geklärt werden, welche Interessen nicht nur artikuliert werden dürfen, sondern auch Berücksichtigung finden 376. Dafür sind binnendemokratische Grundsätze einzuhalten. Das Gebot ausgewogener Repräsentation beinhaltet ein Gebot gleichmäßiger Interessenberücksichtigung 3 7 7 .
370 Schmidt-Preuß, DÖV 2001, 45 ff. Vgl. zur „authentischen Repräsentation" in politisch relevanten Verbänden Teubner, Organisationsdemokratie, 169ff.; vgl. auch dort, 297ff. 371 Statt vieler ausführlich T. Groß, Kollegialprinzip, 63ff., 76ff. 372 BVerfGE 83, 130 (153); vgl. T. Groß, Kollegialprinzip, 251 f.; Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, 38. 373 Vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 232 unter Hinweis auf das Beispiel des DIN; Voelzkow, Private Regierungen, 235 ff. 374 Schuppert, DV Beiheft 4 (2001), 243f.; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 120f.; für das DIN Voelzkow, Private Regierungen, 242 ff.; zur Typisierung Hommelhoff!Schwab, FS Kruse, 701 ff. 375 Vgl. Böhm, Normmensch, 232 ff. („kontroverse Repräsentation"); Brennecke, Normsetzung, 149ff.; Denninger, Normsetzung, Rn. 179f., 190, der „Gegenmachtbildung", „Kontrastinformation" und „Minderheitenschutz" als im Sinne der Gemeinwohlausrichtung produktiv bezeichnet; Marburger, Rechtliche Bedeutung, 138ff.; Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 87 f.; Rönck, Technische Normen, 214ff.; Vieweg, Atomrecht, 33 ff. Vgl. auch die vom BVerfG entwickelten Kriterien Qualifikation, Funktion, Verantwortung und Betroffenheit, BVerfGE 35, 79 (131, 138). 376 T.Groß, Kollegialprinzip, 252ff.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 98 f. 377 Trute, Forschung, 318 f.; vgl. auch §59 UGB-KomE.
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bb) Distanz- und Neutralitätsschutz? Ob es dagegen erforderlich bzw. überhaupt möglich ist, Privaten Distanz- und Neutralitätspflichten aufzuerlegen 378, erscheint fraglich. Die Verlagerung in den privaten Sektor beruht vor allem auf der Erwartung, kreatives Potential der Privaten nutzbar zu machen. Das setzt aber voraus, daß diese eine Chance sehen, eigene Vorstellungen vertreten und gegebenenfalls auch durchsetzen zu können. Wo es an der neutralitätsichernden objektiven Stellung des hoheitlichen Amtes fehlt, ist Abhängigkeit nicht nur unvermeidlich, sondern eventuell sogar Zeichen von Stärke. Es kommt weniger darauf an, die Privaten auf eine ebenso neutrale Position zu verpflichten, wie sie dem Staat eignet - ohnehin wohl ein hoffnungsloses Unterfangen - als durch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorgaben ein gegenseitiges Sich-Aufheben der Interessenrepräsentanz zu ermöglichen 379. Gerade aus dem Widerstreit der Positionen können so originelle und problemorientierte Lösungen erwachsen 380. Hingegen ist es erforderlich, die Eigenständigkeit des Gremiums zu sichern, was insbesondere Anforderungen an die Finanzierung mit sich bringt. Sofern es nicht möglich ist, ausreichend Mittel durch dezentrale Kostenverteilung sowie durch Verwertung der Normsetzungstätigkeit zu erzielen 381, kann auch der Staat wieder in die Pflicht genommen werden. Finanzielle Abhängigkeiten müssen vermieden werden, um schon den bösen Schein „erkaufter" Normsetzung zu vermeiden. cc) Transparenz und Publizität Ein durchsichtiges Verfahren ermöglicht es, dem Vorwurf der Interesseneinseitigkeit oder „Kungelei" schon in einem frühen Stadium entgegenzutreten. Die Herstellung umfassender Transparenz und Publizität ist aus diesem Grunde nahezu unumgängliche Bedingung kooperativer Normsetzungsverfahren 382. Für das Kapital378
In diese Richtung aber wohl Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 233; vgl. dens., Auffangordnungen, 39; Trute, Funktionen der Organisation, 291 f. 379 Ebenso Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 700; Marburger, Regeln der Technik, 543; J.-P. Schneider, VerwArch 87 (1996), 47; Schwab, Politikberatung, 566 f., 570. Für eine „produktive Spannung" auch Ladeur, DV Beiheft 4 (2001), 74. 380 Diese Position nähert sich wieder der liberalen Vorstellung der Gemeinwohlfindung an; sie unterscheidet sich von dieser, als der Staat berufen bleibt, besondere Verfahrensvorgaben beizusteuern. 381 Zum „Postulat dezentraler Mittelaufbringung" Schmidt-Preuß, Regelwerke, 98, demzufolge damit zudem der „Normenflut" entgegengewirkt werde, da die Bereitschaft der privaten Institutionen, finanzielle Beiträge zu leisten, einen Anhaltspunkt dafür liefere, daß in der Praxis ein Bedürfnis nach einer bestimmten Normierung besteht. Die Verwertung darf aber nicht die Publizität der Normen einschränken. 382 So Schuppert, DV Beiheft 4 (2001), 244; SchuppertlBumke, Standardsetzung, 121; ähnlich P. Kirchhof, NJW 2001, 1333. Vgl. auch Trute, Kooperation, 22: „Kooperative Verwaltungsvorgänge tendieren zu einer Arkanpraxis, gerade weil die [...] Transparenzanforderungen
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marktrecht gilt dies sogar in verstärktem Maße, denn gerade hier ist die Bedeutung der Transparenz schon früh erkannt worden und sind entsprechende Informations-, Berichts- und Veröffentlichungspflichten installiert worden 383. Transparenz muß dabei sowohl hinsichtlich der interessierten Öffentlichkeit als auch gegenüber dem Staat gesichert sein. Gegenüber der Öffentlichkeit kann dies erfordern, Kooperationsvereinbarungen und sonstige Entscheidungsgrundlagen offenzulegen. Transparenz bedeutet hier aber auch Verständlichkeit. Sie widerstreitet dem „Verstecken" hinter Fachtermini und einem Dickicht aus kryptischen Formulierungen. Ebenso ist es notwendig, vorhandene Loyalitäten der Beteiligten und die Finanzierungsmodi des Gesamtgremiums bekanntzugeben, damit nicht unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit Interessenpolitik betrieben wird. In gewissen Grenzen kann Transparenz pluralistische Besetzung ersetzen. Daher sollten die Normentwürfe frühzeitig den interessierten Kreisen bekanntgegeben werden, um den Entstehungsvorgang breiter Diskussion zu unterwerfen und eine möglichst umfassende Konsensbildung zu gewährleisten 384. Die verschiedenen Phasen des Entscheidungsprozesses (insbesondere eingegangene Stellungnahmen und ihr Einfluß auf das Ergebnis) sind zu dokumentieren. Die Nachteile eines dergestalt transparenten Normsetzungsprozesses liegen in der fehlenden Intimität, derer möglicherweise ein Verfahren bedarf 385. Zuviel an Öffentlichkeitsbeteiligung kann zudem die Flexibilität soweit schmälern, daß zeitnahe Anpassungen erschwert oder gar verhindert werden. Dieses Forum darf daher nicht mißbraucht werden. Es ist darauf zu achten, daß nicht Einzelinteressen gegenüber dem Sachverstand sich durchsetzen oder doch Verzögerungen in einem Maße verursachen, daß die Vorteile des privaten Verfahrens verloren zu gehen drohen. Auch dem Schutz des Normsetzungsverfahrens ist Rechnung zu tragen. Eine allgemeine Öffentlichkeit von Gremiensitzungen ist daher aufgrund der damit bewirkten Beeinträchtigung der vertraulichen Arbeitsatmosphäre abzulehnen386. Dem Staat gegenüber sollten zusätzlich regelmäßige Kontakte, eventuell institutionalisierte Kommunikationsprozesse als eine Art Controlling für ein auf Offenheit auf den öffentlichen Sektor bezogen sind". Ebenso kritisch Hopt, Kapitalanlegerschutz, 161: „Selbstregulierung erfolgt fast nie unter den Augen der Öffentlichkeit wie auch das Ergebnis des Selbstregulierungsverfahrens nur ausnahmsweise bekanntgemacht wird". 383 Beispielhaft sei die Ad-hoc-Publizität genannt; hierzu nur Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 16.213 ff., 16.310ff. Allgemein zu Informationspflichten im Kapitalmarkt Hommelhoff, ZGR 2000, 760 ff. 384 Vgl. Schwab, Politikberatung, 586f., dem zuzugestehen ist, daß hier eine Abwägung mit der Gefahr vorschneller, unzureichend reflektierter Bekanntgabe erforderlich ist. 385 Zu Recht weist Schmidt-Aßmann, Gesundheitswesen, 60 auf den Aspekt der emotionalen Bedeutung hin. Demnach kann es aus Erwägungen der sachgerechten Regelung auch opportun erscheinen, die „impliziten Verteilungsentscheidungen" nicht vor das Forum einer kritisch-aufgeregten Öffentlichkeit zu ziehen, sondern der Entscheidung der (medizinischen) Sachverständigen zu überlassen. Auch diese Überlegung läßt sich indes auf das Kapitalmarktrecht, dem das unmittelbar gesundheits- und lebensberührende Moment fehlt und das folglich auch nicht in gleichem Maße persönlicher Betroffenheit und Emotionalität ausgesetzt ist, nicht analog übertragen. 386 Vgl. Böhm, Normmensch, 236 unter Verweis auf US-amerikanische Erfahrungen.
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und Information beruhendes Klima gegenseitigen Vertrauens sorgen. Damit wird dem Staat einerseits für den Fall funktionierender Selbstregulierung dokumentiert, daß sein Einschreiten nicht erforderlich ist. Andererseits wird es für den Fall des Versagens der Selbstregulierungseinrichtungen einfacher, staatliche Regeln aufzustellen387. Durch die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation sind hier deutliche Erleichterungen zu erwarten. d) Aushandlung in privatautonomen Modellen Eine weitere Möglichkeit der Sicherstellung hinreichender Gemeinwohlkompatibilität löst sich von der organisatorischen bzw. verfahrensrechtlichen Strukturierung und setzt statt dessen auf die - grundrechtlich gewährleistete - Privatautonomie. Dort, wo der Staat nur den rechtlichen Rahmen bereithält, innerhalb dessen sich private Rechtssubjekte privatinitiativ zu aktivierender Sanktionsmechanismen bedienen können, wird der Egoismus der Akteure anerkannt und vorausgesetzt. Hier liegt tatsächlich eine „kollektive Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz" 388 vor. Die Privatautonomie bietet die Arena, innerhalb derer in den Grenzen der vorgegebenen rechtlichen Rahmenordnung versucht werden kann, nach dem eigenen Vorteil zu streben. Der Einzelne ist hier vor allem dadurch geschützt, daß Rechtswirkungen eine persönliche, in der Regel einzelfallbezogene Unterwerfungserklärung voraussetzen389. Zusätzlicher Schutz folgt aus Anforderungen an diese Erklärung 390. Eine stärkere Nutzung der prozeduralen Elemente der Privatrechtsordnung ermöglicht es dem Staat, sich auf eine materielle Billigkeitskontrolle zurückzuziehen, soweit das vorgeschriebene Verfahren eingehalten wurde. „Gerechtigkeit" wird nicht verlangt, solange nicht die Unterlegenheit der einen Seite so deutlich zutage tritt, daß ein echtes Aushandeln nicht mehr gewährleistet ist. Den Staat trifft nur eine Einstandspflicht, mittels der Vorschriften des (Sonder-)Privatrechts Machtungleichgewichte auf ein erträgliches Maß zurückzufahren 391. Ähnliches wie für das Vertrags- gilt für das Vereinsrecht: Auch hier ist es die freiwillige Unterwerfung, die - geleitet von der Vorstellung, durch die Mitgliedschaft Vorteile zu erlangen - legitimatorische Wirkung für die Vereinsmaßnahmen entfaltet. Als Korrektiv wirkt vor allem die Möglichkeit, sich 387 Vgl. zur Bedeutung von Kommunikationsprozessen nur Schmidt-Aßmann/Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, 530f. 388 So definiert Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 162f.; ders., Regelwerke, 91 gesellschaftliche Selbstregulierung. Vgl. Faber, Selbstregulierungssysteme, 9, die die Privatautonomie als Ganzes der gesellschaftlichen Selbstregulierung unterstellt. 389 Trute, Verzahnungen, 216: „Der Vertrag als konsensuale Regelung setzt aus sich heraus Schutzfunktionen des Verfahrens um". 390 Zur Abschlußkontrolle ausführlich Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, v. a. 88 ff., 213ff. Zum besonderen Schutz Minderjähriger auch BVerfGE 72, 155 (170ff.). 391 Vgl. hierzu z.B. v.Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 89ff., 93f.; Spieß, DVB1 1994,1225 ff.; zur Rahmenverantwortung auch Trute, Verzahnungen, v.a. 198 f.; 204 ff.; 216ff.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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durch Austritt der Vereinsgewalt zu entziehen. Einen Sonderfall stellt das Institut der Tarifautonomie dar. Hier ist nicht nur das Auseinanderfallen von Verhandelnden, nämlich den Gewerkschaften auf der einen und den Arbeitgeberverbänden auf der anderen Seite, und Normadressaten, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zu beachten. Zusätzliche Brisanz erhält die Situation dadurch, daß das Verhandlungsergebnis mittels staatlichen Geltungsbefehls zu objektivem Recht erklärt wird und somit auch jene bindet, die sich nicht freiwillig unterworfen haben392. Hier sind daher besondere demokratische, rechtsstaatliche und grundrechtliche Anforderungen zu beachten393. Deutlich wird aber auch, daß die personelle Selbstbezogenheit privatautonomen Regelungen Grenzen setzt. Komplexere Regelungsstrukturen erschweren eine Rückführung auf individuelle Interessen; multipolare Handlungszusammenhänge machen eine neutrale und gemeinwohlkompatible Zuordnung (auch) durch öffentlich-rechtliche Steuerungsinstrumente erforderlich 394. e) Ergebnis Betrachtet man die vorstehenden Anforderungen resümierend, fällt auf, daß letztlich eine doppelte Kompensation gegeben ist: Zum einen wird die staatliche Erfüllungsverantwortung mit der unmittelbaren Gemeinwohlbindung durch die vorwirkende Legitimationsanforderung und die Steuerung der privaten Kooperationspartner ersetzt. Zum anderen ist aufgrund der Schwierigkeiten materieller Steuerung eine Kompensation durch Organisations- und Verfahrensvorschriften erforderlich. Entsprechend strikt müssen daher auch diese Vorschriften ausgestaltet sein 395 . Die normativen Standards bleiben zu prüfen 396. Schließlich gilt, daß dort, wo die Gemeinwohlkompatibilität unsicher bleibt, es bei der (kostenintensiven) Entscheidungsbeherrschung durch staatliche Stellen bleiben muß. 2. Grenzen der Partizipation Eine weitgehende pluralistische Besetzung von Entscheidungsgremien erschwert nicht nur klare Regelungen und Verantwortungszurechnungen 397, sondern gefährdet 392 Nach der Rspr. des BVerfG handelt es sich bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung „im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um einen Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 III GG findet", BVerfGE 44, 322 (340); ausführlich F. Kirchhof\ Private Rechtsetzung, 208ff.; vgl. auch Galperin, FS Molitor, 143 ff.; Sachs, VerwArch 74 (1983), 32 ff. 393 Vgl. statt vieler Bellings ZfA 30 (1999), 547 ff.; Lerche, FS Steindorff, 897 ff. 394 Trute, Verzahnungen, 174. 395 Vgl. Trute, DVB1 1996, 962. 396 Trute, DVB1 1996, 964. 397 Di Fabio, JZ 1997, 972; dersNormung und Selbstüberwachung, 116ff.; Trute, Funktionen der Organisation, 291 f.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
zudem die Arbeitsfähigkeit der Gremien. Proportional zu dem Maße, in dem die Teilnahme von Interessenvertretern im Normsetzungsprozeß vervollständigt wird, steigt die Heterogenität der einfließenden Interessen und sinkt die Wahrscheinlichkeit, rasch konsensuale Lösungen zu finden. Der Versuch umfassender Betroffenenbeteiligung droht die Flexibilität des Verfahrens einzuschränken und kann sogar zu qualitativen Einbußen führen. Dies macht es erforderlich, ein gesundes Maß aus Repräsentanz und Handhabbarkeit zu finden. Nicht alle Betroffenen müssen unmittelbar am Entscheidungsvorgang partizipieren; vielmehr sind zunächst Interessengruppen zu bilden 398 . Dabei bestehen oft erhebliche Unterschiede in den Beteiligungsmöglichkeiten. Partizipationsdefizite beruhen vor allem auf mangelnden personellen und finanziellen Ressourcen. Beispielhaft können die von Voelzkow aufgeführten Probleme genannt werden 399: Mangelnde Information über Institution und Verfahren der Normung sowie über das laufende Normungsverfahren, begrenzte technische Kompetenz, finanzielle Restriktionen bei der Entsendung von Vertretern in die Normungsgremien, mangelnde Verfügbarkeit von Sachmitteln sowie mangelnde Integration in die informellen Netzwerke der professionellen Fachgemeinschaften. Die staatliche Sicherstellung der Voraussetzungen für eine gemeinwohlkompatible private Normsetzung darf sich deshalb nicht auf Partizipationsregeln beschränken. Diese allein können nicht verhindern, daß sich im Normsetzungsprozeß die vorfindlichen unterschiedlichen Organisations- und Konfliktfähigkeiten reproduzieren und in Ungleichgewichtung resultieren. Die staatliche Seite ist aufgerufen, bereits im Vorfeld der privaten Regelsetzung jene Organisationen zu stärken, die Aspekte des Gemeinwohls repräsentieren und in den Normsetzungsprozeß einbringen sollen. Erforderlich ist es, institutionalisierte Mitwirkungschancen dergestalt einzuräumen, daß die Partizipation der Gemeinwohlvertreter nicht bloßes Rechtfertigungsmittel bereits getroffener und von ihnen letztlich nicht beeinflußbarer Entscheidungen ist, sondern echte Mitgestaltung ermöglicht. Dabei sind gegebenenfalls prozedurale und materielle Fördermaßnahmen zulässig, insbesondere apparative und personelle Unterstützung 400. Denkbar ist auch die Strukturierung von Entscheidungsprozessen durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten oder Vetorechte. Nur in Ausnahmefällen sollten hingegen staatliche Vertreter in die Gremien entsandt werden 401. So398 Vgl. z.B. Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 309; HommelhofflSchwab, FS Kruse, 700ff., 708. 399 Voelzkow, Private Regierungen, 181, 209ff., 230ff. Vgl. Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 117; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 81; Lübbe-Wolff, Konfliktmittlung, 103 ff.; Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 27; Schwab, Politikberatung, 446f.; 571 ff.; Trute, Verzahnungen, 210ff. Brennecke, Normsetzung, 298 fragt nach dem grundsätzlichen Widerspruch, der darin liege, sowohl Sachverstand als auch Interessen in den Gremien versammeln zu wollen. 400 Holle, Normierungskonzepte, 204. Ähnlich, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang v.Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 151 ff. 401 So aber Schmidt-Preuß, Regelwerke, 94. Es ist anerkannt, daß es für die demokratische Legitimation der Entscheidungen pluralistisch besetzter Gremien ausreicht, wenn das Verfahren selbst demokratischen Grundsätzen folgt und die Mehrzahl der stimmberechtigten Mitglie-
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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lange diese nicht die Gremienmehrheit bilden, ändert ihre Mitwirkung zwar ebensowenig den Charakter der der gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnenden Gremien wie die Einbeziehung privater Sachverständiger in Verwaltungsverfahren deren öffentlich-rechtlichen Charakter in Frage stellt. Doch droht ein Vertrauens- bzw. Akzeptanzverlust auf Seiten der Normadressaten 402. Im Sinne einer Konkordanz von Arbeitsfähigkeit und Pluralismus kann es außerdem sinnvoll sein, zusätzliche, zwischengeschaltete Gremien einzurichten, die der Sammlung von Interessen und Bedenken dienen, ohne in Form von Vorschlägen oder Stimmrechten auf den unmittelbaren Normsetzungsprozeß Einfluß zu nehmen403. Das Gremium hat diese Bedenken zu beachten, ohne verpflichtet zu sein, sie als entscheidungsrelevant zu berücksichtigen. Abweichungen müssen jedoch begründet werden, um die Akzeptanz unter den Normadressaten zu sichern, aber auch, um eine spätere administrative oder gerichtliche Prüfung zu erleichtern. 3. Umsetzung der Bedingungen Die Aufgabe der Formulierung und Einforderung der eben dargestellten Organisations- und Verfahrensbedingungen läßt sich nicht problemlos in die verwaltungsrechtliche Rechts- bzw. Handlungsformenlehre eingliedern. Denn die erforderlichen staatlichen Handlungsbeiträge beschränken sich nicht auf administratives, sondern umfassen auch und zu wesentlichen Teilen legislatives Handeln404. Der Staat ist in der Wahl der Handlungsformen nicht frei; sie hat unter Beachtung verfassungsrechtlicher, aber auch einfachgesetzlicher Vorgaben zu erfolgen. Die bloße Anregung einer Selbstverpflichtung ohne weitergehende Auferlegung von Pflichten kann, auch der personell demokratisch legitimiert ist, vgl. BVerfGE 93, 37 (72); Clemens, FS Böckenförde, 275 f.; aber auch Hecker, VerwArch 92 (2001), 274ff.; Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 258. In halbstaatlichen, sowohl mit Amtswaltern als auch mit privaten Sachverständigen besetzten Gremien kommt es darauf an, daß sowohl die Mehrzahl der stimmberechtigten Mitglieder demokratisch legitimiert sein muß als auch die konkrete Entscheidung von der Mehrheit der demokratisch legitimierten Mitglieder getragen werden muß („Prinzip der doppelten Mehrheit"), Böckenförde, HStR I, §22 Rn. 19; BVerfGE 93,37 (72ff.). In privaten Gremien kann eine kompensatorische Ausrichtung auf das Allgemeinwohl dadurch erreicht werden, daß Vertreter öffentlicher Interessen (also solcher Vertreter, die weder der Wirtschaft noch der beteiligten Wissenschaft zuzurechnen sind, beispielsweise Verbraucherschutz-, Arbeitnehmer- und Umweltschutzverbände sowie die Vertreter der öffentlichen Hand; für das Kapitalmarktrecht v. a. die Anlegerverbände) in den Normsetzungsprozeß eingebunden werden. 402 Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 108. 403 Vgl. Voelzkow, Private Regierungen, 183: „Durch solche zusätzlichen Maßnahmen ist zu gewährleisten, daß die Bringschuld der interessierten Kreise in eine Holpflicht der Normungsgremien umgewandelt wird". Zum Konsensprinzip dort, 209 ff. Diese Gremien können dabei auch bereichsspezifisch ausgerichtet sein, vgl. den Verbraucherrat beim DIN, Voelzkow, Private Regierungen, 242 ff. mit weiteren Beispielen sowie insbesondere zum Konsultationsrat des DSR das zweite Kapitel C.IV. Ähnlich Stürner, Pressefreiheit, 109, der eine Beteiligung von „Beisitzern ohne Stimmrecht" aus dem Kreis der Mediennutzer für den Presserat vorschlägt. 404 \yie hier Faber, Selbstregulierungssysteme, 60 ff.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
als Drohung mit alternativ möglicher staatlicher Regulierung, im Rahmen informalen Verwaltungshandelns erfolgen 405. Derartige Induzierung läßt sich als Annexkompetenz zur Gesetzgebung auffassen, sie wird aber ausgeübt durch die Exekutive der zur Gesetzgebung zuständigen Körperschaft 406. Wo jedoch aufgrund der Bedeutung der privaten Handlungsbeiträge aus dem Blickwinkel der Legitimationsverantwortung heraus materielle, vor allem aber formelle Anforderungen an Private gestellt werden, um Defizite der Gemeinwohlausrichtung zu kompensieren, ist eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Die Legitimationsverantwortung ist nur die Bedingung, unter der eine dergestalte Auslagerung überhaupt zulässig sein kann. Sie stellt dagegen keinen unmittelbaren Eingriffstitel für die Auferlegung von Gemeinwohlbindungen dar. Daher setzt der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt gesetzlich nicht gesteuerter Kooperation Grenzen. Daneben ist gleichermaßen der institutionelle Gesetzesvorbehalt zu beachten. Wenn die Ausgliederung autonomer Verwaltungseinheiten aus der Verwaltungshierarchie anerkanntermaßen einer gesetzlichen Grundlage bedarf 407, muß dies erst recht bei der vergleichbaren Aufgabenverlagerung auf Private gelten, sofern der Staat sich hierdurch der hinreichenden Ereignisbeherrschung begibt 408 . Das Gesetz als zentrales Steuerungsmittel ist insbesondere für die Transparenz der Regelungsstruktur nicht ersetzbar. „Befürchtungen hinsichtlich einer Überforderung des Gesetzgebers kann im Rahmen der Wesentlichkeitslehre durch eine aufgabenadäquate Entfaltung als Funktionenordnung entgegengewirkt werden" 409 . Die Entscheidung für eine gesetzliche Grundlage präjudiziell nicht, daß auch die konkrete Ausgestaltung der privaten Handlungsbeiträge nur durch Gesetz erfolgen kann. Umgekehrt dispensiert die Existenz einer gesetzlichen Grundlage nicht von der Frage nach dem Gesetzesvorbehalt. Im Einzelfall ist anhand der einschlägigen Regelungsmaterie zu klären, ob diese dem Gesetzesvorbehalt unterfällt oder auch auf untergesetzlicher Ebene umgesetzt werden kann 410 .
405 Dazu grundlegend Bohne, Der informale Rechtsstaat; vgl. aber bereits G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 232. Aus jüngerer Zeit z. B. Erichsen, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 457 ff.; vgl. Schulze-Fielitz, DVB1 1994, 657ff. 406 Vgl. Brohm, DÖV 1992, 1029; Oebbecke, DVB1 1986, 795; wohl auch Schmidt-?reuß, VVDStRL 56 (1997), 218. Zweifelnd Di Fabio, JZ 1997, 972: „Rechtlich ist eine solche Ansicht vertretbar, aber nicht zwingend". 407 Vgl. nur Emde, Selbstverwaltung, 69ff.; Kluth, Selbstverwaltung, 245ff.; Krebs, HStR III, § 69 Rn. 58 ff., jeweils m. w. N. 408 v g l T r u t e ? DVBi 1996, 957; zustimmend Holle, Normierungskonzepte, 198. Ähnlich muß nach Engel, FS Mestmäcker, 135 die Entscheidung für reflexives Recht durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden, da sie die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft verwischt. Eine solche Grenzverwischung läßt sich allerdings für jede Form staatlich-privater Kooperation attestieren, ohne daß jedesmal der Gesetzesvorbehalt bemüht werden müßte. Entscheidend ist das Ausmaß der Kooperation. Wenn die Adressaten des reflexiven Rechts in die politische Verantwortung miteinbezogen werden, ist die Entscheidung für einen derartigen Steuerungsmechanismus aus Sicht des Demokratieprinzips wesentlich. 409 Trute, DVB1 1996, 957 m.w.N. 410 Ygi Faber, Selbstregulierungssysteme, 272.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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4. Kontrolle, Revisibilität und Justitiabilität Rechtsstaatlichkeit verlangt die Überprüfbarkeit staatlicher Entscheidungen411. Soweit Kontrollvorgänge dazu bestimmt sind, effizienz- und effektivitätsichernd zu wirken 412 , insbesondere aber unrichtige oder unrechtmäßige Entscheidungen zu verhindern oder rückgängig zu machen, beschränkt sich ihre Bedeutung nicht auf den staatlichen Sektor. Kontrolle - verstanden als ein Gegen-Denken413 bzw. Nach-Denken - verdient auch hinsichtlich der von privaten Gremien gesetzten Normen Beachtung. Kontrolle folgt jedoch aus Verantwortung 414. Wo Private frei walten, ohne daß sich hieraus rechtliche Bindungen ergäben, ist dies Ausdruck grundrechtlicher Freiheit sowohl der Normsetzer als auch der Normbefolger. Nur dort, wo staatliche Beteiligung eine (Mit-)Verantwortung des Staates für das Normungsergebnis begründet, ist Raum für staatliche Kontrolle 415 . Zeitlich und kompetentiell ist zu unterscheiden zwischen der soeben beschriebenen, ex ante ansetzenden präventiven Kontrolle durch Organisations- und Verfahrensvorgaben sowie zwischen der im EntscheidungsVorgang ablaufenden Eigenkontrolle der Privaten (a), der unmittelbar an die staatliche Inbezugnahme anknüpfenden parlamentarischen bzw. behördlichen Kontrolle (b) und der eventuellen ex post erfolgenden gerichtlichen Überprüfung (c). a) Eigen-und Selbstkontrolle Obwohl Distanz eine Eigenart der Kontrolle darstellt 416, hindert die Identität zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem die Möglichkeit von Kontrolle nicht. Die Entscheidenden können die Entscheidungsalternativen bzw. bereits getroffenen Entscheidungen selbst einem Soll-Ist-Vergleich unterziehen, also kontrollieren 417. 411
Grundlegend Krebs, Kontrolle; vgl. Meyn, Kontrolle; Pitschas, Verwaltungsverantwortung, 391 ff.; Scheuner, FS Gebhard Müller, 379ff. sowie aktuell die Beiträge in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle. 412 Zur Funktion der Kontrolle als Mittel zur Rationalisierung des Entscheidungsprozesses und der Entscheidung selbst Krebs, Kontrolle, v.a. 36f., 134ff.; Strößenreuther, Behördeninterne Kontrolle, 34 f. Zur Bedeutung von Kontrolle i. R. d. Demokratieprinzips Meyn, Kontrolle, v.a. 104 f.; 116f.; 198 ff. 413 Vgl. Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle, 343. 414 Vgl. Pitschas, Verwaltungsverantwortung, 395. 415 Ähnlich Gröschner, Überwachungsrechtsverhältnis, 52: „Aufsicht ist Selbstverwaltungskorrelat, Überwachung ist Freiheitskorrelat' 4. Zustimmend Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 29: „Wirtschaftsaufsicht im Sinne von Überwachung und Staatsaufsicht im Sinne von Verwaltungskontrolle sind getrennt zu halten". Ebenso Kahl, Staatsaufsicht, 384 ff.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht AT, §2912; anders aber z.B. Mösbauer, Staatsaufsicht über die Wirtschaft, passim. Mißverständlich R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht AT, 338 f., vgl. aber dort, 407. 4.6 Scheuner, FS Gebhard Müller, 392; Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 10f. 4.7 Strößenreuther, Behördeninterne Kontrolle, 71. Im Sinne einer spezielleren Unterscheidung könnte es sich als sinnvoll erweisen, unter Selbstkontrolle diejenige Kontrolle zu verste-
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
Bereits die Verfahrensausgestaltung sollte Vorkehrungen dergestalt enthalten, daß sich die Privaten gegenseitig zur Einhaltung der vorgegebenen Standards anhalten. Hierin liegt eine weitere, bislang unerwähnte Aufgabe der pluralistischen Besetzung: Sie erleichtert die gremieninterne Kontrolle. Diese Eigenkontrolle übersteigt notwendigerweise den Umfang jeder Fremdkontrolle. Denn will man nicht den Sinn arbeitsteiligen Vorgehens ad absurdum führen, kann vom Fremdkontrolleur nicht eine Rekapitulation des gesamten Informationsverarbeitungsprozesses, sondern nur eine selektive Prüfung verlangt werden 418. Darüber hinaus kann es angezeigt sein, daß die Normsetzungsorganisationen eigene Revisionsinstanzen einrichten. Die Revisibilität ihrer Ergebnisse ist als ein entscheidendes Moment der Zulässigkeit privater Normsetzungsverfahren erkannt worden 419 . Grundsätzlich gilt: Nemo iudex in causa sua. Damit werden jedoch solche speziell installierten Selbstkontrollen nicht ausgeschlossen, die in Qualität und Anforderungen staatlichen (Fremd-)Kontrollen vergleichbar sind. Vor allem ist sicherzustellen, daß die Mitglieder der Spruchgremien nicht bereits in das Normsetzungsverfahren involviert waren. Ansonsten gelten für die Besetzung ähnliche Kriterien wie für die Normsetzungsgremien selbst. Teilweise stellt bereits die rechtliche Rahmenordnung entsprechende Verfahren zur Verfügung, so im Vereinsrecht und im Rahmen der funktionalen Selbstverwaltung. Aber auch dort, wo dies die Rechtsordnung unmittelbar nicht verlangt, ist es aus Gründen der vorwirkenden Gemeinwohlverantwortung angezeigt, Einwendungsmöglichkeiten und Schiedsverfahren einzurichten, um die Richtigkeitsgewähr des Normsetzungsverfahrens zu erhöhen und (spätere, durch die privaten nicht präkludierte) staatliche Kontrollmaßnahmen zu erleichtern 420. Die private Selbstkontrolle kann insoweit für sich dieselben Vorteile in Anspruch nehmen wie die Normsetzung selbst (insbesondere Staatsentlastung, Akzeptanz, Sachverstand), kämpft aber gleichzeitig mit denselben legitimatorischen, rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Defiziten.
hen, die zwar von demselben Organ und damit nicht von einer unabhängigen Instanz, nicht jedoch vom Entscheidenden selbst durchgeführt wird (z.B. Selbstkontrolle der Verwaltung im Gegensatz zur Eigenkontrolle durch den Sachbearbeiter einer- und zur Fremdkontrolle durch eine externe Kontrollinstanz, z.B. Gerichte, andererseits). 418 Vgl. Strößenreuther, Behördeninterne Kontrolle, 71 f., 96: „regelmäßig Stichprobenkontrolle". Dennoch beinhaltet die Fremdkontrolle ein „Mehr" an Eingriff. Grundsätzlich ist daher der Eigen- gegenüber der Fremdkontrolle der Vorzug zu geben, sofern nicht spezifische Vorteile gerade für eine Kontrolle „von außen" sprechen. Solche Vorteile können gesehen werden im Geltendmachen von Verantwortlichkeit, in der Präventiv-, Entlastungs- und Führungsfunktion, dort, 76f., 87 f., 90f. 419 Schmidt-Preuß, Regelwerke, 96; ders., ZLR 1997, 257; ders. VVDStRL 56 (1997), 203 ff. Vgl. auch Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 75 m. w. N. zur Erforderlichkeit einer komplementären verwaltungsinternen Kontrolle von Prüfungsentscheidungen. 420 HommelhofflSchwab, FS Kruse, 708 befürworten einen Anspruch auf individuellen Bescheid für jeden, der eine Einwendung vorgebracht hat.
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
b) Parlamentarische
bzw. administrative
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Kontrolle
Speziell dort, wo Kooperation und Delegation zu einer gestuften staatlichen Verantwortung führen, ist eine Verdichtung des Kontrollgefüges angebracht. Der Verlust an unmittelbarer Erfüllungsverantwortung muß durch Überwachungsverantwortung kompensiert werden. Die Inbezugnahme privater Normen, sei es in Form der Verweisung, sei es in Form der Generalklausel, setzt daher eine Prüfung der von den Privaten formulierten Standards voraus, bevor diese zu Recht erklärt werden können. Denkbare Erscheinungsformen sind Beratungs-, Überwachungs- oder Einspruchsrechte 421. Sofern den Privaten eine rechtliche Rahmenordnung zur Verfügung gestellt wird, innerhalb derer sie selbst zur eigenmächtigen Rechtsetzung befähigt sind, muß ebenfalls ein objektiver Kontrollmechanismus Gewähr dafür bieten, daß sich die Vereinbarungen und Normen im Rahmen des Vorgegebenen halten. Regelmäßig leistet dies die gerichtliche Kontrolle, da Gesetze den rechtlichen Rahmen abstecken. Unter Umständen kann jedoch eine staatliche Aufsicht durch exekutive Stellen erforderlich sein, um Demokratiedefizite auszugleichen (so für die funktionale Selbstverwaltung). c) Gerichtskontrolle Der verfassungsrechtlich garantierte (Art. 19IV 1 GG) Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz erfaßt jede Form von Verwaltungstätigkeit, die rechtsförmliche ebenso wie die schlicht-hoheitliche. Während die parlamentarische Gesetzgebung von der unmittelbaren Überprüfung ausgenommen ist, wird auch die exekutive Rechtsnormsetzung durch die Gerichte kontrolliert 422 . Gewährleistet wird dieser Rechtsschutz vor allem durch die Verwaltungsgerichte mit ihrem auf öffentlichrechtliche Streitigkeiten beschränkten Auftrag. „Das Kontrollkonzept ist also auf die Hoheitsverwaltung zugeschnitten"423. Dennoch fragt sich, inwieweit auch Normen gerichtlich überprüft werden können, die nicht von staatlichen Stellen, sondern von kooperativen oder rein privaten Gremien gesetzt werden. Unproblematisch sind solche Normen, die von Gremien der funktionalen Selbstverwaltung erlassen werden. Hier liegt durch die Einbindung in die staatliche Verwaltung eine unmittelbare Grundrechtsbindung vor, und auch die Rechtsschutzgarantie findet uneingeschränkt Anwendung. Funktionale Selbstverwaltung ist öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19IV GG. Auf der anderen Seite unterfallen die rein privaten Normen nicht dem Anwendungsbereich des Art. 19IV GG; hier fehlt es bereits an einer dem Staat zu421
Vgl. die Systematisierung bei Löer, Kontrolle, 35 ff. Ersteres ist allerdings nach wie vor strittig, vgl. bspw. BVerfGE 24, 33 (49ff.); 75, 108 (165) einer- und P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn.439ff. m. w.N. andererseits. Abwägend Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn. 93 ff. bzw. 70 ff. Zur Anwendung auf die Judikative Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter. 423 Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 22; vgl. Pietzcker, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 89 ff. 422
8 Augsberg
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
rechenbaren Maßnahme. Privatrechtssubjekte sind - ungeachtet unter Umständen bestehender erheblicher gesellschaftlicher Machtfülle - keine Träger öffentlicher Gewalt 4 2 4 . Streitigkeiten zwischen Privaten erfaßt Art. 1 9 I V GG daher nicht 4 2 5 . Für die zwischen diesen beiden Polen liegenden Normen ist nach dem Grad ihrer rechtlichen Verbindlichkeit und nach dem Maß der Beteiligung staatlicher Stellen zu differenzieren: Je mehr die Normen der Rechtsverbindlichkeit angenähert werden und je stärker der staatliche Einfluß auf ihren Inhalt bzw. ihre Anwendung ist, desto eher läßt sich eine gerichtliche Überprüfung rechtfertigen bzw. ist eine solche sogar erforderlich 4 2 6 . Sofern als Rechtsgrundlage einer entsprechenden Pflicht aufgrund des kooperativen Charakters ein Rückgriff auf Art. 1 9 I V GG abgelehnt wird, steht mit der allgemeinen Justizgewährungspflicht doch ein taugliches Rechtsinstitut zur Verfügung, das für Gerichtskontrolle streitet 427 .
d) Reduzierte Kontrolldichte Ebenso wie die Normerarbeitung steht die Kontrolle vor dem Problem fehlenden Sachverstands 428 . Normen, zu deren Formulierung aus bereichsspezifisch ausgebildeten und praxiserfahrenen Experten zusammengesetzte Foren benötigt wurden, lassen Streitigkeiten entstehen, deren sachgemäße Schlichtung wiederum besondere Kenntnisse voraussetzt. Das Postulat einer vollen inhaltlichen Überprüfbarkeit 429 424
Vgl. nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn. 55. Verfehlt daher die Formulierung von Holle, Normierungskonzepte, 204, der konstatiert, daß private Regeln „ungeachtet ihrer fehlenden Rechtsnormqualität" aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19IV GG gerichtlich überprüfbar sein müßten. Im folgenden kommt Holle jedoch zu einem der hier vertretenen Auffassung im wesentlichen gleich zu achtenden Ergebnis. 425 Auch in diesem Fall ist jedoch die Gewährung von Rechtsschutz durch die ordentlichen Gerichten verfassungsrechtlich indiziert. Grundlage dieses Rechtsschutzanspruchs ist jedoch nicht mehr Art. 19IV GG, sondern die allgemeine Justizgewährungspflicht, vgl. P.M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 429. 426 Dies gilt z. B. dort, wo private Regeln das tragende Element der in Art. 19IV GG fundierten staatlichen Begründungspflicht bilden und sich eine vollständige gerichtliche Überprüfung der staatlichen Maßnahme damit auch auf die privaten Normen erstrecken muß, vgl. Böhm, Normmensch, 237 f.; Holle, Normierungskonzepte, 204 f. Hier kann auch nicht mehr eine bloße „technische Hilfsfunktion" angenommen werden, die noch keine öffentliche Gewalt darstellt, Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn.56. 427 Zur allgemeinen Justizgewährungspflicht als notwendige Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols, der bürgerlichen Friedenspflicht und des Selbsthilfeverbots P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 363 ff., 429; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn. 16; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 19IV Rn. 26, jeweils m. w. N. 428 v g l Pitschas, Verwaltungsverantwortung, 381 ff.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 18, demzufolge dem umfassenden Kontrollauftrag ein Mangel an Kontrollwissen kontrastiert. Das gilt erst recht dort, wo nicht Entscheidungen anderer Verwaltungsträger, sondern Privater Gegenstand der Kontrolle sind. 429
In diese Richtung (hinsichtlich exekutiver Normsetzung) wohl Denninger, Normsetzung, Rn. 204, der allerdings die Möglichkeit einer Ersetzung durch „gemeinwohlrichtiges" Techno-
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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sieht sich damit dem Vorwurf ausgesetzt, den angestrebten Entlastungseffekt zu minimieren, da die im Rahmen der Normsetzung eingesparten Ressourcen für die Kontrolle aufgewendet werden müßten430. Es kann außerdem mit guten Gründen bezweifelt werden, daß eine entsprechende Prüfung überhaupt erfolgversprechend sein kann 431 . Pluralistisch zusammengesetzten Gremien eignen besondere, im nachhinein nur schwer nachvollziehbare Handlungsrationalitäten. Vielfach wird man zudem fragen müssen, ob Kontrollmaßstab hier noch das Recht wäre oder ob nicht bereits eine Zweckmäßigkeits- bzw. Opportunitätskontrolle vorläge 432. Auch der mit Sicherheit zu erwartende Konflikt mit dem vom Grundgesetz und Art. 6 EMRK erfaßten Grundsatz, nicht nur lückenlosen, sondern auch wirtschaftlich zumutbaren und rechtzeitigen Rechtsschutz zu gewähren 433, spricht gegen eine umfassende Kontrollpflicht. Es bietet sich daher an, im Rahmen der Kontrolle ebenso wie bei der Normerarbeitung auf prozedurale Vorgaben zu setzen. Ein derartiges Vorgehen ist für administrative Normen anerkannt 434. Seine Übertragung auf private Normsetzungsgremien setzt angesichts deren mangelhafter demokratischer Legitimation Modifikationen voraus: Materiell müssen im Gesetz deutlichere Inhaltskriterien vorgeben werden als bei administrativen Konkretisierungen, und auch formell sind die Anforderungen zu verschärfen: „Der Staat muß folglich, gemäß der Bedeutsamkeit der privaten Normsetzungsakte differenziert, auf die Bildung, Besetzung und Ausgewogenheit der normsetzenden Stellen Einfluß nehmen und die Durchschaubarkeit und eine gewisse Publizität der Entscheidungsfindung gewährleisten" 435. Die Gerichtsfestigkeit wird auch dadurch erhöht, daß im Verlauf des Normsetzungsprozesses staatlichen Vertretern und Drittbetroffenen Gelegenheit zur Stellungnahlogierecht anerkennt, was aber eine Änderung der Normsetzungsverfahren voraussetzte. Speziell zu den aus dem Amtsermittlungsgrundsatz der §§24, 26 VwVfG folgenden Anforderungen an die Heranziehung Sachverständiger Seidel, Privater Sachverstand, 123 ff. 430 Schmidt-Preuß, Regelwerke, 95; vgl. Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 262; Holle, Normierungskonzepte, 198; Trute, Kooperation, 32 für die Ergebnisse „kooperativer Verständigung". 431 Vgl. BVerfGE 84, 34 (50) sowie den allgemeinen, die Problematik bündig zusammenfassenden Hinweis von Trute, Kooperation, 42: „Selbst in den Varianten der halbstaatlichen und exekutivischen Standardsetzung ist der Wissens- und Kompetenzvorsprung in zunehmend spezialisierten Bereichen so groß, daß eine exekutivische Kontrolle der Normen vor ihrer Rezeption ohne weitere institutionelle Vorfeldsicherungen nicht effektiv ist". Für die gerichtliche Kontrolle gilt dies entsprechend. 432 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn. 12, 180ff. 433 Vgl. EGMR NJW 1997,2809ff.; BVerfGE 55,349 (369); 60,253 (269); P.M. Huber, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 19 Abs.4 Rn.389, 489ff. Ähnliches gilt auch für die Kontrolle durch die Verwaltung, vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 55 m.w.N. 434 Grundlegend BVerwGE 72, 300ff.; vgl. BVerfGE 33, 303 (341); Gerhardt, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 55 ff., 59,63; Ladeur, DÖV 2000,221 ff.; Wahl, NVwZ 1991,414f. Nach Ossenbühl, DVB1 1999, 5 beruhen exekutivische Beurteilungsspielräume nicht so sehr auf Zugeständnissen des Gesetzgebers als der Gerichte. 435 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn.207; vgl. dens., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Einl Rn. 53. Vgl. auch Brugger, VerwArch 78 (1987), 42 f. *
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
me gegeben wurde. Die Norm wird beispielsweise um so eher für eine zulässige Gesetzeskonkretisierung gehalten werden, je weniger sie offensichtlich ein für relevant erachtetes Schutzinteresse vernachlässigt 436. Umfassende Verfahrensanforderungen sichern die Sachangemessenheit des Ergebnisses und erhöhen die Glaubwürdigkeit privatverbandlicher Normen. Der Richter bzw. Kontrolleur muß das hohe Maß an Sachverstand und an gesellschaftlicher Auseinandersetzung wie Konsensbildung, das die privaten Normen repräsentieren, respektieren und darf die dort getroffene Entscheidung nicht ohne weiteres durch seine eigene Auffassung ersetzen. Der Prüfungsumfang ist begrenzt; eine inhaltliche Prüfung der in der privaten Regel getroffenen wissenschaftlich-sachverständigen Wertung braucht durch das Gericht nicht zu erfolgen. Statt dessen genügt es in der Regel, wenn bei privaten Normen hinsichtlich ihres Verfahrens der Erstellung die Ausrichtung am Gemeinwohl überprüft werden kann. Gefordert wird somit im Grunde eine Kontrolle, die sich materiell auf eine bloße Plausibilitätsprüfung und ansonsten auf die Einhaltung prozeduraler Voraussetzungen beschränkt. Bei deren Einhaltung wird die inhaltliche Rechtmäßigkeit vermutet. Es entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis: Je strenger die prozeduralen Bedingungen sind, desto eher ist es zulässig, davon abzusehen, in eine materielle Prüfung einzusteigen. Die reduzierte Kontrolldichte muß durch ein entsprechend strikteres Verfahren „verdient" werden 437. Da es zum Zwecke dieser Prüfung einer die Entstehungsgeschichte der Norm nachweisenden Dokumentation und Begründung bedarf, sind den Normsetzern entsprechende Pflichten aufzuerlegen 438. e) Prozeduralisierung
als Kompensationsfaktor
Sind aber Verfahrensvorschriften überhaupt in der Lage, materielle Kontrolle zu ersetzen? Taugt der Ausbau des Verfahrensrechts als Kompensation für sinkende Einsichts- und Verständnisfähigkeit bei materiell höchst komplexen Fragen? Erneut verbieten sich pauschale Festlegungen. Eine eindeutige und allgemeingültige Aussage, nach der die Einhaltung formeller Voraussetzungen die Sachrichtigkeit einer Norm garantiert, kann selbstverständlich nicht getroffen werden. Erforderlich ist statt dessen eine vorsichtige Annäherung, welche die Vor- und Nachteile gegeneinander abwiegt, dabei aber die rechtlichen und tatsächlichen Probleme nicht aus den Augen verliert. Negative Effekte sollten nicht verschwiegen werden, schon um allzu hohe Erwartungen an ein „heilbringendes" Verfahrensrecht zu vermeiden. Es zählen 436
Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 92 f. unter Verweis auf BVerwG BB 1984, 563. So für administrative Konkretisierung Wahl, NVwZ 1991, 418. Ähnlich Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rn. 206 m. w. N.: „Die mit der Rezeption verbundene immanente Begrenzung der gerichtlichen Überprüfbarkeit muß folglich durch Verfahrenssicherungen ausgeglichen werden". Ausführlich Pitschas, Verwaltungsverantwortung, 397 ff. Vgl. auch die von Pitschas, DÖV 1998,907 ff., 915 beschriebene Entwicklung der Fachaufsicht zur Strukturaufsicht; zustimmend Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 43 („von der Punktkontrolle zur Systemkontrolle"). 438 Böhm, Normmensch, 194, 238; Holle, Normierungskonzepte, 206. Damit wird zugleich die Eigenkontrolle der Normsetzer gestärkt, vgl. Lücke, ZG 16 (2001), 30 ff. 437
C. Rechtliche Rahmenbedingungen privater Normsetzung
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zu den negativen Faktoren nicht nur der in der Verfahrensstärkung begründete Verlust an Flexibilität bzw., schlimmer noch, ein „Hang zum Dilatorischen", sondern auch ein mögliches Zurückweichen vor unbequemen Entscheidungen, Offenhalten von Optionen und die Nutzung intensivierter Verfahrensanforderungen zur Rechtfertigung inhaltlich bereits feststehender Entscheidungen439. Doch handelt es sich bei diesen Nachteilen weniger um typische Wirkungen einer gesteigerten Verfahrensbetonung als vielmehr um vermeidbare Auswüchse, denen entgegenzutreten gerade Aufgabe der Kontrolle ist. Teilweise wird allerdings bezweifelt, daß der Verfahrensgedanke die in ihn gesetzten hohen Erwartungen überhaupt zu erfüllen imstande ist 440 . Sein konfliktlösendes Potential werde möglicherweise überschätzt, und das avisierte Ziel der allseitigen Akzeptanz sei nicht nur angesichts der Erfahrungen aus dem Planungsrecht unwahrscheinlich, sondern möglicherweise insgesamt illusorisch. Eine bessere Vollzugstauglichkeit sei fraglich, und bei grundlegenden Zielkonflikten sei zu befürchten, daß ihre Verlagerung ins Verfahrensrecht nicht einer Lösung gleichkomme, sondern sie sich - in modifizierter Form - auch im Verfahren niederschlügen. Selbst wenn durch die Ausgestaltung des Verfahrens die Grundlage für eine Rationalisierung von Entscheidungsprozessen gelegt sei, bleibe Skepsis angebracht, ob sämtliche Defizite materieller Steuerung hierdurch ausgeglichen werden könnten. Diesen Bedenken ist teilweise zuzustimmen. Eine vollständige Entscheidungsrationalisierung ist in nicht demokratisch legitimierten Institutionen nicht möglich, denn sie können auch bei der perfektioniertesten Verfahrensausgestaltung nicht zu einer vom Legitimationssubjekt Staatsvolk abgeleiteten Entscheidung gelangen. Dennoch wird hier an der Bedeutung des Verfahrens und an seiner Eignung zum (allerdings nur partiellen) Ersatz materieller Kriterien festgehalten. Dies deshalb, weil nach dem oben Gesagten davon auszugehen ist, daß eine vollständige, gleichwertige materielle Steuerung durch Normerarbeitung und Kontrolle die staatlichen Ressourcen wenn nicht überforderte, so doch über Gebühr beanspruchte. Dieses Steuerungsdilemma führt zur Erforderlichkeit alternativer Lösungen. Gelangt man damit zu dem Ergebnis, daß angesichts materieller Steuerungs- und Kontrolldefizite Prozeduralisierung zwar einerseits das Gebot der Stunde, andererseits aber keinesfalls in der Lage ist, demokratische und rechtsstaatliche Anforderungen vollständig zu substituieren, so führt dies letztlich nur zu der eingangs getroffenen Feststellung zurück, daß alleinige private Rechtsetzung nicht möglich ist, weil sie eine Ausübung von Staatsgewalt bedeutete und die hierfür erforderliche demokratische Legitimation nicht, auch nicht durch besonders strikte Prozeduralisierung, ersetzt werden kann. Zulässig sind daher nur Hilfsfunktionen im Rahmen staatlich-privater Kooperationsverfahren, in denen der Akt der Rechtserzeugung staatlichen Stellen vorbehalten bleibt. In diesen Grenzen sind jedoch sämtliche legitimationsfördernden Möglichkeiten auszuschöpfen. Die Prozeduralisierung stellt hierzu wie gesehen das 439 440
Vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Verfahrensgedanke, 13 („Untugenden des Zeitgeistes"). Vgl. z.B. Böhm, Normmensch, 15ff.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
tauglichste Mittel dar. Dies auch deshalb, weil prozedurale Kriterien vergleichsweise einfach nachzuprüfen sind 441 . Dabei sind die Kontrolldichte und Möglichkeiten des kompensatorischen Einsatzes prozeduraler Steuerungstechniken auf die jeweilige Regulierungsmethode entsprechend ihrem rechtlichen Wirkungsgrad und dem Umfang der staatlichen Beteiligung abzustimmen. f) Kontrolle durch die Öffentlichkeit Nicht verfassungsrechtlich gefordert, dennoch aus Gründen des Sachzusammenhangs an dieser Stelle erörterungsbedürftig ist die Rolle der Öffentlichkeit als Kontrollorgan 442. Ihr kann gerade angesichts der dargestellten Schwierigkeiten staatlicher Kontrolle eine wichtige Ergänzungsfunktion zukommen. Dies um so mehr, als private Normsetzung in besonderem Maße auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen ist, ja teilweise sogar als eine Art Werbemaßnahme verstanden werden kann. Wird der Normsetzungsprozeß frühzeitig öffentlich, eröffnet dies die Möglichkeit allgemeinen Diskurses. Die Veröffentlichungspflicht mag es zudem nahelegen, gefundene Ergebnisse noch einmal zu überprüfen. Über die Öffentlichkeitskontrolle kann subtil Druck auf die Normsetzer ausgeübt werden, das Gemeinwohl als Leitbild ihrer Normierung zu beachten. Um den Anschein einer Interesseneinseitigkeit zu vermeiden, genügt bloße Gemeinwohlrhetorik nicht; die Privaten geraten unter „Konsistenzzwang"443. Die unterrichtete Öffentlichkeit kann aber nicht nur die privaten Standardsetzer dazu drängen, ihre Regulierungsmaßnahmen zu verbessern. Sofern der Eindruck entsteht, die Selbstregulierung weise gravierende Mängel auf, kann die öffentliche Diskussion sich auch dahingehend entwickeln, daß ein Tätigwerden des Gesetz- oder Verordnungsgebers verlangt wird. Öffentlichkeitskontrolle beinhaltet insoweit auch außerparlamentarisch-demokratische Elemente. Voraussetzung für ihre Wahrnehmung ist ein transparentes Verfahren der Normsetzung, das Einblick in Entscheidungszusammenhänge gewährt und Interessenkollisionen wie Kollusionen aufdeckt. Am Staat ist es wiederum, entsprechende verfahrensrechtliche Kriterien aufzustellen. Eigenen Kontrolldefiziten begegnet er damit zum einen durch die Ersetzung schwer nachprüfbarer materieller durch formale Anforderungen und zum anderen durch die Aktivierung einer zusätzlichen Überwachungsinstanz. Die Bedeutung der Öffentlichkeit kann es darüber hinaus nahelegen, 441
Vgl. Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 8 f.; 81 ff. m. w.N., derzufolge eine deutliche Zurückhaltung der Gerichte wie der Behörden bei der inhaltlichen Kontrolle privater Regelwerke zu beobachten ist. Hier könnte eine Beschränkung auf verfahrensrechtliche Fragen helfen, Berührungsängste abzubauen, indem die Richter und Beamten wieder auf vertrautes Fachterrain zurückgewiesen werden. 442 Ausführlich Rossen-Stadtfeld, Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, 117ff.; Scherzberg, Öffentlichkeit der Verwaltung; vgl. v. Bogdandy, Gubemative Rechtsetzung, 69; HoffmannRiem, DV 28 (1995), 447 f. Skeptisch Hopt, Kapitalanlegerschutz, 162; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 102 f. 443 Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl, 26.
D. Gesellschaftliche Anforderungen an private Normsetzung
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die Veröffentlichung von (staatlichen) Kontrollberichten zu veranlassen und hiermit einen zusätzlichen Implementationsdruck auf die privaten Normsetzer auszuüben. Werden Verstöße gegen Verfahrensvorschriften publik gemacht, leidet allerdings unter dem daraus folgenden Imageverlust auch der auf die Normen zurückgreifende Staat, so daß hier Vorsicht geboten ist. V . Fazit Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen lassen sich in der Forderung bündeln, daß der Staat dort, wo er Normsetzungsaufgaben durch Private wahrnehmen läßt, die hinreichende Gemeinwohlkompatibilität der Entscheidungen durch Verfahrens- und Organisationsvorgaben sicherzustellen hat. Neben einer rigiden Prüfung der Einhaltung dieser formellen Voraussetzungen kann sich der Staat auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken. Zusätzlicher Konsistenzdruck kann durch die Aktivierung der Öffentlichkeit als Kontrollorgan erzeugt werden.
D. Gesellschaftliche Anforderungen an private Normsetzung Abseits der rechtlichen lassen sich weitere Vorgaben ausmachen, die von privaten Normsetzungsorganisationen zu erfüllen sind und die hier als gesellschaftliche Anforderungen bezeichnet werden sollen. Auch dort, wo es an diesen Merkmalen fehlt, ist private Normsetzung zulässig; sie wird aber voraussichtlich wenig Beachtung finden, folglich keinen staatsentlastenden Steuerungseffekt besitzen und schließlich mittel- bis langfristig durch eine staatliche Regulierung ersetzt werden müssen. Die gesellschaftlichen Anforderungen ergeben sich somit aus dem Akzeptanzbedürfnis und dem daraus folgenden Streben nach funktional optimierter Normsetzung. Voraussetzung für eine Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch private Normsetzungsgremien ist deren Fähigkeit, als Forum gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu fungieren (I) sowie ihre Bereitschaft, die vorhandenen Steuerungskapazitäten für das allgemeine Wohl einzusetzen (II) 4 4 4 . I. Kooperationsfähigkeit 1. Organisationsfähigkeit Die Organisationsfähigkeit der privaten Verbände stellt eine unabdingbare Voraussetzung problemadäquater Aufgabenwahrnehmung dar. Die Gremien, Verbände und sonstigen privaten Normsetzer müssen in der Lage sein, Sachverstand und In444
Brennecke, Normsetzung, 34, 43 unter Verweis auf Voelzkow, Pluralismus oder Korporatismus.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
teressenvertretung zu vereinigen 445. Pluralistisch besetzte private Normsetzungsgremien ermöglichen ein Zusammenbringen von spezialisiertem Fachwissen, spezifischen Interessen und institutionellen Perspektiven in den Normsetzungsprozeß. Gleichzeitig wird durch die angestrebte frühzeitige und möglichst umfassende Konsensbildung Akzeptanz und damit auch eine erleichterte Normdurchsetzung erreicht 446 . Idealiter besteht in diesen Gremien eine umfassende Möglichkeit sowohl zur Übermittlung von entscheidungsrelevanten Tatsachen und den daraus zu ziehenden Schlüssen als auch zur Interessenartikulation. Organisation und Verfahren müssen es ermöglichen, eine Sammlung und Bündelung der Fakten wie der Partikularinteressen in einem nicht bloß summativen, sondern integrativen Prozeß vorzunehmen. Konsensbildung ist vorzugswürdig. Wo mit Mehrheitsmeinung entschieden wird, bedeutet Steuerungsfähigkeit auch, daß nicht nur möglichst allen Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, sondern den Beteiligten auch das Gefühl vermittelt wird, Einfluß auf das Endergebnis genommen zu haben, selbst wenn es von den ursprünglichen Zielvorstellungen abweicht.
2. Organisations- und Beteiligungsdefizite Auch die gesellschaftlicherseits angestrebte Pluralisierung muß sich mit dem Problem der strukturellen Ungleichgewichtung der Interessenvertreter auseinandersetzen. Verbraucherschutzverbände und ähnliche nicht-profitorientierte Organisationen sind in den entsprechenden Gremien regelmäßig unterrepräsentiert. Als problematisch erweist sich dabei insbesondere die Ehrenamtlichkeit der Mitwirkung in Normsetzungsgremien. Denn da das mit der Unentgeltlichkeit verbundene nicht unerhebliche personelle und finanzielle Engagement nur von solchen Personen oder Verbänden aufgebracht wird, die ein unmittelbares Interesse am Ergebnis des Normsetzungsprozesses haben, wirkt sich die Ehrenamtlichkeit negativ auf die angemessene Partizipation aller beteiligten Kreise aus447. Die Normsetzer sollten jedoch selbst daran interessiert sein, ihren Normen durch die Mitwirkung von Dritten bzw., sofern diese nicht möglich ist, durch eine entsprechende Interessenberücksichtigung eine erhöhte Legitimität zu verschaffen und damit die Akzeptanz bei den Normadressaten zu steigern. 445 Brennecke, Normsetzung, 116, vgl. dort, 298; MayntzlScharpf, Steuerung und Selbstorganisation, 20; ausführlich Voelzkow, Private Regierungen, 185 ff. Die Gewichtung kann dabei von Regelungsbereich zu Regelungsbereich variieren. 446 Brennecke, Normsetzung, 116. 447 Vgl. skeptisch Voelzkow, Private Regierungen, 237: „Selbst dann, wenn sich die hauptberuflichen Mitarbeiter der Normungsorganisation oder einzelnen Ausschußmitglieder speziell darum bemühen, einen Repräsentanten der Arbeitnehmer-, Verbraucher- oder Umweltschutzinteressen einzubeziehen, findet die Regelsetzung doch häufig ohne einen solchen Interessenvertreter statt, weil sich kein sachkundiger Repräsentant finden läßt, der bereit und in der Lage wäre, die erforderlichen Kosten und Mühen auf sich zu nehmen". Ähnlich Hopt, Kapitalanlegerschutz, 166 ff.
D. Gesellschaftliche Anforderungen an private Normsetzung
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3. Trittbrettfahrerproblematik Gerade die unverbindlichen privaten Normen, die auf eine Selbstverpflichtung bzw. Anerkennung angewiesen sind, leiden darunter, wenn sie nur von einem Teil der Normadressaten tatsächlich befolgt werden, von deren normkonformem Verhalten und der Existenz der Norm insgesamt aber auch die Befolgungsunwilligen profitieren (sog. Trittbrettfahrer- oder free rider-Problematik). Die Normierungsgremien sind aufgerufen, hiergegen Maßnahmen zu ergreifen. Daß ihnen dies allerdings nur in beschränktem Umfang gelingen kann, ergibt sich bereits daraus, daß ihnen rechtliche Sanktionsmittel gerade nicht zu Verfügung stehen. Die Publizität der Normanerkennung und -befolgung kann sich jedoch als effektives Werbemittel einer- bzw. wirksame Waffe andererseits erweisen 448. 4. Bereichsspezifische Anforderungen Kooperationsfähigkeit setzt auch voraus, daß die private Standardsetzung den Erwartungen des Marktes gerecht wird. Im Idealfall ergibt sich bereits aus der Erfüllung dieser gesellschaftlichen Anforderungen ein „Wettbewerbsvorteir gegenüber regulativen Eingriffen des Staates bzw. gegenüber anderen nichtstaatlichen Normsetzern, der den Normen zu umfassender Beachtung verhilft. Umgekehrt haben solche Normen, deren Erarbeitung nicht nach diesen Maßstäben erfolgt, wenig Aussicht darauf, sich am Markt durchsetzen zu können. Die Maßstäbe sind jedoch nicht stets dieselben. Jeweils für den konkreten Regelungsfall lassen sich bereichsspezifische Anforderungen entwickeln. Hierzu ist zu ermitteln, welche Erwartungen an das jeweilige Normsetzungsverfahren bzw. Normsetzungsgremium aus den Kreisen der Normadressaten gestellt werden, und diese müssen sodann in den entsprechenden Organisations- und Verfahrensvorschriften umgesetzt werden 449. Zielkonflikte sind unvermeidlich. So spricht ein Interesse an einer besonders flexiblen und anpassungsfähigen Handlungsweise für ein regelmäßig zusammentreffendes, fest institutionalisiertes, kleines und arbeitsfähiges Expertengremium. Auf der anderen Seite bedeutete die Betonung der Interessenvertretung und pluralistischen Interessenberücksichtigung eher eine höhere Anzahl von Repräsentanten der unterschiedlichen Betroffenen, die sich auch in unregelmäßigeren Abständen versammeln könnten. Hier sind Kompromißlösungen nicht nur denkbar, sondern in der Regel auch vorzugswürdig. Im Beispiel böte es sich etwa an, einem kleineren Entscheidungsgremium größere beratende Foren von Interessenvertretern zur Seite zu stellen. 448 Auf internationaler Ebene kann aber das Trittbrettfahrerverhalten den Abschluß von Selbstverpflichtungen geradezu forcieren, wenn auf politischer Ebene es zu einem Stillstand gekommen ist und somit die private Regulierung als ein taugliches Mittel erscheint, das nationale Aktivitäten in einem bestimmten Ausmaß erlaubt, ohne daß dafür gravierende Kostennachteile im internationalen Wettbewerb in Kauf genommen werden müßten, vgl. Rennings/ Brockmann/Bergmann, Nachhaltigkeit, 150 am Beispiel des Klimaschutzes. 449 Exemplarisch Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 49ff., 55 ff.; dazu auch Schuppertl Bumke, Standardsetzung, 95 f.
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1. Kap.: Wirk- und Rahmenbedingungen
I I . Kooperationswilligkeit (Gemeinwohlkompatibilität) Auch die Gesellschaft verlangt von wirkungsvoller Normsetzung ein gemeinwohlkompatibles Vorgehen. Auf privater Seite muß eine Bereitschaft zur Aufgabenübernahme und zum Einsatz ihrer Steuerungskapazitäten „für und nicht gegen öffentliche Belange" bestehen450. Durch negative oder positive Anreize kann der Staat ein Klima schaffen, in dem Selbstregulierung als vorzugswürdige Alternative entweder gegenüber einem regellosen oder aber staatlich reglementierten Zustand erscheint451. Erst die staatlich gewährte Rechtsrelevanz sichert den privat aufgestellten Regeln die zuverlässige Verbindlichkeit und damit auch die Motivation der Adressaten, sich am Normsetzungsprozeß zu beteiligen. Und bisweilen schafft erst die staatliche Drohung, bei Ausbleiben selbstregulativer Normierung selbst die erforderlichen Rechtsvorschriften zu erlassen, jenen Druck, der die Wirtschaft veranlaßt, sich privaten Normen zu unterwerfen. „Die gewünschte Staatsentlastung tritt mithin nicht automatisch dann ein, wenn der Staat auf Interventionen verzichtet und intermediäre Strukturen für sich arbeiten lassen will. Der Staat hat vielmehr mehrere Strukturvorgaben zu setzen, welche die privaten Instanzen erst in die Lage versetzen, jene Leistungen und Funktionen zu erbringen, die wohl durch etatistischen Direkteingriff nicht in gleicher Weise erbracht werden könnten" 452 . Ein entsprechender Anpassungswille wird regelmäßig aber auch dort anzutreffen sein, wo sich das Wohl des Einzelnen und der Allgemeinheit derart überschneiden, daß sich der private Normsetzer von der Ausrichtung auf das Allgemeinwohl eigene Vorteile versprechen kann. Aufgrund des dort bestehenden Bedürfnisses nach Anlegerpartizipation und -vertrauen sind die Rahmenbedingungen für eigeninitiative, an Gemeinwohlzielen orientierte selbstregulative Normsetzung im Kapitalmarkt besonders günstig, was durch die Existenz gemeinwohlorientierter Normsetzungsmodelle, die keines staatlichen Anstoßes bedurften, bestätigt wird. I I I . Fazit Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Kooperationsfähigkeit laufen in weiten Teilen parallel zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gemeinwohlkompatible Ausgestaltung privater Normsetzungsverfahren. Ihre Erfüllung entbindet jedoch nicht von der Verpflichtung, die beschriebenen rechtlichen Sicherungsmechanismen zu etablieren. Gerade das Zusammenspiel der staatlich aufge450 Voelzkow, Pluralismus oder Korporatismus, zitiert bei Brennecke, Normsetzung, 43. Zum (regelmäßig zu unterstellenden) Willen der privaten Normsetzer, ihren Regeln zu rechtlicher Verbindlichkeit zu verhelfen, Taupitz, Standesordnungen, 611. 451 Gerade weil rechtliche Steuerung das Handlungsfeld von Unternehmen strukturiert, können die Unternehmen daran interessiert sein, auf die Regulierung Einfluß zu nehmen, vgl. Wagner/Haffner, Umweltmanagement, 15. 452 Voelzkow, Private Regierungen, 214 f.
E. Gesamtfazit
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stellten und zu kontrollierenden rechtlichen und der nichtstaatlichen Vorgaben läßt jedoch - so die Hypothese - darauf hoffen, daß im verdoppelten Einsatz der kontrollierenden Kräfte die selbstregulative Normsetzung den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden vermag.
E. Gesamtfazit Trotz der attestierten Wirkungsschwächen des klassischen Ordnungsrechts ist imperative Steuerung als Ergänzung, als institutionelle Vorfeldsicherung und/oder als Auffangnetz auch bei alternativen Normsetzungsmodellen häufig nicht substituierbar. Die Integrationskraft des Rechts als „taugliches und unverzichtbares Steuerungsmittel" wird weiterhin benötigt 453 ; es gilt, sie mit der Innovationskraft privater Normen zu verbinden. Das Zusammenwirken der unterschiedlichen - privaten wie staatlichen - regulatorischen Instrumente bedarf größerer Aufmerksamkeit. Die personell oder finanziell bedingte regulatorische Überforderung des Staates zwingt zum Nachdenken darüber, ob und inwieweit selbstregulative Mechanismen intensiver und extensiver genutzt werden können und welche Strukturen der Staat gegebenenfalls zur Verfügung stellen muß, um Gemeinwohlkompatibilität sicherzustellen. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, kooperative Mechanismen tatsächlich synergetisch zu nutzen und nicht alte durch neue Steuerungsdefizite zu ersetzen. Nach der allgemeinen Übersicht soll daher im folgenden versucht werden, anhand einiger ausgewählter Beispiele aus dem Bereich des Kapitalmarktrechts die vielfältigen Möglichkeiten der Normsetzung zu illustrieren und damit nicht nur den vorhergehenden Ausführungen Farbe und Leben zu vermitteln, sondern auch sie an der Praxis und umgekehrt die Praxis an ihnen zu messen.
453
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 19, zur Unersetzbarkeit des Gesetzes als Steuerungsmittel dort, 160ff.; ausführlich und m. w.N. Lepsius, Steuerungsdiskussion, insbesondere 28 f.
Zweites Kapitel
Typologie der Normsetzungsverfahren A. Zur Einordnung Den nachfolgenden Ausführungen liegt eine Typologie zugrunde, die nicht bei einer dreiteilenden Klassifikation normsetzender Gremien in staatliche, staatlichprivat kooperative oder rein private ansetzt1, sondern statt dessen den Normsetzungs- bzw. Rezeptionsmechanismus in das Zentrum der Überlegungen rückt 2. Diese Einordnung leitet sich ab aus der Erkenntnis, daß über die rechtliche Qualifizierung einer Norm nicht so sehr ihre Herkunft entscheidet als vielmehr die angestrebte (rechtliche) Verbindlichkeit. Letztere bestimmt sich nicht nach der Zusammensetzung oder Organisationsform der Normproduzenten, sondern der Legitimationskraft, die den Normen über die jeweiligen Normsetzungsmechanismen zukommt. Den Anknüpfungspunkt der hier verwandten Einteilung bilden deshalb die Rechtstitel, mittels derer die Normen unterschiedliche Grade an Verbindlichkeit und Heteronomie erlangen. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, umfassend und unter ständiger Rückbeziehung auf die erforderliche Gemeinwohlkompatibilität und Legitimation der Normsetzung unterschiedliche Verfahrenstypen auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit und praktische Verwendbarkeit hin zu analysieren und Verbindungslinien zwischen ihnen aufzuzeigen bzw. herzustellen. Dabei wird von der staatsnäheren zur staatsferneren Normsetzung fortgeschritten. Das Hauptkriterium für die Aufnahme in den folgenden Katalog der Normsetzungsmechanismen stellt die Existenz privater Entscheidungsmöglichkeiten im Normsetzungsprozeß dar. Außer acht gelassen werden rein staatliche Normen, gleich, ob sie dem Funktionsbereich der Legislative oder der hierarchisch geordneten Exekutive entstammen3. Von Interesse sind hingegen solche Normen, die von aus dem klassischen Verwaltungsaufbau herausgelösten Stellen formuliert werden. „Hier wird [...] die Grenze zwi1
So z.B. Holle, Normierungskonzepte, 48ff.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 71 ff. Vgl. ähnlich Taupitz, Standesordnungen, 603f.: „Da die geltende Rechtsordnung für die verschiedenen Arten von Rechtsakten unterschiedliche Wirksamkeitsvoraussetzungen aufstellt, ist es nicht möglich, zunächst abstrakt die,Rechts Verbindlichkeit' oder den,Rechtsnormcharakter' einer (Standes-)Ordnung zu prüfen und sie anschließend einer bestimmten Rechtsquellenkategorie zuzuordnen". Vgl. auch Marburger, Regeln der Technik, 327 ff., 348 ff. 3 Deshalb werden die als „Basel I I " zusammengefaßten bankenaufsichtsrechtlichen Normen nicht erörtert, obgleich sie kein Recht darstellen, sondern möglicherweise als „Benchmarking" einen „neuen Normtyp des Zeitalters der Globalisierung" bilden, vgl. Zeitler, WM 2001, 1397 ff., v. a. 1400f. 2
A. Zur Einordnung
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sehen der staatlichen Nutzung privater Regulierungstätigkeit und der Einbindung Privater in die staatliche Regelsetzung fließend" 4. Aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform ist die Einordnung dieser Gremien unter den modernen Begriff der Selbstregulierung jedoch nicht unproblematisch und wird uneinheitlich beurteilt 5. Selbstverwaltung wird im strikten Rechtssinne verstanden als die selbständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung enumerativ oder global iiberlassener oder zugewiesener eigener öffentlicher Aufgaben durch unterstaatliche Träger oder Subjekte öffentlicher Verwaltung in eigenem Namen6. Sie liegt somit an der Schnittstelle zwischen Staatsverwaltung und der „kollektiven Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz". Für die hier vorgeschlagene Typologie ist nicht entscheidend, ob man funktionale Selbstverwaltung noch als gesellschaftliche Selbstregulierung 7, als „bloße" Selbstregulierung oder als Bestandteil staatlicher Steuerung ansieht. Statt dessen kommt es darauf an, daß mit der Etatisierung ein Mittel zur Verfügung steht, öffentliche Aufgaben auf die Betroffenen (zurück) zu verlagern und dabei deren besondere Kenntnisse und Fähigkeiten zu nutzen, und zugleich rechtsstaatliche und grundrechtliche Bindungen aufrechterhalten bleiben8. Das Bundesverfassungsgericht benutzt für die Satzungsautonomie eben die Argumente, die auch allgemein für private Normsetzung streiten: „Die Verleihung von Satzungsautonomie hat ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche 4 Engel, FS Mestmäcker, 124; vgl. Kleine-Cosack , Autonomie, 56 ff. (der die berufsständischen Kammern ausdrücklich als „Kooperationsorgane von Staat und Gesellschaft" bezeichnet, dort, 58); Schuppert , Verwaltungseinheiten, 96ff.; dens., FS v.Unruh, 187f. 5 Für die Organisationsform als Unterscheidungsmerkmal optiert z.B. Di Fabio , VVDStRL 56 (1997), 270. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 162 ff. kontrastiert die gesellschaftliche Selbstregulierung mit der staatlichen Steuerung durch Hoheitsträger, macht allerdings eine grundrechtsbedingte Ausnahme für Universitäten und Rundfunkanstalten. Auch Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 261 will den Begriff Selbstverwaltung „öffentlich-rechtlich verfaßten Organisationsformen und Entscheidungszusammenhängen vorbehalten"; ähnlich Hoeren, Selbstregulierung, 4f.; zustimmend Roßkopf, Selbstregulierung, 37ff. Sehr weitgehend hingegen Faber, Selbstregulierungssysteme, 46, derzufolge für die Frage nach der Staatlichkeit nicht nach der Organisationsform, sondern nach der Art der vorgenommenen Aufgabe differenziert werden muß. Folgerichtig qualifiziert sie die berufsständische Selbstverwaltung als gesellschaftliche Selbstregulierung. 6 Tettinger , Kammerrecht, 33; Woljf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 84 Rn. 34. Vgl. Schmidt-Aßmann, GS Martens, 250; Stern, Staatsrecht I, 399 f. 7 So Faber, Selbstregulierungssysteme, 27,45ff., 111 ff. 8 Vgl. Trute, Funktionen der Organisation, 265 f.: Staatlich institutionalisierte Foren gesellschaftlicher Selbstkoordination; vgl. auch dort, 284 f. Zur Erstreckung des Begriffs der Selbstverwaltung auf Organisationen des Privatrechts vgl. die Nachweise bei Taupitz, Standesordnungen, 162 Fn.6. Vgl. auch Engel, FS Mestmäcker, 123 f.; ähnlich G.-P. Calliess, Prozedurales Recht, 186f.; enger T. Groß, Kollegialprinzip, 138 ff.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderung er nicht rasch genug reagieren kann"9. Bezweckt wird eine Entlastung des Staates bei gleichzeitig erhoffter Effektivitätssteigerung, und die Überantwortung der Normsetzungsaufgabe auf kleinere Regelungseinheiten soll nicht nur eine flexiblere Anpassung gewährleisten, sondern es auch ermöglichen, „die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand für die Findung ,richtigen Rechts4 zu nutzen"10. Ein weiteres Argument liefert die historische Zufälligkeit der öffentlich-rechtlichen bzw. privatrechtlichen Organisationsform sowie die Möglichkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts, sich in privatrechtlichen Vereinigungen zusammenzuschließen11. Mehr oder weniger komplementäre Doppelvertretungen sind häufig anzutreffen 12. Bisweilen ist sogar die Einordnung einer Organisation in den öffentlich-rechtlichen oder den privatrechtlichen Bereich strittig 13 . Dies alles verdeutlicht die partielle Austauschbarkeit der Systeme und rechtfertigt die Einbeziehung der im Rahmen der funktionalen Selbstverwaltung erlassenen Normen in die vorliegende Untersuchung. Dies vorausgeschickt, wird begonnen mit der „verstaatlichten" privaten Normsetzung in Gestalt der Satzungen der funktionalen Selbstverwaltung (B). Es schließen sich an Überlegungen zu staatlicher Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen (C) und zu privater Rechtsetzung innerhalb der staatlichen Rahmenordnung des Zivilrechts (D). Den Abschluß bilden Ausführungen zu Möglichkeiten und Grenzen privater Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit (E).
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BVerfGE 33, 125 (156 f.). BVerfGE 33, 125 (159). Vgl. auch dort, 158: „Der Gesetzgeber darf seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation überlassen."; dort, 160: „Solchen Gefahren, die der Freiheit des Einzelnen durch die Macht gesellschaftlicher Gruppen drohen" (Hervorhebungen nicht im Original). Ausdrücklich auch BVerfGE 10, 20 (50), wonach Satzungen von Rechtsverordnungen unterscheidet, daß sie „von einer nichtstaatlichen Stelle erlassen werden". 11 Vgl. nur Kluth, Selbstverwaltung, 477ff.; Schuppert, Verwaltungseinheiten, 103 f.; Taupitz, Standesordnungen, 162, 195 ff. 12 Z. B. Anwaltskammer - Anwaltsverein, Wirtschaftsprüferkammer - Institut der Wirtschaftsprüfer. 13 Vgl. Kleine-Cosack, Autonomie, 58ff., dort, 59: „Die jeweilige Rechtsform ist nicht zwingend, zum Teil willkürlich und hängt von den verschiedensten, insbesondere politischen Umständen ab". Das Problem ist nicht neu, vgl. bereits W. Weber, Körperschaften, 57 ff., 64ff. 10
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
127
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung Als Rechtsformen der Selbstnormierung bieten sich somit zunächst - als Obergrenze - die im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung existierenden öffentlichrechtlichen Satzungen an. Nach einem kurzen allgemeinen Blick auf öffentlichrechtliche Satzungen (I) werden die Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer (II) sowie durch die Frankfurter Wertpapierbörse (III) dargestellt. I. Öffentlich-rechtliche Satzungen Das Grundgesetz erwähnt die öffentlich-rechtliche Satzung nicht explizit. Art. 28 GG läßt sich immerhin entnehmen, daß den Gemeinden Regelungsgewalt nicht nur für konkrete Einzelfallentscheidungen übertragen wird, sondern auch generelle Anordnungen zulässig sind. Mittlerweile ist die Zulässigkeit der Delegation von Satzungsgewalt auch auf andere Körperschaften des öffentlichen Rechts als allgemeiner verfassungsrechtlich legitimierter Bestandteil der grundgesetzlichen Ordnung anerkannt 14. Die Einrichtung von Selbstverwaltungseinheiten ist von Verfassungs wegen auch nicht auf einen numerus clausus bestimmter Verwaltungsrechtsgebiete beschränkt. Dem Gesetzgeber steht es offen, weitere Bereiche als Selbstverwaltung auszugestalten, solange deren Gegenstand die Erfüllung legitimer öffentlicher Aufgaben ist. Eine Grenze bilden dabei die Kernbereiche staatlicher Verwaltung und der Vorrang des staatsunmittelbaren Vollzugs, die als notwendige Teile des parlamentarisch-repräsentativen Systems nicht geschmälert werden dürfen 15. 1. Private als Träger der Satzungsautonomie? Verliehen werden kann die Satzungsautonomie nur solchen öffentlich-rechtlichen Rechtsträgern, die nicht von vornherein und dauernd fremd bestimmt, sondern fähig 14 Vgl. Axer, Normsetzung, 188 ff., 216ff.; Clemens, FS Böckenförde, 262f. mit zahlreichen Nachweisen zur Rspr.; Kleine-Cosack, Autonomie, 93 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 80 Rn. 49; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, §6 Rn. 63 f.; H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 276; Stern, Staatsrecht I, 397; Taupitz, Standesordnungen, 615. Es herrscht heute Einvernehmen, daß die Rechtswirkung der autonomen Satzungen eine staatliche Beteiligung voraussetzt. Differenzen bestehen lediglich darüber, ob es sich bei Satzungen um abgeleitete Rechtsquellen handelt, die aufgrund der erforderlichen staatlichen Ermächtigung in die Nähe von Rechtsverordnungen rücken (so z. B. Kleine-Cosack, Autonomie, 80ff.; Kluth, Selbstverwaltung, 488 Fn.8; Ossenbühl, HStR III, §66 Rn. 18ff.; ders., in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, §6 Rn. 65, sog. Delegationstheorie) oder ob die Rechtswirkung aufgrund der staatlichen Zuerkennung eigenständiger Rechtsetzungsgewalt durch den grundlegenden Akt der Statusverleihung besteht (so z. B. H. Schneider, Gesetzgebung, Rn.277ff., sog. Dereliktionstheorie). Instruktiv dazu Axer, Normsetzung, 196 f.; Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 251; Taupitz, Standesordnungen, 623 f. 15 Schmidt-Aßmann, GS Martens, 264.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
sind, einen eigenen Willen zu bilden 16 . Die Adressaten der Autonomie sind dem öffentlichen Recht zuzuordnen; private Stellen können keine Satzungsbefugnis zuerkannt bekommen. Öffentlich-rechtliche Satzungen bieten mithin nur dann eine Möglichkeit, Private in den Prozeß der Normsetzung einzubinden, wenn man diese in den Staat integriert. Die Verleihung von Satzungsautonomie setzt daher eine weitgehende „Verstaatlichung" ursprünglich privater Organisationen bzw. die Gründung öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit privaten Mitgliedern voraus. 2. Satzungsautonomie als Rechtsetzungsautonomie Öffentlich-rechtliche Satzungen sind Vorschriften, die von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts „im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörigen und unterworfenen Personen erlassen werden" 17 . Sie gehören zum objektiven Recht18; die in ihnen enthaltenen (potentiell) heteronomen, abstrakt-generellen Normen bedürfen zu ihrer Geltung keines individuellen Anerkennungsakts und erfüllen somit die Merkmale der Rechtsnorm19. Sie finden auch auf solche widerstrebenden Normadressaten Anwendung, die sich einer freiwilligen Unterwerfung unter Vereinssatzungen entzögen20. Gerade hierin zeigt sich die öffentlich-rechtliche der privatrechtlichen Satzung überlegen. Strukturelle Ähnlichkeiten bestehen zudem mit Rechts Verordnungen, von denen sich Satzungen aber jedenfalls durch die divergierende Zielsetzung unterscheiden: Rechtsverordnungen sind Ausdruck dekonzentrierter Rechtsetzung, wohingegen mit Satzungen Dezentralisation ermöglicht werden soll 21 . Von praktischer Konsequenz ist diese Differenzierung, als die Satzungsautonomie nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 8012 GG unterliegt 22.
16 H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 278. Vgl. Clemens, FS Böckenförde, 263 ff.; dens., MedR 1996, 434. 17 BVerfGE 10, 20 (49f.); 33, 125 (156); vgl. Ossenbühl, HStR III, §66 Rn. 1 f. 18 BVerfGE 10, 20 (50); 33, 125 (156); vgl. EGMR NJW 1985, 2886. 19 Vgl. das erste Kapitel A.III, sowie Taupitz, Standesordnungen, 564. 20 Zu den dennoch bestehenden Parallelen der beiden Normsetzungsmodelle Meyer-Cording, Vereinsstrafe, 46ff.; Taupitz, Standesordnungen, 953 ff. 21 Kleine-Cosack, Autonomie, 73 ff.; Ossenbühl, HStR III, §66 Rn.35ff.; ders., in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, §6 Rn. 65 f.; zur Dezentralisation auch Kluth, Selbstverwaltung, 241; Löer, Kontrolle, 9. Zum Rangverhältnis von Rechtsverordnung und Satzung Heintzen, DV (29) 1996, 17 ff. 22 BVerfGE 12, 319 (325); 19, 253 (267); 32, 346 (360f.); 33, 125 (157ff.); vgl. Kleine-Cosack, Autonomie, 217 ff.; Kluth, Selbstverwaltung, 488. Vgl. aber Schmidt-Aßmann, GS Martens, 261.
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
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3. Legitimation „Selbstverwaltungsträger sind Teil der verfaßten Staatlichkeit. Sie üben Staatsgewalt i. S. des Art. 20II GG, nicht private, gruppenbündische oder allgemeine gesellschaftliche Gewalt aus. [...] Damit gelten dann freilich auch alle Schranken und Sicherungen, die das Grundgesetz den Trägern öffentlicher Gewalt auferlegt, vor allem also die Verfassungsbindung des Art. 20 III GG, die Grundrechtsbindung des Art. 1 III GG und der elementare Gemeinwohlauftrag aller Staatlichkeit"23. Insbesondere der Erlaß rechtsverbindlicher Satzungen ist Herrschaftsausübung - wenn auch geprägt durch einen verringerten Abstand zwischen Normadressat und Normschöpfer 24. Eine vollständige personell-organisatorische und materiell-inhaltliche Legitimation besteht jedoch nicht 25 : Personell weisen die Selbstverwaltungsgremien keine ununterbrochene, auf das Gesamtvolk, das auch im Rahmen der Selbstverwaltung demokratisches Legitimationssubjekt bleibt 26 , zurückführbare Legitimationskette auf. Und regelmäßig beschränken sich die ermächtigenden Gesetze auf allgemein gehaltene Kompetenzzuweisungen, so daß auch die sachlich-inhaltlichen Anforderungen die personellen legitimatorischen Mängel nicht auszugleichen vermögen. Umgekehrt ist eine rein autonome Legitimation nicht in der Lage, rechtsverbindliche Normen hervorzubringen, die andere staatliche Stellen, insbesondere die Gerichte, binden. Satzungsnormen lassen sich daher nur durch eine Kombination von demokratischen und autonomen Legitimationssträngen legitimieren 27. Satzungsautonomie erfordert eine gesetzliche Grundlage 28. Zudem sind satzungsmäßige Bestimmungen nur in Ergänzung zu parlamentsgesetzlichen Festlegungen zulässig; die wichtigsten Pflichten sind durch Gesetz vorzugeben und ihre weitere Ausgestaltung durch Sat23
Schmidt-Aßmann, GS Martens, 258. Taupitz, Standesordnungen, 564, 653 f. 25 Anders Kluth, Selbstverwaltung, insbes. 373 ff., der den Gremien der funktionalen Selbstverwaltung ein „hohes Legitimationsniveau" attestiert, das sich aus der Möglichkeit kollektiver personeller Legitimation und sachlich-inhaltlicher Legitimation ergebe. Die autonome Legitimation trägt demnach nur zu einem „selbstverwaltungstypischen gesteigerten Legitimationsniveau" bei. 26 Vgl. nur Kluth, Selbstverwaltung, 368 ff. sowie oben das erste Kapitel unter C. III. Anders Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, II. Abschnitt, Rn. 56ff.; ders., Staatslehre, 220ff., der bei gesetzlicher Zwangsmitgliedschaft eine Rückführung auf die partizipierenden Angehörigen der Selbstverwaltungsgruppe als ausreichend ansieht, da diese ein „Teilvolk" bildeten, das für seinen Verantwortungsbereich ebenso legitimierend wirken könne wie das Gesamtvolk für das Staatsganze. Zustimmend Tettinger, Kammerrecht, 97. Hingegen attestiert Böckenförde, HStR I, § 22 Rn. 34 m. w. N. ein Defizit an demokratischer Legitimation, das auf einem fehlenden Rückbezug auf die „Allgemeinheit der Bürger" beruhe und nur bei entsprechender gesetzlicher Aufgabenfestlegung und -begrenzung und ausreichender staatlicher Rechtsaufsicht hinnehmbar sei. 27 Vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 87ff.: Duale Legitimationsordnung mit zwei unterschiedlichen Legitimationssubjekten. 28 Nur sofern in den Satzungen auf ein automatisches Sanktionssystem verzichtet wird, genügt zu ihrem Erlaß die allgemeine Satzungsautonomie, BVerfGE 36,212 (216); Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1232; ders., GS Martens, 261; vgl. Taupitz, Standesordnungen, 618ff. 24
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
zungen gesetzlich vorzuformen 29. Zur Selbstverwaltung gehört schließlich eine regelmäßig als Rechtmäßigkeitskontrolle ausgestaltete Staatsaufsicht, die einerseits rechtsstaatlich gebotene Distanz sichern soll, indem sie Elemente der Fremdsteuerung integriert und Interesseneinseitigkeiten entgegenwirkt, und andererseits Defizite demokratischer Legitimation kompensieren hilft. Elemente autonomer Legitimation liegen in der binnendemokratischen Strukturierung der mitgliedschaftlich organisierten Körperschaften bzw. der freiwilligen Unterwerfung, die der Anstaltsnutzung eignet30. Erst diese Kombination von Mitglieder- bzw. Nutzerpartizipation und demokratischer Legitimation ermöglicht es den Organisationen der funktionalen Selbstverwaltung, rechtsverbindliche Regeln zu erlassen. I I . Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer 1. Die Kammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften Grundsätzlich ist der Gesetzgeber frei darin, neben den kommunalen Körperschaften andere Einrichtungen zu schaffen, die ebenfalls als Körperschaften des öffentlichen Rechts bezeichnet werden können. Hierunter fallen durchaus variierende Organisationen, denen gemein ist, daß es sich bei ihnen um durch staatlichen Hoheitsakt geschaffene, mitgliedschaftlich verfaßte Organisationen des öffentlichen Rechts handelt, denen die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben mit in der Regel hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht übertragen ist 31 . Da Anknüpfungspunkt für die im Bereich der Wirtschaft vorfindlichen Körperschaften die spezifischen beruflichen und wirtschaftlichen Tätigkeitsmerkmale ihrer Mitglieder, nicht dagegen oder jedenfalls nicht vorrangig deren Wohn- oder Geschäftssitz sind, lassen sie sich im Gegensatz zu den kommunalen Gebietskörperschaften als Personalkörperschaften bezeichnen32. Das Recht zur Selbstverwaltung in Kammern genießen insbesondere die klassischen freien Berufe, zu denen auch die Wirtschaftsprüfer gezählt werden können33.
29 BVerfGE 33, 125 (157ff.); 76, 171 (187ff.); zu dieser Ausformung der Wesentlichkeitslehre genauer unten unter II. 2. c) cc). 30 Vgl. T. Groß, Kollegialprinzip, 154ff.; Kluth, Selbstverwaltung, 458 ff. sowie im einzelnen sogleich. 31 Statt vieler E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 183; Maurer, Verwaltungsrecht, §23 Rn. 37. 32 Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 30; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 6 Rn. 1; Tettinger, Kammerrecht, 106. Vgl. Brohm, FS v.Unruh, 777 ff. 33 Vgl. die Übersicht bei Tettinger, Kammerrecht, 4 ff. Zum Begriff des freien Berufes Buchholz, Zwang zur Freiheit, 8 ff.; Plantholz, Selbstverwaltung, 139ff.; Taupitz, Standesordnungen, 18 ff., speziell zu den Wirtschaftsprüfern dort, 418 ff. Ein Recht zur Selbstverwaltung kann aus Art. 12 GG allerdings nicht hergeleitet werden, statt vieler Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 12 Rn. 255.
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
a) Errichtung
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durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes
Die Errichtung der Körperschaften des öffentlichen Rechts ist nur durch einen staatlichen Rechtsetzungsakt möglich; sie muß durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen. Nach dem Prinzip des institutionellen Gesetzesvorbehalts sind die wesentlichen strukturellen Grundentscheidungen - Mitgliederkreis, Organisation, Aufgaben - bereits in dieser gesetzlichen Grundlage zu treffen 34. Der Körperschaftsstatus kann daher nicht durch einen bloßen privaten Willensakt der Mitglieder herbeigeführt werden 35. Diese Einteilung ist insoweit aufzuweichen, als lediglich der formale Akt der gesetzlichen Zuweisung des Körperschaftsstatus nicht zu ersetzen ist. Nicht entbehrlich ist hingegen die Bereitschaft der Privaten zur Mitarbeit. „Es handelt sich bei der Verkammerung um einen zweiseitigen Vorgang, da der Staat die Kapazitäten soziologisch vorstrukturierter Gruppierungen nutzt und diesen als Gegenleistung ein öffentliches Forum zur Artikulation ihrer Belange einräumt" 36 . Paradigmatisch für diese Zweiseitigkeit sind gerade die Steuerungsmechanismen der Wirtschaftsprüferkammer. „Die Herausbildung von Grundsätzen für die Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer ist weitaus stärker als bei anderen Berufen in wechselseitig sich beeinflussender Tätigkeit von privatrechtlichen Vereinigungen und staatlich eingesetzten Standesorganisationen erfolgt. [...] Private Institutionen wurden zu staatlichen Berufsorganisationen zusammengefaßt und später wieder aus dem hoheitlichen Bereich entlassen; vielfach bestanden auch parallele Organisationen, deren Aufgabenbereiche sich erheblich überschnitten" 37. In ihrer gegenwärtigen, seit 1961 bestehenden Organisationsform ist die Wirtschaftsprüferkammer gemäß § 411 WPO eine „zur Erfüllung der beruflichen Selbstverwaltungsaufgaben" errichtete Körperschaft des öffentlichen Rechts.
34
Kleine-Cosack, Autonomie, 259ff.; Tettinger, Kammerrecht, 94ff., 104. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 162; E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 183 f.; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, §6 Rn. 1; Maurer, Verwaltungsrecht, §23 Rn. 3; W. Weber, Körperschaften, 27 f. Prägnant Schmidt-Aßmann, GS Martens, 258: „Selbstverwaltung im Rechtssinne bildet sich aus gesellschaftlichen Vorgängen nur dort, wo das Recht die Zuordnung des betreffenden Bereichs zur organisierten Staatlichkeit vornimmt". Vgl. aber auch Kluth, Selbstverwaltung, 231 f. 36 Kleine-Cosack, Autonomie, 59 Fn.72. Ebenso Schuppert, FS v.Unruh, 189. 37 Taupitz, Standesordnungen, 418, der einen historischen Abriß folgen läßt, für den hier der Raum fehlt. Kurz und informativ insoweit auch die Broschüre „Die Wirtschaftsprüferkammer", 30 ff. 35
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
b) Rechtsfähigkeit Kein notwendiges Kennzeichen der Körperschaften ist hingegen ihre Rechtsfähigkeit 38 . Die Schaffung von teil- oder gar nichtrechtsfähigen Körperschaften ist nicht ausgeschlossen, denn das Grundgesetz bezeichnet in Art. 2814 (die „gewählten Körperschaften", also die Gemeinderäte) sowie in Art. 59 I I 1 (die „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften", also Bundestag und Bundesrat) nichtrechtsfähige Organisationen als Körperschaften 39. Allerdings beinhaltet die gesetzliche Errichtung einer Körperschaft in der Regel zugleich die Verleihung von Rechtsfähigkeit 40. Als von der unmittelbaren hierarchischen Staatsverwaltung abgesetzte Organisationseinheiten bedürfen sie dieser als Fundament der Selbständigkeit 41 . Auch die Wirtschaftsprüferkammer ist unstrittig rechtsfähig.
c) Mitgliedschaftliche
Organisationsstruktur
Tragendes Element der körperschaftlichen Selbstverwaltung ist ihre mitgliedschaftliche Verfaßtheit, die sie von anderen öffentlich-rechtlichen Organisationsformen unterscheidet und die konstruktive Nähe zu privatrechtlichen Vereinigungen begründet42. Von diesen trennt sie die Pflichtzugehörigkeit, die bei den Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Regel von Gesetzes wegen besteht43. Obwohl man dem Gesetzgeber hinsichtlich der Einbeziehung verschiedener Personengruppen in die Pflichtmitgliedschaft einen Gestaltungsspielraum zugestehen mag, wird doch - schon aus Gründen des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes - jedenfalls eine gewisse, ihn gegenüber der Allgemeinheit abgrenzende Homogenität des Mitglie38
Wolff/Bachofl Stober, Verwaltungsrecht II, § 84 Rn. 17 f.; vgl. aber Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 491; ähnlich Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 37; W. Weber, Körperschaften, 16f.; ders., FS Jahrreiß, 323 ff. 39 Wolff/BachoflStober, Verwaltungsrecht II, § 84 Rn. 17 f.; vgl. auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 92 f. Nach W. Weber, FS Jahrreiß, 324 fehlt den genannten Beispielen das entscheidende Charakteristikum der Körperschaften, als Zusammenschlüsse von Betroffenen zur Regelung der eigenen Verbandsangelegenheiten gebildet worden zu sein und hierin ihr ausschließliches Aufgabenfeld zu finden. Er schlägt vor, den zusätzlichen Terminus „Verbandseinheiten" einzuführen. 40 Tettinger, Kammerrecht, 105. 41 W. Weber, FS Jahrreiß, 323. 42 Tettinger, Kammerrecht, 106; ausführlich Hendler, Selbstverwaltung, 64ff.; Irriger, Genossenschaftliche Elemente, insbesondere 248 ff. 43 Die Pflichtmitgliedschaft stellt einen Eingriff in die sog. negative Vereinigungsfreiheit dar und erfordert daher in jedem Fall eine gesetzliche Regelung. Umstritten ist lediglich, ob Art. 21 G G - s o z.B. BVerfGE 10, 89 (102); 38, 281 (297); Maurer, Verwaltungsrecht, §23 Rn.43 m. w. N. - oder Art. 91 GG - so z. B. Hesse, Grundzüge, Rn. 413 f.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9 Rn. 90; Schöbener, VerwArch 91 (2000), 374 ff. m. w. N. - die einschlägige Maßstabsnorm bildet. Vgl. auch Sodan, Zwangsvereinigung, passim. Vgl. zuletzt BVerfG, Entscheidung vom 12.1.2002, 1 BvR 1806/98.
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
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derkreises zu fordern sein . Die mitgliedschaftliche Organisation ermöglicht binnendemokratische Strukturen. Die Körperschaften eignen sich damit besonders, dem Zusammenspiel von Eigenständigkeit und Entscheidungsteilhabe, das allgemein kennzeichnend für Selbstverwaltung ist, rechtliche Form zu verleihen, da sie sowohl Glieder der staatlichen Organisation zur Erledigung öffentlicher Aufgaben sind als auch die unmittelbar Betroffenen durch die Einräumung mitgliedschaftlicher Partizipationsrechte befähigen, Einfluß auf die Verwaltungstätigkeit auszuüben und somit die abgrenzbaren eigenen Angelegenheiten wahrzunehmen. Die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist daher als der Selbstverwaltungsidee besonders angemessene Organisationsform anzusehen45. Nach § 581 WPO (§ 2 Organisationssatzung) sind (Pflicht-)Mitglieder der Wirtschaftsprüferkammer die nach der WPO bestellten und anerkannten Wirtschaftsprüfer 46 und vereidigten Buchprüfer, die anerkannten Wirtschafts- und Buchprüfungsgesellschaften sowie deren Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer oder vertretungsberechtigte persönlich haftende Gesellschafter, sofern sie nicht selber bereits Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer sind, und schließlich auch die vorläufig bestellten Personen. Eine Besonderheit liegt in der vorgesehenen Einbeziehung der Wirtschafts- und Buchprüfungsgesellschaften als juristischen Personen des Privatrechts; zudem können gemäß § 58 II 1 WPO die genossenschaftlichen Prüfungsverbände, die Sparkassen- und Giroverbände für ihre Prüfungseinrichtungen sowie die überörtlichen Prüfungseinrichtungen für öffentliche Körperschaften freiwillig die Mitgliedschaft erwerben. Die Mitglieder sind gemäß § 4 der Organisationssatzung verpflichtet, die von der Wirtschaftsprüferversammlung gefaßten Beschlüsse zu beachten, umgekehrt berechtigt sie die Vorschrift auch zur Teilnahme an der Wirtschaftsprüferversammlung; dabei können die Gesellschaften nur durch Mitglieder vertreten werden. Für die Entscheidungsteilhabe bedeutsam ist ferner die Aufteilung in zwei Gruppen; dabei bilden die Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften die erste, der Rest der Mitglieder die zweite Gruppe 47. 44
Vgl. BVerfGE 13,97 (110); 39, 247 (255f.); Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 253,259ff.; Emde, Selbstverwaltung, 381; Irriger, Genossenschaftliche Elemente, 77 f.; Papenfuß, Körperschaften, 151; Tettinger, Kammerrecht, 108; Trute, Forschung, 212f. Abweichungen sind damit zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, sie bedürfen jedoch einer weitergehenden Begründung. 45 Schmidt-Aßmann, GS Martens, 261 ff.; ebenso Kluth, Selbstverwaltung, 235; Schuppert, FS v.Unruh, 183 ff.; ders., Körperschaften, 399f. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, §6 Rn. 4 spricht von „gesellschaftlicher Selbstverwaltung". 46 Die öffentliche Bestellung, der ein staatliches Zulassungs- und Prüfungsverfahren (§111 und 2 i.V. m. § 24 WPO) vorausgeht, ist ein Verwaltungsakt. Der genehmigungspflichtige Beruf des Wirtschaftsprüfers ist damit zwar „staatsnah"; er unterliegt jedoch nur mittelbarer Staatsaufsicht über die Kammer. Zum Status des Abschlußprüfers als Beliehenen i.E. ablehnend Ilching, Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, 349ff., 376ff. Vgl. näher unten unter 3.b). 47 Grundsätzlich sind alle Mitglieder einer Körperschaft berechtigt, entscheidungserheblichen Einfluß zu nehmen. Gruppenrepräsentation ist jedoch zulässig, um verschiedene Interessen innerhalb einer Körperschaft zum Ausgleich zu bringen, wobei die Zahl der jeweiligen Re-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
d) Doppelfunktion der Kammern Den berufsständischen Kammern eignet eine Doppelfunktion, die sich für die Wirtschaftsprüferkammer bereits § 571WPO entnehmen läßt 48 : Zum einen nehmen sie öffentliche Aufgaben wahr, so vor allem die Standesaufsicht, also die Selbstdisziplinierung der Berufsangehörigen und die Reglementierung des wettbewerblichen Verhaltens, und die Durchführung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen sowie gegebenenfalls Versorgungsaufgaben. Insoweit agieren sie hoheitlich anstelle staatlicher Behörden und unterliegen staatlicher Aufsicht. Zum zweiten dienen die Kammern der Interessenvertretung ihrer Mitglieder. Sie haben die Gesamtbelange der in ihnen zusammengeschlossenen Mitglieder zu wahren und nach außen zu vertreten 49 ; eine Aufgabe, die typischerweise von privaten Vereinigungen wahrgenommen wird. Die Etatisierung, die der Zusammenschluß in einer Kammer bedeutet, integriert die Mitglieder somit in den Staat und ermöglicht eine Selbststeuerung mittels hoheitlicher Maßnahmen. Zugleich werden die Mitglieder als Einheit konstituiert, deren hauptsächliches Gegenüber der Staat ist. 2. Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer Normgebung durch Kammern vollzieht sich im wesentlichen durch den Erlaß von Satzungen (a); daneben werden Kammern normsetzend tätig, wenn sie Richtlinien erlassen (b).
Präsentanten nicht proportional zur Anzahl der Gruppenangehörigen zu sein braucht, Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1 Rn. 200. Auch hier kommt dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum zu; bei der Einbeziehung verschiedener Gruppen ist jedoch in jedem Fall darauf zu achten, daß diesen jeweils die Möglichkeit zur Interessenartikulierung bleibt. 48 Kleine-Cosack, Autonomie, 54 f. Vgl. im einzelnen §5711 WPO, § 1 Organisationssatzung der WPK; weiter differenzierend Plantholz, Selbstverwaltung, 46 ff.; Tettinger, Kammerrecht, 129 ff. Zum zulässigen Aktionsfeld einer Kammer auch BVerwGE 112, 69 ff. 49 Vgl. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 164ff.; Schuppert, Verwaltungseinheiten, 104ff., 162 f.; dens., Verwaltungswissenschaft, 858 ff. Von der WPK erwartet bspw. nicht nur der Gesetzgeber Stellungnahmen, sondern auch Behörden und Gerichte nutzen sie als Ansprechpartner für gutachterliche Auskünfte. Die WPK ist außerdem im Konsultationsrat des DRSC vertreten. Soweit die Interessenvertretung sich nicht auf das Inland beschränkt, sondern die Mitarbeit in internationalen Gremien umfaßt (die WPK war Gründungsmitglied des 1973 ins Leben gerufenen IASC, trat 1984 der IFAC bei und nimmt regelmäßig an den Sitzungen des Committee on Auditing der EU teil, das sich aus RegierungsVertretern der Mitgliedstaaten und Vertretern der Berufsorganisationen zusammensetzt), wirken die nationalen Vertreter jedenfalls auch im gesamtstaatlichen Interesse.
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
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a) Erlaß von Satzungen Wegen ihres mitgliedschaftlichen Aufbaus, der es ihnen ermöglicht, einen eigenen Willen zu bilden, ist die autonome Satzungsgewalt gewissermaßen bei den öffentlich-rechtlichen Körperschaften „heimisch" 50 . Die in den Satzungen der sich auf Zwangsmitgliedschaft gründenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften enthaltenen Normen sind heteronom und mithin als Rechtsnormen zu charakterisieren 51. Da die Satzungsautonomie eine gesetzliche Grundlage erfordert, wird den Selbstverwaltungskörperschaften üblicherweise gesetzlich gesondert die Befugnis übertragen, ihre eigenen Angelegenheiten durch Satzung näher zu regeln 52. § 60 WPO ermächtigt zum Erlaß einer Satzung über die Organisation und Verwaltung der Wirtschaftsprüferkammer (Organisationssatzung). Diese enthält Verfahrens- und Organisationsanforderungen; sie besitzt wenig Regulierungswirkung gegenüber den Berufsangehörigen (vgl. deren §§3,4), zumal die grundlegenden Zuständigkeiten bereits durch die WPO festgelegt werden. In Ergänzung zur Organisationssatzung ist die Wirtschaftsprüferkammer mit der Einfügung von § 57 III, IV WPO durch das Dritte Gesetz zur Änderung der Wirtschaftsprüferordnung 53 zum Erlaß der Satzung über die Rechte und Pflichten bei der Ausübung der Berufe des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers (Berufssatzung) 54 ermächtigt worden. Die Berufssatzung statuiert in Konkretisierung der WPO und diese ergänzend rechtsverbindliche allgemeine wie besondere Berufspflichten. Gemäß § 57 c WPO erläßt die Wirtschaftsprüferkammer schließlich eine Satzung für Qualitätskontrolle. Diese beinhaltet im wesentlichen die Verfahrensregeln des nach §§ 57 äff. WPO vorgesehenen Systems der Qualitätssicherung und konkretisiert die Anforderungen an die Kontrolleure 55.
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So H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 282. Sie ist aber nicht auf diese beschränkt, vgl. nur Hendler, Selbstverwaltung, 279 ff. 51 Taupitz, Standesordnungen, 564; Tettinger, Kammerrecht, 187. Für die freiwilligen Mitglieder ergibt sich die Heteronomie aus der Mehrheitsbestimmung, vgl. F. Kirchhof Private Rechtsetzung, 267 ff. 52 Selbstverständlich eröffnet die Satzungsautonomie nicht die Möglichkeit, über das gesetzlich festgelegte hinaus eigenmächtig neue Aufgabenbereich zu erschließen, denn auch die Selbstverwaltungsbereiche stellen keine „Freiräume kreativer Illegalität" dar, Schmidt-Aßmann, GS Martens, 260. 53 BGB1.I 1994, 1569. 54 Vom 11.6.1996, in Kraft getreten am 15.9.1996; Bundesanzeiger 1996, 11077. Die WPK hat eine Begründung erlassen, die der Konkretisierung dienen soll, aber nicht Bestandteil der Satzung geworden ist, Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, 129 m. w. N. 55 Kritisch zum Verlust an Überschaubarkeit durch eine separate „zweite Berufssatzung" Niehus, DB 2000, 1137 f.
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b) Verabschiedung von Richtlinien Bis zum Jahre 1996 wurden die Bestimmungen der WPO durch die „Richtlinien für die Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer" (Berufsrichtlinien) konkretisiert. Nach dem Erlaß der Berufssatzung hat der Beirat der Wirtschaftsprüferkammer die Berufsrichtlinien aufgehoben. An der Ermächtigung zum Erlaß von Berufsrichtlinien gemäß § 57II Nr. 5 WPO, § 7 Ii) Organisationssatzung ist jedoch festgehalten worden. Die Kammer ist weiterhin berechtigt, zur Ausübung der Berufe des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers Richtlinien zu erlassen. Diese können hinsichtlich der Berufsangehörigen nur als unverbindliche Empfehlungen wirken 56 . Hinsichtlich der Wirtschaftsprüferkammer bewirken sie dagegen eine Selbstbindung dahingehend, daß ein in den Richtlinien für zulässig erachtetes Verhalten nicht berufsaufsichtlich aufgegriffen wird 57 . Zugunsten der Berufsangehörigen enthalten die Richtlinien daher eine die Kammer bindende Auslegung des Berufsrechts und schaffen für das Verfahren der Berufsaufsicht vor der Wirtschaftsprüferkammer Rechtssicherheit. Diese BindungsWirkung erstreckt sich zwar nicht auf die Berufsgerichte. Dennoch ist davon auszugehen, daß auch von diesen in der Regel einem sich an die Berufsrichtlinien haltenden Berufsangehörigen kein Vorwurf eines schuldhaften Verstoßes gegen Berufspflichten gemacht werden wird 58 . c) Legitimation Die Verbindung von besonderem Interesse mit besonderer Betroffenheit und besonderem Sachverstand muß mit der gemeinwohlrichtigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Einklang gebracht werden. Dies geschieht durch eine Kombination demokratischer und autonomer Legitimationselemente. aa) Demokratische Legitimation Die demokratische Komponente dient der Positionierung der Selbstverwaltung im Gesamtstaat und der Gemeinwohlsicherung; sie trennt die reine Mitgliederpartizipation von der Ermächtigung, im Rahmen des staatlich Zugelassenen Recht zu setzen. Sie ist ihrerseits mehrstufig gestaltet. Einen ersten Anknüpfungspunkt liefert der institutionelle Gesetzes vorbehält in Gestalt der Kammergesetze. Diese strukturieren die Körperschaften und legen bereits grundsätzliche Anforderungen an die Zusammensetzung (Zwangsmitgliedschaft), die Organisation und den Aufgabenbereich der Kammern fest 59. Speziell die in den Kammergesetzen vorgesehene Verlei56
BVerfGE 33, 125 ff.; 76, 171 (187 ff.). Ausführlich zum Rechtscharakter der Richtlinien Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, 130ff.; Taupitz, Standesordnungen, 636ff., 672ff. 57 Zur Selbstbindung der Verwaltung nur Ossenbühl, HStR III, §65 Rn.44ff. 58 Ähnlich Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, 138 ff. 59 Kleine-Cosack, Autonomie, 259 ff. m. w.N.
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hung von Satzungsautonomie bewirkt eine Rückbindung an das Gesamtvolk. Das Legitimationsniveau der rechtsetzenden Organe muß der Bedeutung der Regelungsmaterie korrespondieren; je intensiver daher die der Kammer übertragenen Regelungsbefugnisse sind, desto bestimmter muß die gesetzliche Ermächtigung sein. Die §§ 57, 57c und 60 WPO ermächtigen die Wirtschaftsprüferkammer zum Erlaß der Berufssatzung, der Satzung für Qualitätskontrolle und der Organisationssatzung. Des weiteren bedürfen Satzungen und ihre Änderungen in den meisten Fällen einer staatlichen Genehmigung. Diese - in der Regel durch die Aufsichtsbehörde zu erteilende - Genehmigung ist Wirksamkeitsvoraussetzung und zugleich Mittel der Staatsaufsicht 60. Die Satzungen der Wirtschaftsprüferkammer bilden keine Ausnahme: Die Organisationssatzung bedarf gemäß § 60 S. 2 WPO zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung durch das Bundeswirtschaftsministerium; die Satzung für Qualitätskontrolle hingegen der Genehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums im Einvernehmen mit dem Bundesjustizministerium, § 57 c 12 WPO. Die Berufssatzung wird nicht ausdrücklich genehmigt; sie tritt gemäß § 57 III 2 WPO drei Monate nach Übermittlung an das Bundeswirtschaftsministerium in Kraft, sofern dieses keine Beanstandungen vorgenommen hat. In der Sache handelt es sich auch hierbei um einen Genehmigungsvorbehält, bei dem das Schweigen die Genehmigung ersetzt 61. Die WPO enthält keine expliziten Angaben darüber, ob diese Genehmigungen sich nur auf die Rechtmäßigkeit der Satzungen beziehen oder ob der Aufsichtsbehörde ein Genehmigungsermessen zukommt, das auch Zweckmäßigkeitserwägungen miteinschließt. Es bietet sich an, auf den allgemeinen Aufsichtsmaßstab abzustellen. Es liegt in der Natur der Auslagerung aus dem Bereich des unmittelbar staatlich Verwalteten, daß die staatliche Verantwortung nicht in vollem Umfang bestehen bleibt. Die Staatsaufsicht ist bei der Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben daher grundsätzlich nur Rechtsaufsicht 62; Fachaufsicht bedarf gesonderter gesetzlicher Ermächtigung. Entsprechend führt gemäß § 66 WPO das Bundeswirtschaftsministerium die Aufsicht über die Wirtschaftsprüferkammer als Rechtsaufsicht; geprüft wird lediglich, ob sich die Wirtschaftsprüferkammer bei der Erfüllung der ihr zugedachten Aufgaben gesetzes- und satzungsgemäß verhält. Legt man diese Maßstäbe auch auf den Genehmigungsvorbehalt an, wäre dieser nur Mittel vorbeugender Legalitätskontrolle und entfaltete kaum legitimierende Wirkung. Teilweise wird der Genehmigungsvorbehalt weitergehend auch dazu verwandt, ein (begrenztes) sachliches Mitwirkungsrecht des Staates zu kreieren 63. Ein solches soll vor allem dort 60 H.Schneider, Gesetzgebung, Rn.289; vgl. Kleine-Cosack, Autonomie, 212 („Aufsichtsinstrument"). 61 Zum Schweigen im Verwaltungsrecht allgemein Jachmann, Fiktion, speziell zur Genehmigungsfiktion kraft beanstandungslosen Zeitablaufs dort, 281 ff. 62 Statt vieler Krebs, HStR III, § 69 Rn. 42; Ossenbühl, HStR III, § 66 Rn. 54; Wolff/Bachofl Stober, Verwaltungsrecht II, § 84 Rn. 39. Kriterien zur Bestimmung des Aufsichtsmaßstabs bei Kaltenborn, VSSR 2000,249 ff. (Wortlaut und Systematik, Rechtsnatur, Selbstverwaltung, Legitimationsdefizite) . 63 In diesem Sinne Kleine-Cosack, Autonomie, 212 Fn. 6; H. Schneider, Gesetzgebung, Rn.290 ff.
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gerechtfertigt sein, wo sich die im öffentlichen Interesse von den Selbstverwaltungsträgern wahrgenommenen Aufgaben mit staatlichen Aufgaben dergestalt überschneiden, daß eine nähere Koordination erforderlich ist, die durch Einflußnahme im Rahmen der Genehmigung sachnäher erfolgen könne als durch Gesetzesänderungen 64. Diese Überlegungen sind abzulehnen. Ist Einigkeit darüber erzielt, daß das der Selbstverwaltung eigene Aufsichtsmaß die Rechtmäßigkeitskontrolle ist, kann diese grundlegende Erwägung nicht durch Sacherfordernisse im Einzelfall wieder in Frage gestellt werden. Die Wertung als „milderes Mittel" gegenüber genaueren gesetzlichen Vorgaben verkennt, daß nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung entsprechende Schritte nicht dem Aufsichtsorgan, sondern nur dem Gesetzgeber zustehen65. Es muß daher - sofern nicht im Einzelfall eine besondere gesetzliche Befugnis besteht - dabei bleiben, daß die Genehmigungsbehörde nur prüft, ob die ihr vorgelegte Satzung in dem dafür vorgesehenen Verfahren ordnungsgemäß zustande gekommen ist und inhaltlich mit dem übergeordneten Recht, vor allem mit den Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage, in Einklang steht. Die dadurch schwache Effektivität und Legitimationswirkung mag man bedauern; sie ist als systemimmanent hinzunehmen. Die vorstehenden Ausführungen erlauben Rückschlüsse auf die geringe Bedeutung der Rechtsaufsicht als Legitimationsfaktor, denn diese stellt keine gegenüber den ohnehin geltenden gesetzlichen Bestimmungen weiterreichenden Anforderungen auf. Teilweise wird daher die Möglichkeit der Legitimationsvermittlung durch die Rechtsaufsicht (als bloße Kontrollfunktion) bestritten 66. Andere bezeichnen sie dennoch als „unverzichtbares Instrument zur Aufrechterhaltung des Zurechnungszusammenhangs zwischen den Entscheidungen der Selbstverwaltungsorgane und dem Staatsvolk"; Fachaufsicht soll dagegen lediglich als komplementärer Legitimationsverstärker wirken 67 . Dem ist zuzustimmen, denn auch wenn der Prüfungsmaßstab gleichbleibt, darf doch nicht übersehen werden, daß mit der Aufsichtsbehörde ein weiteres, demokratisch legitimiertes Organ hinzutritt; das Kontroll Verhältnis zwischen Aufsichtsstelle und Selbstverwaltungskörperschaft ist ein anderes als das Verhältnis zwischen Körperschaft und parlamentarischer Gesetzgebung. Neben der Kontroll- und der Schutzfunktion der Aufsicht ist deshalb auch deren Legitimationsfunktion anzuerkennen68. Die Formel von der Rechtsaufsicht als Selbstverwal64
H.Schneider, Gesetzgebung, Rn.292f. Anderes ergibt sich auch nicht aus der abweichenden Regelungstechnik, wie sie bspw. § 57 III 2 WPO zugrundelegt. Hieraus zu folgern, eine solche bloße Vorlagepflicht mit Beanstandungsmöglichkeit sei zur Gewährleistung von Rechtsaufsicht ausreichend, ergo müsse die Statuierung eines Genehmigungsvorbehalts eine weitergehende Bedeutung besitzen, stellt einen unzulässigen Schluß von der Methodik eines Rechtssatzes auf dessen Inhalt dar. Es verkennt zudem, daß dem Schweigen (verwaltungs)rechtliche Bedeutung zukommen kann, vgl. ausführlich wiederum Jachmann, Fiktion, 64 ff. 66 Kluth, Selbstverwaltung, 271 f. 67 Emde, Selbstverwaltung, 378 ff. 68 Zum. als zusätzlicher, kompensatorischer Legitimationsfaktor, vgl. Böckenförde, HStR I, § 22 Rn. 34; Jestaedt\ Demokratieprinzip, 547f.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 358; Tru65
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tungskorrelat 69 gilt nicht nur aus rechtsstaatlicher, sondern auch aus demokratischer Perspektive. bb) Autonome (mitgliedschaftliche) Legitimation Aufgrund der defizitären demokratischen Legitimation ist als zweites, komplementäres Element autonome Legitimation zu fordern. Die mitgliedschaftliche Organisation der Körperschaften ermöglicht die personalisierte Bezugnahme auf die Normunterworfenen. Die Mitglieder bilden ein „ Verbands volk", auf das die i m Rahmen der demokratischen Legitimation für das Gesamtvolk entwickelten Grundsätze entsprechend anwendbar sind 7 0 . Sie setzen entweder selber Recht, oder sie bestimmen Repräsentanten, die als ihr „verlängerter A r m " agieren 71 . Die normsetzenden Organe müssen sich jedenfalls mittelbar auf die Mitglieder zurückführen lassen; es muß eine ununterbrochene Legitimationskette bestehen. Hieraus folgt die Notwendigkeit der Existenz eines alle Mitglieder umfassenden oder durch gleichberechtigte Wahl aller Mitglieder gewählten 72 Kollegialorgans, in dem die Mitglieder zusammengefaßt oder repräsentiert werden und dem gegenüber alle anderen Organe verantwortlich sind. Regelmäßig wird bereits durch das errichtende Gesetz ein durch die Mitglieder gebildetes oder direkt zu wählendes Hauptorgan verlangt. Auch die te, Forschung, 466f. Vgl. zu Funktionen der Aufsicht allgemein Pitschas, DÖV 1998, 907 ff.; Schuppen, DÖV 1998, 831 ff. 69 Gröschner, Überwachungsrechtsverhältnis, 52; Kahl, Staatsaufsicht, 384ff.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle, 29; Tettinger, Kammerrecht, 128. Vgl. für die kommunale Selbstverwaltung bereits BVerfGE 6, 104 (118). Kritisch, aber grds. zustimmend Kluth, Selbstverwaltung, 273. 70 Grundlegend BVerfGE 38, 258 (271); 47, 253 (272ff.). Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Binnenorganisation der Selbstverwaltungsträger Kluth, Selbstverwaltung, 458 ff.; Tettinger, Kammerrecht, 96ff. 71 Clemens, FS Böckenförde, 265. Hieraus folgt auch, daß eine Außenseiterbindung grundsätzlich nicht oder jedenfalls nur in Ausnahmefällen zulässig ist, so Clemens, FS Böckenförde, 270 f. (der aber, wiewohl er einen solchen Ausnahmefall lediglich dann für gegeben hält, wenn „nur einzelne Betroffene einbezogen werden und dies der Abrundung des Geltungsbereichs der Rechtsnorm dient", in concreto zugleich eine Bindung der Versicherten durch die Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen bejaht; hiergegen überzeugend LSG Niedersachsen, NZS 2001, 35 f.; Ossenbühl, Krankenversicherung, v. a. 68 ff. sowie Schmidt-Aßmann, Gesundheitsfürsorge, 91 ff.; anders aber Axer, Normsetzung, 117 ff., 391 ff.). Voraussetzung einer Außenseiterbindung ist eine entsprechende gesetzliche Regelung, so z.B. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 258 f.; Kleine-Cosack, Autonomie, 262ff., v. a. 266ff.; Ossenbühl, HStR III, §66 Rn.32f.; Sachs, VerwArch 74 (1983), 45f. Zum Ganzen ausführlichPapenfuß, Körperschaften, 134ff., insbes. 176ff. Unklar insoweit Kluth, Selbstverwaltung, 495, 504f. 72 Grundsätzlich sind hierbei die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 3812 GG einzuhalten; ein bestimmtes Wahlsystem ist dagegen nur ausnahmsweise vorgeschrieben. Umstritten ist die Zulässigkeit der sog. Friedens wähl, bei der die eigentliche Wahlhandlung ausbleibt, wenn sich nicht mehr Bewerber melden, als Posten zu vergeben sind. Vgl. hierzu aus jüngster Zeit zur Verfassungswidrigkeit einer Friedenswahl zur Vollversammlung einer Handwerkskammer VGH Baden-Württemberg, GewArch 1998, 65 ff.; anders noch VGH Baden-Württemberg, GewArch 1976, 193 (194); vgl. Tettinger, Kammerrecht, 112.
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Willensbildung innerhalb dieses Gremiums muß demokratischen Grundsätzen genügen. Sonderrechte einzelner Gruppen innerhalb der Kammerorganisation bedürfen spezieller verfassungsrechtlicher Rechtfertigung 73. Gerade die Wirtschaftsprüferkammer weist zudem mit der Möglichkeit der freiwilligen Mitgliedschaft eine Besonderheit auf. Während die autonome Legitimation der Körperschaften grundsätzlich auf der Zwangsmitgliedschaft fundiert, weist die freiwillige Unterwerfung auf die legitimatorischen Elemente der Vereinssatzung. An dieser Stelle zeigt sich noch einmal deutlich die Verschränkung der nur scheinbar trennscharfen Bereiche des öffentlichen und des bürgerlichen Rechts. Das oberste Organ der Wirtschaftsprüferkammer ist die aus der Gesamtheit der Mitglieder 74 bestehende Wirtschaftsprüferversammlung. Gemäß §60 S. 1 WPO beschließt sie die Organisationssatzung. Daneben obliegt ihr gemäß § 6 Organisationssatzung insbesondere die Wahl der Mitglieder des Beirats, die Entgegennahme von Berichten des Vorstands sowie gegebenenfalls - mit qualifizierter 2/3-Mehrheit - die Vornahme von Änderungen der Organisationssatzung. In der Wirtschaftsprüferversammlung sind grundsätzlich alle Mitglieder stimmberechtigt; der Bundeswirtschaftsminister sowie die entsprechenden obersten Landesbehörden können Vertreter entsenden, die an den nicht öffentlichen Sitzungen ohne Stimmrecht teilnehmen dürfen 75. Weitere Organe der Wirtschaftsprüferkammer sind gemäß § 59 WPO der Vorstand 76 und die Kommission für Qualitätskontrolle 11. Wichtigstes normsetzendes 73
Schmidt-Aßmann, GS Martens, 263. Die Gesamtzahl liegt bei rund 17.000 Mitgliedern, vgl. die Informationsbroschüre „Die Wirtschaftsprüferkammer", 21 (Stand: Januar 2000). Besonderer Vorschriften zur Organbildung bedarf es nicht, da sich diese bereits aus den Vorschriften über die Mitgliedschaft ergeben. 75 Es stellt sich daher in diesem Fall gar nicht die sonst problematisierte Frage, ob es ausreicht, wenn die Repräsentanten der Normunterworfenen die Mehrheit in dem normsetzenden Gremium bilden, hierzu Clemens, FS Böckenförde, 275 f. unter Berufung auf Böckenförde; Schmidt-Aßmann, Gesundheitswesen, 67 m. w. N. 76 Aufgabe des Vorstands ist die allgemeine Leitung der WPK, § 8 Organisationssatzung. Er übt im Rahmen der Berufsaufsicht nach § 63 WPO das Rügerecht aus und ist generell für alle Entscheidungen und Maßnahmen zuständig, die nicht ausdrücklich anderen Organen zugewiesen sind. Der Vorstand als Organ kann sich nicht auf eine direkte institutionelle Legitimation durch die Wirtschaftsprüferversammlung berufen, sondern wird (wiederum im Verhältnis der Gruppen zur Mitgliederzahl der WPK) durch den Beirat gewählt; es besteht aber eine unmittelbare personelle Legitimation insoweit, als die Beiratsmitglieder die 13 Mitglieder des Vorstands aus ihrer Mitte wählen. 77 Diese ist wie der Vorstand mit echten Entscheidungsbefugnissen ausgestattetes Organ der WPK und zuständig für das Qualitätskontrollverfahren. Die Kommissionsmitglieder werden auf Vorschlag des Vorstandes durch den Beirat der WPK gewählt. Das erreichte Legitimationsniveau entspricht dem des Vorstandes. Bedenken könnten sich allenfalls aus der in § 57 e 12 WPO statuierten Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Kommissionsmitglieder ergeben. Im Bereich der allgemeinen Staatsverwaltung sind derartige weisungsfreie Räume nur ausnahmsweise möglich und werden als besonders rechtfertigungsbedürftig erachtet, Krebs, HStR III, § 69 Rn. 82. Diese für die klassische Ministerialverwaltung entwickelten Überlegungen sind indes nicht direkt auf Selbstverwaltungsstrukturen übertragbar, die nicht über denselben 74
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Organ ist der Beirat. Zu seinen weitgefaßten Aufgaben gehört vor allem die Feststellung der vom Vorstand ausgearbeiteten Richtlinien für die Berufsausübung sowie der Beschluß der Berufssatzung 78 und der Satzung für Qualitätskontrolle 79 . Die 65 Beiratsmitglieder werden gemäß § 59 I I WPO i. V. m. § 61 a) Organisationssatzung von der Wirtschaftsprüferversammlung nach einem Verfahren gewählt, in dem die Wahl nach Gruppen getrennt erfolgt. Hiermit soll sicherstellt werden, daß die unterschiedlichen in der Wirtschaftsprüferkammer vereinten Gruppen auch tatsächlich i m Beirat hinreichend repräsentiert werden. Mindestens ein Mitglied mehr als die Hälfte muß der Gruppe der Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften angehören 80 . Stimmberechtigt sind dabei gemäß § 6 I V Organisationssatzung alle Mitglieder außer den vorläufig bestellten Personen sowie denjenigen, deren M i t -
hierarchischen Aufbau verfügen, vgl. (zum ähnlich gelagerten Fall der Mitglieder des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen gem. SGB V) Clemens, MedR 1996, 435. Weisungsbefugt könnten zudem nur Vorstand oder Beirat sein. Der Beirat erscheint hierzu angesichts seiner Natur als selten tagendes Repräsentativorgan strukturell ungeeignet. Sein Einfluß beschränkt sich daher auf den Beschluß der Satzung für Qualitätskontrolle, die nach § 57 c II Nr. 5 WPO auch nähere Vorgaben für die Maßnahmen der Kommission für Qualitätskontrolle zu enthalten hat. Eine Weisungsbefugnis des Vorstandes wäre nicht deshalb sinnlos, weil der Vorstand über keine gegenüber der Kommission höhere Legitimation verfügt (so aber Kluth, DStR 2000,1932), denn die Vorstandsmitglieder stammen aus den Reihen der direkt durch die Wirtschaftsprüferversammlung gewählten Beiratsmitglieder. Ihr steht aber die damit drohende Einebnung der „externen" Kontrolle und das Selbstbelastungsverbot, das eine Trennung zwischen Kommission und dem für die Berufsaufsicht zuständigen Vorstand verlangt, entgegen, vgl. BR-Drucks. 255/00, 64. Gem. § 57 f WPO ist bei der WPK ein Qualitätskontrollbeirat einzurichten. Seine Aufgaben sind die Überwachung der Angemessenheit und Funktionsfähigkeit des Systems für Qualitätskontrolle im Interesse der Öffentlichkeit, die Abgabe von Empfehlungen zur Fortentwicklung und Verbesserung des Systems sowie die Erstellung eines jährlichen öffentlichen Berichts. §59 WPO zählt ihn nicht zu den Organen der WPK. Das folgt zwar noch nicht daraus, daß er weitgehend lediglich beratende und informierende Tätigkeiten wahrnimmt, denn für die Organqualität kann es nicht auf das Vorhandensein von Entscheidungsbefugnissen ankommen, Kluth, DStR 2000, 1932 Fn.42. Der Qualitätskontrollrat wurde aber bewußt als außerhalb der WPK angesiedeltes Gremium konstruiert, dessen Mitglieder nicht gleichzeitig Mitglieder der WPK sein dürfen, sondern „insbesondere in den Bereichen Rechnungslegung, Finanzwesen, Wissenschaft oder Rechtsprechung tätig oder tätig gewesen sind" (§ 57 f 11 WPO; Niehus, WPg 2000, 459 hält dennoch eine eigene berufliche Erfahrung für förderlich und will daher insbesondere ehemalige Berufsangehörige zulassen. Das läßt der Wörtlaut des § 57 f WPO zu, der nur eine beispielhafte Aufzählung enthält. Kritisch zur Besetzung Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 703). Dem Qualitätskontrollbeirat soll eine neutrale Stellung zukommen. Dem entspricht es, daß die Mitglieder zwar vom WPK-Beirat auf Vorschlag des Vorstandes für eine Amtsdauer von 4 Jahren gewählt werden - wobei das aufsichtsführende Bundeswirtschaftsministerium ein Vetorecht besitzt, § 5713 WPO - , sie aber von der WPK unabhängig und nicht weisungsgebunden sind, §59f IV WPO; vgl. Niehus, WPg 2000, 459; kritisch zum Vetorecht ders., DB 2000, 1142. Der Qualitätskontrollbeirat ist daher kein Organ der WPK; er wird jedoch bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben von dieser personell und sachlich unterstützt. 78 § 57III 12. HS WPO; §7Ic), i), 1) Organisationssatzung. 79 §57c 112.HS WPO. 80 §7113 Organisationssatzung. Vgl. Stern, WPK-Mitteilungen 1994, 85 ff.
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gliedschaft ruht. Der Beirat selbst ist beschlußfähig, wenn mindestens die Hälfte seiner Mitglieder anwesend ist; Beschlüsse werden im allgemeinen mit einfacher Mehrheit gefaßt 81. Der Beschluß der Satzungen setzt eine 2/3-Mehrheit voraus 82.
cc) Grenzen der autonomen Rechtsetzungsbefugnis Aus dem Vorgesagten ergibt sich unzweifelhaft die hinreichende Legitimation der auf organisatorische und prozedurale Regelungen beschränkten Organisationssatzung. Problematischer sind diesbezüglich die Berufssatzung und die Satzung für Qualitätskontrolle, die grundrechtsrelevante Vorschriften insbesondere in Hinblick auf Art. 121 GG enthalten. In seinem Beschluß vom 9. Mai 197283 hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals ausführlich mit den Möglichkeiten der Normsetzung durch berufsständische Körperschaften befaßt. Das Gericht gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die traditionelle Praxis einer globalen Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen durch das Parlament an berufsständische Selbstverwaltungseinheiten nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Dabei nimmt es Bezug sowohl auf das Rechtsstaats- als auch das Demokratieprinzip als auch die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Von Verfassungs wegen dürfe sich der Gesetzgeber seiner Rechtsetzungsmacht nicht völlig entäußern und seinen Einfluß auf den Inhalt der von den Körperschaften erlassenen Normen nicht zur Gänze preisgeben. Der Gesetzesvorbehalt sei auch Ausdruck der staatlichen Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen zu sein. Gleichzeitig erkennt das Gericht den Wert der Selbstverwaltung an, die es als gleichfalls im demokratischen Prinzip verwurzelt erachtet. Die Kontroverse ist somit auf der Ebene desselben Verfassungsprinzips zu führen. Das Bundesverfassungsgericht zieht hieraus den Schluß, daß nach der Intensität der Regelung differenziert werden müsse und folgert für den konkreten Anwendungsfall des Art. 12 GG, daß die grundlegenden, sog. statusbildenden Normen durch förmliches Gesetz festzulegen sind 84 . Die von den Kammern erlassenen Satzungen, die in den grundrechtlich geschützten Bereich des Art. 121 GG ihrer Mitglieder hineinwirken, bedürfen demnach einer hinreichend deutlichen gesetzlichen Ermächtigung, die die Grundzüge das Regelungsprogramms vorgibt. Zusätzlich müssen die Satzungsbestimmungen den allgemeinen an grundrechtsbeschränkende Normen gestellten ma81
§7 V 1 bzw. 2 i.V.m. §6V Organisationssatzung. § 7 V 4 Organisationssatzung. 83 BVerfGE 33, 125 ff.; dazu ausführlich Ossenbühl, HStR III, §66 Rn.26ff.; Plantholz, Selbstverwaltung, 130 ff. Speziell zur WPK Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, 112 ff., der sich insbesondere auch mit einzelnen Stimmen des Schrifttums auseinandersetzt, die eine Übertragung der Entscheidung auf die WPK wegen der fehlenden Vergleichbarkeit mit der BRAK ablehnen. 84 BVerfGE 33, 125 (163); 38, 373 (381); zustimmend z.B. Kleine-Cosack, Autonomie, 278 f., der darin eine die Schwächen der Stufentheorie ausgleichende Terminologie erblickt. 82
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teriellen Anforderungen, namentlich hinsichtlich ihrer Bestimmtheit, entsprechen85. In Fortführung dieser Rechtsprechung hat das Gericht später die verfassungsrechtliche Zulässigkeit grundrechtseinschränkender Berufsrichtlinien verneint 86. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts ist, soweit sie sich auf Grundrechtseingriffe bezieht, kritisch zu würdigen. Satzungen betreffen vor allem Grundrechte der Mitglieder, die mit den normsetzenden Grundrechtsverpflichteten identisch oder doch eng verbunden sind. Diese (partielle) Identität hat Auswirkungen auf die Bestimmung der Wesentlichkeit. Der freiheitlichen Intention des Art. 121 GG entspricht es eher, wenn berufsrelevante Regelungen nicht allein durch den parlamentarischen Gesetzgeber oder andere staatsunmittelbare Organe, sondern im Wege der Selbstverwaltung durch die betroffenen Berufsangehörigen erlassen werden. Satzungen sind geeignet, der Berufsfreiheit zusätzlichen Spielraum zu eröffnen; die unmittelbare Teilhabe an der Rechtsetzung ermöglicht es dem einzelnen, auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen seiner freiheitlichen Berufsausübung größeren Einfluß zu nehmen, als dies bei einer gesetzlichen Regelung der Fall wäre. Im Rahmen der Selbstverwaltung erlassenes, autonomes Berufsausübungsrecht begrenzt das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht nur, sondern „effektuiert" es auch87. Weitergehenden Grundrechtsschutz können Verfahrensregelungen leisten, die Interessenberücksichtigung und Transparenz des Entscheidungsprozesses vorschreiben. Minderheiten können insbesondere in effektiver Weise durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheitswahl geschützt werden. Schließlich bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, im Falle der Schlechterfüllung durch die Selbstverwaltungsträger einzuschreiten und eigene Gesetze zu erlassen. Das Parlament kann eingreifen, es muß dies aber nicht. Soweit der Beschluß auf die demokratische, rechts staatliche und gemeinwohlsichernde Dimension des Gesetzesvorbehalts abstellt, ist ihm darin beizupflichten, daß sich der Staat nicht durch die Gewährung einer umfassenden Autonomie seiner Regelungsverantwortung gänzlich entziehen kann. Das folgt im Grundsatz bereits aus der Erkenntnis, daß es sich bei Satzungsrecht um abgeleitete Rechtsetzungsmacht handelt. Autonome Satzungen weisen nicht die gleiche demokratische Qualität auf wie förmliche Gesetze und können diese daher nur partiell, nicht aber sek85
BVerfGE 45, 346 (351 ff.). Vgl. Schmidt-Aßmann, GS Martens, 261, der eine den Anforderungen des Art. 8012 GG vergleichbare Bestimmtheit fordert. 86 BVerfGE 76,171 (188); 76, 196 ff. Es handelte sich dabei aber um eine grundsätzlich anders gelagerte Fragestellung. Die Zulässigkeit die Berufsausübung einschränkender Satzungen wird in diesen Entscheidungen ausdrücklich anerkannt; § 43 BRAO a. F. enthielt aber gerade keine dahingehende Ermächtigung. 87 Taupitz, Standesordnungen, 23. Entsprechend sieht auch Kluth, Selbstverwaltung, 501 ff. in den Satzungen das gegenüber einer gesetzlichen Regelung „mildere Mittel", da sie weniger Fremdbestimmung durch andere Gruppen- und Allgemeininteressen ausgesetzt seien und sich ein „Interpretations- und Auslegungsvorrang der in den Trägern der funktionalen Selbstverwaltung organisierten Grundrechtsträger" begründen ließe, der „ihre Regelungszuständigkeiten im grundrechtsintensiven Bereich weitgehend legitimiert".
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toral ersetzen. „Demokratie ist zwar ohne Selbstverwaltung, aber Selbstverwaltung ist nicht ohne demokratische Verfaßtheit denkbar" 88. Demgemäß handelt es sich auch nicht um ein Paradox, wenn die „ureigensten eigenen Angelegenheiten" der Selbstverwaltung entzogen werden 89. Vielmehr sind es gerade diese grundlegenden Vorschriften, die die Interessen anderer und des Gesamtstaates berühren. Dabei ist es im Sinne eines präventiven Vorgehens durchaus zulässig, befürchtete Gefährdungen der Allgemeinheit als Erwägung heranzuziehen90. Angesichts der Bedeutung des Wirtschaftsprüferberufes für die Reputation der deutschen Wirtschaft insgesamt kommt man nicht umhin, eine die Qualität sichernde Gesetzgebung zu unterstützen. Eine Regelungspflicht nur bei Nachweis konkreter Gefährdungen zu fordern, bedeutet, möglicherweise nur schwer wiedergutzumachende Schäden in Kauf zu nehmen. Die Nähe der Gefahr ist nicht so sehr eine Frage der Regelungsebene als vielmehr der inhaltlichen Rechtmäßigkeit. Ob man letztlich, wie es das Bundesverfassungsgericht getan hat, auf die Unterscheidung zwischen statusbildenden und statusausfüllenden Normen abstellt oder andere Kriterien heranzieht 91, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. Denn die hier zu prüfenden Vorschriften der WPO und der Satzungen der Wirtschaftsprüferkammer erfüllen - nach der Novellierung der WPO im Jahre 1994 - die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Während statusbildende Normen, d. h. die wesentlichen prägenden Vorschriften über die Ausübung des Berufes, in den §§43 ff., 57IV WPO geregelt sind, enthält die Berufssatzung statusausfüllende Normen. Neben der Konkretisierung der allgemeinen Berufspflichten (Unabhängigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verschwiegenheit, Eigenverantwortlichkeit und berufswürdiges Verhalten) in ihrem Teil 1 bildet die Berufssatzung der Wirtschaftsprüferkammer Schwerpunkte bezüglich der besonderen Berufspflichten in den Teilen 2 bis 5 (z. B. bezüglich der Durchführung von Prüfungen und der Erstattung von Gutachten, der beruflichen Zusammenarbeit und Werbung sowie der Qualitätssicherung). Auch § 57 a WPO enthält bereits die grundlegenden Anforderungen, welche 88
Schmidt-Aßmann, GS Martens, 257. So aber Kluth, Selbstverwaltung, 503. 90 Kluth, Selbstverwaltung, 500 kritisiert hingegen, daß das BVerfG es versäumt habe darzutun, inwieweit die möglichen Gefährdungen der Allgemeinheit und Minderheiten innerhalb der Normadressaten bereits konkret geworden wären. 91 Gegenüber Mitgliedern soll auch der Erlaß statusbildender Vorschriften auf dem Satzungswege möglich sein, so Kluth, Selbstverwaltung, 503 mit ausdrücklichem Hinweis darauf, daß damit kein Widerspruch zu den Ausführungen des BVerfG liege, die sich nur auf Regelungen gegenüber Außenseitern bezögen. In der Literatur sind weitergehende allgemeine Kategorien entwickelt worden; neben der Grundrechtsrelevanz sind dies v. a. die Größe des Adressatenkreises, die finanziellen Auswirkungen und die mögliche Konkretisierung offenen Verfassungsrechts. Diesen stehen positive Indikatoren der Delegierbarkeit von Rechtsetzungsaufgaben gegenüber, die u. a. Flexibilitätserfordernisse, Entlastungsbedürfnis und fehlenden Sachverstand umfassen, vgl. ausführlich Kluth, Selbstverwaltung, 491 ff. m. w.N.; M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 106ff.; Staupe, Parlamentsvorbehalt, 239ff., 262ff. 89
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gemäß § 57 c II WPO durch die Satzung für Qualitätskontrolle lediglich näher auszugestalten sind92. Insbesondere soll demnach geregelt werden das Registrierungsverfahren, Ausschlußgründe, das Verfahren innerhalb der Wirtschaftsprüferkammer sowie die Maßnahmen der Kommission für Qualitätskontrolle. Für beide Satzungen gilt schließlich eine qualifizierte 2/3-Mehrheit, so daß auch prozedural Minderheitenschutz gewährleistet wird. d) Revisibilität Als Ausübung öffentlicher Gewalt unterliegen die Satzungen der Selbstverwaltungsträger der Rechtsschutzgarantie des Art. 19IV GG 93 . Hinsichtlich der Kontrolle der Satzungen kann unterschieden werden zwischen der Prüfung durch die Berufsgerichte (aa) und der durch die Verwaltungsgerichte (bb). aa) Berufsgerichtsbarkeit Bei schwerwiegenden Verstößen gegen berufsrechtliche Pflichten, die nicht mehr dem Rügerecht des Vorstands (§ 63 WPO) unterliegen, wird der Vorgang mit einem Votum des Vorstands an die zuständige Ermittlungsbehörde (Staatsanwaltschaft beim Kammergericht) zur Einleitung eines berufsgerichtlichen Verfahrens weitergeleitet. Die möglichen berufsrechtlichen Sanktionsmaßnahmen reichen von einer bloßen Warnung bis hin zu einem Berufsausschluß. Die Berufsgerichtsbarkeit wird durch besondere Kammern und Senate für Wirtschaftsprüfungssachen an den ordentlichen Gerichten ausgeübt94; dabei hat die Wirtschaftsprüferkammer gemäß § 57 II Nr. 11 WPO das Recht, ehrenamtliche Beisitzer für die Besetzung der Berufsgerichte vorzuschlagen95. Im Rahmen der ihnen zugeleiteten Verfahren können die Berufsgerichte inzident auch die Rechtmäßigkeit der einschlägigen Satzungsvorschriften prüfen.
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Kluth, DStR 2000, 1931. Vgl. nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Art. IV Rn. 53 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 19IV Rn. 37. 94 Erstinstanzlich ist zuständig die Kammer für Wirtschaftsprüfungssachen beim Landgericht Berlin; die zweite Instanz bildet der Senat für Wirtschaftsprüfungssachen beim Kammergericht und in dritter Instanz ist der Senat für Wirtschaftsprüfungssachen beim BGH zuständig. 95 Die Einrichtung eigener Berufsgerichte bei berufsständischen Kammern ist hingegen nur dann zulässig, wenn der Staat an der Berufung der Richter beteiligt ist, BVerfGE 18, 241 (253f.); 48, 300 (315f.); Maurer, Verwaltungsrecht, §23 Rn.44; Tettinger, Kammerrecht, 197. 93
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bb) Verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Satzungen Für Streitigkeiten abseits der disziplinarrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen die Berufspflichten 96 sind gemäß § 40 VwGO die Verwaltungsgerichte zuständig97. Die Verortung der Selbstverwaltung als Teil der Exekutive bewirkt eine gegenüber der gesetzlichen Steuerung erleichterte Justitiabilität der Satzungen. Auch ist die Intensität der gerichtlichen Kontrolle nicht bereits aufgrund der Herkunft aus dem Bereich autonomer Rechtsetzungsbefugnis eingeschränkt. Im Einzelfall ist gleichwohl genau zu prüfen, ob nicht die gesetzlichen Handlungsmaßstäbe eine Ermächtigung zu letztverbindlichen Verwaltungsentscheidungen zugestehen (Ermessens- oder Beurteilungsermächtigung) 98. Das Bundesverwaltungsgericht hat zum Ausdruck gebracht, daß es bei der richterlichen Kontrolle von untergesetzlichen Rechtsnormen auf das Ergebnis des Rechtsetzungs verfahrens, also auf die erlassene Vorschrift in ihrer regelnden Wirkung, nicht auf die die Rechtsnorm tragenden Motive dessen ankommt, der an ihrem Erlaß mitgewirkt hat 99 . Die Rechtsprechung habe insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren und müsse auch hinnehmen, daß der parlamentarische Gesetzgeber „eigene Gestaltungsfreiräume an den Satzungsgeber weiterleitet und daß mit der Satzungsgebung vorbehaltlich gesetzlicher Bestimmungen die Bewertungsspielräume verbunden sind, die dem parlamentarischen Gesetzgeber selbst zustehen"100. In materieller Hinsicht wird somit lediglich geprüft, ob das in der Norm enthaltene Ergebnis des Rechtsetzungsprozesses rechtlich bestehen kann, also die getroffene Entscheidung nicht schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist. Die formellen Voraussetzungen unterliegen hingegen keinen weitergehenden Beschränkungen; insbesondere, ob die Satzung nach dem dafür vorgesehenen Verfahren erlassen wurde, ist daher nachzuprüfen. 96 Zur Abgrenzung der Zuständigkeit der Berufsgerichte und der Verwaltungsgerichte in diesem Zusammenhang zuletzt VGH Mannheim, DÖV 2000,786f.; vgl. OVG Münster, NJW 1990, 2150f.; Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §40 Rn.716; Tettinger, Kammerrecht, 218. Insbesondere keine disziplinarrechtliche Maßnahmen i.d.S. sind Streitigkeiten i. R. d. präventiven Qualitätskontrolle. Gegen Entscheidungen der Kommission für Qualitätskontrolle ist daher der Verwaltungsrechtsweg gegeben, vgl. Reg.-Begr. WPOÄG, BTDrucks. 14/3649, 17, 28. 97 Zur Satzung als Anwendungsfall der Normenkontrolle nach § 47 VwGO statt vieler Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 19 Rn. 3 ff. m. w. N. § 47 VwGO erfaßt jedoch nur die im Range unter dem Landesrecht stehenden Satzungen der Selbstverwaltungsträger auf Länderebene, vgl. nur Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §47 Rn. 15 ff. Die WPK stellt einen Ausnahmefall dar, als sie als bundeseinheitlich konzipierte Organisation bundesweit tätig ist. Daher ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Satzungen der (Bundes-) Wirtschaftsprüferkammer im Grundsatz auf Inzidentkontrollen beschränkt; u.U. kann jedoch i.R.d. Feststellungsklage die Rechtmäßigkeit einer Satzung auch selbständiger Klagegegenstand sein. Zu dieser Möglichkeit allgemein Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §47 Rn. 12; Pietzcker, dort, §43 Rn.25. 98 Schmidt-Aßmann, GS Martens, 261; vgl. allgemein dens., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs.IV Rn.217; dens., Ordnungsidee, 189ff., 227f. 99 BVerwGE 70,318(335). 100 BVerwG GewArch 1995,425f.; vgl. BVerwGE 80, 355 (370f.).
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e) Finanzierung der Wirtschaftsprüferkammer Die gewährte Selbstverwaltung umfaßt im Rahmen des staatlichen Rechts auch die Finanzierung der Körperschaften 101. Die Übertragung staatlicher Verwaltungsaufgaben auf einen Selbstverwaltungsträger bedeutet für den Staat zunächst eine finanzielle Entlastung. Um die angemessene Aufgabenwahrnehmung der Selbstverwaltungsträger zu sichern, erwachsen ihm jedoch unter Umständen Mitfinanzierungspflichten, deren genaue Bemessung Schwierigkeiten aufwirft und zudem nur periodisch möglich sein dürfte 102 . Neben konkreten kostenpflichtigen Leistungen ist es zulässig, die abstrakten Vorteile, die die (Zwangs-)Mitgliedschaft mit sich bringt, in allgemeine geldwerte Forderungen umzusetzen. Klassisches Instrument der Einnahmenbeschaffung in diesem Sinne ist der Mitgliedsbeitrag 103. Nach § 611 WPO ist die Wirtschaftsprüferkammer berechtigt, von ihren Mitgliedern Beiträge einzufordern. Der Beirat der Wirtschaftsprüferkammer wird ermächtigt, hierzu eine - genehmigungsfreie - Beitragsordnung zu erlassen 104. Im Interesse der Beitragsgerechtigkeit ist die Konnexität von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung, die Berücksichtigung der körperschaftlichen Homogenitätsanforderungen und der rechtsstaatlichen Vorgaben hinsichtlich Klarheit und Bestimmtheit zu fordern. f) Ergebnis Die Satzungen der Wirtschaftsprüferkammer sind durch eine Kombination demokratischer Elemente und der sich aus der Mitwirkung der Normadressaten ergebenden autonomen Legitimation ausreichend legitimiert. Sie unterliegen gerichtlicher Kontrolle sowohl durch die spezielle Berufs- als auch die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit. 3. Exkurs: Das System für Qualitätskontrolle (peer review) Mit dem durch das WPOÄG 105 eingeführten System für Qualitätskontrolle wird das Ziel verfolgt, das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer an internationale Standards anzupassen und zugleich den Interessen der Investoren 101
Tettinger, Kammerrecht, 198 m.w. N. Vgl. Tettinger, Kammerrecht, 199. 103 Hierzu ausführlich Kluth, Selbstverwaltung, 311 ff.; Tettinger, Kammerrecht, 199ff. m. w. N. 104 Vgl. zuletzt WPK-Mitteilungen 2001,51 ff. Die Gebührenordnung nach § 61 II WPO bedarf hingegen der Genehmigung durch das Bundeswirtschaftsministerium. 105 Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer vom 19. Dezember 2000 (Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungsgesetz - WPOÄG), BGB1.I 2000, 1769 ff. Vgl. auch den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer - Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drucks. 255/00, BTDrucks. 14/3649. 102
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Rechnung zu tragen 1 0 6 . Insbesondere die von der US-amerikanischen Wertpapieraufsichtsbehörde SEC geübte Praxis, nur solchen Unternehmen Zugang zu amerikanischen Börsen zu gewähren, deren Abschlußprüfung durch extern qualitätsgeprüfte Wirtschaftsprüfer erfolgt 1 0 7 , erzeugte einen derartigen Anpassungsdruck, daß zunächst 1998 das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. ( I D W ) einen entsprechenden Regelungsvorschlag erarbeitet hat 1 0 8 , der vom Beirat der Wirtschaftsprüferkammer der Bundesregierung zur gesetzgeberischen Umsetzung empfohlen, von der Bundesregierung weitgehend unverändert in ihrem Gesetzentwurf übernommen und schließlich Ende des Jahres 2000 von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde 1 0 9 .
a) Funktionieren
des Systems für Qualitätskontrolle
Der dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entstammende und von dort übernommene Begriff Peer Review 1 1 0 bezeichnet eine Überwachungsform, in der nicht 106 BR-Drucks. 255/00, 29. Hierzu allgemein Clauß, NJW 2001, 2383 f.; Göhner, DStR 2000, 1404ff.; Hammers-Strizek, WPg 1999, 911 ff.; Lück, DB 2000, 336ff.; Marks/Schmidt, WPg 2000, 409ff.; dies., WPg 1998, 975 ff.; Marten, DB 1999, 1073 ff.; dens., BB 1999, 1594ff.; Niehus, DB 2000, 1133 ff.; Selchert, FAZ vom 18.6.2001, 34. 107 Vgl. Hucke, Wirtschaftsprüfer, 41 f.; Marten!Köhler, BB 2000, 867. Ähnlich die „listing requirements" der Computerbörse NASDAQ, Lück, DB 2000, 336; Marks!Schmidt, WPg 1998,978. Nachdem bei der SEC zunächst Überlegungen angestellt worden waren, die Selbstüberwachung der Wirtschaftsprüfer durch das private American Institute of Certified Public Accountants (AICPA) durch ein neues, allerdings ebenfalls privates Regulierungsorgan zu ersetzen, das nicht nur mit Berufsangehörigen aus der Gruppe der Wirtschaftsprüfer, sondern auch mit anderen Berufsgruppen besetzt werden und unter der Oberaufsicht der SEC berechtigt sein sollte, drastische Strafen gegen Firmen und Personen auszusprechen, soll nunmehr unter dem Eindruck der großen Bilanzskandale (Enron, Worldcom u. a.) die Aufsicht einem bei der SEC angesiedelten Gremium übertragen werden, vgl. FAZ vom 18.1.2002, 27f.; FAZ vom 26.7.2002,12. Vgl. jetzt auch die Empfehlung der Kommission (2002/590/EG) zur Unabhängigkeit der Abschlußprüfer in der EU, ABl. EG Nr. L191/22 vom 19.7.2002. 108 IDW Tätigkeitsbericht 1998/99, 13 ff.; dargestellt bei Marks!Schmidt, WPg 1998,981ff. Zur Haltung der EU-Kommission bereits dort, 977 ff. sowie die Empfehlung der EU-Kommission vom November 2000 (2001/256/EG), ABl EG Nr.L91/91 vom 31.3.2001. Zu Erwartungen der internationalen Standardsetzungsorganisation IFAC Mertin/Dietz, WPg 2001, 327. Vgl. auch die von einem sog. „Vorstandsarbeitskreis" von IDW und WPK erarbeitete Stellungnahme VO 1/1995, abgedruckt in WPg 1995, 824ff.; dazu z.B. Lindgens-Strache, WPK-Mitteilungen 1997, 259f.; Niehus, DB 2000, 1133f. 109 Kluth, DStR 2000, 1927 sieht hierin ein Beispiel für „Gesetzgebung on demand". Vgl. Hammers-Strizek, WPg 1999,911. Auf der anderen Seite hatten sich die Berufsorganisationen jedoch bei den Beratungen zum KonTraG verpflichtet, die Frage der Einführung einer externen Qualitätskontrolle i. R. d. Selbstverwaltung zu lösen. Vgl. allgemein Schindler/Rabenhorst, BB 1998, 1886 ff., 1939ff. 110 Vgl. z.B. Hammers-Strizek, WPg 1999, 915. Eine Gegenüberstellung des amerikanischen und des deutschen Systems geben Marten!Köhler, BB 2000, 867 ff. Ausführlich zum amerikanischen Peer Review-Verfahren Marten, BB 1999,1594 ff.; \gl.Lenz,BB 2001,299ff. Vgl. zu Peer Review-Verfahren allgemein auch Trute, Forschung, 483 ff.; dens., Funktionen der Organisation, 283.
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eine staatliche Stelle (sog. Monitoring), sondern ein anderer Berufsangehöriger (der peer) als Kontrollinstanz fungiert 111 . Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer müssen nunmehr, sofern sie gesetzliche Abschlußprüfungen durchführen, ihre Praxis in einem dreijährigen Turnus einer externen Kontrolle durch einen speziell registrierten Berufsangehörigen (sog. Prüfer für Qualitätskontrolle) unterziehen lassen 112 . Dabei wird keine zweite Abschlußprüfung durchgeführt. Es findet vielmehr eine Überprüfung des internen Qualitätssicherungssystems der jeweiligen Praxis statt, das auf seine Angemessenheit und Funktionsfähigkeit überprüft wird. Kontrollobjekt ist somit nicht die Abschlußprüfung selbst, sondern ihre Methodik; die Organisation der jeweiligen Praxis muß eine ordnungsgemäße Abwicklung der Aufträge und die interne Nachschau sicherstellen 113. Über die Ergebnisse der Prüfung wird ein Bericht angefertigt, der der geprüften Praxis ausgehändigt und in Kopie an die Wirtschaftsprüferkammer gesandt wird. Die externe Qualitätskontrolle schließt mit einer von der Kommission für Qualitätskontrolle ausgegebenen Teilnahmebescheinigung; deren Fehlen ist als neuer Ausschlußtatbestand für die Annahme von gesetzlichen Abschlußprüfungen in § 319 II 2 Nr. 2 und III Nr. 7 HGB aufgenommen worden. b) Der Status der Prüfer für Qualitätskontrolle Die Prüfer für Qualitätskontrolle müssen sich bei der Wirtschaftsprüferkammer registrieren lassen114. Diese Registrierung setzt voraus, daß der eingesetzte Prüfer selbst Standesangehöriger, aber von der zu prüfenden Wirtschaftsprüferpraxis unabhängig ist, über eine angemessene Berufserfahrung sowie über praktische Erfahrungen in der Beurteilung von Qualitätssicherungssystemen verfügt, sich selbst einer externen Qualitätskontrolle unterzogen hat und in den letzten fünf Jahren nicht berufsgerichtlich verurteilt wurde 115 . Der Status der registrierten Prüfer für Qualitäts111
Vgl. Markst Schmidt, WPg 2000, 410. Die Vorteile des gewählten Verfahrens sollen in seinem eher präventiven als repressiven Charakter, der Nutzung dezidierter und praxiserprobter Sachkenntnisse und der bürokratischen und finanziellen Aufwandsverringerung liegen, vgl. die Reg.-Begr. WPOÄG, BT-Drucks. 14/3649, 17f.; zustimmend z.B. Göhner, DStR 2000, 1408. Niehus, DB 2000, 1134 weist darauf hin, daß diese Regelungsform in den USA auch dazu diente, staatlichen Eingriffen zuvorzukommen. 112 Diejenigen Berufsangehörigen, die keine gesetzlich prüfungspflichtigen Unternehmen betreuen, können auf freiwilliger Basis am System teilnehmen, § 57 e WPO. 113 Vgl. Hucke, Wirtschaftsprüfer, 40f.; Marks ¡Schmidt, WPg 1998, 979 sowie die Reg.Begr. WPOÄG, BT-Drucks. 14/3649, 19, wo darauf hingewiesen wird, daß eine Belastung Dritter (insbes. der prüfungspflichtigen Unternehmen) nicht erfolgen soll und daher nur die Adäquanz der ersten Gegenstand der zweiten Prüfung ist. Kritisch zum Prüfungsumfang Niehus, WPg 2000,458 f. Vgl. auch die Überlegungen hinsichtlich der Zertifizierbarkeit allgemeiner Risikomanagementsysteme bei Weidemann/Wieben, DB 2001, 1789 ff. 114 Niehus, DB 2000, 1135 hält eine Durchführung durch private Organisationen, bspw. das IDW, aufgrund entsprechender Erfahrungen in den USA für möglich. Vgl. demgegenüber FAZ vom 18.1.2002, 27 f. 115 §57a III, IV WPO, §57c II WPO i.V.m. §§1-6 Satzung für Qualitätskontrolle.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
kontrolle ist damit allerdings noch nicht geklärt. Für die Abschlußprüfung selbst ist herausgearbeitet worden, daß das öffentliche Interesse an der Funktion des Abschlußprüfers, das sich in der öffentlichen Bestellung und Überwachung äußert, diesen noch nicht zu einem Beliehenen werden läßt 116 . Gegen eine Beleihung wird vor allem der privatrechtliche Charakter des in Frage stehenden Rechtsverhältnisses angeführt. Ein Subordinationsverhältnis besteht nicht; der Abschlußprüfer besitzt keine hoheitlichen Befugnisse gegenüber dem geprüften Unternehmen 117. Dies steht in Einklang mit der allgemeinen Überlegung, daß die Überwachung privater Wirtschaftstätigkeit in der Regel keine Staatsaufsicht erfordert. Folgerichtig ist nach § 3241HGB das Landgericht ausschließlich zuständig. Zu klären ist, ob gleiches für die der Standesaufsicht unterworfenen Berufsträger in ihrer Eigenschaft als Prüfer für Qualitätskontrolle gilt. Die Einordnung als Peer Review sagt noch nichts darüber, ob es sich nicht im Ergebnis doch um eine berufsaufsichtliche Maßnahme handelt. In diesem Fall nähmen die Prüfer hoheitliche Aufgaben wahr und wären als Beliehene zu qualifizieren. Hierfür spricht zunächst die im Gegensatz zur Abschlußprüfung statuierte Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Weiterhin spricht für die Beleihung die Tatsache, daß die Qualitätskontrolle bei der öffentlich-rechtlichen Wirtschaftsprüferkammer angesiedelt ist. Mit § 57 a WPO besteht auch eine gesetzliche Grundlage für die Beleihung, und die Registrierung könnte als allgemeiner Beleihungsakt angesehen werden, der durch den konkreten Bestellungsvorgang durch die zu prüfende Praxis nur noch aktiviert werden müßte. Das Bestehen eines Vertragsverhältnisses schadet der Möglichkeit einer Beleihung nicht 118 . Im Gegensatz zur klassischen Erscheinungsform des Beliehenen119 werden die Prüfer für Qualitätskontrolle jedoch in Konkurrenz zueinander tätig; es existiert weder eine Zuständigkeitsverteilung noch eine Gebührenordnung 120. Statt dessen wählen die zu prüfenden Praxen ihre Prüfer anhand des bei der Wirtschaftsprüferkammer geführten Registers selbst aus und vereinbaren mit diesen Honorare 121. Außerdem findet die Qualitätssicherung explizit außerhalb der Standesaufsicht statt; sie soll im Gegensatz zur repressiven Aufsicht eine präventive Sicherungsmaßnahme darstellen 122. Entscheidendes Argument gegen eine Klassifikation als Beliehene ist aber die fehlende Endgültigkeit der Entscheidungen der Prüfer für Qualitätskontrolle. Der Qualitätskontrollbericht ist nur Voraussetzung der Erteilung der Teilnahmebescheinigung durch die Kommission für Qualitätskontrolle (§ 57 a V I i.V. m. § 57 e 14 Nr. 3,4 116
Icking, Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, 349ff. m. w.N. Icking, Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, 354f., 377ff. m. w.N. 118 Vgl. H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 24 ff. 119 Vgl. die Kriterien von BVerfG (K) NJW 1987, 2510: Aufsicht, festgelegter Aufgabenkreis, örtliche Zuständigkeit, Gebühren. Beispiele bei Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 56. 120 Ebenso für die „Benannten Stellen" im Produktsicherheitsrecht H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 80 f. 121 Zu den hier in der Anfangsphase zu erwartenden Schwierigkeiten Niehus, DB 2000, 1138, 1141. 122 Vgl. §57e 12, IV 2, V, §57f WPO sowie ausdrücklich §7 Satzung für Qualitätskontrolle. Hierzu auch die Reg.-Begr. WPOÄG, BT-Drucks. 14/3649, 29 f. 117
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WPO), und diese kann gemäß § 57 e II WPO die ordnungsgemäße Durchführung der Qualitätskontrolle untersuchen und gegebenenfalls eine Sonderprüfung anordnen bzw. eine zu Unrecht erteilte Konformitätserklärung (§ 57 a V 3 WPO) widerrufen oder eine zu Unrecht verweigerte Erklärung selbst erteilen. Im Gegensatz zu den Benannten Stellen entscheiden somit die Prüfer für Qualitätskontrolle nicht als einzige Stelle abschließend und bindend über die Übereinstimmung mit den Anforderungen des Qualitätssicherungssystems123. Sie werden daher nicht hoheitlich tätig, sondern agieren aufgrund der mit der geprüften Praxis bestehenden Vereinbarung 124 . Dem entspricht es, daß zwar § 57 d S. 1 WPO die Prüfungsunterworfenen zur Mitarbeit verpflichtet, S. 2 jedoch ausdrücklich eine Erzwingung der Mitwirkung im Wege des Verwaltungszwangs ausschließt. Schließlich ermöglicht die Einordnung als privatrechtliche Prüfung auch die Gleichbehandlung mit der nach § 57 g WPO möglichen freiwilligen Qualitätskontrolle. c) Verfassungsmäßigkeit
des Peer Review
Verfassungsrechtliche Bedenken lassen sich in erster Linie am möglicherweise verletzten Grundrecht aus Art. 121 GG festmachen. § 57 a I WPO verpflichtet die Abschlußprüfer, sich der Qualitätskontrolle zu unterziehen. Hinzu treten als hiermit korrespondierende Nebenpflichten die Beauftragungspflicht, eine allgemeine Duldungspflicht, ergänzt durch Informations- und Mitwirkungspflichten, sowie die Kostentragungspflicht. Insgesamt ergibt sich hieraus nur eine Beeinträchtigung mittlerer Intensität; die statuierten Anforderungen stellen zwar zusätzliche Erfordernisse für die Berufsausübung dar, erreichen jedoch nicht die rechtliche oder faktische Schwere einer Berufswahlregelung 125. Diese Einschätzung wird auch durch das vorgesehene gestufte Sanktionensystem des §57e I I - I V WPO 126 , das als ultima ratio auch eine Unterrichtung des Vorstandes der Wirtschaftsprüferkammer zum Zwecke des Widerrufs der Bestellung bzw. Anerkennung vorsieht und damit eine den Berufszugang betreffende Sanktionsform enthält, nicht berührt. Eine wesentliche Erhöhung der Eingriffsintensität setzte nämlich voraus, daß eine Vertiefung der bereits durch die gesetzesförmigen Verhaltenspflichten begründeten Grundrechtsbeeinträchtigung erreicht würde. Dies ist nicht der Fall: Die vorgesehenen Sanktionen knüpfen an ein gesetzlich bereits vorgeformtes Leitbild des Wirtschaftsprüferberufes an. Sie dienen ebenso wie das gesamte System der Qualitätskontrolle nicht der 123
Vgl. wiederum H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 93 f. Kluth, DStR 2000, 1932 stellt dagegen darauf ab, daß der Prüfer dem Prüfungspflichtigen nur die Erfüllung gesetzlich bereits bestehender Pflichten ermöglicht. 124 I.E. ebenso Kluth, DStR 2000, 1932, der eine Deutung dieses Rechtsverhältnisses als verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis für Vorzugs würdig, aber nicht zwingend erachtet. 125 Kluth, DStR 2000, 1928. Zur Differenzierung i. R. d. Art. 12 I GG grundlegend BVerfGE 7, 377 ff. 126 Auflagen zur Beseitigung von im Qualitätskontrollbericht festgestellten Mängeln, Sonderprüfung, Zwangsgeld, Unterrichtung des Vorstandes der WPK.
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Einführung neuer, sondern der Überprüfung und Manifestierung bestehender Verhaltenspflichten 127. Die sanktionsweise Durchsetzung bereits gesetzlich begründeter Pflichten stellt jedoch keine wesentliche Vertiefung des Eingriffs dar; mithin führt auch der Sanktionsmechanismus des § 57 e WPO nicht zu einer deutlich erhöhten Eingriffsintensität. Die Einordnung als Berufsausübungsregelung 128 hat zur Folge, daß vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls zur Rechtfertigung ausreichen. Als Allgemeinwohlbelang kommt zunächst die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaftsprüfer sowie - damit verbunden - die Stärkung des Finanzplatzes Deutschland, als die hier gegenwärtig und in Zukunft ansässigen Unternehmen darauf vertrauen können müssen, auch hinsichtlich der Abschlußprüfung höchsten Standards zu genügen, in Betracht. Weiterhin besteht ein Interesse sowohl der Anteilseigner als auch der Gesellschaftsorgane sowie der Investoren und Gläubiger an die Qualität der Prüfung sichernden Maßnahmen. Zwar divergieren die dabei zu berücksichtigenden Erwartungen an Prüfungsansatz und Prüfungsrichtung. Dennoch ist davon auszugehen, daß eine „Kontrolle der Kontrolleure" letztlich allen Seiten gerecht wird. Denn die präventive und obligatorische Qualitätskontrolle verstärkt nur die Funktionen der Abschlußprüfung, die dieser bereits durch Gesetz zugeschrieben werden. Soweit hier tatsächlich „Erwartungslücken" bestehen und die Abschlußprüfung den in sie gesetzten Ansprüchen nicht gerecht werden kann, vermag auch die Qualitätskontrolle, die keine neuen Prüfungsmaßstäbe enthält, nur schwerlich gegenzusteuem. Wenn allerdings die Durchführung der Abschlußprüfung als geeignet angesehen wird, muß dies auch für die zusätzliche Sicherung durch die externe Qualitätskontrolle gelten. 4. Das Institut der Wirtschaftsprüfer Im Zusammenhang mit der Normsetzung durch die Wirtschaftsprüferkammer bedarf schließlich noch das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) der Erwähnung. Hierbei handelt es sich um einen privatrechtlichen Verein, der ebenfalls Anspruch auf verbindliche Normsetzung für die Wirtschaftsprüfer erhebt 129. Während die Mechanismen der vereinsrechtlichen Normsetzung später ausführlicher dargestellt werden sollen, ist bereits an dieser Stelle der Hinweis auf die Komplementärfunktion des IDW erforderlich: Gemäß § 2 seiner Satzung hat das IDW die „Fachgebiete des Wirtschaftsprüfers zu fördern und für die Interessen des Wirtschaftsprüferberufes einzutreten". Es übernimmt Verantwortung für die Aus- und Weiterbildung 130 und hat „für 127 Besonders deutlich wird dies an der Vorschrift des § 57 a II WPO, derzufolge die Qualitätskontrolle der Überwachung dient, „ob die Grundsätze und Maßnahmen zur Qualitätssicherung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften und der Berufssatzung" eingehalten werden. 128 So auch ausdrücklich die Reg.-Begr. WPOÄG, BT-Drucks. 14/3649, 19. 129 Vgl. P.-J. Schmidt, WPg 1996, 825 ff.; Wichmann, WPg 1991, 561 ff. 130 Hierzu auch Luttermann, ZVglRWiss 101 (2002), 159 ff.
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einheitliche Berufsgrundsätze einzutreten und deren Einhaltung durch die Mitglieder sicherzustellen". Die Aufgaben des IDW gleichen damit denen der Wirtschaftsprüferkammer; beide Institutionen arbeiten eng zusammen. Als Interessenvertreter kommt dem IDW eine wichtige Rolle insbesondere bei der Mitarbeit in internationalen Organisationen zu 131 ; es wirkt an den Entscheidungen der internationalen Berufsorganisationen mit und versucht, diese einschließlich der internationalen Standard Setting Prozesse im Interesse der deutschen Berufsträger zu beeinflussen 132. 5. Die Kursmaklerkammer Ein weiteres Beispiel einer Verkammerung im Kapitalmarktrecht ist die Kursmaklerkammer 133. Auf eine nähere Untersuchung dieser Institution soll hier verzichtet werden, denn nicht nur bestehen gegenüber der Wirtschaftsprüferkammer keine relevanten strukturellen Unterschiede, sondern vor allem ist der Berufsstand der amtlichen Kursmakler angesichts der zunehmenden Elektronisierung des Wertpapierhandels in die Kritik geraten, und es bestehen Bestrebungen, sich des traditionellen Parketthandels und damit auch der Kursmaklertätigkeit vollständig zu entledigen 134 . I I I . Normsetzung durch die Börse Auch wenn in jüngerer Zeit vermehrt Computerbörsen und alternative Handelsplattformen als Konkurrenz zu den traditionellen Börsen entstehen und für eine er131 Das IDW ist Gründungsmitglied und alleiniger Repräsentant des deutschen Berufsstandes bei der FEE, der europäischen Berufsvereinigung, der 38 Berufsorganisationen aus 26 europäischen Ländern angehören, die insgesamt 400.000 Berufsangehörige repräsentieren. Das IDW ist zudem seit 1973 als eine der 16 Gründungsorganisationen Mitglied des IASC, in dem weltweit 143 Berufsorganisationen aus 103 Ländern vertreten sind. Auch der IFAC gehört das IDW als Mitglied an. 132 IDW Tätigkeitsbericht 1998/99, 20 ff. 133 Zur Tätigkeit der Kursmakler Breitkreuz, Ordnung der Börse, 238ff.; Diederich, W M 1999, 2496f.; Podlinski, Rechtsstellung des amtlichen Kursmaklers, 59ff. Zur Kursmaklerkammer etwa Kluth, Selbstverwaltung, 120ff.; Tettinger, Kammerrecht, 26. Zu den sog. Freien Börsenmaklern (die nicht an der amtlichen Kursfeststellung mitwirken) vgl. Schlüter, Rechtsstellung des Freien Börsenmaklers, 81 ff., dort 105 ff. auch die Standesrichtlinien des Bundesverbandes Freier Börsenmakler e.V. (mittlerweile haben sich am Finanzplatz Frankfurt a. M. verschiedene Kurs- und Freimakler zum Frankfurter Finanzdienstleister Verband zusammengeschlossen). 134 Vgl. insoweit das von der Deutsche Börse AG in Auftrag gegebene Gutachten von Bauer/MöllersBeendigung des Parketthandels, das zu dem Ergebnis gelangt, auch ohne eine Änderung des Börsengesetzes stehe es der Deutsche Börse AG offen, in der BörsO einen vollelektronisierten Handel (z. B. über das gegenwärtige Xetra-System, hierzu Beck, W M 1998, 417 ff.) einzuführen. Durch das 4. FMFG wurde das Börsengesetz allerdings dahingehend geändert, daß die Kursfeststellung durch amtlich bestellte Kursmakler vollständig durch elektronische Systeme ersetzt wird.
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hebliche Intensivierung des Börsenwettbewerbs auf nationaler und internationaler Ebene sorgen 135, bleibt die Börse 136 ein zentraler Akteur des Kapitalmarktes 137. Auch als normsetzende Organisation ist sie von Bedeutung. Während weiter unten privatrechtliche Regelwerke der Börse Gegenstand der Betrachtung sind, werden an dieser Stelle die von der Börse erlassenen autonomen Satzungen in den Blick genommen. In diesem Zusammenhang folgen zunächst einige Überlegungen zur Rechtsnatur der Börse (1). In einem zweiten Schritt wird die Rechtsnormqualität der börslichen Satzungen dargelegt (2). Daran anschließend und darauf aufbauend kann ihre Legitimation (3) und Revisibilität (4) untersucht werden. An das gefundene Ergebnis (5) knüpft die in einem abschließenden Exkurs aufgeworfene Frage nach den Auswirkungen einer möglichen Börsenreform auf das Normsetzungsmodell an (6).
1. Die Rechtsnatur der Börse Die Rechtsnatur der Börse wird zuweilen als „Kernfrage des Börsenrechts" 138 bezeichnet. Im vorliegenden Zusammenhang ist sie nur im Vorfeld der Untersuchung der von der Börse erlassenen Normen von Interesse. a) Privatrechtliche
oder öffentlich-rechtliche
Organisation?
Die Börse stellt eine eigenständige Organisation im Sinne eines durch Rechtsvorschriften normativ geordneten Handlungsgefüges dar 139 . Ihr kommt zweifellos eine herausragende volkswirtschaftliche Bedeutung zu; sie ist der wichtigste Kapitalallokationsfaktor. Dennoch kann aus dem öffentlichen Interesse an ihrer Funktionsfä135
Hierzu Hammen, W M 2001, 929ff.; Wastl/Schlitt, W M 2001, 1702ff. sowie die von der Börsensachverständigenkommission publizierten Empfehlungen zur Regulierung alternativer Handelssysteme; vgl. auch Scherjf, FAZ vom 17.4.2001, 40. Vgl. jetzt auch die durch das 4. FMFG eingefügten §§ 58-60 BörsG, die eine Anzeigepflicht für Betreiber solcher elektronischer Handelssysteme, die nicht als Börse genehmigt sind, statuieren. Dazu Reuschlei Fleckner, BKR 2002, 617 ff. 136 Der Einfachheit halber wird im folgenden exemplarisch für die acht regionalen Effektenbörsen nur auf die Frankfurter Wertpapierbörse als die bei weitem wichtigste deutsche Einzelbörse abgestellt. 137 Göppert, Börse und Publikum, 13f.: „Der gewaltige, in ungezählten Händen verteilte Wertpapierbesitz der Nation verlangt einen Mittelpunkt, in dem sich Angebot und Nachfrage begegnen, der Kauflustige den Verkauflustigen finden kann, mit Hilfe dessen aber auch der Überschuß an Wertpapieren, dem noch kein anlagesuchendes Kapital gegenübersteht, einstweilen Unterkunft findet [...]". 138 So Schwark, BörsG, § 1 Rn. 14. 139 Vgl. allgemein T. Groß, Kollegialprinzip, 11 ff.; Trute, Funktionen der Organisation, 253 ff. Nach Ansicht Göpperts, Recht der Börsen, v. a. 69 f. (ebenso bereits ders., Zulassung zum Börsenbesuche, 16), handelt es sich bei der Börse nicht um ein Rechtsgebilde, sondern um eine rechtlich amorphe Veranstaltung. Hiergegen überzeugend Breitkreuz, Ordnung der Börse, 61 ff., 67; Mues, Börse als Unternehmen, 68ff.
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higkeit noch nicht auf die Erforderlichkeit öffentlich-rechtlicher Organisationsstrukturen geschlossen werden. An Bestand und Funktionalität des Kreditwesens besteht beispielsweise ein ähnlich hohes gesamtwirtschaftliches Interesse - gerade in Deutschland, wo die Eigenkapitalquote der Unternehmen traditionell gegenüber der Fremdkapitalquote zurückbleibt - , und doch beschränkt sich der Staat hier auf Überwachungstätigkeiten 141. Die Unterscheidung zwischen der öffentlich-rechtlichen und der privatrechtlichen Organisation der Börse ist somit nicht vorgegeben, sondern muß durch Auslegung der vorhandenen Rechtsnormen ermittelt werden 142. Privatrechtliche Strukturen wurden der Börse vor allem vom älteren Schrifttum zugeschrieben. Bei der Börse handele es sich um eine vom Börsenunternehmer unterhaltene private Veranstaltung 143. Durch das Börsengesetz sei die Börse nicht verstaatlicht, sondern nur unter Staatsaufsicht gestellt worden, was dem Börsenwesen nicht den Charakter einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit genommen habe144. Für die öffentlich-rechtliche Verfaßtheit sprechen hingegen vor allem zwei Aspekte: Im Verhältnis zu den Börsenteilnehmern ist die Börse mit Machtbefugnissen ausgestattet, die über ein bloßes Vertragsverhältnis oder Hausrecht hinausgehen und ein Unter-/Überordnungsverhältnis begründen 145. Den zweiten Aspekt liefert die in § 911, 13, 14 BörsG der Börse zugestandene Satzungsautonomie. Der unmittelbare Wortlaut schließt zwar die Annahme einer privatrechtlichen Satzung, wie sie etwa von Vereinen des bürgerlichen Rechts (§ 25 BGB) oder Kapitalgesellschaften (z. B. § 23 AktG) erlassen werden kann, noch nicht aus. Für privatrechtliche Zusam140 Göppert, Recht der Börsen, 106f.: „Das Börsenwesen ist eben nicht [...] eine grundsätzlich privatrechtliche und privatwirtschaftliche Tätigkeit, sondern eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses, das nicht nur an ihrer Reglementierung und Überwachung zwecks Verhütung von Mißbräuchen, sondern auch an ihrem Bestand und an ihrem möglichst vollkommenen Funktionieren besteht". 141 Es existieren zwar auch öffentlich-rechtliche Kreditinstitute; deren Schaffung liegen jedoch andere Erwägungen zugrunde. Eine vollständige Verstaatlichung des Kreditwesens wird nicht emsthaft erwogen. 142 Claussen, ZBB 2000, 4; Mues, Börse als Unternehmen, 125 ff. 143 Anschütz, VerwArch 11 (1903), 519 ff.; Nußbaum, BörsG, § 1 Anm. IV. Dies gilt nach wie vor für die meisten ausländischen Börsen, vgl. z.B. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 86f.; Claussen!Hoffmann, ZBB 1995, 72; Schwark, WM 1997, 295 f. Vgl. auch Zänsdorf Organisation der deutschen Börsen, 14ff., der zwischen (privaten) selbstverwalteten Börsen unter Staatsaufsicht und staatlichen Börsen mit Eigenverwaltung seitens der beteiligten Kreise unterscheidet. 144 Ygi Anschütz, VerwArch 11 (1903), 521. Entsprechend gingen im Berliner Börsenstreit die von der Korporation der Kaufmannschaft zu Berlin in Auftrag gegebenen Gutachten von Anschütz, Loening, O. Mayer und Rosin (veröffentlicht im Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, 1903) davon aus, daß es sich bei der Börse um eine im Eigentum des Börsenunternehmers stehende Veranstaltung handele und die Verstaatlichung mithin Enteignung sei. Zum Berliner Börsenstreit Breitkreuz, Ordnung der Börse, 26 f., 59 f., 71 f.; E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 627f.; Mues, Börse als Unternehmen, 42. 145
Ausführlich Breitkreuz, nehmen, 74.
Ordnung der Börse, 76ff., 211 ff.; vgl. Mues, Börse als Unter-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
menschlüsse wäre eine derartige explizite Erwähnung jedoch ungewöhnlich. Der Qualifikation der Börsenordnung als privatrechtliche Satzung steht außerdem § 13 V 2 BörsG entgegen, nach dem die Börsenordnung nicht nur insgesamt der Genehmigung durch die Börsenaufsichtsbehörde bedarf, sondern diese auch berechtigt ist, die Aufnahme bzw. Abänderung bestimmter Vorschriften zu verlangen 146. Diese Möglichkeit partieller Oktroyierung nimmt der Satzung noch nicht ihren öffentlichrechtlichen Selbstverwaltungscharakter 147; dem Privatrecht sind derartige Regelungen prinzipiell fremd. Privatrechtliche Satzungen unterliegen typischerweise nur gerichtlicher Kontrolle 148 . Staatliche Aufsicht und Kontrollbefugnisse sind zwar im Rahmen privatrechtlicher Satzungen nicht von vornherein ausgeschlossen, sie stellen jedoch als Eingriff in die Privatautonomie eine besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahme dar 149 . Gleiches gilt für von staatlicher Seite aufgestellte materielle Vorgaben. Für das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Satzung spricht es schließlich auch, wenn in der Regierungsbegründung zum Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz darauf hingewiesen wird, der Gesetzgeber habe sich „der in Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis herrschenden Meinung4' angeschlossen, und die Börsenordnung als Satzung, nicht dagegen als Rechtsverordnung qualifiziert wird 150 . Eine solche Gleichstellung kann sinnvollerweise nur erfolgen, wenn es sich bei dem Vergleichsobjekt um eine öffentlich-rechtliche Satzung handelt. Wiewohl das Börsengesetz an mancher Stelle nach wie vor Reminiszenzen an eine private Börsenveranstaltung enthält 151 , ist eine rein privatrechtliche Verfassung damit heute de lege lata auszuschließen. Die Börse als Veranstalter des börsenmäßigen Wertpapierhandels hat eine öffentlich-rechtliche Organisationsstruktur 152. 146 § 13 V 2 BörsG ermächtigt die Börsenaufsichtsbehörde damit über die reine Kontrolltätigkeit hinaus auch zur eigeninitiativen Rechtsnormsetzung. Nicht erlaubt wäre es dagegen, wenn die Behörde über diese Ermächtigungsnorm versuchte, den gesamten Erlaß der BörsO an sich zu ziehen. „Das Recht, einzelne Vorschriften zu oktroyieren, ist vielmehr als Teilaspekt des Genehmigungsvorbehalts, der einzelne Ergänzungen mit einbeschließt, zu sehen", so Schwark, BörsG, § 4 Rn. 6. Weiterhin erlaubt es S. 2, im Falle einer nachträglich erforderlich erscheinenden Ergänzung der BörsO die Aufnahme einer derartigen Vorschrift in die BörsO zu verlangen, ohne die ursprüngliche Genehmigung widerrufen zu müssen. 147 Bspw. sieht § 10511 HandwerksO für die Handwerkskammer eine oktroyierte Satzung vor. 148 F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 174f. 149 Vgl. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 81 mit dem Hinweis, daß sich gerade im Börsenrecht eine solche Ausnahme findet (in § 34 a II BörsG a. F. wurden die Satzungen und Gesellschaftsverträge von Kursmaklergesellschaften der Genehmigungsbedürftigkeit durch die Börsenaufsichtsbehörde unterstellt). Vgl. auchManssen, Privatrechtsgestaltung, 123 f.; Trute, Verzahnungen, 173, 220ff. 150 BT-Drucks. 12/6679, 64; vgl. auch ausdrücklich dort, 63: „die öffentlich-rechtliche Börse", „Anstalt des öffentlichen Rechts". 151 V. a. das Betretungsrecht des §214-6 BörsG, das ausdrücklich als Einschränkung des Grundrechts aus Art. 13 GG bezeichnet wird. Weitere Beispiele bei Mues, Börse als Unternehmen, 84 ff. 152 OLG Frankfurt a. M., ZIP 2001, 730 (dazu Schäfer, EWiR 2001, 621); Breitkreuz, Ordnung der Börse, 52ff., 80f.; Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.90; Peterhoff,\ in: Schäfer,
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Dennoch bestehende Unsicherheiten hängen eng mit einer Besonderheit des deutschen Börsenrechts zusammen, dem Dualismus von Börse und Börsenträger 153 . Die Börse als eigentliche Marktveranstaltung tritt nach außen kaum in Erscheinung; sichtbar ist nur der Börsenträger. Dieser unterhält die Börse und ist aufgrund der börsenrechtlichen Genehmigung gemäß § 1 I I 2 BörsG damit betraut, ihre Funktionsfähigkeit in personeller und sachlicher Hinsicht zu gewährleisten 154 . Trotzdem bleibt er nicht nur Eigentümer der börsenmäßigen Infrastruktur, sondern ist auch Arbeitgeber des Personals sowie Gläubiger und Schuldner der aus dem Börsenbetrieb entstehenden Forderungen 155 . Während früher häufig die Industrie- und Handelskammern, also Körperschaften des öffentlichen Rechts, als Börsenbetreiber fungierten, sind mittlerweile alle deutschen Börsenträger in Privatrechtsform (Verein oder AG) organisiert 156 . Den Rechtscharakter der Börse selbst hat diese Rechtsformwahl nicht verändert 157 ; die Privatrechtssubjekte sind mit dem Betreiben der
BörsG, § 1 Rn. 33; Schwark, BörsG, § 1 Rn. 16. Vgl. auch Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses BT-Drucks. 12/7918, 101; Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 63. Daß dies de lege lata der Fall ist, wird sogar von Autoren, die grundsätzlich eine privatrechtliche Organisation für vorzugswürdig halten, weitestgehend nicht bestritten, vgl. z. B. Mues, Börse als Unternehmen, 67 ff., aber auch dort, 58 ff., 84 ff., 125 ff., 137 ff.; Schwark, W M 1997, 302. Skeptisch Claussen, Börsenrecht, §9 Rn. 16ff.; ClaussenlH off mann, ZBB 1995, 68ff. 153 So auch schon Göppert, Zulassung zum Börsenbesuche, 22. Vgl. nunmehr § 1 II BörsG. Dazu die Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 72: „Der neue Absatz 2 berücksichtigt, daß das Börsengesetz bisher nicht ausdrücklich zwischen der Börse und ihrem Träger differenziert hat. Mit der Neuregelung sollen die wesentlichen Rechte und Pflichten des Trägers auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden". 154 Statt vieler Breitkreuz, Ordnung der Börse, 48 ff. Zur faktischen Leitungsmacht des Börsenträgers Mues, Börse als Unternehmen, 19, 87 f., 113 ff., 164 f. mit Hinweis auf entscheidende, vom Börsenträger angestoßene Neuerungen (Deutsche Terminbörse/Eurex, Xetra, Neuer Markt) und auf die häufig anzutreffende Personenidentität zwischen den Organen des Börsenträgers und der Börse. Kritisch zu letzterem auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 51, 149ff., 155 f. Vgl. allgemein Kemmler, Anstaltslast, 16, passim. 155 Baums/Segna, Börsenreform, 29, vgl. dort, 36ff.; Breitkreuz, Ordnung der Börse. 71 f.; Franke, in: Assmann/Schütze, Kapitalanlagerecht, §2 Rn. 17 ff.; Mues, Börse als Unternehmen, 76; Schwark, BörsG, § 1 Rn. 19; Segna, ZBB 1999,144. Er ist aber nicht Eigentümer der Börse, anders noch die den Berliner Börsenstreit betreffenden Gutachten. Ausführlich Köndgen, JITE 154 (1998), 237 ff. m. w.N. 156 So ist Träger der FWB mittlerweile die Deutsche Börse AG, der Börsen in Hamburg und Hannover die BÖAG Börsen AG, der Stuttgarter Börse die boerse-Stuttgart AG, der Berliner Börse die Berliner Börse AG, der Bremer Börse die Bremer Wertpapierbörse AG und der Börse in München die Bayerische Börse AG. Lediglich in Düsseldorf fungiert noch ein eingetragener Verein des bürgerlichen Rechts als Trägergesellschaft (Rheinisch-Westfälische Börse zu Düsseldorf e.V.). 157 Auf der Verkennung der Dissoziation von Börsenträger und Börse beruht wohl die Auffassung von Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 246 Fn. 38, die Börse sei mangels öffentlich-rechtlicher Organisationsstruktur (Körperschaft, Stiftung, Anstalt) nicht der Selbstverwaltung zurechenbar. „Börsen wie die Frankfurter Börse, die als Aktiengesellschaften geführt werden und einer staatlichen Zulassung bedürfen, erfüllen diese organisatorischen Voraussetzungen nicht" (Hervorhebung nicht im Original). Als AG geführt wird indes nur die Deutsche Börse AG als
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Börse beliehen 1 5 8 , und die in ihrem Eigentum stehende Börseninfrastruktur ist dem Anstaltszweck der Börse gewidmet 1 5 9 .
b) Die Börse als Anstalt oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts? Die öffentlich-rechtliche Struktur wird in der Literatur nur als Ausgangspunkt der weitergehenden Frage nach dem Organisationstypus genommen. Gefragt wird insbesondere, ob es sich bei der Börse um eine Anstalt oder um eine Körperschaft handelt 1 6 0 .
aa) Die Börse als Anstalt „Die öffentliche Anstalt ist ein Bestand von Mitteln, sächlichen wie persönlichen, welche in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem besonderen öffentlichen Zweck dauernd zu dienen bestimmt sind" 1 6 1 . Ihr Aktionsbereich liegt hauptsächlich, wenngleich nicht unbedingt nur, i m Bereich der Leistungsverwaltung; gleichermaßen hat sie typischer-, aber nicht notwendigerweise Nutzer 1 6 2 . Das wohl herrschende Verständnis der Börse als Anstalt des öffentlichen Rechts verweist somit auf die Bedeutung des technischen Apparates mit seiner personellen und sachlichen Ausstattung. Nicht die am Börsenhandel beteiligten Personen stehen i m VorTräger der Frankfurter Wertpapierbörse. Hier scheint ein Mißverständnis vorzuliegen, was wiederum Breitkreuz, Ordnung der Börse, 61 Fn.237 verkennt. 158 Ausführlich Beck, W M 1996,2313 ff. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 78 wendet sich gegen die Möglichkeit einer Beleihung der Börse selbst, da diese zu intensiven Grundrechtseingriffen berechtigt sein müsse, wofür die Beleihung kein taugliches Mittel sei. Vgl. andererseits aber dort, 106. Zu den (fehlenden) Anforderungen an eine Beleihung vgl. Mues, Börse als Unternehmen, 86 f. Seine berechtigte Skepsis dürfte angesichts der Neuregelung des § 1 I I BörsG nicht mehr aufrechtzuerhalten sein; vgl. auch Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 72. 159 Mues, Börse als Unternehmen, 81. Das gilt sogar für die für elektronische Handelssysteme erforderlichen Computerprogramme und technische Ausstattung (Soft- und Hardware), Köndgen/Mues, W M 1998, 59 f. 160 Die Stiftung entfällt evident bereits mangels eines Stiftungsvermögens. Die Ausstattung der Börse steht vollständig im Eigentum des Börsenträgers; der Börse selbst gehört „nicht einmal ein Bleistift", Claussen/Hojfmann, ZBB 1995, 72. 161 Grundlegend O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Zweiter Band, 268 und 331. Vgl. RGZ 130, 169ff.; Breuer, VVDStRL 44 (1986), v. a. 223 ff.; Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 412,495; Jecht, Anstalt, v. a. 17 ff., 49 ff., 68; Kemmler, Anstaltslast, 27 ff.; Krebs, NVwZ 1985, v. a. 613ff.; Lange, VVDStRL 44 (1986), 170ff.; Laubinger, FS Maurer; 641 ff.; Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 46; W. Weber, Körperschaften, 90; Wolff/BachoflStober, Verwaltungsrecht II, §98 Rn. 1 ff. 162 So Laubinger, FS Maurer, 641 ff., 652 mit der Argumentation, zum einen seien Anstalten als solche nie nutzbar (sondern eben nur Rechtsform), und zum anderen betrieben nicht alle Anstalten nutzbare Einrichtungen. Einziger Unterscheidungspunkt zur Körperschaft sei daher das Fehlen von Mitgliedern. Vgl. auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 94.
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dergrund des Börsenbetriebs und sind für die rechtliche Klassifizierung entscheidend, sondern die Handelseinrichtung als solche163. bb) Die Rechtsfähigkeit der Börse Für die Anstalt soll es insbesondere (im Gegensatz zur Körperschaft) nicht erforderlich sein, daß sie eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt. Es genüge ein „bestimmtes Maß an organisationsrechtlicher Verselbständigung" 164. Damit erscheint sie als die für die Börse geeignete Organisationsform, denn nach überwiegender Ansicht hat die Trennung zwischen Börsenträger und Börse zur Folge, daß der Börse selbst die Rechtsfähigkeit fehlt 165 oder ihr doch nur eingeschränkte Rechtsfähigkeit zukommt 166 . Teilrechtsfähigkeit wird bei Trägern öffentlicher Verwaltung angenommen, wenn ihnen die Fähigkeit, Träger von bestimmten Rechten und Pflichten zu sein, nur hinsichtlich bestimmter Rechtsgebiete, Rechtsnormen oder öffentlicher Angelegenheiten zuerkannt worden ist und sie nur insoweit zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung bestimmter Verwaltungsaufgaben berufen sind 167 . Sie führt auch nicht zu negativen Auswirkungen auf die praktische Tätigkeit der Börse, denn diese kann die ihr gesetzlich zugeschriebenen Aufgaben unbeeinträchtigt wahrnehmen 168. Ehlers hat jedoch jüngst dargelegt, daß die Annahme von Teilrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts zu Rechtsschutzlücken und Pflichtenausfällen führte, wenn außerhalb des Zuständigkeitsbereiches gelegenes Handeln nicht als rechtswidrig oder nichtig, sondern als rechtlich nichtexistent behandelt würde 169 . Gleichzeitig hat er zwar die Möglichkeit unberührt lassen wollen, teil163 VGH Kassel, NJW-RR 1997, 110; Beck, W M 1996, 2315; Claussen, Börsenrecht, §9 Rn. 20; Franke, in: Assmann/Schütze, Kapitalanlagerecht, §2 Rn. 15 f.; W. Groß, Kapitalmarktrecht, Vorb. BörsG Rn. 17; Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 14.359; v. Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, 75 ff.; Schlüter, Wertpapierhandelsrecht, G10; Schönle, Börsenrecht, 7; Schwark, BörsG, § 1 Rn. 18; ders., W M 1997, 294; Wiede, Börse, 142, 149f. 164 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 98 Rn. 7; Breuer, VVDStRL 44 (1986), 226 f. Unter Rechtsfähigkeit ist hingegen die Eigenschaft einer Person oder Organisation zu verstehen, in einem System von Rechtssätzen Endsubjekt rechtstechnischer Zuordnung, d. h. Träger von Rechten und Pflichten im Verhältnis zu anderen, zu sein, vgl. statt vieler PalandtHeinrichs, BGB, vor § 1 Rn. 1. 165 OLG Frankfurt a. M., ZIP 2001, 730; VG Frankfurt a. M., AG 1963, 306; Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679,64; Peterhoff, in: Schäfer, BörsG, § 1 Rn. 33; Schwark, BörsG, § 1 Rn. 19; Wiede, Börse, 63, 142ff., jeweils m.w.N. 166 Beck, W M 1996, 2315; V.Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, 75ff.; Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.126 ff. I.E. ebenso - allerdings für die Körperschaft - Breitkreuz, Ordnung der Börse, 92 f. Vgl. hierzu auch Krebs, HStR III, § 69 Rn. 36. 167 Maurer, Verwaltungsrecht, §21 Rn.6, 10; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §32 Rn.7f.; hierzu auch Axer, Normsetzung, 202 ff.; speziell für die Anstalt Breuer, VVDStRL 44 (1986), 225 f. 168 Baums/Segna, Börsenreform, 55; Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.127, 17.132. 169 Ehlers, Lehre von der Teilrechtsfähigkeit, v. a. 22 f., 68 ff. Dabei wird auch nicht etwa verkannt, daß es eine wirkliche „Voll"rechtsfähigkeit nicht geben kann, vgl. dort, 59 ff.
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rechtsfähige, unselbständige Organisationen zu gründen 170. Diese können jedoch auf die Rechtsfähigkeit der hinter ihnen stehenden juristischen Person, ihres Trägers, verweisen. Die anormale Konstruktion, die dem deutschen Börsenwesen zugrundeliegt, daß nämlich der Träger ein beliehenes Privatrechtssubjekt ist, mag sich hier nicht recht einfügen. In Fortführung der Überlegungen von Ehlers könnte daher die Rechtsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Organisation Börse gefordert werden. Es ist zwar zweifelhaft, daß der Gesetzgeber das Fehlen eines die Börse mit voller Rechtsfähigkeit ausstattenden Errichtungsgesetzes durch die Einfügung verschiedener die Rechtsfähigkeit betreffender Vorschriften in das Börsengesetz ausgeglichen hat 171 . Auch wenn die Beteiligtenfähigkeit als prozessuales Pendant zur Rechtsfähigkeit bezeichnet wird 172 , ist nur der Schluß von der Rechts- auf die Beteiligtenfähigkeit zulässig, nicht dagegen vice versa. § 61 VwGO erfaßt nicht nur juristische Personen, sondern geht über den Kreis der Vollrechtsfähigen hinaus und erfaßt auch nichtrechtsfähige Vereinigungen 173. Dennoch könnte von der Rechtsfähigkeit der Börse ausgegangen werden angesichts der Bedeutung, die auch die herrschende Auffassung der Börsengenehmigung beimißt 174 . Letztlich braucht diese Frage hier aber nicht entschieden zu werden, da sie auf die Normsetzungsbefugnis keinen entscheidenden Einfluß hat.
cc) Die Börse als Körperschaft Gegen die Qualifizierung der Börse als Anstalt hat sich kürzlich Breitkreuz gewandt, der die Börse als öffentlich-rechtliche Körperschaft einordnet 175. Er setzt 170
Ehlers, Lehre von der Teilrechtsfähigkeit, 77 für Stiftungen. So aber Claussen, Börsenrecht, §9 Rn. 21; Claussen/Hojfmann, ZBB 1995, 68 nennen vor allem § 13 VI BörsG, nach dem die Börse im (verwaltungsgerichtlichen) Verfahren aktiv wie passiv prozeßfähig ist. Nach § 12 II BörsG wird die Börse dabei durch die Geschäftsführung der Börse vertreten, woraus zu folgern sei, daß es sich bei der Geschäftsführung um ein Oigan im Sinne des § 31 BGB und bei der Börse selbst mithin um eine mit eigener Rechtsfähigkeit versehene Institution handele. Das Börsengesetz setze daher implizit die Zuerkennung von Rechtsfähigkeit voraus. I.E. ebenso Uppenbrink, Wertpapierbörsen als Körperschaften, 93. 172 Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 12 Rn.20. 173 Z. B. nichtrechtsfähige Vereine. Erforderlich ist lediglich, daß der Vereinigung ein Recht zustehen kann, sie also Zuordnungsobjekt eines Rechtssatzes ist, Bier, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 61 Rn. 6. Vgl. auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 109, der zusätzlich darauf hinweist, daß die Beschränkung der Beteiligtenfähigkeit auf verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten dazu führe, daß die Börse in sonstigen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art nicht beteiligungsfähig sei. Ob man § 13 V I BörsG allerdings so eng auszulegen hat, erscheint fraglich. 174 Vgl. hierzu ausführlich sogleich unter 3.a). 175 Breitkreuz, Ordnung der Börse, v. a. 88 ff. Früher i. E. schon ebenso - allerdings weitgehend gestützt auf die Annahme einer soziologischen Einheit - Uppenbrink, Wertpapierbörsen als Körperschaften, 56 ff., 60 f., 65 unter Berufung auf Max Weber. Uppenbrink zieht als statusbegründenden Verleihungsakt die Verbindung der Börsengenehmigung und der Genehmigung der BörsO heran, dort, 85. 171
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sich mit den Argumenten, die für eine Anstaltsstruktur angeführt werden, auseinander,findet diese jedoch im Ergebnis nicht stichhaltig. So sei die externe Trägerschaft zwar ein Merkmal der Anstalt; sei sie jedoch so atypisch ausgestaltet wie im Falle der Börse 176 , verliere ein derartiges Indiz an Bedeutung. Auch Fluktuationen unter den Börsenteilnehmern sprächen nicht automatisch gegen eine Körperschaft; durch die hohen Zulassungsanforderungen (die wiederum untypisch für eine Anstalt seien) werde außerdem eine relative Stabilität erreicht. Selbst die Tatsache, daß der Gesetzgeber sich die Auffassung der herrschenden Ansicht scheinbar zu eigen gemacht hat 177 , sei vernachlässigbar, denn in Ermangelung eines Bundesverwaltungsorganisationsgesetzes sei noch nicht einmal eine Bezeichnung im Gesetz selbst verbindlich 1 7 8 ; erst recht könne dies nicht für eine Bezeichnung in einer Regierungsbegründung gelten. Der für eine Einordnung als Körperschaft erforderliche mitgliedschaftlich strukturierte Verband könnte aus den gemäß § 16 BörsG 179 zum Börsenbesuch zugelassenen Personen bestehen. Breitkreuz folgert die korporative Organisation aus der Bedeutung, die der Präsenz der Handelsteilnehmer im Börsengeschehen zukomme. Ihr trotz gegenläufiger Interessen im Einzelfall bestehender Grundkonsens über die Bedeutung einer funktionierenden Börse reiche zwar noch nicht, da man ein gleichlautendes gemeinsames Interesse auch Anstaltsnutzern zugestehen müsse180. Entscheidend für die Qualifikation einer Handelseinrichtung als Börse sei jedoch weniger die arbeitserleichternde personelle und sachliche, vor allem technische, Ausstattung, sondern die „Repräsentation von Angebot und Nachfrage" 181. Die Zentralisierungsfunktion der Börse sei Teil eines materiellen Börsenbegriffs; ohne die Repräsentation gehe die Börse daher faktisch ihrer Existenz verlustig. Daher seien die Börsenbesucher mehr als bloße Nutzer: „Sie halten den spezifischen Börsenprozeß in Gang und bestätigen somit die (faktische, eben materielle) Existenz der Börse ständig wieder aufs Neue" 182 . Für die Ansicht von Breitkreuz spricht jedenfalls die Binnenorganisation der Börse: Auch wenn die Inanspruchnahme der Börse „geradezu exemplarische Züge eines anstaltlichen Benutzungsverhältnisses trägt" 183 , läßt sich 176
Kritisch auch Mues, Börse als Unternehmen, 85 f. Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 63; Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 72. 178 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Isensee, VVDStRL 44 (1986), 268; Jecht, Anstalt, 28; Krebs, NVwZ 1985, 614; Wiede, Börse, 150. 179 Zur zuvor geltenden Börsenfreiheit Göppert, Recht der Börsen, 21 ff., 69; vgl. Hopt, ZHR 141 (1977), 395. 180 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 96; anders aber Uppenbrink, Wertpapierbörsen als Körperschaften, 5 6 ff. 181 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 97ff. Vgl. Schmidtchen, JITE 154 (1998), 253ff. 182 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 99: Eine Körperschaft ohne Mitglieder verlöre ihre Existenz; eine Anstalt ohne Nutzer existierte hingegen bis zur Auflösung weiter. 183 Das konzediert auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 101 m. w. N., vgl. aber auch dort, 209 f. 177
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zumindest die Vorstellung der Anstalt als einer „fremdgesteuerten" Verwaltungseinheit 184 auf die Börse schwerlich übertragen. Denn der Börsenträger mag faktisch (in zunehmendem Umfang) bedeutenden Einfluß auf die Entscheidungen der Börsenorgane ausüben; deren Mitglieder werden jedoch von den Börsenteilnehmern aus den eigenen Reihen gewählt185. Nur diesen sind die Börsenorgane im Rahmen der geltenden Gesetze verantwortlich. Will man im Sinne einer funktionsgeleiteten Unterscheidung den Typus Anstalt auf solche Ausgliederungen beschränken, die weniger der Betroffenenselbstverwaltung als der Verselbständigung von Sachbereichen oder staatlich-privaten Kooperationsstrukturen dienen186, konfligieren die Börsenstrukturen damit in dieser Hinsicht tatsächlich dem Anstaltsbegriff. Eine eindeutige Entscheidung Anstalt oder Körperschaft braucht jedoch - zumindest an dieser Stelle - nicht getroffen zu werden: Eine derartige dichotome Darstellung ist nicht nur häufig faktisch schwierig. Sie ist auch rechtlich nicht notwendig. In Ermangelung eines verwaltungsrechtlichen Organisationsgesetzes187 besteht kein Formzwang. Die von der Wissenschaft entwickelten Typen haben explikativen Charakter; sie sind weder abschließend noch lassen sie sich trennscharf voneinander abgrenzen. Zwischen Körperschaften und Anstalten gibt esfließende Übergänge; „in der Lebenswirklichkeit finden sich häufig Organisationen, die körperschaftliche und anstaltliche Elemente in sich vereinigen" 188. Viel spricht dafür, in diesem Zwischenbereich auch die Börse anzusiedeln. Für die vorliegende Untersuchung kommt es nur darauf an, daß das Börsengesetz der Börse Satzungsgewalt zuweist. Die weitergehende Frage der Legitimation der Satzungsnormen ist nicht anhand der Organisationsform, sondern im konkreten Verfahrens- und Organisationsmodell zu beantworten 189. 184 So Laubinger, FS Maurer, 651. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 94 m. w. N. kritisiert aus diesem Grunde die Verwendung der Bezeichnung Selbstverwaltung für die öffentlich-rechtliche Anstalt, da keine unmittelbare Steuerung durch die Benutzer vorläge. Er will den Terminus auf solche Organisationen beschränken, an deren Verwaltung keine staatlichen Vertreter beteiligt sind, dort, 95. Vgl. hierzu allgemein Breuer, VVDStRL 44 (1986), 222 m. w. N. 185 Plastisch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 102: „Körperschaftstypische Mikrodemokratie". Jecht, Anstalt, 122 zufolge schließt eine pluralistische Besetzung die Qualifizierung als Anstalt nicht aus. 186 So Schmidt-Aßmann, GS Martens, 262 Fn. 53 unter Verweis auf die Differenzierung bei Lange, VVDStRL 44 (1986), v.a. 188 ff. Vgl. Ossenbühl, HStR III, §66 Rn.25 m. w.N. Vgl. aber auch Breuer, VVDStRL 44 (1986), 228f. und 229f.; Krebs, NVwZ 1985, 614. 187 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Quaritsch, VVDStRL 44 (1986), 267. Das erkennt auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 94. Auf Länderebene enthält das LVwG SchlH Ansätze zur gesetzlichen Vertypung, die allerdings ähnlich vage bleiben wie die Definition von O. Mayer. 188 Laubinger, FS Maurer, 651; ähnlich Jecht, Anstalt, 118ff.; Krebs, NVwZ 1985, 613f.; ders., HStR III, § 69 Rn. 31 ff. m. w. N.; Schuppert, Verwaltungseinheiten, 240ff. Vgl. auch die „intermediären Anstalten" bei Lange, VVDStRL 44 (1986), 194ff., die den Körperschaften darin ähneln, daß sie Privaten die Möglichkeit der Einflußnahme auf das Handeln einer öffentlich-rechtlichen Organisation eröffnen. Vgl. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 119ff., noch weitergehend dort, 168 ff. Zur Möglichkeit einer Beteiligung Privater an öffentlich-rechtlichen Anstalten („Privatisierung der Anstalt") Hecker, VerwArch 92 (2001), 261 ff.
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c) Zwischenergebnis Die Börse ist aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsstruktur dem staatlichen Bereich zuzuordnen. Die Frage nach dem einschlägigen Organisationstypus geht dagegen jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang fehl: Eine klare Antwort darauf ist kaum möglich, und eine solche hätte ohnehin nur begrenzten Indikationswert für mögliche Handlungs- und Legitimationsformen. Entscheidend ist allein, daß den von der Börse erlassenen Normen ein hinreichendes Legitimationsniveau zukommt. 2. Der Erlaß der Börsenordnung als Rechtsetzung Selbstverwaltung wird bisweilen mit Satzungsautonomie gleichgesetzt. Richtigerweise muß zwischen Verwaltungs- und Rechtsetzungsaufgaben differenziert werden. Die Befugnis zur Selbstverwaltung umfaßt nicht eo ipso das Recht der Selbstverwaltungseinheiten, (Außen-)Rechtsnormen zu erlassen. Erforderlich ist eine ausdrückliche Verleihung von Satzungsautonomie190. Während früher teilweise eine Einordnung als Rechtsverordnung vorgenommen wurde 191 , sollte es sich nach anderer Auffassung 192 um allgemeine, vom Börsenbetreiber aufgestellte Geschäftsbedingungen („Anstaltsordnung") handeln, denen sich die Börsenbesucher vertraglich zu unterwerfen hatten. Überwiegend wurden in den Börsenordnungen öffentlich-rechtliche Satzungen gesehen. Dieser Auffassung hat sich der Gesetzgeber im Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz angeschlossen193. § 131 BörsG legt eindeutig
189 Ähnlich wohl auch Breuer, VVDStRL 44 (1986), 230f. Nur insoweit bedarf die autonome Legitimation auch eines institutionalisierten wirksamen Zurechnungszusammenhangs, dazu Trute, Funktionen der Organisation, 286f. Vgl. auch Krebs, NVwZ 1985, 612ff. 190 Vgl. nur BVerfGE 33, 125 ff.; Forsthoff,\ Verwaltungsrecht 1,480. Mißverständlich Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.104; ihm folgend Baums/Segna, Börsenreform, 33, wonach der Erlaß der BörsO keine bloße Selbstverwaltungsmaßnahme, sondern einen Rechtsetzungsakt darstellt. Gemeint ist vermutlich die Frage, inwieweit allein die Einräumung von Selbstverwaltung bereits zu autonomer Rechtsetzung ermächtigt; in jedem Fall erfolgt jedoch auch die Normsetzung i. R. d. Selbstverwaltung, vgl. ebenso Bauerl Möllers, Beendigung des Parketthandels, 62 f. 191 Bremer, Grundzüge, 64 f. (der de lege ferenda aber den Erlaß i.R.d. Selbstverwaltungsrechts der Börse für vorzugswürdig erachtet) m. w. N. zur Rspr.; Göppert, Recht der Börsen, 107 f.; E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 1,628; Kindermann, W M Sonderbeilage Nr. 2 1989, 10; Meyer/Bremer, BörsG, §4 Anm. 1 ff.; Zänsdorf, Organisation der deutschen Börsen, 23. 192 Nußbaum, BörsG, §4 Anm. II; Anschütz, VerwArch 11 (1903), 545 ff. unter Verweis auf G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 385 ff. 193 Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 64: „Die Ergänzung in § 4 Absatz 1 Satz 1 [...] hat klarstellenden Charakter, indem sich der Gesetzgeber eindeutig auf die Seite der in Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis herrschenden Meinung stellt, daß die Börsenordnung ihrem Rechts- und Regelungscharakter nach eine Satzung und keine Rechtsverordnung ist".
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
fest, daß der Börsenrat die Börsenordnung „als Satzung" erläßt 194. Damit wird es den Börsen ermöglicht, an Stelle des „schwerfälligeren staatlichen Gesetzgebungsverfahrens" 195 selbst die erforderlichen Reglementierungen vorzunehmen und schnell und flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren. Es handelt sich bei den von der Börse erlassenen Satzungsnormen um Rechtsvorschriften, die die Börse im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Rechtswirkung für den von ihrem Tätigkeitsbereich erfaßten Personenkreis erläßt. Eine Zwangsmitgliedschaft ist selbstverständlich genausowenig vorgesehen wie ein Benutzungszwang, die Teilnahme am Börsengeschehen ist freiwillig 196 . Die von der Börse erlassenen Normen sind dennoch (potentiell) heteronom, denn sie gelten, ohne daß die Normadressaten im Einzelfall zustimmen, und ihre Einhaltung kann mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden 197. Sowohl die Börsenordnung als auch die Gebührenordnung sind Gesetze im materiellen Sinn und enthalten Rechtsnormen im Sinne der hier vorgenommenen Unterscheidung. 3. Legitimation Die Satzungen müssen proportional zu ihrer Eingriffsintensität ansteigende Legitimationsanforderungen erfüllen. Aus der Charakterisierung der Börse als öffentlich-rechtlich und ihrer Verortung im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung folgt die duale, auf demokratischen wie autonomen Elementen fußende Legitimationsstruktur. a) Demokratische Legitimation Demokratische Legitimation vermitteln den Satzungen all diejenigen Akte, mittels derer auf das Gesamtvolk zurückführbare Hoheitsträger Einfluß auf das Börsengeschehen nehmen. Die Errichtung einer Börse bedarf gemäß § 111 BörsG der Genehmigung der zuständigen obersten Landesbehörde (Börsenaufsichtsbehörde). Mit Erteilung der Ge194
Eine ausdrückliche Festlegung des Rechtscharakters der Gebührenordnung fehlt. Für diese kann jedoch nichts anderes gelten als für die BörsO selbst, vgl. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 130; Kumpel, W M 1997, 1918; Schwark, BörsG, §5 Rn. 1. 195 Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.101. Interessant in diesem Zusammenhang Schwark, W M 1997, 302, der einerseits die dem öffentlichen Recht eigentümliche „Starrheit und Regelungsdichte" beklagt, andererseits aber der Börsenpraxis attestiert, daß „die Besetzung der Börsenorgane mit denjenigen, die die Börse in Wahrheit betreiben, den Banken und Maklern, für zügige Entscheidungen und wenige verwaltungsrechtliche Streitigkeiten" sorgt. Vgl. i. d. S. bereits BVerfGE 33, 125 (156f., 159). 196 Hiervon zu unterscheiden ist der Anschluß- und Benutzungszwang, dem die Börsenteilnehmer unterliegen, vgl. hierzu Peterhoff, in: Schäfer, BörsG, § 5 Rn. 22. 197 Dabei ist jedoch darauf zu achten, daß sich der Gebrauch solcher Zwangsmittel im Rahmen des Anstaltszwecks zu halten hat und nur zu dessen Wahrung erfolgen darf, Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 505.
B. „Verstaatlichte" private Normsetzung
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nehmigung wird der Antragsteller als Träger der Börse zur Errichtung und zum Betrieb derselben berechtigt 198. Die börsenrechtliche Genehmigung ist mehr als die bloße behördliche Erlaubnis einer sonst untersagten privaten Tätigkeit. Eine Börse im Rechtssinne entsteht vielmehr erst durch die Genehmigung gemäß § 11 BörsG: „Die Genehmigung ist damit Teil der Errichtung der Börse" 199 . Andere, genehmigungsfreie Börsen im Sinne des Börsengesetzes gibt es nicht 200 . Für ungenehmigte private Handelseinrichtungen, die dem herkömmlichen Börsenbegriff unterfallen, stellt § 1 BörsG eine Verbotsnorm dar 201 . Da die statusbegründende börsenrechtliche Genehmigung im Gegensatz zur „normalen" gewerberechtlichen Konzession sich nicht auf die Verbotsbefreiung und Erlaubnis privater Wirtschaftstätigkeit beschränkt, sondern zusätzlich - wichtiger noch - eine Delegation staatlicher Organisationsgewalt enthält 202 , kann ihr bereits ein gewisses Maß an demokratischer Legitimation beigemessen werden. Das Börsengesetz enthält darüber hinaus Anforderungen an die Organisation und die Verwaltung der Börse. Vor allem wird der Börse ausdrücklich Satzungsautonomie zugemessen203. Auch der Inhalt der Börsenordnung wird zum Teil bereits obligatorisch durch das Börsengesetz vorgegeben (vor allem in den §§ 13 II und III, 16 III und VII, 50 BörsG) 204 . Ähnliches gilt für die Gebührenordnung, für die § 141 BörsG zwar nicht die Höhe der im einzelnen zu veranschlagenden Gebühren festlegt, aber doch bestimmt, welche Leistungen kostenpflichtig sein können205. Gemäß § 13 V 1 BörsG bedarf die Börsenordnung und ge198
So jetzt explizit § 1 II 1 BörsG. In diesem Sinne bereits zum früheren Gesetzeswortlaut Schwark, BörsG, § 1 Rn. 21. Demnach erlangt durch die Genehmigung der Börsenträger die Stellung eines beliehenen Unternehmers und wird zu einer Rechtsgestaltung, nämlich der Errichtung und dem Betrieb einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung Börse, ermächtigt. Bei bereits bestehenden Börsen führte die Genehmigung jedoch zu einer Errichtung der öffentlichen Börse „uno actu". Ähnlich Beck, W M 1996, 2316; Peterhoff, in: Schäfer, BörsG, § 1 Rn.2f. Dieses „gerüttelt Maß Interpretationskunst" (Mues, Börse als Unternehmen, 84) bedarf es nach der Neufassung nicht mehr. 199 Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 72. Anders noch Anschütz, VerwArch 11 (1903), 522; ähnlich Nußbaum, BörsG, § 1 Anm. I. Auch Püttner, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 214 geht scheinbar von einem bloßen Verbot mit Erlaubnistatbestand aus, und Claussen, Börsenrecht, § 9 Rn. 18 sieht in der Genehmigung „eine Art Konzession". 200 Vgl. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 28, 72f.; Göppert, Recht der Börsen, 73; Köndgen/ Mues, WM 1998, 57; Mues, Börse als Unternehmen, 75; Uppenbrink, Wertpapierbörsen als Körperschaften, 85; Wiede, Börse, 53, 137. 201 Grundlegend PrOVGE 34, 315 ff. (Feenpalast-Entscheidung). Vgl. Wastl/Schlitt, W M 2001, 1702 ff. Vgl. jetzt aber die §§58-60 BörsG; dazu Reuschiel Fleckner, BKR 2002, 617 ff. 202 Baums!Segna, Börsenreform 29; Göppert, Recht der Börsen, 72f.; Mues, Börse als Unternehmen, 75; Schwark, BörsG, § 1 Rn.21. 203 § 131 BörsG für die BörsO. Auch der Erlaß der GebO ist gem. § 14 BörsG gesetzlich vorgesehen. Daß sie nicht ausdrücklich als Satzung bezeichnet wird, ist insoweit unschädlich. 204 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 129 f. 205 Diese Aufzählung ist gem. der Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 64 abschließend. Nichtsdestotrotz werden in der Praxis weitergehende, auf privatvertraglicher Basis zwischen dem Börsenbetreiber und den Börsenteilnehmern ausgehandelte (faktisch: vom Börsen-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
mäß § 14 II 1 BörsG bedarf die Gebührenordnung der Genehmigung durch die Börsenaufsichtsbehörde. Diese Genehmigungen sind Bestandteil der staatlichen Aufsichtsbefugnisse über die Börse 206 . Der Prüfungsumfang läßt sich den gesetzlichen Bestimmungen nicht direkt entnehmen. Maßstab der allgemeinen Börsenaufsicht ist nur die Gesetzmäßigkeit der Maßnahmen der Börsenselbstverwaltung 207. Für eine Beschränkung auf eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle wird konkret auch auf das in § 13 V 2 BörsG enthaltene Recht der Aufsichtsbehörde, die Aufnahme bestimmter Vorschriften in die Börsenordnung verlangen zu können, verwiesen. Dahinter verbirgt sich die allgemeine Befugnis, eine Genehmigung verweigern zu können, wenn und soweit das vorgelegte Regelwerk einer Selbstverwaltungseinrichtung keine ausreichenden Bestimmungen über die Durchführung der Aufgaben enthält, die ihr gesetzlich übertragen wurden. Erfaßt ist damit ein präventiver Gesetzlichkeitsvorbehalt, der Zweckmäßigkeitserwägungen ausdrücklich ausschließt208. Ein unterschiedlicher Prüfungsumfang bei den in engem Zusammenhang stehenden Sätzen 1 und 2 ist nicht anzunehmen, mithin erstreckt sich auch die Prüfungsbefugnis des § 13 V 1 BörsG nur auf die Rechtmäßigkeit der Börsenordnung. An dieser Rechtslage hat sich auch nach dem Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz entgegen anderslautenden Stimmen209 nichts geändert, denn die dort enthaltene Erweiterung der Börsenaufsicht um eine Handelsaufsicht bezieht sich auf die Überwachung der laufenden Geschäftstätigkeiten und hat keine wesentlichen Auswirkungen auf die Genehmigung der Börsenordnung 210. Auch der die Gebührenordnung betreffenden Genehmigung geht lediglich eine Rechtmäßigkeitskontrolle voraus; insbesondere ist die Höhe der Gebühren nicht in das Belieben der Aufsichtsbehörde gestellt211. Aus betreiber festgelegte) Nutzungsentgelte insbesondere für die Nutzung der elektronischen Handelssysteme fällig, vgl. hierzu kritisch Mues, Börse als Unternehmen, 82 ff. Hingegen akzeptieren die zusätzlichen Nutzungsentgelte Breitkreuz, Ordnung der Börse, 130; Peterhoffin: Schäfer, BörsG, § 5 Rn. 20 f. Schwark, BörsG, § 5 Rn. 7. Künftig soll die Börse neben Einführungsgebühren auch Gebühren für den laufenden Handel erheben können (§1411 Nr. 5 BörsG n. F.). Damit soll ausweislich der Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 74 „eine wichtige Voraussetzung für die Wahrung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Börsen geschaffen" werden, skeptisch U. H. Schneider, Börsenzeitung vom 18.10.2001, 3. 206 Nach E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 629 erlangt die BörsO hingegen erst durch den Rechtsbefehl der Genehmigung Rechtsverbindlichkeit (RVO); die Börsenorgane seien lediglich „Feststellungsorgane". 207 § i i v i BörsG. Vgl. Bremer, Grundzüge, 59; Mues, Börse als Unternehmen, 79; Schwark, BörsG, § 1 Rn. 43 ff., jeweils m. w. N. 208
Schwark, BörsG, §4 Rn.5; vgl. auch dort, § 1 Rn.44. Vgl. Claussen, DB 1994, 969; dens., Börsenrecht, § 9 Rn. 30; W. Groß, Kapitalmarktrecht, § 2 c BörsG Rn. 11. 210 Wie hier BauerlMöllers, Beendigung des Parketthandels, 63 f.; i.E. ebenso Mues, Börse als Unternehmen, 80. 211 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 131. A. A. (auch Zweckmäßigkeitsüberprüfung) Schwark, BörsG, §5 Rn.6; zustimmend BäumstSegna, Börsenreform, 49; Segna, ZBB 1999, 151 Fn.73. 209
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dieser Beschränkung auf die Rechtmäßigkeitskontrolle ergibt sich ein Anspruch der Börse auf Genehmigung mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang stehender Änderungen ihrer Satzungen212. Ein weiteres Element demokratischer Legitimation enthält schließlich § 1 V 1 BörsG, der der Börsenaufsichtsbehörde ein Teilnahmerecht an den Beratungen der Börsenorgane zugesteht. Diese kann somit gesamtstaatliche und gemeinwohlorientierte Positionen einbringen und bleibt über die Entscheidungen der Börsenselbstverwaltung direkt informiert. b) Autonome Legitimation Während die demokratische Komponente für Anstalten und Körperschaften keine wesentlichen Unterschiede vorsieht, kommt der Unterscheidung für die autonome Legitimation stärkeres Gewicht zu. Anstaltliche Satzungen werden im Rahmen von freiwillig begründeten Benutzungsverhältnissen aufgrund der sog. Anstaltsgewalt erlassen. Kennzeichnend für diese Satzungen ist es, daß sie sich innerhalb des Anstaltszwecks halten müssen und daher nur eine eng umgrenzte Bedeutung haben können. Ihrer Regelung zugänglich sind nur weniger bedeutsame Lebensbereiche; sie können zulässigerweise nur Eingriffe geringerer Schwere bewirken 213. Sachlich begrenzt somit der Anstaltszweck der Börse ihre Regelungsgewalt; persönlich ist diese auf den Personenkreis, der von der allgemeinen Zuständigkeit des Autonomieträgers umfaßt wird, beschränkt. Die Anstalt darf nur befehlen und fordern, was durch den Zweck der Anstalt selbst geboten ist, und sie hat Befehlsgewalt nur über diejenigen, die sich als Benutzer in ihrem Bannkreis befinden 214. Körperschaftliche Satzungen taugen hingegen auch zur Regelung von Rechtsbeziehungen größeren Gewichts und für intensivere Eingriffe, da sie aufgrund der mitgliedschaftlichen Organisationsstruktur einen tiefergehenden und tragfähigeren Legitimationsgrund besitzen 215 . Inhaltlich handelt es sich bei der Börsenordnung um ein vornehmlich auf Verfahrens- und Organisationsvorgaben beschränktes Regelwerk, das zudem in wesentlichen Teilen den Wortlaut des Börsengesetzes wiederholt 216. Außerdem stehen die satzungsrechtlichen Regelungen in engem Sachzusammenhang mit dem Börsengeschehen und dienen dessen Schutz. Man kann ihnen daher eine bloße Hilfsfunktion gegenüber dem sonstigen Börsengeschehen zugestehen und damit die Legitimation aus dem Anstaltszweck als ausreichend ansehen217. Das Verfahren der Satzungsge212
Bauerl Möllers, Beendigung des Parketthandels, 62 ff. Clemens, FS Böckenförde, 264; vgl. Krebs, NVwZ 1985, 611 f.; Ossenbühl, HStR III, § 66 Rn. 25; dens., Krankenversicherung, 63 f. m. w. N. 214 Statt vieler Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 505; Ossenbühl, HStR III, § 25. 215 Vgl. nur Kluth, Selbstverwaltung, 235; Schmidt-Aßmann, GS Martens, 261 ff. 216 Kritisch Mues, Börse als Unternehmen, 162. 217 So Breitkreuz, Ordnung der Börse, 106 allgemein für die Eingriffsbefugnisse der Börsenverwaltung. 213
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
bung im Rahmen der Börsenselbstverwaltung ist allerdings anstaltsuntypisch: Die Börsenordnung wird nicht von einem vom Anstaltsträger ernannten Verwaltungsorgan, sondern vom Börsenrat erlassen. Dabei handelt es sich um ein aus höchstens 24 Mitgliedern bestehendes, pluralistisch besetztes Kollegialorgan 218. In ihm müssen gemäß § 91 BörsG die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kreditinstitute einschließlich der Wertpapierhandelsbanken, die zugelassenen Finanzdienstleistungsinstitute und sonstigen zugelassenen Unternehmen, die Skontroführer 219, die Versicherungsunternehmen, deren emittierte Wertpapiere an der Börse zum Handel zugelassen sind, andere Emittenten solcher Wertpapiere, die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kapitalanlagegesellschaften und vor allem auch die Anleger vertreten sein. Dabei darf die Zahl der Vertreter der Kreditinstitute einschließlich der Wertpapierhandelsbanken sowie der mit den Kreditinstituten verbundenen Kapitalanlagegesellschaften und sonstigen Unternehmen insgesamt nicht mehr als die Hälfte der Mitglieder des Börsenrates betragen, § 913 BörsG 220 . Die Mitglieder des Börsenrates werden gemäß § 101 BörsG für die Dauer von drei Jahren von den eben genannten Gruppen jeweils aus ihrer Mitte gewählt. Diese Wahl erfolgt in Gruppen und wird durch eine Rechts Verordnung näher ausgestaltet221. Aufgrund der Unbestimmtheit der Gruppe der Anleger 222 werden deren Vertreter von den übrigen Mitgliedern des Börsenrates bestimmt, § 1012. HS BörsG. Diese Kooptation stößt nicht auf rechtliche Bedenken223, zumal die Anleger nur über Intermediäre am Börsengeschehen teilhaben und somit ohnehin nur mittelbar Betroffene sind. Ihre Beteiligung erfolgt weniger zum Zwecke der Partizipation der Normadressaten als vielmehr der Gemeinwohlsicherung und Akzeptanzgewinnung. Die vom Börsenrat produzierten Rechtsnormen können sich somit auf eine gegenüber „normaler" anstaltlicher Normsetzung weitergehende Legitimation stützen und damit auch Rechtsbeziehungen größeren Gewichts begründen und intensivere Eingriffe beinhalten. Entgegen Breitkreuz ist eine körperschaftliche Struktur insgesamt nicht erforderlich; für eine erhöhte Legitimation der Satzungen genügt es, wenn wie hier das Erlaßverfahren eine Rückführung auf ein „Verbandsvolk" erlaubt. Anstaltliche wie körperschaftliche Normsetzung ist in ihrer Wirkung prinzipiell auf den Kreis der an der Börse zugelassenen Handelsteilnehmer als Destinatäre oder Mitglieder beschränkt. Außenseiterbindung ist nur aufgrund gesonderter gesetzlicher Ermächtigung zulässig und muß dem spezifischen Satzungszweck dienen. Die Börsenordnung beansprucht Geltung auch für elektronische Handelssysteme mit 218 Vgl. die Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 36: „Bei der Zusammensetzung dieses wichtigen Gremiums sind alle am Börsengeschehen beteiligten Gruppen angemessen zu berücksichtigen"; vgl. auch dort, 62. 219 Bis zum Erlaß des 4. FMFG die Kursmakler. 220 Kritisch zur Übergewichtung der Kreditwirtschaft dennoch Mues, Börse als Unternehmen, 165. 221 Vgl. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 139f.; vgl. auch dort, 154ff. 222 Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 63. 223 Allgemein Kluth, Selbstverwaltung, 472.
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„remote membership" und die an diese angeschlossenen Handelsteilnehmer . Damit erstreckt sich ihr Regelungsbereich gleichermaßen auf solche Teilnehmer, die nicht selbst zum Handel an der entsprechenden Börse zugelassen sind, denn nach § 171 BörsG genügt es für die Teilnahme am Börsenhandel in einem derartigen elektronischen Handelssystem, wenn ein Unternehmen an einer anderen deutschen Wertpapierbörse zugelassen ist 225 . Im Verhältnis zu der Börse, deren elektronisches Handelssystem genutzt wird, fehlt damit einerseits der das Nutzungsverhältnis begründende Zulassungsakt; andererseits sind diese Nutzer auch keine Angehörigen des normsetzenden Personenverbands. Sie sind nur im Börsenrat ihrer Heimatbörse repräsentiert. Weder kann eine bundesweit geltende Zulassung angenommen werden, da jede Börse eine eigenständige Organisation aufweist und in ihren Entscheidungen autonom ist, noch kann darauf verwiesen werden, daß die Börsenordnungen unter den deutschen Präsenzbörsen abgestimmt werden, denn der dadurch mögliche Einfluß ist allenfalls mittelbar. Deshalb setzt nach § 1711 2. HS BörsG der Zugang zu dem elektronischen Handelssystem (unter anderem) die individuelle Anerkennung des geltenden Regelwerks voraus 226.
4. Revisibilität Nach § 201 BörsG wird die jeweilige Landesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung Vorschriften über die Errichtung eines Sanktionsausschusses, dessen Zusammensetzung und Verfahren zu erlassen 227. Bei Verstößen gegen börsenrechtliche Vorschriften und Anordnungen können Handelsteilnehmer vom Sanktionsaus224
§ 1 S.2 BörsO FWB; Mues, Börse als Unternehmen, 162f. Ein separates Zulassungsverfahren erachtete der Gesetzgebers angesichts gleichlautender Zulassungsbedingungen an allen deutschen Börsen und dem dadurch gewährleisteten einheitlichen Standard für entbehrlich, Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 67; Peterhoff\ in: Schäfer, BörsG, §7a Rn. 1. 226 Hierauf geht Mues, Börse als Unternehmen, 162 f. unverständlicherweise nicht ein, wiewohl es seine These stützte, daß der öffentlich-rechtlichen Börse privatrechtliche oder doch dem Privatrecht verwandte Elemente (individuelle Anerkennung) eignen. Vgl. Breitkreuz, Ordnung der Börse, 265. Zur „Legitimation kraft eigenen Unterwerfungswillens" z.B. Clemens, AöR 111 (1986), 115 f. 227 Vgl. z.B. SanktionsausschußVO FWB vom 18.12.1996 (GVB1.I 1997, 19), zuletzt geändert durch VO vom 17.3.1999 (GVB1.I 1999, 292). Der Sanktionsausschuß besteht aus einem Vorsitzenden Mitglied und zwei beisitzenden Mitgliedern. Der Vorsitzende und das zu seiner Stellvertretung bestellte Mitglied müssen die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst im Sinne von § 110 DRiG haben; sie werden vom Börsenrat für die Dauer von drei Jahren gewählt. Sie dürfen weder Handelsteilnehmer noch Angehörige der Börsenorgane, Beschäftigte des Börsenträgers oder Bedienstete der Börsenaufsichtsbehörde sein, und sie sollen Erfahrung in Wirtschaftssachen besitzen, §2 Schiedsgerichts VO FWB. Streitigkeiten aus Weitpapiergeschäften einschließlich der Frage, ob zwischen den Parteien ein Geschäft zustande gekommen ist, werden hingegen vom Schiedsgericht entschieden, sofern von den Parteien keine abweichende Vereinbarung getroffen wurde, vgl. § 1 SchiedsgerichtsO FWB. Die Besetzung des Schiedsgerichts ähnelt der des Sanktionsausschusses. 225
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
schuß mit Verweis, Ordnungsgeld bis zu 50.000 Euro oder bis zu dreißigtägigem Handelsausschluß belegt werden. § 20 III BörsG verweist Streitigkeiten wegen der Entscheidungen des Sanktionsausschusses und der Börsenaufsichtsbehörde an die Verwaltungsgerichte. Daneben kann die Börsenordnung als öffentlich-rechtliche Satzung gemäß § 47 VwGO i.V. m. den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften unter Umständen Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens sein 228 . 5. Ergebnis Unabhängig von der Frage, ob man der Börsenordnung eine so starke Eingriffswirkung zuschreibt, daß sie körperschaftlicher Legitimation bedarf, oder eine Legitimation durch die Anstaltsgewalt für zulässig erachtet, stößt die Normsetzung durch die Börse nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken. Angesichts der Möglichkeit, durch einzelne körperschaftliche Strukturen, namentlich durch die Wahl der Mitglieder des normsetzenden Organs, die Legitimation der Normen zu erhöhen, verliert die Diskussion um die Rechtsnatur der Börse an Bedeutung. Außenseiterbindung ist durch spezielle Anerkennungserklärungen möglich. 6. Exkurs: Auswirkungen einer möglichen Börsenreform Durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz hat die Börsenreform in dem Sinne, daß die öffentlich-rechtliche zugunsten einer privatrechtlichen Organisationsform aufgegeben wird, nach einer Phase intensiver juristischer Diskussionen 229 aktuell etwas an Bedeutung verloren. Entgegen mancher Befürchtungen bzw. Hoffnungen hält der Gesetzgeber an der bisherigen Struktur fest. Die öffentlichrechtliche Selbstverwaltung der Börse soll gestärkt werden 230. Dennoch ist - auch 228 Diese Möglichkeit besteht insbesondere am Börsenplatz Frankfurt a.M., denn anders als in einigen anderen Bundesländern kann nach § 151 HessAGVwGO jede Satzung im Wege der abstrakten Normenkontrolle angegriffen werden. Vgl. zur Einschränkung der Justitiabilität („im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit") Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §47 Rn. 32 f. Soweit aus dem BörsG verwaltungsrechtliche Streitigkeiten folgen, ist die BörsO taugliches Überprüfungsobjekt. Anderes gilt hinsichtlich der Bußgeldvorschriften, für die mit § 20 III BörsG aber eine spezielle Norm besteht. 229 Die Überlegungen liefen kurzgefaßt darauf hinaus, das in seinen wesentlichen Grundzügen aus dem Jahre 1896 bzw. 1908 stammende BörsG von einem Polizei- zu einem modernen Marktgesetz fortzuentwickeln, welches lediglich die Grundprinzipien des Börsenhandels festschreibe und im übrigen Raum lasse für den Wettbewerb von Systemen, Produkten und Anbietern. V.a. Hopt/Baum, Börsenrechtsreform; dies., W M Sonderbeilage Nr. 4 1997,1 ff.; hierzu auch die Stellungnahme der hessischen Börsenaufsichtsbehörde; vgl. Baums/Segna, Börsenreform; Claussen, ZBB 2000, 1 ff.; Claussen!Hoffmann, ZBB 1995, 68 ff.; Hellwig, ZGR 1999, 791 ff.; Köndgen, JITE 154 (1998), 224ff.; Mues, Börse als Unternehmen; Schwark, WM 1997, 293 ff. Segna, ZBB 1999, 144 ff. 230 Vgl. aber Reuschiel Fleckner, BKR 2002, 617 ff. zur privatrechtlichen Organisation der börsenähnlichen Einrichtungen i.S.d. §§58ff. BörsG.
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angesichts der nach wie vor im Räume stehenden Verdichtung zumindest des europäischen Börsenwesens231 - das Thema nicht endgültig abgeschlossen und lohnt ein Seitenblick. Wenn die herkömmliche, soeben dargestellte Struktur der Börse aufgegeben werden und die Börse als Unternehmen des Privatrechts agieren soll, muß geklärt werden, welche Mechanismen die Börse in die Lage versetzen könnten, in ähnlicher Form wie bisher die für die Ordnung ihrer Geschäfte erforderlichen Regeln aufzustellen. Kann die durch die Befugnis zur öffentlich-rechtlichen Normsetzung eröffnete Flexibilität und Sachnähe auch bei privatrechtlicher Organisation gewährleistet werden? a) Privatrechtliche
Satzung bzw. Vereinbarung
Im Zuge einer Umstrukturierung der Börse in eine juristische Person des Privatrechts könnten bisher in der Börsenordnung und der Gebührenordnung enthaltene Vorschriften zur Grundlage einer neuen Satzung eines Vereins, einer GmbH oder AG werden 232. In der Folge wären sie nur unter den für eine Satzungsänderung erforderlichen Voraussetzungen abänderbar. Vor allem müßten die Normadressaten Mitglieder bzw. Gesellschafter der Börse werden, was zur Folge hätte, daß Ein- und Austritte die Beteiligungsstruktur beeinflußten und gegebenenfalls Kapitalerhöhungen bzw. -herabsetzungen erforderlich machten. Sollten, um dies zu vermeiden, statt dessen privatrechtliche Vereinbarungen zwischen dem Börsenunternehmen und den Handelsteilnehmern abgeschlossen werden, wäre zumindest gesetzlich eine angemessene Vertretung der verschiedenen Gruppen der Handelsteilnehmer im Kollegialgremium sicherzustellen 233. b) Erstreckungsvertrag Weil im Rahmen pflichtenbegründender Vertragsverhältnisse grundsätzlich jede inhaltliche Änderung wiederum eines Vertrages bedarf, drohte durch die Umstellung auf ein privatrechtliches Regelungssystem die Börsenregulierung ihrer Flexibilität verlustig zu gehen. Die Benutzungsverhältnisse könnten voraussetzen, daß die Handelsteilnehmer und Emittenten die von einem Börsenorgan verabschiedeten Regelwerke in ihrer jeweils geltenden Fassung anerkennen. Erforderlich hierfür 231 Vgl. Hoppmann, Entwicklungen; Köndgen, FS Lutter, 1401 ff.; Nobel, FS Lutter, 1485 ff.; zur Elektronisierung Spindler, W M 2001, 1696ff.; Wastl/Schlitt, W M 1702ff. 232 Nach der gegenwärtigen Rechtslage sind die BörsO und die Satzung des Börsenträgers strikt voneinander getrennt zu halten. Die Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 36, 62 enthält aber bereits einen Hinweis auf die strukturelle Ähnlichkeit des Börsenrates mit dem aktienrechtlichen Aufsichtsrat. Vgl. hierzu allgemein Teubner, Organisationsdemokratie, 230ff. Für einen Rechtsformzwang plädieren Hopt/Baum, Börsenrechtsreform, 400f., 406; Baums! Segna, Börsenreform, 28,42 ff., die aber einen Verein v. a. wegen des fehlenden Verkehrsschutzes für kaum geeignet halten, dort, 43 f.; ebenso Segna, ZBB 1999, 149. 233 BaumslSegna, Börsenreform, 28, 42ff.; Hopt/Baum, Börsenrechtsreform, 405.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
wäre ein sog. Unterwerfungs- oder Erstreckungsvertrag 234. Eine solche „dynamische Verweisung" ist im Privatrecht im Gegensatz zum öffentlichen Recht durchaus zulässig; rechtstechnisch handelt es sich um ein Leistungsbestimmungsrecht im Sinne des § 315 BGB 2 3 5 . Dieser findet nach anerkannter Ansicht nicht nur auf die Bestimmung der Hauptleistung Anwendung, sondern kann auch für Nebenregelungen jeglicher Art eingesetzt werden 236. Sofern die Unterwerfung unter ein vollständiges Regelwerk als zu weitgehend empfunden wird, könnten auch lediglich einzelne bestimmte Vertragsmodalitäten, etwa die Erhebung von Gebühren, einem einseitigen Bestimmungsrecht der Börse anheimgestellt werden. c) Kontrolle Wenn hiergegen vorgebracht wird, das einseitige Leistungsbestimmungsrecht der Börse unterliege in stärkerem Maße als die bisherige Rechtsnormsetzung der Gefahr des Mißbrauchs, so sind die auch in diesem Falle bestehenden Kontrollmechanismen zu bedenken. Nach § 315 III und § 242 BGB (bzw. § 307 BGB) stehen die Unterwerfungsverträge unter dem Vorbehalt gerichtlicher Billigkeitskontrolle 237 . Stärker als bisher müßten die Börsenregularien zudem auf ihre wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit untersucht werden 238. Und als zusätzlicher Sicherungsmechanismus könnte das Genehmigungserfordernis des § 13 V 1 bzw. § 14 II 1 BörsG beibehalten werden, wobei im Interesse schneller Entscheidungen über eine Ausweitung der Genehmigungsfiktion des § 14 II 2 BörsG nachgedacht werden sollte 239 . Eine staatliche Ge234
Baums! Segna, Börsenreform, 48, nennen als Beispiel aus dem Vereinsrecht den zwischen dem DFB und den Berufsfußballspielern der Fußball-Bundesliga abgeschlossenen Lizenzvertrag. Ebenso Segna, ZBB 1999, 150; zustimmend Merkt, Gutachten, 85. „Spielregeln" sollen wegen der Interessenkonvergenz der Betroffenen nicht als AGB zu qualifizieren sein, so BGHZ 128, 93 (101 f.). Vgl. hierzu ausführlich unten unter D.II. 235 Vgl. BGHZ 128, 93ff.; Edenfeld, Rechtsbeziehungen, 212ff.; Heermann, NZG 1999, 330ff.; Lukes, FS Harry Westermann, 335; Vieweg, Normsetzung, 335 ff. Vgl. auch Claussen, ZBB 2000, 8 sowie Mues, Börse als Unternehmen, 163, der allerdings die Aushandlung grds. für den Börsenunternehmen zumutbar hält und auf die entsprechende Praxis i.R. d. privatrechtlichen Anschlußverträge verweist. Zu möglichen Erleichterungen der Zugangsvoraussetzung Manfred Wolf W M 2001, 1792. 236 Lukes, FS Harry Westermann, 335 f. m. w. N. Eine nähere Untersuchung dieser Regelungsmethode muß hier unterbleiben, um nicht die der Untersuchung zugrundeliegende strukturelle Differenzierung zugunsten der gemeinsamen Beschreibung materiell zusammengehöriger Normsetzungsmechanismen aufzugeben. Insoweit kann auf die Ausführungen unter D. II. verwiesen werden. 237 Vgl. nur Gottwald, in: MünchKomm BGB, § 315 Rn. 36; Heermann, NZG 1999, 332 m. w. N. Hierzu auch ausführlich am Beispiel des Regelwerks Neuer Markt unten unter D. II. 2. 238 Vgl. zum geltenden Recht Beck, WM 2000, 597ff.; v. Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, v.a. 130 ff. 239 Hopt/Baum, Börsenrechtsreform, 402 Fn. 482; Baums!Segna, Börsenreform, 49; Segna, ZBB 1999, 151. Claussen, ZBB 2000, 7 f. sieht offenbar in dieser Genehmigung eine Art Allgemeinverbindlichkeitserklärung, die eine einzelfallbezogene Zustimmung entbehrlich machte.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen
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nehmigung privater Regeln ist ungewöhnlich. Sie ist jedoch nicht per se unzulässig, sondern bedarf nur spezieller Rechtfertigung. Angesichts der Bedeutung, die dem Bestand und der ordnungsgemäßen Funktion des Börsenwesens für die gesamte Völkswirtschaft zukommt, bestünden gegen eine staatliche Mißbrauchsaufsicht wenig Bedenken. Beispielhaft könnten hinsichtlich der allgemeinen Marktaufsicht die Regelungen der Banken- und Versicherungsaufsicht herangezogen werden; hinsichtlich der speziellen Genehmigungen der börsenrelevanten Regelwerke müßte zunächst ermittelt werden, inwieweit diese gesetzlich vorstrukturiert werden könnten.
d) Ausblick Wagt man abschließend eine vorsichtige Prognose zur zukünftigen Entwicklung, lassen sich trotz der durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ausgebliebenen grundlegenden Reform langfristig Vorzüge der privatrechtlichen Alternative ausmachen 240 . Denn wenn die Konsolidierung der europäischen Börsenlandschaft ernsthaft weiter vorangetrieben werden soll, kann sich insbesondere die öffentlich-rechtliche Verfaßtheit der deutschen Börsen als ein schwer aus dem Weg zu räumendes Hindernis erweisen 241.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen Über die Einbeziehung privater Normen in die staatliche Rechtsordnung entscheiden Rezeptionsklauseln in Gesetzen, Rechtsverordnungen, Satzungen oder VerwaltungsVorschriften. „Sie sind die Filter, die den Kräften der Selbstregulierung einen begrenzten Einfluß auf die staatliche Normsetzung verschaffen" 242. Die konkrete Ausgestaltung dieser Rezeptionsklauseln terminiert die rechtliche Wirkung der bezogenen privaten Normen. 240
In diesem Sinne auch Merkt, Gutachten, 81 ff., 86ff. Mues, Börse als Unternehmen, 161 ff. dürfte einen vorzüglichen Ausgangspunkt für die Ausarbeitung eines privatrechtlichen Modells bieten. 241 Insbesondere die mit einer Fusion möglicherweise verbundene Beleihung einer ausländischen juristischen Person des Privatrechts als Börsenträger bzw. dessen Sitzverlagerung ins Ausland bereitet Schwierigkeiten, vgl. nur U.H. Schneiderl Burgard, W M Sonderbeilage Nr. 3 2000, 24ff.; U.H. Schneider, AG 2001, 276ff.; am Beispiel Eurex skeptisch auch Breitkreuz, Ordnung der Börse, 176ff., 268 f.; hingegen hielt die hessische Aufsichtsbehörde die geplante Börsenfusion zwischen der LSE und der FWB für genehmigungsfähig, vgl. die Gemeinsame Erklärung der Aufsichtsbehörden vom 21.8.2000; ähnlich HammenIKümpel, WM Sonderbeilage Nr. 3 2000,3 ff. Zur Übertragung von Hoheitsrechten (insbes. in Hinblick auf Art. 24 GG) auf ausländische juristische Personen des Privatrechts am Beispiel von Eurotransplant, einer Stiftung niederländischen Rechts mit Sitz in Leiden, ablehnend Schmidt-Aßmann, Gesundheitswesen, 106 f. 242 Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 269.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Auf Normsetzungsebene kann eine Rezeption privater Normen dadurch erfolgen, daß diese in staatliches Recht entweder vollständig inkorporiert werden (I) oder auf sie verwiesen wird (II). Die Existenz der privaten Regeln ist in beiden Fällen dem Staat bekannt und wird bei der Gesetzesformulierung vorausgesetzt. Die Bedeutung von Inkorporation bzw. Verweisung liegt somit prinzipiell nicht darin, neue Verhaltensanforderungen anzuregen, sondern lediglich darin, bereits vorhandene mit Rechtsgeltung zu versehen. Hiermit verbunden ist daher immer die Gefahr des Zuspätkommens der staatlichen Rechtsetzung.
I. Inkorporation Im Falle einer Inkorporation wird entweder der gesamte Text einer privaten Norm in eine Rechtsnorm aufgenommen oder dieser als Anlage beigefügt, oder es wird zwar der Text der Rechtsnorm durch den staatlichen Rechtsetzer selbst formuliert, dabei aber in der Sache der Inhalt des außerstaatlichen Vorschlages ganz oder teilweise übernommen 243. Bei dieser weitestgehenden Form der Rezeption fungiert die private Norm lediglich als ein Textbaustein zur Erstellung der staatlichen Rechtsnorm 244 . Ihre ursprüngliche Herkunft aus dem privaten Bereich ist nicht mehr zu erkennen, denn die privaten Normen durchlaufen das gesamte staatliche Rechtsnormsetzungsverfahren, in dem sie selbstverständlich auch abgeändert werden können, und werden abschließend als Rechtsnormen verkündet. Durch die Inkorporation wird der Staat zumindest teilweise von der Aufgabe der Ausarbeitung des Inhaltes der Rechtsnorm befreit. Unter Umständen wird diese Entlastungswirkung dadurch verstärkt, daß die inkorporierte Norm gerade strittige, schwierige oder komplexe Regelungssachverhalte erfaßt. Auf der anderen Seite verringert die tatsächlich spürbare Entlastung, daß die Inkorporation eine genaue Inhaltskontrolle voraussetzt. Denn sie führt zu einer direkten und unmittelbaren Rechtsgeltung der eingefügten privaten Normen, ohne daß auf Rechtsanwendungsebene ein Ermessensspielraum verbleibt. Die nachträgliche Kontrolle ist auf die umständlichen und erfahrungsgemäß langwierigen Normenkontrollverfahren beschränkt. Um zu vermeiden, daß ein nicht demokratisch legitimierter Normsetzer an wesentlichen Abschnitten des Rechtsetzungsprozesses beteiligt ist oder diese sogar selbständig wahrnimmt, ohne staatlicher Kontrolle unterworfen zu sein, muß der Inkorporation eine umfangreiche und detaillierte materielle Prüfung der privaten Norm vorausgehen, die dazu führt, daß der Entlastungs- und Optimierungseffekt deutlich abgeschwächt, unter Umständen sogar nivelliert wird. Zusätzlich steht dem 243
Backherms, DIN als Beliehener, 68; Holle, Normierungskonzepte, 114; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 91; Lübbe-Wolff\ Konfliktmittlung, 89; Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 112; Schwab, Politikberatung, 283; Voelzkow, Private Regierungen, 199. 244 Ähnlich Brunner, Rechtsetzung, 124: „Formulierungshilfe"; vgl. Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 345; Denninger, Normsetzung, Rn. 135; Rönck, Technische Normen, 195.
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praktischen Einsatz der Inkorporation entgegen, daß für eine Änderung der eingefügten Vorschrift das gesamte Gesetzgebungsverfahren neu durchlaufen werden müßte und daher diese Regelungsform zu einer gewissen Erstarrung, jedenfalls nicht zwangsläufig zur erhofften und angestrebten Flexibilisierung führt. Umgekehrt beinhaltet die Inkorporation im Vergleich zur Verweisung eine potentiell erhöhte Gefahr selektiver Übernahme nur einzelner, damit aus ihrem Zusammenhang gelöster privater Regeln; durch die Duplizität der Normsetzer drohen dann erhöhte Unsicherheiten und Akzeptanzverluste 245. Ein Beispiel einer Inkorporation privater Normen findet sich im Kapitalmarktrecht nicht 246 .
II. Verweisungen Die Verweisung ist das klassische Beispiel des Zusammenspiels von privatem Norm- und staatlichem Rechtsnormsetzer. Hierbei enthält die Rechtsnorm den Hinweis, daß die präziseren Anforderungen einer genau bezeichneten privaten Norm zu beachten sind und überführt diese damit in Rechtsverbindlichkeit. Diese die Verweisung anordnende Rechtsnorm soll als Verweisungsnorm 247, die in Bezug genommene private Norm dagegen als Verweisungsobjekt bezeichnet werden. Seit der grundlegenden Untersuchung von Ossenbühl248 differenziert man zwischen statischen und dynamischen Verweisungen. Diese Unterscheidung wird auch im folgenden beibehalten. 1. Allgemeines zur Regelungsmethode Eine echte Verweisung liegt vor, wenn der Wortlaut einer Rechtsnorm Bezug auf eine andere Vorschrift oder auf einen ganzen anderen Regelungskomplex nimmt und der Inhalt der bezogenen Vorschriften auf diese Weise integriert wird 249 . Der Inhalt des Verweisungsobjekts wird zum Bestandteil der Verweisungsnorm: Damit teilt er in deren Anwendungsbereich ihre Geltungskraft und Ranghöhe und ist (nur) 245
Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 435 f. Vgl. auch Marburger, Rechtsprobleme der Bezugnahme, 33: Die Inkorporation ist „rechtlich unproblematisch, aber auch völlig ungebräuchlich". Ähnlich Lübbe-Wolff, Konfliktmittlung, 89 („auf der Gesetz- und Verordnungsebene relativ selten"), die aber dort, 97 Beispiele für die Aufnahme in Verwaltungsvorschriften anführt. Beispiele für Inkorporationen in EU-Richtlinien bei Rönck, Technische Normen, 157. 247 Teilweise werden die Verweisungsnormen auch als verweisende Normen, Verweisungssubjekte, Verweisungsgesetze oder Verweisungsgrundlagen bezeichnet. 248 Ossenbühl, DVB1 1967,401 ff.; vgl. Karpen, Verweisung, 66ff. Ähnlich bereits die Unterscheidung zwischen wandelbarer und unwandelbarer Verweisung bei W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 94 f. 249 Vgl. Brugger, VerwArch 78 (1987), 4; Clemens, AöR 111 (1986), 65. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird der von Brugger, Clemens und anderen Autoren auch bei Verweisungen verwandte Begriff der Inkorporation im folgenden durch den der Bezugnahme oder Übernahme ersetzt. 246
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
nach den gleichen Maßstäben wie die Verweisungsnorm selbst gerichtlich überprüfbar 250 . Die Verweisung hat jedoch keinerlei Auswirkungen auf den Rechtscharakter, die Geltung und die Wirkungskraft der in Bezug genommenen Vorschriften als solcher; nur dem Inhalt dieser Vorschrift wird ein zusätzlicher Wirkbereich erschlossen, nur der Wortlaut des Verweisungsobjekts nimmt an der erhöhten Rechtskraft teil 251 . „Strenggenommen handelt es sich also bei der Verweisung auf private Regelwerke nicht um eine besondere Form untergesetzlicher Rechtsetzung, sondern um die Frage des zulässigen Inhalts herkömmlicher verfassungsrechtlich anerkannter Rechtsetzungsformen" 252. Als Funktionen der Verweisung als Rechtsetzungsmethode werden angeführt 253: Erstens die Entlastung des Gesetzgebers, der die erforderlichen Einzelregelungen nicht selbst auszuarbeiten braucht. Zweitens die Entlastung des Gesetzes, da der Gesetzestext von komplizierten und oft sehr umfangreichen Detailbestimmungen frei bleiben und sich das Gesetz auf grundlegende Anforderungen beschränken kann, was der Klarheit und dem Verständnis dient. Drittens Flexibilität (die jedoch im wesentlichen nur der dynamischen Verweisung zugestanden werden kann). Viertens Kooperation, da die Verweisung die Mitwirkung fachkundiger Kreise an der Rechtsetzung erlaubt. 2. Statische Verweisung Die statische Verweisung charakterisiert, daß durch sie Regelwerke oder einzelne Vorschriften in einer durch Nennung eines konkreten Ausgabedatums zeitinvarianten Version in Bezug genommen werden. Der verweisende Gesetzgeber macht sich den Inhalt von Vorschriften eines anderen Normgebers in der eindeutig bezeichneten Fassung zu eigen, wie sie bei Erlaß seines Gesetzesbeschlusses galt 254 . Die Verwendung einer statischen Verweisung bedeutet somit „rechtlich lediglich den Verzicht, den Text der in Bezug genommenen Vorschriften in vollem Wortlaut in die 250
BVerfGE 47,285 (309f.); Clemens, AöR 111 (1986), 65; Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 20 m. w. N.; UGB-KomE, 498. 251 Brugger, VerwArch 78 (1987), 4f.; Clemens, AöR 111 (1986), 66. F. Kirchhof,, Private Rechtsetzung, 151 ff. lehnt aus diesem Grunde eine Einordnung der Verweisung als „private Rechtsetzung" ab. 252 Ossenbühl DVB1 1999, 2. 253 Marburger, Regeln der Technik, 379. 254 BVerfGE 78,32 (36); Clemens, AöR 111 (1986), 80. Statische Verweisungen müssen bestimmten Anforderungen entsprechen: Titel, Datum, Fundstelle und Bezugsquelle müssen genau bezeichnet sein, und es müssen die in Bezug genommenen Normen bei einer staatlichen Stelle hinterlegt sein, vgl. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1991, 106 m. w. N.; Clemens, AöR 111 (1986), 83 ff. Damit soll insbesondere sich aus dem Grundsatz der Formstrenge (Art. 821GG) ergebenden Bedenken begegnet werden: Die Möglichkeit, Änderungen am Verweisungsobjekt vorzunehmen, stellt eine Bedrohung für die Rechtssicherheit und die Rechtsklarheit dar, wenn die ursprüngliche private Norm durch eine neue Fassung ersetzt wird, die Verweisung sich aber nach wie vor auf die ältere Version bezieht.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater N o r m e n 1 7 7
Verweisungsnorm aufzunehmen" 255. Spätere Änderungen des Verweisungsobjekts haben keinen Einfluß auf die Verweisungsnorm. Objekt einer statischen Verweisung kann deshalb auch eine private Vorschrift sein, der für sich gesehen keine Rechtswirkung zukommt, weil sie von einem privaten Regelsetzer ohne die erforderliche Befugnis zur Rechtsnormsetzung aufgestellt wurde 256 . Damit erweist sich an der statischen Verweisung, daß ein gesellschaftliches Verfahren der Normerarbeitung die spätere Verleihung rechtlicher Verbindlichkeit nicht ausschließt257. Relevante Beispiele statischer Verweisungen ergeben sich im Bereich des Kapitalmarktes indes nicht. Ähnlich wie die Inkorporation wäre wohl auch die statische Verweisung nicht in der Lage, die gewünschte Effektivitäts- und Flexibilitätssteigerung zu garantieren. Denn jede Veränderung im privaten Regelwerk machte eine gesetzliche Anpassung notwendig und erforderte damit eine staatliche Aktivität, die eigentlich vermieden werden sollte 258 . 3. Dynamische Verweisung Diesem Mangel will die dynamische Verweisung abhelfen, denn sie nimmt Bezug auf ein Regelwerk in seiner jeweils aktuellen Form und Geltung. Die Rechtsnorm bleibt so ständig anpaßbar, ohne daß der Gesetz- oder Verordnungsgeber tätig werden muß. Andererseits werden spätere Änderungen ohne eine Willensbildung des Urhebers der Verweisungsnorm in diese übernommen und damit rechtsverbindlich. Die dynamische Verweisung beinhaltet zwar formell keine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 259; in ihren Wirkungen kommt sie dieser jedoch nahe. Im 255
BVerfGE 47, 285 (312). Vgl. zu technischen Regelwerken z.B. DiFabio, Normung und Selbstüberwachung, 19 ff.; H. Schneider, Gesetzgebung, Rn.400 f. Eingeschränkt bei W. Jellinek, Gesetzesanwendung, 89 f. 257 Vgl. Clemens, AöR 111 (1986), 83 ff.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 90. 258 Ähnlich Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 113; vgl. Denninger, Normsetzung, Rn. 137: „von nur sehr begrenztem Wert"; H. Schneider, Gesetzgebung, 226 Fn. 31. Hierunter kann umgekehrt sogar die Innovationsfähigkeit und -geschwindigkeit der privaten Normsetzer derart leiden, daß es zu einer „Übertragung des Anpassungsdefizites des staatlichen Gesetzgebungsverfahrens auf die selbstregulatorische Normsetzung" kommt, Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 429 f. Die Dogmatik zur statischen Verweisung ist i. ü. nach wie vor von der Vorstellung geprägt, ihr ginge stets eine vollinhaltliche Prüfung durch den legitimierten Träger der Staatsgewalt voraus. Vgl. z. B. BVerfGE 47,285 (312): „Denn bei einer solchen statischen Verweisung weiß der zuständige Gesetzgeber, welchen Inhalt das in Bezug genommene Recht hat, und er kann prüfen, ob er es sich mit diesem Inhalt zu eigen machen will". Ebenso Brugger, VerwArch 78 (1987), 21; Clemens, AöR 111 (1986), 100f.; Karpen, Verweisung, 136; Marburger, Regeln der Technik, 387 f.; Ossenbühl, DVB1 1967, 402, jeweils m. w. N. Angesichts der Befunde des ersten Kapitels ist aber der Hinweis angezeigt, daß der hierfür erforderliche Sachverstand häufig fehlen wird. Auch für die statische Verweisung sollte daher eine verstärkte Nutzung formeller Vörfeldsicherung in Erwägung gezogen werden. Vgl. Voßkuhle, Regelungsstrategien, 79, demzufolge die sonst „unausweichliche Abhängigkeit [...] nur durch eigenes Fachpersonal gemildert werden" kann. 259 Schnapp, FS Krasney, 446; vgl. aber Sachs, VerwArch 74 (1983), 41. 256
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Staatsrecht ist deshalb seit langem anerkannt, daß eine solche Kompetenzverlagerung, mit der sich der demokratisch legitimierte Rechtsnormsetzer seiner Regelungsgewalt begibt, verfassungsrechtlich prinzipiell nicht 260 oder nur unter engen Voraussetzungen261 zulässig ist. Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips, der Gewaltenteilung und der Veröffentlichungspflicht 262. Eine dynamische Verweisung auf private Regelwerke wird daher ganz überwiegend als verfassungswidrig eingestuft 263. Allerdings ist zwischen normergänzenden und normkonkretisierenden Verweisungen zu differenzieren 264: Die gegen dynamische Verweisungen vorgebrachten Einwände beziehen sich zumeist auf normergänzende Verweisungen, bei denen die Verweisungsnorm ohne die Ausfüllung durch das Verweisungsobjekt in ihrem Tatbestand unvollständig ist und sich ihr wahrer Inhalt, ihre Verhaltensanforderung selbst, erst in Verbindung mit dem Verweisungsobjekt erschließt. Nach verbreiteter Ansicht sind hingegen dynamische Verweisungen zulässig, soweit sich der Regelungsgegenstand des Verweisungsobjekts auf eine bloße Normkonkretisierung beschränkt 265. Denn von Verfassungs wegen ist es (nur) erforderlich, daß sich bereits aus dem Gesetz selbst ein geschlossenes Tatbestand-Rechtsfolge-Programm ergibt 266 . Ein zuständiges, gemeinwohlorientiertes und demokratisch legitimiertes Normsetzungsorgan muß einen normlogisch vollständigen Rechtssatz formuliert haben, der eine sinnvolle und vollziehbare Verhaltensanforderung enthält. Das ist etwa bei der Verwendung von Generalklauseln regelmäßig der Fall. Die nähere Ausgestaltung kann dann gleichermaßen durch administrative wie durch private Nor260
V.a. Ossenbühl, DVB1 1967, 401 ff.; vgl. auch Karpen, Verweisung, 117ff., 136, 157,
161 f. 261
Vgl. BVerfGE 47, 285 (311 ff.); 64, 208 (214ff.); Brüggen VerwArch 78 (1987), 24ff., 41 ff.; Clemens, AöR 111 (1986), lOOff., 105 ff.; Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 20 f.; Marburger, Regeln der Technik, 390ff., jeweils m. w. N. 262 Vgl. bereits Ossenbühl, DVB11967,402 ff. Nach BVerfGE 78,32 (35) muß der Inhalt des Verweisungsobjekts im wesentlichen bereits feststehen, um einen unzulässigen Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnis sowie ein Ausliefern des Bürgers an ihm gegenüber weder staatlich-demokratisch noch mitgliedschaftlich legitimierte Normsetzer zu verhindern und den sich aus Art. 21GG i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip und dem Demokratieprinzip ergebenden Anforderungen zu genügen. Ebenso schon BVerfGE 64, 208 (214 f.). 263 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Marburger, Regeln der Technik, 390 Fn. 1 und Schwab, Politikberatung, 179 Fn. 397. 264 Grundlegend zu dieser Unterscheidung Marburger, Regeln der Technik, 385 f. 265 Vgl. Clemens, AöR 111 (1986), 107ff.; Denninger, Normsetzung, Rn. 145 a.E.; Holle, Normierungskonzepte, 117; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 90; Marburger, Regeln der Technik, 395 ff.; wohl auch Brugger, VerwArch 78 (1987), 42f., der allerdings zusätzliche verfahrensrechtliche Sicherungen fordert. Weitergehend Salzwedel, NVwZ 1987,278; Schwierz, Privatisierung des Staates, 67f., wonach ein vorgegebener allgemeiner Sicherheitsstandard, der für eine hinreichende materielle Bestimmtheit sorge, ausreichen soll. Kritisch zur Zulässigkeit der normkonkretisierenden dynamischen Verweisung Hommelhoff, FS Odersky, 791; Schwab, Politikberatung, 153 f. 266 Denninger, Normsetzung, Rn. 144; Hommelhoff\ FS Odersky, 784; Marburger, Regeln der Technik, 385, 390; Schwab, Politikberatung, 178.
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men geschehen, wobei die Begründungen und die diesen Normen zugeschriebenen rechtlichen BindungsWirkungen variieren 267.
III. § 292 a HGB als normergänzende dynamische Verweisung? § 292a II Nr. 2a HGB 2 6 8 , der als kapitalmarktrechtliches Beispiel einer normergänzenden dynamischen Verweisung herangezogen werden kann, gestattet es börsennotierten 269 deutschen (Mutter-)Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen, ihre Konzernrechnungslegungspflicht dadurch zu erfüllen, daß sie anstelle der Rechnungslegung nach §§ 290-315 HGB ihren Konzernabschluß und -lagebericht nach „international anerkannten" Rechnungslegungsgrundsätzen270 aufstellen. Die Vorschrift nimmt damit nicht Bezug auf ein feststehendes Regelwerk, sondern überträgt eine bisher dem Gesetzgeber vorbehaltene Regelungszuständigkeit auf ein privates (ausländisches) Rechnungslegungsgremium. Da sich die Vorschriften der IAS und die US-GAAP mehr und mehr zum internationalen „benchmark" entwickeln, fällt es weltweit tätigen deutschen Unternehmen immer schwerer, ihre Nichteinhaltung insbesondere gegenüber ausländischen Aufsichtsbehörden, Börsen und Anlegern zu erklären. Die Möglichkeit der Erstellung eines befreienden Konzernabschlusses soll diesen Unternehmen die Last einer doppelten Bilanzierung abnehmen 271 . Empirische Untersuchungen zu §292a HGB 2 7 2 haben bestätigt, daß die 267
Vgl. die Darstellung bei Marburger, Regeln der Technik, 396 ff. In das HGB aufgenommen durch das KapAEG vom 20.4.1998, BGB1.I 1998, 708; erweitert durch das KapCoRiLiG vom 20.3.2000, BGB1.I 2000, 154. 269 § 2 v WpHG, § 3 II AktG, vgl. BT-Drucks. 13/9909, 12; Busse von Cölbe, in: MünchKomm HGB, §292a Rn.6; Hommelhoff, in: Staub, HGB, §292a Rn. lOff. 270 Gemeint sind namentlich die International Accounting Standards (IAS) sowie die USamerikanischen „Generally Accepted Accounting Principles" (US-GAAP), vgl. BT-Drucks. 13/7141,7ff.; BT-Drucks. 13/9909,12ff.; Hommelhoff, in: Staub, HGB, §292aRn.21 f. Beide werden von privaten Gremien erstellt, vgl. hierzu nur Küting/Brakensiek, BB 1999, 678 ff. Die Einordnung der US-GAAP als international anerkannt sollte angesichts der Bedeutung des USamerikanischen Kapitalmarktes nicht in Frage gestellt werden, vgl. Böcking/Orth, DB 1998, 1876; Pellens/Bonse/Gassen, DB 1998,786. Dort auch zu der Frage, inwieweit sinnvollerweise nur auf ein international anerkanntes Rechnungslegungssystem zurückzugreifen sei. Zur Anwendung von IAS Tschesche, IAS-Konzernabschlüsse, 81 f. mit dem Hinweis, daß eine gemischte Anwendung von internationalen und deutschen Rechnungslegungsregeln aus Gründen des Adressatenschutzes unzulässig ist und daher nur dort ein Zurückgreifen auf das HGB in Betracht kommt, wo die internationalen Systeme Regelungslücken enthalten. Zu US-GAAP ausführlich Schildbach, US-GAAP, v. a. 32 ff. 271 Busse von Cölbe, in: MünchKomm HGB, § 292 a Rn. 1 ff.; vgl. auch Abschnitt I I 7.2.2 Regelwerk Neuer Markt; seit 2002 auch Ziffer 2(10) der SMAX-Teilnahmebedingungen; hierzu Achleitner/Behr, IAS, 65 f. Zum sonst erforderlichen Dual- bzw. Parallelabschluß Low, ZBB 2001, 22. Aus den in §292a HGB enthaltenen zusätzlichen Anforderungen folgt für die Unternehmen nunmehr aber zugleich, daß im Vergleich zu bisherigen Konzernanhängen detailliertere Ausführungen erforderlich sind, Mujkanovic, BB 1999, 1002. 272 Krawitz/AlbrechtlBüttgen, WPg 2000, 541 ff. m. w. N. in Fn. 6. 268
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wesentliche Motivation zur Anwendung internationaler Grundsätze vom Kapitalmarkt ausgeht. Sie zeigen darüber hinaus, daß § 292 a HGB auf eine große Akzeptanz bei den Unternehmen trifft und eine wachsende Anzahl von Unternehmen die Möglichkeit der alternativen Rechnungslegung nutzt sowie deren unbefristete Weitergeltung befürwortet. Die in der Praxis somit durchaus erfolgreiche Norm ist auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu untersuchen. 1. Verfassungsmäßigkeit Die dargestellten allgemeinen Bedenken werden teilweise auch gegenüber § 292 a HGB erhoben, und dieser wird als verfassungswidrige dynamische Verweisung auf ein internationales, außerstaatliches Regelwerk qualifiziert 273: Durch die Vorschrift würden ausländische außerstaatliche Standards in den Rang und die Geltungskraft des HGB erhoben. Sie übergebe damit die Verantwortlichkeit für den Schutz eventuell von der Rechnungslegung betroffener Dritter (v. a. Anleger, Gläubiger, Arbeitnehmer und Konsumenten, daneben auch der Staat hinsichtlich Wirtschaftsaufsicht und -lenkung) einem fremden, privaten Regelsetzer 274. Neben dieser Mißachtung des Demokratieprinzips bedeute die Regelung auch einen Verstoß gegen das Verkündungsgebot des Art. 821 GG, weil die in Bezug genommenen internationalen Standards nicht in gebotener Weise amtlich hinterlegt und schließlich noch nicht einmal in deutscher, sondern in englischer Sprache verfaßt seien275. Schließlich beinhalte der Verweis auf international anerkannte Normen auch einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot276. Dem kann nicht entgegengehalten werden, § 292 a HGB sei keine pflichtenbegründende Norm, sondern befreie lediglich von der Rechnungslegungspflicht des § 290 HGB und unterliege als entlastende Regelung nicht dem (strikten) Gesetzesvorbehalt 277. Eine solche Sichtweise verkennt, daß die Norm nicht die Aufgabe ei273 BuddelSteuber, FS Baetge, 31; Hommelhoff,, FS Odersky, 785 ff.; ders., in: Staub, HGB, § 292a Rn. 24ff.; P. Kirchhof, ZGR 2000, 685 f.; vgl. auch schon FAZ vom 28.1.2000, 22; Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1439. 274 P.Kirchhof ZGR 2000, 685. Geradezu absurd mutet in diesem Zusammenhang die Behauptung von Großfeld, WPg 2001,130 an, angesichts globaler Veränderungen verdienten verfassungsrechtliche Bedenken („Schablonenschieberei") gegen § 292 a HGB „keine Beachtung". Ebenso muß der Versuch zurückgewiesen werden, die verfassungsrechtlichen Bedenken mit dem Hinweis auf die „Chancen der [...] jungen Menschen" zerstreuen zu wollen, so aber Großfeld, Internationale Rechnungslegung, 289; ders, NZG 1999, 1148. „Die Welt kümmert sich nicht um unser Verfassungsrecht" ist ebenso richtig wie ungeeignet, den notwendigen Befolgungsanspruch nach innen zu beeinträchtigen. 275 Hommelhoff \ FS Odersky, 785 ff. Zu den Schwierigkeiten unterschiedlicher Rechtssprachen kritisch auch Großfeld, Internationale Rechnungslegung, 298 f. m. w. N. Für ihn folgt indes daraus eine gesteigerte Bedeutung der Rechtsvergleichung, nicht die Verfassungswidrigkeit. 276 P.Kirchhof ZGR 2000, 687ff. 277 So aber Heintzen, BB 1999, 1051. Ähnlich HensslerlSlota, NZG 1999, 1136ff., die §292a HGB als „Rechtswahltatbestand mit kollisionsrechtlichem Gehalt" einstufen. Hierge-
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nes staatlichen Steuerungsanspruchs darstellt, sondern daß lediglich eine alternative Erfüllungsmöglichkeit einer bestehenbleibenden Pflicht aufgezeigt wird 278 . Es trifft zu, daß kein Unternehmen gezwungen wird, die Möglichkeiten des § 292 a HGB auszuschöpfen und nach internationalen Grundsätzen zu bilanzieren. Es ist aber nicht einsichtig, warum die deutsche Rechnungslegungspflicht - insofern herrscht Einigkeit - als Eingriff, die Rechnungslegung nach IAS oder US-GAAP dagegen als Begünstigung zu qualifizieren sein sollte. Auch die Alternative stellt für den Adressaten eine Belastung dar und ist Teil der grundrechtseingreifenden Regelung; sie darf diesem mithin nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage auferlegt werden. Die Regelung des § 292 a HGB ist jedenfalls insoweit wesentlich für die Grundrechtsausübung, als darüber entschieden wird, ob und unter welchen Bedingungen ein Unternehmen die grundrechtseingreifenden Regelungen der §§ 290 ff. HGB erfüllen bzw. vermeiden kann 279 . 2. Legitimation Zu fragen ist weiter, ob sich dem HGB Vorgaben entnehmen lassen, die für eine ausnahmsweise Zulässigkeit der dynamischen Verweisung sprechen. In Betracht kommen dabei sowohl materielle als auch formelle Anforderungen. a) Materielle Vorgaben Es wird vertreten, die Heranziehung der internationalen Rechnungslegungsstandards verhülfe diesen nicht zu unmittelbarer Rechtsgeltung, sondern es läge, soweit gen spricht, daß erstens zumindest die IAS nicht Bestandteile einer fremden Rechtsordnung sind (die US-GAAP werden von der SEC akzeptiert) und zweitens die Wahlmöglichkeit nicht i. R. einer privat- bzw. parteiautonomen Vereinbarung eröffnet wird, sondern im öffentlichrechtlichen Verhältnis zwischen bilanzierungspflichtigen Unternehmen und Staat, vgl. Icking, Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, passim. Derartige „Rettungsversuche" sind i. ü. nicht neu, vgl. bereits die Nachweise bei Marburger, Regeln der Technik, 396 ff. 278 Hellermann, NZG 2000, 1101; Hommelhoff, FS Odersky, 780f.; ders., in: Staub, HGB, § 292a Rn. 6, 24; P Kirchhof, ZGR 2000, 682ff. Soweit Budde/Steuber, DStR 1998, 1186f. darauf abstellen, durch die Beschränkung auf börsennotierte Unternehmen gelte, da kein Unternehmen zum Börsengang gezwungen werde, der Grundsatz des volenti non fit iniuria, liegt eine Verkennung der Unterscheidung zwischen einer freiwilligen Unterwerfung (bspw. unter das Regelwerk der Börse) und der gesetzlichen Anknüpfung an ein Tatbestandsmerkmal vor. 279 Hellermann, NZG 2000, 1101. Abzulehnen ist auch die Behauptung, der Wesentlichkeitsgrundsatz bildete keinen Maßstab für die Zulässigkeit privater Regelsetzung, weil er sich primär gegen exekutive Normsetzung richte und daher auf das Verhältnis zwischen Staat und Privaten keine entsprechende Anwendung fände, so aber Heintzen, BB 1999, 1053. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei F. Kirchhof Private Rechtsetzung, 112, der die Anwendbarkeit des Demokratieprinzips der Art. 201, II, 281GG auf den gesellschaftlichen Bereich ausschließt, da die freiheitliche Komponente des GG privatautonome Rechtsgestaltung gestatte und private Normsetzer daher gerade nicht an das Demokratieprinzip gebunden seien. Hiergegen statt vieler Marburger, Regeln der Technik, 392.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
sie zur Auslegung eines Befreiungstatbestands des deutschen Rechts herangezogen würden, „allenfalls eine AuslegungsVerweisung" 280 vor. § 292 a HGB nimmt aber die ausländischen Rechnungslegungsstandards nicht als bloße nähere Ausgestaltung einer Freistellung in Bezug. Denn die Pflicht zur Aufstellung eines Konzernabschlusses bleibt unberührt, es variieren lediglich die hieran gestellten Anforderungen. Diese sind der gesetzlichen Norm allein nicht zu entnehmen, aber zur Erfüllung der Verhaltenspflichten unentbehrlich. Damit wird deutlich, daß die Verweisung zur Ergänzung, nicht nur zur Konkretisierung der Gesetzesvorschrift erforderlich ist. Die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht setzt eine ausführliche Subsumtion unter die internationalen Rechnungslegungsgrundsätze voraus, ohne die von einem geschlossenen Regelungsprogramm keine Rede sein kann 281 . Das geschlossene Tatbestand-Rechtsfolge-Programm kann auch nicht aus dem Erfordernis der Gleichwertigkeit der Aussagekraft (§ 292 a II Nr. 3 HGB) gefolgert werden 282. Es ist unklar, was genau hierunter zu verstehen ist: Eine vollständige inhaltliche Übereinstimmung kann nicht gemeint sein. Anderenfalls wäre eine wirkliche Alternative nicht eröffnet; entsprechende Regelwerke existieren auch nicht. Die Gleichwertigkeit muß sich damit auf die (materielle) Qualität der Standards beziehen283. Ein derartiger Vergleich ist schon deshalb schwierig bis unmöglich, weil zwischen den unterschiedlichen Rechnungslegungssystemen grundlegende Divergenzen bestehen. Die Rechnungslegung enthält in einem starken Maße wertungsbezogene Elemente; bereits in den Grundanschauungen dominieren unterschiedliche Determinanten, die für das gesamte Gefüge erhebliche Auswirkungen besitzen, ihrerseits aber jeweils nicht auf ein „richtig" oder „falsch" zu reduzieren sind. So dominiert auf der deutschen Seite der Gläubigerschutz, was in einer verstärkten Beachtung des sog. Vorsichtsprinzips resultiert. Dagegen sind die in ihren Ursprüngen dem anglo-amerikanischen Rechtsdenken verhafteten internationalen Vorschriften primär auf den Investorenschutz ausgerichtet und betonen daher den Gesichtspunkt der „fair présentation" 284. Während die HGB-Regeln neben der Information auch 280 Heintzen, BB 1999, 1054; Hellermann, NZG 2000, 1100; vgl. aber dort, 1102. Ähnlich wohl (allgemein) Marburger, Regeln der Technik, 399 f., der die normkonkretisierende Verweisung deshalb als „ausschließlich begünstigend" charakterisiert, weil es dem Normadressaten stets offenstünde, den gesetzlichen Anforderungen auf andere Weise gerecht zu werden. 281 Hommelhoff, FS Odersky, 784; Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1439. 282 So aber wohl Moxter, DB 1998, 1427. 283 Etwas anders bezieht P. Kirchhof ', ZGR 2000,686 die Gleichwertigkeit nicht auf den Inhalt der privaten internationalen Rechnungslegungsstandards, sondern auf deren Herkunft und Zustandekommen. Diese können gleichwohl ebenfalls nicht gemeint sein. Dem deutschen Gesetzgeber war durchaus bewußt, daß die Öffnung gegenüber internationalen Standards zugleich eine Öffnung gegenüber privaten Organisationen bedeutet. Die Gleichwertigkeitsklausel wäre in diesem Fall schlicht unsinnig, da von vornherein unerfüllbar. 284 Dabei besteht die Tendenz, positive Zukunftserwartungen stärker zu gewichten als negative; vgl. Großfeld, Internationale Rechnungslegung, 296 mit Beispielen; Henssler/Slota, NZG 1999, 1133 f.; Jacob, FS Weif Müller, v. a. 201 ff.; Pellens/Gassen, FAZ vom 2.12.2001, 29; Schildbach, US-GAAP, 87; Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 61 ff., 79f., 232ff.; vgl. die tabella-
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater N o r m e n 1 8 3
noch das (steuerrechtlich relevante) Ziel der Einkommensbemessung verfolgen, dient ein US-GAAP- oder IAS-Abschluß nur der Informationsvermittlung. Ob beide Systeme einander entsprechen oder ob das eine dem anderen überlegen ist, stellt eine in der wirtschaftswissenschaftlichen wie in der bilanzjuristischen Literatur diskutierte, bislang noch nicht beantwortete - vielleicht auch gar nicht beantwortbare - Frage dar 285 . Sind somit subjektive Einschätzungen in einem Maße entscheidungserheblich, daß sich ein ganzes System nach ihnen auszurichten hat, dann kann eine solch bedeutsame Entscheidung nicht ohne weiteres vom Staat auf gesellschaftliche Kräfte delegiert werden. Vielmehr folgt aus der staatlichen Friedensfunktion, daß er die Bürger vor Übergriffen insbesondere gewaltsamer Natur, aber auch vor wirtschaftlicher, sozialer oder informationeller Übermacht zu beschützen hat. Umfaßt ist auch der Schutz der Geschäftspartner eines Unternehmens oder Konzerns vor geschäftlichen Risiken, die sich aus der Unkenntnis über die wahre wirtschaftliche Situation ergeben 286. Sofern sich die Interessen der Gläubiger und der Anleger widersprechen, bedarf deshalb die Entscheidung, ob vorrangig auf die Risiken der einen oder der anderen Gruppe abgestellt wird, demokratischer Legitimation und obliegt allein staatlichen Organen 287. Für die vorliegende Untersuchung genügt es festzuhalten, daß das Erfordernis der Gleichwertigkeit der Aussagekraft nicht geeignet ist, die Verweisung als normkonkretisierend zu kennzeichnen. Die Regelung zielt erkennbar und erklärtermaßen darauf ab, deutschen Unternehmen, die sich im Ausland engagieren wollen, die Mühen einer doppelten Bilanzierung zu ersparen. Eine Forderung nach gleichwertiger Aussagekraft muß dabei aufgrund der bestehenden unterschiedlichen vorrangigen Zielsetzungen der Bilanzierungssysteme inhaltlich unbestimmt bleiben 288 . rische Darstellung bei Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 96. Über die 4. Bilanz-Richtlinie (78/660/EWG) sollte auch in Deutschland das „True-and-fair-view-Prinzip" eingeführt werden (vgl. § 264II 1 HGB: „[...] ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln."). Dennoch ist das deutsche Bilanzrecht nach wie vor „gläubigerfreundlich und nicht anlegerfreundlich", Hopt, ZGR 2000, 793; vgl. auch Beisse, FS Weif Müller, 733 ff. Zur diesbzgl. Entwicklung der EURechnungslegung Niehues, WPg 2001, 1209 ff. 285 Vgl. Busse von Cölbe, BFuP 1995, 377 m. w. N. Instruktiv hierzu Achleitner/Behr, IAS, 9ff.; Luttermann, Genußrechte, 361 ff.; Pellens, Internationale Rechnungslegung, 116ff.; Tschesche, IAS-Konzernabschlüsse, v. a. 95 ff. Zu Disparitäten zwischen US-GAAP und IAS und den daraus folgenden Zweifeln an ihrer Gleichwertigkeit Niehus, Perspektiven, 15 f. 286 Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 42, unter Hinweis auf die Haftungsbeschränkungen der Kapitalgesellschaften. Vgl. ausführlich Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 173 ff. 287 Diese unterschiedliche „Grundentscheidung" führt dazu, daß die Erstellung eines Konzemabschlusses, der gleichzeitig die Voraussetzungen des HGB sowie die IAS oder US-GAAP erfüllt, derzeit nicht möglich ist, Schwab, BB 1999, 733 m. w. N.; vgl. auch Pellens/Gassen, FAZ vom 3.12.2001, 29. 288 Wie hier oder ähnlich Hellermann, NZG 2000, 1102; Niehus, Perspektiven, 18; Pellens, Internationale Rechnungslegung, 339 f. Etwas anderes folgt auch nicht aus §292 a II Nr. 2 b HGB, nach dem Konzemabschluß und -lagebericht „im Einklang mit der Richtlinie 83/349/EWG" stehen müssen, vgl. hierzu Busse von Cölbe, in: MünchKomm HGB, §292 a
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Die Vorgaben des HGB führen nicht zu einer hinreichenden Strukturierung und inhaltlichen Festlegung der in Bezug genommenen internationalen Standards. In seiner gegenwärtigen Fassung beinhaltet § 292 a HGB eine normergänzende dynamische Verweisung 289. b) Formalien und Angabepflichten Selbst wenn man davon ausginge, daß es möglich ist, fehlende materielle Vorgaben durch flankierende Maßnahmen organisations- und verfahrensrechtlicher Art auszugleichen, scheiterte eine solche Annahme im konkreten Anwendungsfall. Formelle Vorgaben etwa hinsichtlich der Organisation und des Verfahrens der Normsetzung fehlen in § 292a HGB. Zwar ist davon auszugehen, daß dem Gesetzgeber die einschlägigen Verfahrensvorschriften der internationalen Normsetzungsorganisationen bekannt waren 290. Es ist auch vorstellbar, daß diese zumindest in Ansätzen bereits verwirklichen, was aus deutscher verfassungsrechtlicher Sicht zu fordern wäre. Zukünftige Änderungen des Verfahrens sind jedoch in keinem Falle ausgeschlossen. Ebenso wie sich der Gesetzgeber mittels der dynamischen Verweisung materiell in die Hände des privaten Urhebers des in Bezug benommenen Regelwerks begibt, fehlen ihm auch die Mittel zur Durchsetzung formeller Vorgaben 291. Die „internationale Anerkennung" als das einzige in diese Richtung gehende Erfordernis ist ambivalent und daher unzureichend. Es mag sein, daß die internationale Akzeptanz auf einem verständigen Verfahren und der Erkenntnis der fachlichen Qualität der Ergebnisse beruht. Ebenso kann sie aber auf eine besondere wirtschaftRn. 5,18 ff.; Erdbrügger, DStR 2001,99ff. Vgl. auch Nr. 61 der Mitteilungen der Kommission zu Auslegungsfragen in Hinblick auf bestimmte Artikel der Vierten und der Siebten Richtlinie des Rates auf dem Gebiet der Rechnungslegung, ABl. EG Nr. C16/5 vom 20.1.1998. Strenger Henssler/Slota, NZG 1999, 1139ff.; HommelhofflSchwab, FS Kruse, 706f. Die durch § 292 a III HGB eröffnete Berechtigung zur Bestimmung der Voraussetzungen der Gleichwertigkeit durch RVO ist bislang nicht wahrgenommen worden. Busse von Cölbe, in: MünchKomm HGB, § 292 a Rn. 37 weist zu Recht darauf hin, daß eine entsprechende Festlegung wiederum die möglichen Änderungen der internationalen Bezugsregeln berücksichtigen müßte. Praktisch erfolgt die Feststellung der Gleichwertigkeit v. a. anhand des ersten vom Deutschen Standardisierungsrat (DSR) geschaffenen Standards (DRS 1, abgedruckt in: MünchKomm HGB, §292 a Anhang), hierzu Havermann, ZGR 2000,700f.; kritisch Großfeld, NZG 1999, 1145; Hommelhoffl Schwab, FS Kruse, 713f. 289 Marburger, Rechtsprobleme der Bezugnahme, 41, weist daraufhin, daß, soweit man tatsächlich die maßgeblichen Ziele, den Zweck, das Ausmaß und den Umfang konkret vorgeben könnte, zwar möglicherweise die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die dynamische Verweisung weitgehend ausgeräumt werden könnten, daß aber gleichzeitig der private Regelungsbereich auf unwesentliche Detailregelungen beschränkt würde und damit der Sinn einer solchen Verweisungsform fraglich wäre. „Die notwendige und erwünschte Flexibilität der rechtlichen Regelung ginge damit weitgehend verloren." Vgl. auch das Beispiel bei Brugger, VerwArch 78 (1987), 43 f. 290 Vgl. zum Verfahren des IASC bzw. FASB nur KütinglBrakensiek, BB 1999, 678 ff. 291 Hommelhojf, FS Odersky, 793 f.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater N o r m e n 1 8 5
liehe Übermacht zurückzuführen sein, oder es können nationale bzw. lokale Aspekte eine Rolle spielen, die eine direkte Übernahme auf Deutschland erschweren 292. 3. Zur Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung Statische und dynamische Verweisung sind keine einander ausschließende Kategorien. Vielmehr ist die dynamische Verweisung lediglich ein „Mehr", als sie auch künftige Änderungen des Verweisungsobjekts erfaßt. Existiert zu einem bestimmten Zeitpunkt ein geeignetes Verweisungsobjekt, dann ist jede dynamische Verweisung bezogen auf dieses Objekt zugleich auch starre Verweisung 293. Bezogen auf § 292 a HGB gelangte man damit zu dem Zwischenergebnis, daß sich die Norm, deren eben festgestellte Verfassungswidrigkeit auf ihrer Einstufung als dynamische Verweisung beruht, möglicherweise verfassungskonform als statische Verweisung interpretieren läßt. Gegen eine solche Auslegung spricht jedoch nicht nur die Unklarheit darüber, welches Regelwerk zu welchem Zeitpunkt in Bezug genommen wurde. Die erhoffte Entlastungswirkung für die deutschen Unternehmen würde auch in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sich diese nicht nur über die internationalen Rechnungslegungsstandards informieren müßten, sondern auch noch in Erfahrung zu bringen hätten, welche möglicherweise erfolgte Änderung sie nicht mehr berücksichtigen dürften. Gleichzeitig könnten die ausländischen Geschäftspartner sich nicht mehr in gleicher Weise darauf verlassen, daß die vorgelegten Abschlüsse den neuesten Erfordernissen entsprechen. Die Einfügung des neuen § 292 a HGB in das HGB sollte es deutschen Unternehmen ermöglichen, eine doppelte bzw. parallele Rechnungslegung nach HGB und nach internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen zu vermeiden. Eine statische Verweisung ist hier nicht nur wenig hilfreich, sondern führt im Gegenteil zu einer Belastung und einer bedenklichen Rechtsunsicherheit im Inland sowie zu Akzeptanzverlusten im Ausland. Eine Umdeutung der dynamischen in eine statische Verweisung scheidet somit ebenfalls aus, es bleibt bei dem gefundenen Ergebnis der Verfassungswidrigkeit der Norm 294 . 4. Ergebnis Daß die Geltung der neuen Vorschrift auf einen begrenzten Zeitraum (bis Ende 2004) beschränkt ist 295 , wird zum Teil als Anzeichen dafür gesehen, daß der Gesetz292
Um die Vorherrschaft international gültiger Standards ist ein Konkurrenzkampf entbrannt, dessen Ausgang von zentraler Bedeutung für den Zugang von Unternehmen zu Kapitalmärkten und damit zu Finanzierungsoptionen ist. Luttermann, Genußrechte, 441 spricht plastisch vom „Machtspiel". Skeptisch auch Großfeld, WPg 2001, 131. 293 BVerfG, NJW 1978,1477; Clemens, AöR 111 (1986), 119; Marburger, Regeln der Technik, 394 f. 294 Ebenso Hommelhoff , FS Odersky, 796. 295 Art. 5 KapAEG vom 20.4.1998, BGB1.I 1998, 707. Der Gesetzgeber erwartet, daß bis 2004 die deutschen Konzernrechnungslegungsvorschriften grundlegend reformiert und an in-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
geber sich der in der Vorschrift liegenden Problematik bewußt gewesen sei. Bei § 292 a HGB handele es sich folglich um eine bedenkliche gesetzgeberische „Experimentierklauser 296 . Hieran ist richtig, daß der Erlaß einer transitorischen Norm nicht unbedingt für ein selbstbewußtes, umfassende und zukunftsorientierte Problemlösungen versprechendes Vorgehen spricht. Andererseits kann diese gesetzgeberische Selbstrestriktion mit der Verpflichtung zur Neubefassung auch als Ansatz verstanden werden, der deutlich zutage tretenden Dynamisierung der Rechnungslegung nicht mit verfestigten gesetzlichen Strukturen zu begegnen. Offensichtlich ist § 292 a HGB als eine Übergangsregelung gedacht. Dies allein taugt jedoch noch nicht dazu, die genannten Kritikpunkte zu verstärken. Die Verwendung „gesetzgeberischer Experimentierklauseln" ist solange zulässig (und unter Umständen - gerade in sich neu entwickelnden oder starken Veränderungen unterliegenden Rechtsgebieten - sogar wünschenswert), als die allgemeinen verfassungsrechtlichen Wertungen nicht hinter dem experimentellen Charakter zurücktreten 297. Aber diesen Vorgaben wird § 292 a HGB nicht gerecht; er ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht verfassungskonform. Die kapitalmarktrechtliche Gebotenheit einer Anpassung an internationale Standards darf nicht zur Verwässerung verfassungsrechtlicher Anforderungen führen. Angesichts der Unmöglichkeit, Verfahren und Organisation im Rahmen der internationalen Standardsetzung den Anforderungen des Grundgesetzes anzupassen, bleibt nur, sich von der direkten Übernahme der internationalen Standards zu verabschieden und diese im Rahmen einer deutschen oder europäischen Regelung zu berücksichtigen, um auf diesem Wege einen akzeptablen Ausgleich zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen Grundanforderungen und marktorientiertem Effizienzstreben zu erzielen 298.
IV. § 342 I I HGB als normkonkretisierende dynamische Verweisung? Diesem Ziel dient insbesondere die Errichtung des privaten deutschen Rechnungslegungsgremiums. Nach § 342 HGB 2 9 9 kann das Bundesjustizministerium eine privatrechtlich organisierte Einrichtung durch Vertrag anerkennen und dieser die Entwicklung von Empfehlungen zur Anwendung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) betreffend die Konzernrechnungslegung übertragen. ternationale Standards angepaßt werden, BT-Drucks. 13/9909, 10f.; vgl. Busse von Cölbe, in: MünchKomm HGB, § 292 a Rn. 4. 296 P. Kirchhof,, FAZ vom 28.1.2000, 22; zu befristeten Gesetzen allgemein Lücke, ZG 16 (2001), 6 f. m. w.N. 297 Vgl. ausführlich Horn, Experimentelle Gesetzgebung. 298 Ebenso Hommelhoff\ in: Staub, HGB, § 292a Rn. 26 unter Hinweis auf entsprechende Konzepte von Schwab, Politikberatung, und Berberich, DRSC. Vgl. auch sogleich IV. und V. 299 Die §§ 342, 342a HGB wurden eingefügt durch das KonTraG vom 27.4.1998, BGB1.I 1998, 791 f.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen
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Parallel zum Gesetzgebungsverfahren haben Anfang 1998 Unternehmensvertreter, Finanzintermediäre und Wirtschaftsprüfer als Nutzer bzw. Prüfer der Rechnungslegung als eingetragenen, selbstlos tätigen Verein das „DRSC - Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee e.V." gegründet 300. Sein zentrales Gremium bildet der „Deutsche Standardisierungsrat (DSR)" 301 , dem die eigentliche Standardsetzung obliegt. Durch den Standardisierungsvertrag vom 3. September 1998 zwischen dem Bundesjustizministerium und dem DRSC 302 ist der DSR als Rechnungslegungsgremium im Sinne des § 342 HGB anerkannt worden 303. Nachfolgend ist darzulegen, welcher Einfluß dem privaten Gremium auf die Normsetzung im Rahmen der Rechnungslegung zukommt und welchen Grad an Rechtsverbindlichkeit die von ihm geschaffenen Empfehlungen zur Konzernrechnung (sog. Rechnungslegungsstandards) erlangen. Letzteres ist keine Frage von „untergeordneter Bedeutung"304. Ihre Klärung ist vielmehr Kernpunkt der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines derartigen gesetzgeberischen Vorgehens; sie impliziert damit auch die Möglichkeit ähnlicher zukünftiger Regelungsmechanismen. Dem DRSC/DSR kommt weder autonome Rechtsetzungsbefugnis zu (1) noch ist er als Beliehener anzusehen (2). Es handelt sich bei § 342 HGB statt dessen um eine normkonkretisierende dynamische Verweisung (3). 1. Autonome Rechtsetzungsbefugnis Die Satzung des DRSC bestimmt in ihrer Präambel, daß die „Entwicklung der Rechnungslegung im Wege der Selbstverwaltung der Kaufleute und der beteiligten Kreise, insbesondere im Interesse der Personen erforderlich ist, die für die Rechnungslegung von Unternehmen und Konzernen verantwortlich oder prüfend, beratend oder lehrend tätig oder auf die finanzielle Berichterstattung der Unternehmen bei ihren Entscheidungen angewiesen sind". Ähnlich hat sich der DSR anläßlich seiner konstituierenden Sitzung geäußert: Bei der Verlagerung der Standardsetzung auf 300
International tritt das DRSC als GASC (German Accounting Standards Committee) auf. Zur Entstehungsgeschichte von §342 HGB und DRSC Budde! Steuber, DStR 1998, 1181 ff. 301 International führt der DSR die Bezeichnung GASB (German Accounting Standards Board). 302 Der Text des Vertrages ist unten als Anhang I abgedruckt. 303 Als Vorbild dienten die Ausschüsse des Deutschen Instituts für Normung (DIN), Schwab, BB 1999, 731. Hinsichtlich der dort erarbeiteten Normen besteht aber weitgehende Einigkeit, daß sie aufgrund fehlender demokratischer Legitimation keine Rechtswirkung entfalten, Backherms, DIN als Beliehener, 76; HommelhofflSchwab, BFuP 1998, 38 m. w.N.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 87 ff. m. w. N. auch zur vereinzelt vertretenen Gegenansicht. Die DIN-Normen erlangen Rechtsverbindlichkeit erst aufgrund der Rezeption durch Rechtsnormen. Diese Einbeziehung wird dabei gefördert und ermöglicht durch die im DIN-Vertrag enthaltenen und in Selbstverpflichtungsstandards konkretisierten Verfahrensbestimmungen. 304 So aber Ebke, ZIP 1999, 1195, demzufolge es eher darauf ankommt, ob die Beteiligung Privater zu tatsächlichen Vorteilen führt. Richtig dagegen schon LangenbucherlBlaum, DB 1995, 2327.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
ein privates Gremium handele es sich „um eine grundlegende Methodenänderung, die der ursprünglichen Idee der Selbstverwaltung der Rechnungsleger wieder Vorrang vor der Gesetzgebung einräumt" 305 . Dennoch handelt sich beim Erlaß der Rechnungslegungsgrundsätze nicht um autonome Rechtsetzung: Weil deren Interessen an der Rechnungslegung mit denen der zu schützenden Anleger bzw. Gläubiger potentiell konfligieren, können „Rechenschaftsinhalte [...] nicht den Rechenschaftspflichtigen überlassen werden" 306 . Selbstverwaltung darf nicht bedeuten, daß die Verantwortung für einen Regelungskreis, der Dritte in starkem Maße miterfaßt, allein einer Gruppe überantwortet wird. Erforderlich wäre eine sozialhomogene Betroffenengemeinschaft 307, als die mangels eines besonderen, ihn gegenüber der Allgemeinheit abgrenzenden gemeinsamen Interesses der unüberschaubare von der Standardsetzung betroffene Personenkreis nicht bezeichnet werden kann. Zudem fehlt es gerade an der hierfür erforderlichen öffentlich-rechtlichen Organisationsstruktur. 2. Beleihung Nach der Rechtsstellungstheorie ist eine Beleihung die staatliche Ermächtigung eines Privaten zur Erfüllung einer Staatsaufgabe in öffentlich-rechtlichen, hoheitlichen Handlungsformen 308. Sie bezweckt, die öffentliche Verwaltung zu dezentralisieren und zu entlasten, indem private Initiative, Finanz- und Sachmittel, vor allem auch privater Sachverstand („know-how"), nutzbar gemacht werden, und kommt daher primär dort in Betracht, wo staatliche Organe nicht oder nur schwerlich in der Lage wären, die den Beliehenen anvertrauten besonderen Kompetenzen wahrzunehmen . a) Voraussetzungen der Beleihung Die Beleihung unterliegt dem (institutionellen) Gesetzesvorbehalt310. Der erforderliche Beleihungsakt kann durch Gesetz bzw. aufgrund Gesetzes durch Verwaltungsakt oder durch öffentlich-rechtlichen Vertrag erfolgen 311. Für das DRSC fehlt 305
Presseerklärung des DSR vom 15.5.1998. In diesem Sinne auch Biener, Abschlußprüfer, 8; ders., FS Clemm, 69f. 306 Moxter, DB 1998, 1427. Wie hier auch Berberich, DRSC, § 6 A. II. 307 So Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 253, 259ff.; HommelhofflSchwab, BFuP 1998, 44; dies., in: Staub, HGB, §342 Rn. 16; Schwab, Politikberatung, 423; Trute, Forschung, 212f. 308 Burgi, Privatisierung, 79ff. m. w. N.; Krebs, HStR III, § 69 Rn. 39; Maurer, Verwaltungsrecht, §23 Rn.56; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rn.2. 309 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rn. 1; vgl. Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 201. Vgl. auch Burgi, Privatisierung, 79; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 2, §54 R n . l l . 310 Vgl. BVerwG NJW 1955, 1203; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, 270f.; Trute, Forschung, 615. 311 Vgl. Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 173f.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, Rn. 600; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rn. 6.
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eine besondere gesetzliche Zuweisung ebenso wie ein entsprechender Verwaltungsakt. Die Beleihung könnte nur auf dem zwischen dem Bundesjustizministerium und dem DRSC geschlossenen, von § 342 HGB vorgesehenen Standardisierungsvertrag fundieren. Gegenstand der Beleihung können sowohl schlichthoheitliche wie obrigkeitliche Verwaltungstätigkeiten sein, die einzeln numeriert sein müssen, da eine Regelzuständigkeit gegen Art. 33IV GG verstieße 312. Die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben durch Private hat im Vergleich zur Wahrnehmung durch staatliche Verwaltungseinheiten die Ausnahme zu bleiben. Globale Aufgabenzuweisungen an Private sind unzulässig313. Abzulehnen ist daher die Überlegung, privaten Organisationen könne mittels der Beleihung eine Rechtsnormsetzungsbefugnis „eigener Art 4 ' vindiziert werden 314. Die Beleihung mit fest umrissenen Verwaltungsaufgaben und eine etwaige Beleihung mit Rechtsetzungsaufgaben unterscheiden sich nicht nur im Ausmaß der übertragenen Kompetenzen, sondern bereits der Sache nach. Die Legitimationskette läßt sich nicht beliebig in den Bereich des Privaten hinein verlängern; selbst durch Gesetz wäre es daher nicht möglich, die Legislativgewalt als solche teilweise auf private Institutionen zu verlagern 315. Weil Defizite in der personellen durch ein hohes Maß an sachlicher Legitimation, also durch eine strikte inhaltliche Steuerung, ausgeglichen werden müssen, ist nur eine punktuelle Übertragung zulässig. Im Rahmen der technischen Normung wird außerdem argumentiert, eine Beleihung des DIN entfiele, weil diesem weder gesetzlich noch durch den DIN-Vertrag Hoheitsrechte übertragen werden 316. Beide Argumente überzeugen hinsichtlich des Rechnungslegungsgremiums des § 342 HGB nicht zur Gänze: Dieses übt eine fest umrissene Normsetzungstätigkeit aus, die sich innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens bewegen muß. Und durch die Vermutungswirkung erlangen die Empfehlungen eine über die sozial-normative Bindung hinausgehende rechtliche Verbindlichkeit, die normalerweise staatlichen Normen vorbehalten ist. Dennoch ist eine Beleihung im Ergebnis abzulehnen: Denn die Beleihung ist auf die Wahrnehmung von Vollzugsaufgaben zugeschnitten, nicht auf gestaltende Normset312
Wolff/BachoflStober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rn.6. Die Beleihung ist hingegen nicht auf rein technische und/oder entscheidungsarme Befugnisse beschränkt, so aber Breitkreuz, Ordnung der Börse, 78 f. unter Verweis auf Ossenbühl, VVDStRL 29 (1976), 159, 161. 313 Backherms, DIN als Beliehener, 35. Die Tätigkeit der Beliehenen im Rahmen der übertragenen staatlichen Aufgaben darf sich nur als „unwesentliches Annex ihrer privaten Haupttätigkeit" darstellen, Leisner, DÖV 1970,219 Fn. 16. Vgl. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 206. 314 Vgl. aber Schwierz, Privatisierung des Staates, 65 f. 315 Denninger, Normsetzung, Rn. 145. Anders aber Schwierz, Privatisierung des Staates, 66. Ablehnend gegenüber der Möglichkeit einer Beleihung mit Normsetzungsbefugnissen auch Schwab, Politikberatung, 424: „Die Beleihung ist mit dem Demokratieprinzip nur unter der Voraussetzung kompatibel, daß die Erfüllung der gesetzlich übertragenen Aufgaben gesetzlich strikt programmiert ist". Vgl. BVerfGE 64, 208 (214f.); BuddeiSteuber, DStR 1998, 1184. Auch eine Subdelegation von Rechtsverordnungsgewalt entsprechend Art. 8014 GG entfällt deshalb: Private kommen als Subdelegatare nicht in Betracht, denn 801 GG regelt nur das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, statt vieler Ossenbühl, HStR III, § 64 Rn. 30. 316 Holle, Normierungskonzepte, 110; ebenso Hellermann, NZG 2000, 1098 für DRSC/ DSR.
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zung, die, auch wenn sie sich an Zielvorgaben zu orientieren hat, immer noch erheblichen Beurteilungsspielraum enthält. Auch bleibt unklar, mit welcher öffentlichrechtlichen Handlungsform man die Konkretisierungsaufgabe des privaten Rechnungslegungsgremiums vergleichen könnte. Am nächsten kommt sie der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift 317. Vor allem aber wäre durch die Qualifizierung als Beleihung nichts gewonnen: Die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage ergibt sich schon aus der Grundrechtserheblichkeit der Rechnungslegungssätze, und die speziellen vorgesehenen Verfahrensvorgaben sind beleihungsuntypisch. b) „Besonders anerkannter Beliehener " ? Für das DIN hat Backherms den Begriff des „besonders anerkannten Beliehenen" eingeführt 318. Dieser soll eine Institution beschreiben, die nicht mit der Wahrnehmung staatlicher, sondern gesellschaftlich-öffentlicher Aufgaben betraut ist und aufgrund ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit vom Staat besonders anerkannt wird. „Besonders anerkannte Beliehene" nehmen demnach Aufgaben wahr, die im öffentlichen Interesse liegen und derer sich der Staat annehmen müßte, hätten dies nicht schon private Stellen getan. Im Sinne eines partnerschaftlichen Vorgehens verzichte der Staat darauf, diese Bereiche an sich zu ziehen, und begnüge sich mit einer besonderen Anerkennung, ohne staatliche Qualität zu begründen 319. Daß dies einen „fundamentalen Unterschied" zur Beleihung enthält, konzediert auch Backherms 320. Er schlußfolgert hieraus, die an die Beleihung gestellten Anforderungen müßten nicht in gleichem Maße gegeben sein; insbesondere sei eine gesetzliche Legitimation nicht erforderlich, sondern es genüge eine Legitimation niedrigerer Stufe, da weder Staatsaufgaben delegiert würden (institutioneller Gesetzesvorbehalt) noch durch die besondere Anerkennung Eingriffe in grundrechtlich geschützte Freiheitsbereiche erfolgten (rechtsstaatlicher Gesetzes vorbehält) 321. Schon terminologisch ist dem entgegenzutreten: Die Beleihung wird gerade durch die Nutzung des öffentlich-rechtlichen Instrumentariums gekennzeichnet; fehlt diese, spricht eine Vermutung für den privatrechtlichen Charakter der Aufgabenwahrnehmung 322. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Konstruktion des „besonders anerkannten Beliehenen" nicht so sehr der Beschreibung eines Rechtsphänomens dient als 317
Ablehnend HommelhofflSchwab, in: Staub, HGB, § 342 Rn. 86 ff. DIN als Beliehener, 40ff., 93 ff., unter Berufung auf E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 111 ff. 319 Backherms, DIN als Beliehener, 41. 320 Backherms, DIN als Beliehener, 41 f. 321 Backherms, DIN als Beliehener, 42. 322 Vgl. Burgi, Privatisierung, 80 f. m. w.N. auf Basis der Rechtsstellungstheorie. Auch nach der sog. Aufgabentheorie ergibt sich nichts anderes: Staatliche Stellen können keine Aufgabe übertragen, die nicht primär ihnen überantwortet ist. Entweder handelte es sich demnach um eine gesellschaftliche Aufgabe - eine besondere Betrauung wäre dann entbehrlich - oder um die Übertragung einer staatlichen Aufgabe - dann läge eine „echte" Beleihung vor. 318
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vielmehr der sonst nicht möglichen Subsumtion der Aufgaben des DIN unter die Beleihung323. Sie ist auch deshalb entbehrlich, weil sie aufgrund der „fundamentalen Unterschiede" zur klassischen Beleihung letztlich „ohne jede praktische Konsequenz" bleibt 324 . Insbesondere die Notwendigkeit der (gesetzlichen und vertraglichen) Festlegung auf Anforderungen hinsichtlich Organisation und Verfahren der Normsetzung läßt sich der Qualifizierung als „besonders anerkannter Beliehener" nicht entnehmen325. 3. Normkonkretisierende Verweisung Die normkonkretisierende Verweisung zeichnet aus, daß sie erstens bereits eine materielle Vorgabe enthält (meist in Form eines unbestimmten Rechtsbegriffs), die die gesetzlichen Schutzziele und Zwecke abschließend beschreibt, und zweitens zur Konkretisierung dieser Vorgabe ein bestimmtes Verweisungsobjekt bezeichnet326. Beide Voraussetzungen sind bei § 342 HGB gegeben. Während Absatz 1 die Anerkennung eines privatrechtlichen Rechnungslegungsgremiums betrifft, bestimmt Absatz 2: „Die Beachtung der die Konzernrechnungslegung betreffenden Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung wird vermutet, soweit vom Bundesministerium der Justiz bekanntgemachte Empfehlungen einer nach Absatz 1 Satz 1 anerkannten Einrichtung beachtet worden sind". Die GoB sind unbestimmte Rechtsbegriffe; sie sind teilweise gesetzlich kodifiziert, als System bestehen sie in großen Teilen auch aus ungeschriebenen Grundsätzen 327. Sie sind einer Konkretisierung zugänglich. 323
Wie hier v. Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, 36. Holle, Normierungskonzepte, 110 f. 325 Nach Backherms, DIN als Beliehener, 93 f. ist lediglich eine formelle Anerkennung z. B. durch Vertrag und eine staatliche Rechtsauf sieht erforderlich. 326 Vgl. Holle, Normierungskonzepte, 116 f.; Marburger, Regeln der Technik, 395 f., jeweils m. w. N. Letzteres unterscheidet sie von der sog. Generalklauselmethode. Der Normadressat muß sein Verhalten dort an einer gesetzlich nicht genau bezeichneten Regel ausrichten. Ob diese dem gesetzlichen Niveau entspricht, wird nicht materiell bestimmt, sondern ist im Einzelfall festzustellen, wobei unklar ist, ob eine vorherrschende Verbreitung in den entsprechenden Fachkreisen erforderlich ist - so BVerfGE 49, 89 (135); P. Kirchhof, NVwZ 1988, 101 - oder schon eine „gewisse Verbreitung" genügen kann - so Schwab, Politikberatung, 216. Dem Adressaten verbleibt nur eine negative Evidenzkontrolle; er kann selbständig entscheiden, daß eine Regel nicht den geforderten Anforderungen entspricht, Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 41; Rönck, Technische Normen, 162; Schwab, Politikberatung, 214f., jeweils m. w. N. „Einerseits kommen Sachverstand, Flexibilität und Eigenverantwortung der Privaten mit entsprechender Staatsentlastung zur Geltung. Andererseits bleiben staatliche Zugriffsoption und Letztentscheidungskompetenz für den Fall der Schlechterfüllung unangetastet", Schmidt-Preuß, Regelwerke, 95, der diese Regelungsmethode daher als „Königsweg" der Normkonkretisierung im Rahmen gesteuerter Selbstregulierung bezeichnet. 324
327 Zur Ermittlung der nicht-kodifizierten GoB (induktiv oder deduktiv) vgl. z. B. Beisse, FS Weif Müller, 748; Hommelhojf!Schwab, FS Kruse, 693 f.; Icking, Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, 488ff.; Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 41 Off., jeweils m.w.N.
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Die Verweisung bezieht sich nicht auf ein bestehendes, veränderbares Regelwerk, sondern gesteht lediglich künftigen, zum Zeitpunkt der Gesetzesformulierung noch nicht existierenden Normen eine eingeschränkte Rechtsverbindlichkeit (Vermutungswirkung) zu. Damit apostrophiert § 342 II HGB jedoch nur, was dieser Regelungsmethode von der wohl herrschenden Lehre ohnehin zugeschrieben wird: Demnach begründet die dynamische normkonkretisierende Verweisung eine Vermutung des Inhalts, daß die bezogenen privaten Normen eine zulässige Konkretisierung der materiellen Vorgabe darstellen 328. a) Gesetzliche Rechtsvermutung Gegen die Formulierung des § 342 II HGB ist zu Recht vorgebracht worden, als Rechtsfigur des Beweisrechts tauge die Vermutungswirkung nicht für juristische Wertungen, sondern sei auf Tatsachen beschränkt 329. Nach anderer Auffassung scheidet, da es sich bei den GoB nicht um Tatsachen, sondern um normative Wertungen handelt, zwar eine Tatsachenvermutung aus. Es komme statt dessen eine gesetzliche Rechtsvermutung in Betracht 330. Kennzeichnend für diese ist es, daß von der Einhaltung der gesetzlich aufgestellten Vermutungsgrundlagen auf den Inhalt der Vermutung geschlossen wird. Wendet man diese Überlegungen auf § 342 II HGB an, wird von den nach dem vorgesehenen Verfahren beschlossenen und durch das Bundesjustizministerium bekanntgemachten Empfehlungen (Vermutungsgrundlage) gesetzlich vermutet, den Anforderungen zu entsprechen, die an die (die Konzernrechnungslegung betreffenden) GoB zu stellen sind (Vermutungsinhalt). Der Inhalt der Vermutung beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, daß diese Empfehlungen den unbestimmten Rechtsbegriff der GoB in zulässiger Weise konkretisieren 331. 328 Vgl. Holle, Normierungskonzepte, 118 ff. m. w. N.; Marburger, Regeln der Technik, 396 ff. m. w. N. in Fn. 36; UGB-KomE, 500. Vgl. auch schon Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 414 ff. 329 Ausführlich Berberich, DRSC, § 6D.II.2.a); Buddel Steuber, DStR 1998, 1184; HommelhofflSchwab, BFuP 1998,42; dies., in: Staub, HGB, §342 Rn.84; Moxter, DB 1998, 1427 Fn.23; Schön, DB Heft 11/1998,1; Spanheimer, WPg 2000, 1004; vgl. Schildbach, DB 1999, 651. 330 Ebke, ZIP 1999, 1202; ders., in: MünchKomm HGB, § 342 Rn. 22f. unter Verweis auf entsprechende bürgerlichrechtliche Vorschriften, v. a. Rechtszustandsvermutungen, z. B. § 8911 BGB, und Rechtsfortdauervermutungen, z.B. § 100611 BGB. Auch bei den §§ 1117III, 136211 und 2365 BGB handelt es sich nicht um Tatsachenvermutungen im Sinne des §292 S. 1 ZPO, sondern um gesetzliche Rechts Vermutungen, Ebke, ZIP 1999, 1202 m. w.N. 331 Ebke, ZIP 1999, 1202; zustimmend Spanheimer, WPg 2000, 1005. Die gesetzliche Rechtsvermutung ist regelmäßig widerlegbar und damit einem Beweis des Gegenteils zugänglich. Hiervon wird auch für § 342 HGB ausgegangen: Daß eine unwiderlegbare Vermutungswirkung mit § 342 II HGB nicht bezweckt sein kann, ergebe sich bereits mittels teleologischer Auslegung aus der ratio der Norm oder doch jedenfalls durch verfassungskonforme Auslegung, Ebke, ZIP 1999, 1202; Großfeld, NZG 1999, 1144; allgemein Marburger, Regeln der Technik, 397.
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b) Kompetenz zur Normkonkretisierung Auch die Kennzeichnung als widerlegliche Rechtsvermutung bleibt problematisch. Eine Rechts Vermutung enthält nach dem oben Gesagten die an das Vorliegen einer Tatsache geknüpfte Vermutung einer bestimmten Rechtsposition oder Rechtslage. Sie ist widerleglich, sofern die Möglichkeit eines Gegenbeweises besteht. Dieser Gegenbeweis kann sich jedoch wiederum nur auf tatbestandliche Voraussetzungen beziehen, aus denen gegebenenfalls eine abweichende Rechtsfolge abzuleiten ist. Im Endeffekt ist also auch eine gesetzliche Vermutung auf einen Tatsachenbeweis angewiesen. Anders §34211 HGB: Die dort statuierte Vermutungswirkung zielt auf die Identität oder zumindest inhaltliche Übereinstimmung der Empfehlungen des Rechnungslegungsgremiums mit den GoB. Die Widerlegung dieser „Vermutung" kann nur dadurch erfolgen, daß die inhaltliche Unvereinbarkeit der beiden Regelwerke dargelegt wird. Zu diesem Zwecke können nicht bestimmte, für die gesetzlich vermutete Rechtslage erhebliche Tatsachen herangezogen werden; vielmehr handelt es sich um eine subjektive Beurteilung zweier verschiedener, ihrerseits von Wertungen beeinflußter Regelwerke. Die „Vermutungswirkung" des § 342 I I HGB läßt sich daher weder als Tatsachennoch als gesetzliche (widerlegbare) Rechtsvermutung einordnen. Verlangt wird eine normative Relevanz oder „Geltung" der Empfehlungen 332. Der Begriff der Vermutung ist verwirrend, als er eine auf normative Wertungen ausgerichtete und von diesen abhängige Möglichkeit der Gesetzeskonkretisierung als Beweis- und damit als Tatsachenproblem erscheinen läßt 333 . Die intendierte Bindung der Gerichte wird hiermit unzutreffend in das Beweisrecht verlagert 334. Wo es nicht um Tatsachenwiedergabe geht, sondern die Regelwerke normative Wertungen enthalten, scheidet eine beweisrechtliche Lösung aus. In der Sache handelt es sich deshalb bei § 342 II HGB um eine Kompetenz zur Konkretisierung normativer Vorgaben 335. Den privaten Empfehlungen kommt 332
Hellermann, NZG 2000, 1099. Hellermann, NZG 2000, 1099; vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19IV Rn.206; Schwab, Politikberatung, 267 ff. In ähnlicher Weise sind allerdings sowohl § 1611 des Professorenentwurfs UGB-AT („Es wird vermutet, daß technische Regelwerke anerkannte Regeln der Technik, den Stand der Wissenschaft und Technik zutreffend wiedergeben, wenn [...]") als auch § 3311 UGB-KomE („Es wird vermutet, daß nach § 32 amtlich eingeführte technische Regelwerke den Stand der Technik oder den Stand der Wissenschaft und Technik zutreffen wiedergeben.") formuliert. Daß auch die dort in Bezug genommenen technischen Regelwerke keine bloßen Tatsachen darstellen, sondern ihrerseits in teilweise erheblichem Ausmaße Wertungselemente enthalten, entspricht heute überwiegender Ansicht, vgl. nur Lübbe-Wolff, ZG 6 (1991), 235. Dennoch positiv Gößwein, Normsetzung, 185 ff., 188 m. w.N. 334 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19IV Rn. 206 (zur dogmatischen Qualifizierung von Verwaltungsvorschriften mit Technischen Anleitungen als antizipierte Sachverständigengutachten). Vgl. auch Hoffmann-Riem, Auffangordnungen, 318. 335 So ausdrücklich Hellermann, NZG 2000, 1099 (ähnlich die administrative „Standardisierungsermächtigung" bei Ladeur, DÖV 2000, 221 f.) Ablehnend z.B. Budde!Steuber, DStR 333
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Rechtsverbindlichkeit zu, als ein mit ihren Vorgaben in Einklang stehendes Verhalten als rechtmäßig anzusehen ist. Umgekehrt darf eine abweichende Konzernrechnungslegung nicht automatisch als rechtswidrig eingestuft werden; hier bleibt es dabei, daß die Gerichte eine normative Wertung vorzunehmen haben. Nur so läßt sich die Vermutungswirkung sinnvoll auslegen. Diese Form kooperativer Normsetzung resultiert aus dem Auseinanderfallen des für die Aufstellung sinn- und maßvoller Grundsätze erforderlichen Sachverstands, der typischerweise nicht bei den staatlichen Stellen, sondern bei den bilanzierenden Unternehmen und den Prüfern zu finden ist 336 , und der Kompetenz, allgemeinverbindliche Rechtssätze aufzustellen. Das sich ergebende Kooperationsbedürfnis bedingt eine Neuformulierung des staatlichen Steuerungsanspruchs 337. Das regelnde Gesetz muß nicht nur selbst materielle Aussagen zum Rezeptionsprogramm treffen, sondern darf vor allem eine Rezeption privater Normen nur verfügen, wenn diese in einem rechtsstaatlichen und demokratischen Mindestanforderungen genügenden Verfahren zustande gekommen sind 338 . Aufgrund der Restriktion der inhaltlichen Kontrollmöglichkeiten wird dem Verfahren eine unersetzbare, auch gerichtlich nicht wiedergutzumachende Aufgabe zugewiesen; es muß besonders hohen Anforderungen an Richtigkeitsgewähr, d. h. vor allem eine Berücksichtigung möglichst aller betroffenen Interessen, standhalten339. Die Normkonkretisierung darf mithin nur dann zulässigerweise einem privaten Gremium überantwortet werden, wenn dieses nach Organisation und Verfahren die Gewähr hinreichender Gemeinwohlkompatibilität seiner Ergebnisse bietet. Die nun1998,1186. Gegen eine Qualifizierung als dynamische Verweisung auch Hommelhoff/Schwab, in: Staub, HGB, § 342 Rn. 85 mit dem Argument, die Rechnungslegungsstandards sollten nicht wie ein Gesetz bis zu ihrer förmlichen Aufhebung wirken, sondern verlören automatisch ihre Gültigkeit bei atypischen Sachverhalten oder Überalterung. Ihnen zufolge eignet den Rechnungslegungsstandards nur eine sozial-normative Bindungswirkung, dort, Rn. 89. Vgl. ausführlich Berberich, DRSC, § 6 D. II. 336 Havermann, ZGR 2000, 698; Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 46. 337 Vgl. Schmidt-Aßmann, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 30. 338 Ebke, ZIP 1999, 1195; Hellermann, NZG 2000, 1102. Vgl. BVerwGE 72, 300 (316ff.); Brugger, VerwArch 78 (1987), 42f.; Ladeur, DÖV 2000,217ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 19IV Rn.206f. m. w.N.; Wahl, NVwZ 1991,418: „Es gibt jedoch andere Möglichkeiten, dem in der normativen Ermächtigungslehre zugrundegelegten Auftrag und der „Pflicht" des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, nämlich durch die Regelung der Verfahren und der Organisation der Standardsetzung [...]." (zu exekutivischer Standardsetzung). Diese Anforderungen sind entsprechend rigoroser auszugestalten, wenn die Ausarbeitung nicht durch eine administrative, sondern durch eine private Stelle erfolgt. 339 Vgl. Rehbinder, in: Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann, UGB-AT, 482: „Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung ist die Übereinstimmung des technischen Regelwerks mit den Wertungen des Gesetzes, Erlaß durch eine sachverständige Stelle, ausgewogene Zusammensetzung als verfahrensmäßige Gewähr für Objektivität und Neutralität, hinreichende Begründung und Zustandekommen in einem fachöffentlichen Verfahren. Damit soll im Sinne »kontrollierter Rezeption' eine hinreichende staatliche Überprüfung des Inhalts und des Zustandekommens privater Regelwerke sichergestellt werden, ohne dem Staat eine vollinhaltliche ,Technikkontrolle' aufzugeben, die die Entlastungsfunktion technischer Regelwerke wieder aufheben würde".
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mehr zu prüfenden organisatorischen und prozeduralen Anforderungen an die private Standardsetzung dienen daher nicht allein oder primär einer erhofften Akzeptanz oder verbesserten inhaltlichen Qualität der Empfehlungen 340, sondern sind notwendige Kompensationsbedingungen des sich aus der Regelung der Rechnungslegung partiell zurückziehenden demokratischen Gesetz- und Verordnungsgebers. 4. Gemeinwohlkompatibilität sichernde Bedingungen Schon § 342 HGB selbst enthält Vorgaben für die Erarbeitung der Rechnungslegungsgrundsätze (a). Zudem wirken als kontrollierende Rezeptionsmechanismen einerseits die Bekanntmachung durch das Bundesjustizministerium, andererseits die nach wie vor bestehenbleibende gerichtliche Kontrolle, die jedoch beide in ihrem Prüfumfang erläuterungsbedürftig sind (b). Daher kommt der Festlegung der an das Rechnungslegungsgremium zu stellenden inhaltlichen und vor allem formalen Anforderungen durch den Standardisierungsvertrag eine besondere Funktion zu. Dessen Anforderungen sind im Anschluß an die oben allgemein entwickelten Überlegungen im konkreten Anwendungsfall darauf zu überprüfen, ob sie geeignet sind, die hinreichende Gemeinwohlkompatibilität der gesetzeskonkretisierenden privaten Rechnungslegungsgrundsätze sicherzustellen (c). a) Gesetzliche Vorgaben Die demokratische Rückbindung verlangt, daß das Parlament als Gesetzgeber selbst die wesentlichen Entscheidungen vorgibt 341 . Ihm obliegt die Bestimmung der Grundprinzipien; den privaten Gremien bleibt nur die konkrete Ausgestaltung. § 342 HGB enthält zu diesem Zweck Vorgaben sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht. Materiell wird die Vermutungswirkung nach § 342 II HGB auf die „die Konzernrechnungslegung betreffenden Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" beschränkt. Die GoB sind in Deutschland rechtsverbindlich 342; die Anordnung ihrer Beachtung hat Gesetzesrang343. Auch § 342 HGB beinhaltet keinen Be340 Vgl. insoweit die bei Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 55 ff. aufgeführten Anforderungen an den Rechnungslegungsprozeß: Flexibilität, Orientierungsrahmen zur Gewährleistung von Kontinuität, Unabhängigkeit des Standardsetzers, Gewährleistung der Interessenabwägung, Fachkunde, Berücksichtigung von Empirie und Wissenschaft, Kompatibilität mit dem Prozeß der internationalen Harmonisierung, Transparenz des Verfahrens. Vgl. auch dort, 190ff., 396ff. 341 BVerfGE 33,125 (158f.); 33, 303 (346); 41,251 (259f.); 45,400 (417f.); 47,46 (78ff.); 58, 257 (268). 342 Biener, FS Clemm, 59, 60; Schwab, BB 1999, 731. Vgl. auch Beisse, FS Weif Müller, 734f., 744. 343 §§23811, 2431, 264II 1, 297112 HGB. Die gesetzlich nicht festgelegten GoB sind mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermitteln, vgl. nur Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 409 ff. Allgemein hierzu Seiler, Auslegung, 20 ff.
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freiungstatbestand; im Gegensatz zu § 292 a HGB ist aber das (rechtliche) Aktionsfeld eingegrenzt. Das private Rechnungslegungsgremium kann keine grundlegenden Änderungen oder gar Systemwechsel vornehmen 344. Dennoch genügte allein die normative Ausrichtung auf die GoB der gesetzlichen Steuerungspflicht noch nicht. § 342 HGB konturiert daher bereits die grundlegenden Anforderungen an Verfahren und Organisation des privaten Rechnungslegungsgremiums. Gemäß § 34212 HGB „darf nur eine solche Einrichtung anerkannt werden, die aufgrund ihrer Satzung gewährleistet, daß die Empfehlungen unabhängig und ausschließlich von Rechnungslegern in einem Verfahren entwickelt und beschlossen werden, das die fachlich interessierte Öffentlichkeit einbezieht". Hiermit sind Fachkunde, Unabhängigkeit und Transparenz des Verfahrens gesetzlich als unmittelbare Voraussetzungen der Aufgabenübertragung formuliert. Weitere, genauere Vorgaben enthält der Standardisierungs vertrag. b) Steuernde Rezeption Neben der präventiven Vorgabe von Organisations- und Verfahrensregeln setzt die Auslagerung von Regelungsgewalt die reaktive Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln voraus. Diese erfolgt einerseits durch das Bundesjustizministerium, anderseits durch die Überprüfung der Standards in einem eventuellen Gerichtsverfahren 345. aa) Die Bekanntmachung durch das Bundesjustizministerium § 342 II HGB knüpft die Vermutungswirkung an die vorherige Bekanntmachung der Empfehlungen durch das Bundesjustizministerium. Eine genauere Festlegung erfolgt nicht: Weder die Form der Veröffentlichung noch deren Voraussetzungen werden bestimmt. Hinsichtlich der Form ist an den Zweck der Rechnungslegung anzuknüpfen und eine Veröffentlichungsalternative zu wählen, die es allen betroffenen Kreisen ermöglicht, Kenntnis von den Standards zu nehmen. Die in der Praxis erfolgende Veröffentlichung im Bundesanzeiger wird den rechtsstaatlichen Publizitätserfordernissen gerecht. Sie entkräftet damit die gegen die dynamische Verweisung unter dem Aspekt des Art. 821 GG vorgebrachten Einwände. Problematischer 344 Vgl. Beisse, FS Weif Müller, 731 ff. Zum Inhalt der Standards Baetge/Krumnow/Noelle, DB 2001,770. §41111 des Standardisierungsvertrages, in dem sich das DRSC gegenüber dem Bundesjustizministerium verpflichtet hat, bei der Erarbeitung der Empfehlungen darauf zu achten, daß diese „nicht im Widerspruch zu Rechtsvorschriften stehen" hat v. a. deklaratorische Bedeutung. Sofern nach S.2 eine „sinnvolle Weiterentwicklung" der GoB nicht ausgeschlossen sein soll, wird man eine sorgfältigere Prüfung anregen müssen, vgl. Ebke, in: MünchKomm HGB, § 342 Rn. 24. Zur Beschränkung auf die Konzemrechnungslegung dort, Rn. 16. 345 Zur hier ausgeklammerten Frage nach der Erforderlichkeit eines privaten Durchsetzungsgremiums Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 451 ff., 476ff.; Böckem, DB 2000, 1185 ff.; HallerlEierlelEvans, BB 2001, 1673 ff.; HommelhofffSchwab, FS Kruse, 696ff.; Tielmann, DB 2001, 1625ff., jeweils m. w.N.; FAZ vom 21.9.2001, 20.
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ist, ob der Bekanntmachung eine (inhaltliche) Prüfung vorausgeht. Allein die erhöhte Aufmerksamkeit, die einer Regierungspublikation zuteil wird, erklärt die Rolle der Bekanntmachung, die Anknüpfungspunkt der „Vermutungswirkung" ist, nicht ausreichend. Auch das private Gremium selbst veranlaßt schließlich eine elektronische und gedruckte Veröffentlichung. Eine volle inhaltliche Prüfung auf die Übereinstimmung mit dem deutschen und europäischen Recht widerspräche jedoch der erwarteten Eigenverantwortlichkeit des Gremiums und konterkarierte den Zweck der Delegation. Die Überprüfung bedarf zwar geringeren Aufwands als die Standardsetzung selbst, doch bleibt zweifelhaft, ob dem Bundesjustizministerium die für eine effektive Überprüfung erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stehen346. Dies in Rechnung stellend, ist zumindest eine Plausibilitätsprüfung zu fordern 347. Soll der Staat die Ergebnisse der Standardsetzung in seine Verantwortung übernehmen und sollen diese rechtsverbindlich wirken, sind wenigstens die materiellen Grundzüge zu kontrollieren und damit auch präventiv das Gremium zur Einhaltung der Vorgaben anzuhalten348. Im übrigen gilt, daß, je geringer die fachlich-inhaltliche Beteiligung des Bundesjustizministeriums ist, desto sorgfältiger auf die Einhaltung strenger Verfahrensanforderungen zu achten ist. bb) Kontrolle durch die Gerichte Die intendierte BindungsWirkung der Empfehlungen muß in einem gewissen Umfang auch für die Gerichte gelten349. Eine volle gerichtliche Inhaltskontrolle liefe nicht nur der angestrebten staatlichen Entlastung zuwider, sie führte auch dazu, daß eine außerstaatliche Entwicklung von Standards zur Rechnungslegung unter 346 Moxter, DB 1998, 1427: „Das BMJ ist mit der Beurteilung der ihm vorgelegten ,Standards' überfordert"; ihm zustimmend Hellermann, NZG 2000, 1102; skeptisch auch SchuppertlBumke, Standardsetzung, 120. Erwägenswert ist daher der Vorschlag von Hommelhoff! Schwab, FS Kruse, 714, die Bekanntmachungs-Vorprüfung auf das BAWe zu übertragen. Eine Beteiligung von Fachleuten der obersten Bundesbehörden i. R. d. amtlichen Einführung technischer Regelwerke sieht auch § 32 UGB-KomE vor (anders insoweit § 161 Professorenentwurf UGB-AT). Nach Budde! Steuber, DStR 1998, 1185 ff. soll die Bekanntgabe den Erlaß einer Rechtsverordnung i. S. d. § 292a II 3 HGB darstellen, die aber nur bei einer Mandatierung des Rechnungslegungsbeirats des § 342 a HGB zulässig sei. 347 So Hommelhoff ¡Schwab, BFuP 1998,51 f.; vgl. dies., FS Kruse, 714f.; für das technische Sicherheitsrecht ebenso Müller-Foell, Bedeutung technischer Normen, 179. 348 Vgl. in diesem Zusammenhang sehr instruktiv Anhang A 1 (zweites Zitat) zu dem Standardentwurf E-DRS 4 „Unternehmenserwerbe im Konzernabschluß", wo es u. a. heißt: „Das BMJ hält die Bekanntmachung von Standards insoweit nicht für vertretbar, als diese gegen geltendes Handelsrecht verstoßen. Daher hat der DSR, um eine Bekanntmachung (und damit die Vermutungswirkung des §34211 HGB) zu ermöglichen, darauf verzichtet, Regelungen zu erlassen, die zu geltenden handelsrechtlichen Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften im Widerspruch stehen." (Hervorhebung und Klammerzusatz nicht im Original). 349 Ebenso Berberich, DRSC, §6D.IV.; Hellermann, NZG 2000, 1099. Anders Ebke, ZIP 1999,1202f.; ders., in: MünchKomm HGB, §342 Rn.23; Moxter, DB 1998,1427f.; Scheffler, BFuP 1999, 412; Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1439.
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dem Damoklesschwert gerichtlicher Verwerfung stünde, was der Akzeptanz der Standards hinderlich wäre. Auch die gerichtliche Kontrolle ist deshalb auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Geprüft werden kann außerdem, ob das Verfahren der Standardsetzung in einer Weise durchgeführt wurde, die eine ausreichende Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen ermöglicht. Sofern diesbezüglich kein Anlaß zu Beanstandungen besteht, soll das Gericht nicht die wertende Stellungnahme des fachkundigen und pluralistisch besetzten Rechnungslegungsgremiums durch seine eigene ersetzen. Der gerichtlichen Klärung zugänglich muß hingegen die Frage sein, inwieweit von den Empfehlungen des Standardisierungsrates abweichende Konzernabschlüsse und -Jahresberichte als dennoch mit den GoB übereinstimmend anzusehen sind. cc) Ergebnis Die steuernde Rezeption ist nicht nur in praxi aufgrund der Wissens- und Kompetenzdefizite der staatlichen Stellen kaum durchführbar; sie ist auch nach der Konzeption des Gesetzes nicht intendiert. Aus dieser mangelnden inhaltlichen Beherrschung folgt die besondere Bedeutung des NormsetzungsVerfahrens. Anforderungen hieranfinden sich wie gesehen bereits in § 342 HGB selbst; daneben ist vor allem die nähere Konkretisierung durch den Standardisierungsvertrag zu beachten. c) Standardisierungsvertrag Der Standardisierungsvertrag ist ein verwaltungsrechtlicher Vertrag im Sinne der §§ 54 ff. VwVfG. Die Anerkennung des DRSC und die Übernahme der Standards stellen Pflichten dar, die nur einem Hoheitsträger obliegen können. Da es für die Qualifizierung eines zwischen der Verwaltung und einem Privaten geschlossenen Vertrags als Verwaltungsvertrag bereits ausreicht, wenn nur eine der durch den Vertrag begründeten Rechtsbeziehungen dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist, ist auch der Standardisierungsvertrag als öffentlich-rechtlich einzuordnen 350. Bevor die in ihm enthaltenen Rechte und Pflichten auf ihre Übereinstimmung mit den oben abstrakt festgelegten Kriterien überprüft werden können, ist zunächst das Verhältnis der gesetzlichen zu den vertraglichen Vorgaben zu hinterfragen. aa) Reichweite des Gesetzesvorbehalts Wegen der an die vertragliche Anerkennung geknüpften Befugnis, Normen mit (eingeschränkter) Rechtsverbindlichkeit zu erlassen, bedarf der Standardisierungsvertrag sowohl aus grundrechtlicher wie aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht 350
Das entspricht der herrschenden Einstufung des DIN-Vertrages, vgl. Holle, Normierungskonzepte, 234 ff.
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einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die mit § 342 HGB gegeben ist. Die dort enthaltenen Verfahrensanforderungen bleiben allerdings fragmentarisch; sie sind auf eine vertragliche Konkretisierung hin ausgestaltet und wären für sich allein genommen wohl nicht in der Lage, eine hinreichende Gemeinwohlkompatibilität der Entscheidungen des Rechnungslegungsgremiums sicherzustellen. Namentlich Schuppert/Bumke argumentieren, die den Prozeß der kooperativen Rechtsetzung einkleidenden institutionellen Arrangements müßten durch den Gesetzgeber selbst bestimmt werden, so daß der entsprechende Vertrag als in seinen wesentlichen Grundzügen gesetzlich vorgeprägt gelten könne. Diese „Gewichtsverteilung" sehen sie im Zusammenspiel von § 342 HGB und dem Standardisierungsvertrag nicht hinreichend gewahrt 351. Vorgeschlagen wird daher, einen besonderen Typus eines Kooperationsvertrages in das jeweilige Fachgesetz bzw. in das Verwaltungsverfahrensgesetz einzufügen 352. Verfassungsrechtlich zwingend ist dies nicht. Es müssen nicht alle den privaten Normsetzern auferlegten Bedingungen unbedingt durch den Gesetzgeber selbst festgesetzt werden. Statt dessen genügt es, wenn dies durch ein demokratisch legitimiertes Organ erfolgt, dem im Gesetz die wesentlichen Standards vorgegeben werden. So entspricht es gängiger Gesetzgebungspraxis, daß nähere Verfahrensausgestaltungen der Regelung durch Rechtsverordnung überlassen werden. Eine Regelung mittels verwaltungsrechtlichen Vertrages ist daher jedenfalls dort zulässig, wo an seiner statt auch eine Rechtsverordnung hätte erlassen werden können353. Das Bundesjustizministerium als Vertragspartner ist ein zulässiger Verordnungsgeber, und es ist auch davon auszugehen, daß die Ausrichtung des § 342 HGB auf Sachkompetenz, Unabhängigkeit und Transparenz hinsichtlich Inhalt, Zweck und Ausmaß der vertraglichen Vereinbarung das von Art. 8012 GG verlangte Niveau an Bestimmtheit erreicht. Gegen eine gesetzliche Festlegung spricht praktisch zudem die durch die vertragliche Regelung erreichte Flexibilität; insbesondere eine Kodifizierung im Verwaltungsverfahrensgesetz bedeutete die Aufgabe notwendiger bereichsspezifischer Modifikationen zugunsten einer einheitlichen schematischen Konstruktion. Mit der Vertragsform wurde hingegen ein Vehikel gefunden, um in einfacher, flexibler und doch rechtsverbindlicher Form staatliche Verfahrensanforderungen durchzusetzen. Eine andere Frage wäre, ob die Aushandlung der an das Rechnungslegungsgremium zu stellenden Anforderungen zulässig ist oder ob aufgrund der (eingeschränkten) Verbindlichkeit der Empfehlungen eine einseitig staatliche Vorgabe, 351
Schuppert/Bumke, Standardsetzung, 125 f. Schuppert/Bumke, Standardsetzung, 125. Vgl. auch Schmidt-Aßmann, DV Beiheft 4 (2001), 270f.: „Dauerhafte Verbindungen von Selbstregulierungsaktivitäten können einen ,Strukturierungsvertrag' erforderlich machen", dessen rechtlicher Rahmen parallel zu den für die Verwaltungshilfe entwickelten „Veranlassungsverträgen" anzulegen wäre, vgl. dazu Burgi, Privatisierung, 164ff., 425 ff. 353 Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang der Standardsetzung i.d. S. sowohl § 161 II UGB-AT als auch § 33 II UGB-KomE. Dazu, daß ein „Normungsvertrag" erforderlich, aber auch ausreichend ist, auch Schwab, Politikberatung, 395 ff., 400ff. 352
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zum Beispiel durch eine Rechtsverordnung, zu wählen gewesen wäre. Tatsächlich paßt der Gedanke eines Austauschvertrages auf die vorliegende Konstellation nur bedingt, geht es doch letztlich nur darum, dem Gremium verbindliche Verfahrensvorgaben zu machen. Auf der anderen Seite stärkt die Verhandlungsposition des Bundesjustizministeriums, daß mit § 342 a HGB für den Fall einer Nichteinigung eine Alternativlösung bereitsteht 354. Zumindest in der Anfangsphase konnte sich die private Seite den Vorstellungen des Ministeriums deshalb wohl kaum widersetzen. Und für die weitere Entwicklung entspricht eine vertragliche Lösung eher dem Charakter eines auf Vertrauen und gegenseitige Achtung angewiesenen Kooperationsverhältnisses 355. bb) Allgemeinwohlverpflichtung Nach § 114,5 des Standardisierungsvertrages verpflichtet sich das DRSC, bei der Erfüllung der übertragenen Aufgaben das öffentliche Interesse zu beachten und bei der Entwicklung der Rechnungslegungsstandards insbesondere die Belange der Gesetzgebung, der öffentlichen Verwaltung und des Rechtsverkehrs zu berücksichtigen. Diese Berücksichtigung muß sich nicht im Ergebnis der Standardsetzung niederschlagen 356. Vielmehr ist lediglich von einem erhöhten Begründungserfordernis auszugehen. Soweit die Formulierung damit als bloße „Absichtserklärung" zu verstehen ist, reicht sie zur Herstellung von Gemeinwohlkompatibilität nicht aus 357 . Schon die Befürchtung, eine mangelnde Berücksichtigung des öffentlichen Interesses könnte die Vermutungswirkung des § 342 II HGB widerlegen, kann immerhin edukativ wirken und das DRSC zur Einhaltung strenger Anforderungen anhalten. Potentiell im Konflikt zur Verpflichtung auf die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses könnte die Selbsteinschätzung des DRSC stehen, im Rahmen seiner Zielsetzung den „beruflichen Zielen seiner Mitglieder" 358 zu dienen und seine Vereinszwecke als „Berufsverband für seine Mitglieder" 359 zu erfüllen 360 . Ob hierin ein Widerspruch liegt, ist schon aufgrund der Heterogenität der Mitgliederstruktur des DRSC fraglich. Angesichts der Wertungsabhängigkeit der Rechnungslegung und der Komplexität des Interessengeflechts kann es eine einzige, „richtige" Rechnungslegung nicht geben. Statt dessen ist auf Aushandlungsprozesse zu setzen. Ziel der gesetzlichen bzw. vertraglichen Regelung muß es sein, durch entsprechende 354
Nach § 342 a HGB kann beim Bundesjustizministerium ein halbstaatlicher Rechnungslegungsbeirat mit den Aufgaben nach § 34211 HGB gebildet werden, falls kein privates Rechnungslegungsgremium anerkannt wird, §342a IX HGB. 355 Für Trute, Verzahnungen, 207 ist „der Vertrag an sich die Handlungsform des kooperativen Staates". 356 So zum DIN-Vertrag Lamfr, Gesetzeskonkretisierung, 75; vgl. Trute, Verzahnungen, 209 f. 357 Denninger, Normsetzung, Rn. 144. 358 §2111 DRSC-Satzung. 359 §2112 DRSC-Satzung. 360 Kritisch Ebke, ZIP 1999, 1197.
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Verfahrensvorschriften einen tragfähigen Kompromiß zu ermöglichen. Schon die deklaratorische Verpflichtung auf das Allgemeinwohl schafft einen gewissen Konsistenzzwang. cc) Unabhängigkeit Die Unabhängigkeit des Rechnungslegungsgremiums stellt eine verfassungsrechtliche Forderung dar; ihr Fehlen wäre zudem geeignet, tiefgreifende Vertrauensund Akzeptanzverluste hervorzurufen und dadurch den Ruf nach dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber zu verstärken. Sie gehört daher zu den in § 34212 HGB genannten Grundanforderungen. Im Standardisierungsvertrag verpflichtet sich das DRSC gegenüber dem Bundesjustizministerium, die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Standardisierungsrates und der von diesem eingerichteten Arbeitsgruppen zu garantieren; im Gegenzug erkennt das Bundesjustizministerium die Unabhängigkeit dieser Gremien ausdrücklich an 361 . Ähnlich formuliert auch die Präambel der DRSC-Satzung die Erwartung an die Unabhängigkeit des Gremiums und ergänzt dies in § 912 durch das Erfordernis der Unabhängigkeit der Mitglieder des DSR. Schließlich enthält auch die Geschäftsordnung des DSR eine Bestimmung hinsichtlich der Unabhängigkeit des Standardisierungsrates und seiner Mitglieder 362 . (1) Organisatorische
Unabhängigkeit
Zur Sicherung einer unbeeinträchtigten Arbeit des Rechnungslegungsgremiums gehört zunächst die Gewährleistung seiner organisatorischen Unabhängigkeit. Zweifel hieran könnten sich allenfalls daraus ergeben, daß der DSR als das eigentlich standardsetzende Organ vom DRSC getragen wird. Der Verwaltungsrat des DRSC kann jedoch ebensowenig wie das Bundesjustizministerium dem DSR als Gremium oder einzelnen Mitgliedern Weisungen erteilen 363. Die Bedenken, die gegen die fehlende Selbständigkeit des DSR vorgetragen werden, betreffen daher in erster Linie die befürchtete finanzielle Abhängigkeit des Standardisierungsrates 364. Diese soll unten gesondert behandelt werden.
361 § 112, II 1 bzw. § 1 II 2 Standardisierungsvertrag. Zur Bedeutung der Unabhängigkeit i. S. v. Steuerungswissenschaft und Organisationsrecht allgemein Oertel, Regulierungsbehörde, v. a. 101 ff.; zur Differenzierung zwischen funktioneller und politischer Unabhängigkeit dort, 105 ff., 187 ff. Oertel zufolge ist Unabhängigkeit eine organisationsrechtliche Bedingung der Privatisierung, weil sich der Staat nur dort auf die Gewährleistungsverantwortung zurückziehen könne, wo seine eigentlichen hoheitlichen Funktionen von denen der Leistungserbringung und der Unternehmensverwaltung abgeschichtet werden, dort, 104ff., 112. 362 § 111 GO-DSR. Diese Regelung gilt nach § 12 V GO-DSR entsprechend für die Arbeitsgruppen. 363 Zur Weisungsfreiheit allgemein Oertel, Regulierungsbehörde, 238ff. 364 Ebke, ZIP 1999, 1200.
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(2) Personelle Unabhängigkeit Aus der staatlichen Legitimationsverantwortung folgt die Pflicht, dem privaten Normsetzungsgremium gewisse demokratisch-rechtsstaatliche Mindeststandards aufzuerlegen. Ermöglicht und sichergestellt werden muß eine effektive und gleichwertige Beteiligung der betroffenen, möglicherweise divergierenden Interessen (Binnenpluralismus). Eine repräsentative Besetzung ist nicht etwa deshalb entbehrlich, weil eine Zusammenführung erheblichen Sachverstands in jedem Fall zu einer angemessenen, richtigen Lösung führen wird. Die Rechnungslegung ist einer solch klaren Unterscheidung nicht zugänglich. Spielen Wertungsebenen jedoch eine entscheidende Rolle, gibt es also keinen wertungsfreien Sachverstand, dann drohen die vertretenen Interessen auf das Ergebnis in einer dem Allgemeinwohl abträglichen Weise Einfluß zu nehmen. Dieser Einflußnahme könnte versucht werden entgegenzutreten, indem die Unabhängigkeit der Gremienmitglieder postuliert wird. Könnte sichergestellt werden, daß diese von jeglicher Beeinflussung losgelöst und allein auf Grundlage ihrer sachverständigen Meinung urteilten, so entspräche dies der Idealvorstellung einer auch aus demokratisch-rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstandenden privaten Standardsetzung. Berücksichtigt wäre damit auch, daß „die Anforderungen an die Unabhängigkeit steigen, je mehr sich Gesetz- oder Verordnungsgeber von ihrer Regelungsbefugnis zurückziehen" 365. Daß in diesem Sinne unabhängige Experten tatsächlich existieren, ist mit guten Gründen bezweifelt worden 366 . Ein Gremium wie das des § 342 HGB ist seiner Natur nach darauf angewiesen, wenn nicht die besten, so doch sehr erfahrene und honorige Fachleute zu versammeln; das Ergebnis dieser Synthese soll sich seiner Anerkennung in der Fachwelt sicher sein 367 . Gerade die Unabhängigkeit solcher Experten ist unwahrscheinlich. In einem Umfeld, in dem Wissen und Sachverstand in zunehmendem Maße als Ressource erkannt werden und rar und gesucht sind, ist eine Bindung der vorhandenen Spezialisten eine logische Folge dieser gestiegenen Bedeutung. Es ist davon auszugehen, daß sie sich in gefestigten und lukrativen Arbeitsverhältnissen befinden. Oft stellen deshalb „gerade Interessenvertreter die besten Fachleute dar" 368 . 365
Ebke, ZIP 1999, 1195. HommelhofflSchwab, in: Staub, HGB, §342 Rn.48; Schwab, BB 1999,737, insofern allgemeine Bedenken hinsichtlich der Existenz unabhängigen, nicht interessengebundenen, objektiven Sachverstands aufgreifend. Vgl. dazu Brohm, HStR II, § 36 Rn. 14; Di Fabio, VerwArch 81 (1990), 211; T. Groß, Kollegialprinzip, 267 ff.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 81, 197 f., jeweils m. w. N. Vgl. zur Unabhängigkeit (und Allgemeinwohlverpflichtung), die sich aus der Beamtenstellung ergibt, Oeriel, Regulierungsbehörde, 171 ff. 367 Vgl. bereits Langenbucher/Blaum, DB 1995, 2328: „[...] kann das Unterfangen (d.h. die Einrichtung eines deutschen Rechnungslegungsgremiums) nur dann gelingen, wenn Persönlichkeiten gewonnen werden können, die über eine unstrittige Autorität und breite Akzeptanz verfügen und die im Ruf stehen, nicht nur herausragende fachliche Kompetenz zu besitzen, sondern die auch über ein klares Gespür für das praktisch Machbare und das tatsächlich Erforderliche verfügen". Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 274 befürwortet ausdrücklich eine Aufnahme von „Machtpromotoren". 368 Brohm, HStR II, § 36 Rn. 14 mN. 366
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Selbst wenn man dem Rechnung tragen wollte, indem man für die Dauer der Mitarbeit im Gremium ein Verbot einer anderweitigen geschäftlichen Tätigkeit aufstellte, ist fraglich, ob dies der Unabhängigkeit diente. Nicht nur könnte nämlich ein solches Verbot bereits im beruflichen Werdegang erworbene Vorverständnisse, Erfahrungen und Prägungen nicht beseitigen. Es ließe zudem unberücksichtigt, daß der nach der begrenzten Dauer der Mitgliedschaft im Gremium anstehende Wiedereintritt in die Berufswelt aller Voraussicht nach Vorwirkungen im Sinne eines „vorauseilenden Gehorsams" entfaltet. Auch die durch eine Verbandszugehörigkeit geprägte subjektive Interessenperspektive können die Repräsentanten wohl niemals völlig abstreifen 369. Die Vorstellung, Voreingenommenheiten und Abhängigkeiten vollends eliminieren zu können, ist daher illusionär 370 . Sie trägt zudem das Risiko in sich, gerade besonders qualifizierten Vertretern der Rechnungsleger die Mitarbeit im Gremium zu verleiden und damit dessen Aufgabenerfüllung negativ zu beeinflussen. Sinnvoll erscheint es demgegenüber, Transparenzpflichten einzuführen, denen gemäß die Mitglieder ihre Beziehungen zu Interessenträgern offenzulegen haben, um der interessierten Öffentlichkeit einen Eindruck davon zu vermitteln, wer möglicherweise Einfluß auf die Entscheidung nimmt. Der praktische Bedarf dürfte gering sein, da Herkunft und Werdegang der Gremienmitglieder hinlänglich bekannt sind. dd) Besetzung Auch wenn man somit eine zumindest in gewissen Grenzen interessengesteuerte und voreingenommene Aufgabenwahrnehmung als unvermeidbar hinnehmen muß, folgt daraus nicht die Unmöglichkeit gemeinwohlkompatibler Standardsetzung durch private Gremien. Eine ausgewogene Lösung muß vielmehr mittels einer pluralistischen Besetzung gefördert werden, die verhindert, daß sich Partikularinteressen in (zu) starkem Maße durchsetzen. Die Standardsetzung darf nicht allein den Unternehmen und Wirtschaftsprüfern überantwortet werden, sondern muß die anderen an der Rechnungslegung interessierten Kreise, also die Gruppe der Bilanznutzer, effektiv und gleichwertig einbinden. Eine möglichst paritätische Besetzung kann dazu beitragen, divergierende Perspektiven und Neigungen zu berücksichtigen, und die Gremienmitglieder zwingen, um einen gerechten Interessenausgleich zu rin369
Brennecke, Normsetzung, 177. ÄhnlichBrohm, HStR II, §36 Rn. 14: „Diese (i.e. die bei allen Sachverständigen vorhandenen subjektiven Einschätzungen und persönlichen Wertvorstellungen) können auch bei akademisch-wissenschaftlichen Experten durch berufliche oder finanzielle Abhängigkeiten oder persönliches Geltungsbedürfnis ,interessenbedingt' sein". Vgl. zustimmend Di Fabio, VerwArch 81 (1990), 211 f.; Schildbach, DB 1999, 647. 370 Schwab, BB 1999, 737. Zuversichtlicher Low, ZBB 2001, 26. Faktisch wird eine berufliche Abhängigkeit dadurch ausgeschlossen, daß die Mitglieder des DSR teilweise nicht mehr berufstätig sind. Allein: Hierdurch wird nicht nur das obige Argument der bestehenden Vorverständnisse nicht entkräftet; es mag auch bezweifelt werden, ob die Berufung nicht mehr aktiver Rechnungsleger dem Ansehen des Gremiums dienlich ist, vgl. Pellens, Internationale Rechnungslegung, 547.
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gen . Sie liefert zugleich den Anstoß für einen schöpferischen Wettbewerb der Ideen, Vorschläge und Sichtweisen, die für die Arbeit des Gremiums fruchtbar gemacht werden können. Dieser kreative Wettstreit wird durch das Vorhandensein unterschiedlicher Anschauungen nicht behindert, sondern erst ermöglicht. Lediglich seiner Verfälschung gilt es mittels der Besetzung entgegenzuwirken. Dabei ist darauf zu achten, daß dieses Erfordernis einer Repräsentanz nicht auf das eigentliche Gremium beschränkt bleibt, sondern sich in die Arbeitsgruppen, denen wesentliche Vorarbeiten und Teile der Standardsetzung aufgegeben sind, hinein fortsetzt 372 . Der Gesetzgeber hat die Zusammensetzung des Standardisierungsrates weitgehend offen gelassen. § 342 HGB stellt lediglich fest, daß das Gremium aus Rechnungslegern bestehen muß. Aus dieser i m Vergleich zu § 342a H G B 3 7 3 augenfälligen Zurückhaltung wird zum Teil geschlossen, der Gesetzgeber habe bewußt der Qualität der Mitglieder Vorrang gegenüber einer ausgewogenen Zusammensetzung eingeräumt 374 . Qualität und Pluralismus schließen sich aber nicht aus. I m Gegenteil erwächst häufig eine optimierte Lösung gerade aus dem Diskurs verschiedener Standpunkte. Zudem berücksichtigt das Gesetz die Sachkompetenz der Gremiumsmitglieder bereits durch die Beschränkung auf „Rechnungsleger" 375 . Das läßt ausreichend Spielraum für eine Besetzung, die unterschiedliche Herkünfte und daraus resultierende divergierende Präferenzen berücksichtigt 3 7 6 . 371
Vgl. Schwab, BB 1999, 737; dens., Politikberatung, 570. Soweit Ebke, ZIP 1999, 1197, darauf verweist, die Erfahrungen mit dem FASB und seinen Vorgängern zeigten, daß nur die rechtliche und tatsächliche Unabhängigkeit seiner Mitglieder die Akzeptanz des Gremiums zu sichern vermag und einen aus Vertrauensverlust resultierenden Ruf nach staatlicher Reregulierung verhindern kann, bleibt unklar, wie eine solche Unabhängigkeit zu gewährleisten wäre. Ebke selbst sieht die „Lebensfremdheit" der Annahme, daß Menschen gänzlich frei von inneren und äußeren Einflüssen sein könnten, dort, 1198. Darüber hinaus scheint das Argument der Unabhängigkeit als unabdingbare Voraussetzung für Akzeptanz aber auch nicht zwingend: Warum soll nicht auch die Überzeugung vertrauensbildend wirken, daß alle wesentlichen Interessen vertreten sind und berücksichtigt wurden? 372 §4 xv i des Standardisierungsvertrages spricht von „Gremien", was nahelegt, daß diese Einschätzung auch der Vertragsgestaltung zugrunde gelegen hat. Da jedoch weder der Standardisierungsrat noch seine Arbeitsgruppen Partei des Standardisierungsvertrages sind, fehlt eine entsprechende ausdrückliche rechtliche Festlegung der erforderlichen „diversity of viewpoints" in den Arbeitsgruppen. Kritisch hierzu Ebke, ZIP 1999, 1201; ders., in: MünchKomm HGB, § 342 Rn. 15, unter Verweis auf die Lage in Großbritannien und den USA. Hier lohnt auch der Seitenblick auf das parlamentarische Verfahren, vgl. § 121,57 II GOBT. Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften BVerfGE 80, 188 ff. 373 § 342 a n HGB sieht für den halbstaatlichen Rechnungslegungsbeirat eine pluralistische Besetzung mit Vertretern von Ministerien, Unternehmen, wirtschaftsprüfenden Berufen und Hochschulen vor. Eine Anleger- bzw. Gläubigervertretung fehlt, kritisch dazu Schwab, BB 1999, 732; Zitzelsberger, WPg 1998, 258. Zu §342a HGB auch BuddelSteuber, DStR 1998, 1185 ff. 374
Biener, FS Weber, 455; Scheffler, BFuP 1999,410,416. Ähnliches fordert allgemein Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 285. Vgl. demgegenüber Vieweg, Atomrecht, 33 ff. 375 Wie hier Ebke, in: MünchKomm HGB, § 342 Rn. 12. 376 Vgl. die weite Definition in § 6 II 2 DRSC-Satzung. Demnach sind Rechnungsleger „alle Personen, die mit entsprechender Qualifikation die Handelsbücher oder die sonstigen in §2571
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Nach §4IV des Standardisierungsvertrages ist es dem DRSC aufgegeben, bei der Besetzung der Gremien darauf zu achten, daß die Interessen sowohl der Bilanzaufsteller als auch -prüfer und -nutzer gewahrt werden. Die Vorschrift dient erkennbar dem Ziel, eine ausgewogene Repräsentanz der verschiedenen an Rechnungslegung interessierten Gruppen zu gewährleisten 377. Ziel der Standardsetzung kann es nicht sein, eine „einzig richtige" Lösung, sondern konsensfähige Ergebnisse zu finden. Schon die Besetzung des DSR muß erkennen lassen, daß ein Zusammenwirken der interessierten Kreise erwartet und eingefordert wird 378 . Die Idealvorstellung einer repräsentativen Besetzung steht vor zwei grundlegenden Problemen: Zum einen sind der Pluralisierung Grenzen gesetzt, als sie nicht zu Beeinträchtigungen der Selbststeuerungsfähigkeit der Organisation und zu Entscheidungsblockaden führen darf 379 . Die Funktionsfähigkeit des Gremiums macht somit eine Begrenzung auf eine überschaubare Mitgliederzahl erforderlich. Notwendig ist es, daß eine im Einzelfall als hinreichend anzusehende „Austarierung von Pluralisierung und Entscheidungsfähigkeit" 380 gelingt. Dem Verfahren der Standardsetzung kommt hier eine wichtige kompensatorische Funktion zu, da es die Einbeziehung verschiedener Interessen auch außerhalb des eigentlichen Normsetzungsgremiums gewährleistet. Außerdem ist das Bundesjustizministerium berechtigt, zu den Sitzungen des DSR einen Vertreter zu entsenden. Dieser besitzt kein Stimmrecht, sondern nimmt nur als „Beobachter" teil 381 . Schon die schiere Präsenz eines staatlichen Beobachters befördert aber einen fairen Verfahrensablauf. Zum anderen ist das Fehlen angemessener Interessenvertreter zu berücksichtigen 382. Problematisch ist zunächst die heterogene Gruppe der Anleger. Hier sind Überlegungen angestellt worden, als AnlegervertreNr. 1 HGB bezeichneten Bücher für Kapitalgesellschaften oder andere Unternehmen im Angestelltenverhältnis oder freiberuflich führen. Weiterhin sind Rechnungsleger Personen, die als Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater, Rechtsanwalt oder mit vergleichbarer Qualifikation auf dem Gebiet der Rechnungslegung prüfend, beratend, lehrend, überwachend oder analysierend tätig sind." Hierzu Koller/Roth/Mord:, HGB, § 342/§ 342 a, Rn. 3; Scheffler, BFuP 1999,408. 377 Weder die Satzung des DRSC noch die Geschäftsordnung des DSR nehmen insoweit eine Konkretisierung vor. In §614 GO-DSR heißt es lediglich: „[...] wird sich (der Standardisierungsrat) bei der Auswahl dieser (i.e. der kooptierten) Mitglieder um eine ausgewogene Zusammensetzung des Standardisierungsrates bemühen." 378 Berufen wurden in den DSR zwei ehemalige Vorstandsmitglieder international tätiger Unternehmen, drei nicht mehr in Abschlußprüfungen involvierte Wirtschaftsprüfer, eine Finanzanalystin und ein Hochschullehrer. Hinzukommen können zwei zu kooptierende Mitglieder aus dem Kreise den Zwecken des Vereins nahestehender Personen, §914 DRSC-Satzung. Diese müssen vom DSR mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden, § 6 II GO-DSR. Bei der Wahl dieser Mitglieder soll sich der Standardisierungsrat um eine ausgewogene Besetzung bemühen, § 6 I 4 GO-DSR. Die derzeitigen Mitglieder des DSR sind aufgeführt unter http://www.standardsetter.de/drsc/members_of_gasb.php . 379 Voelzkow, Private Regierungen, 214ff., 309ff. 380 Trute, Kooperation, 43 m. w. N. 381 § 1112 Standardisierungsvertrag. 382 Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 700ff.; Schwab, BB 1999, 734ff.
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ter die Börsen zu gewinnen. Diese besäßen den Vorteil eines klar definierten Rollenverständnisses; als unabhängige, am Wirtschaftsleben nicht selbst beteiligte Instanz könnte ihnen die Wahrnehmung der Anlegerinteressen anvertraut werden 383. Indes sind die Börsenträger zumindest teilweise selbst als AG organisiert und rechnungslegungspflichtig 384. Der drohende Interessenkonflikt ist evident - er verschärft sich noch, wenn die „Börse an die Börse geht", also eigene Aktien öffentlich anbietet und handelt. Zu denken wäre an Anlegerschutzverbände 385. Diese vertreten primär die Interessen ihrer Mitglieder. Es ist aber nicht davon auszugehen, daß die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung aus einer gegenüber anderen, nichtorganisierten Privatanlegern abweichenden Interessenlage resultiert oder eine solche erzeugt. Vielmehr kann den Anlegern neben im Einzelfall unterschiedlichen Präferenzen eine grundsätzliche gemeinsame Interessenlage zugeschrieben werden. Gerade die verbandliche Organisation ermöglichte zudem die Bereitstellung des verlangten Sachverstands. Eine solche Beteiligung entspräche schließlich auch der Praxis in anderen Bereichen, in denen das Gespräch mit den Anlegern gesucht wird 386 . Nicht unproblematisch ist daneben die Berücksichtigung der Gläubigerinteressen. Gegen die sich zunächst anbietende Möglichkeit, diese Interessenwahrnehmung den Kreditinstituten anzuvertrauen, sprechen die zwischen diesen und den Unternehmen gerade im deutschen Universalbankensystem bestehenden personellen Verflechtungen. Zudem sind die Kreditinstitute als Kapitalgesellschaften selbst rechnungslegungspflichtig und schon aus diesem Grunde nicht unbefangen. Bezweifelt werden kann weiter, ob die Kreditinstitute sich mit der gesamten Gruppe der Gläubiger vergleichen lassen oder ob sich zu große Unterschiede sowohl in der Struktur der Gläubiger selbst als auch ihrem Verhältnis zu den Schuldnern ergeben. Eine trennscharfe Unterscheidung entfällt, weil zahlreiche Wirtschaftssubjekte bald als Gläubiger, bald als Schuldner am Wirtschaftsverkehr teilnehmen und einem Interessenkonflikt unterliegen. Hieraus folgt zugleich, daß die spezifischen Gläubigerinteressen durch verschiedene am Normsetzungsprozeß beteiligte Personen geäußert werden kön-
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Schwab, BB 1999, 737. Zur Heterogenität der Anleger nur H opt, Kapitalanlegerschutz,
167 f. 384 Eine Ausweitung der Regelungen auf den Einzelabschluß erscheint auf lange Sicht zumindest „denkbar", Schwab, BB 1999, 736; ähnlich Baetge/Krumnow/Noelle, DB 2001, 771, jeweils m. w. N.; zur Intemationalisierung des Einzelabschlusses auch Niehus, WPg 2001, 737 ff. Sofern man als Börse nicht den Börsenträger, sondern die öffentlich-rechtliche Organisation ansieht, stellt sich das Problem nicht in derselben Form. Die weitgehende personelle Verflechtung dürfte dem aber entgegenstehen. 385 Mit rund 25.000 Mitglieder ist die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW) der führende deutsche Verband für Privatanleger, dazu http://www.dsw-info.de. Die DSW ist allerdings bereits seit 1998 Mitglied des Konsultationsrates beim DRSC. Skeptisch insoweit aber Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 49 f. 386 Dies gilt insbesondere für die Berücksichtigung der Vorstellungen der DSW im Gesetzgebungsverfahren. Beteiligt war die DSW zudem bspw. sowohl an der Grundsatzkommission Corporate Governance als auch an der entsprechenden Expertenkommission der Bundesregierung sowie an der Expertengruppe, die das WpÜG inhaltlich vorbereitete.
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nen . Zu Recht hat schließlich auch die Unterrepräsentation des publizitätspflichtigen Mittelstands Kritik erfahren 388. Neben der interessen-pluralistischen sollte eine professions-pluralistische Besetzung ins Auge gefaßt werden. Interdisziplinarität bedeutet hier vor allem, bei der Besetzung nicht nur auf Wirtschaftswissenschaftler zurückzugreifen. Speziell für eine Beteiligung von Juristen spricht, daß diese für die notwendige Überprüfung der Übereinstimmung der Empfehlungen mit dem geltenden Recht prädestiniert sind 389 . Ihre Teilnahme kann daneben als ein erster Kontrollmechanismus wirken, indem bereits gremienintern auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften gedrängt wird. Einer entsprechenden Sensibilisierung ist die juristische Ausbildung besonders förderlich. Sinnvoll wäre daher die Aufnahme wenigstens einer Person mit der Befähigung zum Richteramt, wie dies in anderen pluralistisch besetzten Gremien seit längerem erfolgreich praktiziert wird 390 . Dies stellte auch keine Usurpation fachfremder Materie dar, denn durch die Beschränkung auf Rechnungsleger ist sichergestellt, daß auch ökonomische Kenntnisse vorhanden sein müssen. Exkludiert werden andere Berufsgruppen dadurch nicht.
ee) Beschlußfassung Weiterhin ist zu klären, mit welchen Mehrheiten die Entscheidungen des DSR ergehen391. Eine einseitige Dominanz einer bestimmten Mehrheitsmeinung, die die Beteiligung der Minderheit auf eine bloße Alibifunktion reduziert, muß verhindert werden. Abhilfe schaffen kann hier das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten. Gemäß § 5 seiner Geschäftsordnung entscheidet der Standardisierungsrat normalerweise mit einfacher Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder 392 . Für die Verabschie387 Schwab, BB 1999, 736 f. schlägt vor, die Interessen der Gläubiger einem in Insolvenzverfahren erfahrenen Betriebswirt oder Juristen zu überantworten. Vgl. zur Idee einer „Ersatzrepräsentanz" Hoffmann-Riem, Verhandlungslösungen, 24ff.; Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 704 m. w. N.; dies., in: Staub, HGB, § 342 Rn. 56. 388 Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 702f.; vgl. kritisch auchNöcker,¥AZ vom 14.1.2002,11. 389 Hommelhoff!Schwab, FS Kruse, 704f.; vgl. Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 279 f. 390 Vgl. z.B. für medizinische Sachverständigengremien Stamer, Ethik-Kommissionen in Baden-Württemberg, 29 ff.; T. Groß, Kollegialprinzip, 92f. m. w.N.; kritisch zur Überrepräsentation der Mediziner Gramm, WissR 1999, 213. 391 Allgemein hierzu Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 311 ff. Die Beschlußfassung ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die überstimmten Mitglieder keinen Anspruch darauf haben, daß ihre Minderheitsmeinung in den Standard aufgenommen wird, § 1IV GO-DSR. 392 Dabei ist eine Vertretung durch Nichtmitglieder nicht möglich, wohl aber eine Stimmrechtsübertragung auf andere Mitglieder und, soweit eine 10-Tages-Frist eingehalten wurde und in der Abstimmungssitzung keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen wurden, auch eine schriftliche Stimmabgabe, §511, III GO-DSR. Schwab, BB 1999, 784 fordert sogar eine einstimmige Verabschiedung der Standards.
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dung von Empfehlungen ist demgegenüber eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln erforderlich. Bei einer Gesamtzahl von derzeit sieben Mitgliedern 393 ist daher zur Verabschiedung eines Standards die Zustimmung von mindestens 5 Mitgliedern erforderlich. Diese Qualifizierung kann innerhalb des Standardisierungsrates Druck auf konsensunwillige Parteien ausüben. Sie kann außerdem dazu beitragen, eine im Gremium bestehende Überrepräsentation auszugleichen, wenn die Minderheit zumindest die Verabschiedung ihr unvorteilhaft erscheinender Standards verhindern kann 394 . ff) Transparenz und Publizität Private Normsetzungsverfahren bedürfen möglichst umfassender Transparenz und Publizität. Entsprechend betont schon §34212 HGB die Beteiligung der „fachlich interessierten' 4 Öffentlichkeit. Angesichts der Bedeutung der Rechnungslegung für weite Kreise der am Wirtschaftsleben beteiligten Personen und Unternehmen sollte diese Einschränkung einer allgemeinen Öffentlichkeitsbeteiligung ihrerseits restriktiv ausgelegt werden: Fachlich interessiert sind alle diejenigen, die möglicherweise von den Empfehlungen betroffen sind 395 . Die Öffentlichkeitsbeteiligung wird im Standardisierungsvertrag, in der Satzung des DRSC und der Geschäftsordnung des DSR näher ausgestaltet; sie vollzieht sich zweistufig im allgemeinen Verfahren (a) und im Konsultationsrat (b). (1) Öffentlichkeit
des Verfahrens
Nach § 4 II des Standardisierungsvertrages darf ein Standard nur verabschiedet werden, wenn zuvor ein Entwurf beschlossen und dieser sodann mit einer Frist zur Stellungnahme von mindestens sechs Wochen veröffentlicht worden ist. Die eingegangenen Stellungnahmen müssen ausgewertet und die wesentlichen Einwendungen und Änderungsvorschläge in einer öffentlichen Sitzung diskutiert worden sein. Für den Fall, daß an dem Entwurf wesentliche Änderungen vorgenommen wurden, muß eine erneute Offenlegung für eine Dauer von mindestens vier Wochen erfolgen, innerhalb derer nochmals Stellungnahmen abgegeben werden können. Erst im Anschluß ist die Verabschiedung möglich. In ähnlicher Form sieht § 10 der Geschäftsordnung des Standardisierungsrates in Anlehnung an in- und ausländische Vorbilder 393
Präsident, Vizepräsident und fünf einfache Mitglieder, § 911 DRSC-Satzung. Von der Kooptationsbefugnis des § 6 GO-DSR ist kein Gebrauch gemacht worden. 394 Vgl. das FASB, bei dessen sieben Mitgliedern zwar mit vier mehr als die Hälfte dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer entstammt, wo aber für die endgültige Verabschiedung eines Standards eine Mehrheit von fünf Stimmen erforderlich ist, KütinglBrakensiek, BB 1999, 680 unter Verweis auf http://www.rutgers.edu/Accounting/raw/fasb/index.html . 395 So für Einwendungen allgemein Schmidt-Preuß, Regelwerke, 96; Schwab, Politikberatung, 588.
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ein mehrstufiges Verfahren unter Einbeziehung der Öffentlichkeit vor, das im wesentlichen den Vorgaben des Standardisierungsvertrages entspricht 396. Erforderlich ist eine Offenlegung für eine Dauer von mindestens sechs Wochen, an die sich eine Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen und eventuell eine zweite Auslegung für mindestens vier Wochen anschließt. Zusätzlich wird der DSR verpflichtet, vor der Verabschiedung des Standards den Konsultationsrat anzuhören; die Verabschiedung selbst hat außerdem ebenfalls in öffentlicher Sitzung stattzufinden 397. Die auf diese Weise hergestellte Publizität stellt einerseits die Einbeziehung verschiedener, möglicherweise im Standardisierungsrat nicht repräsentierter Interessen sicher. Sie sorgt andererseits auch dafür, daß nach Fristablauf die Geltendmachung von Einwänden präkludiert ist. Die Beteiligung der Öffentlichkeit trägt nicht nur dazu bei, einzelne sich aus der geplanten Regelung ergebende Problemfälle noch einmal zu vergegenwärtigen oder gar zum ersten Mal zu erörtern, sie bezweckt auch, dem Standardisierungsrat einen Einblick dahingehend zu verschaffen, ob der geplante Standard von den Adressaten angenommen und als dem Allgemeinwohl dienend akzeptiert wird 398 .
(2) Konsultationsrat Eine unmittelbare Partizipation aller interessierten Personen und Institutionen innerhalb des organisatorischen Rahmens des Standardisierungsrates ist nicht praktikabel. Das DRSC hat deshalb den Konsultationsrat eingerichtet 399. Dieses Beratungsgremium ermöglicht es den beteiligten Kreisen, dem DSR ihre Vorstellungen vor grundsätzlichen Entscheidungen im Rahmen einer Anhörung unmittelbar vortragen zu können. Seine Hauptaufgabe besteht darin, über die Offenlegung der Entwürfe und Standards hinaus ein zusätzliches Forum zu bieten, auf dem Kritik und Verbesserungsvorschläge geäußert werden können. Er liefert damit dem DSR „vorformuliertes, aber nicht ,zu Ende' formuliertes ,Gemein wohlmaterial" 400. Mitglied des Konsultationsrates können jedoch nur Organisationen werden, die als Berufsoder Interessenvertretung von Rechnungslegern, Unternehmen oder Nutzern den 396 Vgl. auch § 9 II 1 der Satzung des DRSC, wonach der Standardisierungsrat verpflichtet ist, in seiner Geschäftsordnung das bei der Entwicklung von Standards einzuhaltende Verfahren „nach den internationalen Grundsätzen" zu regeln. Der DSR selbst ist nicht Vertragspartner des Standardisierungsvertrages und daher durch diesen nicht unmittelbar gebunden. Kritisch hierzu Ebke, in: MünchKomm HGB, § 342 Rn. 14. 397 § 101 GO-DSR; hierzu Scheffler, BFuP 1999, 411. 398 Ebke, ZIP 1999, 1200 unter Hinweis auf entsprechende positive Erfahrungen in den USA. 399 § 101 DRSC-Satzung. Vgl. zur entsprechenden Consultative Group des IASC AchleitnerlBehr, IAS, 36f.; Tschesche, IAS-Konzernabschlüsse, 37. 400 Häberle, Öffentliches Interesse, 95. Biener, DRSC, 65 f. gesteht dem Konsultationsrat „eine Art Kontrollfunktion zu". Skeptisch hingegen Ebke, ZIP 1999, 1200; Schwab, BB 1999, 784.
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Augsberg
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Zwecken des Vereins nahestehen401. Diese Beschränkung auf organisierte Interessen ist als Zementierung bestehender Ungleichgewichte kritisiert worden; sie verschärfe die sich aus der problematischen Organisierbarkeit insbesondere der Belange der Anleger ergebenden Schwierigkeiten 402. Der potentiell ausschnitthafte Charakter der Öffentlichkeitsbeteiligung wird verstärkt durch das Erfordernis der finanziellen Beteiligung 403 . Die Pflicht zur Mittelbeschaffung stellt keine der „wesentlichen Aufgaben" des Konsultationsrates dar 404 - dies läßt sich weder mit dem Begriff der „Kostendeckung" vereinbaren noch bestehen Anhaltspunkte in der Satzung. Dennoch ist zu befürchten, daß die Auferlegung der Kosten mögliche Beteiligungen verhindert. gg) Informationspflichten Neben der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit ist auch Transparenz gegenüber dem Staat erforderlich. Schon um zu verhindern, daß das Ministerium ohne Not in eine faktische Ratifikationslage bezüglich der Rechnungslegungsstandards des DSR gerät, empfiehlt es sich, daß Bundesjustizministerium und DRSC in einen „kontinuierlichen Kommunikations- und Lernprozeß" 405 eintreten 406. Die bestehenden institutionellen Vorkehrungen werden teilweise als unzureichend erachtet, da neben „gewissen Unterrichtungspflichten" als institutionalisierte Form der Kommunikation „nicht mehr als das in § 1 Abs. 2 des Vertrages vorgesehene Recht des BMJ, an den Sitzungen des Standardisierungsgremiums ohne Stimmrecht teilnehmen zu dürfen" vorgesehen sei 407 . Folgerichtig wird daher ein Ausbau entsprechender Regelungen dahingehend gefordert, zwischen DSR und Ministerium ein institutionalisiertes Forum einzurichten, das zu regelmäßigen Treffen Gelegenheit und Anlaß böte und kontinuierlichen Informationsaustausch garantierte. Solche Vorkehrungen bestehen indes bereits; gerade in diesem Bereich ist der Standardisierungsvertrag sogar als vorbildlich für den Gedanken kommunikativer Kooperation zwischen Verwaltung und Privaten zu bezeichnen: In § 5 I des StandardisierungsVertrages verpflichtet sich das DRSC, das Bundesjustizministerium über das nationale und internationale Standardisierungsgeschehen zu informieren und für Beratungen und gutachtliche Stellungnahmen auf dem Gebiete der Rechnungslegung zur Verfügung zu stehen. Dem korrespondiert in § 5 II, III eine Verpflichtung des Bundesjustizministeriums zur Unterrichtung des DRSC über wesentliche, die Rechnungslegung betreffende Vorgänge und Entwicklungen auf der nationalen, der europäischen wie 401 § 10 II DRSC-Satzung. Eine Liste der Mitglieder des Konsultationsrates ist einsehbar unter http://www.standardsetter.de/drsc/orga_consboard.html . 402 Hommelhoff/Schwab, in: Staub, HGB, §342 Rn.68ff.; Schwab, BB 1999, 784. 403 § 10 III DRSC-Satzung. 404 So Hayn/Zündorf, in: FS Weber, 498. Wie hier Ebke, ZIP 1999, 1201. 405 Vgl. Schmidt-AßmannlLadenburger, Umweltverfahrensrecht, 530 f. 406 SchuppertlBumke, Standardsetzung, 123. 407 Schuppen, DV Beiheft 4 (2001), 245; Schuppertl Bumke, Standardsetzung, 123 f.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen
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auch der internationalen zwischenstaatlichen Ebene. Die Bedeutung eines wenn nicht ständigen, so doch ständig möglichen Informationsaustausches ist also bei Vertragsschluß erkannt worden. Zusätzlich wird nach § 8 das DRSC verpflichtet, „ein Informationssystem Standardisierung als zentrale, allgemein zugängliche Informations- und Dokumentationsstelle über das Deutsche Standardisierungswerk und [...] die Standardisierungswerke ausländischer und international anerkannter Standardisierungsorganisationen aufzubauen", dessen Benutzung für die Bundesregierung unentgeltlich ist. Hiermit wird in institutionalisierter Form eine jederzeitigem Zugriff unterliegende Informationsmöglichkeit geschaffen, die - ihre Vollständigkeit und Aktualität vorausgesetzt - in Verbindung mit dem daneben bestehenden persönlichen Auskunftsrecht des § 5 sowie der Teilnahmemöglichkeit des § 1 II des Standardisierungsvertrages es dem Bundesjustizministerium ermöglicht, sich optimal über die Aktivitäten des DRSC zu informieren. Ein zusätzliches institutionalisiertes Kooperationsgremium im Sinne einer „Kontaktgruppe" ist daher entbehrlich. Es könnte zwar Druck ausüben, die vorhandenen Möglichkeiten des Informationsaustausches auch in Anspruch zu nehmen. Indes ist nicht ersichtlich, wieso eine derartige Verpflichtung künstlich installiert werden sollte, solange für aktuell entstehenden Informationsbedarf ausreichend Kommunikationsmechanismen zur Verfügung stehen. Eine Pflicht zum Informationsaustausch erscheint demgegenüber als ein Zuviel an Regulierung: Bürokratisierungstendenzen könnten den erhofften Entlastungen entgegenwirken. hh) Dokumentationspflichten Weil die gesetzliche Regelung eine nur eingeschränkt staatlich kontrollierbare Normkonkretisierung zuläßt, muß jedenfalls die Effizienz der Überprüfung der Organisations- und Verfahrensvorschriften sichergestellt sein. Das Bundesjustizministerium und die Gerichte müssen imstande sein, in umfassender und nichts Wesentliches auslassender Weise nachzuvollziehen, unter welchen Bedingungen, in welchen prozeduralen Schritten und unter Beachtung welcher Anforderungen das Verfahren der Standardsetzung abgelaufen ist. Es kann nicht angehen, ihnen die Aufgabe aufzubürden, ex post Nachforschungen über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens anzustellen. Statt dessen muß im Vorfeld das Rechnungslegungsgremium verpflichtet werden, für eine ausführliche und vollständige Dokumentation Sorge zu tragen 408. Die Verpflichtung des DSR, über seine Beschlüsse eine Niederschrift anzufertigen, in der Ort und Datum der Sitzung, die Teilnehmer, die Gegenstände der Tagesordnung und die Beschlüsse selbst festzuhalten sind 409 , stellt in diesem Zusammenhang eine Mindestvoraussetzung dar. Ausreichen kann sie nicht. Dokumentiert werden sollte auch, welche Standpunkte von wem vertreten wurden, ob und inwieweit sich die unterschiedlichen Ansichten im Verlauf des Verfahrens einander 408 409
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So auch allgemein Böhm, Normmensch, 194, 238; Holle, Normierungskonzepte, 206. § 7 GO-DSR.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
angenähert haben und welchen Einfluß die Diskussion auf den verabschiedeten Standard hatte 410 . ii) Finanzierung Zu einer ernstzunehmenden Unabhängigkeit gehört, daß das Rechnungslegungsgremium nicht auf Zuwendungen einzelner oder bestimmter Gruppen von Unternehmen - beispielsweise der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften - angewiesen sein darf 411 . Es nützt wenig, hinsichtlich Organisation und Verfahren strenge Anforderungen aufzustellen, wenn über die Finanzierung des Gremiums einzelne Interessengruppen entscheidenden Einfluß nehmen können. Nach dem gegenwärtigen Modell wird der Standardisierungsrat durch den eingetragenen Verein DRSC finanziert. Dieser wiederum finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge 412, Spenden413, Erlösen aus der Verwertung seiner Arbeit und Erträgen aus seinen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben 414 sowie aus den Kostendeckungsbeiträgen des Konsultationsrates 415. Diese Finanzierungsmethoden sind auf ihre mögliche Beeinflussung der Arbeit des DSR zu durchleuchten. Abschließend ist zum Verhältnis von DSR und DRSC Stellung zu beziehen. (1) Mitgliedsbeiträge Die Mitgliedsbeiträge werden gestaffelt erhoben 416: Im DAX gelistete Unternehmen zahlen die höchsten Beiträge, bei den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften richtet sich der jährliche Mitgliedsbeitrag nach der Höhe des Prüfungsumsatzes. Soweit natürliche Personen Mitglied des DRSC werden, entspricht der von ihnen verlangte Beitrag nur einem Bruchteil dessen, was die Unternehmen zu zahlen verpflichtet sind. Es drängt sich der Gedanke auf, daß die unterschiedliche Finanzierungsverantwortung unterschiedliche Mitspracherechten bedingt. Indes ist dieser Schluß nicht zwingend. Unternehmen, deren Interesse an effektiver und effizienter Rechnungslegung mit der Höhe der Bilanzsumme und der Kapitalmarktorientierung steigt, auch hinsichtlich der Finanzierung des Rechnungslegungsgremiums stärker zu belasten, ist sinnvoll. Eine völlige Gleichbehandlung ist abzulehnen; sie bedeutete höchst4,0 § 1IV GO-DSR dient sicher der Rechtsklarheit, indem sich die Normadressaten nicht mit den abweichenden Minderheitsvoten auseinandersetzen müssen. Das befreit aber nicht von der Pflicht, diese Voten in anderer Form zu dokumentieren. 411 So bereits LangenbucherlBlaum, DB 1995, 2334 ff. unter Verweis auf internationale Erfahrungen. Das entspricht auch der den Rechnungslegungsvorschriften des HGB zugrundeliegenden Vorstellung, vgl. §§ 319 II Nr. 8, III Nr. 2, IV HGB. 412 §51 DRSC-Satzung. 413 § 141 DRSC-Satzung. 414 §21112, IV DRSC-Satzung. 415 § 10 III DRSC-Satzung. Vgl. hierzu bereits oben. 416 §5 DRSC-Satzung. Kritisch Schildbach, DB 1999, 647.
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wahrscheinlich eine Kostenbelastung, die gerade kleinere Unternehmen von einer Mitgliedschaft abhielte. Der Gefahr übermäßiger Einflußnahme ist auf andere Weise zu begegnen. Selbstverständlich muß die Mitgliedschaft im DRSC die Mitwirkung bei der Erarbeitung der Empfehlungen ermöglichen. Anderenfalls wäre kein Unternehmen bereit, ohne äußeren Anlaß Zeit und Geld zu investieren. Dies darf aber nicht gleichbedeutend sein mit der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen. Im Verfahren der Standardsetzung muß die Höhe der finanziellen Beteiligung unberücksichtigt bleiben. Sollten einzelne finanzielle Aufwendungen einen zu großen Anteil am Gesamtbudget ausmachen, müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. In letzter Konsequenz kann hier auch der Staat in die Pflicht genommen werden. (2) Spenden Gemäß § 141 DRSC-Satzung sollen die Mittel des beim DRSC eingerichteten Spendenfonds „ausschließlich für gemeinnützige Tätigkeiten, insbesondere des Standardisierungsrates und seiner Arbeitsgruppen, verwendet werden". Es bestehen Zweifel, ob mit dieser Formulierung nicht bloß Steuererleichterungen bezweckt sind 417 . Bei Spenden an Organisationen mit Einfluß auf das öffentliche Leben und damit auch auf den persönlichen oder unternehmerischen Bereich fällt die Vorstellung rein altruistisch handelnder Spender schwer. Näher liegt hier die Vermutung, daß mit der Generosität die Hoffnung auf ein Wohlwollen der Gegenseite verbunden ist. Für die politischen Parteien sind daher der Finanzierung durch Spenden enge Grenzen gezogen worden 418. Entsprechend sollten die Regeln für das DRSC dahingehend angepaßt werden, daß jedenfalls eine Offenlegung der Spender zu erfolgen hat 419 . Denkbar wäre es auch, Spenden an das DRSC gänzlich auszuschließen und statt dessen diesen Teil der Finanzierung dem Staat aufzuerlegen. Dieser profitiert von der Arbeit des Rechnungslegungsgremiums, die seine eigenen Steuerungskapazitäten entlastet; die Finanzierungslast würde zudem dadurch abgemildert, daß schon nach der bisheriger Rechtslage der Staat über die steuerliche Abzugsfähigkeit der Spenden mittelbar belastet wird. (3) Verwertung
der Arbeit
Nicht unproblematisch ist auch die Finanzierung des DRSC durch die Erlöse der Verwertung seiner Arbeit. Zwar stellen sich hier nicht die Fragen nach einer Gefährdung der Unabhängigkeit des Gremiums (wenn man nicht davon ausgeht, daß sich 417
Ebke, ZIP 1999, 1200. Vgl. § 25 ParteiG. Hierzu aus bilanzrechtlicher Sicht ausführlich Lohr, WPg 2000, 1108 ff.; aus verfassungsrechtlicher Perspektive etwa Morlok, NJW 2000, 761 ff. 419 Ebke, ZIP 1999, 1200 schlägt vor, daß sich das DRSC für die Behandlung von Spenden einen Verhaltenskodex geben soll, der sich an den wesentlichen Grundsätzen des § 25 ParteiG orientiert. 418
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
bestimmte Empfehlungen besser vermarkten lassen als andere). Sofern hiermit die Publikation der Empfehlungen gegen Zahlung einer Schutzgebühr gemeint ist 420 , gerät diese Finanzierungsmethode jedoch potentiell in Konflikt mit der rechtsstaatlichen Veröffentlichungspflicht. Als Einnahmequelle ist sie daher hinsichtlich der Empfehlungen i. S. d. § 342 II HGB nur unter der Prämisse zu akzeptieren, daß der Verkauf lediglich parallel zu einer weiteren, kostenfreien Veröffentlichung erfolgt. Eine solche liegt mit der Bekanntmachung durch das Bundesjustizministerium vor. Dagegen begegnet die Gründung wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe durch den DRSC und die Verwertung von diesen eventuell erzielter Gewinne keinen Vorbehalten. (4) Alternative Finanzierungskonzepte Um schon den bloßen Anschein einer Interessenkollision bzw. einer „erkauften" Normsetzung zu verhindern, sollte die Finanzierung des DRSC weiter offengelegt und gegebenenfalls neu strukturiert werden. Verschiedene Modelle bieten sich an. Mittels einer ausschließlich staatliche Finanzierung 421 könnte die Unabhängigkeit des Gremiums von auf Partikularinteressen festgelegten einzelnen Unternehmen(sverbänden) gesichert werden. Mit dem Wegfall der finanziellen Entlastung würde jedoch ein zentrales Argument für die Einbeziehung privater Stellen entkräftet. Außerdem profitieren von einer effizienten und effektiven Arbeit des DSR/ DRSC auch andere Gruppen. Den Wirtschaftsprüfern wird ein verläßlicher, rechtlich akzeptabler methodischer Ansatz für die von ihnen vorzunehmenden Prüfungen zur Verfügung gestellt, und auch auf Unternehmensseite dürfte der Gewinn an Klarheit und Vorhersehbarkeit begrüßt werden. Deshalb könnte dem DRSC ein „Postulat dezentraler Mittelaufbringung" 422 auferlegt werden, um eine Abhängigkeit von einzelnen Unternehmen oder Verbänden zu verhindern. In Anlehnung an das britische Modell ist vorgeschlagen worden, die Kosten der Standardsetzung zu gleichen Teilen dem Staat (der auch für die nicht-organisierten oder nicht-organisierbaren Interessenten agiert), der Berufsgruppe der Wirtschaftsprüfer sowie den Unternehmen, Börsen und Banken aufzuerlegen 423. Eine solche Kostenteilung entspricht dem auf allgemeine Geltung angelegten Anspruch der Empfehlungen. Sie könnte zudem einen Anhaltspunkt für ein weitreichendes Interesse an der Tätigkeit des DRSC/DSR liefern und damit die Akzeptanz der Empfehlungen bei den Normadressaten erhöhen. Eine rein staatliche Finanzierung entbehrte dieses akzeptanzfördernden Moments.
420
Langenbucher/Blaum, BB 1995, 2335, befürworten einen Verkauf der Publikationen nach amerikanischem Vorbild und erwarten hieraus „nicht unerhebliche Erlöse". 421 So wohl Pellens/Bonse/Gassen, DB 1998, 790. 422 Schmidt-Preuß, Regelwerke, 98; vgl. Hommelhoff/Schwab, FS Kruse, 711 f. 423 Schwab, BB 1999, 787.
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(5) Abhängigkeit des DSR Unter dem Finanzierungsgesichtspunkt gewinnt die Frage nach der fehlenden Selbständigkeit des DSR wieder an Bedeutung. Zwar hat der Standardisierungsrat ein eigenes Jahresbudget. Er muß hierfür allerdings jährlich einen „Budgetentwurf" beim DRSC einreichen, der vom Verwaltungsrat genehmigt werden muß 424 . Die Mittelausgaben des DSR (und damit auch die Ausgaben für die Entwicklungsvorhaben) müssen sich im Folgejahr innerhalb des durch das Jahresbudget vorgegebenen Rahmens bewegen425. Sofern dieser Rahmen in Einzelfällen überschritten werden soll oder muß, bedarf dies der Genehmigung durch den Vorstand des DRSC 426 . Hier besteht die Gefahr, daß über die finanziellen Einwirkungsmöglichkeiten Einfluß auf die Arbeit des unabhängigen Standardisierungsrates genommen werden könnte. Sollte das nicht weisungsberechtigte DRSC seine Finanzkontrolle dergestalt mißbrauchen, stellte dies einen Verstoß gegen die Vertragspflicht, die Unabhängigkeit zu achten, dar. Das Bundesjustizministerium als Vertragspartner ist aufgefordert, solchen Verstößen frühzeitig und entschlossen entgegenzutreten. Die finanzielle Bindung an das DRSC ist deshalb für sich genommen nicht in der Lage, die Unabhängigkeit des DSR in Zweifel zu ziehen. d) Internationale Vorgaben Entscheidend für die Akzeptanz der Rechnungslegungsstandards sind nicht nur ihre theoretisch und empirisch überzeugende Fundierung, ihre Praktikabilität und ihre inhaltliche wie formelle Rechtmäßigkeit, sondern insbesondere auch ihre Abstimmung mit internationalen Standards. Angesichts zunehmender internationaler Aktivität und Organisation von Konzernen stößt das überkommene nationale Recht der Rechnungslegung, das transnationale Konzernsachverhalte naturgemäß nur bedingt zu erfassen und zu regeln vermag, „buchstäblich an Grenzen" 427. Deshalb ist die Schaffung eines privaten Rechnungslegungsgremiums nicht nur im Lichte nationaler De- bzw. Selbstregulierungsbestrebungen zu sehen, sondern muß auch - vielleicht sogar vor allem - vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierung und des sich hieraus ergebenden Drucks auf den deutschen Markt und die deutsche Rechtsordnung verstanden werden. Die Übergabe der Entwicklung von Rechnungslegungsgrundsätzen an professionelle Standardsetzer dient auch der Ausrichtung an internationalen Standards 428. Es ist allerdings nicht Aufgabe des Standardisierungs424
Arge §91112GO-DSR. §9 III 2 GO-DSR. 426 § 9 V 2 DRSC-Satzung. 427 Luttermann, Genußrechte, 441; vgl. allgemein Jacob, FS Weif Müller, 195 ff. Nachlasse von Cölbe, BFuP 1995, 390 hat „die Internationalisierung [...] bereits soviel an Fahrt aufgenommen, daß sie nicht mehr aufzuhalten ist". In diese Richtung auch Großfeld, Internationale Rechnungslegung, 289 ff. 428 Vgl. bereits die Präambel der Satzung des DRSC. Hierzu allgemein Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 385 ff.; kritisch Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1436ff. 425
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
rates, durch authentische Interpretation internationaler Rechnungslegungsnormen diese den spezifischen deutschen rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Er ist zur Auslegung der IAS und US-GAAP nicht befugt, denn Normierung und Interpretation dieser internationalen Regelwerke obliegen allein den jeweilig zuständigen Standard-Setting-Bodies429. Spezifische deutsche IAS oder „German GAAP" kann es nicht geben430. Der DSR sieht es folglich nicht als seine Aufgabe an, die internationalen Standards „zu übersetzen oder für deutsche Verhältnisse zu interpretieren" 431, sondern „für die Bilanzierung wichtiger und problematischer Sachverhalte deutsche Standards zu entwickeln [...], und zwar unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften einschließlich der GoB, der besonderen Zwecksetzung der Konzernrechnungslegung sowie unter Berücksichtigung der international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätze"432. Ein solches auf internationale Abstimmung zielendes Vorgehen entspricht der gesetzlichen Vorgabe, denn wenn § 34211 Nr. 3 HGB das Rechnungslegungsgremium zur Vertretung Deutschlands in internationalen Standardisierungsgremien auffordert, müssen die dort gefundenen Ergebnisse auch Rückwirkungen auf die nationale Entwicklung haben433. Trotz der den internationalen Standards zukommenden faktischen, d. h. wirtschaftlichen, Bedeutung darf aber die angestrebte Konvergenz der Systeme nicht in einer verminderten Berücksichtigung der deutschen Öffentlichkeit resultieren. Es muß verhindert werden, daß das nationale Standardsetzungsverfahren zu einer bloßen Formalie verkommt. Anderenfalls läge eine Klassifizierung als „Übernahme" durch ausländische oder internationale Gremien erlassener Standards nahe, die aus verfassungsrechtlicher Sicht als unzulässige dynamische Verweisung einzuordnen wäre 434 . Nicht die Zweckmäßigkeit der Rechnungslegung ist letztlich entscheidend, 429
Hayn/Zündorf, FS Weber, 500. Lenz, BFuP 1999, 451. 431 Scheffler, BFuP 1999,415. A.A. Schildbach, DB 1999, 646. 432 Scheffler, BFuP 1999, 415. 433 Ähnlich enthält § 7 Standardisierungsvertrag die Verpflichtung, „auf dem Gebiet der Standardsetzung zur internationalen Verständigung beizutragen". Und § 11 II 1 GO-DSR eröffnet dem DSR die Möglichkeit, „Vereinbarungen mit international tätigen Standardsettem und Standardsettern anderer Staaten mit dem Ziel der gemeinsamen Entwicklung von Standards (zu) treffen", vgl. Baetge/Krumnow/Noelle, DB 2001, 773. Kritisch zu einer Orientierung an internationalen Vorgaben, die diese nicht einfach übernimmt, sondern für den heimischen Markt modifiziert, Ebke, ZIP 1999, 1197: Sinn internationaler Vorschriften sei es gerade, international einheitlich angewandt und ausgelegt zu werden. Spanheimer, WPg 2000, 1000 weist daraufhin, daß zusätzliche bzw. abweichende nationale Interpretationen einer unter Harmonisierungs- wie unter Akzeptanzgesichtspunkten erforderlichen konsistenten Anwendung und Auslegung der internationalen Bilanzierungsgrundsätze zuwiderliefen und für deutsche Unternehmen die Gefahr der Nichtakzeptanz solcher modifizierter US-GAAP beispielsweise durch die SEC mit sich brächten. Ähnlich Schildbach, DB 1999, 646. 430
434
Schwab, BB 1999, 785. Bedenklich erscheint daher die Ansicht des IDW, die Aufgabe des DRSC bestünde im wesentlichen in der Auslegung internationaler Rechnungslegungsgrundsätze sowie deren Anpassung an die spezifischen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, vgl. IDW-Fachnachrichten 1998, 52 f. Unzutreffend ist sowohl die
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sondern ihre Verfassungs- und Rechtmäßigkeit. Oberster Maßstab für die Zulässigkeit privater Standardsetzung müssen die über die Legitimationsverantwortung an das private Gremium weitergeleiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen sein. Unter dieser Voraussetzung stellt die Einrichtung des Standardisierungsrates auch eine Chance dar, sich dem Internationalisierungsprozeß (und damit dem „Siegeszug anglo-amerikanischer Rechnungslegungsphilosophien"435) nicht bedingungslos zu unterwerfen, sondern gestaltend auf die weitere internationale Entwicklung einzuwirken und spezifische deutsche Positionen einzubringen. 5. Ergebnis § 342 HGB beinhaltet eine dynamische, normkonkretisierende Verweisung auf die Regelwerke eines eigens zu diesem Zwecke geschaffenen privaten „Standard Setters". Die „VermutungsWirkung", die nach § 342 HGB den Standards zukommt, führt zu einer eingeschränkten Rechtsverbindlichkeit, als ein mit ihnen übereinstimmendes Verhalten als rechtmäßig hingenommen wird, sofern die entsprechenden Standards in einem fehlerfreien Verfahren zustande gekommen sind. Die Zulässigkeit von den Standards abweichender Rechnungslegung bleibt unberührt, erfordert aber einen erhöhten Begründungsaufwand. Mit der Etablierung des Deutschen Standardisierungsrates ist ein Mechanismus geschaffen worden, der es in verfassungsrechtlich prinzipiell nicht zu beanstandender Weise ermöglicht, privaten Sachverstand für die Normierung der komplexen Sachverhalte der Konzernrechnungslegung nutzbar zu machen. Allerdings sollte die pluralistische Besetzung durch die Wahrnehmung der existierenden Befugnis der Kooptation zweier weiterer Mitglieder (nach Möglichkeit jeweils ein Anleger- und Gläubigervertreter) ausgebaut werden. Erst sekundär kann über eine Anpassung des Standardisierungsvertrages nachgedacht werden. Angesichts der nun zu erörternden Pläne der EU-Kommission, europaweit die Rechnungslegung nach internationalen Standards verbindlich einzuführen, die für eine nationale Umsetzung wenig Raum lassen, ist das zukünftige Aufgabenfeld des DSR unklar 436 .
Behauptung von Böcking/Orth, DB 1998, 1875, die Empfehlungen des DSR könnten den Anforderungen des Kapitalmarktes nicht entgegenstehen; eine „deutsche" Lösung schiede aus, als auch das vielzitierte Bonmot von Krumnow, Handelsblatt vom 26.2.1996, Konzerne könnten nicht „global denken und provinziell bilanzieren". Aus betriebswirtschaftlicher Sicht mag solchen Einschätzungen zuzustimmen sein, aus (verfassungs-)rechtlicher Sicht kommt es nur auf die Einhaltung der grundgesetzlichen und gesetzlichen Vorgaben an. 435 Schwab, BB 1999, 732. 436 Vgl. hierzu Baetgel Krumnow!Noelle, DB 2001, 773 ff.; Hommelhoffl Schwab, FS Kruse, 702f.; Niehus, DB 2001, 53 ff.
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V. Die Harmonisierung der Rechnungslegung in der EU Die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten einer Anpassung des deutschen Rechts an internationale Vorgaben haben zu der Auffassung geführt, eine rechtsverbindliche Lösung sei nur mittels des Abschlusses eines völkerrechtlichen Vertrages zu erzielen 437. Die Nachteile einer unzureichenden Flexibilität liegen auf der Hand. Für die Harmonisierung auf europäischer Ebene bietet es sich deshalb an, die Vorteile der Existenz eines supranationalen, durch die Rückbindung an die mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente bzw. unmittelbar durch Wahl legitimierten Rechtsetzers zu nutzen und die Abstimmung den Organen der EU anzuvertrauen. Im folgenden soll überblicksartig die derzeit noch stark im Fluß befindliche zukünftige Internationalisierungsstrategie der EU im Bereich der Rechnungslegung dargestellt werden. Damit wird zugleich die oben eingegangene Bringschuld einzulösen gesucht, private Normsetzung auch in der Kapitalmarktpolitik der EU nachzuweisen. Letztlich bietet sich eine Behandlung an dieser Stelle auch deshalb an, weil die verfassungsrechtlichen Bedenken teilweise parallel zu denen hinsichtlich des § 292 a HGB laufen. 1. Frühere Harmonisierungsbestrebungen Die Anstrengungen der EU um eine Angleichung der Rechnungslegungsvorschriften reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Ihren Kern bilden die 1978 bzw. 1983 verabschiedete 4. und 7. EU-Bilanzrichtlinie 438 , die in der Folgezeit von allen Mitgliedstaaten (in Deutschland 1985 durch das Bilanzrichtlinien-Gesetz 439) in nationales Recht transformiert wurden. Aufgrund der diskrepanten Rechnungslegungstraditionen und den daraus resultierenden teilweise konträren Rechnungslegungsphilosophien in den Mitgliedstaaten enthielten beide Richtlinien notwendig nur Mindeststandards und Kompromisse, die sich in einer Vielzahl von Wahlrechten manifestierten. Folgerichtig betrachtet die Kommission die Angleichung nicht als abgeschlossen. Von dem Gedanken einer rein europäischen Rechnungslegung hat sie sich entfernt; angestrebt wird nicht länger ein eigenes Regelwerk, sondern die Teilhabe an weltweit Geltung beanspruchenden Standards440. Die Annahme international einheitlicher und qualitativ hochwertiger Rechnungslegungsgrundsätze soll die Vergleichbarkeit und Transparenz der Finanzinformationen erhöhen und dabei 437
R Kirchhof, ZGR 2000, 691 f. Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.7.1978 über den Jahresabschluß von Kapitalgesellschaften, ABl. EG Nr. L 222/11 vom 14.8.1978 bzw. Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13.6.1983 über den konsolidierten Abschluß, ABl. EG Nr.L 193/1 vom 18.7.1983. 439 BGBl I 1985, 2355. Vgl. zum hohen Prozentsatz der Nicht-Befolgung durch die deutschen Unternehmen Achleitner, Normierung der Rechnungslegung, 394 ff. 440 Vgl. statt vieler van Hülle, ZGR 2000, 537 ff. 438
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die allgemeine Markteffizienz steigern und die Kapitalkosten der Unternehmen senken; sie wird als notwendiger Schritt zur Verwirklichung eines voll integrierten, einheitlichen europäischen Kapital- und Finanzdienstleistungsmarktes angesehen. 2. Die Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 Bezugnehmend auf die inhaltlich weitgehend gleichlautende Kommissionsmitteilung aus dem Juni 2000 441 hat die Kommission im Februar 2001 einen Verordnungsvorschlag betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsgrundsätze vorgelegt 442, den das Europäische Parlament im Sommer 2002 angenommen hat 443 : Demnach werden alle auf einem geregelten Markt notierten EU-Unternehmen sowie die, die einen Börsengang vorbereiten (kapitalmarktorientierte Unternehmen), verpflichtet, bis spätestens 2005 ihre konsolidierten Abschlüsse nach einem einzigen Regelwerk von Rechnungslegungsgrundsätzen, und zwar nach den IAS 4 4 4 , die zur Anwendung innerhalb der EU angenommen wurden, aufzustellen. Die Mitgliedstaaten erhalten die Möglichkeit, diese Rechnungslegungsgrundsätze auch für Einzelabschlüsse bzw. nichtbörsennotierte Unternehmen einzuführen 445. „Anstatt sich bei der Bestimmung der zu Grunde zu legenden Normen auf die Marktkräfte zu verlassen, ist die wirksamste Basis zur Gewährleistung des Ziels der Vergleichbarkeit eine Verpflichtung der börsennotierten Unternehmen zur Veröffentlichung von solchen Abschlüssen, die nach einem einzigen Regelwerk von Rechnungslegungsgrundsätzen erstellt werden" 446 . a) Vorgesehenes Verfahren Kernpunkt der Verordnung ist die Annahme der IAS durch die EU. Zu Recht hält die Kommission einen ex ante wirkenden Annahmemechanismus trotz der unbe441
KOM (2000) 359 endg. vom 13.6.2000; vgl. die vorangegangenen Mitteilungen der Kommission vom 14.11.1995, KOM (1995) 508 endg.; vom 28.10.1998, KOM (1998) 625 endg. sowie vom 11.5.1999, KOM (1999) 232 endg.; Luttermann, ZIP 2000, 1319ff. 442 KOM (2001) 80 endg. vom 13.2.2001; zustimmend der WSA in ABl. EG C260/86 vom 17.9.2001. Grds. zustimmend der Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, Rn. 267; kritisch gegenüber der damit verbundenen Adaption anglo-amerikanischer Grundsätze hingegen Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1439 f. 443 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. EG Nr. L 243/1 vom 11.9.2002. 444 Instruktiver Überblick bei Hommelhojf , in: Staub, HGB, Anh. §292 a Rn. 1 ff. 445 Hierzu Niehues, WPg 2001, 1219ff.; Niehus, WPg 2001, 737ff. 446 KOM (2001) 80 endg., 3; zur Erforderlichkeit einer rechtlichen Regelung, aber auch kritisch zur künftigen Rolle des EuGH Luttermann, ZIP 2000,1323. Zweifel an der Erforderlichkeit einer verpflichtenden Regelung äußerte das IDW in seinem diesbzgl. Schreiben an das Bundesjustizministerium. Zu freiwilliger Publizität allgemein Merkt, RabelsZ (64) 2000, 517 ff.; ders., Unternehmenspublizität, 423ff.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
strittenermaßen hohen fachlichen Qualifikation des IASC für erforderlich, da es weder politisch noch rechtlich möglich ist, die Befugnis zur Schaffung von Rechnungslegungsgrundsätzen ohne inhaltliche Vorgaben und unwiderruflich einer privaten Organisation zu übertragen, auf die die EU keinen Einfluß hat 447 . Der sog. „endorsement mechanism" soll jedoch nicht zu einer Neuformulierung oder Ersetzung von IAS führen, sondern vorrangig der Überwachung der Annahme dieser internationalen Vorschriften dienen. Nach Vorstellung der Kommission sind Interventionen nur dann zu erwarten, wenn die Grundsätze und Auslegungen wesentliche Mängel aufweisen oder bestimmten Merkmalen nicht gerecht werden, die für das wirtschaftliche oder rechtliche Umfeld der EU charakteristisch sind. Die zentrale Funktion des vorgesehenen Anerkennungsverfahrens dürfte demnach die Bestätigung sein, daß die IAS eine geeignete Grundlage für die Rechnungslegung börsennotierter EU-Unternehmen bilden. Das Verfahren vollzieht sich zweistufig auf einer technischen Sachverständigen- und einer politischen Regelungsebene448. aa) Sachverständigenebene Auf der technischen Ebene soll eine Gruppe hochqualifizierter Sachverständiger eingesetzt werden (sog. „Technischer Ausschuß auf dem Gebiet der Rechnungslegung"), die einerseits die IAS (v. a. auf ihre Übereinstimmung mit den Richtlinien 449 ) prüfen und andererseits bereits zuvor an der Standardsetzung im IASC mitwirken, d. h. dort die EU vertreten, soll 450 . Letzteres ermöglicht es, bereits in der Entstehungsphase europäische Belange zu artikulieren, mögliche Probleme frühzeitig zu antizipieren und damit dazu beizutragen, daß das Ergebnis des internationalen Standardsetzungsprozesses mit den Richtlinien kompatibel ist. Die EU verbindet damit die Hoffnung, daß aufgrund einer vertrauensvollen Zusammenarbeit die Abänderung oder gar Ablehnung eines IAS durch den Regelungsausschuß nicht erforderlich sein wird 451 . Der Ausschuß soll schließlich die Kommission hinsichtlich aufgrund internationaler Entwicklungen im Bereich der Rechnungslegung angezeigter Änderungen der Richtlinien beraten 452.
447 Presseerklärung der Kommission vom 13.2.2001, zitiert nach Heintzen, BB 2001, 827; ebenso bereits KOM (2000) 359 endg., 8; vgl. HommelhofflSchwab, FS Kruse, 699; P. Kirchhof,NW 2001, 1333. 448 Die Reminiszenzen an den Lamfalussy-Bericht sind unverkennbar, vgl. das erste Kapitel B. V. 2. a). Zu bisherigen Möglichkeiten der Rezeption von IAS Biener, Anerkennung der IAS, lff., 14 ff. 449 Hommelhoffl Schwab, FS Kruse, 695. Das IDW befürwortete hingegen eine Befreiung nach dem Vorbild des § 292 a HGB. Das ist aus den oben gezeigten Gründen abzulehnen. 450 Vgl. Hommelhoffl Schwab, FS Kruse, 695 f.; FAZ vom 3.7.2001, 22. 451 Van Hülle, BB 2001, Heft 33, Die erste Seite; vgl. Jacob, FS Weif Müller, 215 f. 452 KOM (2001) 80 endg., 6.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen
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bb) Regelungsebene Die eigentliche Anerkennung wird nicht dem (privaten) Expertengremium überlassen, sondern erfolgt auf der zweiten Stufe durch den Regelungsausschuß. Dieser wird gebildet durch Vertreter der Mitgliedstaaten unter dem Vorsitz der Kommission, die auch das Sekretariat stellt. Ihm obliegt es, darüber zu befinden, ob ein IAS von der EU angenommen wird. Das dabei einzuhaltende Verfahren orientiert sich an den bestehenden Komitologie-Regeln, um Transparenz und die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Rat und dem Europäischen Parlament zu gewährleisten. Die Kommission wird auf Vorarbeit der technischen Ebene dem Regelungsausschuß einen Bericht vorlegen, in dem sie den jeweiligen Rechnungslegungsstandard benennen, seine Übereinstimmung mit den Rechnungslegungs-Richtlinien überprüfen und seine Zweckmäßigkeit als Grundlage für die Rechnungslegung in der EU bewerten wird. Innerhalb eines Monats muß dann der Ausschuß mit qualifizierter Mehrheit über den Kommissionsvorschlag entscheiden. Eine grundsätzliche Vermutung der Konvergenz von IAS und Richtlinien enthält die Verordnung nicht mehr; eine Einschaltung des Regelungsausschusses ist nicht nur für den Fall intendiert, daß sich der Technische Ausschuß gegen die Annahme gewandt habe und dieses negative Votum der Ratifizierung bedürfe 453. Das Annahmeverfahren muß für jeden Standard vollständig durchgeführt werden; die Anerkennung gilt nicht mangels Zurückweisung als erteilt. Nach der Verordnung muß allerdings die Kommission, wenn sich der technische Ausschuß für eine Annahme ausspricht und sie damit nicht einverstanden ist, ihren entgegengesetzten Standpunkt begründen und kann im Anschluß daran die technische Ebene bitten, alternative Lösungsmöglichkeiten zu prüfen 454. b) Primärrechtliche
Bedenken
Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit der geplanten Einbeziehung des IAS ist allein das Primärrecht, nicht dagegen das Grundgesetz 455. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung überprüft das Bundesverfassungsgericht abgeleitetes Gemeinschaftsrecht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäische Gemeinschaft, insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, einen wirksamen Grundrechtsschutz gegenüber der Hoheitsgewalt der EG generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt 456. Ihrer Rechtsnatur nach sind die Beschlüs453 So noch KOM (2000) 359, 9; Hommelhojf/Schwab, FS Kruse, 696, 709, vgl. aber auch dort, 710, 715f. 454 KOM (2001) 80 endg., 7. 455 Heintzen, BB 2001, 827. 456 Hierzu nur BVerfGE 73, 339 (386f.); 89, 155 (175) sowie aktuell Lecheler, JuS 2001, 120 ff. m.w.N.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
se der Kommission Durchführungsbestimmungen im Sinne der Art.203, 3. Spiegelstrich und 211,4. Spiegelstrich EG-Vertrag und damit ebenfalls Verordnungen, die allerdings im Rang der zu ihnen ermächtigenden Verordnung nachstehen457. Prüfungsmaßstab für die Beschlüsse der Kommission über die Annahme internationaler Rechnungslegungsgrundsätze sind die Verordnung und das Primärrecht; Prüfungsmaßstab für die Verordnung ist dagegen allein das Primärrecht. aa) Dynamische Verweisung In Art. 2 Satz 2 der Verordnung heißt es: „Dazu (i. e. zu den internationalen Rechnungslegungsstandards) zählen auch spätere Änderungen dieser Rechnungslegungsgrundsätze [...]". Bedeutete dies, daß spätere Änderungen ohne weiteres automatisch Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft würden, läge eine dynamische Verweisung vor. Wiewohl die Problematik im Europarecht anders als im deutschen Verfassungsrecht ersichtlich noch keine größere Aufmerksamkeit gefunden hat 458 , wäre auch hier eine Blankoermächtigung an ein privates internationales Gremium rechtlich problematisch und im Ergebnis unzulässig459. Indes bedarf dies an dieser Stelle keiner näheren Untersuchung, denn es handelt sich bei der Inbezugnahme gemäß dem Verordnungsentwurf nicht um eine dynamische Verweisung: Rechtsverbindlichkeit erlangen die IAS erst, wenn sie nach dem dafür vorgesehenen zweistufigen Verfahren angenommen wurden. Eine Dynamisierung dieser Annahme in dem Sinne, daß sie sich automatisch auf spätere Änderungen oder Erweiterungen des angenommenen Standards erstreckte, ist nicht vorgesehen460. Im Gegenteil gilt das Anerkennungsverfahren ausdrücklich „auch für die Annahme von Änderungen zuvor angenommener IAS" 4 6 1 . Die gegen dynamische Verweisungen vorgetragenen Bedenken greifen somit nicht, denn Rechtsgeltung erlangt nur, was durch die Annahme zu Recht bestimmt wird. Ohne diese Annahme bleibt es bei der rechtlichen Unverbindlichkeit der privaten Standards462. Die Kommission behält sich nicht die Möglichkeit vor, Standards des IASC abzuändern463 (was auch sowohl hinsichtlich der Einbeziehung anerkannten privaten Sachverstands als auch der weltweiten Vereinheitlichung kontraproduktiv wäre), sie ist aber prinzipiell imstande, Vorgaben zurückzuweisen.
457 Heintzen, BB 2001, 827. Nachweise zur Rspr. des EuGH bei Hofmann, Normenhierarchien, 25. 458 Vgl. exemplarisch die kurze Darstellung bei Grams, Gesetzgebung, 226 f. 459 Rönck, Technische Normen, 161 f. unter Verweis auf Rohling, Überbetriebliche technische Normen, 117 ff. 460 Heintzen, BB 2001,827. 461 KOM (2001) 80 endg., 7. 462 Heintzen, BB 2001, 827 spricht gar von einem „juristischen Nullum". 463 Anders wohl Luttermann, ZVglRWiss 101 (2002), 169.
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater N o r m e n 2 2 3
bb) Stärkung der Kommission Liegt somit keine dynamische Verweisung vor, so bestehen doch aus einem anderen Gesichtspunkt heraus Bedenken464: Das vorgeschlagene Verfahren läuft darauf hinaus, daß letztlich vor allem die Kommission darüber entscheidet, nach welchen Maßstäben künftig in den Mitgliedstaaten die konsolidierten Abschlüsse aufzustellen sind. Sie ist damit der eigentliche Rechtsetzer. Hierfür spricht die Praktikabilität, denn ein exekutives Gremium ist in der Lage, durch ein straffes Annahmeverfahren die erforderliche Flexibilität zu garantieren. Der Aufwand eines Rechtsetzungsverfahrens nach Art. 251 EG-Vertrag, auf den die Rechtsgrundlage der Verordnung, Art. 95 EG-Vertrag, verweist, wäre für die Einbeziehung der IAS in die europäische Rechtsordnung wohl zu groß 465 . Zu fragen ist dennoch, ob eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission wie sie der Verordnungsentwurf vorschlägt mit dem Primärrecht zu vereinbaren ist. Anknüpfungspunkt könnte - wiederum parallel zu der Diskussion um § 292 a HGB - die Wesentlichkeitslehre sein. Sie darf auf der Ebene der EU nicht im strengen deutschen Sinne verstanden werden. Statt dessen ist auf die gemeinschaftsrechtlichen Regeln zurückzugreifen, die der Delegation von Rechtsetzungsmacht auf die Kommission im Interesse des Institutionengleichgewichts Schranken setzen466. Diese sind zum einen prozeduraler und zum anderen inhaltlicher Art. Inhaltlich werden Schranken durch den Begriff der „Durchführungsbefugnisse" (Art. 202, 211 EGV) gesetzt, der dem Begriff der „wesentlichen Grundzüge" korrespondiert. Diese Schranken sind weniger streng als die des Art. 801 GG 467 . Der EuGH betont für das Verhältnis von Rat und Kommission eher die Sicherung als die Beschränkung der seit der Einführung der Einheitlichen Europäischen Akte primärrechtlich begründeten Durchführungsbefugnisse der Kommission468. Eine genauere inhaltliche Präzisierung der delegierten Rechtsetzungsbefugnisse ist daher nach Ansicht des EuGH nicht erforderlich; eine allgemein gehaltene Ermächtigung soll ausreichen 469. Diesen Anforderungen wird die Verordnung gerecht. Die grundlegende Rechnungslegungsstrategie der EU ist in der Verordnung selbst (sowie in den vorangegangenen, weiterhin Geltung beanspruchenden Richtlinien) enthalten und somit der autonomen Bestimmung durch die Kommission entzogen. Deren Rechtsetzungsbefugnisse sind zudem hinsichtlich Inhalt und Ausmaß gemäß Art. 2 der Verordnung sowie dem dazugehörigen Anhang 464
Vgl. Ernst, BB 2001, 823 ff. Heintzen, BB 2001,827. Für die Verordnung als Mittel der Rechtsvereinheitlichung auch U.H. Schneider, AG 2001, 273, 278. 466 Hierzu C. Möllers, Europarecht 2002, 484 ff., der den Begriff der Delegation in diesem Zusammenhang allerdings ablehnt, weil die fehlende gemeinschaftseigene Verwaltung bedingt, daß jede Durchführung eine Delegation voraussetzt, dort, 492 ff. 467 Haibach, VerwArch 90 (1999), 98 ff. unterzieht beide einem Vergleich. 468 Grundlegend EuGH Rs. 23/75 (Rey-Soda), Slg. 1975, 1279 (v.a. 1302 Rn. 10/14); vgl. C. Möllers, Europarecht 2002, 486 ff. m. w. N. 469 Vgl. die Nachweise bei Groeben/Thiesing/Ehlermann-ytfc^Me, Bd. 4, Art. 145 Rn. 15. 465
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
beschränkt auf einen bestimmbaren Normenbestand und werden hinsichtlich des sachlichen und persönlichen Anwendungsbereiches weiter eingegrenzt. Die inhaltliche Begrenzung wird durch die prozedurale Ausgestaltung kompensatorisch ergänzt. Prozedurale Grenzen ergeben sich insbesondere aus dem einzuhaltenden Komitologie-Verfahren, das den Delegataren (Rat und Parlament) Einfluß darauf ermöglicht, wie die Delegationsempfängerin (die Kommission) ihre Durchführungsbefugnisse ausübt470. Dieses Verfahren erlaubt Abstriche bei den inhaltlichen Anforderungen, weil eine Rückbindung der Kommission an den Willen von Rat und Parlament sichergestellt ist 471 . In der Kombination von materiellen und prozeduralen Anforderungen wird damit der Handlungsspielraum der Kommission soweit eingegrenzt, daß aus Sicht des Primärrechts keine weiteren Einschränkungen zu verlangen sind. cc) Publikationserfordernisse Unzureichend ist hingegen das von der Verordnung vorgesehene Veröffentlichungsverfahren. Gemäß Art. 3 III werden die Beschlüsse der Kommission im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft veröffentlicht. Zugleich sieht die Begründung vor, daß diese Veröffentlichung sich nur auf den Titel und die Referenznummer eines Rechnungslegungsgrundsatzes und das Datum des Inkrafttretens beziehen soll 472 . Anknüpfungspunkt für die Veröffentlichungspflichten ist Art. 254 Abs. 2 EG-Vertrag. Ausweislich der Kommentierungen zu dieser Vorschrift gibt es keine Präjudizien zu den Anforderungen hinsichtlich der Veröffentlichung im Falle einer (statischen) Verweisung auf fremde Regelwerke, die in die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft integriert werden sollen. Wenn jedoch die Veröffentlichung ein erforderlicher Teil der Rechtsetzung ist, mithin ohne diese Veröffentlichung die Grundsätze keine Rechtswirkung beanspruchen können, dann muß den Normadressaten das ihnen abverlangte Verhalten offengelegt werden 473. Man wird zwar der Kommission zugestehen können, daß die volle Veröffentlichung von einem auf ca. 1300 Seiten geschätzten Regelwerk das Amtsblatt zu überfordern drohte. Intensiviert stellt sich das Problem, wenn man berücksichtigt, daß diese Seitenzahl sich allein auf die englischsprachige Version bezieht und daher noch mit der Zahl der neun EG-Amtssprachen multipliziert werden müßte. Dennoch ist aus mehreren 470
Heintzen, BB 2001, 828 m. w.N. Skeptisch demgegenüber Ernst, BB 2001, 824. Heintzen, BB 2001, 828. 472 KOM (2001)80 endg.,6. 473 Man könnte sich an dieser Stelle sogar auf den Standpunkt stellen, daß die Veröffentlichung konstitutive Wirkung für die Gültigkeit eines Rechtsaktes hat und mithin ihr Fehlen keinen Nichtigkeitsgrund darstellt, der geltend gemacht werden müßte, sondern sich unmittelbar auswirkt. Demnach käme den nur mittels eines Verweises auf den englischen Text publik gemachten Rechnungslegungsstandards keine Rechtswirkung zu; es „ließe sich sogar vertreten, [...] es handele sich nicht um Recht, das an einem Nichtigkeitsgrund leide, sondern um Nicht-Recht", Heintzen, BB 2001, 829 m.w.N. 471
C. Staatliche Rechtsnormsetzung unter Inbezugnahme privater Normen
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Gründen an der strikten Veröffentlichungspflicht festzuhalten: Zum einen ist es widersprüchlich, wenn die Kommission von Unternehmen die volle Beachtung internationaler Rechnungslegungsgrundsätze verlangt, selbst aber den Aufwand einer umfassenden Veröffentlichung dieser Standards im Volltext scheut. Zum zweiten ist Englisch nur eine Amtssprache unter vielen. Könnte sich die Kommission mit ihrer Vorstellung durchsetzen, käme dem Englischen im Bereich der Rechnungslegung eine dominierende Rolle zu, weil die entscheidenden Vorschriften im wesentlichen nur in dieser Sprache abgefaßt wären. Selbst wenn man es nicht für erforderlich erachtet, die Sprachenregelung immer und überall konsequent anzuwenden474, sollte doch wenigstens eine umfassende Durchbrechung für ein komplettes Regelungsgebiet ausgeschlossen sein. Anderenfalls würden zudem in vermeidbarer Weise Befürchtungen hinsichtlich einer Dominanz der anglo-amerikanischen Rechnungslegungstradition unnötig verstärkt und damit das eigentlich erforderliche weltweit kooperative Vorgehen gefährdet 475. c) Sachverständige Beratung In der Sache handelt es sich bei dem Anerkennungsverfahren um eine statische Verweisung 476. Deshalb muß der Regelungsausschuß in die Lage versetzt werden, die äußerst komplexen IAS nachzuvollziehen. Echtes Verständnis ist Voraussetzung für einen Anerkennungsmechanismus, der sich nicht auf ein bloßes „Abnicken" beschränkt. Wenn dieser tatsächlich Legitimation vermitteln und nationalstaatliche Gesetzgebung ersetzen soll, muß sichergestellt werden, daß die Kommission in dieser Hinsicht ausreichend Fachkenntnis besitzt. Da dies bei den vorhandenen Beamten bezweifelt wird, soll Hilfe von außen in Anspruch genommen werden 477. Hierin liegt - neben der proaktiven Beteiligung am Standardsetzungsprogramm des IASC - eine Hauptaufgabe der technischen Ebene. Zu ihrer funktionsgerechten Wahrnehmung hat die Kommission die Gründung eines privatwirtschaftlichen, pluralistisch besetzten Gremiums angeregt, das die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der IAS beraten soll. In diesem Gremium sollen nach Vorstellung der Kommission die Standardsetzer, die mit der Rechnungslegung befaßten Berufsstände sowie die Nutzer und Aufsteller von Abschlüssen vertreten sein, und es soll eng mit den Aufsichtsbehörden zusammenarbeiten. Im Juni 474 Vgl. Luttermann, ZVglRWiss 101 (2002), 164ff., der eine Begrenzung auf „Referenzund Muttersprachen" vorschlägt. 475 Problematisch ist insoweit, daß das IASC auf die Autorität der englischen Sprache pocht, Preface Nr. 18, 35 (zitiert bei Großfeld, WPg 2001, 132): „The approved text of any exposure draft or standard is that published by the IASC in the English language". Ähnliche Bedenken äußert Niehus, WPg 2001, 740. 476 Ebenso wohl Hommelhoffl Schwab, in: Staub, HGB, § 342 Rn. 10 a. E. 477 Vgl. allgemein die Bedenken von Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 109 f. Zur sachverständigen Beratung der Kommission ausführlich Knipschild, ZLR 2000,693 ff., v. a. zu organisationsrechtlichen Anforderungen dort, 706 ff.
15 Augsberg
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
2001 wurde die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) gegründet 478 . Innerhalb der EFRAG ist eine sog. Technical Expert Group (TEG) gebildet worden, der die konkreten auf der technischen Ebene des Anerkennungsmechanismus anfallenden Aufgaben zugedacht sind. Diesem Gremium gehören 11 Mitglieder an, die nach den Kriterien Fachkunde und insbesondere Erfahrung im Standardsetzungsprozeß durch das Supervisory Board der EFRAG ausgewählt wurden. Letzteres dient als Überwachungs- und Leitungsinstanz, soll aber nicht in das operative Geschäft eingreifen können. Es setzt sich zusammen aus Vertretern der Gründungsorganisationen der EFRAG und soll insbesondere sicherstellen, daß die verschiedenen europäischen Perspektiven beachtet werden 479. In die TEG können außerdem sowohl die EU-Kommission als auch die FESCO einen Vertreter mit Beobachterstatus entsenden; schließlich soll ein weitreichender Kommunikationsprozeß insbesondere mit den nationalen Standardsetzern die Arbeit der TEG begleiten. Insbesondere in diesem, der Mitwirkung im IASC vorausgehenden Prozeß muß es darum gehen, die europäischen Positionen unter möglichst diversifizierter Interessenberücksichtigung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der als Leitlinie der Mitarbeit im internationalen Standardsetzungsverfahren dienen muß. Die Berücksichtigung der europäischen Interessen erfolgt damit sowohl im Vorfeld der Erarbeitung der IAS als auch im Rahmen des AnerkennungsVerfahrens. 3. Ergebnis Im Gegensatz zu § 292 a HGB handelt es sich daher bei der geplanten Neuregelung der Rechnungslegung in der EU nicht um eine unzulässige dynamische, sondern um eine statische Verweisung, der ein besonderes Verfahren vorgeschaltet ist 480 . Der gegenwärtige Vorschlag erscheint verbesserungsfähig und -bedürftig insbesondere in Hinblick auf die Veröffentlichung der Rechnungslegungsstandards. Insgesamt ist hier die Entwicklung noch abzuwarten; insbesondere ist die Einbeziehung der privaten Sachverständigen noch nicht endgültig ausgearbeitet. Die bisher erhältlichen Stellungnahmen deuten daraufhin, daß auch auf Seiten der Privaten das Bewußtsein für die Vorzüge und Notwendigkeit eines transparenten und pluralisti478 Als Gründungsmitglieder agierten die europäischen (Wirtschafts-)Vereinigungen CEA (Comité Européen des Assurances), EFAA (European Federation of Accountants and Auditors for SMEs), EFFAS (European Federation of Financial Analysts Societies), ESBG (European Savings Banks Group), FEE (Fédération des Experts Comptables Européens), FESE (Federation of European Securities Exchanges), GEBC (European Association of Cooperative Banks), UEAPME (European Association of Craft, Small and Medium-sized Enterprises) und UNICE (Union des Confédérations des l'Industrie et des Employeurs d'Europe). 479 Nach H ommelhoff! Schwab, FS Kruse, 696 sollten aufgrund der Bedeutung der technischen Ebene die dort eingesetzten Experten hingegen durch die Kommission vorgeschlagen und durch den Rat berufen werden. Zumindest sollte über eine Bestätigung der Entscheidung des Supervisory Board durch die politische Ebene nachgedacht werden. 480 Das Verfahren ist eher der „sachverständigen Beratung" als der „monitored self-regulation" zuzuordnen; im letzteren Sinne hat sich allerdings die EFRAG geäußert.
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung
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sehen Verfahrens wächst. Diese Ansätze gilt es zu stärken und rechtlich zu fundamentieren. Als Ausgangspunkt können dabei insbesondere die Erfahrungen mit den nationalen Standardsetzungsorganisationen dienen.
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung Das Verfassungsrecht ist nicht nur in seinen Grundlagen jünger als das Privatrecht, es ist auch zu unbestimmt und offen, als daß es für detailliertere Determinierungen der gesamten Rechtsordnung taugte481. Deshalb lassen sich aus verfassungsrechtlichen Geboten nur Leitlinien zur Privatrechtsdogmatik ableiten. Im vorliegenden Zusammenhang folgen diese aus dem Zusammenspiel von grundrechtlicher Handlungsfreiheit und staatlichem Gewaltmonopol. Das Zivilrecht bildet eine Rahmenordnung zur eigeninitiativen Selbstorganisation der Privatrechtssubjekte, innerhalb derer auf die konsensuale Logik der Verfolgung von Individualinteressen (Aushandlungsprozeß) vertraut werden darf. Private können - das ist bereits oben festgestellt worden - Rechtsakte setzen bzw. sogar Rechtsnormen erlassen, wenn ihnen der Staat dafür die rechtlichen Handlungsformen zur Verfügung stellt und sich damit bereit erklärt, die notfalls auch zwangsweise Durchsetzung zu garantieren. Die staatliche (Selbst-)Bindung setzt voraus, daß sich die privaten Handlungsbeiträge innerhalb der zuvor abgesteckten Rahmenordnung bewegen (staatliches Element) 482 ; die entsprechenden Rechtsakte beziehen ihre Legitimation allerdings nicht allein aus der staatlichen Ermächtigung, sondern setzen daneben eine freiwillige Unterwerfung voraus (privatautonomes Element)483. Echte Normsetzung findet sich in diesem Zusammenhang vor allem im Verbandsrecht (I). Wegen ihrer normähnlichen Wirkung sind aber auch vertragliche Steuerungsmechanismen zu würdigen (II). Beide eint der notwendige Bezug auf die privatautonome Annahme der postulierten Verhaltensanforderungen: „Im Ausgangspunkt handelt es sich bei der Schaf481 Ruffert, Eigenständigkeit des Privatrechts, 49 ff. m. w.N., der dem Geltungsvorrang der Verfassung (Art. 1 III, 20 III GG) einen aus Art. 21GG abgeleiteten Erkenntnisvorrang des Privatrechts gegenüberstellt, dort, 51 f.; ähnlich Di Fabio, Recht offener Staaten, 67. 482 Wo der Staat eine rechtliche Rahmenordnung zur Verfügung stellt, innerhalb derer Interessenkonflikte durch Aushandeln zwischen Privatrechtssubjekten zu lösen sind, erweist sich die staatliche Rahmenverantwortung als „die eigentliche Grundverantwortung des Staates für einen gemeinwohlverträglichen Interessenausgleich", Trute, Verzahnungen, 198. „Inhaltliche Determinierungen sind dieser Ordnung im Ausgangspunkt fremd; die Motive der Handlung, die Ziele der eingegangenen Bindungen, die Angemessenheit der getroffenen Lösungen bleiben innerhalb äußerster Grenzen den Beteiligten überlassen", dort, 173. Zustimmend Schock, VVDStRL 57 (1998), 206 Fn.236. Vgl. Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 189. 483 Vgl. pointiert Kelsen, Reine Rechtslehre, 285, der den Vertrag als „eine ausgesprochen demokratische Methode der Rechtsschöpfung" bezeichnet. Dem kann auf Basis der Einstufung der demokratischen Legitimation als Rückbindung an das Gesamtvolk zwar terminologisch nicht gefolgt werden; wichtig ist aber die Selbstbestimmungsmöglichkeit, die diese rechtliche Kategorie dem Einzelnen eröffnet.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
fung von Vereins- und Verbandsnormen ebenso um eine auf private Willensbildung zurückgehende Rechtssetzung wie bei der Festlegung von Vertragsnormen zwischen Privatrechtssubjekten im Rahmen der Vertragsfreiheit" 484.
I. Verbandsrecht 1. Allgemeines zur Regelungsmethode Private Verbände besitzen ein hohes Interesse daran, ihren Normen zu Rechtsgeltung zu verhelfen, um die Einhaltung ihrer inneren Verfassung und Ordnung sicherzustellen. Die Verbandsnormen sollen nicht nur in ihrem Bestand gegen wechselnde Verhältnisse in der Mitgliederzusammensetzung gesichert sein, sondern es muß dem Verband auch möglich sein, sie notfalls unter Inanspruchnahme staatlicher Zwangsakte durchzusetzen. Die staatliche Beziehung zu privatverbandlicher Normsetzung ist hingegen ambivalent: Einerseits bestehen gegen verbandliche Normsetzung Vorbehalte: Die Verbände werden zu den „oligarchischen Herrschaftsgruppen" im Staat, in denen sich soziale Mächtigkeit verkörpere, gezählt485. Ausgehend von der Einschätzung, daß Verbände ihrem Wesen nach der Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder dienen und daher unfähig zur Gemeinwohlbeachtung seien486, wird vor einem „Neo-Korporatismus" gewarnt, wenn der Staat Regulierungsverantwortung an diese abtrete. Denn Interessen organisierten sich um so weniger in Verbänden, je mehr sie sich der Allgemeinheit annäherten487. Andererseits besteht ein Interesse an der durch das Wirken privater Verbände erzielbaren Entlastung und vergrößerten Steuerungsschärfe 488. Und oftmals sind es gerade private Verbände, die gegenüber zur Unbeweglichkeit neigenden staatlichen Strukturen Veränderungen anstoßen und gegebenenfalls durchzusetzen helfen. Grundsätzlich dienen Verbandsnormen der Binnenorganisation; eine Außenwirksamkeit ist nicht intendiert. Sofern allerdings auf ihre Steuerungsleistungen und kreativen Kräfte von staatlicher Seite aus Zugriff genommen wird, müssen die 484
Nicklisch, Inhaltskontrolle, 24; vgl. Meyer-COrding, Rechtsnormen, 13 ff., 46 f. W.Weber, Spannungen und Kräfte, v.a. 121 ff. Vgl. BGHZ 93, 151 (153); BGH NJW 1991, 485; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 6 Rn. 34 ff. m. w. N. Vgl. ausführlich Wulsdorf, Selbstregulierung, 83 ff. 486 Vgl. den Hinweis von M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 17 auf die bereits bei A. Smith, Wealth of Nations, 145 zufindende Einschätzung: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation results in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices". 487 So z.B. Krüger, Staatslehre, 499. Weitere Nachweise bei Teubner, Organisationsdemokratie, 63 f., 73 ff. Kritisch auch Denninger, Normsetzung, Rn. 127. 488 Hierzu Kirberger, Staatsentlastung, passim; Nicklisch, Inhaltskontrolle, 16 f. (das von diesem angeführte Beispiel des DIN e.V. paßt jedoch nicht recht, denn der Adressatenkreis der von diesem erlassenen Normen geht typischerweise weit über den Mitgliederbestand hinaus; die sich hier ergebenden Problemlagen entziehen sich damit der klassischen vereinsrechtlichen Betrachtung). 485
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung
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selbstregulativen Gruppen in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs integriert und auf die Verwirklichung von Gemeinwohlzielen ausgerichtet werden. Erforderlich ist die Kooperationsfähigkeit und -Willigkeit der Verbände 489. Sie müssen erstens möglichst alle von der Normsetzung Betroffenen in das Verfahren einbeziehen, um größtmögliche Akzeptanz zu erreichen und späteren Einwendungen schon frühzeitig entgegenzuwirken (Beteiligungsproblematik). Zweitens muß ein möglichst große Harmonie sicherndes Einigungsverfahren bereitstehen (Einigungsproblematik) sowie schließlich drittens die Einhaltung der auf diese Weise zustande gekommenen Normen sichergestellt werden (Bindungsproblematik) 490. a) Begriff des privaten Verbandes Verbände lassen sich als durch eine gewisse (Binnen-)Strukturierung gekennzeichnete Zusammenschlüsse von natürlichen oder juristischen Personen charakterisieren 491. In rechtlicher Hinsicht können sie weiter eingegrenzt werden auf solche Vereinigungen, die privatrechtlich in Form rechtsfähiger oder nichtrechtsfähiger Vereine im Sinne der §§21 ff., 54ff. BGB organisiert sind. Bei diesen handelt es sich um freiwillige Personenvereinigungen, die zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks gegründet, auf Dauer angelegt, vom Wechsel der Mitglieder unabhängig und mit einer körperschaftlichen Verfassung versehen sind sowie einen Gesamtnamen führen 492. b) Die Rechtsnormen der Verbände Verbandsnormen können vereinfacht in die Satzungen und Nebenordnungen der Vereine unterteilt werden 493. Sie werden definiert als generell-abstrakte Verhaltensoder Beschaffenheitsfestsetzung, die einseitig mögliche Interessen- und/oder Wertungskonflikte mit Anspruch auf Verbindlichkeit in dem Bereich regelt, den der Verband - gegebenenfalls neben anderen Normsetzern - für sich in Anspruch nimmt 494 . 489 Ausführlich zu binnendemokratischen Konzeptionen Teubner, Organisationsdemokratie, v.a. 78 ff.; vgl. dort, 120ff., 159ff. 490 Brennecke, Normsetzung, 43, 167ff.; vgl. auch T. Groß, Kollegialprinzip, 160f. w. w.N.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 182 ff. 491 Vgl. z.B. Kohler, Vereinsordnungen, 18ff. 492 Statt vieler Edenfeld, Rechtsbeziehungen, 26f. m. w.N. Wichtig sind auch die von den privatrechtlichen Gesellschaften erlassenen Satzungen. Auch das Aktienrecht ist Verbandsrecht, vgl. nur Hopt, ZHR 141 (1977), 390 ff. Da diese aber zumeist nur der Strukturierung der inneren Ordnung der Gesellschaften dienen, bleiben sie hier außen vor. 493 Zum Anwendungsbereich Grunewald, ZHR 152 (1988), 243ff., 250f.; vgl. Kirberger, Nebenordnungen, v.a. 31 ff., 197ff.; Kohler, Vereinsordnungen, 23ff., 35ff. 494 Vieweg, Normsetzung, 31. Die von Verbänden erlassenen Normen dienen spezifischen Organisationszwecken und unterscheiden sich von formal-allgemeinen Regeln, die nur die Freiheit anderer beeinträchtigendes Verhalten verbieten, indem sie nicht nur das avisierte Re-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Generalität bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Adressierung an die Allgemeinheit; hinreichend ist es vielmehr, wenn die Verbandsnorm sich an einen erweiterbaren Adressatenkreis wendet. Die Qualifizierung als Rechtsnorm setzt weiterhin ihre potentielle Heteronomie und die Durchsetzbarkeit mittels staatlicher Zwangsmittel voraus. Nach dem Eigenanspruch des Normsetzers sollen die Adressaten an den Regelungsgehalt gebunden sein, ohne die Möglichkeit individuell-modifizierender Einwirkung zu erhalten. Durch den Beitritt unterwerfen sie sich zwar dem geltenden Verbandsrecht, zudem fehlt es an der Heteronomie jedenfalls bei der Gründungssatzung. Nicht ausgeschlossen sind hierdurch jedoch spätere Änderungen der Verbandsnormen, die mit einfacher Mehrheit beschlossen werden können und damit zumindest für einen Teil der Mitglieder heteronome Wirkungen aufweisen 495 . Insgesamt zeigt die Betrachtung verbandlicher Normen, daß es an der Austauschverträge kennzeichnenden Kooperation prinzipiell einander gleichwertig gegenüberstehender Vertragsparteien fehlt und an ihre Stelle ein stärker hierarchisch geordnetes System tritt, in dem die Subordination der Mitglieder unter das Ganze verlangt wird. Damit ist jedenfalls eine potentielle Heteronomie der Vereinsnormen anzuerkennen496. Hiervon zu trennen ist die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit. Der Regelungsgehalt unterscheidet die Verbandsnormen lediglich von solchen abstrakt-generellen Regelungen, die als bloße Empfehlungen keine BindungsWirkung beanspruchen. Für die rechtliche Verbindlichkeit ist es dagegen konstituierend, daß sich der Staat bereit erklärt, im Rahmen der gesetzlich bereitgestellten Ordnung die Durchsetzbarkeit der Vereinssatzungen auch mit Hilfe staatlicher Sanktionsmaßnahmen zu garantieren. Die Regeln der privaten Vereine bedürfen zur Erlangung rechtlicher Verbindlichkeit eines staatlichen Geltungsbefehls 497.
c) Legitimationsbedürftigkeit
und Legitimation
Eine Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen mindert in gewissem Umfange seine Stellung als alleiniger Träger der Rechtsordnung, ohne daß indes der Staat sich gelungsziel, sondern auch die Art und Weise, wie dieses Ziel zu erreichen ist, vorgeben, M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 54. 495 Nicklisch, Inhaltskontrolle, 30 m. w.N. Grunewald, ZHR 152 (1988), 251 ff., weist auf die Parallelen zwischen Vereinsordnungen und AGB hin. 496 „Vereinssatzungen entziehen sich der oft übersteigert vorgenommenen dichotomen Gegenüberstellung von ,Verträgen' und »Rechtsnormen'; es sind zwischen der Autonomie des Rechtsgeschäfts und der puren Heteronomie des objektiven Rechts angesiedelte Rechtsnormen, die insbesondere eigenen Legitimationsvoraussetzungen unterliegen; trotz beizubehaltender Trennung zwischen Rechtsnorm und Rechtsgeschäft gibt es Übergänge und Zwischenformen, und ab einem bestimmten Maß an Heteronomie kann von einem Akt der Rechtsnormsetzung gesprochen werden; diese Schwelle wird von Vereinssatzungen [...] überschritten", Taupitz, Standesordnungen, 564; vgl. Meyer-COrding, Rechtsnormen, 46f., 83 f. m. w. N.; dens., Vereinsstrafe, 43 ff. 497 F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 39, 49ff.; Wieweg, Normsetzung, 320; ebenso bereits G. Jellinek, Staatslehre, 367: Recht „kraft staatlicher Verleihung oder Anerkennung".
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hierdurch seiner Verantwortung entziehen könnte: Auch die bewußte Unterlassung der Regelung sowie die Geltungsverschaffung bedarf wie jede Form staatlichen Handelns verfassungsrechtlicher Legitimation. Diskutabel, im Ergebnis aber unzulänglich ist der Hinweis auf die lange präkonstitutionelle Existenz verbandlicher Rechtsetzung, die insbesondere auch in den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts grundrechtliche Anknüpfungspunkte fand 498 . Eine vorkonstitutionelle Tradition kann unter der Geltung des Grundgesetzes keine ausreichende Legitimation bieten; sie taugt allenfalls als ein Argument dafür, daß - sofern keine entgegenstehenden Normen in die Verfassung Eingang fanden - der Verfassungsgeber in Kenntnis des Bestehenden offenbar von dessen Weitergeltung und Zulässigkeit ausging. Angeführt wird weiterhin die zumindest partielle Offenheit der deutschen Rechtsordnung für die Möglichkeit der Inkorporation fremden Rechts. Indes geht dieser Ansatz fehl, als er über die als Beispielsnormen angeführten Art. 241, 25 GG auch auf Art. 20 III GG verweist. Die hieran gestellte Annahme der Einbeziehung des von privaten Gruppierungen gesetzten Rechts in Form des Gewohnheitsrechts499 ist nicht nur als Überstrapazierung des Wortlauts bedenklich, sondern übersieht auch, daß Gewohnheitsrecht in der heutigen rationalisierten Rechtskultur weitestgehend „Richterrecht" ist 500 . Sie vermag auch nicht zu erklären, wieso neu geschaffene Normen, die noch keine Befolgungstradition aufweisen können, bereits als rechtsverbindlich angesehen werden sollten. Richtigerweise verbleiben als Legitimationsfaktor der staatlichen Befugnis zur Zulassung privater Rechtsetzung die Grundrechte, und hier insbesondere die Art. 91 und III sowie Art. 21 GG. Diese erweisen sich insofern nicht als Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen, sondern als Rechtstitel, als Befugnisnormen, die dem Staat die einfachgesetzliche Zulassung privater Normen erlauben und damit die durch das Grundrecht verbürgten Freiheiten zu effektivieren helfen 501 . Für die Feststellung des Rechtscharakters der Verbandsnormen ist auf die Grundlagen der Verbandsautonomie502 zurückzugreifen, d. h. für die deutschen Vereine vor allem auf Art. 91 GG. Dieser ist überwiegender Ansicht zufolge seiner Rechtsnatur nach ein Doppelgrundrecht, indem von seinem Schutzbereich nicht nur der Zusammenschluß von Einzelpersonen zu Vereinigungen, sondern wegen des engen Zusammenhangs zwischen individueller und kollektiver Vereinigungsfreiheit auch die Vereinigungen selbst und dabei insbesondere deren Selbstbestimmung über ihre ei498 Ygi f. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, 511 sowie allgemein Jesch, Gesetz und Verwaltung, 112ff., 234ff. 499 Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, VI; Rn.52; F. Kirchhof Private Rechtsetzung, 511; Vieweg, Normsetzung, 145. 500 Meyer-COrding, Rechtsnormen, 70 ff. 501
F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 511 f.; Vieweg, Normsetzung, 145. Zum Begriff vgl. Vieweg, Normsetzung, 147 ff., 149: „Unter Verbandautonomie wird die vom Staat abgeleitete Kompetenz der deutschen [...] Verbände verstanden, in eigenen Angelegenheiten Normen zu setzen und anzuwenden, gegebenenfalls auch (zwangsweise) durchzusetzen". Vgl. hierzu auch Edenfeld, Rechtsbeziehungen, 26 ff. 502
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gene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte erfaßt werden 503. Nur eine solche Interpretation des Art. 91 GG als eine Bestands- und Funktionsgarantie der Vereinigungen ermöglicht die volle Wirksamkeit der individuellen Vereinigungsfreiheit ihrer Mitglieder. Ein dieser Funktionsgarantie entsprechendes Selbstbestimmungsrecht der Verbände erfaßt inhaltlich sowohl das Satzungsrecht als auch das Selbstverwaltungsrecht, also Normsetzung und Normanwendung. Diese Befugnisse kommen jedoch den Verbänden nicht originär zu, sondern sind vom Staat abgeleitet und folglich von dessen Bestimmungen abhängig. Art. 91 GG ist die Grundlage des Verbandswesens; er enthält jedoch weder eine systemwidrige Rechtsetzungsbefugnis noch überhaupt eine Entscheidung über die rechtliche Qualität der Verbandsnormen 504. Man könnte argumentieren, daß die Funktionsfähigkeit, die die Vereinigungsfreiheit fordert, die Zuerkennung der Befugnis zur /tec/zisnormsetzung verlangt. Dem Wortlaut des Art. 91 GG ist schon aufgrund seiner Unbestimmtheit hinsichtlich der möglichen Organisationsformen eine derartige rechtliche Qualifizierung nicht zu entnehmen. Es bedarf statt dessen eines gesonderten Geltungsbefehls durch den Staat als Träger der Gesamtrechtsordnung. Für den eingetragenen Verein des BGB liegt dieser Geltungsbefehl in den §§ 25,40 BGB begründet, wonach die Verfassung eines Vereins vorbehaltlich gesetzlicher Bestimmungen durch die Vereinssatzung bestimmt wird. Für spätere Änderungen der Satzung ist die Eintragung in das Vereinsregister konstitutiv 505 . „Dem Verein kommt eine selbständige Vereinsgewalt zu, die der Staat gelten läßt" 506 ; zudem ist es „im Rahmen der geltenden Gesetze Sache des Vereins [...], seine Angelegenheiten im Wege der Rechtsetzung und Selbstverwaltung eigenständig zu regeln" 507 . Der Staat ist aufgrund der grundgesetzlichen Bestimmung berechtigt und verpflichtet, eine der organisatorischen Optimierung dienliche Rahmenordnung zu etablieren. Die entsprechenden Vorschriften des BGB setzen diese allgemeine Befugnis in die Möglichkeit der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen um. Legitimatorische Kraft entfaltet daneben selbstverständlich und nicht ersetzbar der freiwillige Beitritt und die damit verbundene privatautonome Selbstbindung. Der Beitretende erklärt sich zumindest abstrakt mit der Geltung der Vereinsregeln einverstanden; es verbleibt ihm die Möglichkeit des Austritts, wenn er sich den ihm auferlegten Pflichten wieder entziehen will 5 0 8 . Ungeachtet der Tatsache, daß die 503 BVerfGE 38, 281 (302f.); 50, 290 (354 f.). Ebenfalls hierunter fallen die Zusammenschlüsse von Vereinigungen zu „Gesamt-Vereinigungen" oder „Ober-Verbänden". Anschaulich zum Streit über die Lehre vom Doppelgrundrecht die Darstellung bei Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 179 f. m. w. N. 504 Vieweg, Normsetzung, 320ff., der eine Befugnis der Verbände zur endgültigen Selbstregulierung aus dem Subsidiaritätsprinzip ableitet. 505 F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 272 ff. 506 BGHZ 13, 5 (11); 21, 370 (374f.). 507 BGHZ 29, 352 (355); 49, 396 (398 f.). 508 Ausführlich zu der - hier nicht zu erörternden - Frage nach der Einordnung der Satzung auch als Rechtsgeschäft („potentielle rechtliche Doppelqualität der Verbandsnormen") Eden-
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Vereinsmitgliedschaft im Einzelfall von so entscheidender Bedeutung sein kann, daß faktisch eine Pflichtmitgliedschaft vorliegt, ist aus rechtlicher Sicht zunächst von Freiwilligkeit auszugehen. Die mitgliedschaftliche Legitimation beschränkt sich zudem nicht auf den einmaligen Akt des Beitritts, sondern setzt sich gegebenenfalls in der Teilnahme an der vereinsinternen Willensbildung fort. d) Korporatisierung
und Kartellierung
Bedient sich der Staat privater Verbände, um Regelungslücken zu schließen oder eine größere Regelungstiefe zu erzielen, wertet er die beteiligten privaten Akteure auf und verstärkt damit Tendenzen zu Korporatisierung und Kartellierung. Der aus der Interaktion resultierenden Entlastungswirkung korrespondiert zudem eine Einschränkung des einseitig-hoheitsrechtlichen Handlungsspielraums509. Das gilt vor allem dort, wo ein verbandliches Regulierungssystem erst auf staatliche Anregung oder Anordnung hin konzipiert und eingerichtet wird. Sind erst einmal Strukturen geschaffen, folgt aus der Institutionalisierung ein „Zwang zu künftiger Kooperation" 5 1 0 , drängen die einmal etablierten Mechanismen auf weitere Verwendung. Aber auch dort, wo der Staat auf bestehende verbandliche Strukturen Zugriff nimmt, läßt sich eine ähnliche Entwicklung ausmachen. Auch hier findet eine Aufwertung der privaten Institutionen statt, die den beabsichtigten Entlastungs- in einen gefährlichen Usurpationseffekt umschlagen lassen kann. Im Einzelfall sind deshalb die Vorteile eines korporatistischen Systems gegen die möglichen damit verbundenen Steuerungsprobleme abzuwägen511. Wirksamstes Mittel zur Disziplinierung der Verbände und zum Schutz sowohl der nicht mitwirkenden privaten Organisationen als auch Dritter ist das Wettbewerbsrecht. Wenn im Rahmen staatlich-privater Kooperationsverhältnisse die Zuordnung eines Sachbereiches zum öffentlich-rechtlichen oder zum privatrechtlichen Sektor nicht zweifelsfrei ist, können sich Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben 512. Jedenfeld, Rechtsbeziehungen, 34ff.; Nicklisch, Inhaltskontrolle, 23 ff.; Wieweg, Normsetzung, 320 ff. Ablehnend Meyer-COrding, Vereinsstrafe, 47 ff. 509 Finckh, Selbstregulierung, 94 ff. Aufteilung von Märkten durch Quoten, Preisregelung, Werbebeschränkung und Verhinderung wettbewerbsverändernder Investition werden als typische Folgen von Selbstverpflichtungsabkommen bezeichnet, vgl. v.Zezschwitz, JA 1978, 505. 510 Trute, Kooperation, 48, der die Verpackungssteuerentscheidung des BVerfG, NJW 1998, 2346 insofern kritisiert, als das BVerfG dort die individualisierenden Wirkungen der Lenkungsabgabe der gemeinsamen Verantwortung in der Kooperation gegenüberstelle und „damit die Korporatisierung offenbar als das gemäße Mittel der Kooperation adelt". 511 Vgl. Finckh, Selbstregulierung, 96: „Die Entscheidung für eine regulierte Selbstregulierung ist daher nur sinnvoll, wenn diese Reduzierung des staatlichen Handlungsspielraums durch andere Vorteile, wie etwa Staatsentlastung oder verbesserte Möglichkeiten mittelbarer Einflußnahme ausgeglichen wird." 512 Zur Anwendung des Kartell Verbots auf staatlich induzierte Selbstverpflichtungen Faber, Selbstregulierungssysteme, 334 ff. Zum Verhältnis von Wettbewerbsrecht und Standesrecht M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 119 ff.
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falls dort, wo die staatliche Verantwortung weitgehend in den Hintergrund tritt und private Selbstregulierung dominiert, bestehen gegen die Anwendung des Wettbewerbsrechts wenig Bedenken513. Selbstverpflichtungen werden hierdurch nicht ausgeschlossen. Die in ihnen wirksame Betätigung wirtschaftlicher Freiheit bedarf aber staatlicher Mediatisierung. Dabei genügt es nicht, wenn der Staat auf das Einschreiten der Kartellbehörden vertraut; er muß bereits im Vorfeld auf wettbewerbsneutrale Lösungen hinwirken 514 . § 241 GWB erlaubt es allerdings Wirtschafts- und Berufsvereinigungen, für ihren Bereich Wettbewerbsregeln aufzustellen. Dabei handelt es sich gemäß Abs. 2 um Bestimmungen, die das Verhalten von Unternehmen im Wettbewerb regeln zu dem Zweck, einem den Grundsätzen des lauteren oder der Wirksamkeit eines leistungsgerechten Wettbewerbs zuwiderlaufenden Verhalten im Wettbewerb entgegenzuwirken und ein im Einklang mit diesen Grundsätzen stehendes Verhalten im Wettbewerb anzuregen 515. Die Funktion der Wettbewerbsregeln liegt dabei nicht darin, gesetzlich Bestimmtes zu wiederholen, vielmehr soll einer bewußten Ausnutzung von „Grauzonen" gesetzlicher Bestimmungen entgegengewirkt werden 516. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Anerkennung der Wettbewerbsregeln durch das Bundeskartellamt gemäß §§ 24 II, 25,26 GWB. Diese Anerkennung hat die Ausnahme vom Kartellverbot des § 1 GWB zur Folge; versagt das Amt die Anerkennung oder verzichten die Verbände auf einen entsprechenden Antrag, sind die Vereinbarungen in vollem Umfang an § 1 GWB zu messen und nur statthaft, wenn sie sich ausschließlich gegen unlauteres Verhalten im Wettbewerb richten 517 . Die Wettbewerbsregeln erlangen jedoch selbst nach ihrer Anerkennung keine Allgemeinverbindlichkeit 518.
513 Trute, Kooperation, 49 m. w. N.; vgl. dens., Verzahnungen, 213 f.; kritisch Grewlich, DÖV 1998, 56 ff. Di Fabio, JZ 1997, 974 spricht von der Erforderlichkeit einer „normativen Zurechnung". Zu wettbewerbsrechtlichen Fragen nach wie vor aktuell K.-H. Baumann, Rechtsprobleme freiwilliger Selbstbeschränkung, 32ff.; außerdem ausführlich Faber, Selbstregulierungssysteme, 331 ff.; Knebel/Wickel Michael, Selbstverpflichtungen, 224 ff.; Veite, Duale Abfallentsorgung und Kartellverbot. 514 Di Fabio, JZ 1997, 973. 515 Vgl. zum Begriff auch Emmerich, Kartellrecht, 129: „Wettbewerbsregeln sind nichts anderes als private Sammlungen von,Vorschriften' über das Verhalten der Unternehmen im Wettbewerb, wie sie grundsätzlich jedermann, wenn er Lust und Laune dazu verspürt, »aufstellen' kann". Daß sich die §§24 ff. GWB auf Untemehmensverbände bezögen, habe allein praktische Gründe. Die von Verbänden aufgestellten Wettbewerbsregeln seien keine Rechtsnormen; eine Pflicht zur Befolgung setzte eine Vereinbarung der beteiligten Unternehmen oder einen entsprechenden Verbandsbeschluß voraus. 516 Bechtold, GWB, §24 Rn.2; ausführlich Sack, WRP 2001, 595 ff. Vgl. auch Hoeren, Selbstregulierung, 232ff., 245 ff. 517 BGHZ 36, 105 (111 f.); Emmerich, Kartellrecht, 129. 518 Kirberger, Staatsentlastung, 185 m. w.N. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 6 Rn.41 spricht hingegen von der „Verbindlichkeit" der Wettbewerbsregeln.
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e) Revisibilität Die Erkenntnis, daß im Kollisionsfalle staatliches Recht privater Normsetzung vorgeht 519, läßt die Frage nach der Ausgestaltung staatlicher Verantwortung angesichts der Risiken einer unvorhersehbaren Ausübung von Verbandsautonomie unbeantwortet. Darf der Staat Verbandsautonomie vorbehaltlos gewähren? Ist er an die Ergebnisse der privaten Normsetzung gebunden oder bestehen Kontroll- und Korrekturbefugnisse? Beide Antworten erschließen sich aus der Betrachtung der Grundrechtsrelevanz der Verbandsaktivitäten. Der Verband selbst ist nicht Grundrechtspflichtiger, sondern Grundrechtsträger, steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu den von der Normsetzung betroffenen Grundrechtsträgern. Diese Abgrenzung der grundrechtlich verbürgten Positionen Privater gegeneinander obliegt dem Gesetzgeber, der berufen ist, den Grundrechten zu größtmöglicher Geltung zu verhelfen und die durch Grundrechte geschützten Freiheiten zu effektivieren. Demgemäß ist Aufgabe des Staates vornehmlich die Strukturierung des Umfeldes der Grundrechtsbetätigung. Gerade die „Vereinigungsfreiheit ist [...] auf Regelungen angewiesen, welche die freien Zusammenschlüsse und ihr Leben in die allgemeine Rechtsordnung einfügen, die Sicherheit des Rechtsverkehrs gewährleisten, die Rechte der Mitglieder sichern und den schutzbedürftigen Belangen Dritter oder auch öffentlichen Interessen Rechnung tragen" 520 . Die Verbandsautonomie steht deshalb unter dem Vorbehalt einer näheren Ausformung durch den Gesetzgeber bzw. ergänzend durch die Rechtsprechung; eine selbstdefinierte Verbandsautonomie gibt es nicht. Diesem „staatlichen Konkretisierungsvorbehalt" korrespondiert ein „allgemeiner staatlicher Kontroll- und Korrekturvorbehalt" 521, der sich aus der als eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zu verstehenden allgemeinen Justizgewährungspflicht herleiten läßt 522 . Werden Verbände zur Rechtsnormsetzung und damit zur Machtausübung ermächtigt, ist es dem Staat verwehrt, diese Normen als rechtsschutzlosen Raum zu behandeln523. Gleiches ergibt sich einfachgesetzlich aus § 242 519
F.Kirchhof, Private Rechtsetzung, 493 m. w.N.; Meyer-Cording, Rechtsnormen, 47; Viewegs Normsetzung, 136 ff., 159 ff. 520 BVerfGE 50, 290 (354); vgl. F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 512. 521 So die Formulierungen bei Vieweg, Normsetzung, 162. 522 Dagegen scheiterte ein Abstellen auf Art. 19IV GG daran, daß es sich bei privaten Verbänden - auch dort, wo sie faktisch im öffentlichen Leben eine wichtige Machtposition innehaben und öffentliche Aufgaben erfüllen - nicht um öffentliche Gewalt i. S. d. Art. 19IV GG handelt, Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. IV, Rn. 104; Schenke, in: BK, Art. 19IV Rn. 172. 523 Ausführlich Nicklisch, Inhaltskontrolle, 20 f., 23 ff. Dies gilt natürlich vor allem dort, wo ein faktisches Monopol und damit ein faktischer Zwang zur Mitgliedschaft besteht, der der Austrittsmöglichkeit ihre Kontrollfunktion nimmt. Vgl. BVerfGE 50, 290 (354 f.); Teubner, Organisationsdemokratie, 61,186,262. Weitergehend für Vereinsordnungen Grunewald, ZHR 152 (1988), 256ff., 260. Im vorliegenden Zusammenhang weniger bedeutsam ist hingegen die Frage nach der Erforderlichkeit eines Aufnahmezwangs, da es nicht um die Teilhabe an Leistungen, sondern um Regulierung geht. Insoweit besteht ein Interesse der Verbände an mög-
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BGB, denn das Mitglied unterwirft sich der Vereinsgewalt im Vertrauen darauf, daß diese im Rahmen von Treu und Glauben ausgeübt wird. Ebenso wie Vereinsstrafen unterliegen damit auch Vereinssatzungen und Nebenordnungen gerichtlicher Billigkeitskontrolle 524. Diese gerichtliche Kontrolle stellt - ungeachtet ihrer Intensität - ein effektives und erforderliches Disziplinierungsmittel privater Machtausübung dar, deren Existenz über die reaktive Wirkung als ex post erfolgende Fremdkontrolle hinaus als Anleitung zu präventiver Selbstkontrolle an Bedeutung gewinnt. 2. Das Institut der Wirtschaftsprüfer Das in Düsseldorf angesiedelte und dort in das Vereinsregister eingetragene Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) ist eine Vereinigung der deutschen Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die parallel und komplementär zur Wirtschaftsprüferkammer der Organisation und Selbststeuerung des Berufsstandes nach innen ebenso wie seiner Darstellung und Interessenvertretung nach außen dient. Zu diesem Zwecke sieht es das IDW als eine seiner Hauptaufgaben an, „für einheitliche Grundsätze der unabhängigen, eigenverantwortlichen und gewissenhaften Berufsausübung einzutreten und deren Einhaltung durch die Mitglieder sicherzustellen" 525. a) Organe des IDW Organe des IDW sind nach § 7 seiner Satzung der Wirtschaftsprüfertag als Mitgliederversammlung im Sinne des BGB, der Verwaltungsrat und der Vorstand. Dem Wirtschaftsprüfertag gehören alle ordentlichen Mitglieder des IDW an; er ist ohne Rücksicht auf die Zahl der anwesenden Mitglieder beschlußfähig. Ihm obliegen unter anderem die Wahl der Mitglieder des Verwaltungs- und des Ehrenrates sowie Änderungen der IDW-Satzung. Während sonst mit einfacher Mehrheit entschieden wird, setzen Satzungsänderungen eine qualifizierte 3/4-Mehrheit voraus. Zudem kann, sofern der Verwaltungsrat gegen einen satzungändernden Beschluß Einspruch einlegt, eine erneute Abstimmung erforderlich werden 526. Nach § 11 wird ein Ehrenrat gebildet, der insbesondere für den Ausspruch einer Mißbilligung gegenüber Mitgliedern zuständig ist und bei schwerwiegenden Verstößen dem Vorstand den Auslichst umfassender Beachtung ihrer Regelwerke. Vgl. zum Kontrahierungszwang aber Trute, Verzahnungen, 215 ff. 524 Vgl. nur Vdmdi-Heinrichs, BGB, § 25 Rn. 9,21 ff. m. w. N. Gegenüber Nichtmitgliedem kann gerichtliche Kontrolle fehlende Mitbestimmungsrechte kompensieren helfen, vgl. BGHZ 128, 93 (101); Heermann, NZG 1999, 330; Lukes, FS Harry Westermann, 340; Vieweg, Normsetzung, 343 f. 525 §2 II l b IDW-Satzung. 526 § g y m i x IDW-Satzung. Folgerichtig sind Satzungsänderungen selten. Zuletzt wurden Beschlüsse zur Satzung auf dem 21. Wirtschaftsprüfertag 1993 gefaßt.
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Schluß eines Mitglieds aus dem IDW vorschlagen kann. Außerdem wird zur gemeinsamen Erörterung grundsätzlicher Fachfragen der „Große Fachrat" eingerichtet, dem auch Vertreter der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Behörden und des Berufes angehören können, § 13. Wichtige Aufgaben können schließlich nach § 12 an Fachausschüsse delegiert werden. Dem nach § 121 zu bildenden „ständigen Hauptausschuß" ist die Erstattung von Stellungnahmen und Fachgutachten vorbehalten; insgesamt findet die Normsetzung des IDW zu großen Teilen in diesen Ausschüssen statt. Die Mitglieder der Ausschüsse werden vom Vorstand berufen; sie müssen jedoch nicht zugleich Mitglieder des IDW sein. b) Normsetzung durch das IDW Normsetzend tätig wird das IDW zum einen durch den Erlaß seiner Satzung; daneben gibt es Berufsgrundsätze heraus und verfaßt Stellungnahmen zur Rechnungslegung und Rechnungslegungshinweise, Prüfungsstandards und Prüfungshinweise. Die Satzung enthält grundlegende Anforderungen an die Mitglieder: Gemäß § 4 VIII der IDW-Satzung sind diese verpflichtet, die vom IDW herausgegebenen Grundsätze zur Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüferpraxis zu beachten und anzuwenden sowie ihre Beachtung und Anwendung durch andere Mitglieder sicherzustellen und zu überwachen. Sie müssen darüber hinaus nach Abs. 9 die von den Fachausschüssen des IDW abgegebenen Fachgutachten und Stellungnahmen beachten. Jedes Mitglied muß sorgfältig prüfen, ob die dort enthaltenen Grundsätze bei seiner eigenen Berufstätigkeit anzuwenden sind. Abweichungen sind zulässig; sie müssen jedoch schriftlich und an geeigneter Stelle hervorgehoben und begründet werden. Nach Abs. 11 sind die Mitglieder schließlich auch verpflichtet, stets ihre - insbesondere finanzielle - Unabhängigkeit gegenüber den Mandanten zu wahren und die übrigen vom IDW herausgegebenen Berufsgrundsätze zu beachten. Abs. 12 verbietet es den Mitgliedern, aus ihnen im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit offenbarten Insiderinformationen geschäftliche Vorteile zu ziehen. Außerhalb der Satzung erfolgt Normsetzung durch das IDW hauptsächlich in Form von sog. fachlichen Verlautbarungen. Diese werden seit 1998 systematisch überarbeitet; dabei werden verbindliche Verlautbarungen als IDW Prüfungsstandards bzw. IDW Stellungnahmen zur Rechnungslegung bezeichnet, Verlautbarungen mit einem geringeren Verbindlichkeitsgrad firmieren als IDW Prüfungshinweise bzw. Rechnungslegungshinweise527. Die Verlautbarungen dienen der Darlegung der Berufsauffassung und ermöglichen eine weitere Konkretisierung der gesetzlich und durch Satzungen aufgestellten Anforderungen an die einzelnen Berufsträger. Beispielsweise hat das IDW einen Entwurf eines Standards zur Qualitätskontrolle formuliert, der die Durchführung des neu eingeführten Qualitätskontrollverfahrens 527 IDW Tätigkeitsbericht 1998/99, 64, dort auch eine Aufzählung der erarbeiteten Verlautbarungen. Vgl. Wichmann, WPg 1991, 563 ff., der darauf verweist, die Fachgutachten stellten keinesfalls den Versuch des IDW dar, einseitig die GoB festzulegen.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren 528
näher strukturiert . Die Verlautbarungen des IDW werden vor ihrer endgültigen Verabschiedung als Entwurf veröffentlicht, um allen Berufsangehörigen und der interessierten Öffentlichkeit Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten529. Die so gewonnenen Anregungen fließen in die abschließende Beratung ein. Vor Beendigung des Verfahrens können die Entwürfe noch nicht für sich geltend machen, die Berufsauffassung wiederzugeben. Sie enthalten jedoch die Einschätzung der fachkundigen zuständigen Gremien des IDW und geben somit den Mitgliedern eine Orientierungsmöglichkeit, die sich in Zweifelsfällen auch zu einer Orientierungspflicht ausweiten kann. Die Verbindlichkeit der vorgenannten Normen ergibt sich nicht aus einem direkten staatlichen Geltungsbefehl. Ihre Nichtbeachtung kann aber in Regreßfällen, möglicherweise auch in einem Verfahren der Berufsaufsicht oder in einem Strafverfahren zum Nachteil des Abschlußprüfers ausgelegt werden 530. Rechtsverbindlichkeit erlangen sie zudem für die Vereinsmitglieder durch die Verpflichtung in der Satzung. Dadurch ermächtigen die Mitglieder die jeweiligen Gremien des IDW, die für sie einschlägigen Grundsätze festzulegen; Änderungen machen keine erneute Selbstverpflichtung erforderlich. Ein schwerwiegender Verstoß gegen die Pflichten nach § 4 gilt § 5 V IDW-Satzung als ein zum Ausschluß aus dem IDW berechtigender Grund. c) Internationale Harmonisierung Die Normsetzungstätigkeit des IDW ist in jüngster Zeit vor allem deshalb bedeutsam, weil das IDW als Mitglied internationaler Standardsetzungsorganisationen sowohl die Harmonisierung der Abschlußprüfung auf internationaler Ebene als auch die Umsetzung der dort gewonnenen Erkenntnisse bzw. erreichten Verhandlungsergebnisse in die deutsche Praxis vorantreiben kann 531 . Eine solche Umsetzung ist erforderlich, weil die international erarbeiteten Normen keine unmittelbar verpflich528 IDW (E) PS 140, WPg 2000, 762 ff. Lück, DB 2000, 337 hält ein Qualitätssicherungshandbuch zur Dokumentation der praxisintemen Grundsätze und Maßnahmen für erforderlich. Für einen entsprechenden internationalen Standard z.B. Mertin/Dietz, WPg 2001, 334. 5 2 9 I D W Tätigkeitsbericht 1998/99, 64; IDW, WPg 1998, 652; vgl. IDW PS 201, Rn. 13. 530 Ausführlich Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, v. a. 142ff.; vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 11.2.1993, abgedruckt in WPK-Mitteilungen 1995,210; Hopt, WPg 1986, 502; Mertin/Dietz, WPg 2001,324f.; Wichmann, WPg 1991,563; so auch IDW PS 201, Rn. 13. 531 Internationale „benchmarks" sind insoweit die International Standards on Auditing (ISA) der International Federation of Accountants (IFAC) bzw. die US-amerikanischen Generally Accepted Auditing Standards (US-GAAS). Der deutsche Gesetzgeber hat mit der Änderung der §§ 317 ff. HGB durch das KonTraG die Möglichkeit geschaffen, wesentliche rechtlich bedingte Unterschiede der deutschen Prüfungsstandards zu diesen international anerkannten Prüfungsstandards zu beseitigen und damit eine umfassende Überarbeitung der in Deutschland verwendeten Fachgutachten des IDW in Gang gesetzt, vgl. zum Ganzen Biener, FS Baetge, 639ff.; Ruhnke, DB 1999, 237ff.; Mertin/Dietz, WPg 2001, 317ff., dort, 325 dazu, daß diese Änderung nicht auf qualitativen Mängeln des deutschen Systems beruht, sondern auf internationalen Erwartungen.
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tende Wirkung für die Berufsangehörigen haben, sondern nur die Mitgliedorganisationen zur Transformation in auf nationaler Ebene anwendbare Vorschriften angehalten sind 532 . Sie vollzieht sich in einem integrativen Verfahren, in dessen Verlauf die auf Deutschland passenden Bestandteile der internationalen Standards mit den geltenden rechtlichen Vorschriften und den bisherigen Fachgutachten und Stellungnahmen zu einem neuen Standard verschmolzen werden 533. Im Ergebnis enthalten die Prüfungsgrundsätze sowohl deutsches Recht als auch - soweit damit vereinbar - internationale Prüfungsgrundsätze 534. Verbindlich sind sie allerdings nur für die Mitglieder des IDW; die oben angestellten verfassungsrechtlichen Bedenken stellen sich somit nicht. Soweit sich die Regeln des IDW auf der Ebene der Berufsausübung (Prüfungsplanung und -durchführung) bewegen, besteht auch kein Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung535. 3. D i e D V F A
Als weiteres Beispiel kapitalmarktrelevanter verbandlicher Normsetzung sind - stellvertretend für Normsetzung durch die privatrechtlichen Berufsverbände im Kapitalmarkt - die Standesrichtlinien der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management e.V. (DVFA) zu betrachten 536. Bei der DVFA handelt es sich um einen Zusammenschluß verschiedener, im Bereich der Finanzanalyse, des Portfoliomanagements und der Anlageberatung tätiger Berufsträger, der sich selbst als eine „Standesorganisation" beschreibt 537. Die Standesrichtlinien verpflichten zwar direkt nur die Mitglieder, doch setzt die Existenz eines solchen Regelwerks auch Nichtmitglieder einer gewissen Einhaltungserwartung aus. Im übri5 3 2 1 p s 201, Rn. 19,32. Auf europäischer Ebene bemühen sich die Kommission und die europäische Berufsorganisation (FEE) um eine Harmonisierung, vgl. hierzu Mertin/Dietz, WPg 2001,328 ff. 533 Ausführlich Jacob, WPg 2001, 237 ff., zum Stand der Umsetzung von ISA dort, 244 sowie Mertin/Dietz, WPg 2001, 326 f. Zum vorausgehenden „due process" der Entwicklung von ISA dort, 318 ff. 534 Jacob, WPg 2001,237 ff. Um eine bessere internationale Vergleichbarkeit und Verständlichkeit zu ermöglichen, werden die so gewonnenen IDW-Prüfungsstandards anschließend ins Englisch (rück)übersetzt (IDW Auditing Standards). 535 Vgl. Jacob, WPg 2001, 240, der eine gesetzliche Festlegung von Prüfungsziel und -gegenständ, Prüfungsrahmen (Bestellung, Unabhängigkeit, Auskunftsrechte, Widerruf etc.) und Prüfungsergebnis (Bestätigungsvermerk, Prüfungsbericht usw.) für erforderlich, aber auch ausreichend erachtet. An dieser Stelle ist noch einmal daran zu erinnern, daß wichtige Grundpflichten, die bspw. in dem Code of Ethics der IFAC behandelt werden, in Deutschland in der WPO sowie in der Satzung der WPK enthalten sind. 536 Neben den Standesrichtlinien erarbeitet die DVFA auch sog. Standards, die den Mitgliedern zur Verfügung gestellt werden und diesen Leitlinien der beruflichen Tätigkeit sowie der interessierten Öffentlichkeit Maßstäbe zur besseren Vergleichbarkeit bieten. Insbesondere die Scorecard for German Corporate Governance soll es sowohl Analysten und Investoren als auch den Unternehmen ermöglichen, im Wege einer (Selbst-)Evaluation die unternehmensindividuelle Corporate Governance zu prüfen. Vgl. hierzu DVFA Jahresbericht 2000, 12 ff. 537 DVFA Standesrichtlinien Punkt l.e).
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
gen ist die DVFA nicht etwa der einzige Verband, der in diesem Bereich selbstregulative Normsetzung betreibt. Gerade an dieser Stelle erweist sich die Pluralität der Normsetzer als Kennzeichen privater Normsetzung. Nach der Darstellung des Regelungsgehalts und des Rechtscharakters der Standesrichtlinien (a) sowie deren Durchsetzung (b) werden daher kurz parallel bestehende Regelwerke betrachtet (c). Implementationshilfe leisten dabei sowohl für die Normen der DVFA als auch für die Normen der parallel arbeitenden Normsetzer spezielle private Zertifizierungssysteme (d). Abschließend sind die positiven und negativen Auswirkungen pluraler Normsetzung gegeneinander abzuwägen (e). a) Die Standesrichtlinien
der DVFA
Bereits in der Präambel der Standesrichtlinien wird festgestellt, daß diese „aus eigener Verantwortung" formuliert worden und zur Ausfüllung der gesetzlichen Generalklauseln bestimmt sind. Der Regelungsgehalt beschränkt sich jedoch nicht auf bloße Konkretisierung; vielmehr sollen umfassend die „ethischen, rechtlichen und berufsständischen Anforderungen an die Berufsausübung" dargelegt werden. In fünf Abschnitten werden Grundsätze ordnungsgemäßer Analyse und Anlageberatung, allgemeine und spezielle Berufspflichten, Pflichten gegenüber dem Arbeitgeber und das Verhalten gegenüber dem Berufsstand geregelt. Die Berufsangehörigen werden insbesondere verpflichtet, ihren Beruf unabhängig und in ethisch einwandfreier Weise auszuüben; dabei soll Richtschnur ihres Handelns das Anlegerinteresse sein 538 . Weiterhin müssen nicht nur gesetzliche Vorschriften, Verordnungen und berufsständische Regeln befolgt werden, sondern sich die Berufsträger auch verpflichten, den Beruf nur unter Beachtung des jeweils neuesten Standes der Erkenntnisse nach Wissenschaft und Praxis auszuüben539. Die Standesrichtlinien postulieren somit Verhaltenspflichten, die einerseits gesetzliche Anforderungen konkretisieren und andererseits selbst noch ergänzungs- und auslegungsbedürftig wirken. An ihnen ist kritisiert worden, sie gingen kaum über die gesetzlichen Anforderungen hinaus und seien teilweise verwirrend formuliert. Insgesamt erweckten sie damit den Anschein, eher den Interessen der Analysten zu dienen als deren Reglementierung zum Schutze der Anleger und zum Aufbau von Reputation540. Diese Bedenken sind von der DVFA aufgegriffen und in den reformierten Richtlinien teilweise umgesetzt worden. Ein in Abschnitt 1 g) angekündigtes Handbuch, das die Richtlinien weiter konkretisieren und verdeutlichen soll, ist bislang noch nicht erschienen.
538 DVFA Standesrichtlinien Punkt l.c), 2.a). Insoweit werden auch die Unternehmen aufgefordert, Anweisungen an die Berufsangehörigen so zu formulieren, daß diese ihre Arbeit unter Wahrung der Gesichtspunkte Richtigkeit, Willkürfreiheit, Unabhängigkeit, Vollständigkeit, Stetigkeit und Vorsicht bei der Erstellung von Analysen, der Erteilung von Anlagerat und bei Anlageentscheidungen ausüben können, vgl. DVFA Standesrichtlinien Punkt 4. a). 539 DVFA Standesrichtlinien Punkt l.d). 540 v.Rosen/Gerke, Kodex, 26.
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung
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aa) Zur Erforderlichkeit eines Anforderungsprofils Gegenwärtig ist die Anlageberatung von der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie als Nebendienstleistung erfaßt und stellt eine erlaubnisfreie Tätigkeit im Sinne des KWG dar. Der überwiegende Teil der am Markt agierenden Investment- oder Finanzanalysten ist allerdings nicht selbständig tätig, sondern in einem Wertpapierdienstleistungsunternehmen angestellt, das seinerseits weitreichender gesetzlicher Regelung unterliegt. Insbesondere die in den §§31 ff. WpHG festgeschriebenen Wohlverhaltensregeln sorgen für ein Mindestmaß an Schutz für die Investoren 541. Verboten sind hiernach Empfehlungen, die nicht im Kundeninteresse stehen (sog. Churning), Empfehlungen zum Zwecke der Kursmanipulation (sog. Scalping), Eigengeschäfte in Kenntnis von Kundenaufträgen (sog. Frontrunning) sowie Mitarbeitergeschäfte in Verbindungen mit Scalping oder Frontrunning. Zusätzlicher Schutz wird durch die den Instituten gesetzlich auferlegten Organisationspflichten (sog. Compliance-Vorschriften) sowie durch deren Konkretisierung durch Richtlinien der Aufsichtsämter gewährt. Diese schreiben vor, daß keine Informationen zum Nachteil der Investoren zwischen den einzelnen Unternehmensabteilungen ausgetauscht werden (Gebot einer Errichtung sog. Chinese Walls), sämtliche Informationsflüsse zu dokumentieren sind (sog. Wall Crossing) und sog. Watch- und Restricted Lists geführt werden müssen. Die Einhaltung dieser gesetzlichen Vorschriften sowie der administrativen Konkretisierungen wird durch die in der BAFin zusammengefaßten Bundesaufsichtsämter kontrolliert 542 . Noch fehlt es aber weitgehend an gesetzlichen Vorschriften, die das verhältnismäßig neue Berufsbild des „Kapitalmarktexperten" als Informationsintermediär 543 näher ausgestalten544. Wiewohl die fachlichen und 541
Hierzu statt vieler U.H. Schneider, in: Assmann/Schneider, WpHG, §§ 31 ff. Zum Ganzen ausführlich Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten; Jerusalem, Mitarbeitergeschäfte; Junker, Gewährleistungsaufsicht, 101 ff., 202ff. Wichtige Steuerungswirkung entfalten die in den entsprechenden Arbeitsverträgen der Wertpapierdienstleistungsunternehmen enthaltenen beruflichen Verhaltensanforderungen. Hier stellt sich insbesondere das Problem, inwieweit es zulässig ist, auf die Arbeitgeber einzuwirken, entsprechende Verhaltenspflichten in ihre Arbeitsverträge aufzunehmen. An dieser Stelle ist nicht nur strittig, ob die entsprechende Verlautbarung von BAWe und BAKred rechtsverbindlich ist, sondern vor allem ist unklar, inwieweit es zulässig ist, auf diese Weise grundrechtliche Eingriffe durch die Einschaltung eines „Mittelsmannes" vorzunehmen. Jedenfalls spricht die Grundrechtsrelevanz für das Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage. 543 So die prägnante Bezeichnung bei v. Rosen/Gerke, Kodex, passim. Vgl. auch Drygala, W M 2001, 1317f., der einen gewissen Informationsvorsprung für erforderlich erachtet. Zur (notwendigen) Funktion der Finanzintermediäre näher Ekkenga, Anlegerschutz, 452 ff.; Merkt, Untemehmenspublizität, 415 ff. 544 Vgl. den Bericht der Bundesregierung zum „Grauen Kapitalmarkt", BT-Drucks. 14/1633, 8, wonach es eines staatlich verordneten Berufsbildes nicht bedarf, sondern die Interessenvertretungen (i. e. die Berufsverbände) durch entsprechende Schulung und Weiterbildung für eine verbesserte fachliche Qualifikation der Finanzdienstleistungsvermittler sorgen sollen. Als Vorbild werden die Immobilienmakler genannt. Kritisch v. Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 210f. Vgl. hierzu auch unten zur Zertifizierung. Vgl. allgemein Buchholz, Zwang zur Freiheit, 72 ff. 542
16 Augsberg
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
berufsethischen Anforderungen an die Kapitalmarktexperten in vielerlei Hinsicht mit den an Wirtschaftsprüfer, Steuerberater oder Rechtsanwälte gestellten Anforderungen vergleichbar sind, existieren auch keine im Wege der (öffentlich-rechtlichen) Selbstverwaltung erlassenen satzungsrechtlichen Bestimmungen. Das führt zu Problemen beispielsweise im sensiblen Bereich des Insiderrechts (§§ 12 ff. WpHG): Der rechtliche Status der Finanzanalysten ist im WpHG nicht festgeschrieben, ihre rechtliche Einordnung im Insiderrecht, namentlich die Frage nach ihrer Qualifikation als Primär- oder Sekundärinsider, folglich umstritten 545. Durch das Vierte Finanzmarktförderungegesetz sind nunmehr zwar weitere die Berufsausübung der Finanzanalysten betreffende gesetzliche Regelungen in das WpHG eingefügt worden 546. Dennoch ist es zu begrüßen, wenn Verbände eigene, klarstellende Regelwerke erarbeiten. Im übrigen liegen die Vorteile einer privaten Festsetzung auch hier im Zugewinn an Flexibilität, Sachverstand und Regelungstiefe 547 sowie der Möglichkeit, durch frühzeitige internationale Abstimmung Inkonsistenzen zu vermeiden. Dem korrespondiert die fehlende Allgemeinverbindlichkeit, die es notwendig macht, zwischen den Beteiligten einen breiten Konsens darüber herzustellen, daß die berufsständischen Normen als verbindlicher Standard gelten sollen.
bb) Vereinsrecht und Wesentlichkeit Dennoch ist zu fragen, ob eine berufsregelnde Normsetzung in der vorliegenden Form überhaupt durch vereinsrechtliche Regelungen erfolgen kann. Nach den Kriterien des Wesentlichkeitstheorems sind insbesondere „einschneidende, das Gesamtbild der beruflichen Tätigkeit wesentlich prägende Vorschriften" 548 allein dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Diese für öffentlich-rechtliche Satzungen entwickelte Überlegung läßt sich möglicherweise auf von einem selbst nicht grundrechtsverpflichteten privaten Satzungsgeber erlassene Rechtsnormen erstrekken, denn auch hierbei handelt es sich um grundrechtsbeeinträchtigende Rechtsetzung. Aus dem eben Gesagten ergibt sich freilich, daß die Standesrichtlinien nicht in 545 Vgl. § 131 WpHG. Das Gesetz verwendet zwar den Ausdruck „Primärinsider" nicht, der sich auch nicht in der zugrundeliegenden EU-Insiderrechtsrichtlinie findet; bereits die amtliche Begründung zum 2. FMFG unterscheidet jedoch zwischen Primär- und Sekundärinsidern, BTDrucks. 12/6679, 33 ff. Vgl. zu dieser Diskussion Claussen, AG 1997, 306 ff. sowie Eichele, W M 1997,5601 ff., jeweils m. w. N. Bisweilen wird eine gesetzliche Überregulierung behauptet und den Finanzanalysten attestiert, daß Insiderrecht dann nicht einschlägig sei, wenn analytische Arbeit nach den Berufsgrundsätzen der DVFA betrieben werde, da in diesen Fällen die Verwendung nicht-öffentlicher Tatsachen ausgeschlossen sei, so Claussen, AG 1997, 312. Ausführlich zur Informationsoffenlegung Drygala, W M 2001, 1282ff., 1313ff., v.a. 1318ff. 546 V. a. § 34 b WpHG; vgl. hierzu unten unter E. IV. 2. 547 Vgl. ebenso v.Rosen/Gerke, Kodex, 25: „Aus diesen Gründen sind spezifischere Normen auf berufsständischer Ebene sinnvoll: eine schnellere Reaktionsmöglichkeit verbindet sich hier mit der Option zu einer detaillierteren, die aktuellen methodischen Entwicklungen stärker berücksichtigenden Regelung". 548 BVerfGE 33, 125 (160).
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung
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einer derart einschneidenden und das Berufsbild prägenden Weise wirken. Sie stellen vielmehr eine Konkretisierung gesetzlich statuierter Anforderungen dar, wie sie im Normalfall jeder Berufsangehörige für sich selbst zu treffen hat bzw. wie sie in Zweifelsfällen durch die Gerichte festgestellt werden müßten. Die Berufsausübung ist unzweifelhaft auch denen möglich, die sich nicht an die von der DVFA postulierten Anforderungen halten, sondern andere Maßstäbe anlegen. Insoweit liefern die Ä/cMinien tatsächlich nur einen Verhaltensmaßstab. cc) Rechtsnatur der Standesrichtlinien Die Standesrichtlinien enthalten generell-abstrakte Normen und sollen für die Mitglieder der DVFA verbindlich sein. Ausgehend von den eingangs dargestellten Möglichkeiten der verbandsrechtlichen Rechtsetzung könnte es sich bei ihnen vereinssatzungsrechtliche Vorschriften oder um eine Nebenordnung des Vereins handeln. Als zusätzliche, nicht originär vereinsrechtliche Klassifizierung kommt eine Einordnung der Richtlinien als individuelle schuldrechtliche Verpflichtung in Betracht. Zu klären ist also, ob sich die Mitglieder den Richtlinien explizit oder implizit - durch den Vereinsbeitritt - unterworfen haben. Gegen eine Qualifizierung der Richtlinien als Bestandteil der Vereinssatzung spricht, daß sie nicht in die - erst Ende 1999 vollständig reformierte 549 - Satzung aufgenommen, sondern als separates und selbständiges Regelwerk erstellt wurden. Neben diesem formalen Trennungsargument steht einer Einordnung als Satzung auch das vorgesehene Anerkennungsverfahren entgegen, das entbehrlich wäre, könnten die Standesrichtlinien bereits als Bestandteil der Satzung Geltung beanspruchen. Es existiert darüber hinaus noch ein weiterer, inhaltlicher Unterschied zu den tradierten Rechtsnormen des Vereinsrechts: Letztere umfassen neben Organisationsnormen, die beispielsweise die Bildung und die Kompetenzen bestimmter Vereinsorgane regeln, hauptsächlich Innenbeziehungsnormen, die die Rechte und Pflichten im Innenverhältnis, also die Beziehungen der Mitglieder im Verhältnis zum Verein, regeln. Außenbeziehungsnormen dagegen betreffen u. a. die Vertretung des Verbandes sowie die Voraussetzung zur Aufnahme neuer Mitglieder. Gemeinsam ist all diesen tradierten Rechtsnormen die Bezugnahme auf den Verband. Dagegen handelt es sich bei den Standesrichtlinien der DVFA um berufsspezifische Anforderungen, deren vereinsrechtliche Regelung nicht zwingend erscheint. Denn die Standesrichtlinien sind von Bedeutung nicht nur für die Berufsangehörigen selbst, sondern auch für die von diesen betreuten Kunden, außerdem erscheint es denkbar und sinnvoll, daß sich auch Nichtmitglieder an den Richtlinien orientieren. Sofern dennoch der Anwendungsbereich der Richtlinien im wesentlichen auf den Bestand der DVFA-Mitglieder beschränkt bleiben sollte, ist dies nicht Ausdruck einer dahingehenden Intention der Normsetzer, sondern des fehlenden Einflusses auf die nicht mitgliedschaftlich organisierten Berufsangehörigen. Der Adressatenkreis 549
1*
Vgl. DVFA-Jahresbericht 1999, 5; DVFA-Jahresbericht 2000, 10.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
einer traditionellen Verbandsnorm ist seiner Natur nach auf die Mitglieder beschränkt; eine Ausdehnung über diese Personen hinaus ist selten gewollt oder sinnvoll. Dagegen erheben die Standesrichtlinien der DVFA einen weitergehenden, auf allgemeine Beachtung hin angelegten Anspruch: Sie sollen der Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben dienen und den Berufsstand auf ein den verkammerten freien Berufe vergleichbares Niveau heben. Der Verein erscheint in diesem Zusammenhang eher als „zufälliger" Normsetzer, als Zusammenschluß an einer allgemeinen Weiterentwicklung des Berufsbildes interessierter Personen550. Wenn es sich somit bei den Richtlinien nicht um einen Teil der Satzung handelt, ist zu fragen, worauf ihre rechtliche Verbindlichkeit gründen soll. Eine mögliche Antwort findet sich in § 31 der Satzung der DVFA. Demnach ist die Anerkennung der Standesrichtlinien durch die zukünftigen Mitglieder Voraussetzung einer Aufnahme in die Vereinigung. Eine zeitliche Festlegung fehlt; sinnvollerweise kann nur eine vorherige oder zeitgleich mit dem Eintritt erfolgende Anerkennung gemeint sein. Bei dieser Anerkennung handelt es sich um eine gegenüber dem Verein abgegebene Verpflichtungserklärung, was zur Folge hat, daß die Mitglieder aufgrund einer individuell angegebenen privatrechtlichen Vereinbarung gebunden sind. Ohne diese Erklärung blieben die Richtlinien bloße Empfehlungen, ein Verhaltenskatalog ohne rechtliche Verbindlichkeit. (1) Voraussetzungen der Verpflichtungserklärung Die privatrechtliche Verpflichtungserklärung muß gegenüber einem rechtsfähigen Erklärungsempfänger abgegeben werden. Ausweislich der Satzung erfolgt die Erklärung gegenüber der DVFA, die als eingetragener Verein des bürgerlichen Rechts ohne Zweifel rechtsfähig und somit auch tauglicher Erklärungsempfänger ist. Fraglich ist die Rechtsnormqualität der Richtlinien. Insbesondere die Heteronomie könnte angesichts des Erfordernisses einer individuellen Vereinbarung bezweifelt werden. Das setzte voraus, daß die Mitglieder als Normadressaten Einfluß auf den Inhalt des Regelwerks ausüben könnten, also eine echte Aushandlung vorläge. Das ist nicht der Fall, vielmehr macht § 31 der DVFA-Satzung die Anerkennung der DVFA-Standesrichtlinien zur Aufnahmevoraussetzung. Damit wird Druck ausgeübt, als davon ausgegangen werden kann, daß die Mitgliedschaft in einer die Standesinteressen vertretenden Organisation für die Berufsangehörigen Vorteile mit sich bringt. Auch der Geltung der Standesrichtlinien kann sich das Mitglied nur durch den Austritt aus dem Verein entziehen. Und wie bei der Vereinssatzung beschränkt sich seine Mitwirkung im Regelfall gleichermaßen auf die Abstimmung über die 550 Voelzkow, Private Regierungen, 219 bezeichnet die nationalen und europäischen Organisationen mit regelsetzender Kompetenz im Bereich der Technik deshalb als „parastaatliche Institutionen", da die von ihnen geschaffenen Standards Anspruch über den Kreis der Vereinsmitglieder hinaus beanspruchten und die „private Selbstordnung" mithin nicht nur die an der Aufstellung des technischen Regelwerks Beteiligten beträfe.
D. Private Rechtsetzung innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung
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Annahme der Richtlinien; er muß sich diesen auch für den Fall unterwerfen, daß er der unterlegenen Minderheit angehört. So wie die Freiwilligkeit des Vereinsbeitritts eine potentielle Heteronomie der Normen der Vereinssatzung nicht zu beseitigen vermag, verhindert somit die individuelle Anerkennung der Standesrichtlinien nicht deren potentielle Heteronomie und mithin ihren Rechtsnormcharakter. Dies erweist sich insbesondere, wenn die Standesrichtlinien geändert werden sollen. (2) Auswirkungen möglicher späterer Änderungen der Richtlinien Der DVFA-Satzung läßt sich nicht entnehmen, welche Folgen eine später erfolgende Änderung der Standesrichtlinien auf die Anerkennungserklärungen hat 551 . Normalerweise bezieht sich eine Anerkennungserklärung aus Gründen der Rechtsklarheit immer nur auf einen bestimmten Text. Dem sich Verpflichtenden muß die Reichweite seines Handelns erkennbar sein. Spätere Modifikationen der Anforderungen haben keine Auswirkungen auf den Inhalt der rechtlichen Verpflichtung. Diese Konstruktion gleicht der statischen Verweisung; sie führte dazu, daß jede Änderung der Standesrichtlinien eine erneute Einholung einer Verpflichtungserklärung bei jedem einzelnen Vereinsmitglied erforderlich machte552. Das Privatrecht gesteht indes dem Einzelnen einen größeren Spielraum hinsichtlich seiner Freiheit, sich der Willkür anderer zu unterwerfen, zu, als ihn das öffentliche Recht dem Staate hinsichtlich der Zulässigkeit der Überlassung von Rechtsetzungsgewalt über Teile oder die Gesamtheit des Volkes gewähren kann. Ein Mechanismus, in dem Vereinsordnungen auf Verbandssatzungen in ihrer jeweils gültigen Fassung verweisen, wird zwar als unzulässig erachtet, da die erforderliche Gewährleistung einer autonomen Willensbildung im Verein es verbiete, die Zuständigkeit zur Satzungsänderung einem vereinsfremden Dritten übertragen 553. Indes kann die Situation im Verhältnis zweier Satzungen zueinander nicht mit einer ErstreckungsVereinbarung zwischen dem normsetzenden Verein und einem einzelnen Mitglied verglichen werden. Hier beruht die Bindung nicht auf autonomen Normenkomplexen, sondern auf einer rechtsgeschäftlichen Einzelfallregelung, für die auf das allgemeine schuldrechtliche Instrumentarium zurückzugreifen ist 554 . § 315 BGB enthält die Möglichkeit der Bestimmung der Leistung durch eine Partei. Im Rahmen der Privatautonomie ist der Bürger auch frei, sich Verpflichtungen aufzuerlegen, deren nähere Ausgestaltung er Dritten oder dem Erklärungsempfänger überläßt. Ein gewisser Schutz liegt zwar in dem Erfordernis, daß diese Leistung „nach billigem Ermessen" auszugestalten ist. 551 Zuletzt wurde eine bereits für 1998 geplante Überarbeitung der Standesrichtlinien vor dem Hintergrund des erwarteten 4. FMFG, das entscheidende Neuregelungen für Kernbereiche der Vermögensverwaltung und -betreuung enthalten soll, zurückgestellt. 552 Wohl aus diesem Grunde fordert auch die Parallelorganisation des GAIP/AIMR von ihren Mitgliedern eine jährlich zu erneuernde Verpflichtungserklärung hinsichtlich des Code of Ethics. 553 Wieweg, Normsetzung, 345 f. m. w. N. 554 Edenfeld, Rechtsbeziehungen, 213.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
Außerdem ist eine völlige Unterwerfung nicht erforderlich, vielmehr bleibt für den Fall einer überraschenden oder unzumutbaren Änderung nicht nur die Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung, sondern auch des Austritts aus dem Verein. Im konkreten Beispielsfall ist trotzdem nicht von einer Anwendung des § 315 BGB auszugehen, da die Hauptversammlung einer Änderung der Standesrichtlinien zustimmen muß. Dies ergibt sich nicht aus der Satzung, ist aber einer Stellungnahme der DVFA zu entnehmen555. Die DVFA hat sich nicht das Recht vorbehalten, einseitig die Standesrichtlinien zu ändern, sondern stellt diese Änderungen der Mitgliederversammlung zur Abstimmung. Die hierdurch erzielte rechtliche Verbindlichkeit gleicht der einer Nebenordnung; man wird nach der Annahme der Änderungen durch die Mitgliederversammlung davon ausgehen müssen, daß durch den Verbleib im Verein auch den überstimmten Mitgliedern eine entsprechende Verpflichtungserklärung unterstellt werden kann. Einer jährlich zu erneuernden individuellen Verpflichtung bedarf es unter Zugrundelegung dieser Annahme nicht.
dd) Ergebnis Die Standesrichtlinien erhalten einen jedenfalls rechtsnormähnlichen Charakter dadurch, daß die individuelle Verpflichtung an die Mitgliedschaft in der DVFA gekoppelt ist; eine Änderung setzt keine erneute Anerkennungserklärung voraus, sondern nur die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder.
b) Sanktionierung und Revisibilität Regelmäßig sind Vereinsnormen intern sanktionsbewehrt: Typische Vereinsstrafen sind Ehrenstrafen (Verweise), Vermögensstrafen sowie als ultima ratio der Ausschluß aus dem Verein. Diese Befugnis, Vereinsstrafen auszusprechen, berührt ein sensibles Feld staatlich-privater Interaktion, denn gerade die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen wird typischerweise als eine allein staatlichen Stellen zustehende Befugnis angesehen. Dennoch erkennen die Gerichte eine selbständige Vereinsgewalt an, die der typischen Vereinsselbstverwaltung entspringen und staatlicherseits anerkannt sein soll 556 . Ihre Legitimation findet diese Vereinsgewalt in der Vereinssatzung sowie in der entsprechenden staatlichen Anerkennung und privaten Unterwerfung. Desweiteren sind der Vereinsgewalt personelle wie sachliche Grenzen gesetzt, und zumindest bei vereinsrechtlichen Disziplinarmaßnahmen, die von Monopolverbänden oder Vereinen mit überragender wirtschaftlicher Bedeutung ausgesprochen werden, ist eine volle gerichtliche Überprüfbarkeit unerläßlich 557. 555
Vgl. Entwurf der neugefaßten Standesrichtlinien, 5. St.Rspr., z.B. RGZ49,150(154f.); BGHZ 13,5ff.; 21,370ff.; 29,352ff.;49,396ff.; 87, 337 ff. Ausführlich Meyer-COrding, Vereinsstrafe. 557 Vgl. nur BGHZ 102,265 (276f.); 105, 306 (316ff.); M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 92 ff. m. w. N. 556
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Hinsichtlich verbandsinterner Revisibilität gilt, daß Schiedsurteile von Verbandsschiedsgerichten vom Staat in gewissem Umfang anerkannt werden können; sie sind dennoch nicht Teil der staatlichen Gerichtsbarkeit und bedürfen folglich auch keiner demokratischen Legitimation 558 . Die Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit findet statt dessen ihre Grundlage in der den privaten Vereinen und Verbänden vom Grundgesetz eingeräumten Autonomie zur weitgehend eigenständigen Ausgestaltung ihrer inneren Organisation. Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ist lediglich die satzungsmäßige Absicherung durch unmittelbare Aufnahme der die Verbandsgerichtsbarkeit betreffenden Normen in die Satzung oder in eine Nebenordnung, die ihrerseits satzungsmäßig verankert ist 559 . Auch hier muß es bei der Möglichkeit einer letztinstanzlichen Kontrolle durch ein staatliches Gericht bleiben. Unter dieser Voraussetzung kann der verbandsinternen Streitschlichtung eine wichtige Friedensund Entlastungsfunktion zukommen. aa) Die Ehren- und Schiedsgerichtsordnung Die Einrichtung einer Ehren- und Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen der DVFA soll Gewähr dafür bieten, daß die Einhaltung der Berufsgrundsätze durch die Berufsangehörigen einer ständigen Überprüfung unterliegt und bei Verstößen gegen die in den Standesrichtlinien niedergelegten Verhaltensanforderungen ein funktionierendes Sanktionensystem greift. Die DVFA versteht diese im Zuge der Satzungsänderung mit Wirkung vom März 2000 eingeführte Neuerung als Teil einer Neuausrichtung zu einem selbstregulierenden Berufsverband, der überprüfbare professionelle Standards vorschreibt und eine effektive Selbstkontrolle ermöglicht 560 . Der Effektivierung des damit erreichbaren Umfangs an Durchsetzbarkeit und Kontrolle soll auch die geplante Öffnung des Standesgerichts dienen, das in Zukunft auch von Dritten (inklusive Privatanlegern) in DVFA-Mitglieder betreffenden Angelegenheiten angerufen werden kann 561 . Der Anrufende hat ein Recht auf eine schriftliche Darlegung und Begründung der jeweiligen Entscheidung des Standesgerichts. Mit der Einrichtung sachkompetenter Spruchkörper, denen auch unabhängige Experten aus Judikative und Exekutive angehören 562, begegnet der Verband dabei nach eigener Einschätzung auch dem Umstand, daß „erfahrungsgemäß [...] der globaler Dynamik und Innovationskraft unterworfene Kapitalmarkt nicht zu den Kernkompetenzbereichen der in Deutschland ansässigen Gerichte und Strafverfolgungsbehör558 Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 347. Nach Ansicht des BGH sind zum Schutz des Betroffenen jedoch strenge Anforderungen an die Unterwerfung unter die Vereinsschiedsgerichtsbarkeit zu stellen, so aktuell BGH, W M 2000, 957, dazu Haas, ZGR 2001, 325 ff. 559 Vgl. Kirberger, Staatsentlastung, 197 f. 560 DVFA-Jahresbericht 2000, 10. 561 DVFA-Pressemitteilung vom Mai 2001; zuvor bereits Pressegespräch vom 11.4.2001. 562 Die Zusammensetzung erfolgte in Anlehnung an die Besetzung der Kammern für Handelssachen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit; sowohl dem Ehren- wie auch dem Schiedsgericht stehen Berufsrichter vor, §§3,4 Schiedsgerichtsordnung. Vgl. auch Hoeren, Selbstregulierung, 322 ff.
2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
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den" gehört . Das Ehrengericht sanktioniert Verstöße von Mitgliedern gegen die Berufs- und Standesrichtlinien; es kann - je nach Schwere des Verstoßes - Vereinsstrafen verhängen, die von einer Verwarnung bis zum Ausschluß aus dem Verband reichen können564. Das Schiedsgericht wurde als neutrales und unabhängiges Institut geschaffen, das sich insbesondere mit Streitigkeiten zwischen Mitgliedern sowie zwischen Mitgliedern und der DVFA sowie zwischen Mitgliedern und Dritten, die sich freiwillig der Schiedsgerichtsbarkeit der DVFA unterworfen haben, beschäftigt. Zudem ist es zuständig für die volle sachliche und rechtliche Überprüfung der Entscheidungen des Ehrengerichts 565. bb) Regelmäßige Selbstauskunft Die Selbstkontrolle fußt daneben auf der in § 5 IV DVFA-Satzung enthaltenen Verpflichtung der Mitglieder zur regelmäßigen Selbstauskunft. Alle persönlichen Mitgliedern sind demnach gehalten, im Ablauf von 24 Monaten Auskunft darüber zu erteilen, daß sie als Kapitalmarktexperten im Sinne des DVFA tätig sind, an mindestens einer Fortbildungsmaßnahme teilgenommen haben und gegen sie kein strafoder berufsrechtliches Verfahren anhängig ist oder bereits zu einer Verurteilung geführt hat. Der genaue Zeitpunkt der Erklärungsabgabe wird durch das Ehrengericht festgelegt, das auch für die gegebenenfalls erforderliche Verfahrenseinleitung zuständig ist. c) Ähnliche, parallel bestehende private Regelwerke Die DVFA hat mit ihren Standesrichtlinien nicht den einzigen Versuch einer Regulierung der beruflichen Tätigkeit der Finanzanalysten und verwandter Berufe unternommen. In Struktur wie Inhalt ähnliche Regelwerke existieren beispielsweise bei der German Association of Investment Professionals e.V. (GAIP), dem Deutschen Verband Financial Planners e.V. (DEVFP), der Vereinigung Technischer Analysten in Deutschland e.V. (VTAD) und dem Bundesverband Finanzdienstleistungen e.V. aa) GAIP/AIMR Die im September 2000 gegründete GAIP stellt die deutsche Sektion der weltweit tätigen, in ihrem Ursprung US-amerikanischen Association for Investment Management and Research (AIMR) dar. Sämtliche Mitglieder der GAIP müssen auch Mit563
DVFA-Jahresbericht 2000, 10. § 13 DVFA-Satzung. Vgl. auch die Ehrengerichtsordnung. Zum Vereinsausschluß allgemein Benecke, W M 2000, 1173 ff. 565 § i4 DVFA-Satzung. Vgl. auch § 12 der Ehrengerichtsordnung sowie die Schiedsgerichtsordnung. 564
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glieder der AIMR sein; sie sind damit insbesondere zur Anerkennung und Befolgung der von der AIMR erlassenen Ethischen Grundsätze (Code of Ethics) und der ausführlicheren Standesrichtlinien (Standards for Professional Conduct566) verpflichtet. Diese Regelwerke sind von der GAIP lediglich ins Deutsche übersetzt worden. Der Unterschied zur DVFA dürfte neben einzelnen inhaltlichen Differenzierungen (bei wesentlichen Überschneidungen567) vor allem in dieser Tatsache liegen, daß der eigentliche Normsetzer nicht ein deutscher, sondern ein ausländischer Verband ist. Natürlich steht es den in Deutschland ansässigen Analysten frei, sich auch gegenüber einem im Ausland ansässigen privaten Verband zu verpflichten. Die Legitimation der verbandlichen Normsetzung kann dann allerdings nicht mehr auf die grundrechtliche Bestimmung des Art. 9 GG gestützt werden; vielmehr ist von einer privatautonomen individuellen Unterwerfung auszugehen. Die Verpflichtung zur Doppelmitgliedschaft stellt noch keine unzulässige Preisgabe eigener Regelungsgewalt dar, denn zur Durchsetzung der Normen des Dachverbandes können weder die vereinseigenen Sanktionsmechanismen noch das deutsche Rechtssystem in Anspruch genommen werden. Bedenken bestehen aber gegen die jährlich zu erneuernde individuelle Erklärung hinsichtlich der Einhaltung der Ethischen Grundsätze und der Standesrichtlinien. Sofern sich die Vereinsmitglieder damit gegenüber der GAIP verpflichteten, die von der AIMR aufgestellten Regeln einzuhalten, käme die Verpflichtung zur Abgabe der Erklärung einer dynamischen Verweisung auf ein fremdes Regelwerk gleich 568 . Unabhängig von der rechtlichen Zulässigkeit sind auch Zweifel an der praktischen Verwendbarkeit der Regeln des AIMR erhoben worden. Von den konkurrierenden Verbänden wird ein einseitiges Abstellen auf den US-amerikanischen Markt und eine fehlende universelle Ausrichtung bemängelt. Dem wird entgegnet, daß es sich bei den AIMR-Standards um eine globale Lösung handele, die in mehr als 100 Ländern befolgt würde. Ebenso wie die DVFA bemüht sich auch die GAIP um eine aktive Durchsetzung der beruflichen Pflichten. Die AIMR hat hierzu einen Katalog von Sanktionsmaßnahmen geschaffen, der von einem nichtöffentlichen Verweis bis zum Ausschluß aus der Organisation reicht. Die Kontrolle durch die deutschen Gerichte muß sich zwangsläufig auf parallele Sanktionsverfahren der GAIP konzentrieren.
566 Ygi p u n k t 3.5 a ) , b) der Satzung der GAIP (einsehbar unter http://www.gaip.de). Hierzu existiert im Gegensatz zur DVFA bereits ein umfassendes „Standards of Practice Handbook", das im Sinne eines Kommentars die einzelnen Anforderungen näher erläutert. 567 Insbesondere ist wiederum eine Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften aufgeführt. Die oben angeführten Bedenken hiergegen gelten analog. Hinzu kommt in Grundsatz I: Allgemeine Berufspflichten A. aber noch die Pflicht, auch die Vorschriften von Fachverbänden, die die Berufstätigkeit der Mitglieder regeln, zu kennen und zu befolgen. Hier sind Konflikte vorprogrammiert, sofern diese Regeln von denen des GAIP/AIMR abweichen. 568 Zur Unzulässigkeit der dynamischen Verweisung auf eine Dachverbandssatzung Heermann, NZG 1999, 326 m.w.N.
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bb) DEVFP Der DEVFP sieht seine Hauptaufgaben in der Lizensierung von Finanzplanern, der Überwachung ihrer Berufsausübung nach den von ihm erstellten ethischen Regeln sowie der Errichtung und Pflege eines öffentlich zugänglichen Registers aller Certified Financial Planner (CFP) in Deutschland569. Er ist Mitglied im International CFP Council, einem Zusammenschluß aller weltweit bestehenden nationalen CFPOrganisationen. Alle Mitglieder des DEVFP müssen deshalb den Titel eines CFP erworben haben, was unter anderem eine strikte Befolgung der sog. „7 Gebote ordnungsmäßiger Finanzplanung" verlangt 570. Die Festlegung der Voraussetzungen der Lizensierung kann vom Vorstand einem sog. „Board of Examiners and Standards" übertragen werden; außerdem kann der Vorstand die Überwachung der Standards und die Einhaltung der ethischen Maßstäbe einem sog. „Board of Professional Review and Ethics" übertragen 571. Die Lizensierung als CFP muß in jedem Fall alle zwei Jahre erneuert werden; die Nichterneuerung führt gemäß §5.2a) der Satzung zum Vereinsausschluß. Im Falle von Klientenbeschwerden fungiert der DEVFP als Schiedsstelle mit Sanktionsmöglichkeiten gegenüber seinen Mitgliedern. cc) VTAD Die VTAD hat als „Standesorganisation der technischen Analysten in Deutschland" für ihre Mitglieder Verhaltenspflichten „auf Basis" des Code of Ethics der USamerikanischen Market Technicians Association (MTA) formuliert. In diesen werden u. a. die Verpflichtung zur Kompetenz, Integrität sowie das Verbot für Analysten, aufgrund der technischen Analyse vor ihren Arbeitgebern oder Kunden zu handeln, statuiert. Der Analyst soll weiterhin nicht nach Insiderinformationen suchen oder diese ausnutzen, wenn er damit die für ihn geltenden Gesetze oder Bestimmungen verletzte. Diese Grundsätze sind aufgrund der fehlenden Sanktionsbewehrtheit kritisiert worden; außerdem seien sie lediglich als Soll-Vorschriften formuliert, was ihre Verbindlichkeit weiter einschränke 572. Hinsichtlich der Ausrichtung an einem ausländischen Regelwerk gelten die für die GAIP angeführten Bedenken, denn auch wenn keine automatische Übernahme des Code of Ethics vorgesehen ist, handelt es sich de facto um eine bloße Übersetzung der amerikanischen Standards. Fachlich tritt im Falle der VTAD erschwerend hinzu, daß sich die MTA ausdrücklich selbst als „national association" beschreibt, die international ebenso wie die VTAD Mit569 Die folgenden Angaben sind der Homepage des DEVFP entnommen und abrufbar unter http://www.devfp.de. 570 § 3 DEVFP-Satzung. Verlangt werden: Vollständigkeit, Vernetzung, Individualität, Richtigkeit Verständlichkeit und Dokumentationspflicht. Femer ist die Einhaltung der Berufsgrundsätze (Integrität, Vertraulichkeit, Objektivität, Neutralität, Kompetenz und Professionalität) obligatorisch. 571 § 10 DEVFP-Satzung. 57 2 v. Rosen!Gerke, Kodex, 29.
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glied der International Federation of Technical Analysts (IFTA) ist. Die Übernahme ausländischer nationaler Vorschriften sollte daher zumindest nur nach einer sorgfältigen Überprüfung auf die Konformität mit deutschem Recht erfolgen. dd) Bundesverband Finanzdienstleistungen Auch der Bundesverband Finanzdienstleistungen hat Standesrichtlinien ausgearbeitet 573 , die in ihrem Umfang hinter denen der DVFA oder des AIMR zurückbleiben, aber ebenfalls die Grundanforderungen der Unabhängigkeit, Kompetenz und Verantwortung enthalten. Die Verpflichtung zur Einhaltung der Standesrichtlinien ist gemäß §4 S. 1 der Satzung Voraussetzung der Mitgliedschaft, so daß von einer den DVFA-Standesrichtlinien vergleichbaren rechtlichen Verbindlichkeit auszugehen ist. d) Private Zertifizierung Kennzeichen der verbandlichen Regulierung beruflicher Aktivitäten mit Kapitalmarktbezug ist neben der eigentlichen Normsetzung die Implementationshilfe mittels eigens geschaffener Zertifizierungsmechanismen. In der Finanzdienstleistungsbranche werden eine Fülle von Titeln und Berufsbezeichnungen verwendet, die in der Regel nicht gesetzlich geschützt sind. Sie sind auch kein Indiz für eine fundierte Ausbildung und besondere Qualifikation; staatliche Ausbildungsgänge oder staatliche Mindestanforderungen fehlen. Abhilfe schaffen sollen verschiedene, von den unterschiedlichen am Markt agierenden berufsständischen Vereinigungen bzw. deren internationalen Dachorganisationen geschaffene Anforderungsprofile und die entsprechenden professionellen Bezeichnungen. Die rechtliche Erfassung dieser Mechanismen wird dadurch erschwert, daß eine einheitliche Terminologie sich bisher nicht durchsetzen konnte. Ausgehend von der einheitlichen Funktion der Programme wird hier davon ausgegangen, daß auch dort, wo ein „Gütesiegel" als Akkreditierung, Lizensierung oder Diplom firmiert, nichts anderes gemeint ist als eine Prüfung anhand zuvor aufgestellter Kenntnisstandards bzw. Verhaltensanforderungen. Es wird daher an der einheitlichen Bezeichnung Zertifizierung festgehalten 574.
573
Im Internet abzurufen unter http://www.fifa.de . Zuständig ist gem. §§9, 10, 11 der Vereinssatzung der Beirat, ein aus mindestens 5 besonders sachkundigen, auf Vorschlag des Vorstands von der Mitgliederversammlung gewählten Vereinsmitgliedern bestehendes Gremium. 574 Sofern im folgenden dennoch andere Bezeichnungen verwendet werden, ist dies das Resultat der Übernahme der verbandseigenen Diktion, ohne daß dies zu inhaltlichen Differenzierungen führte.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
aa) Grundgedanke und Funktionen der Zertifizierung Zertifizierung bedeutet zunächst nichts anderes als eine Konformitätsbescheinigung, mit der einer bestimmten Person oder einem bestimmten Unternehmen attestiert wird, sich in Übereinstimmung mit zuvor aufgestellten Anforderungen zu verhalten 575 . Dabei lassen sich vier an der Zertifizierung beteiligte Gruppen unterscheiden: Erstens die Zertifizierten, also diejenigen, die an der Erlangung eines Zertifikats interessiert sind und sich zu diesem Zweck einer Prüfung unterwerfen. Zweitens die diese Prüfung durchführenden und auch das Zertifikat erteilenden Zertifikateure 576. Drittens die Regelsetzer, die den Maßstab für die Erteilung eines Zertifikats erarbeiten und damit sowohl den Zertifizierten als auch den Zertifikateuren eine Handlungsanleitung liefern. Viertens schließlich kommt es auch darauf an, wer für die Erforderlichkeit einer Zertifizierung verantwortlich ist. Eine Personenidentität zwischen der zweiten, dritten und vierten Gruppe ist dabei nicht ausgeschlossen, vielfach wird jedoch eine Arbeitsteilung zu beobachten sein. Zertifizierungssysteme erfüllen unterschiedliche Funktionen: Sie können zum einen für bestimmte Verhaltensweisen zur gesetzlich zwingenden Voraussetzung werden 577 oder Voraussetzung staatlicher Förderung sein 578 . Weiterhin können gesetzlich freiwillige Zertifizierungssysteme vorgesehen sein, um das Verbrauchervertrauen zu stärken. Die staatliche Ingerenz kann in einer ausdrücklichen unmittelbaren Verpflichtung zur Einrichtung und Unterhaltung eines Zertifizierungssystems liegen. Sie kann auch indirekt wirken, indem etwa die Zertifizierung als regelmäßiger Haftungsausschluß gewertet wird. Möglich wäre auch eine informelle staatliche „Anregung", in der die Zertifizierung als eine Möglichkeit der Selbstregulierung vorgeschlagen wird, gegebenenfalls verstärkt durch die Androhung der direkten Anordnung. Die Installierung der Zertifizierungsregeln im Bereich der Finanzdienstleistung erfolgt bislang ohne eine wie auch immer geartete staatliche Einflußnahme; die Beziehungen zwischen den einzelnen Beteiligten sind rein privatvertraglicher Natur. Die Entscheidung der Partizipanten über die Teilnahme an einem Zertifizierungsprogramm ist zumindest insoweit freiwillig, als sie nicht korporativem Druck 575
Vgl. z. B. Di Fabio, Normung und Selbstüberwachung, 25: Vorgang der Erteilung eines Prüfzeichens, einer Approbation oder einer Zulassung. 576 Diese müssen zum Teil ihrerseits akkreditiert sein. 577 Beispielsweise ist die Zertifizierung ein wichtiges Element des Europäischen Produktsicherheitsrechts. Vgl. ausführlich H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, passim. Vgl. auch Voelzkow, Private Regierungen, 202 ff. 578 So die Konzeption im Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen (AltZertG), BGB1.I 2001, 1322ff. Gemäß dessen §3 kann die Zertifizierung, die nach §2 grundsätzlich Aufgabe des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen (BAV) ist, auch auf private Zertifizierungsstellen übertragen werden, die als Beliehene agieren. Da ausdrücklich Gegenstand der Zertifizierung nur die formalen Vorgaben des § 11, II AltZertG sind (vgl. § 1 III), nicht jedoch die wirtschaftliche Tragfähigkeit, Erfüllbarkeit der Zusagen und die zivilrechtliche Wirksamkeit (§2111), werden die Privaten insoweit nicht in die Lage versetzt, selbst Kriterien aufzustellen.
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durch die Berufsverbände bzw. wirtschaftlichem Druck durch den Markt ausgesetzt sind 579 . Jedenfalls liegt kein Fall eines staatlich oktroyierten Zertifizierungssystems vor. Auch eine Zusammenarbeit mit dem DIN oder dem Deutschen Akkreditierungsrat (DAR), die für Konvergenz mit den gesetzlich vorgeschriebenen Zertifizierungssystemen sorgen könnte, existiert bislang nicht. (1) Zertifizierung als Wettbewerbsfaktor bzw. Sanktionsinstrument im Innenverhältnis In Abwesenheit einer gesetzlichen Verpflichtung stellt sich die Frage nach der autonomen Motivation zur Errichtung eines Zertifizierungssystems. Im Innenbereich der Verbände ermöglicht die Zertifizierung es einerseits den Mitgliedern, sich durch besondere Qualifikationsmaßnahmen aus der Masse der Berufsträger herauszuheben und Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Der Nachweis spezieller Kompetenz und Zuverlässigkeit kann als Werbemaßnahme berufliche Vorteile insbesondere dort mit sich bringen, wo einem erheblichen Informationsbedürfnis auf Seiten der Kunden eine fehlende oder nur punktuelle staatliche Vorgabe von Qualifikationsmerkmalen korrespondiert. Teilweise ist die Zertifizierung zudem Voraussetzung der Mitgliedschaft in einem Berufsverband und damit auch der Mitgestaltung an der Weiterentwicklung der professionellen Standards. Auf der anderen Seite erhalten die die Zertifikate erteilenden Verbände ein zusätzliches Kontroll- und Disziplinierungsinstrument. Sie sind damit befähigt, selbst in wesentlichem Ausmaße an der Ausgestaltung der Voraussetzungen zur Berufsausübung teilzuhaben. (2) Zertifizierung als Anhaltspunkt für Anleger im Außenverhältnis Gleichzeitig liegt die Zertifizierung im Interesse der Investoren, denen sie einen Anhaltspunkt für die Wahl eines verläßlichen Partners liefert. Im Gegensatz zu den Standesrichtlinien zielt sie nicht primär auf die Einhaltung berufsspezifischer Verhaltensstandards, sondern dient zunächst als Nachweis eines bestimmten Maßes an fachlicher Qualifikation. Dennoch wäre es falsch, eine Zuordnung dergestalt vorzunehmen, daß die Standesrichtlinien die ethischen, die Zertifizierungsregeln hingegen die sachverständigen Anforderungen zu standardisieren suchen. Mit der Zertifizierung ist im Regelfall auch eine Anerkennung der unterschiedlichen Berufsregeln 579 Vgl. diesbzgl. auch Buchholz, Zwang zur Freiheit, 70: Selbstkontrolle zur Imagepflege bietet sich für Wirtschaftsverbände vor allem in drei Fällen an: 1. wenn der Zweig, den sie vertreten, sui generis einen ausgeprägten Öffentlichkeitsbezug hat (wie etwa die Werbung oder Presseerzeugnisse), 2. wenn eine Wirtschaftssparte durch besondere Anlässe oder Maßnahmen vorübergehend in das öffentliche Interesse gerät, 3. wenn Fehlverhalten oder Versäumnisse in einem Wirtschaftsbereich von solchem Gewicht für die Allgemeinheit sein (oder werden) können, daß die öffentliche Meinung rasch mobilisierbar und eine Staatsintervention (daher) leicht erreichbar ist".
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verbunden; sie zielt über die Dokumentation von Fachkompetenz hinaus auch auf die persönliche Integrität der Zertifizierten. Dieser doppelten Statuierung von Anforderungen bedarf es vor allem im Außenverhältnis. Beide Aspekte sind für die Kunden bei der Wahl eines Partners zur Anlageberatung, Finanzanalyse oder einer verwandten Tätigkeit von großer Bedeutung, denn die Vermögensbetreuung verlangt ein Höchstmaß an Vertrauen sowohl in die fachlich-kognitiven Fähigkeiten als auch die persönliche Integrität des Berufsträgers. Eine Abstufung kann nicht vorgenommen werden - ein Abwägen Kompetenz gegen Integrität ist unrealistisch, da jeder Kunde selbstverständlich ein Optimum an beidem erwartet. Dementsprechend ist es sinnvoll, mittels einer einheitlichen Bezeichnung sowohl die Einhaltung der professionellen Verhaltensstandards als auch die erforderliche Fachkunde nachzuweisen.
bb) Zertifikate Ein einheitliches Zertifizierungssystem hat sich bislang nicht durchsetzen können; die Pluralität der Verbände bedingt eine Mehrzahl von Titeln. Dabei steht regelmäßig die Zertifizierung in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in dem jeweiligen nationalen bzw. internationalen Verband.
(1) DVFA Da die Berufsbezeichnungen Investmentanalyst, Portfolio- oder Asset Manager gesetzlich nicht geschützt sind, wird von der DVFA die Mitgliedschaft in der DVFA als ein Gütesiegel der Branche der Finanzanalysten angesehen580. Tatsächlich setzt diese bereits bestimmte berufstypische Qualifikationen voraus: Gefordert werden neben einer mindestens dreijährige Berufspraxis eine berufsspezifische Qualifikation wie das DVFA-Diplom oder vergleichbare Abschlüsse581. Das von der DVFA selbst durchgeführte Ausbildungsprogramm führte bislang zu zwei Titeln: Dem nationalen Investmentsanalyst/DVFA und dem europäischen Certified EFFAS Financial Analyst-Diplom (CEFA) 582 . Aufgrund der fortschreitenden weltweiten Integration der Finanzmärkte hat die EFFAS 2000 ein umfangreiches Restrukturierungsprogramm beschlossen, welches unter anderem eine Übertragung der bisherigen 580
Vgl. DVFA-Jahresbericht 2000, 8: „das differenzierende Qualitätsmerkmal in der Öffentlichkeit". sei Ygi § 3 DVFA-Satzung. Alternativ kann die Mitgliedschaft auch nach sechsjähriger Berufspraxis sowie dreijähriger Mitgliedschaft als assoziiertes Mitglied und dem Nachweis einer von der DVFA anerkannten Qualifikation erworben werden. 582 Bei der EFFAS handelt es sich um einen Zusammenschluß 15 verschiedener europäischer Berufsverbände: Neben Deutschland, das durch die DVFA vertreten wird, sind dies Belgien, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, und Ungarn. Daneben gehören der EFFAS Polen, Rußland und die Ukraine als assoziierte Mitglieder an, DVFA-Jahresbericht 2000, 32.
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Aus- und Weiterbildungsfunktion auf die Association of Certified International Investment Analysts (ACIIA) vorsieht. Letztere verleiht in Zusammenarbeit mit ihren nationalen Partnern (in Deutschland die DVFA) das Diplom eines Certified International Investment Analyst (CIIA) 5 8 3 . Das CIIA-Diplom stellt eine Besonderheit dar, als es als internationales „Aufbau-Diplom" konzipiert ist, das als Zugangsvoraussetzung das CEFA- oder ein von der ACIIA anerkanntes vergleichbares (nationales) Diplom 584 verlangt. Begründet wird diese Strategie damit, daß die Globalisierung einerseits weltweit universell einsetzbare Kenntnisse verlange, andererseits aber der lokale, regionale oder nationale Kontakt hierdurch vielfach weniger an Bedeutung verliere als gewinne585. (2) GA1P GAIP/AIMR verleihen den Absolventen der von ihnen durchgeführten Kurse den Titel eines Chartered Financial Analyst (CFA). Dabei agiert die GAIP als lokale Mitgliedgesellschaft der AIMR, die auch die Voraussetzungen für die Erlangung des CFA festlegt. Das CFA-Diplom hat die längste Tradition unter den vorgestellten Zertifizierungsmechanismen, es wird in ähnlicher Form in den USA bereits seit 50 Jahren verliehen. Die Erlangung des Titels des CFA ist nicht Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der GAIP/AIMR; umgekehrt setzt das Tragen des Titels jedoch die Mitgliedschaft voraus. (3) DEVFP Der DEVFP bietet ein Zertifizierungsprogramm unter der Bezeichnung Certified Financial Planner (CFP) an. Voraussetzung zur Erlangung dieses Titels ist entweder das Absolvieren eines akkreditierten Studienprogramms 586 oder das Bestehen des 583 Die Ausbildungs- und Examensinhalte des CIIA werden von einem „International Examination Committee (IEC)" festgelegt, das auch die nationalen Examensdurchführungen überwacht. Betont wird die „weltweite demokratische Kooperation der nationalen Berufsverbände" und die Eigenverantwortlichkeit und Souveränität der etablierten Mitgliedverbände respektierende dezentrale Struktur des ACIIA, vgl. DVFA, CIIA-Broschüre, 36. 584 Als ein solches sieht die DVFA auch den Titel eines CFA an, vgl. DVFA, CIIA-Broschüre, 36. In Zusammenhang hiermit steht die Aussage, daß der CIIA es den Berufsangehörigen ermögliche, „eine international anerkannte Qualifikation zu erlangen, ohne sie zu verpflichten, einer fremden Organisation zwangsweise anzugehören und sich deren nationalstaatlich bestimmten Vorschriften und Regularien zu unterwerfen.", DVFA, CIIA-Broschüre, 37. 585 Die DVFA weist in ihrer Broschüre zum CIIA-Diplom, 37 Fn. 3 daraufhin, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen insbesondere im Bereich der Berufsausübung nationalstaatlich geprägt sind. Daher zeige die Erfahrung, daß internationales bzw. europäisches Recht mit dem nationalen US-amerikanischen Recht weitgehend weder kompatibel noch vereinbar sei. 586 Akkreditiert sind derzeit die European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel sowie die Hochschule für Bank Wirtschaft (HfB), Frankfurt a.M., vgl. FAZ vom 5.3.2001,33. An der EBS finden auch die von der DVFA veranstalteten Ausbildungsseminare zum CIIA statt; al-
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sog. Challenge-Exams587. Die Zertifizierung beruht auf einem sog. Vier-SäulenKonzept: Qualifizierende Ausbildung (inklusive der Verpflichtung zu ständiger Weiterbildung), umfangreiche Prüfungen, langjährige Erfahrung in der Finanzdienstleistungsbranche sowie die strikte Einhaltung ethischer Regeln588. Das CFPProgramm beruht auf den vom International CFP Council vorgegebenen Anforderungen, was der Zertifizierung internationale Anerkennung sichert. Der DEVFP ist Mitglied in diesem Council. Die einzelnen Ausbildungsinhalte werden von den nationalen Mitgliedgesellschaften den jeweiligen Bedürfnissen angepaßt; dabei wird jedoch auf internationale Konvergenz geachtet. (4) VT AD Die VTAD bietet ihren Zertifizierungsmechanismus in Zusammenarbeit mit der Dachorganisation IFTA an. Nach erfolgreichem Abschluß einer dreistufigen Prüfungsfolge erhalten die Absolventen ein Diploma of International Technical Analysis (DITA). Dieses lehnt sich an den Chartered Market Technician (CMT) der amerikanischen MTA an, weist jedoch stärkere internationale Bezüge auf. Gegenstand der Prüfungen sind nicht nur fachlich-technische Fähigkeiten, sondern auch ethische Problemstellungen und Kenntnis des internationalen Marktgeschehens. cc) Anforderungen an Zertifizierungssysteme In Abwesenheit gesetzlicher Standards übernehmen die bezeichneten privaten Vorgaben eine Aufgabe, bei der in nahezu idealtypischer Weise die Interessen der selbstregulierenden Gruppen, nämlich der Berufsträger und ihrer Vereinigungen, die sich durch die Zertifizierung wettbewerbliche Vorteile bzw. verstärkten Einfluß auf die Gestaltung des Berufsbildes erhoffen, mit den Interessen der Allgemeinheit, namentlich den Individualinteressen der Vertragspartner, aber auch dem gesamtstaatlichen Interesse an der Allokationsfähigkeit des Kapitalmarktes, der aufgrund seiner Komplexität verläßlicher Informationsintermediäre bedarf, übereinstimmen. Trotz dieser günstigen Ausgangssituation ist nach der Erforderlichkeit rechtlicher Vorformung dieser Mechanismen zu fragen. Für die Zertifizierung durch die sog. Benannten Stellen im Produktsicherheitsrecht ist von H. C. Röhl die Fundierung im nationalen wie im europäischen öffentlerdings stellt die DVFA die Referenten, eine Akkreditierung der EBS liegt insoweit gerade nicht vor. 587 Personen mit außergewöhnlich fundierten Kenntnissen im Bereich Financial Planning soll hiermit die Möglichkeit eröffnet werden, ohne den Besuch eines akkreditierten Studienprogramms ihr Fachwissen direkt in einem Berufsexamen darlegen zu können. Die Anforderungen hinsichtlich der Erfahrung sowie der Anerkennung der ethischen Standards sind jedoch dieselben. 588 Auch als 4-E-Regel bezeichnet: Education, Examination, Experience, Ethics.
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liehen Recht und damit die Bindung an demokratische und insbesondere rechtsstaatliche Erfordernisse herausgearbeitet worden 589. Auf der Basis seiner Einordnung der durch Private gebildeten Benannten Stellen als Elemente einer „neuen Europäischen Verwaltungsstruktur" befindet er, daß für die Zertifizierung die strengen, an staatliche Verwaltung zu stellenden demokratischen und rechts staatlichen Anforderungen beachtet werden müssen. Diese Überlegungen können naturgemäß für die freiwillige, nicht in staatliche Verwaltungsstrukturen eingebundene Zertifizierung der Finanzintermediäre nicht in demselben Maße Geltung beanspruchen. Unabhängigkeit und Sachverstand bei der Normierung bzw. der Kontrolle und Durchführung der Zertifizierung sind aber nicht nur aus rechtlicher Sicht zu fordern, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive unabdingbare Voraussetzung vertrauenswürdiger Zertifizierung. Komplizierter sind die grundrechtlichen Dimensionen privater Zertifizierung. Während eine staatliche Berufsregelung den strikten Bindungen des Art. 121 GG unterläge, sind die privaten Verbände hieran nicht gebunden. Auch soweit sie als Zertifizierungsstellen fungieren, sind sie nicht dem staatlichen Bereich zuzuordnen, insbesondere liegt keine Beleihung vor 590 . Ihre Kompetenzen gegenüber den Zertifizierten beruhen nicht auf der Wahrnehmung staatlicher Machtbefugnisse, sondern auf freiwilliger Unterwerfung. Es gilt das Prinzip der Privatautonomie, eingeschränkt nur unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte 591. Angesichts der vertraglichen Beziehung zwischen Zertifikateur und Zertifiziertem dürften die Ergebnisse einer mittelbaren Drittwirkung sich jedoch weitgehend den über eine direkte Grundrechtsbindung erzielten Rechtsfolgen annähern 592. Ist Grundrechtsschutz über die staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der Ausgestaltung der Rechtsordnung zu gewährleisten 593, kann bei Vorliegen einer bewußten staatlichen Zurückhaltung hinsichtlich der Regelung eines Teilbereiches unter Umständen dem Staat das Handeln in die Lücke tretender privater Organisationen oder Individuen zugerechnet werden 594. Mit der Zertifizierung wird auf das Berufsbild in einer Weise eingewirkt, die als erheblicher Eingriff in Art. 121 (jedenfalls als Be589
H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, insbesondere 79 ff. Zur Erforderlichkeit eines das Beleihungsverhältnis begründenden Beleihungsakts durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes statt aller Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 58. Ein Beispiel einer entsprechenden Beleihung findet sich jetzt in § 3 AltZertG. 591 Vgl. dazu nur Wieland, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 12 Rn. 59; allgemein Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, Vorb. Rn.59ff.; T. Koch, Grundrechtsschutz, 436ff.; Rüfner, GS Martens, 215ff. 592 So auch H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 80 f. hinsichtlich des Verhältnisses der Benannten Stellen zu den Herstellern im Produktsicherheitsrecht. 593 Vgl. nur Schoch, VVDStRL 57 (1998), 206ff. Verlangt wird ein aktives staatliches Tätigwerden, das auf ein kompliziertes Geflecht kollidierender Grundrechtspositionen trifft und dabei einen Ausgleich zu schaffen hat, der über den bloßen Schutz des sozial Schwächeren vor dem sozial Stärkeren hinaus eine allgemeine Abgrenzung und Zuordnung grundrechtlicher Rechtspositionen ermöglicht, dort, 207. 594 Vgl. BVerfGE 10, 302 (327). 590
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Augsberg
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
rufsausübungs-, möglicherweise bereits als Berufszulassungsregelung 595) gewertet werden könnte. Sofern die Zertifizierung auf staatlicher Ingerenz beruhte, wäre an dieser Stelle daher nach den Anforderungen zu fragen, die an die Rechtfertigung einer staatlichen Regelung zu stellen wären (Alternativprüfung) 596. Den hier behandelten Zertifizierungssystemen liegt aber keine staatliche Anordnung zugrunde, sondern sie beruhen auf freiwilliger Subordination unter die Herrschaft eines Privatrechtssubjekts. Das Postulat, für die Grundrechtsausübung wesentliche Entscheidungen nur dem parlamentarischen Gesetzgeber zu erlauben, kann im Verhältnis zu freiwillig begründeten Selbstbeschränkungen, die keinerlei Auswirkungen auf schutzwürdige Dritte haben, keine Beachtung beanspruchen. Erst recht gilt dies dort, wo Dritte von einer Regelung sogar profitieren. Die Wahrnehmung der staatlichen Schutzpflicht muß sich deshalb darauf beschränken, das Umfeld der privaten Regulierung zu beobachten und bei strukturellen Ungleichgewichten den regulatorischen Rahmen des (Sonder-)Privatrechts entsprechend anzupassen. e) Pluralität der Regelwerke und Zertifikate Eine andere Frage ist, inwieweit die Pluralität der Normen und Zertifizierungssysteme den Erfolg der Selbstregulierung in Frage stellt. Denn die Vorteile einer nachgeprüften Qualifikation und besonderen Verantwortlichkeit, die Rückschlüsse auf die Qualität der Arbeit zulassen, werden durch die Tatsache geschmälert, daß es an einem verläßlichen, einheitlichen Regelwerk und einem darauf bezogenen Zertifizierungssystem fehlt. Die vorgestellten Verbände stehen zwar nicht in einem direkten Konkurrenzverhältnis in dem Sinne, daß sie alle dieselbe Gruppe von Berufsträgern erfassen. Es bestehen jedoch Überschneidungsbereiche, in denen Normsetzung und Zertifizierung im Wettbewerb stehen.
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Wenngleich fraglich ist, ob die bloße Zertifizierung tatsächlich zur Schaffung eines neuen Berufsbildes führt, ist diese Möglichkeit angesichts der Unklarheiten hinsichtlich der Tätigkeiten der „Kapitalmarktexperten" nicht von vornherein auszuschließen. Da keine objektiven Schranken bestehen, insbesondere nicht von einer Begrenzung auf eine bestimmte Größe ausgegangen werden kann (im Gegenteil versuchen die für die Zertifikate verantwortlich zeichnenden Verbände jeweils möglichst viele Absolventen zu gewinnen - ein Ausfluß des regulativen Wettbewerbs), und die Erlangung des Zertifikats mithin von in der Person des Bewerbers liegenden Umständen abhängig ist, könnte es sich nur um eine subjektive Berufszulassungsregelung handeln. 596 Dabei kann Verunsicherung auf Seiten der Investoren allein nicht ausreichen, um weitreichende Eingriffe in Art. 121 GG zu rechtfertigen, zumal sich die immanenten Risiken des Kapitalmarktes auch mit strengsten Ausbildungsanforderungen nicht gänzlich eliminieren lassen.
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aa) Qualitätswettbewerb Alle dargestellten Regelwerke und Zertifizierungssysteme nehmen für sich in Anspruch, höchste fachliche mit strengsten ethischen Maßstäben zu verbinden und gleichzeitig in einem zunehmend grenzenlosen Markt weltweite Anerkennung zu garantieren. Eine klare Aussage darüber, inwieweit sich die Unterschiede in den Programmen auf ihre Gesamtqualität auswirken, setzte einen umfassenden Vergleich voraus, der im Rahmen dieser Untersuchung nicht geleistet werden kann. Allerdings ist Kritik entgegenzutreten, die freiwilligen Normsetzungs- und Zertifizierungsmechanismen vorhält, zu Zersplitterung zu führen und damit kontraproduktiv zu wirken 597 . Die Vielfalt birgt nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Gerade in Bereichen, die noch weitgehend (staatlich) unreglementiert sind, kann es erforderlich oder doch sinnvoll sein, unterschiedliche Regelungsmodelle auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen. Für die Kunden ergeben sich zudem klare Vorteile, wenn die Wettbewerbssituation zwischen den regelsetzenden Organisationen dazu führt, daß diese mit jeweils strikteren Anforderungen Vertrauen zu gewinnen suchen. Solange der Wettbewerb somit zu mehr Anlegerschutz durch restriktivere Berufsregeln, höhere Ausbildungs- und Transparenzanforderungen und Dokumentation dieser Qualifikationen durch spezielle Zertifizierungen führt, ist die Pluralität zu begrüßen. Sie kann schließlich durch verbandliche Spezialisierung auch eine Fokussierung auf Teilaspekte befördern, die in einem größeren Zusammenschluß unbehandelt blieben. Gefahren resultierten weniger aus der Pluralität der Normsetzer als vielmehr aus einem potentiellen Zusammenwirken im Sinne einer Einigung auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner" 598 .
bb) Informationslücke contra Erwartungslücke Ein entsprechender Qualitätswettbewerb setzt informierte Anleger voraus. Verbandliche Selbstregulierung und Zertifizierung sind auf die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit angewiesen. Diese agiert als wichtiger Kontrollfaktor, denn nur wenn die angenommene Stärkung der Wettbewerbsposition sich am Markt erweist, werden die Verbände weiterhin um eine Orientierung am Kundenwohl bemüht sein. Die Information und Aufklärung über die Bedeutung privater Zertifikate, insbeson597 Vgl. ausdrücklich am Beispiel der Anlagevermittler v.Keussler, Vom Grauen zum Weißen Kapitalmarkt, 211: „Die Verbände haben es bis heute nicht geschafft, eine einheitliche, berufliche Mindestqualifikation [...] vorzuschreiben". Sie befürwortet daher-auch für die Finanzplanung - aufsichtsrechtliche Regelungen, „wie z. B. die Einführung von staatlichen Fachkundeanforderungen und Berufsausübungs Vorschriften". 598 Nicht ganz zweifelsfrei insoweit DVFA, CIIA-Broschüre, 45, wo auf die deutlich kürzere Ausbildungszeit sowie die geringeren Durchfallquoten bei den Abschlußexamina im Vergleich zum CFA hingewiesen wird - beides sicher nicht notwendig ein Beweis für die Qualität des Abschlusses. Begründet wird dies allerdings mit der höheren Ausbildungsqualität.
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dere über die hierfür zu erfüllenden Anforderungen an den einzelnen Berufsträger, sollte Priorität besitzen. Ziel muß es sein, das Bewußtsein für deren Vorzüge zu stärken, um ein Klima allgemeiner Akzeptanz bei den Anlegern zu schaffen, das wiederum Rückwirkungen auf die Akzeptanz der Selbstverpflichtungen bei den Berufsträgern hat. Gleichzeitig muß übertriebenen Erwartungen gegengesteuert werden. Aus der Abschlußprüfung ist der Terminus der „Erwartungslücke" geläufig, wenn Bilanzen und Abschlüsse nicht die umfassende und schützende Wirkung entfalten (und nicht entfalten können), die ihnen in der Öffentlichkeit zugeschrieben wird. Um ähnliches zu vermeiden, ist - auch im Interesse der in diesem Bereich professionell Tätigen - das öffentliche Bewußtsein dafür wachzuhalten und gegebenenfalls zu wecken, daß die Kapitalmärkte bisweilen überraschende Entwicklungen nehmen, die auch nach bestem Wissen und Gewissen handelnde Berufsträger nicht vollständig vorherzusagen vermögen, und eine Anlageentscheidung aus diesem Grunde immer ein Restrisiko beinhaltet. Transparenzgebote und Berufsethik müssen hier zusammenwirken, um unnötige Ängste abzubauen, ohne zugleich übertriebene Hoffnungen aufkommen zu lassen. Auch die staatliche Regulierung sollte ihre Hauptaufgabe zunächst darin finden, Klarheit über die für die jeweilige Klassifizierung geltenden Voraussetzungen zu verschaffen, um es damit im Endeffekt dem mündigen Anleger selbst zu überlassen, ob er sich für einen zertifizierten Analysten entscheidet, und, falls dies so ist, welche Zertifizierung er von seinem Analysten erwartet. Hier ist zunächst eher - in Kooperation mit den Verbänden zu gestaltende - Information erforderlich als eine eigene staatliche Regelung.
cc) Internationale Ausrichtung Die verbandliche Normsetzung ist für die rechtsverbindliche Umsetzung international gültiger Standards besonders geeignet, weil regelmäßig die Rechtsetzer mit den internationalen Standardsetzern kooperieren bzw. an deren Normsetzung mitwirken. Gleichzeitig führt die Ausrichtung an internationalen Standards dazu, daß sich die international fehlende Einigung auf einen gemeinsamen Standard auf der nationalen Ebene fortsetzt. Dabei scheint sich eine aus der Rechnungslegung bekannte Entwicklung anzudeuten: Unterschiede zwischen den dargestellten Normsetzungs- und Zertifizierungsmechanismen deuten auf Friktionen zwischen einer mehr auf die Übernahme US-amerikanischer und einer eher auf die Bildung eigener bzw. international-kooperativer Normen und Titel setzenden Herangehensweise. Für die Orientierung an amerikanischen Standards sprechen vor allem die mit ihnen innerhalb jahrelanger Anwendung gewonnenen Erfahrungen; außerdem stellt ihre Promotion eine Reminiszenz an die nach wie vor dominante Rolle des US-amerikanischen Kapitalmarktes dar. Internationale Vorschriften sind demgegenüber nicht einem bestimmten nationalen Umfeld verwachsen und bieten mehr Chancen der Berücksichtigung verschiedener nationaler Besonderheiten. Hinsichtlich der Durchführung der Zertifizierung ist zusätzlich zu bedenken, daß, soweit diese von deut-
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sehen Vereinigungen nach von ihnen selbst aufgestellten, international abgestimmten Regeln erfolgt, bei Verstößen gegen die Examensordnung gegebenenfalls Rechtsmittel gegen die Bewertung eingelegt werden können; ist die Prüfung dagegen in das Belieben einer ausländischen Organisation (z. B. eines US-amerikanischen Berufsverbands) gestellt, ist diese Kontrollmöglichkeit eingeschränkt, wenn nicht ausgeschlossen599. Allerdings versichern die amerikanisch orientierten Verbände, zunehmend einem globalen Anspruch gerecht zu werden. Außerdem ist auch hier zunächst die optimistische wettbewerbliche Perspektive angebracht.
f) Ergebnis Die vorgestellte Vielfalt verbandlicher Normsetzung in einem relativ begrenzten Teilbereich des Kapitalmarktes führte zu der Frage, ob sie im Sinne einer Komplementarität bzw. eines Qualitätswettbewerbs positiv oder als Rechtsunsicherheit verursachend negativ zu bewerten ist. Ausgehend von der gemeinsamen Erkenntnis, daß eine adäquate Interessenvertretung in einem aufmerksamer und kritischer werdenden Markt die Etablierung ethischer Grundsätze und deren Propagierung nach außen sowie Durchsetzung nach innen erfordert, finden sich im einzelnen differenzierte Anforderungen an die Berufsträger. Solange der Grundkonsens, daß eine höhere Qualifikation und strenge Verhaltensanforderungen allen Beteiligten nutzen, beibehalten werden kann, ist davon auszugehen, daß die Pluralität nicht zu einer Verwässerung, sondern eher zu einer Verschärfung der beruflichen Anforderungen führt. Hier bedarf es gegenwärtig weniger staatlicher Regulierungsversuche als vielmehr einer kritischen Beobachtung der Entwicklungen.
II. Vertragsrecht Das private Vertragsrecht bildet die geläufigste Form privater Rechtsetzung. Die Einbindung in die staatliche Rahmenordnung stellt sicher, daß privatrechtliche Verpflichtungen notfalls unter Inanspruchnahme staatlicher Hoheitsträger durchsetzbar sind. Die eigentliche Rechtspflicht in ihrer konkreten Ausgestaltung ergibt sich jedoch nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Vereinbarung zwischen den Geschäftspartnern. Da somit der Kreis der rechtlich Verpflichteten auf die das Vereinbarte Anerkennenden, die Vertragschließenden, beschränkt ist, fehlt privatvertraglichen Regelungen die den (Rechts-)Normcharakter begründende Generalität und Heteronomie. Dennoch soll ihnen im Rahmen dieser Untersuchung Aufmerksamkeit zuteil werden. Dies nicht nur, weil die rechtliche Einordnung der Beispielsfälle umstritten ist 599
Vgl. in diesem Sinne kritisch auch DVFA, CIIA-Broschüre, 46.
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und sowohl die Qualifizierung als Rechtsnormen als auch als Vertragsbestandteile vertreten wird. Insbesondere vorformulierte allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) haben außerdem häufig normähnliche Wirkungen 600 , obwohl auch ihre Rechtswirkung die individuelle private Anerkennung mittels des Vertragsschlusses voraussetzt (Einbeziehung nach § 305 BGB) 601 . Vor allem dort, wo ein starkes Bedürfnis nach einer Leistung besteht und gleichzeitig entweder nur ein Monopolist diese Leistung zu erbringen in der Lage ist oder doch die verschiedenen am Markt agierenden Anbieter sich auf gleichlautende AGB geeinigt haben, kann von einem wirklichen Wahlrecht der Vertragspartner nicht mehr gesprochen werden. Schließlich lohnt ein „Blick über den Tellerrand" der Normsetzung auch deshalb, weil das Vertragsrecht möglicherweise praktikable und praktizierte, rechtsverbindliche Alternativen zur hoheitlichen Rechtsetzung bereitstellt. 1. Die Richtlinien für den Frei verkehr an der FWB Ein mögliches Beispiel einer Verwendung von AGB zur Ersetzung verhaltensleitender Rechtsnormen stellen die den Freiverkehr an der Frankfurter Wertpapierbörse regelnden Handelsrichtlinien dar 602 . a) Börsenrechtliche Struktur des Freiverkehrs Bis zur Börsengesetznovelle von 1986 existierte neben dem geregelten (amtlichen) Handel ein außerbörslich-privater, ungeregelter Handel. Dieser sog. Freiverkehr sollte ursprünglich durch organisatorische Erschwernisse weitgehend unterbunden werden; ein generelles Verbot bestand jedoch nicht. Die Novellierung eröffnete - unter Genehmigungsvorbehält - in § 78 a BörsG a. F. die Möglichkeit zur Zulassung eines Freiverkehrs an den deutschen Börsen. Bezweckt wurde eine Einbindung in die Selbstverwaltung der Börse und damit die Gleichwertigkeit der Börsensegmente sowie die Möglichkeit des gleichzeitigen Handels eines zum amtlichen Handel zugelassenen Wertpapiers im Freiverkehr. Hintergrund dieser Regelung war es, insbesondere den Regionalbörsen durch den Ausbau des flexiblen Segments des 600 ExplizitMeyer-COrding, Rechtsnormen, 84ff., 93ff., 131 ff.; einschränkend z.B. Ossenbühl, HStR III, §61 Rn.47 („nur in einem soziologischen Sinne"). Auch F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 331, bescheinigt AGB faktisch normähnliche Wirkungen, lehnt aber ihren Rechtsnormcharakter wegen der fehlenden Heteronomie ab. 601 Fehlt eine solche Einbeziehung in einen konkreten Vertrag, sind sie lediglich Regelungsmodelle ohne unmittelbare Verbindlichkeit, Ossenbühl, HStR III, §61 Rn.47; ähnlich F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 331 („Vertragsmuster ohne eigenen Regelungsgehalt"); K.F. Röhl, Rechtslehre, 16 f., 531 f., weil sie nicht vom Staat, sondern von Privaten aufgestellt würden und deshalb dieses „selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft" nicht ohne weiteres als Recht akzeptiert werden könne. 602 Nachfolgend als FVRL (FWB) bezeichnet. Auf Unterschiede, die an den anderen regionalen Börsen bestehen, wird im folgenden nur in Form von Anmerkungen eingegangen.
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Freiverkehrs neue Betätigungsfelder zu erschließen und so ihre Wettbewerbsstellung zu stärken 603 . § 571 BörsG erklärt zur Voraussetzung der Zulassung eines Freiverkehrs für Wertpapiere, die weder zum amtlichen Handel noch zum geregelten Markt zugelassen sind, daß durch Handelsrichtlinien die ordnungsmäßige Durchführung des Handels und der Geschäftsabwicklung gewährleistet erscheint. Die nähere Ausgestaltung des Freiverkehrs bleibt der Börsenordnung überlassen (z.B. §66 BörsO FWB); er behält jedoch prinzipiell eine privatrechtliche Struktur und wird nicht der öffentlichrechtlichen Selbstverwaltung unterstellt 6 0 4 . „Der Freiverkehr ist eine Veranstaltung des Privatrechts unter begrenzter börsenverwaltungsrechtlicher Aufsicht" 6 0 5 . Diese begrenzte Aufsicht resultiert aus der durch § 57 BörsG festgelegten Einbeziehung des Freiverkehrs in die öffentlich-rechtliche Ordnung der Börse hinsichtlich der Handelsbedingungen und des Verfahrens der Preisfeststellung. Der Handel i m Freiverkehr unterfällt daher der öffentlich-rechtlichen Börsenzuständigkeit für den ordnungsgemäßen Börsenhandel in Freiverkehrswerten und deren Preisfestsetzung 606 . § 57 BörsG läßt sich aber auch entnehmen, daß der Freiverkehr nicht direkter Gegenstand der Regelung durch die satzungsrechtlichen Bestimmungen ist, die durch den Börsenrat erlassen werden 6 0 7 . Die Durchführung des Handels und die Ge603 Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679,76. Daß diese gesetzgeberische Intention von den regionalen Börsen aufgenommen und umgesetzt wurde, zeigen die durchaus erfolgreichen Modelle bspw. des Prädikatsmarktes an der Bayrischen Börse in München oder die Überlegung, den Freiverkehr an der Berliner Börse zu einer Anlegerplattform auszugestalten. Bekanntestes, allerdings atypisches Beispiel ist der Neue Markt der FWB, dazu sogleich unter 2. 604 Statt vieler Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 14.438; ders., WM Sonderbeilage Nr. 5 1985, 3 ff. Vgl. Reg.-Begr. 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, 75 f.: „Soweit die Regelung im Börsengesetz und die Bestimmungen in der Börsenordnung nicht greifen, kann der Handel im Freiverkehr an der Börse auf privatrechtlicher Basis geregelt werden". 605 Claussen, Börsenrecht, §9 Rn.49. Vgl. Claussen, FS Stimpel, 1049, 1056ff.; Schwark, BörsG, §78 Rn.2. 606 Insofern ist auch nicht ganz korrekt, davon zu sprechen, im Gegensatz zu amtlichem Handel und geregeltem Markt sei der Freiverkehr der Börse nur faktisch, nicht jedoch auch rechtlich integriert, so aber Breitkreuz, Ordnung der Börse, 299; W. Groß, Kapitalmarktrecht, §78 BörsG Rn.2. 607 Das Fehlen eines öffentlich-rechtlichen Regelwerks wird teilweise als Minderung der Bonität, der Sicherheit und des Standings der dort gehandelten Wertpapiere verursachend kritisiert. Jedenfalls führt es zu einer verminderten Bedeutung im europäischen Kontext, da der Freiverkehr nicht als „geregelter Markt" i. S. d. WpDRL gilt. Ein wirkungsvoller Anlegerschutz ist jedoch nicht nur dem Gesetzgeber aufgegeben und läßt sich nicht nur durch komplexe Zugangsvoraussetzungen bewerkstelligen, sondern auch durch Wettbewerb, durch angemessene Publizitätsanforderungen, erfahrenes und verantwortungsbewußtes Emissionsverhalten und durch intensive Aufsicht durch die Börsenorgane, vgl. Claussen, Börsenrecht, §9 Rn.51. Empirische Studien über eine gegenüber den anderen Marktsegmenten stärkere Unsolidität des Freiverkehrs fehlen. Vorgetragen wird dennoch immer wieder der Gedanke einer Wiederbelebung des „geregelten" Freiverkehrs als geregeltem Markt nach der WpDRL, so z.B. Claussen, Börsenrecht, §9 Rn.51; ders., FS Stimpel, 1050; Hopt/Baum, Börsenrechtsreform, 10, 433. Skeptisch dagegen Baums/Segna, Börsenreform, 68.
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schäftsabwicklung hat sich statt dessen nach den Handelsrichtlinien zu richten, die von dem privatrechtlichen Träger 608 des Freiverkehrs erlassen werden, der hinsichtlich des Betreibens des Freiverkehrs nicht Beliehener ist 609 . Diesen Handelsrichtlinien kommt eine doppelte Funktion zu: Sie reglementieren den Freiverkehr und schaffen damit zugleich die Voraussetzungen seiner Zulassung durch die Börse 610. b) Rechtscharakter der Freiverkehrsrichtlinien Angesichts dieser Einordnung des Freiverkehrs als privatrechtliche Veranstaltung verwundert es, daß über den rechtlichen Charakter der Freiverkehrsrichtlinien Unklarheiten bestehen. Denn in Ermangelung einer vereinsrechtlichen Struktur kann hieraus eigentlich nur der Schluß gezogen werden, daß es sich bei ihnen um Vertragsregelungen, namentlich um AGB, handelt. aa) Rechtsnorm sui generis Dennoch wird argumentiert, die Handelsrichtlinien im Sinne des §571 BörsG seien keine vertraglichen Bestimmungen, sondern privatrechtliche Rechtsnormen eigener Art 6 1 1 . Die Tatsache, daß die Richtlinien unabdingbar sind, Haftungsbeschränkungen gegenüber Dritten enthalten und „ohne Rücksicht auf den Willen der Betroffenen" ergehen, reicht für diese Annahme noch nicht aus612. Insofern entspricht es auch vertragsrechtlicher Praxis, daß die dort formulierten Anforderungen mit dem Anspruch der Unverbrüchlichkeit und Drittverbindlichkeit auftreten. Ent608 Die Bezeichnung als „Träger" des Freiverkehrs erachtet Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.555 f. für mißverständlich, da sich die Trägerfunktion auf die öifentlich-rechtlich strukturierten Marktsegmente beschränke. Kiimpel schlägt eine Terminologie vor, die den Begriff des Trägers durch den des „Veranstalters" des Freiverkehrs ersetzt. Hiermit mag eine gewisse Unterscheidungskraft hergestellt werden, zwingend ist diese Differenzierung nicht. Im folgenden wird am Begriff der Trägerschaft festgehalten. 609 Mit Ausnahme von München (§ 66 II BörsO Bayerische Börse) muß grds. der Träger des Freiverkehrs nicht mit dem Börsenträger identisch sein, Breitkreuz, Ordnung der Börse, 317. 610 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 300. 611 Breitkreuz, Ordnung der Börse, 302 ff., 320; ihm folgend Bauerl PleyerlHirche, BKR 2002, 113 ff.; hinsichtlich des RWNM auch W. Groß, Kapitalmarktrecht, §71 BörsG Rn.3a, der aber zugleich die Richtlinien für den Freiverkehr als AGB einstuft, dort, §78 BörsG Rn. 3. Eine Einordnung als öffentlich-rechtliche Normen ist nicht möglich, vgl. Schwark, BörsG, § 78 Rn. 4; a. A. LG Frankfurt a. M., vgl. FAZ vom 20.12.2001. Sie setzte notwendig voraus, daß einer der beteiligten Privaten in öffentliches Sonderrecht miteinbezogen wäre, d. h. wie ein Hoheitsträger in Ausübung hoheitlicher Handlungsbefugnisse agierte, vgl. nur Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, 7 ff., 18; Trute, DVB1 1996, 959. Eine Eingliederung in die staatliche Organisation ist nicht erforderlich; es genügt, wenn er ihr angegliedert ist (z. B. als Beliehener), vgl. Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 193 mit Fn.251; Schwab, Politikberatung, 348 f. Der Träger des Freiverkehrs ist indes mit dieser Aufgabe gerade nicht beliehen. 612 So aber Breitkreuz, Ordnung der Börse, 305 ff.; ihm folgend BauerlPleyerlHirche, BKR 2002, 108 f.; dagegen überzeugend Bachmann, W M 2001, 1795.
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scheidend ist lediglich, inwieweit dieser Anspruch auch durchgesetzt werden kann. Heteronomie äußert sich nicht darin, wer für die Formulierung einer Anforderung verantwortlich zeichnet, sondern in der potentiell fehlenden Freiwilligkeit der Unterwerfung. Für eine Qualifizierung als Rechtsnormen spricht aber, daß der in § 57 BörsG verwandte Begriff Richtlinie mehr an generell-abstrakte Normen als an vertragliche Geschäftsbedingungen denken läßt 613 . Außerdem ließe sich der gesetzlich vorgeschriebene Zweck der Gewährleistung „ordnungsgemäßer Durchführung des Handels und der Geschäftsabwicklung im Freiverkehr" leichter mit einseitig abänderbaren Regelwerken als mit der Aushandlung unterliegenden Vertragslösungen erreichen 614. Gleiches gilt für das der Börsengeschäftsführung durch §66112 BörsO zugestandene Recht, verlangen zu können, daß in den Handelsrichtlinien bestimmte Regelungen enthalten sein müssen. Um eine derartige Rechtsnatur annehmen zu können, bedürfte es aber eines staatlichen Geltungsbefehls, einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung, mittels derer die zuvor eindeutig unverbindlichen Richtlinien in den Rang von Rechtsnormen erhoben würden 615 . Ein solcher Befehl ist nicht auszumachen: Er kann weder § 57 BörsG entnommen werden 616 noch läßt er sich aus den börsenrechtlichen Befugnissen der §§ 66 II 2, 66 a 112 BörsO ableiten617. Im übrigen ist mehr als fraglich, ob ein derartiges regulatorisches Vorgehen überhaupt zulässig wäre. Bekannt ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung vor allem aus dem Tarifvertragsrecht, wo indes auf eine lange, vorkonstitutionelle Tradition verwiesen werden kann und vor allem mit Art. 9 III GG eine besondere verfassungsrechtliche Ermächtigung besteht618. Eine solche grundgesetzliche Fundierung fehlte im vorliegenden Fall. Schließlich spricht gegen die These vom Rechtsnormcharakter der Handelsrichtlinien auch, daß - wie nun zu zeigen sein wird - die Ziele des § 57 BörsG auch mittels der Regelung durch vertragliche Geschäftsbedingungen zu erreichen sind. Vor staatlichen Regulierungs6,3 Bachmann, W M 2001, 1795, demzufolge das LG Frankfurt a.M., W M 2001, 1610 mit der Einschätzung, §78 BörsG lasse sich hinsichtlich der Rechtsnatur der Richtlinien nichts entnehmen, fehlgeht. Nach hier vertretener Ansicht ist hingegen dem LG Frankfurt a. M. jedenfalls i. E. zuzustimmen. 614 Hierauf stellen insbesondere BauerlPleyerlHirche, BKR 2002, 111 ff. ab. 615 Grundlegend F. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, 138 ff. 616 So aber Breitkreuz, Ordnung der Börse, 310f., insoweit mit der Funktionssicherung argumentierend; ebenso Bauerl PleyerlHirche, BKR 2002, 108 ff., 116. Anders zu Recht die gründliche Analyse des Primary Markets Arbitration Panel, BKR 2001, 155. 617 Die Ausführungen von Manfred Wolf WM 2001, 1787 zur Nichtexistenz eines gesetzlich vorgesehenen einseitigen Vertragsänderungsrechts gelten insoweit für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung erst recht. 6,8 BVerfGE 44,322 (340,347); bestätigt in BVerfGE 55,7 (27); vgl. auch BVerfGE 34,307 (316). Dieser-bei der von ihnen zitierten Schrift von F. Kirchhof zu Recht hervorgehobene - Aspekt bleibt bei Bauerl PleyerlHirche, BKR 2002, 115 f. unerwähnt. Sie argumentieren statt dessen mit einer sich aus der einfachgesetzlichen Zweckbestimmung (§ 78 BörsG, § 57 BörsG n. F.) ergebenden Kontrolle der „privaten Rechtsnormsetzungstätigkeit", die freilich fehlende verfassungsrechtliche Vorgaben nicht zu ersetzen vermag. Insoweit in die richtige Richtung gehend OLG Frankfurt a.M., DB 2002, 938.
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maßnahmen (erst recht vor Maßnahmen „sui generis") sind die Möglichkeiten privatautonomer Regelung in Erwägung zu ziehen619. bb) AGB Die Einordnung als AGB kann als herrschend bezeichnet werden 620. Allerdings bedarf sie näherer Begründung. Der lapidare Rekurs auf den privatrechtlichen Charakter des Freiverkehrs genügt nicht. So ist zunächst zu klären, wer als Vertragspartner in Betracht kommt. Leicht zu beantworten ist diese Frage hinsichtlich des Trägers des Freiverkehrs (im Falle der FWB die Deutsche Börse AG): Dieser ist als juristische Person des bürgerlichen Rechts rechts- und geschäftsfähig und damit nicht nur in der Lage, Verträge abzuschließen, sondern auch als Verwender von AGB zu agieren. Vertragspartner der Deutsche Börse AG sind aber nicht die Emittenten der im Freiverkehr gehandelten Wertpapiere. Hiergegen spricht eindeutig, daß diese nicht selbst den Antrag auf Einbeziehung in den Freiverkehr stellen müssen. Statt dessen wird der Vertrag mit den in § 2 FVRL (FWB) als antragsbefugt aufgeführten Unternehmen geschlossen621. Durch die Vorgabe der Anforderungen durch den Freiverkehrsträger wird auch das Erfordernis vorformulierter, auf eine Vielzahl von Geschäften anwendbarer Bedingungen erfüllt 622 . Zu klären ist dennoch, inwieweit die Erfüllung der Qualifikationskriterien des BGB dessen Anwendung bedingt. Die Frage wird virulent, weil der Bundesgerichtshof eine Ausnahme für „Spielregeln" anerkennt 623. Die dort aufgestellte Unterscheidung, nach der das AGBG auf die Regelung von Rechtsverhältnissen mit einander gegenläufigen Interessen zugeschnitten ist und deshalb auf Bedingungen sozial-organisatorischer Natur nicht paßt, trägt jedenfalls im kommerziellen Bereich nicht: Regelmäßig verbinden sich divergierende Teilinteressen (z. B. unterschiedliche Vorstellungen über den 619
Vgl. Ruffert, Eigenständigkeit des Privatrechts, 59. Baumbach/Hopt, § 78 BörsG Rn. 2; Mues, Börse als Unternehmen, 206; wohl auch Claussen, Börsenrecht, §9 Rn.48; v.Rosen, in: Assmann/Schütze, Kapitalanlagerecht (1997), § 2 Rn. 179; für das RWNM Plückelmann, Der Neue Markt, 145; Potthoff/Stuhlfauth, W M Sonderbeilage Nr. 3 1997, 8; Römermann/Schröder, BKR 2001, 84; Manfred Wolf W M 2001, 1786. 621 § 4 FVRL (FWB) sieht immerhin eine Informationspflicht über eine bevorstehende beabsichtigte Einbeziehung in den Freiverkehr (seit April 2000 trifft diese Pflicht nicht mehr den Antragsteller, sondern die Deutsche Börse AG) und ein Widerspruchsrecht des Emittenten vor. Allein durch einen unterlassenen Widerspruch wird aber selbstverständlich der Emittent nicht zum Vertragspartner der Deutsche Börse AG. Im übrigen steht das Widerspruchsrecht Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums nicht zu - eine Liste der betroffenen Länder enthält der Anhang zu den FVRL (FWB). 620
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§ 30511 BGB. Vgl. differenziert das Primary Markets Arbitration Panel, BKR 2002,156. Vgl. BGHZ 128, 93 (101 f.) für sportliche Regelwerke; kritisch dazu z.B. Heermann, NZG 1999, 328 ff. Im direkten Gegensatz hierzu steht die Auffassung von Grunewald, ZHR 152 (1988), 254 ff., die die Anwendung einzelner Vorschriften des AGBG auf Vereinsordnungen vorschlägt. 623
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Kaufpreis) mit einem gemeinsamen Grundinteresse an der Durchführung des Geschäfts. Ebenso sind Teilnehmer und Veranstalter an einer möglichst reibungslosen Durchführung der Veranstaltung, also hier des Freiverkehrs, interessiert. Ein vollständiges Interessengegeneinander entspricht nicht den realen Gegebenheiten und kann nicht Voraussetzung der Anwendung der §§ 305 ff. BGB sein. Außerdem ist es gegenüber einer derartigen „alles-oder-nichts"-Lösung vorzugswürdig, den kooperativen Charakter, der Dauerschuldverhältnissen eignet, im Einzelfall bei der Anwendung der §§ 305 ff. BGB einzubeziehen. Auch „den Besonderheiten des Netzverbundes von Veranstalter, Teilnehmern und Anlegern" trägt man besser „nicht durch Herausnahme aus dem AGBG Rechnung, sondern durch Berücksichtigung im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 AGBG" (jetzt § 307 BGB) 624 . Die geltenden Freiverkehrsrichtlinien orientieren sich inhaltlich in starkem Maße an den Vorgaben des Börsengesetzes und der Börsenordnungen für den amtlichen Handel und den geregelten Markt. Nach § 121FVRL (FWB) gelten für den Handel in Freiverkehrswerten und für die Preisfeststellung einschließlich deren Beaufsichtigung die Regelungen des amtlichen Handels sinngemäß, soweit nicht Besonderheiten zu beachten sind. Damit wird in gewissen Grenzen die Anwendbarkeit der Börsenordnung auf den Freiverkehr ausgedehnt. Da die autonome Legitimation insoweit nicht trägt, muß nach der rechtlichen Zulässigkeit einer entsprechenden Verweisung gefragt werden. Unproblematisch ist die Möglichkeit der Kenntnisnahme, die bei Rechtsnormen schon aufgrund der mit ihnen verbundenen Publikationsverpflichtung gegeben ist. Es wird vorausgesetzt, daß den Normunterworfenen die Geltung und der Inhalt der Rechtsnorm bekannt ist, sobald und sofern diese ordnungsgemäß publiziert wurde 625 . Auch den Antragstellern für eine Einbeziehung in den Freiverkehr als den Vertragspartnern des Trägers des Freiverkehrs sind die in ihr enthaltenen Regeln damit bekannt oder jedenfalls zugänglich. Durch die - im Sinne der staatsrechtlichen Terminologie „dynamische" - Verweisung auf die Börsenordnung wird eine weitgehende Vergleichbarkeit der beiden Marktsegmente erreicht. Dem Zivilrecht ist eine Unterwerfung unter ein bestehendes Regelwerk nicht fremd. Möglich ist demnach auch ein Unterwerfungs- oder Erstreckungsvertrag dergestalt, daß auf ein Regelwerk in seiner jeweils geltenden Form verwiesen wird. Daß dies grundsätzlich zulässig ist, wird heute nicht mehr bestritten 626. Während die Unterwerfung unter die Rechtsetzungsgewalt eines privaten Dritten zu Recht zu Beden624 So zu Recht Bachmann, W M 2001, 1796; ähnlich Krämer, BKR 2001, 133 f.; hinsichtlich der Überprüfbarkeit von Vereinsordnungen auch Grunewald, ZHR 152 (1988), 260ff. Siehe dazu sogleich. Zu den teilweise parallel laufenden Interessen der Börsenteilnehmer vgl. H. Schmidt, Börsenorganisation, v. a. 18 ff., 80ff.; im konkreten Fall ablehnend aber das Primary Markets Arbitration Panel, BKR 2001, 157. 625 Einschränkend Oetker, JZ 2002, 338 f., der auf die Möglichkeit materiellen Verständnisses abstellt. Diese auf Verbraucher zielende Differenzierung ist indes gegenüber den börsenotierten Unternehmen entbehrlich. 626 BGHZ 128, 93ff.; Edenfeld, Rechtsbeziehungen, 212ff.; Lukes, FS Harry Westermann, 335; Segna, ZBB 1999, 144ff.
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ken Anlaß bietet, ist die Unterwerfung unter Normen einer öffentlich-rechtlichen Organisation aufgrund der diesen Normen eignenden inhaltlichen Beschränkungen rechtlich unproblematischer. Dies gilt zumal dann, wenn wie im Falle der FVRL (FWB) die Verweisung nicht uneingeschränkt wirkt, sondern die spezifischen Besonderheiten des Freiverkehrs berücksichtigt werden sollen. Die privatrechtliche Unterwerfungserklärung ersetzt die autonome Legitimation durch die korporative Mitgestaltungsmöglichkeit und erlaubt damit die Erstreckung eines Regelwerks auf Außenstehende, ohne daß es einer besonderen gesetzlichen Bestimmung oder einer Änderung der Struktur der normgebenden Körperschaft bedürfte 627. Insoweit bestehen insbesondere auch keine Bedenken aus § 307 BGB 6 2 8 . c) Ergebnis Festzuhalten bleibt, daß die Qualifizierung der Freiverkehrsrichtlinien als AGB nicht zweifelsfrei ist, daß sich die vorgestellten Besonderheiten jedoch noch im Rahmen des zivil- wie öffentlich-rechtlich Zulässigen halten. In dieser Form vermag man sich durchaus vorzustellen, daß ein ähnliches Modell auch an anderer Stelle zur Selbststeuerung eingesetzt werden könnte. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese Ausformung der Freiverkehrsrichtlinien nicht nur den privatrechtsimmanenten „Mangel" beinhaltet, einer individuellen Anerkennung zu bedürfen, sondern daß zudem in den entscheidenden Punkten mit dem Verweis auf die Börsenordnung doch auf ein rechtsverbindliches öffentlich-rechtliches Regelwerk zurückgegriffen wird. 2. Das Regelwerk Neuer Markt Der 1997 an der FWB eingeführte Neue Markt sollte insbesondere jungen, erfolgversprechenden Wachstumsunternehmen als Plattform dienen629 und einen mög627
Vgl. insoweit schon oben unter B. III. 3. b), 6.b) zur individuellen Anerkennung der
BörsO. 628 Vgl. zur Möglichkeit dynamischer Verweisungen in AGB ausführlich Oetker, JZ 2002, 337 ff., dessen funktionale Argumentation daraufhinausläuft, sie als zulässig anzusehen, wenn sie „im Einzelfall gegenüber statischen Verweisungen eine unkompliziertere, leichter nachvollziehbare und verständlichere Form der Regelung in AGB ermöglichen und der Verwender davon ausgehen durfte, daß ein Durchschnittskunde das Verweisungsobjekt kennt, oder die Vertragsbedingungen funktional auf den Vollzug eines sich dynamisch verändernden Regelwerkes ausgerichtet sind", dort, 340, und „wenn das Verweisungsobjekt aufgrund seines Entstehungsprozesses und seiner Funktion nicht mit der Gefahr verbunden ist, daß der Verwender mittels der dynamischen Verweisung seine Interessen einseitig durchsetzen kann", dort, 342. 629 Vgl. den allgemeinen Teil des RWNM, der diesen als ein Handelssegment für Aktien kleinerer und mittlerer in- und ausländischer Gesellschaften, die Transparenz- und Publizitätskriterien nach internationalen Standards erfüllen, beschreibt. Zur Zielgruppe des Neuen Marktes gehören idealiter innovative Unternehmen, denen zugetraut wird, neue Märkte zu erschließen, und die ein überdurchschnittliches Umsatz- und Gewinnwachstum erwarten lassen.
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liehst unbehinderten Zugang zum Kapitalmarkt eröffnen und dabei gleichzeitig im Interesse der Investoren durch hohe Qualitätsanforderungen sicheren und transparenten Handel gewährleisten. Nach anfänglicher Euphorie mit zum Teil binnen kürzester Zeit exorbitant steigenden Kursen mußten viele der dort gelisteten Werte in den vergangenen Jahren extreme Kurseinbrüche hinnehmen, die auch die Reputation des Marktsegments als Ganzem nicht unberührt ließen Um das Systemvertrauen der Anleger zurückzugewinnen bzw. jedenfalls nicht weiter zu verlieren, hat die Deutsche Börse AG im Herbst 2002 entschieden, im Zuge einer Neustrukturierung der Handelssegmente den Neuen Markt aufzugeben. Die folgenden Überlegungen sind dennoch nicht etwa nur von rechtsgeschichtlichem Interesse. Sie beanspruchen weiterhin Geltung für den Freiverkehr, und sie können darüber hinaus auch für zukünftige Regelungen herangezogen werden. a) Börsenrechtliche Struktur des Neuen Marktes Rechtlich kommt dem Neuen Markt gewissermaßen eine „Zwitterstellung' 4 zu. Ihm liegt ein Konzept der Trennung zwischen der Zulassung zum geregelten Markt einer- und der Einführung in den bzw. dem Handel im privatrechtlichen Freiverkehr andererseits zugrunde 630. Mit dem Antrag auf Zulassung zum Neuen Markt wird gleichzeitig parallel die Aufnahme in den geregelten Markt beantragt, dessen Bedingungen daher gleichfalls erfüllt sein müssen. Die Entscheidung des (privatrechtlichen) Vorstands der Deutsche Börse AG über die Zulassung der Aktien zum Neuen Markt ergeht unbeschadet der Entscheidung des (öffentlich-rechtlichen) Zulassungsausschusses der FWB über den Antrag auf Zulassung der Aktien zum geregelten Markt. Um eine verbotene Doppelnotierung zu vermeiden, wird jedoch mit dem Antrag auf Zulassung zum Neuen Markt auf die Einführung in den geregelten Markt verzichtet 631. Da die Deutsche Börse AG mit dem Betreiben des Neuen Marktes nicht beliehen worden ist, kann der Handel dort nur auf Basis von ihr vorgegebener privatrechtlicher Vorschriften erfolgen. Die privatrechtliche Organisation des Neuen Marktes erlaubt es einerseits, gegenüber amtlichem Handel und geregeltem Markt sogar strengere Anforderungen an die Zulassung und die fortlaufenden Publizitätspflichten einzuführen. Gleichzeitig wurde durch die Voraussetzung der ZuDie nachfolgend für das RWNM entwickelten Überlegungen gelten sinngemäß auch für die Teilnahmebedingungen für SMAX, das 1999 eingeführte zweite privatrechtlich organisierte „Qualitätssegment" der Deutsche Börse AG. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein eigenständiges Marktsegment, da die Aktien zum geregelten Markt oder zum amtlichen Handel an der Frankfurter Wertpapierbörse zugelassen sein müssen und unverändert in ihrem ursprünglichen Zulassungssegment notiert bleiben und gehandelt werden. Die SMAX-Teilnahmebedingungen ergänzen lediglich die für den amtlichen Handel bzw. den geregelten Markt erforderlichen Zulassungsvoraussetzungen. Vgl. hierzu auch Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 102ff.; Martin Weber, NJW 2000, 2064. 630 Zur Unterscheidung zwischen Zulassung und Einführung (§§36, 42 BörsG) Claussen, Börsenrecht, §9 Rn.48bf., 60ff.; Plückelmann, Der Neue Markt, 140f. 631 Ziffer 2.3.4 RWNM; Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.419.
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lassung zum geregelten Markt erreicht, daß nicht nur die Vorschriften über die Prospekthaftung (§§44ff. BörsG) und die Ad-hoc-Publizität, die jeweils eine Zulassung zum Handel an einer inländischen Börse voraussetzen, anwendbar sind, sondern der Neue Markt auch als „geregelter Markt' 4 im Sinne von Art. 16 WpDRL 6 3 2 anerkannt ist. Letzteres ist von praktischer Bedeutung, als diese Qualifizierung von internationalen Investoren als Qualitätsmerkmal angesehen wird und zudem gemäß Art. 15 I WpDRL Wertpapierunternehmen aus EU-Mitgliedstaaten an sämtlichen „geregelten Märkten" Zugang zum Handel und zur Abwicklung erhalten 633. Die Trennung von Zulassung und Handel resultiert auch in divergierenden Aufsichtspflichten: Während die beim Hessischen Wirtschaftsministerium angesiedelte Börsenaufsichtsbehörde insbesondere die Einhaltung der börsenrechtlichen Vorschriften durch die Börse und ihre Organe (Rechtsaufsicht) sowie die ordnungsgemäße Durchführung des Börsenhandels und die Abwicklung der Börsengeschäfte (Marktaufsicht) überwacht, ist daneben das BAWe vor allem für die Verfolgung von Insidergeschäften und die Einhaltung der Ad-hoc-Publizität zuständig. Die Deutsche Börse AG überwacht hingegen die Erfüllung der Pflichten des Emittenten aus der Zulassung zum Neuen Markt, insbesondere die fortlaufenden Offenbarungspflichten. Auch wenn aus Sicht des Börsengesetzes der Neue Markt Teil des Freiverkehrs ist 634 , kann er aufgrund der Besonderheiten, die sich aus dem Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Anforderungen ergeben, als eigenes Handelssegment bezeichnet werden 635. b) Rechtscharakter des Regelwerks Den regulatorischen Rahmen für Zulassung und Handel bildet das Regelwerk Neuer Markt (RWNM). Da der Neue Markt als Teil des Freiverkehrs organisiert ist, 632
Richtlinie 93/22/EWG vom 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. EG Nr. L 141/27 vom 11.6.1993; zuletzt geändert durch die Richtlinie 2000/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7.11.2000, ABl. EG Nr. L 290/27 vom 17.11.2000. Vgl. das Gesetz zur Umsetzung von EG-Richtlinien zur Harmonisierung bank- und wertpapieraufsichtsrechtlicher Vorschriften vom 22.10.1997 (BGB1.11997,2518) und das dazugehörige Begleitgesetz vom 22.10.1997 (BGB1.I 1997, 2567). 633 Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 53. Vgl. auch die Übersicht in ABl. EG Nr. C 120/4 vom 24.4.2001. Gem. Art. 15IV WpDRL wird dieses Zugangsrecht auch auf solche Unternehmen angewandt, die am Sitz des Marktes keine Niederlassung haben (von besonderer Bedeutung i. R. d. Elektronisierung). Zu dieser „remote membership" Potthoff/Stuhlfauth, W M Sonderbeilage Nr. 3 1997, 6. 634 Vgl. z.B. W. Groß, Kapitalmarktrecht, §71 BörsG Rn.3; Kersting, AG 1997, 222; Kumpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 17.419; PotthofflStuhlfauth, W M Sonderbeilage Nr. 3 1997, 4; Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 52. Anders Gebauer, EWiR 2001, 866, der eine Qualifikation als Teilsegment des geregelten Marktes vornimmt. 635 § 66 a BörsO FWB; Claussen, Börsenrecht, § 9 Rn. 48 b; W. Groß, Kapitalmarktrecht, § 71 BörsG Rn. 3; Manfred Wolf W M 2001, 1785 f. Ebenso Bachmann, W M 2001, 1794: „eigenständiges Handelssegment im Rahmen des Freiverkehrs". Ausführlich Plückelmann, Der Neue Markt, 129 ff.
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gelten die für die Handelsrichtlinien des Freiverkehrs entwickelten Überlegungen analog636. Auch die Bestimmungen des RWNM sind somit als AGB einzuordnen und erlangen nur über eine vertragliche Einbeziehung Rechtsverbindlichkeit. Geregelt werden die Zulassungsvoraussetzungen, das Zulassungsverfahren, die Zulassungsfolgepflichten und Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen gegen die dort statuierten Pflichten. Dabei ist das Hauptanliegen des Regelwerks die Schaffung von möglichst umfassender Markttransparenz, da gerade bei Investitionen in Wachstumsunternehmen die Anleger besonders umfassend informiert sein müssen, um verantwortungsvolle Investitionsentscheidungen treffen zu können 637 . Die Sanktionsmöglichkeiten reichen von der Verhängung von Geldstrafen bis zur Beendigung der Zulassung zum Neuen Markt (sog. Delisting). c) Insbesondere: Einseitige Änderungsmöglichkeit Letzteres ist zum Ausgangspunkt von Rechtsstreitigkeiten geworden, nachdem die Deutsche Börse AG im Sommer 2001 als Reaktion auf sinkende Kurse, spektakuläre Insolvenzen am Neuen Markt und daraus resultierende milliardenschwere Schäden für die Anleger ankündigte, in Zukunft Aktien solcher Unternehmen, die den hohen in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprechen, vom Neuen Markt auszuschließen638. Als Reaktion auf diese Ankündigung haben einige von der Ausschließung bedrohte Unternehmen gegen die einseitige Änderung des RWNM durch die Deutsche Börse AG geklagt. In einer Folge von Entscheidungen639 hat das 636
Das wird auch von denen angenommen, die den Neuen Markt als Untersegment des geregelten Marktes einstufen, vgl. Gebauer, EWiR 2001, 866. Das Problem, daß gem. §721 BörsG der geregelte Markt durch die BörsO zu regeln ist, läßt sich demzufolge durch die spezielle Anordnung des § 66 a BörsO lösen. 637 Vgl. Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 55 ff. Mit der Zielgruppenprüfung (dort, § 12 Rn. 15 f.) erfolgt hierbei jedenfalls ansatzweise eine Qualitätsprüfung. Dagegen befassen sich die entsprechenden US-amerikanischen Regelungen ausdrücklich nicht mit der Qualität des Investments, vgl. Hutter/Devlin/Schmidt, in: Deutsche Börse AG (Hrsg.), Neuer-Markt-Report, 59, 63 sowie das Rundschreiben der Deutsche Börse AG vom 1.7.1998, geändert gem. Rundschreiben vom 19.12.2000. 638 Vgl. z.B. FAZ vom 16.7.2001, 27; FAZ vom 21.7.2001,25. Als Ausschlußgründe gelten gem. der Pressekonferenz der Deutsche Börse AG vom 20.7.2001 (jetzt Ziffer 2.1.6 RWNM): (1) Aktienkurs unter einem Euro und Marktkapitalisierung unter 20 Mio. Euro über einen festgesetzten Zeitraum (30 aufeinanderfolgende Tage); danach Verstreichen einer weiteren Frist von 90 Tagen, in der sowohl der Aktienkurs als auch die Marktkapitalisierung nicht die Mindestanforderungen an mindestens 15 aufeinanderfolgenden Tage erfüllen (sog. Penny-Stock-Klausel) oder (2) Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Emittenten durch gerichtlichen Beschluß oder durch Ablehnung der Eröffnung mangels Masse (Insolvenzklausel). 639 Grundlegend LG Frankfurt a.M., Entscheidung vom 16.8.2001, Az. 3-13 0110/01 (Penny Stocks I), abgedruckt z.B. in W M 2001,1607ff.; BB 2001,1969ff. Demgegenüber hat das OLG Frankfurt a. M. - ohne damit eine generelle Aussage zur Zulässigkeit einseitiger Änderungen zu treffen - in concreto eine entsprechende Befugnis der Deutsche Börse AG abgelehnt, da es sich bei der Sanktionsmaßnahme des Ausschlusses nicht mehr um eine Zulassungsfol-
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
zuständige Landgericht Frankfurt am Main, ausgehend von einer Qualifizierung des RWNM als AGB, der Deutsche Börse AG als Betreibergesellschaft das Recht zugestanden, diese einseitig zu ändern, soweit sich die Emittenten vertraglich zur Anerkennung in ihrer „jeweils gültigen Fassung" verpflichtet hätten. Nach dem BGB verbleibe den Gerichten eine Kontrolle dahingehend, daß das Änderungsrecht von der Deutsche Börse AG nicht mißbraucht werde. Insbesondere müßten die geplanten Änderungen auch die Interessen der Marktteilnehmer berücksichtigen und diesen daher eine längere Frist eingeräumt werden, bevor die Änderungen wirksam werden. Diese konkreten Rechtsstreitigkeiten sollen hier als Ausgangspunkt einer allgemeineren Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten unilateraler Vertragsänderungen dienen. aa) Einseitiges Änderungsrecht der Deutsche Börse AG Ein einseitiges Änderungsrecht kann ebensowenig aus Börsengesetz bzw. -Ordnung abgeleitet werden, wie es zulässig ist, diesen Normen einen staatlichen Geltungsbefehl zu entnehmen. Gegen die Verortung einer solchen Befugnis in der Börsenordnung spräche zudem aus normhierarchischer Perspektive, daß durch Satzungsrecht keine bundesgesetzlichen Vorschriften abbedungen werden können. Ein „gesetzlich verliehenes Bestimmungsrecht" liegt keinesfalls vor 640 . Ebensowenig erscheint es sinnvoll, von einer „Verkehrssitte" auszugehen, also der Etablierung einer tatsächliche Übung dahingehend, daß die Deutsche Börse AG zu einseitigen Änderungen berechtigt ist 641 . Statt dessen ist zu Recht auf die privatvertragliche Erklärung der am Neuen Markt gelisteten Unternehmen, das Regelwerk in seiner jeweils geltenden Form anzuerkennen (Ziffer 2 RWNM), abgestellt worden. Auch hier ist von einer Qualifizierung als AGB auszugehen642. Im unternehmerischen Verkehr, gepfiicht handele (so schon Römermann/Schröder, BKR 2001, 84 f.) und die Deutsche Börse AG die Unzumutbarkeit einer Vertragsfortsetzung nicht hinreichend konkret dargelegt habe, OLG Frankfurt a.M., DB 2002, 936ff., 939; vgl. OLG Frankfurt a.M., DB 2002,471 ff. 640 Überzeugend Manfred Wolf, WM 2001, 1787. Die grundsätzliche Frage nach der Zulässigkeit entsprechender gesetzlicher Vorschriften kann hier nicht vertieft werden; es dürften insoweit aber ähnliche Überlegungen anzustellen sein, wie sie im ersten Kapitel zur Gemeinwohlverträglichkeit der kooperativer Normsetzungsmechanismen entwickelt wurden. 641 Vgl. Bachmann, W M 2001, 1798. Wo kein ausdrücklicher Änderungsvorbehalt enthalten ist, liegt es näher, von einer konkludenten Vertragsänderung auszugehen, und wo ein Änderungsvorbehalt besteht, ist auf diesen zurückzugreifen. 642 Das LG Frankfurt a. M. ging von einer den AGB vorgehenden (§ 4 AGBG, jetzt § 305 b BGB) Individualabrede (§315 BGB) aus, WM 2001,1610. Die entsprechende Erklärung ist indes zwar nicht unmittelbarer Bestandteil des RWNM und wird nicht per Formular ausgegeben, doch ist dies für die AGB-Eigenschaft auch nicht erforderlich. Es genügt, daß die Deutsche Börse AG eine entsprechende Erklärung regelmäßig von allen Emittenten verlangt und die verwendeten Klauseln eine inhaltlich gleiche Aussage enthalten, Bachmann, WM 2001, 1795; Manfred Wolf, W M 2001, 1787 unter Hinweis auf § 17 Nr. 3 AGBG (jetzt § 9 UKlaG) und die dazu vorliegende Rspr. und Literatur. Insoweit ebenso das Primary Markets Arbitration Panel, BKR 2001, 153 ff., das allerdings eine ergänzende Vertragsauslegung annimmt, die gleichfalls
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wo es wegen § 310 BGB einer ständig erneuerten Einbeziehung nach § 305 I I BGB nicht bedarf, ist ein einseitiger Änderungsvorbehalt auch in AGB möglich. Weiterer Kontrollmaßstab ist § 307 BGB 6 4 3 . Verhindert werden soll auf diesem Wege, daß der Verwender der AGB durch den einseitigen Änderungsvorbehalt Druck auf seine Vertragspartner ausübt. Teilweise wird eine Einbeziehung eines einseitigen Änderungsrechts als mit § 9 AGBG (jetzt § 307 BGB) unvereinbar angesehen; es entspräche weder dem Transparenzgebot noch sei es inhaltlich angemessen644. Demgegenüber ist es vorzugswürdig, wenn die Wertungen des § 307 BGB nicht schematisch auf die Änderungsbefugnis übertragen werden, sondern auf „Zweck und Natur des jeweiligen Vertragsverhältnisses unter Berücksichtigung der Verkehrssitte" abgestellt wird 645 . Der vom Bundesgerichtshof entwickelte Gedanke, organisatorische „Spielregeln" in Hinblick auf ihre AGB-rechtliche Zulässigkeit besonders zu behandeln, findet hier eine neue, differenziertere Ausformung. Die Zulässigkeit eines einseitigen Änderungsrechts ist somit durch Abwägung der betroffenen Interessen zu ermitteln 646 . Die besondere Netzwerkstruktur der börslichen Marktplätze, die börsenrechtliche Regelwerke kennzeichnet, läßt bipolare Interessenkonflikte ausscheiden. In die Abwägung müssen nicht nur die Interessen der Emittenten und der Betreibergesellschaft Eingangfinden, sondern auch die Interessen der bestehenden und künftiger Anleger (Individualschutz) sowie der allgemeine kapitalmarktrechtliche Funktionsschutz. Auf Seiten der Emittenten ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den neu eingeführten Ausschlußtatbeständen in der Sache um ein einseitiges Kündigungsrecht handelt, das nach allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen an strenge Voraussetzungen geknüpft ist 647 . Gleichzeitig soll aus der Netzwerkstruktur eine Pflicht dergestalt folgen, daß nicht nur auf die Belange der Deutsche Börse AG, sondern auch auf die Interessen der anderen am Neuen Markt gelisteten Gesellschaften Rücksicht zu nehmen sei, was in Extremfällen auch den Ausschluß gebieten könne 648 . Für die zu einer Billigkeitskontrolle gem. §315 BGB führen soll. Vgl. hierzu auch die Besprechung von Krämer, BKR 2001, 131 ff. 643 Der speziellere § 308 Nr. 4 BGB scheitert an § 3101 BGB. Zum Leistungsbestimmungsrecht (§315 BGB) im Zusammenhang mit AGB allgemein Brandner, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGBG, Anh. §§9-11 Rn.470; Martin Wolf in: Wolf/Horn/Lindacher, AGBG, § 8 Rn. lOff. 644 Manfred Wolf WM 2001,1786f. Daran anschließend legt ^//ausführlich dar, wie eine vergleichbare Änderungsmöglichkeit auch über individuelle Kündigungen und Neuverhandlungen bzw. konkludente Vertragsänderungen gegeben ist. Die dabei gefundenen Ergebnisse kommen in ihrer zeitlichen Flexibilität der einseitigen Änderungsbefugnis nahe, verursachen aber einen höheren Verwaltungsaufwand. Vgl. dagegen Primary Markets Arbitration Panel, BKR 2001, 156 f. m.w.N. 645 Bachmann, W M 2001, 1796f. unter Verweis auf § 9 II Nr. 2, § 24 S. 2 HS. 2 AGBG (jetzt § 307 III BGB). Zustimmend Krämer, BKR 2001, 134. 646 Vgl. Bachmann, W M 2001, 1797f.; Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 100; ähnlich Manfred Wolf WM 2001, 1789f., allerdings i. R. d. § 201 GWB. 647 Dazu, daß diese Voraussetzungen zum. hinsichtlich der Insolvenzklausel erfüllt wären, vgl. Manfred Wolf W M 2001, 1788 ff. Kritisch OLG Frankfurt a.M., DB 2002, 938 f. 648 Bachmann, W M 2001, 1798; vgl. die §§538, 539, 706 S. 1 Nr. 1 HGB. 18 Augsberg
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Position der Deutsche Börse AG spricht zudem, daß die Funktionsfähigkeit des Handelssegments es voraussetzt, daß sie in diesem Rahmen zu einseitigen Regelwerksänderungen berechtigt ist, und eine solche Systemfunktionalität bei komplexen Rechtsverhältnissen als ein maßgeblicher Faktor zur Ermittlung des AGBrechtlichen Kontrollmaßstabs anerkannt ist 649 . Erst recht gilt dies, wenn, wie am Neuen Markt geschehen, eine stärkere Reglementierung angesichts einer eingetretenen „Schiefläge" angezeigt erscheint, um weitere Vertrauens- und Reputationsverluste zu verhindern. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Einführung eines neuen Ausschlußtatbestands ökonomisch erforderlich ist; entscheidend ist allein, daß sie von maßgeblichen Kreisen (Anlegerverbände, Fondsgesellschaften, Kreditinstitute, Analysten) für geeignet erachtet wird. In Hinblick auf die Investoren ist zwar einerseits zu beachten, daß die Aktionäre der betroffenen Gesellschaften ihre Anteile möglicherweise im Vertrauen auf das strenge Regelwerk des Neuen Marktes erworben haben, dessen Schutzes sie im Falle eines Ausschlusses verlustig gingen. Der Ausschluß vom Neuen Markt nimmt ihnen jedoch nicht die Möglichkeit, ihre Aktien weiterhin an der Börse zu veräußern, denn die Zulassung zum Handel im geregelten Markt bleibt unberührt, auch wenn die Notierung gesondert beantragt werden muß 650 . Demgegenüber muß andererseits bedacht werden, daß neue Anleger sich möglicherweise der Risiken eines Investments nicht in vollem Umfang bewußt sind und auf die Notierung im „Qualitätssegment" Neuer Markt vertrauen. Soweit die Interessen der Alt-Aktionäre mit denen potentieller neuer Anleger konfligieren, ist daher davon auszugehen, daß erstere ebenso, wie sie das allgemeine Insolvenzrisiko trifft, auch die Gefahr eines Ausschlusses vom Neuen Markt tragen müssen und deshalb dem Schutz der Neu-Anleger Vorrang zukommt. Somit scheint eine Regelverschärfung sowohl dem Individual- als auch dem Funktionsschutz dienlich. Das Interesse der Deutsche Börse AG an einem funktionierenden Handelssegment mit hoher Liquidität beruht möglicherweise auf eigennützigen Motiven, in seinen Auswirkungen kommt es jedoch auch den Anlegern und der Institution Börse zugute.
bb) Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten Berücksichtigt werden muß außerdem, daß es sich bei den Emittenten nicht um Individuen handelt, die in ihrer Schutzbedürftigkeit Verbrauchern oder Arbeitneh649
Bachmann, W M 2001, 1797 unter Verweis auf Windbichler, AcP 198 (1998), 278, 285. Richtigerweise ist (erst) an dieser Stelle § 57 BörsG Rechnung zu tragen. Der Norm kommt eine „wichtige Indizfunktion" dahingehend zu, daß die Funktionsfähigkeit in die Interessenabwägung miteinzubeziehen ist, so zu Recht Krämer, BKR 2001, 133. 650 Bachmann, W M 2001, 1797; Plückelmann, Der Neue Markt, 180; Manfred Wolf, W M 2001, 1790; Schanz, Börseneinführung, § 11 Rn. 99; a. A. aber Ledermann, in: Schäfer, BörsG, Vor §71 Rn.4a. Vgl. auch § 54 a 12 Nr. 1 BörsO FWB: „Der Schutz der Anleger steht einem Widerruf insbesondere dann nicht entgegen, wenn auch nach dem Wirksamwerden des Widerrufs der Handel des Wertpapiers an einem inländischen oder ausländischen organisierten Markt im Sinne von § 2 Abs. 5 des WpHG gewährleistet erscheint".
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mern gleichzustellen sind, sondern um börsennotierte Aktiengesellschaften. Sie sind von der Betreibergesellschaft abhängig, zugleich ist aber diese auf die Teilnahme der Unternehmen angewiesen651. Dem entspricht es, daß regelmäßig den Emittenten die Möglichkeit geboten wird, vor Regelwerksänderungen angehört zu werden. Häufig werden solche Änderungen sogar von den Marktteilnehmern angeregt. Auch hier wirkt sich die Netzwerkstruktur der Reglementierung aus, insofern ein geordneter und funktionsfähiger Neuer Markt im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten liegt. Gleiches sollte für eine verständige und kooperative Vorgehensweise hinsichtlich der Weiterentwicklung des Regelwerks gelten. Es wäre wünschenswert, die bislang auf informeller Ebene befindliche Anhörung als akzeptanzfördernden Partizipationsmechanismus zu institutionalisieren. Insofern besteht Handlungsbedarf vor allem auf Seiten der Deutsche Börse AG 6 5 2 . Die einseitige Änderungsmöglichkeit liegt an der Schnittstelle von privatautonomer Aushandlung und autoritativer Rechtsetzung. Gerade hier sollte auf Kooperation nicht verzichtet werden. Eine frühzeitige Ankündigung und Erörterung geplanter Änderungen ermöglichte nicht nur den Dialog mit den Adressaten der Verhaltensanforderungen, sondern nähme auch die berechtigten Bedenken auf, die gegen die Praxis der kurzfristig angesetzten Änderungen durch die Deutsche Börse AG vorgebracht worden sind. Denn angesichts der Zeitspanne, die vom Ausschluß bedrohte Unternehmen benötigen, um entweder Maßnahmen zu ergreifen, die einen Ausschluß verhindern könnten (wofür in der Regel die Abhaltung einer Hauptversammlung erforderlich ist), oder alternative Strategien für den Fall des Ausschlusses (beispielsweise den Antrag auf Notierung am geregelten Markt zu stellen) zu entwickeln und umzusetzen, erscheint eine längere Ankündigungsfrist, als sie von der Deutsche Börse AG geplant war, sinnvoll, wenn nicht rechtlich geboten653. Daneben ist die potentielle gerichtliche Kontrolle ein unersetzliches Kompensationsmittel. Die Anerkennung eines privatautonomen einseitigen Leistungsbestimmungsrechts durch die staatliche Rahmenordnung schafft ebensowenig wie die vereinsrechtliche Satzungsautonomie gerichtsfreie Räume. Sie setzt über die individuelle Unterwerfung hinaus auch voraus, daß staatlicherseits zumindest eine Billigkeitskontrolle installiert ist. Deren Erfordernis folgt positivrechtlich aus § 307 BGB sowie aus § 315 bzw. § 242 BGB; verfassungsrechtlich ist sie über die allgemeine Ju651
Vgl. ähnlich bereits Göppert, Börse und Publikum, 14: „Sie (i.e. die Wertpapierbörse) ist keine bloße vom Publikum isolierte Erscheinung des Handels, sondern steht mitten in diesem Publikum ihm dienend, aber auch von ihm beherrscht". 652 Regelungsänderungen werden vom Vorstand der Deutsche Börse AG beschlossen; über Streitigkeiten über oder aus der Zulassung zum Neuen Markt entscheidet gem. Ziffer 2.1.5 RWNM das sog. „Primary Markets Advisory Committee", das aus drei von der Deutsche Börse AG berufenen Mitgliedern besteht. Die Emittenten haben einen „Interessenverband der Unternehmen am Neuen Markt e.V." gegründet, der als Diskussions- und Verhandlungspartner der Deutsche Börse AG fungieren will, vgl. Bachmann, W M 2001, 1798 Fn. 100f. m. w.N. 653 Vgl. ebenso LG Frankfurt a.M., W M 2001, 1607ff.; Bachmann, W M 2001, 1798 mit Fn. 90. 18*
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
stizgewährungspflicht abgesichert. Die gerichtliche Überprüfung bietet indes nur ein Mindestmaß an Schutz, da sie nicht nur sachlich auf eine Willkürkontrolle beschränkt ist, sondern auch nur inter partes wirkt. Ihre Intensität kann weiter verringert werden, wenn nachgewiesen wird, daß die Änderungen in einem kooperativen, den Vertragspartnern Gelegenheit zur Stellungnahme bietenden Entwicklungsprozeß zustande gekommen sind. d) Ergebnis Faßt man die vorgenommene Abwägung zusammen, ist insgesamt die Änderung der Bestimmungen des RWNM durch die Deutsche Börse AG, insbesondere auch die Einführung der neuen Ausschlußtatbestände, als rechtlich (noch) zulässig zu beurteilen. Zu Recht sind aber nicht nur die vorgesehenen kurzen Fristen bemängelt worden, sondern es besteht zudem - auch im Interesse der Deutsche Börse AG - ein Bedürfnis nach einem stärker verschränkten und transparenteren Änderungsverfahren, auch wenn dies im Ergebnis eine Einschränkung der Einseitigkeit bedeutet654. 3. Börsengeschäftsbedingungen Gemäß § 9 II Nr. 5 BörsG ist zwar der Erlaß der für die Geschäfte an der Börse geltenden Bedingungen (Börsengeschäftsbedingungen oder Börsenusancen) nicht der Betreibergesellschaft, sondern dem Börsenrat aufgegeben. Dennoch handelt es sich bei den Börsengeschäftsbedingungen im Gegensatz zur Börsenordnung und Gebührenordnung nicht um auf Basis der gewährten Autonomie gesetzte Rechtsnormen, sondern um vom Börsenrat vorformulierte privatrechtliche Geschäftsbedingungen, die den an der Börse abgeschlossenen Geschäften vorbehaltlich anderer, ausdrücklich abgeschlossener Vereinbarungen zugrunde liegen 655 . Gegen eine teilweise vorgenommene Qualifikation als im Rahmen der Börsenautonomie gesetztes objektives Recht 656 spricht, daß das Selbstverwaltungsrecht und die Autonomie der 654
Gemäß § 13 I I Nr. 3 BörsG muß die Börsenordnung Bestimmungen über die Handelsarten enthalten. Die Börsen können damit Segmente wie den Neuen Markt künftig durch die durch den Börsenrat einseitig erlassene Börsenordnung regeln. Vgl. aus Sicht der Deutsche Börse AG zustimmend Beck/Schlochtermeyer, Börsenzeitung vom 14.11.2001, 5; differenzierend Nietsch, Börsenzeitung vom 2.11.2001, 6; U.H. Schneider, Börsenzeitung vom 18.10.2001, 3 mit dem Hinweis auf die dadurch wachsende Bedeutung der Zusammensetzung des Börsenrats und damit auch der Vertretung der Emittenten in diesem Gremium. 655 Baums/Segna, Börsenreform, 48; Schwark, BörsG, Einl. §50 Rn.42. 656 So V.Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, 66ff., der allerdings eine „Doppelnatur" der Börsengeschäftsbedingungen als sowohl öffentlich-rechtlich (hinsichtlich der Leistungsbeziehungen zwischen der Börse und den Börsenbesuchem bzw. Emissionsbeteiligten) als auch privatrechtlich (hinsichtlich des Verhältnisses der Börsenbesucher untereinander) annimmt. Ähnlich Breitkreuz, Ordnung der Börse, 133 ff. („Rechtssätze sui generis"), dem jedoch darin zuzustimmen ist, daß die Tatsache, daß nicht eine der beiden Vertragsparteien als Verwender agiert, eine Anwendung der AGB betreffenden Bestimmungen des BGB ausschließt. Nach
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Börse von ihrem Zweck her auf den ordnungsgemäßen Betrieb der Börse und das Funktionieren ihrer zum Teil gesetzlich vorgeschriebenen Einrichtungen (vor allem die Kursnotierung und Preisfeststellung) beschränkt sind. Die aus der Autonomie folgende Befugnis, Rechtsnormen zu erlassen, beschränkt sich damit auf diesen Bereich; hingegen erfaßt sie nicht die nähere Ausgestaltung der Börsengeschäfte und des Börsenverkehrs. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist zusätzlich zu bedenken, daß die Geschäftsbedingungen auch für Geschäfte außerhalb der Börse und damit auch für nicht der autonomen Rechtsnormsetzungsmacht unterliegende Personen Anwendung finden. Schließlich fehlt für die Geschäftsbedingungen auch eine ausdrückliche Ermächtigung (und ein korrelierendes Genehmigungserfordernis), wie sie § 13 BörsG für die Börsenordnung enthält. Die bloße Erwähnung in § 9 BörsG stellt keine Gleichsetzung mit der Börsenordnung dar, vielmehr handelt es sich um eine allgemeine Aufgabenbeschreibung, die noch keine Aussagen über die Rechtsnatur enthält. Die Börsenbedingungen (Usancen) sind mithin kein objektives Recht, sondern setzen zu ihrer rechtsverbindlichen Geltung eine vertragliche Einbeziehung voraus 657. 4. Börsenindizes (DAX, MDAX, SDAX) Ähnliches wie für die beschriebenen privatrechtlichen Börsenregelwerke ist auch für die Regelungen anzunehmen, die Voraussetzung für die Aufnahme in einen Börsenindex sind 658 . Die dort statuierten Anforderungen gelten unabhängig von der Zulassung zu einem bestimmten Handelssegment; auch sie sind daher aus der öffentlich-rechtlichen Börsenordnung gelöst und stellen von der Betreibergesellschaft aufgestellte, zusätzlich zu beachtende Vorschriften auf, die besonders als Solidarnormen zu beachten sind, mit denen beispielsweise dem Übernahmekodex zu erhöhter Wirksamkeit verholfen werden sollte oder Rechnungslegung nach internationalen Standards auf privatvertraglicher Basis für die Mitgliedunternehmen verbindlich gemacht wurde. Ihre rechtliche Einordnung entspricht der der Freiverkehrsrichtlinien bzw. des RWNM.
Bremer, Grundzüge, 77 f. handelt es sich um „Handelsgewohnheitsrecht", das immer gilt, solange es nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde. Hiergegen spricht nicht nur die Rechtsunsicherheit, die die Dispositivität erzeugte, sondern auch, daß Änderungen der Geschäftsbedingungen zunächst gerade keine „allgemeine Anerkennung" aufweisen. 657 Schwark, BörsG, §4 Rn. 17. Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 482. 658 Bekannt ist hier vor allem der Streit zwischen der Deutsche Börse AG und der Porsche AG. Letztere weigerte sich, die nach den Regeln des MDAX erforderlichen Quartalsberichte abzugeben, da diese für ein Automobilunternehmen wenig aussagekräftig seien und nicht mehr Information, sondern mehr Verwirrung bedeuteten. Daraufhin wurde sie schließlich aus dem Index ausgeschlossen.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit (Kodizes) Ohne staatlichen Geltungsbefehl bleibt private Normsetzung rechtlich unverbindlich. Als reine gesellschaftliche Selbstregulierung erscheint sie damit auf den ersten Blick ebenso unproblematisch wie hinsichtlich ihrer Steuerungskraft eingeschränkt, hier rechtliche Maßstäbe anzulegen entweder als Aporie oder als übertriebener Aufwand. Die fehlende Rechtsverbindlichkeit kann indes durch faktische Zwänge jedenfalls teilweise ausgeglichen werden. Deshalb darf sich auch die Selbstkontrolle nicht im rechtsfreien Raum vollziehen659, sondern bedarf eines rechtlichen Rahmens, der Stabilität sichert und die Schaffung ausgewogener und fairer Regelungen ermöglicht. Dort, wo die Normsetzung aufgrund staatlicher Ingerenz erfolgt, behält das staatliche Recht einen Strukturierungsauftrag: Die privaten Normsetzungsverfahren sind soweit vorzuformen, daß sie den umfassenden und angemessenen Interessenausgleich, auf den das Recht verpflichtet ist, aus sich heraus gewährleisten 660. Aber selbst dort, wo freiwillige Selbstregulierung (ausnahmsweise) gänzlich ohne staatliche Beteiligung erfolgt, bedeutet dies nicht zwangsläufig den Verzicht auf ein bestimmtes Erlaßverfahren. Denn eine umfassende Betroffenenbeteiligung und ein hohes Maß an Transparenz liegen nicht nur im Interesse des durch die Selbstnormierung entlasteten, aber nicht vollständig aus der Regelungsverantwortung entlassenen Staates, sondern auch im wohlverstandenen Interesse der auf Akzeptanz angewiesenen privaten Normsetzer. Anschauungsmaterial privater, rechtlich zunächst unverbindlicher Normsetzung liefern für den Bereich des Kapitalmarktes beispielhaft der Übernahmekodex (I), die von verschiedenen Gremien erarbeiteten Richtlinien zur Corporate Governance (II), die Zuteilungsgrundsätze der Börsensachverständigenkommission (III) sowie der Ehrenkodex für Finanzanalysten (IV). I. Der Übernahmekodex Mit Inkrafttreten des WpÜG am 1. Januar 2002 ist der Übernahmekodex der Börsensachverständigenkommission661 rechtlich weitgehend obsolet. Dennoch soll er nachfolgend noch einmal beschrieben werden, weil er zum einen das kapitalmarktrechtlich prominenteste und meistdiskutierte Beispiel eines rechtsunverbindlichen privaten Regelwerks darstellt und weil sich an ihm zum anderen paradigmatisch das Zusammenwirken von privaten und staatlichen Steuerungsanstrengungen untersu659
Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1230f. Vgl. Schuppert, Steuerungswissenschaft, 72ff. („Bereitstellungsfunktion des Rechts"). 661 Der Text des Übemahmekodex ist abgedruckt u.a. in AG 1998, 133ff. (vgl. AG 1995, 572ff.; dazu z.B. Assmann, AG 1995, 563ff.; Diekmann, WM 1997, 897ff.). Zur Entstehung des Kodex vgl. Bericht der Übernahmekommission, Drei Jahre Übemahmekodex, 9 ff. 660
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
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chen sowie nach Gründen für das Scheitern der selbstregulativen Normsetzung forschen läßt. 1. Regelungsmaterie Der Übernahmekodex enthält Verhaltens Vorschriften für Bieter- und Zielgesellschaften im Rahmen öffentlicher Unternehmensübernahmen. Er datiert in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahre 1995, als er die bis dahin geltenden Leitsätze der Börsensachverständigenkommission 662 ersetzte. Vorbild für die neue Regelung war der britische City Code on Takeovers and Mergers von 1968663. Regelungszweck des Übernahmekodex ist der Anlegerschutz (insbesondere durch Herstellung von Transparenz und Gleichberechtigung) und die Sicherung und Unterstützung eines funktionierenden Marktes. In einer wachsenden globalen Verflechtungen ausgesetzten Wirtschaftsordnung, in der sich nationale Reglementierungen zunehmend an den Erwartungen der realen oder fiktiven internationalen „financial Community4' orientieren 664, kann der Übernahmekodex als Versuch angesehen werden, internationale Standards auf freiwilliger Basis auch in Deutschland einzuführen, um damit die Reputation des Finanzplatzes Deutschland zu verbessern. 2. Rechtscharakter des Übernahmekodex Schon die Bezeichnung als „Kodex" deutet nicht nur auf die Verwandtschaft des Übernahmekodex mit dem britischen City Code, sondern stellt gemessen am herrschenden Sprachgebrauch auch eine deutliche Unterscheidung zu rechtsverbindlichen Kodifikationen dar. So findet sich der Begriff vor allem im sozialen Bereich, wo ein Eingreifen des Staates aus unterschiedlichen Gründen nicht erwünscht ist („Ehrenkodex"). In seiner Einleitung wird der Übernahmekodex folgerichtig als bloße „Empfehlung von Verhaltensnormen" bezeichnet.
662 „Leitsätze für öffentliche freiwillige Kauf- und Umtauschangebote bzw. Aufforderungen zur Abgabe derartiger Angebote in amtlich notierten oder im geregelten Freiverkehr gehandelten Aktien bzw. Erwerbsrechten (LSÜbernahmeangebote)" aus dem Jahre 1979, abgedruckt bei Baumbach/Hopt, HGB, 2. Handelsrechtliche Nebengesetze (18), 1398ff. Diese Leitsätze stellten ihrerseits eine Reaktion auf die - die Mitgliedstaaten nicht bindende - Empfehlung der Kommission vom 25.7.1977 betreffend europäische Wohlverhaltensregeln für Wertpapiertransaktionen (ABl. EG Nr. L212/37 vom 22.8.1977) dar, vgl. Baums, Harmonisierung, 3. 663 Zu City Code und Takeover Panel allgemein Davies, The Regulation of Takeovers and Mergers, v. a. 45 ff.; Johnston, The City Take-over Code, 30ff.; Herkenroth, Konzernierungsprozesse, 242ff., v. a. 257ff.; Krause, Übernahmeangebot, 43ff.; Pennington, FS Duden, 379ff.; Roßkopf\ Selbstregulierung, v. a. 106ff. Kritisch Hopt, Kapitalanlegerschutz, 152ff.; vgl. dens., ZHR 141 (1977), 430. 664 Assmann, AG 1995, 563. Weisgerber, ZHR 161 (1997), 423, spricht einprägsam von „Gütesiegeln". Zum ökonomischen Für und Wider von Übernahmen z. B. MülbertlBirke, W M 2001,706 ff. m.w.N.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
a) Normsetzungsgremium Erstellt wurde der Kodex von der Börsensachverständigenkommission, einer beim Bundesfinanzministerium angesiedelten, diesem jedoch organisatorisch nicht eingegliederten Institution mit der Aufgabe der Beratung der Bundesregierung in Fragen des Kapitalmarkt- und Börsenrechts. Einer denkbaren Qualifizierung als dem informellen Verwaltungshandeln zuzuordnende Empfehlungen des Bundesfinanzministeriums oder der Bundesregierung steht entgegen, daß jede Bezugnahme auf die Bundesregierung oder das Bundesfinanzministerium fehlt und in jeder Verlautbarung zum Übernahmekodex allein die Börsensachverständigenkommission als Urheber genannt wird. Es entspricht daher allgemeiner, offenbar unbestrittener Ansicht, daß der Übernahmekodex „ausschließlich eine privatrechtliche Grundlage'4 hat 665 . Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß die Mitgliedschaft in der Kommission auf der Berufung durch das Bundesfinanzministerium beruht 666. Ihrer Funktion nach ähnelt die Börsensachverständigenkommission den Sachverständigengremien der Kollegialverwaltung 667. Sie agiert nicht aus eigener Initiative heraus, sondern wird „auf Anfrage" der Bundesregierung hin tätig. Ihr kommen zwar in Ermangelung einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage keine hoheitlichen Befugnisse zu. Aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung ist dennoch zu fordern, die Einrichtung von der Ebene des Informalen auf eine höhere Legitimationsstufe zu erheben und dabei auch Vorgaben zu Organisation (insbesondere Besetzung) und Verfahren festzulegen 668. b) Fehlen einer Rezeptionsnorm Durch staatliche Rezeption kann eine private Norm Rechtsverbindlichkeit erlangen. Eine Verweisung auf den Übernahmekodex fehlt ebenso wie eine gesetzliche Generalklausel, deren Ausfüllung er als „selbstregulative Auslegungsofferte" dienen könnte. Die vorhandenen aktienrechtlichen Bestimmungen insbesondere der 665
Vgl. nur Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 450. Vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 231 f., demzufolge Einrichtungen in Privatrechtsform, an denen Staat und Gesellschaft beteiligt sind, selbst dann nicht zu Bestandteilen der Verwaltungsorganisation werden, wenn ein bedeutender Staatseinfluß oder eine Abhängigkeit von öffentlichen Haushaltsmitteln besteht. Statt dessen sollen aber der Gründungsvorgang bzw. die Bestimmungsbefugnis über die Gremienzusammensetzung Indizien der Zuordnung sein. Vgl. allgemein auch Wieweg, Atomrecht, 57 ff. 667 Dazu T. Groß, Kollegialprinzip, v.a. 90 ff. 668 Allerdings bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen die gegenwärtig geübte Praxis. Der Börsensachverständigenkommission gehören Vertreter der Anlegerschutzverbände, Kreditinstitute, Versicherungen, Investmentgesellschaften, Börsen, Industrie, Deutschen Bundesbank, Wissenschaft und des Länderarbeitskreises Börsen an, wodurch eine hinreichende Diversifikation der eingebrachten Interessen gewährleistet erscheint. Administriert wurde der Übemahmekodex von der bei der Deutsche Börse AG angesiedelten Übemahmekommission bzw. deren Geschäftsstelle, vgl. Art. 20-23 Übemahmekodex. 666
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
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§§ 300ff. A k t G regeln zwar Teilbereiche des Übernahmerechts, enthalten aber keinen konkreten Anknüpfungspunkt für ein entsprechendes privates Regelwerk 6 6 9 . Ebenso scheiterte der Versuch, die Erklärung gegenüber der Übernahmekommission als eine im Sinne der §§ 94,116 A k t G zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung gehörende haftungsrechtlich erforderliche Handlung anzusehen 670 , an der Tatsache, daß den Unternehmen hieraus nicht notwendig Vorteile erwachsen, sondern i m Gegenteil die Einhaltung der im Übernahmekodex statuierten Grundsätze sogar zu einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit und unter Umständen zu finanziellen Einbußen führt 6 7 1 . Schließlich sind die Grundsätze des Übernahmekodex auch nicht als „Handelsbrauch" oder als „Gewohnheitsrecht" einzuordnen, da sie weder allgemeiner Übung entsprechen noch allgemeine Akzeptanz in den betroffenen Wirtschaftskreisen aufweisen 6 7 2 .
c) Vertrag Rechts Wirkung könnte dem Übernahmekodex aber aufgrund des von Art. 21 des Übernahmekodex vorgesehenen Anerkennungsverfahrens zukommen. Da weder die Übernahmekommission noch deren Geschäftsstelle Träger öffentlicher Verwal669 Hopt, ZHR 161,402 zufolge besteht zumindest eine „gewisse Wahrscheinlichkeit", daß die Regelungen des Übernahmekodex bei Rechtsstreitigkeiten von den Gerichten als Standard und unter Umständen sogar als Verhaltenspflicht angesehen werden. 670 So offenbar Schuster, Die Bank 1995, 614. 671 Umgekehrt stellt die Anerkennung des Übernahmekodex keine Pflichtverletzung des Vorstandes dar, sondern ist als zumindest vertretbare Entscheidung anzusehen, aufgrund derer das Unternehmen einen positiven Leumund in der Weise zu erwarten hat, daß es gewillt und in der Lage ist, die internationalen Standards einzuhalten, Hopt, ZHR 161 (1997), 403; Thoma, ZIP 1996, 1729 f. Kritisch Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 439, der die Verpflichtung auf die Interessen der Anteilsinhaber der Bietergesellschaft hervorhebt. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Geschäftsführung nicht nur zur Wahrung der Aktionärsinteressen, sondern des Unternehmensinteresses verpflichtet ist. Letzteres umfaßt auch die Interessen der Stakeholder (z.B. der Arbeitnehmer einer- und Gläubiger andererseits) sowie das Interesse der Allgemeinheit. Der Vorstand wird verpflichtet, die zum Teil widerstreitenden Interessen in einen funktionalen Ausgleich zu bringen, wobei im Zweifel den Aktionärsinteressen ein Vorrang einzuräumen ist, Mülbert, ZGR 1997, 155f. Ähnlich Kirchner, WM 2000, 1822ff. m.w.N. in Fn. l l f f . und 1825: „[...] unter der Nebenbedingung der bestmöglichen Wahrung der Stakeholderinteressen hat der Vorstand die Gesellschaft im Interesse ihrer Anteilseigner zu leiten". Kirchner, dort, 1826, hält eine gerichtliche Berücksichtigung der Anerkennung des Übernahmekodex bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes des „Unternehmensinteresses" für möglich, verwirft sie aber mit Blick auf die vergleichbare Problematik i. R. d. GoB, da eine solche induktive Heranziehung dazu führte, daß die Praxis der Regelungsadressaten maßgeblich für die Auslegung des zwingenden Rechts wäre. Erforderlich sei statt dessen eine nur durch lange gerichtliche Praxis erzielbare Herausbildung einer deutschen und europäischen „Business Judgement Rule", dort, 1830. 67 2 KirchneriEhricke, AG 1998,108 unter Verweis auf die allgemeinen in der Methodenlehre entwickelten Voraussetzungen für das Vorliegen von Gewohnheitsrecht bzw. eines Handelsbrauchs, vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, 356ff.; Forsthoff, Verwaltungsrecht 1,144ff. einer-, Brüggemann, in: Staub, HGB, 1. Band Einleitung Rn.32ff. andererseits.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
tung sind, kann diese Anerkennung nur privatrechtlicher Natur sein. Dem äußeren Anschein nach handelt es sich um eine Verpflichtungserklärung, aus der sich schuldrechtliche Rechte und Pflichten herleiten lassen. Tatsächlich wird teilweise eine Qualifikation als privatrechtlicher Vertrag angenommen 673 . Dem ist entgegenzuhalten, daß eine derartige Qualifizierung der Anerkennung als Annahme eines schuldrechtlichen Angebots einen Erklärungsempfänger voraussetzte, dem gegenüber sich die Unternehmen verpflichteten. Der Übernahmekommission fehlt jedoch die hierfür erforderliche Geschäfts- und Rechtsfähigkeit 674 . Gleiches gilt für ihre Geschäftsstelle und für die Börsensachverständigenkommission 675 . Die Übernahmekommission sammelt daher lediglich als Selbstbindung gemeinte Bereitschaftserklärungen, denen mangels eines Vertragspartners keine rechtsgeschäftliche Wirkung zukommt 6 7 6 . Eine gerichtliche Durchsetzung ist damit ausgeschlossen; die Selbstbindung ist nicht justitiabel 6 7 7 .
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Thoma, ZIP 1996, 1725 f.; unklar Assmann, AG 1995, 564, der von einem privatrechtlichen Vertrag spricht, dem er aber nur eine „gewisse Rechtswirkung" zugesteht. 67 4 W.Groß, DB 1996, 1910 m. w.N.; Kirchner!Ehricke, AG 1998, 107; Schander, NZG 1998, 800f.; Schanz, Börseneinführung, § 17 Rn.67. 67 5 Kirchneri Ehricke, AG 1998, 107. 676 Dieses Ergebnis entspricht auch dem Wortlaut des Art. 21, der keinen Hinweis auf eine rechtliche Verbindlichkeit enthält. Vgl. auch Hopt, ZHR 161 (1997), 401; Diskussionsbericht zu den Beiträgen von Hopt und Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 455; Schander, NZG 1998, 801. Die Anerkennungserklärung läßt sich nicht als einseitiges Rechtsgeschäft qualifizieren und unterfällt auch nicht einer gesetzlichen Ausnahme vom zivilrechtlichen Vertragsprinzip; zur Frage der Schutzwirkung der Anerkennung gegenüber Dritten vgl. - diese ablehnend - W. Groß, DB 1996, 1909. 677 Ebensowenig ist es möglich, die Entscheidungen der Geschäftsstelle gerichtlich überprüfen zu lassen, Kirchneri Ehricke, AG 1998, 110 f. Das ist v. a. deshalb rechtsstaatlich bedenklich, weil angesichts der faktischen Monopolstellung der Übemahmekommission die Wahrscheinlichkeit eines Widerrufs der Anerkennung gering erscheint. Zwar kann eine einmal erklärte Anerkennung sanktionslos widerrufen werden, vgl. Weisgerber, ZHR 161 (1997), 426. Damit sind aber faktische Maßnahmen der Übemahmekommission nicht ausgeschlossen, die auf die Reputation und damit mittelbar auch auf die wirtschaftlichen Aussichten eines Unternehmens großen Einfluß haben können. Die Situation gleicht dem Vereinsrecht. Dort ist anerkannt, daß in dem Maße, in dem die Wahrscheinlichkeit eines Vereinsaustritts sinkt, die Intensität der gerichtlichen Überprüfung ansteigen muß, vgl. BGH, NJW 1984, 918 (919); BGHZ 36, 105 ff.; 47, 381 ff.; 93, 151 ff.; 102, 265 ff.; 105, 306ff. Da andererseits keine volle staatliche Nachprüfung erfolgen kann und Mißbrauch verhindert werden sollte, böte es sich an, der Übemahmekommission einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, und im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nur ausnahmsweise zur Gewährung eines erforderlichen Mindestrechtsschutzes die ordentliche Gerichtsbarkeit einzuschalten. Eine solche Lösung entspräche weitgehend auch der Praxis in Großbritannien, wo die Gerichte dem Takeover Panel Flexibilität und Freiheit einräumen, über die Interpretation des City Code zu entscheiden, vgl. Kirchneri Ehricke, AG 1998, 112.
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d) Faktische Bedeutung der Anerkennung Damit bleibt es bei der oben vorausgesetzten Erkenntnis, daß der Übernahmekodex eine Zusammenstellung unverbindlicher Verhaltensempfehlungen, einen „Satz von Spielregeln" 678, enthält. Der unverbindliche Charakter soll gleichzeitig die Praxisnähe seiner Regelungen garantieren und eine flexible Anpassung an ein sich ständig veränderndes Umfeld ermöglichen 679. Dennoch kann aus der fehlenden Rechtsgeltung nicht pauschal auf eine grundsätzlich fehlende Bedeutung des Übernahmekodex geschlossen werden. Die Freiwilligkeit der Anerkennung schränkt ein, daß, je mehr das Vorhandensein eines selbstregulativen, dem Anlegerschutz, der internationalen Ausrichtung und der Funktionsfähigkeit des deutschen Kapitalmarktes dienenden Regelwerks bekannt wird, der sozial-normative Druck auf die Unternehmen steigt, sich dem Kodex gemäß zu verhalten 680. Die Freiwilligkeit ist auch nicht mit völliger Sanktionslosigkeit gleichzusetzen681. Entscheidende Bedeutung kommt der von der Geschäftsstelle geführten Liste derjenigen Gesellschaften zu, die den Kodex anerkannt haben. Zusätzlich gesteht der Übernahmekodex der Geschäftsstelle in Art. 21 II die Möglichkeit der Erteilung einer öffentlichen Rüge zu. Gegen diese als „Publizitätswaffe" 682 oder gar als „Pranger" 683 beschriebene Sanktionsform bestehen Bedenken, sofern eine Anerkennung des Kodex nicht stattgefunden hat 684 . Schließlich stellt die Anerkennung auch eine Vorstufe zu der vertraglichen Erklärung dar, die im Falle eines tatsächlich sich anbahnenden Übernahmeverfahrens im Übernahmeangebot enthalten sein soll 685 . Wenn eine entsprechende Erwartungshaltung bei den Aktionären der Zielgesellschaft besteht, wird somit der Bieter nicht umhin kommen, eine nach dieser Maßgabe bereits vorgeformte Willenserklärung abzugeben. 67 8
Kirchneri Ehr icke, AG 1998, 107. Vgl. auch die Einleitung zum Übernahmekodex: „als flexibles Instrument konzipiert, das im Laufe der Zeit gemäß den Erfahrungen in der Praxis angepaßt werden kann". Kritisch Weisgerber, ZHR 161 (1997), 421 ff. 680 ¡Zudem hat z. B. die Deutsche Börse AG die Anerkennung des Übernahmekodex zur Voraussetzung der Neuaufnahme in DAX, MDAX, SMAX und den Neuen Markt gemacht. Diese Anforderung gilt nicht für dort bereits vertretene Gesellschaften. Unternehmen, die den Kodex anerkannt haben, werden in allen Veröffentlichungen der Deutsche Börse AG speziell gekennzeichnet. 681 W. Groß, DB 1996,1909. KirchneriEhricke, AG 1998,108 weisen zutreffend darauf hin, daß damit das dem Übernahmekodex Legitimation verleihende Prinzip der Freiwilligkeit relativiert wird. 682 Thoma, ZIP 1996, 1726, 1732. 683 Krause, AG 1996, 215. 684 Thoma, ZIP 1996,1732; anders Assmann, AG 1995,564. Bei Anerkennung gilt dagegen der Grundsatz volenti non fit iniuria, Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 451. Es entfällt dann aufgrund der Anerkennung die Rechtswidrigkeit i. R. d. Verletzungen des deliktsrechtlichen allgemeinen Persönlichkeits- und Unternehmensschutzes, Kirchneri Ehricke, AG 1998, 109. 685 Art. 7 Ziffer 18 des Übernahmekodex. 679
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3. Probleme der fehlenden Rechtsverbindlichkeit Trotz der skizzierten Anstrengungen konnte dem Übernahmekodex nicht zu allgemeiner Anerkennung verholfen werden 686. Die fehlende Rechtsverbindlichkeit hat zur Folge, daß der Anwendungsbereich der Selbstregulierung durch den Adressatenkreis bestimmt wird. Hieraus können „Verwerfungen und Asymmetrien am Markt" resultieren 687, insbesondere eine potentielle Diskriminierung der die Regelung anerkennenden im Verhältnis zu den nicht verpflichteten Akteuren. Daß die positiven Auswirkungen des Bestehens einer Selbstverpflichtung auch letzteren zugute kommen (free rider-Problematik), läßt die Attraktivität normkonformen Verhaltens weiter absinken. Für den Übernahmekodex kam erschwerend hinzu, daß einer allgemeinen, freiwilligen Anerkennung nicht nur inhaltliche Mängel entgegenstanden 688 , sondern daß Verhaltensregeln für Übernahmeangebote ihrer Natur nach unterbewerteten Unternehmen, die als primäre Übernahmekandidaten gehandelt werden, wenig sinnvoll erscheinen, da sie mit der Anerkennung auf bestimmte Verteidigungsmaßnahmen verzichteten. Gerade der Anerkennung durch deutsche Zielgesellschaften hätte der Übernahmekodex bedurft, denn hinsichtlich der Bieter gilt nicht nur, daß, soweit deutsche Unternehmen ein ausländisches Unternehmen übernehmen wollen, das Übernahmerecht am Sitz der Zielgesellschaft Anwendung findet, sondern es kommen als Bieter auch eine unübersehbar große Anzahl an natürlichen wie juristischen Personen im In- und Ausland in Betracht 689. Insgesamt wird der Übernahmekodex als ein Beispiel eines an fehlender Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit gescheiterten Versuchs der Selbstregulierung angesehen690. Die Hoffnung, der Wettbewerb am Markt werde als ein nichtautoritäres 686 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß dem Übemahmekodex zuletzt eine verbesserte Anerkennungsquote attestiert werden konnte. So hatte sich der prozentuale Anteil derjenigen börsennotierten deutschen Unternehmen, die den Übemahmekodex anerkannt hatten, von 40% im Oktober 1997 auf 64% im Juni 2000 vergrößert (Quelle: Loehr, Pressekonferenz vom 13.6.2000). Hiermit wird zugleich deutlich, daß fünf Jahre nach Einführung des Kodex noch immer ein Drittel der börsennotierten deutschen Gesellschaften den Kodex nicht anerkannt hatten. Von einer allgemeinen Geltung als Kapitalmarktusance, wie sie bspw. der City Code in Großbritannien erlangt hat, kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Allerdings ist die Quote der öffentlichen Übemahmeangebote, die dem Kodex entsprachen, deutlich höher als die der allgemeinen Anerkennung. Aus diesem Grunde könnte man - auch eingedenk der langen Vorlaufzeit, die der City Code brauchte, um zu seinem heutigen Anerkennungsgrad zu gelangen - die mangelnde Durchsetzung wohl auch mit guten Gründen in Zweifel ziehen. In diesem Sinne einer gesetzlichen Regelung gegenüber kritisch Schander, NZG 1998, 806 f.; vgl. auch Bericht der Übemahmekommission, Drei Jahre Übemahmekodex, 22f., 25 ff. Zu den Schwierigkeiten des City Code in den Anfangsjahren auch Hopt, Kapitalanlegerschutz, 153 ff. 687 KirchneriEhricke, AG 1998, 107. 688 Sojedenfalls Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 435 ff.; Kirchner/Ehricke, AG 1998, 105 ff. 689 Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 452. 690 Vgl. Loehr, Pressekonferenz vom 13.6.2000, der gleichzeitig - zu Recht - die wichtige Rolle des Übemahmekodex in einer Phase ohne gesetzliche Regelungen für Unternehmens-
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System zur allgemeinen Durchsetzung auch rechtlich unverbindlicher Regeln beitragen, hat sich nicht erfüllt. Die Marktteilnehmer haben nicht oder jedenfalls nicht in ausreichendem Ausmaße zur Kenntnis genommen, daß bestimmte Selbstkontrollmechanismen (auch) zu ihrem Schutz aufgestellt wurden und sie durch ihr Verhalten Druck ausüben und die Effizienz selbstregulativer Systeme erhöhen können. Der Wirkungsgrad bleibt damit die Achillesferse privater Selbstverpflichtungen.
4. Die Übernahmerichtlinie Ein weiteres Argument gegen die Regelung durch einen freiwilligen Verhaltenskodex lieferte der geplante Erlaß einer europäischen Übernahmerichtlinie (a), deren Umsetzung nicht durch den freiwilligen Kodex hätte erfolgen können (b).
a) Verlauf des Rechtsetzungsverfahrens Bestrebungen, einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen für Unternehmensübernahmen zu schaffen, existieren seit 1974691. Der erste Vorschlag der Kommission für eine dreizehnte Richtlinie des Rates auf dem Gebiete des Gesellschaftsrechts über Übernahmeangebote stammt aus dem Jahre 1988692. Als im Rat keine Einigkeit erzielt werden konnte, wurden die Beratungen im Juni 1991 ausgesetzt. Im Februar 1996 legte die Kommission einen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf deutlich verkürzten Vorschlag für eine „Rahmenrichtlinie" vor 693 , der nur noch einige grundlegende Bestimmungen und eine begrenzte Anzahl allgemeiner, auf nationaler Ebene zu konkretisierender Anforderungen enthielt 694 . Der von der Kommission erarbeitete geänderte Vorschlag für eine dreizehnte Richtlinie vom Novemübemahmen betont, in der der Kodex nicht nur eine kritische Lücke geschlossen, sondern v. a. auch wichtige Erfahrungen ermöglicht habe. Zur vergleichbaren Entwicklung im Insiderrecht Hopt, ZHR 161 (1997), 399 f. 691 Vgl. den „Pennington-Bericht", Komm.-Dok. XI/56/74. Vgl. auch Pennington, FS Duden, 379 ff. Ausführlich zur Geschichte der „Take-Over-Richtlinie" Baums, Harmonisierung; Hopt, ZHR 161 (1997), 373 ff.; Krause, Übernahmeangebot, 26ff.; Merkt, ZHR 165 (2001), 227ff.; Neye, DB 1996, 1121; Roßkopf Selbstregulierung, 266ff., jeweils m.w.N. 692 KOM (1988) 823 endg. vom 16.2.1989, ABl. EG Nr.C64/8 vom 14.3.1989. Siehe auch KOM (1990) 416 endg., ABl. EG Nr.C240/7 vom 26.9.1990. Vgl. Berger, ZIP 1991, 1644ff. 693 Vorschlag für eine dreizehnte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates auf dem Gebiete des Gesellschaftsrechts über Übemahmeangebote vom 7.2.1996, KOM (1995) 655 endg., ABl. EG Nr. C 162/5 vom 6.6.1996. Siehe dazu auch die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 11.7.1996, ABl. EG Nr.C295/l vom 7.10.1996 und die Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 26.6.1997, ABl. EG Nr. C 222/20 vom 21.7.1997. Im Parlament war zuvor insbesondere auch diskutiert worden, ob nicht eine bloße Empfehlung ausreiche, vgl. hierzu Neye, ZIP 1997, 2172 m.w.N. 694 Vgl. die Begründung der Kommission, KOM (1995) 655 endg. Kritisch zum Konzept der „Rahmenrichtlinie" Hopt, ZHR 161 (1997), 380f.: „bloße Tautologie".
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ber 1997 war 1998 und in der ersten Jahreshälfte 1999 Gegenstand intensiver Erörterungen im Rat. Nach außerordentlich kontroversen Verhandlungen wurde am 19. Juni 2000 der „Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union in Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Übernahmeangebote"696 verabschiedet. Am 13. Dezember 2000 beschloß das Europäische Parlament einige Änderungen des gemeinsamen Standpunktes des Rates697. Das Vermittlungsverfahren, an dem Rat, Parlament und Kommission teilnehmen und das im Frühjahr 2001 erfolgen sollte 698 , wurde vor allem durch die Kehrtwende der deutschen Position, nunmehr doch die Neutralitätspflicht des Vorstands der Zielgesellschaft abzulehnen699, erschwert. Am 4. Juli 2001 schließlich wies das Europäische Parlament mit 273 zu 273 Stimmen (bei 22 Enthaltungen) die Verabschiedung der Übernahmerichtlinie zurück 700 . Damit war der Versuch einer Vereinheitlichung des Übernahmerechts in der EU fehlgeschlagen. Die Kommission hat eine unabhängige Expertenkommission damit beauftragt, sie bei der Vorbereitung eines neuen Richtlinienentwurfs zu beraten. Deren ursprünglich erst für Mitte 2002 erwarteter 701 Schlußbericht wurde am 10. Januar 2002 vorgelegt 702; auf seiner Basis hat die Kommission am 2. Oktober 2002 einen neuen Vorschlag für eine transparente Rahmenregelung für Übernahmeangebote vorgelegt 703. Der Ausgang dieses Verfahrens ist offen. Im folgenden soll kurz auf die Möglichkeit einer Umsetzung europäischer Vorgaben durch den Übernahmekodex eingegangen werden, weil diese - wenngleich in 695 ABl. EG Nr. C 378/10 vom 13.12.1997. Siehe auch die Begründung der Kommission, KOM (1997) 565 endg. vom 10.11.1997 sowie die Pressemitteilung der Kommission, IP/97/1022 vom 20.1.1997. 696 ABl. EG Nr.C23/1 vom 24.1.2001; abgedruckt z.B. in W M Sonderbeilage Nr.2 2000, 32ff. Vgl. hierzu Krause, NZG 2000, 905; Neye, AG 2000, 289ff. 697 Der deutsche Berichterstatter im Europäischen Parlament Lehne hatte zuvor wiederholt auf die bestehenden Vorbehalte gegenüber einigen Regelungen des Richtlinienentwurfs aufmerksam gemacht und betont, eine Verabschiedung durch das Europäische Parlament werde nicht ohne erhebliche inhaltliche Änderungen erfolgen, Leserbrief an die FAZ vom 14.3.2000, 11; Vortrag bei einem Seminar des DAI in Frankfurt a. M. am 11.9.2000. 698 In diesem Sinne optimistisch noch Kirchner, W M 2000, 1828; Krause, NZG 2000, 905. 699 Vgl. hierzu z.B. Dimke/Heiser, NZG 2001, 241 ff.; Grunewald, AG 2001, 288ff.; Hopt, FS Lutter, 1361 ff. 700 Laut Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments gilt eine Vorlage als abgelehnt, wenn sie in dritter Lesung keine Mehrheit findet; vgl. zum Verfahren Pluskat, WM 2001, 1938 ff. 701 FAZ vom 11.9.2001,30. 702 Report of the High Level Group of Company Law Experts on Issues related to Takeover Bids; einzusehen unter http://www.europa.eu.int/comm/internal_market/en/company/ company/news/HLG-report-TOB-en.pdf. Bis Mitte 2002 soll diese Expertengruppe weitere Empfehlungen für ein flexibles und modernes Gesellschaftsrecht ausarbeiten und dabei insbesondere die Möglichkeiten der Informationstechnologie berücksichtigen. Vgl. FAZ vom 15.1.2002, 21; vom 16.1.2002, 23. 703 KOM (2002) 534 endg.
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concreto durch das (vorläufige) Scheitern der Übernahmerichtlinie und den Erlaß des W p Ü G in doppelter Hinsicht überholte - Problematik noch einmal deutlich macht, daß private Normsetzung zur Harmonisierung auf EU-Ebene nur sehr begrenzt tauglich ist. b) Umsetzung durch den Übernahmekodex Gemäß Art. 11 des Richtlinienvorschlags sollte es den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, ob diese die Vorgaben der Richtlinie durch Gesetz oder mittels selbstregulativer Systeme (Verhaltenskodizes oder von „amtlich befugten" Stellen erlassene Regelungen) umsetzten 704 . Insbesondere Großbritannien war nicht bereit, von dem vertrauten und seit langem bewährten außerrechtlichen City Code abzuweichen 705 . Die Börsensachverständigenkommission hatte diesbezüglich in einem Schreiben an das Bundesjustizministerium zunächst mitgeteilt, sie gehe davon aus, daß der deutsche Übernahmekodex als „sonstiges Verfahren oder Regelung" i m Sinne des Art. 1 des Richtlinienentwurfs anzusehen und aus diesem Grunde ein deutsches Umsetzungsgesetz nicht erforderlich sei 7 0 6 . Demgegenüber hat der EuGH zwar ausgeführt, die Umsetzung europäischer Richtlinien erfordere nicht in jedem Fall ein Gesetz 7 0 7 . Geleitet vom Gedanken des 704
Vgl. Krause, NZG 2000, 906; Than, FS Claussen, 407. Parallel hierzu bestimmt Art. 41 des Richtlinienentwurfs, daß es sich auch bei dem einzurichtenden Aufsichtsoigan nicht zwingend um eine staatliche Behörde handeln muß, sondern auch eine solche Vereinigung oder private Stelle Aufsichtsfunktionen wahrnehmen kann, „die nach dem einzelstaatlichen Recht oder von den Behörden, die dazu gesetzlich ausdrücklich befugt sind, anerkannt ist". Die Mitgliedstaaten müssen die Kommission lediglich darüber informieren, welche Stelle als Aufsichtsorgan tätig wird. 705 Zur Frage, ob eine Umsetzung mittels des City Code möglich ist, vgl. die ausführliche Darstellung bei Roßkopf', Selbstregulierung, 285 ff., insbesondere 305 f. Fn.411 ff. mit zahlreichen deutschen und britischen Nachweisen. 706 Schreiben an das Bundesministerium der Justiz vom 16.4.1996,2, zitiert bei Hopt, ZHR 161 (1997), Fn. 154. Grds. zustimmend H. Baumann, W M 1996, 902; Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 451 ff. (vgl. auch den Diskussionsbericht dort, 455, demzufolge sich die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer gegen die Notwendigkeit eines Umsetzungsgesetzes aussprach); Krause, AG 1996,215 f.; differenzierend Neye, ZIP 1995,1467 sowie DB 1996,1123. Andererseits erkennt jedoch auch die Börsensachverständigenkommission an, daß der Übemahmekodex die in dem Richtlinienentwurf genannten Kriterien der „von amtlichen Stellen eingeführten Maßnahmen" in seiner gegenwärtigen Form nicht erfüllt, Standpunkte der Börsensachverständigenkommission zur künftigen Regelung von Untemehmensübemahmen, 10. 707 Vgl. EuGH Rs. 361/88 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland -TA Luft), Slg. 1991, 1-2567 (2600f. Rn. 15): „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs [...] verlangt die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht nicht notwendigerweise, daß ihre Bestimmungen förmlich und wörtlich in einer ausdrücklichen besonderen Gesetzesvorschrift wiedergegeben werden; je nach dem Inhalt der Richtlinie kann ein allgemeiner rechtlicher Rahmen genügen, wenn er tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie in so klarer und bestimmter Weise gewährleistet, daß - soweit die Richtlinie Ansprüche des einzelnen begründen soll - die Begünstigten in der Lage sind, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen."
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Rechtsschutzes für die Betroffenen hat er aber auch festgestellt, daß eine wirksame Umsetzung der Richtlinien nur dann vorliegt, wenn deren Anwendung nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht sichergestellt ist 708 . Verstöße müssen mit Sanktionen geahndet werden können, die - sofern sie nicht in der Richtlinie selbst definiert sind - wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen 709 . Für die wirksame Anwendung in der nationalstaatlichen Rechtsordnung ist danach die Verbindlichkeit der nationalen Umsetzungsakte notwendig; Mittel zur Sicherstellung einer umfassenden Beachtung des Gemeinschaftsrechts kann nur ein verbindliches und allgemein anerkanntes Regelwerk sein 710 . Eine mögliche Umsetzung durch den Übernahmekodex scheiterte somit bereits an dessen nur partikularer Geltung 711 . Zusätzlich ist zu bedenken, daß es selbst Unternehmen, die den Übernahmekodex anerkannt haben, freistünde, sich von ihren entsprechenden Erklärungen zu lösen, ohne rechtliche Sanktionen befürchten zu müssen. Im Endeffekt bedeutete dies, daß die Umsetzung europäischer Vorgaben den Normadressaten überlassen bliebe. Daß hiermit die erstrebte Rechtssicherheit und Harmonisierung konterkariert würde, liegt auf der Hand. c) Ergebnis Die Umsetzung der Richtlinie hätte nicht durch den Übernahmekodex erfolgen können. Statt dessen wäre zumindest eine gesetzliche „Grundsatzregelung" erforderlich gewesen; deren nähere Ausgestaltung hätte dann durch die Regelungen des Übernahmekodex oder eines entsprechenden Regelwerkes erfolgen können712. Mitt708
EuGH Rs. 131/88 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1991, 1-825 (867). EuGH Rs. 14/83 (von Colson u. Kamann/Land Nordrhein-Westfalen), Slg. 1984,1891 ff.; EuGH Rs. 382/92 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1994,1-2435 (2474 f.). Vgl. auch die Entschließung des Rates 95/188 vom 22.07.1995, ABl. EG Nr. C188 vom 29.07.1995. 710 EuGH Rs. 48/75 (Royer), Slg. 1976, 497ff.; vgl. EuGH Rs. 239/85 (Kommission/Belgien), Slg. 1986, 3645 (3659). Abgelehnt wird in st.Rspr. daher die Möglichkeit einer Umsetzung durch Verwaltungspraxis, vgl. EuGH Rs. 102/79 (Kommission/Belgien), Slg. 1980, 1473 (1486); EuGH Rs. 96/81 (Kommission/Niederlande), Slg. 1982, 1791 (1804f.); EuGH Rs. 300/81 (Kommission/Italien), Slg. 1983, 449 (456); EuGH Rs. 311/95 (Kommission!Griechenland), Slg. 1996,1-2433 (2438). Insbes. soll eine Umsetzung durch Verwaltungsvorschriften nicht ausreichen, EuGH Rs. 361/88 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland - TA Luft)', Slg. 1991,12567ff.; dazu v.Danwitz, VerwArch 84 (1993), 73ff.; skeptisch Ossenbühl, DVB1 1999, 6. 711 Soweit teilweise die Notwendigkeit eines Umsetzungsgesetzes abgestritten und eine Umsetzung durch Änderungen des Übernahmekodex für ausreichend erachtet, gleichzeitig aber dessen Allgemeingültigkeit als Voraussetzung hierfür genannt wird, so Krause, AG 1996, 216f.; Kallmeyer, ZHR 161 (1997), 452f., wird einerseits eine Selbstverständlichkeit postuliert, andererseits aber auch ein bisher nicht gelöstes Problem ignoriert. Erachtet man die mangelnde Allgemeinverbindlichkeit als Folge der fehlenden Rechtsverbindlichkeit, folgt zwingend, daß eine Umsetzung in das deutsche Recht erforderlich ist. 712 Vgl. Bericht der Übernahmekommission, Drei Jahre Übernahmekodex, 20; Hopt ZHR 161 (1997), 398,404 ff., 410; Krause, AG 1996,216 f.; Neye, DB 1996,1123 f., jeweils m.w.N. Vgl. ähnlich Kopp, Normvermeidende Absprachen, 202f., aber auch 283 f. 709
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lerweile kann dieses Argument zwar nicht mehr gegen den Übernahmekodex vorgebracht werden 7 1 3 , in gewisser Weise widerstreitet es aber zukünftiger Verwendung freiwilliger privater Regelwerke zur Umsetzung europäischer Vorgaben.
5. Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz ( W p Ü G ) Unter dem Eindruck sowohl der geplanten Übernahmerichtlinie als auch der mangelnden Akzeptanz des Übernahmekodex hat die Bundesregierung i m Juni 2000 einen „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Unternehmensübernahmen" (Diskussionsentwurf) vorgelegt 7 1 4 . I m März 2001 folgte der Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen" (Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz - W p Ü G ) 7 1 5 . Der Bundestag hat die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses 716 am 15. November 2001 angenommen. A m 1. Januar 2002 ist das W p Ü G in Kraft getreten 717 . Es illustriert eine normative Regelungstechnik, bei der bisherige selbstregulative Mechanismen staatlich okkupiert und in Gesetzesform überführt werden. Daß es i m Zuge dieses Transformationsprozesses häufig zu gegenüber der Selbstregulierung rigideren Anforderungen kommt, bildet einen Grund für die A k zeptanz privater Regelungen. Es ist hier nicht der Ort, über inhaltliche Vorzüge oder Mängel des W p Ü G zu streiten 718 . Betrachtet werden sollen statt dessen strukturelle 713
Vgl. Krause, NZG 2000, 906: „nur noch von akademischem Interesse". Nach dem vorläufigen Scheitern der Übernahmerichtlinie steht nunmehr nicht mehr die europäische Harmonisierung, sondern die im Vergleich zum Übemahmekodex erhöhte Verbindlichkeit und verbesserte Sanktionsmöglichkeit im Vordergrund. Dem WpÜG gingen ein Gesetzesentwurf der SPD-Bundestagsfraktion vom Juli 1997 sowie der diesem zugrundeliegende Gesetzesentwurf von Baums voraus, vgl. BT-Drucks. 13/8164 vom 2.7.1997; Baums, ZIP 1997, 1310ff.; dens., Übemahmeregelung. Der aktuelle Gesetzesentwurf wurde von der Börsensachverständigenkommission in ihrer Stellungnahme grundsätzlich begrüßt, da die enorm gestiegene Zahl und Bedeutung von Untemehmensübemahmen eine gesetzliche Regelung unabdingbar gemacht habe und die mit einer gesetzlichen Regelung verbundene Rechtssicherheit und Rechtsklarheit den Standort Deutschland und den Kapitalmarkt stärken werde. 715 BT-Drucks. 14/7034, 7 ff.; vgl. BT-Drucks. 14/7090. Der Entwurf basiert auf dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 19.6.2001 sowie den Empfehlungen einer vom Bundeskanzler einberufenen Expertenkommission. Er nimmt inhaltlich wesentliche Teile des Übernahmekodex auf. 716 BT-Drucks. 14/7477. 717 BGB1.I 2001, 3822 ff. Der Bundesrat hat von seinem Einspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht. Damit bewahrheitete sich nach fast einem Vierteljahrhundert die Aussage von Hopt, ZHR 141 (1977), 430: „Auch das deutsche Kapitalmarktrecht wird es sich auf die Dauer nicht leisten können, die Übemahmeangebote völlig der Selbstregulierung durch die beteiligten Kreise zu überlassen". 718 Insbesondere die auch im Mittelpunkt der Verhandlungen im Europäischen Parlament stehende Neutralitätspflicht des Vorstandes der Zielgesellschaft war insoweit bereits Gegenstand ausführlicherer Darstellungen; hierzu allgemein Dimke!Heiser, NZG 2001,241 ff.; Hopt, FS Lutter, 1361 ff.; Körner, DB 2001, 367ff.; Merkt, ZHR 165 (2001), 232ff.; Mülbert!Birke, 714
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Unterschiede, die sich aus der Überführung der freiwilligen Selbstregulierung in zwingende gesetzliche Bestimmungen ergeben, sowie die Unterschiede des neuen Gesetzes im Vergleich zu klassischer Hoheitsverwaltung. Die Überwachung der bisher im Übernahmekodex enthaltenen, nunmehr gesetzlichen Verhaltensvorschriften wird künftig nicht mehr durch die Übernahmekommission, sondern durch das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe) wahrgenommen. Zu diesem Zweck wird das BAWe geeignete und erforderliche Anordnungen treffen, um Mißstände zu verhindern oder zu beseitigen, die die ordnungsmäßige Durchführung des Übernahmeverfahrens beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für den Wertpapiermarkt haben können719. Im Falle von Zuwiderhandlungen kann das Amt Sanktionen aussprechen, die den Verlust von Stimmrechten, Bußgelder und die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf den Angebotspreis umfassen 720. Unterstützung erhält das BAWe gemäß § 5 WpÜG von einem neu zu bildenden „Beirat", der - bestehend aus 15 ehrenamtlichen Mitgliedern, die sich aus fachlich besonders qualifizierten Repräsentanten von Emittenten, institutionellen und privaten Anlegern, Wertpapierdienstleistungsunternehmen, Arbeitnehmern und Vertretern der Wissenschaft zusammensetzen - „bei der Aufsicht mitwirken" und vor allem beim Erlaß von Rechtsverordnungen dem Amt beratend zur Seite stehen soll 721 . Die pluralistische, zugleich aber auch qualifikationsorientierte Besetzung des Beirats ermöglicht die Einbeziehung praxiserfahrenen Sachverstands einer- sowie die Repräsentation der Interessen der betroffenen Kreise andererseits; der Gesetzgeber verspricht sich hieraus eine wirkungsvollere Aufsicht und eine höhere Akzeptanz der Entscheidungen722. Letzterem dient auch die angestrebte Flexibilisierung des EntW M 2001,705 ff., jeweils m. w.N. Vgl. auch Kirchner, W M 2000,1821 ff.; rechtsvergleichend dens., BB 2000, 105 ff. 719 § 4 WpÜG. Der Begriff des „Mißstands" ist dem WpHG entnommen und diente dort schon bisher als Voraussetzung für ein Eingreifen des BAWe. Dazu Dreyling, in: Assmann/ Schneider, WpHG, §4 Rn. 12 f. 720 Vgl. §47 und §§60 ff. WpÜG. Soweit somit nach den Vorstellungen der Bundesregierung dem BAWe größerer Einfluß und wachsende Kompetenzen zugedacht werden, deckt sich dies mit älteren Vorschlägen, in denen die Ausweitung der Aufgaben des Bundesaufsichtsamtes hin zu einer allgemeinen Marktaufsicht empfohlen wird, vgl. z.B. Hopt/Baum, Börsenrechtsreform, 11 f., 454 ff. 721 Die Mitglieder werden vom Bundesfinanzministerium nach Anhörung der Börsensachverständigenkommission, die für die Besetzung der Posten auch Vorschläge zu unterbreiten hat, für jeweils 5 Jahre bestellt. Vgl. auch die aufgrund von § 5 II 1 WpÜG erlassene Verordnung über die Zusammensetzung, die Bestellung der Mitglieder und das Verfahren des Beirats beim Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel vom 27.12.2001 (WpÜG-Beiratsverordnung), BGBl. 12001,4259 f. Kritisch zur ursprgl. vorgesehenen Anzahl von 21 Mitgliedern und zur zu generellen Aufgabenbeschreibung des Beirats die Börsensachverständigenkommission, Schreiben an das Bundesfinanzministerium vom 19.7.2001, 4. 722 Vgl. Reg.-Begr. WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, 31; Pötzsch/Möller, W M Sonderbeilage Nr. 2 2000,27. Die Reg.-Begr., 36, geht sogar so weit, einen Vergleich mit dem Börsenrat aufzustellen. Das darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, beim Beirat handele es sich um ein Organ einer Selbstverwaltungseinheit, sondern bezieht sich wohl nur auf die intendierte umfassende Betroffenenrepräsentation.
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scheidungsVerfahrens. Zu diesem Zwecke wird nach § 6 WpÜG ein spezieller Widerspruchsausschuß gebildet, der aus dem Präsidenten des BAWe sowie zwei weiteren Beamten besteht, denen drei ehrenamtliche Beisitzer zur Seite gestellt werden 723 . Der Widerspruchsausschuß hat über Widersprüche gegen Verfügungen des BAWe binnen zwei Wochen zu entscheiden724. Zudem wird die gerichtliche Kontrolle auf einen einzügigen Rechtsweg beschränkt; für die Beschwerde gegen Verfügungen des BAWe ist ausschließlich das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk das BAWe seinen Sitz hat (Frankfurt am Main) 725 . Insbesondere die Einrichtung des Beirats zeigt, daß das WpÜG die benannten Probleme der Überforderung staatlicher Ressourcen berücksichtigt: Von einer ursprünglich rein privaten Lösung wird nun der Bogen geschlagen zu einer Beteiligung der Betroffenen im Rahmen staatlicher Steuerung. Diese Beteiligung geht deutlich über sonst übliche Anhörungsverfahren hinaus, und sie wird institutionell abgesichert 726. Ebenso enthält der Widerspruchsausschuß ein Moment staatlich-privater Kooperation, wiewohl die ursprünglich vorgesehene stärkere Beteiligung von Praktikern nicht umgesetzt wurde 727 . Ob nach Verabschiedung des WpÜG der Übernahmekodex weiter bestehen wird, ist fraglich. Ein „im Schatten des Gesetzes" weiter wirkender Übernahmekodex hätte den Vorteil der Flexibilität und der praktischen Erfahrung 728, verlöre aber dramatisch an Akzeptanz und Bedeutung. Parallele Regelwerke sorgen außerdem, auch wenn sie auf unterschiedlichen normhierarchischen Ebenen angesiedelt sind, für Rechtsunklarheit 729. Die Börsensachverständigenkommission hat erklärt, ab dem 723 Vgl. auch die aufgrund von § 6IV 1 WpÜG erlassene Verordnung über die Zusammensetzung und das Verfahren des Widerspruchsausschusses beim Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel vom 27.12.2001 (WpÜG-Widerspruchsausschußverordnung), BGBl. I 2001, 4261 f. Der Widerspruchsausschuß ist eine in das BAWe eingegliederte kollegiale Einrichtung i.S.d. §§88ff. VwVfG, vgl. Reg.-Begr. WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, 37. 724 § 41 II 1 WpÜG. Bei den Verfügungen i. S. d. § 612 WpÜG handelt es sich um grundlegende Sachentscheidungen zur Regelung des Angebotsverfahrens, Reg.-Begr. WpÜG, BTDrucks. 14/7034, 37. 725 §§41 ff., 49ff. WpÜG. Diese Vorgehensweise soll die erforderliche Sicherstellung rascher Verfahren gewährleisten, zugleich genügt sie dem grundgesetzlich verbürgten Gebot effektiven Rechtsschutzes, vgl. Reg.-Begr. WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, 29. Die Konzeption lehnt sich im übrigen an das erprobte und bewährte Verfahren i. R. d. Regelungen der § § 54 ff. GWB, die den Rechtsweg gegen Entscheidungen der Kartellbehörden betreffen, an. Vgl. den Bericht der Übemahmekommission, Drei Jahre Übemahmekodex, 23; PötzschlMöller, W M Sonderbeilage Nr. 2 2000, 29. 726 Zu existierenden ähnlichen Strukturen Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 6 Rn. 39. Vgl. auch den nach § 8 des Gesetzes über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eingerichteten „Fachbeirat", BGB1.I 2002, 1310, sowie § 8 der Satzung der BAFin. 727 Vgl. Krause, NZG 2000, 907. 728 Hopt, ZGR 2000, 788; ders., ZHR 161 (1997), 407 ff. 729 Zudem wären zwei verschiedene Überwachungsstellen zuständig (BAWe bzw. Übemahmekommission), was zu zusätzlicher Verwirrung und schwierigen Kompetenzabgrenzungsfragen führte, vgl. Zietsch! Holzborn, W M 2001, 1755.
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1. Januar 2002 „gelte" der Kodex nicht mehr 730 . Sie kann jedoch nicht über die „Geltung" des Kodex entscheiden. Die freiwillige Befolgung steht weiterhin jedem Unternehmen offen, soweit es sich dadurch nicht in Widerspruch zu den gesetzlichen Bestimmungen setzt. Die obige Aussage muß deshalb dahingehend ausgelegt werden, daß mit Inkrafttreten des WpÜG eine Weiterarbeit am Übernahmekodex nicht erfolgt, insbesondere dieser nicht den Vorschriften des WpÜG angepaßt werden soll.
6. Ergebnis Am Beispiel des WpÜG läßt sich die Verdrängung von Normen der privaten Selbstregulierung durch staatliches Recht nachvollziehen. Aber erst die Erfahrungen mit dem Übernahmekodex ermöglichten es, in relativ kurzer Zeit ein derart komplexes Regelwerk zu schaffen. Dessen Ausgestaltung wiederum zeigt, daß die hoheitliche Okkupation des Regelungsbereichs nicht vollständig ist, sondern weiterhin die Interaktion und Kommunikation mit den Betroffenen gesucht wird. Die Vorzüge der Selbstregulierung, namentlich ihre Flexibilität und Praktikabilität, sollen jedenfalls teilweise erhalten bleiben 731 . Die private Normsetzung muß damit, auch wenn sie durch eine ordnungsrechtliche Lösung ersetzt wird, nicht unbedingt als gescheitert angesehen werden, wirkt sie doch in den Normen des Gesetzes inhaltlich und in seiner Verfahrensausgestaltung strukturell fort.
II. Die Zuteilungsgrundsätze Freiwillige Selbstregulierungsmechanismen weisen aufgrund der fehlenden Rechtsverbindlichkeit und der nicht immer erreichten umfassenden Anerkennung teilweise signifikante Anwendungsdefizite auf. Zugleich kommen ihnen Vorteile insbesondere hinsichtlich Flexibilität und Marktnähe zu. Deshalb wird weiterhin versucht, bislang nicht geregelte Bereiche (zunächst) nicht hoheitlich zu reglementieren, sondern auf freiwillige Befolgung eines unverbindlichen Regelwerks zu setzen. Ein Beispiel hierfür sind die ebenfalls von der Börsensachverständigenkom730
Pressemitteilung der Börsensachverständigenkommission vom 4.3.2002. Der Übernahmekodex soll allerdings für vor dem 31.12.2001 veröffentlichte Angebote oder vollzogene Kontrollerwerbe anwendbar bleiben, womit eine Kollision der Bestimmungen des Übernahmekodex mit den Regelungen des WpÜG vermieden würde. Vgl. hingegen kritisch zur fehlenden Übergangsregelung ZietschlHolzborn, W M 2001,1753 ff. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach einem neuen freiwilligen Verhaltenskodex, mittels dessen sich die Unternehmen zu einer frühzeitigen Beteiligung und Unterrichtung ihrer Mitarbeiter verpflichteten, so der Vorschlag des Vorsitzenden der Union der Leitenden Angestellten (ULA) P Weber, in: 50 Jahre ULA, 16; hierzu auch FAZ vom 26.11.2001, 13, 17. 731 Vgl. Bericht der Übernahmekommission, Drei Jahre Übernahmekodex, 6,8,23. Die dort erhobene Forderung nach einer Beibehaltung der Übernahmekommission ist nicht umgesetzt worden. Für die Möglichkeit einer Beleihung der Übernahmekommission Schander, NZG 1998, 807.
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mission formulierten Zuteilungsgrundsätze . Angesichts starker Überzeichnungen und verstärktem bei den Anlegern ausgemachten oder vermuteten Unmut über undurchsichtige und damit möglicherweise unfaire Zuteilungspraktiken bei Aktienemissionen733 hatte das Bundesfinanzministerium die Börsensachverständigenkommission 1999 um eine diesbezügliche Stellungnahme gebeten. Diese hat daraufhin Verhaltensempfehlungen für Emittenten und Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die an Aktienemissionen beteiligt sind, ausgearbeitet. Diese Empfehlungen dienen vornehmlich der Verfahrenstransparenz; insbesondere soll das verwendete Zuteilungsverfahren frühzeitig angekündigt werden, wobei Art. 12 der Grundsätze eine beispielhafte Aufzählung zulässiger Verfahrensaiten enthält. Sie stellen keinen Eingriff in die (durch die Privatautonomie garantierte) Freiheit des Emittenten dar, in eigenem Ermessen die Anlegergruppen zu bestimmen, denn ein Anspruch der Privatanleger auf Zuteilung der Aktien im Rahmen einer Emission besteht nicht und wird auch durch die Grundsätze nicht gewährt 734. Ob die Zuteilungsgrundsätze sich am Markt durchsetzen oder nur Vorläufer späterer gesetzlicher Regelungen sind, bleibt abzuwarten. Die Bedingungen sind allerdings günstiger als beim Übernahmekodex, wo die Unternehmen befürchten mußten, daß sie sich mit der Anerkennung als potentielles Übernahmeobjekt zu erkennen gaben. Gerechte und vor allem transparente Zuteilungsverfahren scheinen dagegen im Interesse aller Beteiligten zu liegen. Die Grundsätze sind zudem bereits insoweit umgesetzt worden, als das Regelwerk Neuer Markt und die SMAX-Teilnahmebedingungen ihre Einhaltung verlangen 735. Darüber hinaus hat das BAWe angekündigt, es betrachte die Grundsätze als Konkretisierung der vom WpHG aufgestellten Informationspflichten der Emissionsbanken und werde im Rahmen seiner jährlichen Prüfungen des Wertpapiergeschäfts die Anwendung der Grundsätze schwerpunktmäßig kontrollieren 736. Von einer rein freiwilligen Selbstregulierung 732 Grundsätze für die Zuteilung von Aktienemissionen an Privatanleger, hrsg. von der Börsensachverständigenkommission beim Bundesministerium der Finanzen vom 7.6.2000, einsehbar unter http://www.exchange.de. Vgl. auch das von der FESCO am 15.9.2000 veröffentlichte „Consultative Paper Stabilisation and Allotment", das den inhaltlich vergleichbaren „FESCO European Code on Allotment" enthält, dort, 20 ff. 733 Zu den wirtschaftlichen Hintergründen kurz und instruktiv Willamowski, W M 2001,653. 734 Art. 12 der Zuteilungsgrundsätze; Escher-Weingart, AG 2000, 166ff.; Willamowski, W M 2001,656. 735 Ziffer 3.14 RWNM, Ziffer 2 (9) SMAX-Teilnahmebedingungen; damit ist faktisch gewährleistet, daß entsprechend Art. 6 der Grundsätze Wertpapierdienstleistungsunternehmen die Emission nur begleiten, wenn die Einhaltung der Grundsätze gesichert ist, vgl. EscherWeingart, AG 2000, 171; Schanz, Börseneinführung, § 10 Rn.77f.; Willamowski, W M 2001,
662.
736 Vgl. AG 2000, R274. Vgl. auch Punkt 3.4 der Richtlinie des BAWe zur Konkretisierung der §§ 31 und 32 WpHG für das Kommissionsgeschäft, den Eigenhandel für andere und das Vermittlungsgeschäft der Wertpapierdienstleistungsunternehmen vom 23.8.2001 (Bundesanzeiger Nr. 164 vom 4.9.2001, 19217), wo allgemein festgeschrieben wird, daß Wertpapierdienstleistungsunternehmen ihre Kunden über die Zuteilung bei Überzeichnung zu informie-
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kann deshalb nicht mehr gesprochen werden. Zudem kann man fragen, inwieweit in Zeiten allgemeiner Desillusionierung der Anleger insbesondere am Neuen Markt eine derartige Reglementierung überhaupt noch zweckmäßig ist oder ob nicht die viel gepriesene Flexibilität der privaten Normsetzung hier ein Regelwerk produziert hat, dessen praktischer Nutzen (mittlerweile) zweifelhaft ist 7 3 7 .
III. Corporate Governance Kodex Die frühere strikte Unterscheidung zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht ist mittlerweile konzeptionell überholt zugunsten einer Betrachtungsweise, die die Komplementarität und partielle Funktionsgleichheit der Sektoren stärker berücksichtigt. Eine Schnittstelle der beiden Rechtsgebiete bildet die seit einigen Jahren in der Debatte befindliche Corporate Governance, also vereinfacht ausgedrückt die Auseinandersetzung mit der sachgerechten Unternehmensführung und deren Kontrolle 7 3 8 . Hier geht es nicht nur um die Festlegung von Verhaltenspflichten und Haftungsvorschriften für Vorstand und Aufsichtsrat, sondern auch um Transparenz und die Disziplinierung der Unternehmensleitung durch Anleger, Banken und Finanzmittler sowie durch die Märkte selbst, namentlich durch die Börsen 7 3 9 . Die von verschiedenen Gremien erarbeiteten, die Corporate Governance betreffenden Reren haben. Kritisch zu dieser „paralegalen Aktivität des BAWe" Junker, Gewährleistungsaufsicht, 154 f. 737 Kritisch insoweit Willamowski, W M 2001, 662 ff., 665: „Bei genauerer Betrachtung erscheinen die Grundsätze der BSK jedoch in erster Linie als programmatisches Mittel zur Gemütsberuhigung der Investoren und Anlegerschutzvereinigungen [...] In der Realität ist die Aussagekraft der Grundsätze zudem durch die Verhältnisse insbesondere am Neuen Markt verzerrt und faktisch überholt". Da die Anlageentscheidung nicht primär auf der ZuteilungsWahrscheinlichkeit beruhe, sei auf ein insgesamt kohärentes Emissionskonzept zu achten, was nicht nur eine Verbesserung der Zuteilungspublizität verlange, sondern auch die Verbesserung der Feinabstimmung der Emissionsparameter und hier insbesondere die Optimierung des Preisbestimmungsmechanismus. Die Bedeutung der Festsetzung des Emissionspreises hebt auch Art. 1 der Zuteilungsgrundsätze hervor. 738 Ausdrücklich Kronke, FS Lutter, 1450f., dort, 1460: „Grundsätze [...] sind als Koordinierungsmechanismus zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht konzipiert". Vgl. allgemein zu Corporate Governance z. B. Baums, Corporate Governance; Berrar, Corporate Governance, v.a. 24ff.; Hopt, Europäisches Kapitalmarktrecht, 327f.; dens., ZGR 2000,779ff.; Lutter, ZGR 2001, 224ff.; T. Möllers, AG 1999,433 ff.; Schiessl, AG 1999,442ff. Skeptisch Hakelmacher, WPg 2001, 177 ff. 739 Man unterscheidet insoweit zwischen interner und externer Corporate Governance. Interne Corporate Governance behandelt außer der traditionellen Frage nach der Organisation der Leitungsorgane (one tier- oder two tier-System) die Arbeitnehmermitbestimmung im Unternehmen und die Kontrolle durch Anleger, aber auch den Einfluß der Banken über die Trias Aufsichtsratmandate, Völlmachtsstimmrecht und Unternehmensbeteiligungen. Extern werden die Organisation und Verhaltensordnung der Börsen und Kapitalmärkte erfaßt; insbesondere Transparenz, Publizität und Rechnungslegung sind hier von Bedeutung. Vgl. Hopt, Europäisches Kapitalmarktrecht, 329; dens. ZGR 2000, 383 ff.
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gelwerke, die den folgenden Untersuchungsgegenstand bilden, zeigen ebenfalls, daß mit der Ersetzung des freiwilligen Übernahmekodex durch das zwingende WpÜG keine generelle Abkehr von der Idee der Selbstregulierung bzw. der Statuierung unverbindlicher Verhaltensvorschriften verbunden ist.
1. Grundsatzkommission Corporate Governance Bei den Corporate Governance Grundsätzen der selbsternannten Grundsatzkommission Corporate Governance 740 handelt es sich um Verhaltensanforderungen, die an die Organe börsennotierter Gesellschaften gestellt werden. Sie sind in erster Linie als eine an ein internationales Publikum gerichtete Darstellung des geltenden deutschen Unternehmensverfassungsrechts zu verstehen; nur sekundär enthalten sie inhaltlich neue Vorgaben 741. a) Regelungsmaterie und -ziele Kennzeichnend für die deutsche Corporate Governance Diskussion sind bereits bestehende weitgehende gesetzliche Regelungen, die insbesondere durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) in das deutsche Gesellschaftsrecht eingefügt wurden 742. Die Corporate Governance Grundsätze enthalten deshalb größtenteils allenfalls Klarstellungen, nur partiell setzen sie auch eigenständige Anforderungen fest 743 . Sie legen dar, welche Standards ohnehin zwingendes Recht sind und inwieweit das gesetzlich Geforderte überschritten wird 744 . Zielvorgaben des KonTraG werden aufgegriffen und in Transparenz740
Abgedruckt z.B. in AG 2000, 109ff. Die verschiedenen, im folgenden darzustellenden Corporate Govemance Regelwerke treten gewissermaßen an die Stelle der „Grundsätze ordnungsgemäßer Untemehmensführung (GoF)", die sich wiederum in „Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung (GoU)" für den Vorstand, „Grundsätze ordnungsgemäßer Überwachung (GoÜ)" für den Aufsichtsrat und „Grundsätze ordnungsgemäßer Abschlußprüfung (GoA)" unterteilen lassen. Vgl. hierzu ausführlich die Beiträge in ZfbF Sonderheft 36 (1996); dabei aus juristischer Perspektive v. a. Hommelhoff/Schwab, ZfbF Sonderheft 36 (1996), 149 ff. Vgl. zusammenfassend außerdem KieserlSpindler/Walgenbach, Recht und Organisationsnormung. 742 BGBl. I 1998, 786ff., in Kraft getreten am 1.1.1998. Hierzu aus der Fülle der Literatur nur Hucke, Wirtschaftsprüfer, 11 ff.; Zimmer, NJW 1998, 3521 ff.; bezogen auf Corporate Govemance Berrar, Corporate Govemance, 152ff.; Hommelhoff!Mattheus, AG 1998, 249ff.; speziell zur Abschlußprüfung Dörner, DB 1998, 1 ff.; Hommelhoff, BB 1998, 2567 ff., 2625ff.; Schindler/Rabenhorst, BB 1998, 1886ff., 1939ff. Auch das WPOÄG gehört hierher, vgl. dazu oben unter B.II.3. Wichtig ist daneben die im deutschen Recht (§23 V AktG) vorgesehene Satzungsstrenge. 743 Vgl. Kronke, FS Lutter, 1454: „Die Aufgabenbeschreibung der deutschen Grundsätze ist knapp und enthält nichts Neues und nichts Übergesetzliches (§ 76 AktG)". Ebenso SchulzeOsterloh, ZIP 2001, 1435. 744 Vgl. Kronke, FS Lutter, 1453. 741
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und Kommunikationsvorschriften sowohl für die interne als auch die externe Unternehmensdarstellung sowie die Unternehmensleitung umgesetzt745. In den Worten der Grundsatzkommission dienen die Grundsätze „der Verwirklichung einer verantwortlichen, auf Wertschöpfung ausgerichteten Leitung und Kontrolle von Unternehmen und Konzernen" und „fördern und vertiefen das Vertrauen von gegenwärtigen und künftigen Aktionären, Fremdkapitalgebern, Mitarbeitern, Geschäftspartnern und Öffentlichkeit auf den nationalen und internationalen Märkten" 746 . Damit wird berücksichtigt, daß im Zuge der Globalisierung und zunehmenden Verflechtung der Kapitalmärkte eine Verschärfung des Wettbewerbs um die Anlegergunst eingetreten ist. Speziell die großen ausländischen, weltweit investierenden institutionellen Anleger sollen einen knappen, zusammenfassenden Überblick über die in Deutschland geltende Rechtslage erhalten 747. Da diese für ihre Anlageentscheidungen zunehmend nicht nur Bilanzdaten, sondern auch die innere Unternehmensstruktur und damit Corporate Governance Vorgaben berücksichtigen, stellt die Formulierung der Grundsätze einen Schritt zur Außendarstellung des Finanzplatzes Deutschland, also (auch) eine „Marketingmaßnahme" dar 748 . Auf nationaler Ebene können die Grundsätze ebenfalls Orientierungshilfe leisten. Ziel ist es, den deutschen Unternehmen ein praxisnahes Grundsatzmodell als einheitliche Leitlinie zur Verfügung zu stellen. Außerdem können Unternehmen, die Kapital auf den internationalen Kapitalmärkten aufnehmen wollen, anhand der Grundsätze die Besonderheiten des deutschen Modells und zugleich die Beachtung internationaler Standards in einfach nachvollziehbarer Form darlegen.
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Eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Insoweit wird verwiesen auf die Beiträge von Claussen!Bröcker, AG 2000,486 ff.; U.H. Schneider, AG 2000,106 ff. sowie auf den umfangreichen Schlußbericht der Regierungskommission Corporate Governance. Vgl. aber auch kritisch Hakelmacher, WPg 2001, 180 ff. 746 AG 2000, 109. 747 Vgl. mit internationalem Bezug die Beiträge in Baums (Hrsg.), Institutional Investors and Corporate Governance; daraus bezogen auf Deutschland Kübler, 565 ff.; Berrar, Corporate Governance, 164 ff. Insbesondere ausländische Investoren haben daher die Veröffentlichung der Grundsätze begrüßt, U.H. Schneiderl Strenger, AG 2000, 108. Dies mag zum einen darin begründet liegen, daß insbesondere diese Investoren Schwierigkeiten mit dem Verständnis des in Deutschland bestehenden gesetzlichen Systems bzw. zumindest mit der Weitervermittlung des deutschen Aktienrechts haben. Zum anderen kann es aber auch ein Indiz dafür sein, daß im Ausland der außerrechtliche Charakter der Grundsätze nicht in vollem Umfang wahrgenommen und von einer real nicht existenten BindungsWirkung ausgegangen wird. 748 Vgl. U.H. Schneider, DB 2000,2414f. sowie Claussen!Bröcker, AG 2000,485, die Corporate Governance Grundsätze u. a. den Investor bzw. Public Relation-Bestrebungen zurechnen. Das wäre jedenfalls systemkonform, vgl. Avenarius, Die ethischen Normen der Public Relations.
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b) Rechtscharakter der Grundsätze Als „Code of Best Practice" enthalten die Grundsätze eine Zusammenstellung von Wohlverhaltensregeln, deren Beachtung von den in der Grundsatzkommission zusammengeschlossenen Experten und Praktikern für sinnvoll erachtet und empfohlen wird, die aber - soweit sie nicht gesetzliche Anforderungen wiederholen - nicht rechtlich verpflichtend sind 749 . Die Bindung an diese Verhaltensempfehlungen sollen von den Gesellschaftsorganen abzugebende Selbstverpflichtungserklärungen bewirken. Zusätzlich können die Regeln in die Geschäftsordnungen der Gesellschaften übernommen werden. Eine schuldrechtliche Verpflichtung gegenüber der Grundsatzkommission ist nicht vorgesehen, statt dessen treten die Grundsätze als ein Modell auf, über dessen Anerkennung sowie unternehmensspezifische Anpassung der Öffentlichkeit gegenüber zu berichten ist. aa) Normsetzungsgremium Die Grundsatzkommission ist nicht bei einem Ministerium oder einer sonstigen staatlichen Stelle angesiedelt und auch nicht in öffentlichem Auftrag, sondern aus privater Eigeninitiative heraus tätig geworden. Anforderungen an ihre Besetzung lassen sich daher nicht aus dem Gesichtspunkt vorwirkender staatlicher Verantwortung ableiten. Neben der Einsicht in die Regelungsnotwendigkeit ist jedoch die Zusammensetzung des Normsetzungsgremiums wesentliches Mittel zur Gewinnung der Akzeptanz der Normadressaten, der auf freiwillige Befolgung angewiesene Regelwerke in besonderem Umfange bedürfen. Als Zusammenschluß von anerkannten Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft genügt die Grundsatzkommission Corporate Governance hohen Anforderungen an Pluralismus, Sachverstand, Praxiserfahrung und Integrität 750. Insbesondere ist berücksichtigt worden, daß Corporate Governance ebenso wirtschaftswissenschaftliche wie juristische Kenntnisse voraussetzt und eine entsprechende professions-pluralistische Besetzung gewählt worden 751 . bb) Rechtsunverbindlicher Verhaltenskodex Auch als freiwilliger Verhaltenskodex stehen die Grundsätze nicht in einem reglementierungsfreien Raum. „Die Rahmenbedingungen der Grundsätze werden 749 U.H. Schneider/Strenger, AG 2000,109; vgl. Claussen/Bröcker, AG 2000,482 ff., die zu Recht insbesondere auch eine Qualifizierung als Handelsbrauch oder Gewohnheitsrecht ablehnen. Zustimmend Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1436; vgl. Hommelhoff/Schwab, ZfbF Sonderheft 36 (1996), 154 f. 750 Beteiligt sind u. a. Vertreter börsennotierter Unternehmen aus DAX, MDAX und Neuem Markt, ein Vertreter einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Universitätsprofessoren sowie insbesondere auch der Hauptgeschäftsführer der DSW. Die Besetzung der Kommission ist abgedruckt bei U.H. Schneiderl Strenger, AG 2000, 108. 751 Dies heben HommelhoffISchwab, FS Kruse, 704 f. lobend hervor.
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durch Gesetz und Recht, durch anerkannte nationale und internationale Wohlverhaltensregeln und durch die marktmäßigen Usancen gebildet" 752 . Die Grundsätze selbst enthalten jedoch keine rechtlichen Anforderungen, sondern gewissermaßen die niedergelegte Vorstellung optimaler Wohl Verhaltensregeln. Für eine diesbezügliche Regelung durch einen unverbindlichen Kodex werden im Rahmen der Corporate Governance dieselben Gründe vorgebracht, die allgemein für eine Regelung durch private Normen geltend gemacht werden können753. Daß Corporate Governance sich einer strikten rechtlichen Regelung entzieht, wird zudem bereits daraus gefolgert, daß es sich nicht um einen Rechtsbegriff deutschen Verständnisses handelt, sondern vielmehr verschiedene, im Detail durchaus differierende internationale Vorstellungen unter diesem Schlagwort zusammengefaßt werden 754. Auch soweit dabei international ein Konsens im Sinne einer verantwortlichen, auf langfristige Wertschöpfung ausgerichteten Unternehmensleitung und -kontrolle auszumachen ist, geht der Begriff Corporate Governance doch über die Darstellung der rein rechtlichen Strukturen der Entscheidungs- und Überwachungsorganisation der Unternehmen hinaus 755 . Ein weiteres Argument liegt darin, daß einerseits sowohl im Sinne der Rechtsklarheit als auch im Interesse einer Präsentation des deutschen Kapitalmarktes und der dort agierenden Unternehmen nach innen und außen eine gemeinsame Grundlage erforderlich ist, die die für alle Unternehmen gleichen, wesentlichen Grundsätze guter Corporate Governance zusammenfaßt, andererseits aber aus wirtschaftlicher Sicht nur eine „maßgeschneiderte" Anpassung der allgemeinen Vorstellungen auf das jeweilige Einzelunternehmen sinnvoll ist. Hier erweist sich die Flexibilität einer freiwilligen Regelung als besonders vorteilhaft. Die Grundsätze sind auch nicht als rechtspolitische Forderungen mißzuverstehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erachtet die Grundsatzkommission keine weiteren gesetzlichen Regelungen für erforderlich. Statt dessen könne im Gegenteil eine breitere Akzeptanz der vorgeschlagenen bzw. bereits praktizierten Corporate-Governance-Wege eine Verringerung gesetzlicher Bestimmungen ermöglichen, die 752
AG 2000, 109. Vgl. z. B. Kronke, FS Lutter, 1459: „Einbeziehung der Praxis in den Entstehungsprozeß, schnellere und effizientere Entstehungsverfahren, größere Flexibilität zum Nutzen besonderer Bedürfnisse, leichtere Anpaßbarkeit im Zeitablauf, keine Preisgabe und keine Festlegung hoheitlicher Prärogativen, funktional beste Lösung statt Kompromiß". Dem stehen gegenüber Bedenken aufgrund des Versagens der bisher erprobten freiwilligen Übereinkünfte - namentlich der Insiderregelungen und des Übemahmekodex - sowie Befürchtungen, daß eine freiwillige Regelung eine spätere gesetzliche Regulierung bedingt, vgl. ClaussenlBröcker, AG 2000, 482; Hommelhoff, ZGR 2001, 242 f. 75 4 U.H. Schneider/Strenger, AG 2000, 106; U. H. Schneider, DB 2000, 2413. 75 5 U.H. Schneider/Strenger, AG 2000, 106; U.H. Schneider, DB 2000,2414. Weltweit existieren derzeit über 60 verschiedene Standards und Positionspapiere zur Corporate Governance, die in der Regel auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen angewiesen sind, vgl. Wolfram, in: BDI/PwC (Hrsg.), Corporate Governance in Deutschland, 10 mit einer entsprechenden Zusammen- und Gegenüberstellung in der Anlage 3 (46ff.) sowie z.B. FAZ vom 30.1.2001,28. 753
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sich in der laufenden Unternehmenspraxis als zu starr erwiesen hätten . Denkbar ist außerdem, daß bei entsprechender Verbreitung und Akzeptanz die Grundsätze von den Gerichten zur Ausfüllung aktienrechtlicher Generalklauseln herangezogen werden 757. c) Einhaltung aufgrund öffentlichen
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Die Aufgaben der Grundsatzkommission beschränken sich auf die erstmalige Erstellung und die spätere Überarbeitung der Grundsätze. Sie überwacht hingegen weder deren Einhaltung noch existiert ein anderes eigenständiges Kontrollgremium. Eines solchen Gremiums bedarf es solange nicht, als eine mit einer funktionsadäquaten Sanktionsmöglichkeit ausgestattete Öffentlichkeit, nämlich die Akteure des Kapitalmarktes, für die Anerkennung der Grundsätze sorgt und Abweichungen bestraft. Dabei stehen ihr natürlich keine staatlichen Zwangsmittel zur Verfügung. Die Kapitalmärkte reagieren jedoch im allgemeinen auf (negative) unternehmensrelevante Informationen sehr sensibel und einschneidend. Sie können Unternehmen, die bestimmte Markterwartungen - zum Beispiel hinsichtlich der Einhaltung allgemeiner Grundsätze zur Corporate Governance - nicht erfüllen, dadurch empfindlich treffen, daß diese zum Teil erhebliche Kurseinbußen hinnehmen müssen. Die negative Marktbewertung eines Unternehmens schädigt sein Ansehen und verschlechtert seine Finanzierungsmöglichkeiten nachhaltig758. Wird die Nichtbefolgung einer von der Gesellschaft anerkannten Regel offenkundig, ist die absehbare Sanktion „an Schärfe kaum zu übertreffen: Verkauf der Beteiligung, Kursverlust, Marktkapitalisierungseinbuße, u. U. Einkommens- und/oder Positionsverlust der Unternehmensleiter" 759. Sofern die Unternehmen befürchten müssen, vom Kapitalmarkt für die Verweigerung der Anerkennung bzw. Zuwiderhandlungen „abgestraft" zu werden 760, liegt die An756 Grundsatzkommission Corporate Governance, Pressemitteilung vom 7.7.2000; vgl. U.H. Schneider, DB 2000, 2413 f. In diesem Sinne auch ClaussenlBröcker, AG 2000, 486. 75 7 Schulze-Osterloh, ZIP 2001, 1436, der dem allerdings skeptisch gegenübersteht; Lutter, ZGR 2001,236. 758 Vgl. Reg.-Begr. KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, 11. Zu endogener Motivation Dunfee, Law and Contemporary Problems 62 (1999), 129ff. 75 9 Kronke, FS Lutter, 1459. Tatsächlich weisen neuere Studien darauf hin, daß eine gute Corporate Governance wesentlich zur Börsenbewertung eines Unternehmens beitragen kann, vgl. nur Ranzinger/Blies, Andersen-Studie; BDI/PwC-Studie. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die auf Basis der CG Grundsätze von der DVFA erarbeitete Standard-Evaluierungsmethode („Scorecard for German Corporate Governance"), die es Analysten erlauben soll, schematisch die Corporate Governance einzelner Unternehmen zu bewerten. Dazu Berrar, Corporate Governance, 193 ff. 76 0 U.H. Schneider, DB 2000,2416. Der Vorschlag, die Einhaltung der CG Grundsätze oder eines vergleichbaren Regelwerks zur Voraussetzung der Zulassung zum amtlichen Handel zu machen - so Lutter, ZGR 2001, 236, dagegen zu Recht U. H. Schneider, a. a. O., der eine Anerkennung als Aufnahmebedingung für einen Börsenindex für ausreichend (und verhältnismäßig) erachtet - ist bislang nicht umgesetzt worden.
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erkennung und Befolgung der Grundsätze in ihrem eigenen Interesse. Die Anerkennung des Kodex wird zum Schibboleth, an dem die Marktteilnehmer Unternehmen mit guter Corporate Governance und - so zumindest die verbreitete Schlußfolgerung - besonders positiver zukünftiger Wertentwicklung erkennen können. d) Ergebnis Die Grundsätze stellen weitgehend keine neuen Verhaltensanforderungen dar, sondern die Zusammenfassung geltender Rechtsvorschriften. Sinnvoll erscheint deren Einbeziehung dennoch, um in komprimierter Form einen breiten Adressatenkreis mit den einschlägigen Bestimmungen vertraut zu machen. Soweit die Grundsätze darüber hinausgehend eigene Verhaltenspflichten aufstellen, sind sie auf freiwillige Befolgung angewiesen. Aufgrund der besonderen Sanktionsmöglichkeit, die die Marktbewertung bedeuten kann, ist die Wahrscheinlichkeit einer umfassenden Befolgung hoch. 2. Parallele Regelungsbemühungen Die vorgestellten Corporate Governance Grundsätze der Grundsatzkommission Corporate Governance sind nur ein Versuch, für diesen Bereich Verhaltensanforderungen zu formulieren 761. Ähnliche Regelwerke sind sowohl von der OECD (a) als auch vom privaten Berliner Initiativkreis Corporate Governance (b) geschaffen worden. Weiterhin beschäftigt das Thema Corporate Governance die Europäische Kommission (c) und eine Expertenkommission der Bundesregierung (d). a) OECD-Grundsätze Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hatte bereits 1996 eine Beratergruppe zu Corporate-Governance-Fragen gebildet, die 1998 einen Bericht vorlegte 762, der eine Bestandsaufnahme der nationalen Bemühungen und des Standes der Forschung enthält. Die im Anschluß hieran von der OECD eingesetzte sog. „Ad Hoc Task Force" hat - auf den Erkenntnissen der Beratergruppe aufbauend und unter Inanspruchnahme sowohl einer großen Expertenanhörung als auch der Möglichkeit, Anmerkungen per e-mail einzureichen - Corporate 761 Bspw. hat auch das IDW in einem Positionspapier zum „KonTraG I I " eine Verbesserung der Corporate Governance gefordert und dabei insbesondere eine Übernahme internationaler Standards empfohlen, vgl. AG 2000, R315f. Vgl. auch ClaussenlBröcker, AG 2000, 485 f.; U. H. Schneider, DB 2000, 2413 ff., jeweils m. w. N. 762 Corporate Governance, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der Kapitalbeschaffung auf globalen Märkten, Ein Bericht der Beratergruppe für die Wirtschaft in Corporate-Governance-Fragen an die OECD.
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Governance Principles ausgearbeitet, die als unverbindliche Leitlinien mit internationaler Ausrichtung und dem Anspruch auf internationale Beachtung ausgestaltet sind. Von Interesse sind die OECD-Principles hauptsächlich für die wirtschaftlich aufstrebenden Staaten Asiens, Osteuropas und Lateinamerikas, die über schwach ausgeprägte kapitalmarktrechtliche Strukturen verfügen, weniger dagegen für die westlichen Industrienationen, wo die aufgestellten Forderungen bereits weitgehend umgesetzt wurden 764 . Insbesondere in Deutschland ist mit dem KonTraG und anderen Bilanz- und Finanzplatzgesetzen ein so moderner Stand der Corporate Governance erreicht worden, daß die in den OECD-Principles formulierten Standards dem geltenden Recht entsprechen und lediglich als Maßstab zur Beurteilung des eigenen Entwicklungsstandes herangezogen werden können765. b) Berliner Initiativkreis Parallel zu den von der Grundsatzkommission ausgearbeiteten Leitsätzen hat der „Berliner Initiativkreis" eine Zusammenstellung von Regeln guter Corporate Governance (German Code of Corporate Governance - GCCG 766 ) entwickelt. Beim Initiativkreis handelt es sich wie bei der Grundsatzkommission um einen Zusammenschluß von Experten aus Wirtschaft und Forschung 767. Die oben angestellten Überlegungen gelten daher analog. Im Vergleich zu den Corporate Governance Grundsätzen stellt der GCCG eine deutliche Erweiterung dar, die auch Einzelfragen zu regeln versucht. Inhaltliche Unterschiede können an dieser Stelle nicht im einzelnen behandelt werden 768. Strukturell ergeben sich gegenüber den Grundsätzen keine 763
Abgedruckt in AG 1999, 340 ff. Vgl. dazu Seibert, AG 1999, 337 ff., der daraufhinweist (dort, 338 Fn. 2), daß die ursprünglich vorgesehene Bezeichnung als „Guidelines" zugunsten des neutraleren Begriffes der „Principles" fallengelassen wurde, da man insbesondere in den asiatischen Ländern Mißverständnisse hinsichtlich einer angestrebten Rechtsgeltung befürchtete. 76 4 U.H. Schneider, DB 2000, 2414; Seibert, AG 1999, 338. Vgl. Kronke, FS Lutter, 1461: „Funktion der Reformanbahnung in besonders wenig entwickelten Rechtsordnungen". 765 Nach Claussen/Bröcker, AG 2000, 486 lesen sich „die OECD-Principles [...] wie eine Auflistung deutscher aktienrechtlicher Leitideen"; ähnlich Seibert, AG 1999, 339. Vgl. aber auch Hommelhoff, ZGR 2001, 240. 766 Abgedruckt z.B. in DB 2000, 1573ff.; vgl. Peltzer/v. Werder, AG 2001, 1 ff.; v.Werder (Hrsg.), German Code of Corporate Governance (GCCG). Weitere Informationen finden sich auf der Internetseite der Initiative unter http://www.gccg.de. 767 Die Besetzung ist aufgeführt in DB 2000, 1573. 768 Es fällt auf, daß die Grundsatzkommission eher auf die rechtlich-institutionellen Überwachungssysteme der Unternehmen abstellt, der Berliner Initiativkreis sich dagegen stärker auf den Vorstand als dem zentralen Leitungsorgan des Unternehmens ausgerichtet hat und darüber hinaus insgesamt nach seinem Selbstverständnis in höherem Maße durch betriebswirtschaftliche Überlegungen geprägt ist. Vgl. Andersen-Studie, 5. Nach U. H. Schneider, DB 2000, 2413 ff. unterscheiden sich die auf die Erwartungen des internationalen Kapitalmarktes ausgerichteten Corporate Governance Grundsätze und der an der Managementlehre orientierte GCCG schon in ihren Zielsetzungen so deutlich, daß eine einheitliche Bewertung ausscheidet.
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Unterschiede, es fehlt - soweit nicht bereits einschlägige gesetzliche Vorschriften lediglich zu Klarstellungszwecken wiederholt werden - ebenfalls an rechtlicher Verbindlichkeit, und eine solche wird auch nicht angestrebt. Die Detaillierung und Ergänzung vorhandener Rechtsnormen auf untergesetzlicher Ebene soll es ermöglichen, durch Fortschreibung des Kodex flexibler auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können769. c) Corporate Governance in der Europäischen Union Im Zuge der erhöhten Aufmerksamkeit, die dem Themenbereich Corporate Governance in den Mitgliedstaaten zuteil geworden ist, ist Corporate Governance auch aus europäischer Perspektive interessant geworden 770. Die Kommission hat deshalb Corporate Governance 1999 in ihr Aktionsprogramm aufgenommen 771. Dabei hat sie insbesondere ihrer Sorge Ausdruck verliehen, nationale Verhaltenskodizes über Struktur und Leitung der Gesellschaft könnten bestehende Unterschiede vertiefen und damit als Hindernisse für die Entwicklung des einheitlichen EU-Finanzmarktes wirken 772 . Eine solche Einschätzung setzt voraus, daß diese Regeln eine einseitige Fokussierung auf die nationalen Märkte beinhalten. Im Gegenteil ist davon auszugehen, daß die Schaffung der Kodizes unter dem Eindruck der Marktkräfte, die sich aufgrund der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs vor allem im Finanzbereich erheblich auswirken, zu erklären ist. Diese führen schon bisher - und für die Zukunft ist eher eine Verstärkung denn eine Abschwächung dieser Entwicklung zu erwarten 773 - zu enormem Druck auf die Marktteilnehmer und damit zu Harmonisierungsbestrebungen der rechtlichen und wirtschaftlichen Praxis selbst unter der Geltung unterschiedlicher rechtlicher Systeme. Gerade die dank ihrer außerrechtlichen Gestaltung bestehende Flexibilität privater Kodizes soll es in diesem Zusammenhang ermöglichen, nationale Standards schneller auf internationales Niveau zu erheben. Zurückhaltung der EU empfiehlt sich daher nicht allein aufgrund des Sub769 Vgl. die Präambel des GCCG, DB 2000,1573. Warum dies „letztlich der Deregulierung" dienen soll, bleibt unklar: Wo bisher noch keine rechtlichen Anforderungen bestehen, ist auch für Deregulierung kein Raum. 770 Vgl. Hopt, ZGR 2000, 810; dens., Europäisches Kapitalmarktrecht, 311 ff. 771 Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Mitteilung vom 11.5.1999, KOM (1999) 232 endg., abgedruckt in ZBB 1999,254ff. Zur Vereinheitlichung des Europäischen Gesellschaftsrechts z. B. Drygala, AG 2001, 291 ff.; Kallmeyer, AG 2001, 406ff., die aber beide Corporate Govemance nicht gesondert erwähnen. 772 Nach Hommelhoff, ZGR 2001, 262 verbirgt sich dahinter die Sorge der Kommission um das Nebeneinander von one tier- und two tier-Systemen in der EU. 77 3 Hopt, ZGR 2000, 817 attestiert den Marktkräften die Fähigkeit, langfristig auch bisher noch bestehende Fundamentalprinzipien, die auf grundlegenden politischen Entscheidungen, dem historisch gewachsenen Wirtschaftssystem sowie von Gerichten und Lehre aufrechterhaltenen besonderen rechtlichen Grundsätzen beruhen, zu überwinden und auch in diesen Bereichen eine Harmonisierung zu forcieren.
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sidiaritätsprinzips; hiernach muß lediglich dargelegt werden, warum die Regelung auf der europäischen Ebene durch die Kommission wahrgenommen werden muß und nicht den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden kann. Es ist darüber hinaus das ökonomische Prinzip des Wettbewerbs - auch der einzelnen mitgliedstaatlichen Normensysteme - , das denjenigen die Begründungslast auferlegt, die für eine einheitliche europäische Rechtsetzung plädieren 774. Im Bereich der Corporate Governance ist das Recht an die Grenzen seiner Steuerungsfähigkeit gelangt; diese Einsicht hat sich scheinbar zumindest in Deutschland durchgesetzt 775. Wer dennoch ein regulatorisches gesetzgeberisches Eingreifen verlangt, muß legitimierende Gründe vorlegen 776. Es ist nicht ersichtlich, wie die bestehenden Steuerungsschwierigkeiten des nationalen Rechts durch eine europäische Rechtsangleichung beseitigt werden könnten. d) Regierungskommission Corporate Governance Im Mai 2000 hat die Bundesregierung eine Expertengruppe „Corporate Governance: Unternehmensführung - Unternehmenskontrolle - Modernisierung des Aktienrechts" eingesetzt777 und diese beauftragt, „vor dem Hintergrund der rasanten Veränderung des wirtschaftlichen, technologischen und rechtlichen Umfelds [...] Vorschläge zur Modernisierung des deutschen Systems der Corporate Governance für Wirtschaft und Politik (zu) erarbeiten" 778. Berücksichtigt werden sollten dabei nicht nur die Anforderungen der Kapitalmärkte, sondern die berechtigten Interessen aller am Unternehmenserfolg Beteiligten (stakeholder). Dieser weitgefaßte Auftrag unterscheidet sich grundlegend von der selbstgestellten Aufgabe der Grundsatzkommission bzw. des Berliner Initiativkreises. Ziel der Beratungen war die Darstellung möglicher Defizite und die Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung von Transparenz und Kontrolle. Die Regierungskommission sollte hingegen keine eigenen Richtlinien erarbeiten, sondern lediglich deren möglichen Inhalt sowie praktische Implementationsmöglichkeiten aufzeigen. Dabei sollte das grundsätzliche Verständnis des Verhältnisses von gesetzlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung und deren mögliche „Neujustierung" erörtert werden 779. 77 4
Hopt., ZGR 2000, 813; vgl. Merkt, Gutachten, 19ff., 62ff. Für Schweden vgl. Skog, FS Lutter, 1551 ff. 776 Diese könnten etwa in einem Marktversagen, in externen Effekten oder in der notwendigen Implementierung der allgemeinen politischen Entscheidung zur Einführung des Binnenmarktes gesehen werden. Insbesondere, ob die unterschiedlichen nationalen Bestimmungen tatsächlich Hindernisse für den Binnenmarkt darstellen, sollte mit größer Soigfalt hinterfragt werden. Vgl. zu einzelnen Bereichen der Corporate Governance, die möglicherweise einer einheitlichen europäischen Regelung zugänglich sind Hopt, ZGR 2000, 813 ff. 777 Die Besetzung entspricht teilweise der der Grundsatzkommission und des Berliner Initiativkreises; neu hinzugekommen sind v. a. Vertreter der Gewerkschaften und der Politik. 778 Bundespresseamt, Pressemitteilung Nr. 301/00. 779 Bundespresseamt, Pressemitteilung Nr. 301/00; Nr. 321/00; ebenso der Bericht der Regierungskommission, Rn.3. Vgl. U.H. Schneider, DB 2000, 2413. Insoweit wird auch die von 775
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Auf der Grundlage eines von ihr erarbeiteten Fragenkatalogs und der daraufhin eingegangenen Stellungnahmen hat die Regierungskommission ihren Abschlußbericht verfaßt und im Sommer 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt. Hierin werden ausführlich Vorschläge zu Mechanismen der Selbstverpflichtung geprüft, die den dargestellten Corporate Governance Grundsätzen strukturell ähneln. Im Ergebnis empfiehlt die Regierungskommission die Entwicklung eines einheitlichen, maßgebenden Corporate Governance Kodex für die Unternehmensleitung und -Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften (aa). Zu diesem Zwecke soll die Bundesregierung ein neues Gremium (Kodex-Kommission) einsetzen (bb). Der von dieser Kommission entwickelte Kodex soll nach Vorstellung der Regierungskommission mit einer gesetzlichen Erklärungspflicht kombiniert und durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger bekanntgemacht werden (cc). aa) Erforderlichkeit eines einheitlichen Kodex Gerade in Hinblick auf die Information der Anleger sowie der diversen stakeholders erachtet die Regierungskommission einen einheitlichen, als Modellkatalog dienenden Kodex für notwendig. Auf diese Weise könne die geltende Unternehmensverfassung der deutschen Aktiengesellschaften und die diesbezüglichen, im wesentlichen auf zwingendem Gesetzesrecht beruhenden Verhaltensmaßstäbe für Unternehmensleitung und -Überwachung in einer gerade auch für ausländische Investoren geeigneten Form dargestellt und könnten die Besonderheiten und Vorzüge der dualistischen Unternehmensverfassung verdeutlicht werden 780. Der Kodex soll hierzu zum einen das geltende Gesetzesrecht darstellen, zum anderen aber auch ergänzende Empfehlungen für börsennotierte Gesellschaften aussprechen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollen diese beiden Regelungsebenen im Kodex sprachlich oder formal unterscheidbar sein. In seiner Geltung zunächst auf börsennotierte Gesellschaften beschränkt, müsse die Anerkennung des Kodex auch nicht börsennotierten Gesellschaften freistehen 781. bb) Organisation und Verfahren der Kommission Die Regierungskommission betont die Bedeutung einer ausgewogenen und repräsentativen Besetzung der Kodex-Kommission mit praxiserfahrenen Experten. Da ein einziger, einheitlicher Corporate Governance-Kodex entwickelt werden soll, der zudem durch die spezielle Konstruktion der gesetzlichen Entsprechenserklärung einen staatlichen Anknüpfungspunkt erhält, darf ihrer Ansicht nach die Besetzung der OECD geforderte stärkere Betonung der privaten Eigenverantwortung berücksichtigt, vgl. Hommelhoff, ZGR 2001, 240 ff. 780 Bericht der Regierungskommission, Rn. 7. Vgl. auch Reg.-Begr. TransPuG, zu Nr. 15 (§ 161), BT-Drucks. 14/8769, 21. 781 Bericht der Regierungskommission, Rn.8, 13 ff.
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nicht ausschließlich privater Initiative überlassen bleiben. Als konkretes Vorbild der neuen Kommission wird die Börsensachverständigenkommission genannt782. Das neue Gremium soll aus höchstens 12 besonders anerkannten und fachlich geeigneten Mitgliedern bestehen, die über Erfahrungen und Kenntnisse in der Unternehmensleitung und -Überwachung in- und ausländischer börsennotierter Gesellschaften, auf den Gebieten des Gesellschaftsrechts, der Rechnungslegung und der Abschlußprüfung verfügen. Diese Qualifikationsanforderungen ergänzen die empfohlene pluralistische Besetzung mit Vertretern der institutionellen und privaten Anleger, Arbeitnehmervertretern, Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, einschlägig tätigen Unternehmensberatern und Wissenschaftlern 783. Eine besondere gesetzliche Grundlage wird ebenso für entbehrlich gehalten wie die Vorgabe besonderer Verfahrensregeln 784. cc) Implementation des Kodex Die Regierungskommission hat sich besonders intensiv mit der Frage befaßt, wie die Beachtung des Kodex sichergestellt werden kann. Sie lehnt zu Recht eine Koppelung an die Börsenzulassung als unverhältnismäßig ab und befürwortet statt dessen die Einführung einer im Aktiengesetz zu verankernden Erklärungspflicht. Mittels einer sog. Compliance-Erklärung 785 muß demnach die Unternehmensleitung bekanntgeben, ob der Kodex eingehalten wurde bzw. inwieweit und aus welchen Gründen von den dort enthaltenen Empfehlungen zugunsten unternehmensspezifischer Modifikationen abgewichen wurde 786 . Diese Erklärungspflicht verschafft den 782
Bericht der Regierungskommission, Rn. 15 ff. Vgl. zu dem Vorschlag, nach dem Vorbild des § 342 HGB zu verfahren und eine gesetzliche Grundlage für eine Anerkennung einer auf privater Initiative beruhenden Kommission zur Entwicklung eines deutschen Code of Best Practice zu schaffen, FAZ vom 20.1.2001, 19; ausdrücklich dagegen U.H. Schneider, DB 2000,2417, der für eine Organisation nach dem Vorbild der Börsensachverständigenkommission votiert, positiver Hommelhoff, ZGR 2001, 246 f. Die Regierungskommission verneint eine ausreichende Vergleichbarkeit mit § 342 HGB; insbesondere unterscheide sich die vorgeschlagene Entsprechenserklärung deutlich von der über § 342 I I HGB ermöglichten Verbindlichkeit, Bericht der Regierungskommission, Rn. 17. Vgl. Ulmer, ZHR 166 (2002), 163, 179. 783 Zur Kritik an der Besetzung mit Vertretern der Banken, Großkonzeme und institutionellen Anlegern und der daher zu erwartenden Vernachlässigung der Interessen der Kleinaktionäre vgl. FAZ vom 11.9.2001, 20. 784 Bericht der Regierungskommission, Rn. 17. 785 Für eine entsprechende Verpflichtung der Unternehmen („comply or explain") bereits U.H. Schneider, DB 2000, 2416; ihm zustimmend Lutter, ZGR 2001, 237. 786 Bericht der Regierungskommission, Rn. 8 ff. Beispielhaft aufgeführte Faktoren sind Größe, Aktionärsstruktur, branchenbedingte Besonderheiten, internationale Anlegerschaft und Anforderungen ausländischer Kapitalmärkte. Die Compliance-Erklärung soll in einem gesonderten Bericht erfolgen, der mit dem Jahresabschluß gem. § 325 HGB eingereicht werden soll. Abgelehnt wurde wegen der anderen Zielrichtung dieser Berichte die Aufnahme der Compliance-Erklärung in den Lagebericht bzw. Konzernlagebericht (§§289, 315 HGB). Auch eine Pflicht zu einem einmaligen Bericht im Börsenzulassungsprospekt wurde verworfen. Hierzu Berg!Stöcker, Anwendungsfragen, 6 ff. Augsberg
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Empfehlungen des Kodex keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit, da die Unternehmen von ihnen ohne weiteres abweichen können787. Individuelle Anpassungen bleiben zulässig. Abweichungen sind jedoch dem Kapitalmarkt gegenüber offenzulegen, dem ihre Bewertung überlassen bleibt. Schließlich folgt aus der gesetzlichen Festlegung der Erklärungs- und Erläuterungspflicht, daß eindeutig klargestellt sein muß, worauf sich diese bezieht. Deshalb ist die Veröffentlichung der Empfehlungen in einem amtlichen Publikationsorgan (Bundesanzeiger) unumgänglich788. 3. Deutscher Corporate Governance Kodex und TransPuG Die Probleme der Normierung von Grundsätzen guter Corporate Governance liegen nicht so sehr in der - grundsätzlich nicht zu beanstandenden - Ausgestaltung der verschiedenen privaten Regelwerke als in deren Pluralität. Auch soweit hier differenzierte Ausgangszielsetzungen zu erkennen sind, führt eine Vielzahl unterschiedlicher, im Einzelfall auf die Unternehmen abzustimmender Corporate Governance Regime zu Rechtsunsicherheiten und widerstreitet der angestrebten Klarheit 789 . Die Bundesregierung hat daher in Kooperation mit der deutschen Wirtschaft und in Einklang mit den soeben dargestellten Vorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance im September 2001 eine neue Kodex-Kommission eingesetzt. Diese Kommission hat, aufbauend auf den existierenden Kodizes, im Februar 2002 den 12 Seiten langen Deutschen Corporate Governance Kodex vorgelegt 790 . Die darin enthaltenen Regelungen entsprechen im wesentlichen dem Vorschlag der Regierungskommission. Der neue Kodex unterteilt die Verhaltensanforderungen für die Unternehmensleitung und -kontrolle deutscher börsennotierter Gesellschaften in drei Kategorien: Gesetzliche Verhaltenspflichten sind im einfachen Präsens verfaßt. Empfehlungen des Kodex sind hingegen im Text als „Soll-Vorschriften" gekennzeichnet. Von diesen Vorschriften können die Gesellschaften abweichen; sie sind aber verpflichtet, 787
Die Regierungskommission weist zu Recht darauf hin, daß diese Konstruktion nicht mit dem Setzen dispositiven Gesetzesrechts zu vergleichen ist, Bericht der Regierungskommission, Rn. 17. Letzteres gilt, sofern die Parteien keine abweichende Regelung treffen, ohne daß es einer besonderen Umsetzung bedarf. Den gesetzesergänzenden Empfehlungen eines Corporate Governance Kodex kommt eine solche Geltung nicht zu; sie müssen, um beachtet zu werden, bspw. in einer Geschäftsordnung, in Verträgen, der Satzung sowie durch tatsächlich geübte Praxis verbindlich gemacht und umgesetzt werden. Hierzu Ulmer, ZHR 166 (2002), 158 ff. 788 Bericht der Regierungskommission, Rn. 10, 17. 789 Das beweist u. a. die Situation in Großbritannien, wo mittlerweile aber die Londoner Börse (LSE) einen Combined Code erstellt hat, der seit 2000 als Mindeststandard von den an der LSE gelisteten Unternehmen zu beachten ist, vgl. U.H. Schneider, DB 2000, 2415 f. 790 Nachzulesen auf der Internetseite der Kodex-Kommission unter http://www.corporategovernance-code.de; abgedruckt z.B. in NZG 2002, 273ff. Bis zum 18.1.2002 konnten Anregungen und Änderungswünsche zum zuvor veröffentlichten Entwurf vorgebracht werden. Vgl. hierzu auch Seibert, ZIP 2001, 2192, der darauf hinweist, daß in dieser Kommission kein Politiker vertreten ist und es sich daher um „echte Selbstorganisation der Wirtschaft" handele.
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dies jährlich offenzulegen. Auf diese Weise sollen branchen- und unternehmensspezifische Anpassungen ermöglicht werden, ohne daß dies zulasten eines einheitlichen Kodex ginge. Zugleich befördert die Abweichungsmöglichkeit die Flexibilisierung und Selbstregulierung der deutschen Unternehmensverfassung. Diesem Zweck dienen schließlich auch die enthaltenen bloßen Anregungen, von denen ohne Offenlegung abgewichen werden kann. Für sie verwendet der Kodex die Ausdrücke „sollte" oder „kann". Parallel zur Vorstellung des Kodexentwurfs hat die Bundesregierung einen Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz - TransPuG) vorgelegt 791. Das Gesetz wurde am 19. Juli 2002 vom Bundestag verabschiedet und trat am 26. Juli 2002 in Kraft 792 . In seinen hier interessierenden Passagen enthält es für den neuen Deutschen Corporate Governance Kodex einen besonderen Implementationsmechanismus, der ebenfalls auf den Vorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance basiert. Demnach sollen sich die Unternehmen auf freiwilliger Basis zur Einhaltung der Verhaltensanforderungen des Kodex verpflichten. Gesetzlich verlangt wird in einem neuen § 161 AktG lediglich eine jährlich zu erneuernde, durch Vorstand und Aufsichtsrat abzugebende sog. Entsprechenserklärung. Diese betrifft nur die Empfehlungen des Kodex („Soll-Vorschriften") 793. Die Erklärung hat in einem gesonderten Bericht zu erfolgen und ist den Aktionären zugänglich zu machen, wofür eine dauerhafte, jährlich erneuerte Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft ausreichen soll 794 . Für den Fall der Zuwiderhandlung sind keine Sanktionen eingeplant; erwartet wird, daß der Kapitalmarkt diejenigen bestraft, die sich nicht an den Kodex halten 795 . Es dürfte zu weit gehen, diese faktische Bindungswirkung als grundrechtliche relevante Verpflichtung zu klassifizieren 796: Den Adressaten des Kodex steht es rechtlich frei, von den Empfehlungen abzuweichen. Und das Konzept der gesetzlich allein statuierten Informationspflicht geht ersichtlich davon aus, daß gut begründete, individuelle Abweichungen auch vom Kapitalmarkt akzeptiert werden und den betroffenen Unternehmen nicht zum Schaden gereichen 797.
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Abgedruckt z.B. in ZIP 2001, 2194ff.; NZG 2002, 273ff. BGBl. I 2002, 2681 ff. (2687); NZG 2002, 613 ff. Hierzu Seibert, NZG 2002, 608 ff. m. w. N. 793 Vgl. Reg.-Begr. TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, 21. 794 Reg.-Begr. TransPuG, BT-Drucks. 14/8769,22; vgl. Berg/Stöcker, Anwendungsfragen, 7. 795 So der Vorsitzende der Kodex-Kommission, Cromme, FAZ vom 19.12.2001, 13. Vgl. Berg/Stöcker, Anwendungsfragen, 8; Ulmer, ZHR 166 (2002), 157. 796 So aber Martin Wolf, ZRP 2002, 60. 797 Wie hier Berg/Stöcker, Anwendungsfragen, 8 f., 17 ff., die zu Recht grds. auch eine mittelbare Verbindlichkeit über eine gerichtliche Anwendung i. R. zivilrechtlicher Streitigkeiten ablehnen. Denn die Empfehlungen binden die Gerichte nicht; es muß stets eine Einzelfallprüfung erfolgen. Und angesichts der offen intendierten Abweichungsmöglichkeit können die Empfehlungen auch nicht als Mindeststandards interpretiert werden. 792
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308
2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
4. Ergebnis Der Deutsche Corporate Governance Kodex ist die Quintessenz aus der Erkenntnis, daß nur ein einheitlicher deutscher Standard die mit dem Schlagwort Corporate Governance verbundenen Erwartungen erfüllen kann und die gesetzliche Regelung der Unternehmensverfassung in Deutschland durch erfolgreiche gesetzliche Reformen (insbesondere durch das KonTraG) bereits so weit fortgeschritten ist, daß zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen eher eine Belastung für die Unternehmen darstellten als wirklich meßbare Vorteile brächten. Angesichts der Intention, flexible und individuell adjustierbare Regelungen zu schaffen, die zudem zu einem großen Teil nur der (Außen-)Darstellung des deutschen Unternehmensverfassungsrechts dienen798, ist es zu begrüßen, daß auf staatlicher Seite die Vorteile eines unverbindlichen Kodex erkannt wurden. Durch die besondere Konstruktion des neuen Kodex, die sich nicht auf den Erlaß durch ein durch das Bundesjustizministerium bestelltes Gremium beschränkt, sondern zusätzlich durch die gesetzlich vorgeschriebene Entsprechenserklärung Implementationshilfe leistet, kann nicht mehr von einem rein gesellschaftlich-privaten Gremium gesprochen werden. Auf der anderen Seite ist die Kodex-Kommission auch nicht der staatlichen Verwaltung eingeordnet, sondern besteht aus privaten Interessenvertretern 799. Angesichts der zu attestierenden neuartigen Kooperationsstruktur bleibt abzuwarten, ob der Deutsche Corporate Governance Kodex sich am Markt durchsetzen kann und damit möglicherweise ein Regelungsmodell für ähnlich gelagerte Steuerungsprobleme bietet.
IV. Ehrenkodex für Finanzanalysten Ein 1999 auf Anfrage des Bundestages von der Bundesregierung erarbeiteter Bericht zum „Grauen Kapitalmarkt" 800 , der neben grundsätzlicheren Überlegungen spezielle Defizite dieses Regelungsbereichs und mögliche Remedien aufzeigen sollte, maß der Selbstregulierung durch die Finanzdienstleister besondere Bedeutung bei. Vor dem Hintergrund zunehmenden Wettbewerbs wurde diesen ein „großes Eigeninteresse" zugeschrieben, für mehr Seriosität und fachliche Eignung unter den Mitgliedern zu sorgen. Ein staatlich verordnetes Berufsbild sei hierzu nicht erforderlich, statt dessen könnten die Interessenvertretungen „selbst durch Schulung und 798 „Der Kodex wird in die englische, französische, italienische und spanische Sprache übersetzt; maßgeblich ist ausschließlich die deutsche Fassung", so das Vorwort zum Deutschen Corporate Governance Kodex, NZG 2002, 273. 799 Die Kodex-Kommission faßt dieses Paradox so zusammen: „Mit der Einsetzung der Regierungskommission eröffnete sich der deutschen Wirtschaft die Möglichkeit, in einem Akt der Se/toorganisation einen Corporate Governance Kodex zu entwickeln" (Hervorhebung nicht im Original). 800 BT-Drucks. 14/1633. Vgl. die vorangegangene Entschließung des Bundestags zum „Grauen Kapitalmarkt" vom 5.6.1997, Grunddrucksache 417/97 und 418/97.
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
309
Weiterbildung für eine verbesserte fachliche Qualifikation der Finanzdienstleistungsvermittler sorgen" 801. In diesem Bereich bestand nach Ansicht der Bundesregierung seinerzeit kein Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Mittlerweile hat - vor allem unter dem Eindruck rapider Kursverluste am Neuen Markt und den in diesem Zusammenhang erhobenen Vorwürfen, Analysten und sog. „Tippgeber", „Börsengurus" u. a. hätten zu einem Zeitpunkt, in dem die Talfahrt bereits absehbar war, weiterhin Kaufempfehlungen abgegeben - diese Einschätzung sich gewandelt. Auf Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums wurden die Professoren v. Rosen (DAI) und Gerke (Universität Erlangen-Nürnberg) damit beauftragt, zu prüfen, inwieweit eine Regelung insbesondere der Tätigkeit der Finanzanalysten durch einen Verhaltenskodex erfolgen könnte. Der daraufhin an betroffene Verbände und Unternehmen versandte Fragenkatalog resultierte in einem im Mai 2001 vorgelegten Entwurf eines sog. „Kodex für anlegergerechte Kapitalmarktkommunikation", der über die Finanzanalysten hinaus auch weitere Informationsintermediäre miteinbezieht (1). Im Gegensatz etwa zum Abschlußbericht der Regierungskommission Corporate Governance, den das Bundeskabinett ausdrücklich „in Gänze" billigte, wurde der Kodex für Kapitalmarktkommunikation von der Politik nicht zur Umsetzung angenommen. Statt dessen wurden im Rahmen des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes verschärfte Regelungen für die Berufsausübung der Finanzanalysten in das WpHG integriert (2).
1. Kodex für anlegergerechte Kapitalmarktkommunikation In einem breit angelegten, dem eigentlichen Entwurf vorgelagerten Teil wird erläutert, warum aus Sicht der Autoren im Ergebnis der freiwilligen Regelung durch einen Verhaltenskodex der Vorzug gegenüber ordnungsrechtlichen Lösungen zu geben ist. Zu diesem Zwecke werden zunächst existierende „Normen der Kapitalmarktkommunikation" in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika beschrieben. Daran anschließend werden mögliche Regelungs- und Sanktionsformen erörtert. Schließlich werden die in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe gegen Analysten und Journalisten untersucht und nach möglichen Quellen für Konfliktpotentiale gefragt. Nachfolgend sollen nur die Erwägungen, die nach Ansicht von v. Rosen!Gerke für eine selbstregulative Regelung sprechen, dargestellt werden, also die Frage nach der bestmöglichen Normsetzungs- (a) und Sanktionsebene (b). Dabei geht der Kodex zu Recht davon aus, daß die Regelungsziele (Verbesserung des Anlegerschutzes sowie Stärkung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes) mit den Interessen und Belangen der betroffenen Informationsintermediä8oi BT-Drucks. 14/1633, 8. Als Beispiel einer entsprechenden positiven Entwicklung wird auf die Immobilienmakler hingewiesen, die durch verbandseigene Weiterbildungseinrichtungen und durch eine Verbesserung des Beratungsangebotes eigenverantwortlich zu einer Verbesserung des Ansehens ihrer Branche beigetragen hätten.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
re in einen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten vertretbaren Ausgleich zu bringen sind. Insbesondere ist es mit dem Funktionsschutz nicht vereinbar, die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Kapitalmarktkommunikatoren übermäßig zu beschränken. a) Normsetzungsebene Mögliche, im Kodex angeführte Normsetzungsebenen sind zwingende öffentlichrechtliche bzw. freiwillige privatrechtliche Selbstverwaltungsstrukturen (aa), eine gesetzliche Regelung (bb) sowie die Aufstellung eines neuen freiwilligen Verhaltenskodex (cc). aa) Selbstverwaltungsstrukturen Innerhalb der Abwägung der verschiedenen Regelungsstufen wird eine gesetzliche Regelung, die durch eine Berufsordnung konkretisiert wird, als die „Variante mit der wohl höchsten Eingriffsintensität in die Berufsausübung der Informationsintermediäre" angesehen802. Dabei differenziert der Kodexentwurf zwischen von öffentlich-rechtlichen Standesorganisationen mit Pflichtmitgliedschaft aufgrund der ihnen gesetzlich zugewiesenen Satzungsautonomie erlassenen Berufssatzungen und freiwilligen, auf privatrechtlicher Basis geschaffenen Vereins- bzw. Verbandsrichtlinien. Zutreffend wird erkannt, daß die Entscheidung über eine „Etatisierung" nicht den beteiligten Gruppen und Verbänden überlassen werden darf, sondern dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten ist. Auch dieser ist in seiner Entscheidung nicht frei, sondern hat insbesondere die Grundrechte der Betroffenen zu achten803. Dies gilt um so mehr, als eine Rückumwandlung im Sinne einer „Reprivatisierung" einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft in einen privatrechtlichen Verband unrealistisch sein dürfte. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nur nicht ratsam 804, sondern 802
v.Rosen/Gerke, Kodex, 45. Grds. müssen die Regelungen von einem staatlichen ,JLrfüllungs- und Abwicklungsinteressebegleitet werden, welches das staatliche Steuerungsinteresse in einem Maße dominieren läßt, das eine Integration in die staatliche Verwaltung gerechtfertigt erscheint, Schmidt-Aßmann, GS Martens, 258. Der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte der Berufsträger, insbesondere in Art. 121GG, läßt sich nur durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls rechtfertigen. Einer gesetzlichen Berufsordnung für Journalisten widerstreitet zudem die durch Art. 512 HS. 1 GG garantierte Pressefreiheit. In den Pressegesetzen der Länder sind folglich in § 1 Berufsorganisationen der Presse mit Zwangsmitgliedschaft und einer mit hoheitlicher Gewalt ausgestatteten Standesgerichtsbarkeit ausdrücklich verboten. Statt dessen existiert ein freiwilliger Pressekodex, veröffentlicht im Jahrbuch 1990 des Deutschen Presserats, 205 ff. Vgl. zum Ehrenkodex in diesem Zusammenhang skeptisch Tilmanns, W M 2001, 2052; allgemein zum Pressekodex H. Baumann, Rechtsprobleme freiwilliger Selbstbeschränkung, 26; M. Schmidt, Standesrecht und Standesmoral, 34ff.; Stürner, Pressefreiheit, 105 ff. 804 So v.Rosen/Gerke, Kodex, 47. 803
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
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verfassungsrechtlich unzulässig, die als Kapitalmarktkommunikatoren tätigen Berufsträger umfassender öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltung zu unterwerfen, um Mißstände zu beheben, die nur Teilbereiche der jeweiligen Berufsfelder betreffen. Ein weiteres Argument spricht gegen die Möglichkeit berufsständischer Selbstverwaltung: Schon bei den Finanzanalysten ist kaum ein einheitliches Berufsbild auszumachen. Insbesondere weisen die oben beschriebenen Verbandsgrundsätze und Möglichkeiten der Zertifizierung noch keinen Eigenstand in dem Sinne auf, daß von einem den verkammerten freien Berufen vergleichbaren verfestigten Berufsbild mit klaren Berufszugangsvoraussetzungen gesprochen werden könnte, zumal es sich um freiwillig zu erfüllende Voraussetzungen handelt. Letztlich scheiterte eine zwingende öffentlich-rechtliche wie eine freiwillige privatrechtliche Berufsordnung bereits daran, daß nicht nur Analysten und Journalisten erfaßt werden sollen, sondern die umfassende und unbestimmte Gruppe der Kapitalmarktkommunikatoren. bb) Gesetzliche Regelung Als zweite Möglichkeit wird die Einführung gesetzlicher Vorschriften vergleichbar den Wohlverhaltensregeln der §§ 31, 32 WpHG in Betracht gezogen. Im Gegensatz zur beruflichen Selbstverwaltung knüpften solche Regelungen an bestimmten tatbestandlichen Handlungen an. Damit erfaßten sie zunächst sämtliche Informationsintermediäre unabhängig von ihrem konkret ausgeübten Beruf und ohne daß es einer Mitgliedschaft in einem Verband oder einer Berufsorganisation bedürfte. Demgegenüber spreche jedoch gegen eine gesetzliche Regelung deren Inflexibilität und Abstraktheit. Damit drohe - insbesondere für den Fall eines deutschen regulatorischen Alleinganges - die Gefahr einer Überregulierung, die sich nachteilig auf den Kapitalmarkt auswirken könne. Deshalb sei eine gesetzliche Regelung nur zu wählen, wenn es zur Beseitigung erheblicher Mißstände auf dem Kapitalmarkt keine erfolgversprechende Alternative gäbe805. cc) Freiwilliger Verhaltenskodex Für vorzugswürdig erachtet wird ein auf freiwilliger Selbstverpflichtung basierender, einheitlich für alle Kapitalmarktkommunikatoren geltender Verhaltenskodex. Ein solcher berufsübergreifender Kodex sei im Vergleich zu einer gesetzlichen Regelung sehr viel schneller an sich verändernde Marktgegebenheiten und aktuelle methodische Entwicklungen anpaßbar und stelle hinsichtlich des Eingriffes in den Kapitalmarkt und die verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten der Informationsintermediäre das mildere Mittel dar. Das Problem der fehlenden Allgemeinverbindlichkeit eines freiwilligen Regelwerks wird von den Autoren zwar gesehen; sie er805
v. Rosen!Gerke, Kodex, 47 f. Einzelne, besonders gewichtige Punkte könnten durch eine entsprechende Änderung des WpHG bzw. BörsG eine gesetzliche Regelung erfahren, dort, 53.
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
warten jedoch, daß bei einer entsprechenden öffentlichkeitswirksamen Gestaltung der Kodex sich zu einem „Qualitätskriterium bzw. Gütesiegel" entwickelt, dessen Nichtanerkennung Wettbewerbsnachteile mit sich bringt. Auf diese Weise könne eine „faktische" Allgemeinverbindlichkeit erreicht werden 806. b) Sanktionsebene Strafrechtliche wie ordnungswidrigkeitenrechtliche Maßnahmen werden erörtert, im Ergebnis jedoch wegen UnVerhältnismäßigkeit und der zu beachtenden strengen Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots verworfen. Auch hier sei ein im Rahmen der Selbstregulierung zu installierendes Sanktionssystem vorzuziehen, das insbesondere hinsichtlich seiner Präventionswirkung nicht hinter staatlichen Sanktionsmaßnahmen zurückstehen müsse807. Die freiwillige Selbstverpflichtung begründet nach Ansicht von v. Rosen/Gerke privatrechtliche Vertragsbeziehungen eigener Art zwischen den Beteiligten808. Damit könne die Überwachung der Einhaltung des Kodex sowie gegebenenfalls die Verhängung von Sanktionsmaßnahmen einer privaten Institution übertragen werden, was in Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot weitergehende Flexibilität erlaube. Zu diesem Zwecke solle ein möglichst paritätisch besetztes und weisungsfrei handelndes Gremium („Beirat") gegründet werden, das die Interessen der Normadressaten widerspiegelt 809. Der Beirat solle jedoch nicht als Schiedsgericht im Sinne der §§ 1029 ff. ZPO agieren, so daß verhängte vertragliche Konventionalstrafen gerichtlicher Kontrolle zugänglich blieben 810 . Vorgeschlagen wird weiterhin, den Beirat beim BAWe anzusiedeln und den Präsidenten des BAWe oder einen anderen mit der Befähigung zum Richteramt versehenden Beamten zum Vorsitzenden zu bestimmen811. c) Ergebnis Ein Verhaltenskodex im beschriebenen Sinne, der ein zunächst unverbindliches Regelwerk mit privatrechtlichen Anerkennungsmechanismen verbindet, ist grundsätzlich ein taugliches Steuerungsmittel. Ihm stehen keine grundlegenden rechtlichen Bedenken entgegen. Insbesondere seine Kontrolle durch einen beim BAWe angesiedelten pluralistisch besetzten Beirat erscheint praktikabel und sinnvoll. Aber 806
v.Rosen/Gerke, Kodex, 48. Skeptisch insoweit z.B. die DVFA. v. Rosen/Gerke, Kodex, 49 ff. unter Verweis auf Mennicke, Sanktionen gegen Insiderhandel, 516, 519 ff.; vgl. auch Kirchner, FS Kitagawa, 665 ff. 808 v. Rosen/Gerke, Kodex, 79. 809 v.Rosen/Gerke, Kodex, 78 f. Rechtstechnisch handele es sich bei dieser Konstruktion um ein Leistungsbestimmungsrecht i.S.d. § 317 BGB, vgl. nurPalandt-//emnc/is, BGB, § 317 Rn. 3. 810 v. Rosen/Gerke, Kodex, 79, 81. 811 v. Rosen/Gerke, Kodex, 80. 807
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
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die Konzeption krankt an einem erheblichen Mangel, als sie die allgemeine Anerkennung des Kodex durch die Normadressaten voraussetzt. Gerade hier sind Zweifel angebracht. Es ist möglich und angesichts des zumindest in den Reihen der Finanzanalysten bestehenden Interesses an einem integeren Erscheinungsbild in gewissem Umfang wahrscheinlich, daß dem Kodex umfassende Anerkennung zuteil wird. Sicher ist dies nicht 812 . Insbesondere diejenigen Kapitalmarktkommunikatoren, die derzeit noch keiner Reglementierung durch verbandliche oder arbeitsvertragliche Vorschriften unterliegen, dürften sich auch der Regelung durch einen freiwilligen Kodex entziehen. Aus diesem Grunde erscheint auch die Frage zu oberflächlich behandelt, ob nicht durch einen Ausbau der schon bisher bestehenden berufsverbandlichen Normsetzungs- und Zertifizierungsmodelle ein höherer und einheitlicherer Qualitätsstandard erreicht werden könnte. Entsprechende Anregungen sind - auch unter dem Eindruck der drohenden (gesetzlichen) Regelung - von den Berufsvereinigungen gekommen. Die Pluralität der Regelwerke und Zertifikate stellt zwar ein Problem dar; gerade hier bedürfte es aber einer genaueren Untersuchung der qualitativen Unterschiede und Gemeinsamkeiten813. Der Rekurs auf die verbandliche Lösung hätte den weiteren Vorteil, daß nicht mit einer vertraglichen Verpflichtung sui generis (wem gegenüber?) argumentiert werden müßte, sondern auf bewährte vereinsrechtliche Muster zurückgegriffen werden könnte. Schließlich wäre auf diese Weise aufgrund der internationalen Verflechtungen der Verbände auch sichergestellt, daß die in Deutschland geltenden Regeln internationalem Standard entsprechen und weltweiter Anerkennung sicher sein können814. Ein neuer, freiwilliger Kodex müßte sich hier erst etablieren, was angesichts eines fehlenden international auftretenden Fürsprechers jedenfalls eine gewisse Vorlaufzeit verlangte.
2. Einbeziehung in das 4. FMFG Die Bundesregierung hat entschieden, lediglich einzelne Vorschriften aus dem Kodexentwurf in das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz zu übernehmen. Damit folgt sie dem in der Börsensachverständigenkommission erörterten und insbesondere auch von der DVFA nachdrücklich vertretenen Vorschlag, die Verhaltenspflichten für Analysten auf eine gesicherte gesetzliche Basis zu stellen815. Der zu diesem Zwecke neu in das WpHG eingefügte § 34b 11 WpHG n. F. 816 lautet: 812
In diesem Zusammenhang war trotz der Möglichkeit, sich mittels der verschickten Fragebögen zu äußern, von vornherein nicht akzeptanzfördemd, daß die Schaffung des Kodexentwurfs nicht einem pluralistisch besetzten Gremium, sondern zwei Einzelpersonen übertragen wurde. 813 Ggf. wäre über eine Verbändevereinbarung nachzudenken, evt. mit einem Genehmigungsvorbehalt für das BAWe/Bundeswirtschaftsministerium. 814 So ausdrücklich auch die DVFA, die sich gegen einen deutschen Alleingang wandte und statt dessen das Erreichen eines europäischen „level playing field" anmahnte. 815 Die vorgebrachte Überlegung sah allerdings vor, daß Wertpapieranalysen - wie dies bei der Anlageberatung auch der Fall ist - eine Wertpapiemebendienstleistung im Sinne von
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2. Kap.: Typologie der Normsetzungsverfahren
„Führt ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen oder ein mit ihm verbundenes Unternehmen eine Wertpapieranalyse durch und macht das Wertpapierdienstleistungsunternehmen sie seinen Kunden zugänglich oder verbreitet es sie öffentlich, so ist es verpflichtet, die Wertpapieranalyse mit der erforderlichen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu erstellen und mögliche Interessenkonflikte in der Wertpapieranalyse offen zu legen" 817 . Hinsichtlich dieser neuen Vorschrift sind aus der hier interessierenden Perspektive vor allem zwei Punkte anmerkungsbedürftig: Zum einen beschränkt sich ihr personeller Anwendungsbereich auf Finanzanalysten, was für sich genommen bereits eine Abweichung von der umfassenden Zielsetzung des Kodexentwurfs bedeutet 818 . Die gesetzliche Regelung erfaßt sogar nur solche Wertpapieranalysen, die durch zugelassene Wertpapierdienstleistungsunternehmen und ihre Mitarbeiter erstellt werden. Finanzanalysten, die derzeit noch nicht als Wertpapierfirmen zugelassen sind, werden nicht adressiert. Gerade bei den Analysten, die in zugelassenen Wertpapierdienstleistungsunternehmen tätig sind, ist aber davon auszugehen, daß sie durch verbandliche und firmeninterne Vorschriften so weitgehend reglementiert sind, daß sie die entsprechenden Anforderungen an Sachverstand, Sorgfalt und Integrität bereits bisher erfüllten 8 1 9 . Schon deshalb ist fraglich, ob hier inhaltlich Neues geboten w i r d 8 2 0 . Zum anderen ist die Vorschrift so allgemein - i m Stile einer Generalklau§ 2 III a WpHG darstellen. Diese einfachere Änderung hätte zur Folge gehabt, daß die in den §§ 31 ff. WpHG normierten Verhaltensregeln für Wertpapierdienstleistungsunternehmen zweifelsfrei auf Wertpapieranalysen anwendbar geworden wären. Vgl. hierzu allgemein Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten, v. a. 91 ff. 816 § 34 b ist in Zusammenhang mit europäischen Regulierungen zu verstehen, denen er in gewisser Weise vorgreift und die möglicherweise eine nochmalige Anpassung erforderlich machen. Vgl. v. a. Art. 6 I V der am 3.12.2002 vom Europäischen Parlament angenommenen Marktmißbrauchsrichtlinie, vgl. KOM (2001) 281 endg. Zudem soll i. R. d. Änderung der WpDRL auch die Anlageberatung als zulassungspflichtige Haupttätigkeit von Wertpapierfirmen geregelt werden. 817 Vgl. BGBl. I 2002, 2033; BT-Drucks. 14/8017, 28. Zudem sind nach §34b II WpHG Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die Wertpapieranalysen vornehmen, verpflichtet, die in § 33 WpHG normierten Organisationspflichten zu erfüllen. Weiterhin erfährt die Kursmanipulation eine Neuregelung in den §§ 20 a und 20 b WpHG. Auch hiervon sind die Analysten potentiell betroffen. Die vorsätzliche Verbreitung falscher Analysen wird regelmäßig den Tatbestand der Kurs- und Marktpreismanipulation erfüllen. Dieser Regelungskomplex richtet sich an jedermann und nähert sich für diesen Teilbereich somit der umfassenden personellen Zielsetzung des Kodex. Durch die Anknüpfung der Überwachung des Manipulationsverbots an die Wertpapieraufsicht unterliegen Analysten künftig der unmittelbaren Kontrolle durch das BAWe. Die §§ 20 a und 20 b WpHG gehen in diesem Punkt über die bislang kaum angewandte Regelung des § 88 BörsG a. F. hinaus. 818 Kritisch gegenüber dieser Zielsetzung des Kodexentwurfs Tilmanns, W M 2001, 2052, der unter Verweis auf die funktionierende Selbstregulierungspraxis durch den Deutschen Presserat den normativen Regelungsbedarf hinsichtlich der Einbeziehung von Journalisten abstreitet. Positiver Hocker, W M 2001, 1943. 819 Ausführlich Jerusalem, Mitarbeitergeschäfte. 820 Positiv dennoch Gebauer, Börsenzeitung vom 30.11.2001, 3: „Eine Verstärkung durch klarere Handlungsanweisungen seitens des deutschen Gesetzgebers und der nationalen Kapitalmarktaufsicht würde den Banken und ihren Analysten mehr Rechtssicherheit geben und sie
E. Private Normsetzung ohne Rechtsverbindlichkeit
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sei - formuliert, daß sie unzweifelhaft der Präzisierung im Einzelfall bedarf . Das BAWe (bzw. in Zukunft die BAFin) ist nach Maßgabe der §§ 35, 36 WpHG für die Kontrolle der Einhaltung der Vorgaben zuständig. Es ist jedoch nicht befugt, die Anforderungen der §§ 34 ff. WpHG durch Richtlinien näher zu konkretisieren 822. Auch das läßt nach der praktischen Anwendung der Vorschrift fragen. 3. Ergebnis Man mag bedauern, daß sich mit § 34 b WpHG und der damit verbundenen Absage an einen Verhaltenskodex ein Trend zur Verrechtlichung des Kapitalmarktes fortsetzt, statt daß ihm entgegengewirkt wird. Gleichwohl bleibt abzuwarten, ob die gesetzliche Regelung in der vorliegenden Form nicht sogar zu einer Stärkung der bestehenden selbstregulativen Mechanismen der privaten Berufsvereinigungen führen wird. Insoweit erscheint es vorstellbar, daß deren Regelwerke nicht nur in zivilrechtlichen Streitigkeiten von den Gerichten, sondern auch vom BAWe zur Konkretisierung der durch § 34 b I WpHG pauschal festgelegten Wohlverhaltenspflichten herangezogen werden. Zudem ist aber auch der Kodexentwurf nicht als „vergebliche Liebesmüh" zu disqualifizieren. Ihm kommt unzweifelhaft das Verdienst zu, sich der Aufgabe der Regelung eines Sachbereichs nicht nur unter inhaltlichen, sondern gleichermaßen unter strukturellen, den Normsetzungsmechanismus betreffenden, Gesichtspunkten genähert zu haben. Auch soweit sich der Gesetzgeber gegen die - wie gesehen angreifbaren - Argumente von v. Rosen!Gerke entschieden hat, bleibt als Erkenntnisgewinn die richtige Entscheidung, daß einer neuen Regulierung zunächst die Analyse verschiedener möglicher Regulierungsmodelle vorausgehen sollte. Hiervon soll im nun folgenden Kapitel die Rede sein.
besser vor unberechtigten Angriffen in der Öffentlichkeit schützen, weil regelgerechtes Verhalten leichter darzustellen ist". 821 Die Reg.-Begr. 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, 92 vermerkt zumindest, daß Interessenkonflikte bestehen können, wenn das Wertpapierdienstleistungsunternehmen oder das die Analyse vornehmende verbundene Unternehmen über Handels- oder Anlagebestände der bewerteten Wertpapiere in nicht unerheblichem Umfang verfügt oder das Unternehmen Mitglied im Plazierungskonsortium der unlängst börslich eingeführten Wertpapiere ist. Gleiches soll gelten, wenn das Unternehmen als Market-Maker oder Betreuer oder in vergleichbarer Funktion in den betroffenen Wertpapieren tätig ist. 822 § 35 V I 1 WpHG ist insoweit eindeutig und nennt nur die §§ 31-33. Vgl. hierzu überzeugend Junker, Gewährleistungsaufsicht, v. a. 151 ff. Verlautbarungen bleiben möglich; vgl. zu deren Bindungswirkung auch Pitschas, W M 2000, 1121 ff. Anders wohl Gebauer, Börsenzeitung vom 30.11.2001, 3, der lediglich eine „redaktionelle Klarstellung" in §35 V I WpHG für angebracht hält, daß die Aufsichtsbehörde Auslegungsrichtlinien erlassen darf. Die BAFin hat am 11.3.2003 eine „Bekanntmachung" zur Auslegung des § 34 b WpHG vorgelegt.
Drittes Kapitel
Normsetzungsstrategie Abschließend sollen die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal kurz resümierend zusammengefaßt und daraufhin untersucht werden, inwieweit sie über die - in ihrer Bedeutung damit nicht herabgesetzte - Bestimmung der Zulässigkeit einzelner existierender Regelungsmechanismen hinaus verallgemeinerungsfähige Aussagen erlauben, die unter Umständen auf andere Rechtsgebiete übertragbar, jedenfalls aber für die zukünftige Regulierung des Kapitalmarktes beachtenswert sein können.
A. Vom Pluralismus der Normsetzungsmechanismen zur Normsetzungsstrategie I. Status quo der Normsetzung im Kapitalmarkt Wie die vorstehende Darstellung gezeigt hat, sind im Bereich des Kapitalmarktes private Normsetzungsverfahren vielfältig nachweisbar und stehen die verwendeten Regelungsmodelle größtenteils in Einklang mit den zuvor formulierten allgemeinen Anforderungen an deren Gemeinwohlkompatibilität. Dabei ist die Liste der hier exemplarisch herangezogenen Mechanismen natürlich nicht abschließend, sondern dem Sachgebiet geschuldet. Schon diese Variationsbreite der Normsetzungsmodelle läßt sich jedoch nicht mehr in ein dreiteilendes Schema privat-kooperativ-staatlich einordnen. Die meisten Modellen besitzen mehr oder weniger stark ausgeprägte kooperative Elemente. Ob beispielsweise das Vereinsrecht eine reine Form gesellschaftlicher Selbstregulierung darstellt, weil es normalerweise ohne staatliche Induzierung auskommt, oder ob es als regulierte Selbstregulierung angesehen werden kann, weil es sich innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung bewegt und gerichtlicher Kontrolle unterliegt, ist letzten Endes eine Frage des Blickwinkels bzw. der gewählten Ordnungskriterien. Umgekehrt kann funktionale Selbstverwaltung aufgrund ihrer Organisationsform als staatliche Verwaltung erscheinen; sie kann aber auch als Herrschaft der Betroffenen der Kategorie Selbstregulierung unterstellt werden. Rechtliche Einsichten lassen sich deshalb nur schwer allein aus einer derart skalierenden Einteilung gewinnen; entscheidend ist das Zusammenspiel der verschiedenen Normsetzungsebenen und -autoren, das sich im Rezeptionsmechanismus äußert. An den dargestellten Beispielen kapitalmarktrelevanter Normsetzungsmodi läßt sich darüber hinaus ablesen, daß in der konkreten Regulierungssituation
A. Normsetzungsmechanismen und Normsetzungsstrategie
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durchaus divergierende Regelungsmodelle erprobt werden bzw. schon seit längerem Anwendung finden 1. Das läßt den Schluß auf die Erwartungshaltung zu, daß aus den Unterschieden regelungsspezifische Vorteile erwachsen bzw. besonders funktionsgerechte Normsetzungsmodelle existieren2. Ein planvolles Vorgehen im Sinne einer Zuteilung eines bestimmten Verfahrens zu einer besonderen Regelungsaufgabe ist damit jedoch noch nicht, zumindest noch nicht durchgängig, verbunden. Soweit die unterschiedlichen Modelle auf privater Eigeninitiative beruhen, sind Inkonsistenzen unvermeidlich und müssen bis zu einem gewissen Grad hingenommen werden. Auf Dauer erscheint es sinnvoll, sich über einen gezielteren Einsatz privater Normsetzungsmechanismen Gedanken zu machen, um deren Steuerungspotential zu optimieren und staatliche Ressourcen zu schonen. Gefordert ist hierbei zuvörderst wiederum der Staat als übergeordneter Regelungsverband. Die grundlegende Frage nach der Regelungsnotwendigkeit und die weitergehende Klärung des einzusetzenden Regelungsmodells (i. e. auch des Grades an rechtlicher Verbindlichkeit) dürfen nicht allein Privaten überlassen werden. Diese sind nicht auf das Verfolgen eines allgemeinen Regelungskonzepts aus, und ihnen fehlten auch die Möglichkeiten zu dessen Implementation. An den Staat ergeht daher die Aufforderung, sich dieser Koordinierungsaufgabe anzunehmen und eine einheitlichere Regelungsmatrix zu kreieren, die das Verhältnis von staatlicher Rechtsetzung zu den verschiedenen Varianten privater Normsetzung aufzeigt und für künftige Regulierungssituationen eine Handlungsanleitung bietet. Das ist es, was im folgenden unter der Suche nach einer Normsetzungsstrategie verstanden werden soll3.
II. Ziele normsetzungsstrategischen Vorgehens Die Ziele sind damit im Grundsatz schon benannt: Ausgehend von der Prämisse, ein Variantenreichtum bringe es mit sich, daß einzelnen Alternativen im Verhältnis zu bestimmten Regelungssituationen eine besondere Funktionsadäquanz zugeschrieben werden kann, ist nach einer Koordination von Regelungsaufgabe und Regelungsmodell zu fragen. Aus der solchermaßen optimierten Regelung erwachsen 1 „Die Vielfalt immer wieder neuer Organisations- und Handlungsformen belegt, wie sehr auch von den allgemeinen Lehren Anpassung und Fortentwicklung verlangt werden", so unter Verweis auf Brohm, Wirtschaftsverwaltung, 36 ff. für das Wirtschaftsverwaltungsrecht allgemein Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 107. Vgl. ähnlich dens., DV Beiheft 4 (2001), 269: „Insgesamt zeigen die Rezeptionsklauseln, daß die Rechtsquellenlehre des Öffentlichen Rechts wesentlich stärker ausdifferenziert und mit dezentralen Elementen durchsetzt ist, als das der klassischen hierarchischen Ausprägung in dieser Lehre erscheinen mag". 2 Vgl. in diesem Sinne auch Schuppen, Verwaltungswissenschaft, 964ff.; dens., DV Beiheft 4 (2001), 225 ff., dort, 225: „Ergänzungs- und Komplementärverhältnis verschiedener Regelungsarten und Regelungsinstanzen". 3 Ähnlich, aber in entscheidenden Punkten abweichend die Konzeption der Theorie der Wahl rechtlicher Regelungsformen („Regulatory Choice") bei Schuppen, Verwaltungswissenschaft, 960ff.; ders., DV Beiheft 4 (2001), 223ff.; Schuppen!Bumke, Standardsetzung, 89ff., 99 ff. Vgl. auch Piel, Steuerungspotential, 216.
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
idealiter eine erhöhte Steuerungsleistung bzw. eine verringerte Eingriffsdichte bei gleichbleibender Steuerungsleistung. Es geht dem normsetzungsstrategischen Vorgehen mithin primär darum, vom zufälligen Pluralismus der Normsetzungsmodelle zum planvollen Einsatz diversifizierter und typisierter, dennoch dem Einzelfall anpaßbarer Normsetzungsmechanismen zu gelangen und auf diese Weise den Quotienten von Eingriffsintensität und Steuerungseffektivität zu verringern. Damit werden zugleich die oben allgemein formulierten Vorteile der privaten Normsetzung in den staatlichen Regelungskanon eingebunden und verstärkt; insbesondere kann die Staatsentlastung wie gewünscht eintreten4. Deutlich werden muß aber auch, daß normsetzungsstrategisches Handeln keine Deregulierung im Sinne eines einseitigen Rückzugs des Staates aus der Regelungsverantwortung meint. Vielmehr geht es um eine gewandelte Form staatlicher Aufgabenwahrnehmung.
III. Vor- und Nachteile der Regelungsformen Die Beschäftigung mit einer möglichen Normsetzungsstrategie setzt voraus, daß es besonders funktionsadäquate, jedenfalls funktionsspezifische Normsetzungsmodelle gibt. Zu diesem Zwecke werden nachfolgend im Rahmen einer knappen Zusammenfassung die aus den Beispielen des zweiten Kapitels ersichtlichen Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Regelungsmodelle benannt. Auf die allgemeinen Vorzüge gegenüber staatlich-hoheitlicher Regulierung wird an dieser Stelle nicht noch einmal eingegangen. Ebenso bleiben die gemeinwohlsichernden Maßnahmen zunächst außen vor. Gezeigt werden sollen statt dessen mechanismusimmanente oder doch -typische Eigenheiten, die sich auf die künftige Verwendung auswirken. Dabei handelt es sich nur um allgemeine Kennzeichen, denen unter Umständen durch eine besondere Ausgestaltung im Einzelfall entgegengewirkt werden kann. Auch die Notwendigkeit derartiger Kompensationsmaßnahmen ergibt sich aber erst aus dem Vergleich mit anderen Normsetzungsmechanismen5. Außer acht bleiben ferner die Mechanismen, die aufgrund ihrer verfassungsrechtlich begründeten Unzulässigkeit von vornherein nicht in Betracht kommen (sollten), also vor allem die dynamische, normergänzende Verweisung und Versuche, privaten Gremien echte Rechtserzeugungsbefugnisse zuzuschreiben. 4 Die von der OECD erarbeitete Reference Checklist for Regulatory Decision-Making, OCDE/GD (95) 95, stellt hingegen zentral auf Effektivität und Kosten der Regulierung ab. 5 Eine prinzipiell wünschenswerte empirische Untersuchung, die weitere Aufklärung über den Erfolg selbstregulativer Mechanismen brächte, fehlt bislang. Eine zukünftige Untersuchung dieser Art müßte darauf achten, nicht nur die Begünstigten einzubeziehen (so verwundert es wenig, daß die Unternehmen, die sich durch § 292 a HGB vom Erfordernis doppelter oder paralleler Bilanzierung befreit sehen, dessen unbeschränkte Weitergeltung befürworten, vgl. KrawitzlAlbrecht/Büttgen, WPg 2000, 541 ff. m. w. N. in Fn. 6), sondern möglichst umfassend alle von der Regelung Betroffenen und dabei insbesondere auch die tatsächliche Entlastung des staatlichen Regelgebers prüfen.
A. Normsetzungsmechanismen und Normsetzungsstrategie
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1. Öffentlich-rechtliche Satzungen Die öffentlich-rechtliche Satzung ist aufgrund ihrer Stellung im System des Verwaltungsrechts geeignet, einen hohen Grad an rechtlicher Verbindlichkeit mit einem hohen Maß an Betroffenenbeteiligung zu kombinieren. Sie wird durch weitgehende gesetzliche Grundlagen vorgeformt und ist zusätzlich der (Rechts-)Aufsicht unterworfen. Die sie erlassenden Gremien sind unmittelbar grundrechtsgebunden und müssen die an die Verwaltung gestellten Rationalitätserwartungen erfüllen. Die Satzungen unterliegen gemäß Art. 19IV GG der Gerichtskontrolle. Dennoch ist von einer gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebung größeren Flexibilität auszugehen, die als weiterer Vorteil zur durch die Betroffenenpartizipation erreichten Sachnähe und Akzeptanz hinzutritt. Die Einbindung in eine geschlossene Organisation erleichtert zudem die Ausrichtung an internationalen Standards und die Mitwirkung an deren Erstellung. Diesen Vorteilen des Normsetzungsverfahrens steht die Starrheit der Organisation gegenüber. Eine gewisse Statik ist den Körperschaften immanent6, und zwar weniger hinsichtlich ihrer Fähigkeit, das eigene Regelwerk zu aktualisieren, als aufgrund des hohen organisatorischen Aufwands sowie der grundrechtlich besonders rechtfertigungsbedürftigen Pflichtmitgliedschaft. Aus diesem Grunde entspricht es einem Gebot funktionsgerechter Organisation im Selbstverwaltungsbereich 7, neue Selbstverwaltungseinrichtungen nur zu etablieren, wenn dies nachweislich gegenüber hoheitlicher Steuerung und gegenüber gesellschaftlicher Selbstregulierung deutliche Vorteile mit sich bringt 8. Körperschaften sind in diesem Sinne abstrakt formuliert dort sinnvoll, wo einer sozialhomogenen Gemeinschaft eine Vielzahl von Reglementierungstätigkeiten anvertraut werden kann, die im wesentlichen ihre eigenen Angelegenheiten betreffen, und gleichzeitig die Normierung von solcher Bedeutung für die Allgemeinheit ist, daß auf die Rechtsverbindlichkeit nicht verzichtet werden kann. Die personelle Anknüpfung, die Körperschaften eignet und sich in der Regel zur Pflichtmitgliedschaft verdichtet, verbietet es hingegen, körperschaftliche Strukturen zur Normierung nur einzelner für regelungsbedürftig erachteter Handlungsmodalitäten einzusetzen. Anstaltliche Satzungen erscheinen hingegen zu bewußter Verhaltens Steuerung von vornherein kaum geeignet, denn ihre schwache Legitimation erlaubt nur leichte Eingriffe zur Regelung eines konkreten Benutzungsverhältnisses. Die Neuerrichtung einer Anstalt des öffentlichen Rechts wäre außerdem gegenläufig zum allgemeinen Trend zur Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in Privatrechtsform. 6 Anders Tettinger, Kammerrecht, 240. Vgl. auch Trute, DVB1 1996,955; ders., Funktionen der Organisation, 290. 7 Schmidt-Aßmann, GS Martens, 264. 8 Vgl. ähnlich Maurer, Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 42 bezüglich der AufgabenzuWeisung an Körperschaften des öffentlichen Rechts. Kritisch zur Verbindung von öffentlich-rechtlicher Organisationsform und privater Interessenvertretung Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 858 ff.
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
2. Verweisungen Die Verweisung ermöglicht die Einbindung ausformulierter privater Regelwerke durch eine einfache gesetzliche Klausel und entlastet damit das Gesetz und den Gesetzgeber. Im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen Satzungen ist auch keine personalisierte Bezugnahme oder ein besonderes Benutzungsverhältnis erforderlich. Allerdings ist in Bezug auf die statische Verweisung fraglich, ob sie den Erwartungen an Flexibilität genügen kann. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der außerrechtlichen Standards kann zu divergierenden parallelen Anforderungen und damit zu Rechtsunsicherheiten führen. Weiterhin ist anzumerken, daß die pauschale Annahme der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit im Einzelfall erläuterungsbedürftig erscheint. Insbesondere dort, wo das Verweisungsobjekt komplexe und inhaltlich schwer verständliche Regelungen enthält, muß nach der Verantwortung des staatlichen Rechtsetzers gefragt werden. Soweit hier Zweifel an dessen Beherrschung des Regelungsinhalts bestehen, sind als Kompensationsmaßnahme strengere Organisadons- und Verfahrensvorgaben hinsichtlich des privaten Normsetzungsmechanismus aufzustellen und einzufordern. Unter strikter Beachtung dieser Bedingung kann im übrigen ausnahmsweise auch eine normkonkretisierende dynamische Verweisung zulässig sein. Erforderlich ist hierzu eine gesetzliche Verweisungsnorm, die den wesentlichen Inhalt der Verhaltenspflicht postuliert und zudem schon Grundanforderungen an den Konkretisierungsmechanismus stellt. Die Nachteile einer solchen Konzeption liegen in der teilweise noch bestehenden Unsicherheit hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und der daraus resultierenden unzureichenden praktischen Erfahrung. Die Vorteile liegen in der gegenüber der alternativ möglichen Generalklauselmethode erhöhten Rechtsklarheit und Einheitlichkeit. Gleichzeitig geht man auf diese Weise jedoch auch des anderweitig erreichbaren Pluralismus und Wettbewerbs der Normsetzer verlustig.
3. Privatautonome Regelungen Regelungen in Vereinssatzungen bzw. -Ordnungen besitzen aus staatlicher Sicht den Vorteil, weitgehend ohne staatliche Aktivität erlassen werden zu können und dennoch unter Inanspruchnahme staatlicher Zwangsmittel durchsetzbar zu sein. Dem korrespondiert, auch wenn man Vereinssatzungen für gerichtlicher Kontrolle vollumfänglich zugänglich erachtet, eine relativ geringe Einflußmöglichkeit. Außerdem bleiben privatautonome Regelungsmodelle auf die freiwillige Mitwirkung der Normadressaten angewiesen; im Vereinsrecht erfordert dies die implizite Anerkennung der Vereinsregeln durch den Beitritt. Änderungen des Regelwerks sind allerdings meist durch Mitgliedermehrheitsentscheid möglich. Damit liegt eine stark personalisierte Regelung vor, deren Einsatz sich vor allem dort empfiehlt, wo unter weitgehendem Ausschluß staatlicher Kontrolle ein überschaubarer Personenkreis reglementiert werden soll und die dazu erforderlichen Einschränkungen der Hand-
A. Normsetzungsmechanismen und Normsetzungsstrategie
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lungsfreiheit von den Normadressaten aufgrund einer besonderen Interessensituation hingenommen werden. Ähnliches wie für das private Vereins- gilt für das private Vertragsrecht. Die hier erforderliche individuelle Anerkennung durch den Vertragspartner (also den Normadressaten) macht in der Regel eine Austauschbeziehung erforderlich, in der die Befolgung der Verhaltensregeln einem bestimmten, meist profitorientierten Streben entspringt. Die Steuerungsqualität vertraglicher Bestimmungen schränkt außerdem ein, daß zu ihrer Änderung grundsätzlich der Abschluß eines neuen Vertrages erforderlich ist, was ihre Flexibilität begrenzt. Einseitige Änderungsbefugnisse lassen sich jedoch wie gesehen individualvertraglich über § 315 BGB begründen und sind unter bestimmten Voraussetzungen sogar in AGB möglich. Sie stehen unter dem Vorbehalt gerichtlicher Billigkeitskontrolle. Darüber hinaus bedürfen privatvertragliche Festsetzungen prinzipiell einer einheitlichen Gegenpartei. Diese muß die wirtschaftliche Stärke besitzen, auch rigide Verhaltensanforderungen durchzusetzen, und sie soll zugleich im allgemeinen Interesse handeln, soweit von den vertraglichen Regelungen Dritte betroffen sind. Für das Kapitalmarktrecht bieten sich insoweit die Börsen bzw. deren Trägergesellschaften an. Die Pluralität der regionalen Börsen, die theoretisch zu Uneinheitlichkeit führt, hat hier bisher keine Schwierigkeiten bereitet. 4. (Unverbindliche) Kodizes Die Regelung durch freiwillige Kodizes, die sich keiner (rechtlichen) Sanktionsmaßnahmen bedienen, ist vorteilhaft, als die Unverbindlichkeit die Grundrechtsrelevanz minimiert. Außerdem ermöglicht sie Anpassungen an den Einzelfall und flexible Änderungen des gesamten Regelwerks; aufgrund der Freiwilligkeit ist es dabei grundsätzlich auch nicht erforderlich, an Verfahren und Organisation der Normsetzung besondere Anforderungen zu stellen. Auf der anderen Seite ist die fehlende Justitiabilität zu bemängeln. Vornehmlich vom anglo-amerikanischen Anlegerpublikum wird die Regelung mittels Kodizes als angemessenes Regulierungsmittel angesehen und auch im Ausland erwartet. Die entsprechende Regulierungswirkung leidet in Deutschland aber darunter, daß die traditionelle Konzentration auf hoheitlich-imperative Maßnahmen freiwillige Selbstverpflichtungen erschwert und ein Bewußtsein für deren Bedeutung sich noch nicht entwickelt hat9. Erschwerend kommt die free rider-Problematik hinzu, gegen die bislang noch keine überzeugenden Konzepte entwickelt werden konnten. Daher sind freiwillige Kodizes vor allem dort erfolgreich einsetzbar, wo entweder eine weitgehende Konvergenz der betroffenen Interessen besteht oder die Normadressaten befürchten müssen, im Falle der Nichtbefolgung empfindliche faktische Nachteile zu erleiden. Staatliche Regelungen können zusätzliche Implementationshilfe leisten; sie dürfen aber den Kodizes 9
Kritisch Havermann, ZGR 2000,695: „Konsensbildung [...] in Deutschland absolut unterentwickelt". 21 Augsberg
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
nicht den prinzipiellen Charakter der Freiwilligkeit nehmen und begründen eine stärkere staatliche Verantwortung für ein gemeinwohlkompatibles Normsetzungsergebnis.
IV. Fazit Die Regelungsvarianten unterscheiden sich durch den Grad an Rechtsverbindlichkeit und die damit verbundene Sanktionsandrohung. Entsprechend ist davon auszugehen, daß eine auf Freiwilligkeit basierende Regelung nur in Betracht kommt, wenn der Gesetzgeber es für unschädlich erachtet, daß möglicherweise in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Fällen vom intendierten Regelungsniveau abgewichen wird. Eventuell können vertragliche und verbandliche Modelle hier rechtliche Strukturen zur Verfügung stellen. Verweisungen gewährleisten Flexibilisierung und die Einbeziehung von Sachverstand, allerdings ist insbesondere hinsichtlich der Zulässigkeit der normkonkretisierenden dynamischen Verweisung noch weiter herauszuarbeiten, welche Voraussetzungen in materieller wie formeller Hinsicht hier gesetzlich festgeschrieben werden müssen und welche auch auf untergesetzlicher Ebene eingefordert werden können. Öffentlich-rechtliche Satzungen verlangen eine feststehende Organisation, für deren Errichtung hohe Hürden bestehen. Eine Neuerrichtung von (Personal-)Körperschaften als Regulierungsinstrument ist daher gegenwärtig unwahrscheinlich.
B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen I. Staatliche Auswahlsituation Die Möglichkeiten kooperativer und selbstregulativer Normsetzung sind nicht auf die beschriebenen Varianten begrenzt, sondern im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben erweiterbar. Ansätze dazu existieren sowohl auf EU- wie auch auf nationaler Ebene10. Schon die kurze Übersicht verdeutlicht allerdings, warum 10 Vgl. insbesondere zur Möglichkeit der Aushandlung von Regelungszielen Kopp, Normvermeidende Absprachen; Sachs, VerwArch 74 (1983), 25 ff.; zur Nutzung von Generalklauseln („Königsweg" der Normkonkretisierung im Rahmen gesteuerter Selbstregulierung) Schmidt-Preuß, Regelwerke, 95; zu privater „Modellgesetzgebung" und standardisierten Rahmenverträgen bspw. der International Swaps and Derivatives Association (ISDA) Benzler, Nettingvereinbarungen. Dabei ist davon auszugehen, daß die Fülle der verschiedenen zur Verfügung stehenden Mechanismen nicht nur über die binäre Darstellung hoheitlich/gesellschaftlich hinausgeht, sondern auch die für den sog. Dritten Sektor vorgenommene Qualifizierung in hoheitliche Regulierung unter Einbau selbstregulativer Elemente und hoheitlich regulierte (oder gelenkte) Selbstregulierung (vgl. Hoffmann-Riem, Auffangordnungen, 261 ff., 300) noch zu eng ist. Es gilt, einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel vorzunehmen von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die staatliche Rechtsetzung zu den verfassungsrechtlichen An-
B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen
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eine Analyse des Regelungsbedarfs und eine Koordination mit den möglichen Steuerungsinstrumenten (und zwar sowohl auf der Normsetzungs- als auch auf der Überwachungsebene) sinnvoll ist. Die staatliche Auswahlsituation, die damit beschrieben wird, läßt sich vereinfacht in die Frage nach der Erforderlichkeit einer neuen - wie auch immer gearteten - Regelung, also nach dem „ O b " der Regulierung, und die Frage nach der bestmöglichen Regelungsebene bzw. der funktionsadäquaten Regelungsform, also nach dem „ W i e " der Regulierung, kleiden 1 1 . Diese i m Grundsatz zweigeteilte Entscheidungsphase bedarf allerdings der Präzisierung i m Detail 1 2 .
II. Regelungsbedürfnis („Ob") I m Regelfall dürfte es gleichbedeutend mit ihrer Bejahung sein, wenn die Frage nach der Regelungsnotwendigkeit überhaupt gestellt wird. Denn soweit eine Regelung aufgrund besonderer Marktkonstellationen entbehrlich ist, wird sie in den seltensten Fällen virulent werden und in das Aufmerksamkeitsfeld des staatlichen Rechtsetzers rücken. Deshalb ist die an dieser Stelle vorzunehmende Prüfung hauptsächlich darauf beschränkt festzustellen, inwieweit bestehende, auf privater Eigeninitiative fundierte Selbstregulierungsmaßnahmen hinreichende Sicherheit bieten forderungen an die Sicherstellung der Gemeinwohlkompatibilität nichtstaatlicher Normsetzung. 11 Entsprechend hat die OECD 1995 eine Empfehlung zur Verbesserung der Regulierungsqualität ausgesprochen, der ein Katalog mit 10 normsetzungsbezogenen Fragen beigelegt wurde, die als Leitlinie künftiger Regulierung in den Mitgliedsländern dienen sollten, OCDE/GD (95) 95, v. a. 14 ff. Die Fragen lauten: (1) Is the problem correctly defined? (2) Is government action justified? (3) Is regulation the best form of government action? (4) Is there a legal basis for regulation? (5) What is the appropriate level (or levels) of government to take action? (6) Do the benefits of regulation justify the costs? (7) Is the distribution of effects across society transparent? (8) Is the regulation clear, consistent, comprehensible, and accessible to users? (9) Have all interested parties had the opportunity to present their views? (10) How will compliance be achieved? Vgl. auch den OECD Report, 5 ff. 12 Vgl. die abweichende Konzeption von SchuppertlBumke, Standardsetzung, 124. Diesen zufolge ist eine dreifache Unterteilung vorzunehmen: Die Wahl der Regelungsebene soll entscheiden, ob das Problem einer dauerhaften Grundsatzregelung in einem ranghohen Normtyp bedarf oder eine Form vereinfachter Rechtsetzung ausreicht. Die Wahl des Regelungstyps betrifft die Frage, ob der Gesetzgeber selbst das Regulierungsproblem im Detail entscheiden soll oder ob Formen exekutivischer Rechtsetzung oder Verweisungen auf Normierungsbeiträge nicht-staatlicher oder halb-staatlicher Instanzen zweckmäßiger sind. Die Wahl des Regelungssektors klärt, ob das zu regelnde Problem staatlicher Regulierung bedarf oder ob versucht werden soll, es primär privater Selbstregulierung zu überlassen bzw. einen „dritten Weg" einzuschlagen und innerhalb der staatlichen Legitimationsverantwortung Rechtsetzungsbeiträge Privater zuzulassen, an sie anzuknüpfen und sie mit rechtlicher Verbindlichkeit auszustatten. „Während die ersten beiden Auswahlentscheidungen die Regelungstechnik des Gesetzgebers bzw. die Rollenverteilung innerhalb des staatlichen Rechtsetzungssystems betreffen und daher überwiegend mit den Grundsätzen vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie gelöst werden können, geht es in der dritten Auswahlentscheidung um die Grundsatzfrage der Zulässigkeit einer Teilprivatisierung von Rechtsetzung". 21*
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
oder diese von ihnen in Zukunft zu erwarten ist 13 . Die selbstregulativen Maßnahmen in diesem Sinne kommen ohne eine bewußte staatliche Steuerungsmaßnahme aus. Sie beschränken sich entweder auf den Bereich des Außerrechtlichen oder sie nutzen allgemeine Mechanismen des Privatrechts, was nur im Falle der gesellschaftlichen Schlechterfüllung, also schwerwiegender Disparitäten im Vertrags Verhältnis, zu einer Beteiligung des Staates (der Gerichte) führt. Umgekehrt ist zu überlegen, ob von einer Regulierungsmaßnahme neben der erwünschten Steuerung unwillkommene Nebeneffekte ausgehen bzw. ob sie als Überregulierung empfunden werden und negative Auswirkungen auf die Markfunktionalität haben könnte. Die Entscheidung über die Regelungsbedürftigkeit steht den verantwortlichen staatlichen Stellen, das heißt vor allem dem Gesetzgeber, zu; diese haben dabei einen weiten Entscheidungsspielraum14. Von privater Seite sind die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Eine Verpflichtung auf Kostenneutralität besteht nicht. Geplante Regulierungsmaßnahmen brauchen nicht nachzuweisen, daß der durch sie zu erzielende Nutzen nicht geringer ist als die durch sie verursachten - öffentlichen und privaten - (Vollzugs-)Kosten15. Allerdings wird dieser Aspekt eine gewichtige Rolle im Entscheidungsprozeß spielen.
III. Erforderliche Intensität der Regelung („Wie") Wird die Regelungsbedürftigkeit bejaht, muß auf einer zweiten Stufe nach der erforderlichen Intensität der Regelung gefragt werden. In ihrer Bedeutung steht diese Frage keinesfalls hinter der nach der Notwendigkeit einer Regulierungsmaßnahme zurück: „Die Entscheidung darüber, wie eingegriffen wird, kann ebenso wichtig sein wie die Entscheidung darüber, ob eingegriffen wird" 16 . Hierbei handelt es sich um eine echte Wahl der Regelungsebene, Auswahlobjekt sind die verschiedenen Normsetzungsmechanismen17. Auf dieser Stufe ist daher nicht nur eine grundlegende Entscheidung erforderlich, ob sich der Staat selbst und eigenhändig der Regelungsaufgabe annehmen muß und welche Mittel er hierfür einsetzt, sondern es sind die ver13 Vgl. G. Müller, Rechtssetzungslehre, Rn. 19: „Es gehört m.E. zu den wichtigsten, aber auch anspruchsvollsten Aufgaben einer Rechtssetzungslehre, den Organen der Rechtssetzung aufzuzeigen, daß sie gesellschaftliche Entwicklungen nur unter bestimmten Voraussetzungen und in begrenztem Rahmen lenken - vor allem verstärken, abschwächen oder korrigieren, kaum aber in Gang setzten, stoppen oder umkehren - können". 14 Der Einfachheit halber wird die kompetenzrechtliche Frage nach der Zuständigkeit von (EU sowie) Bund, Ländern oder Gemeinden hier nicht miterörtert. Vgl. aber z.B. Riebel, ZRP 2002, 63 ff. 15 So aber der Vorschlag zur Gesetzgebung von Lücke, ZG 16 (2001), 6; vgl. Schwintowski, StWStP 6 (1995), 32. Vgl. auch Frage (6) der OECD Checklist for Regulatory Decision Making, OCDE/GD (95) 95, 10, 16 (Fn. 11). 16 OECD Checklist, OCDE/GD (95) 95, 15. 17 Ebenso OECD Checklist, OCDE/GD (95) 95, 15: „Governments can choose from a variety of regulatory and non-regulatory policy instruments with very different implications of results, costs, distribution of benefits and costs, and administrative requirements".
B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen
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schiedenen Möglichkeiten der Selbstregulierung, kooperativer Rechtsetzung bzw. Rechtskonkretisierung zu durchdenken und situationsgerecht einzusetzen. Die erforderliche „Regulatory Choice" bezieht sich demnach nicht bloß auf eine Pluralität der Normsetzer 18; es geht statt dessen um die diversifizierten Möglichkeiten des Zusammenspiels von staatlichen Instanzen und privaten Stellen. Dabei kommt dem Staat auch die Aufgabe zu, die Vielzahl von gemeinwohlrelevanten Akteuren und ihre jeweiligen Beiträge im Prozeß der kooperativen Gemeinwohlkonkretisierung darzustellen, einander zuzuordnen und in Verhaltenspflichten umzusetzen. Hinsichtlich der hoheitlichen Eigenerfüllung (1) ist die Entscheidung weitgehend verfassungsrechtlich determiniert. Die hier eigentlich interessierende Analyse der Steuerungsfähigkeit kooperativer Aufgabenwahrnehmung (2) ist hingegen unter den allgemeineren Gesichtspunkten der Steuerungsdiskussion zu betrachten und muß sich insbesondere der Einhaltung der verfassungsrechtlich abgeleiteten Vorgaben an die Gemeinwohlkompatibilität der privaten Handlungsbeiträge vergewissern. Diese beiden nachfolgend dargestellten Entscheidungsebenen sind nicht als temporal aufeinander folgend zu verstehen, sondern sollten in einem einheitlichen Entscheidungsprozeß simultan und aufeinander bezogen geklärt werden. 1. Hoheitliche Eigenerfüllung Wann eine Regelung nur durch staatliche Rechtsetzung erfolgen darf, wird durch weitreichende Vorgaben der Verfassung, vorrangig durch den allgemeinen und die speziellen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, die Wesentlichkeitslehre und die rechtsstaatlichen Gebote der Bestimmtheit und der Normklarheit, festgelegt. Teilweise ist eine gesetzliche oder doch staatliche Regelung auch zur Umsetzung europäischer Vorgaben zwingend erforderlich. Der Gesetzgeber ist insoweit nicht frei in seiner Entscheidung darüber, welche Normen er selbst erläßt und welche er den Marktkräften überläßt. In gewissem Umfang besteht dennoch Handlungsspielraum des Staates. Entscheidet er sich dafür, einen Bereich allein und eigenhändig zu regulieren, impliziert dies noch nicht unbedingt die konkrete Regelungsform. Die ordnungsrechtliche „Command-and-contror-Vörgehensweise, also die Statuierung sanktionsbewehrter Ge- oder Verbote, mag als das traditionell bevorzugte Regelungsmodell angesehen werden 19. Sie stellt hingegen keinesfalls die einzige Einwirkungsmöglichkeit dar. Dem Staat ist es unbenommen, auf andere lenkende oder leitende, mit positiven An18
Insoweit mißverständlich SchuppertlBumke, Standardsetzung, 89, 113, 124f.: „Pluralität von Autoren rechtlicher Regelungsformen" bzw. „Pluralität potentieller und aktueller Normproduzenten" bzw. „Auswahl unter verschiedenen in Betracht kommenden Normproduzenten". Die von SchuppertlBumke, dort, 113 angekündigte, letztlich aber nicht unternommene Verabschiedung der Vorstellung eines „die Produktion von Rechtsnormsetzung monopolisierenden Staates" geht indes nach hier vertretener Auffassung einen entscheidenden Schritt zu weit und läßt insbesondere die Frage nach der Rezeption unbeantwortet. 19 OCDE/GD (95) 95, 15.
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
reizen arbeitende Steuerungstechniken zu setzen. Selbst wenn die Entscheidung für (imperative) Konditionalprogramme gefallen ist, muß weiterhin geklärt werden, auf welcher normhierarchischen Ebene die Regelung erfolgen soll. Hier besteht ein weitreichendes Spektrum an möglichen Handlungsformen (Gesetze unterschiedlicher Intensität, Rechtsverordnungen, administrative Rechtsetzung durch Verwaltungsvorschriften, informelles Verwaltungshandeln durch Verlautbarungen) 20. Auch insoweit bilden die verfassungsrechtlichen Vorgaben die primäre Entscheidungsgrundlage. Dabei kann auf die Erkenntnisse der allgemeinen Rechtsetzungslehre zurückgegriffen werden, die sich mit Auswahlsituationen innerhalb des Systems der staatlichen Rechtsetzung beschäftigt 21. Zu erwägen ist insbesondere eine Pflicht zur Prüfung der Gesetzesnotwendigkeit22 und zur Gesetzesfolgenabschätzung23. Außerdem widerstreitet die gebotene Normenbeständigkeit der experimentellen Normsetzung jedenfalls mit den Mitteln des Gesetzes24. Aus Gründen der Dynamik des Regelungsumfeldes und der dadurch bedingten Flexibilitätserfordernisse kann es zweckmäßiger, unter Umständen unter dem Aspekt des dynamischen Grundrechtsschutzes sogar erforderlich sein, anstelle einer gesetzlichen Regelung Formen exekutivischer Rechtsetzung zu wählen.
2. Kooperative Aufgabenwahrnehmung Zu den vordringlichsten Aufgaben einer Normsetzungsstrategie gehört die Vermittlung der Einsicht, daß einseitige hoheitliche Regulierung nicht in allen Fällen einen optimalen Steuerungseffekt garantiert oder doch zumindest hinsichtlich der Relation Steuerungseffektivität/Eingriffsintensität möglicherweise besser geeignete kooperative Normsetzungsmechanismen existieren. Die gängige gesetzgeberische Praxis, dem jeweiligen eigenen Vorhaben zu bescheinigen, ihm gegenüber bestünden „keine Alternativen" ist in ihrer Rigidität häufig unzutreffend. Wo die Verfassung keine staatliche Aufgabenwahrnehmung fordert, ist Raum für kooperatives 20 Vgl. allgemein Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 968ff.; dens., DV Beiheft 4 (2001), 234ff.; zur vereinfachten Rechtsetzung Ossenbühl, DVB1 1999, 1 ff.; speziell zu normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften Ladeur, DÖV 2000, 217 ff. 21 Instruktiv Lücke, ZG 16 (2001), 1 ff.; G. Müller, Rechtssetzungslehre, v. a. Rn. 62ff.; vgl. auch die vom Bundesjustizministerium erarbeiteten „Prüffragen zur Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit von Rechtsetzungsvorhaben des Bundes"; dazu Köck, VerwArch 93 (2002), 11 ff.; Kopp, Normvermeidende Absprachen, 113 ff. Zur Formenwahl(freiheit) der Verwaltung nur Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 253. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive Wegner, Wirtschaftspolitik, 171 ff.; 214ff. 22 Hierzu Kloepfer, VVDStRL 40 (1982), 63ff.; Köck, VerwArch 93 (2002), 11 ff.; Lücke, ZG 16 (2001), 5 m. w. N. v. a. auch zu entsprechenden Regelungen der GGO der Bundesregierung; G. Müller, Rechtssetzungslehre, Rn. 149 ff. 23 Vgl. nur Köck, VerwArch 93 (2002), 1 ff. m.w.N.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 959. 24 Lücke, ZG 16 (2001), 6; vgl. G. Müller, Rechtssetzungslehre, Rn. 16. Vgl. ausführlich Horn, Experimentelle Gesetzgebung.
B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen
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Vorgehen und die damit verbundenen zusätzlichen Handlungsoptionen. Gerade angesichts der häufig konstatierten regulatorischen Überforderung des Staates ist die gezielte Inanspruchnahme privater Selbstregulierungsmechanismen angezeigt, denen gegebenenfalls mittels verschiedener Rezeptions- und Kooperationsvorgänge Rechtswirkung vermittelt werden kann. Ist das Regelungsproblem statt durch eine eigenhändige staatliche Regelung auch oder sogar besser in Zusammenarbeit mit - privatinitiativ oder aufgrund staatlicher Induzierung gegründeten - gesellschaftlichen Gremien, vor allem durch Stärkung bestehender gesellschaftlicher Regelungsanstrengungen, lösbar? Lassen sich bisherige oder künftige hierarchischimperative Steuerungsmaßnahmen (zumindest partiell) durch kooperative Steuerungstechniken substituieren? Die Beantwortung dieser Fragen hängt von verschiedenen Faktoren ab: So ist zunächst bereichsspezifisch festzustellen, ob sich ein Rechtsprinzip des Inhalts herleiten läßt, daß kooperative Regulierung der unilateralen Wahrnehmung durch den Staat grundsätzlich vorzuziehen ist (a). Weiterhin muß geklärt werden, ob und wenn ja welche Kooperationsmechanismen in der jeweiligen Regelungssituation besonders aussichtsreich sind (b). Gleichzeitig darf die Funktionsadäquanz nicht von der Transmission verfassungsrechtlicher Vorgaben befreien (c). Im Regelfall setzt dies eine gesetzliche Grundlage voraus; eines allgemeinen Privatverfahrensrechts bedarf es allerdings nicht (d). a) (Kapitalmarktrechtliches)
Kooperationsprinzip?
Rechtsprinzipien werden als allgemeine Wertungsmaßstäbe verstanden, die noch nicht zu einer direkt anwendbaren Rechtsregel im konditionalen Sinne verdichtet sind, aber dennoch bereits Handlungsanleitungen bieten25. Das Bestehen eines auf die Verwirklichung umfassender staatlich-privater Kooperation ausgerichteten Rechtsprinzips entspricht vor allem im Umweltrecht herrschender Auffassung 26. Das umweltrechtliche Kooperationsprinzip wird zum einen aus den gesetzlich vorgeschriebenen Kooperationspflichten und in der Praxis vorfindlichen Kooperationsmechanismen abgeleitet: Diese werden als Manifestation eines sich im Umweltrecht vollziehenden Wertewandels verstanden, nach dem wirkungsvoller Umweltschutz im gemeinsamen Interesse Aller liegt und Kooperation mithin die natürliche Regelungsform darstellt. Zum anderen folgt das Prinzip letztlich aus dem Druck des Faktischen: Vollzugsdefizite lassen auf Kooperationsbedürfnisse schließen. Das Kooperationsprinzip ist selbstreferentiell: Es leitet sich ab aus einzelnen einfachgesetzlichen Bestimmungen; zugleich soll es aber als normative Grundsatzentscheidung 25
Zum folgenden Di Fabio, NVwZ 1999, 1154f.; Westphal, DÖV 2000, 996ff. m. w. N. Vgl. hierzu z.B. BVerfGE 98, 83ff.; 98, 106ff.; Di Fabio, NVwZ 1999, 1153ff.; Gusy, ZUR 2001, 1 ff.; Lamb, Gesetzeskonkretisierung, 175 ff.; Voßkuhle, ZUR 2001, 23ff.; Westphal, DÖV 2000, 996ff. jeweils m. w.N. Kritisch H.-J. Koch, NuR 2001, 541 ff.; Murswiek, ZUR 2001, 7 ff. Zum Kooperationsprinzip im Sozial- und Wissenschaftsrecht Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 119f., 127 f.; zum Lebensmittelrecht Knipschild, Lebensmittelsicherheit, Manuskript S. 89ff., v. a. 92ff. 26
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3. Kap.: Normsetzungsstrategie
auf die Auslegung und Anwendung derartiger Bestimmungen einwirken. Argumentationen mit dem Kooperationsprinzip setzen einerseits dessen Geltung voraus, andererseits erhält es erst durch detaillierte Regeln oder Fallentscheidungen seine nähere Konkretisierung 27. Das erschwert den erstmaligen Zugang. Für das Kapitalmarktrecht fehlen zudem entsprechende Untersuchungen. Mit Hilfe der dem Umweltrecht entnommenen Kriterien ist zu überlegen, ob sich für die Kapitalmarktsteuerung ebenfalls ein Rechtsprinzip des Inhalts nachweisen läßt, daß der Staat nach Möglichkeit kooperative Handlungsinstrumente bevorzugen soll. Die punktuelle Normierung bestimmter Kooperationsverfahren genügt für die Annahme eines allgemeinen kapitalmarktrechtlichen Kooperationsprinzips noch nicht. Eine Pflicht zu arbeitsteiligem Handeln läßt sich nicht durchgehend nachweisen28. Zu fragen ist deshalb danach, ob Parallelen zum Umweltrecht in Hinblick auf gemeinsame Regelungsziele und Kooperationsbedürftigkeit bestehen. Letzteres ist zu bejahen, da der spezialisierte, vor allem (praxisbezogene) betriebswirtschaftliche Sachverstand, den die meisten kapitalmarktrelevanten Regelungen voraussetzen, vorzugsweise bei den betroffenen Unternehmen und Berufsangehörigen gebündelt ist 29 . Sachangemessene und in ihren Auswirkungen auf das Gesamtgefüge Kapitalmarkt ausgewogene Regelungen setzen daher regelmäßig die Beteiligung der Betroffenen voraus. Vollzugsdefizite drohen hier weniger aufgrund der Verursacherverantwortung als aufgrund der Komplexität und latenten Dynamik des Regelungsgegenstands sowie der Gefahr möglicher Abwanderung der Unternehmen, deren Akzeptanz zu gewinnen daher von besonderer Wichtigkeit ist. Die Situation ist auch insofern dem Umweltrecht vergleichbar, als die Regelungsziele des Kapitalmarktrechts, also vor allem der individuelle Anleger- und der überindividuelle allgemeine Marktschutz, grundsätzlich allen Marktteilnehmern zugute kommen. An einem funktionierenden, transparenten und liquiden Markt sind selbstverständlich alle dort agierenden Parteien interessiert. Aber auch von einem optimierten Anlegerschutz sollten die redlichen Marktteilnehmer profitieren. Gleichzeitig bestehen verständliche Bestrebungen, einer überschießenden Regelungsintensität entgegenzuwirken. Gerade in einer durch Medienberichte aufgeheizten Atmosphäre kann es erforderlich sein, Bedenken zu formulieren und hierfür Kommunikations- und Kooperationsprozesse zu installieren. Deshalb dient die Kooperation nicht nur der Intensivierung, sondern auch dem Abbau von Regulierung bzw. beugt zukünftigen hoheitlichen Regulierungsmaßnahmen vor. Die Gemeinsamkeit der Interessen folgt nicht 27
Westphal, DÖV 2000, 1000. Anderes folgt auch nicht aus den im zweiten Kapitel aufgeführten Beispielen. Diese können zwar insgesamt als Kooperationsformen bezeichnet werden. Ihre Zusammenstellung wurde indes durch die Themenstellung der Arbeit bedingt. Umgekehrt bestehen teilweise Tendenzen zu stärkerer ordnungsrechtlicher Regulierung. Eine umfassendere Analyse der verwendeten kapitalmarktrelevanten Regulierungsinstrumente offenbarte eine Gemengelage von unterschiedlichsten Steuerungsansätzen, denen sich kaum ein einheitlicher Systemgedanke entnehmen ließe. 29 So auch bezogen auf die Rechnungslegung HommelhofflSchwab, BFuP 1998, 46. 28
B. Normsetzungsstrategie: Mögliches Vorgehen
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zuletzt auch aus der besonderen Internationalität des Regelungsumfeldes: Kapitalmarktrelevante Regelungen stützen sich nicht nur auf interne Schutzgedanken, sondern sind zu weiten Teilen dem Bestehen im internationalen Wettbewerb geschuldet. Gerade hier läßt sich eine Interessenkonvergenz nachweisen, die typisch für kooperative Vorgänge ist 30 . Legt man die benannten umweltrechtlichen Maßstäbe zugrunde, spricht somit im Ergebnis einiges dafür, auch für das Kapitalmarktrecht ein entsprechendes Kooperationsprinzip anzunehmen. Seine Bedeutung sollte gleichwohl nicht überschätzt werden. Das Kooperationsprinzip ist als ein Argument im Rahmen des Auswahlverfahrens heranzuziehen; kooperative Mechanismen sind wohlwollend zu prüfen. Es begründet hingegen keine generelle Pflicht zum Einsatz kooperativer Verfahren 31. Die Entscheidung bestimmt sich nach wie vor zunächst nach verfassungsrechtlichen Kriterien, vor allem dem Übermaßverbot und dem rechtsstaatlichen Effektivitätsgebot. Allerdings fällt unter Umständen eine vergleichende Bewertung schwer. Funktionale Äquivalenz ist kaum nachweisbar, da die Zielsetzungen der Steuerungsansätze variieren. Eine detailliertere Regelung kann zum Beispiel im Interesse, aber außerhalb der Möglichkeiten des Staates liegen. Eine selbstregulative bzw. kooperative Maßnahme hingegen erreicht möglicherweise eine größere Regelungstiefe, besitzt aber nicht den gleichen Verbindlichkeitsgrad. Hier kann das Kooperationsprinzip zugunsten der Zusammenarbeit auf den Entscheidungsprozeß einwirken. b) Funktionsadäquanz der Normsetzungsvarianten Im übrigen präjudiziert das Kooperationsprinzip jedoch den konkreten Normsetzungsmechanismus nicht. Welche kooperative Aufgabenwahrnehmungsform am besten zur Regelung eines bestimmten Sachverhalts geeignet ist, muß vielmehr separat und einzelfallbezogen entschieden werden. Dies verlangt eine situationsspezifische Analyse der Vor- und Nachteile der verschiedenen Regelungsformen 32. Dabei könnte in einem dreistufigen Verfahren vorgegangen werden. Die entsprechenden Prüfungsfragen lauteten33: Welches Verhalten soll geregelt werden? Was wird zu 30
Vgl. zu dieser sog. „win-win-Situation"L