Rechtsethische Auslegung im Schadensrecht: Eine Betrachtung zur Drittschadensliquidation [1 ed.] 9783428581405, 9783428181407

Was als Gesetzesinhalt zu verstehen ist, wird bestimmt durch das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem, was wörtlich i

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Rechtsethische Auslegung im Schadensrecht: Eine Betrachtung zur Drittschadensliquidation [1 ed.]
 9783428581405, 9783428181407

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Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 519

Rechtsethische Auslegung im Schadensrecht Eine Betrachtung zur Drittschadensliquidation

Von

Seongbum Lee

Duncker & Humblot · Berlin

SEONGBUM LEE

Rechtsethische Auslegung im Schadensrecht

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 519

Rechtsethische Auslegung im Schadensrecht Eine Betrachtung zur Drittschadensliquidation

Von

Seongbum Lee

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Bremen hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormArt, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-18140-7 (Print) ISBN 978-3-428-58140-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen als Dissertation angenommen. Das Kolloquium fand am 4.6.2020 statt. Herzlichsten Dank schulde ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Lorenz Kähler. Er hat mir, dem aus Südkorea kommenden Doktoranden, die schöne Gelegenheit gegeben, die Welt der deutschen Rechtswissenschaft unmittelbar zu entdecken, und mich stets dazu angeregt, sowohl über zivilrechtliche als auch über rechtsmethodische und -philosophische Themen nachzudenken. Durch seine für mich äußerst wertvolle, hervorragende Betreuung konnte ich es unternehmen, die rechtsethische Auslegung und den rechtsethischen Minimalismus zu ergründen. Ihm möchte ich deshalb mehr danken, als ich hier auf Deutsch ausdrücken konnte und könnte. Bei Herrn Prof. Dr. Christoph Schmid bedanke ich mich für die Erstattung des Zweitgutachtens. Seine treffenden Bemerkungen waren sehr hilfreich, meine Thesen erneut kritisch zu überdenken. Für die guten Hinweise beim Kolloquium möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Gralf-Peter Calliess und Herrn Prof. Dr. Josef Falke danken. Herr Alexander Schröder, Herr Jörn Linderkamp, Herr Felix von Kentzinsky, Frau Merle Hamm und Herr Dr. Matthias Kopp haben mir in schwierigen Phasen der Promotion beigestanden. Für ihre gründliche Sprachkorrektur und konstruktive Kritik danke ich herzlich und wünsche ihnen gutes Gelingen bei der Realisierung ihrer zukünftigen Vorhaben. Die kostbare Ermutigung und Hilfe meiner netten Nachbarn Familie Blum könnte ich auch keinesfalls vergessen. Für das Abschlussstipendium des DAAD, dank dessen ich mich bis zum Schluss in vollem Umfang auf mein Forschungsprojekt konzentrieren konnte, bin ich sehr dankbar. Mein Dank gilt auch den Finanzierungen von der Stipendienstiftung Seoul und dem südkoreanischen staatlichen Forschungsförderungsprogramm BK 21. Obwohl ich hier nicht alle nennen kann, danke ich all meinen Professoren, Lehrern und Freunden in Südkorea, die mir immer die Daumen gedrückt haben und drücken. Insbesondere für die Unterstützung von Herrn Prof. Dr. Sanghyun Jung, der mich anfänglich in die Welt der Rechtswissenschaft eingeführt und zum Weitermachen ermuntert hat, und Herrn Prof. Dr. Geonmyeon Im, der mich zur Promotion in Deutschland motiviert hat, bin ich innig dankbar. Am meisten jedoch möchte ich meiner ganzen Familie danken. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern, Frau Jaeyoung Kim und Herrn Seonkuk Lee, die mich

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Vorwort

jederzeit und in jeder Hinsicht unterstützt haben. Dass ich ihr Sohn bin, ist für mich ein unbeschreibliches Glück. Bei meinen Schwiegereltern, Frau Giehee Kim und Herrn Gwanbok Lee, bedanke ich mich für ihr unbegrenztes Vertrauen und Verständnis. Der Familie meiner einzigen Schwester und meinem Schwager danke ich auch für ihre liebenswürdige Ermutigung. Liebster Dank gebührt meiner bildschönen Ehefrau Jiyoung Lee und meiner niedlichen kleinen Tochter Yuju Lee. Immer und überall erleuchten sie mein ­Leben und füllen es mit Freude. Mithilfe ihrer Begleitungen, Beistände und Worte konnte ich ausgeglichen meinen Weg fortsetzen. Widmen möchte ich ihnen diese Dissertation in Liebe. Bremen, Juli 2020

Seongbum Lee

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Erster Teil Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 18



A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.

Grundlinien der Gesetzesauslegungslehre Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

II. Savignys Grundidee in der Gesetzesauslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Vergleich der Gesetzesauslegungslehre Savignys mit der heutigen Rechtsmethodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Vergleich mit der objektiv-teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Vergleich mit der folgenorientierten Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I.

Ausgangspunkt: Unterschied zwischen der Auslegungslehre Savignys und der modernen Auslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

II. Kritik an der Methodenunklarheit der objektiv-teleologischen Auslegung . . . . . 36 III. Rechtsmethodische Bedeutung der Kategorisierung der Hilfsmittel Savignys für die Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I.

Grundposition der rechtsethischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

II. Vergleich mit der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Gefahr beim hermeneutischen Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Abstandnahme vom hermeneutischen Zirkel in der rechtsethischen Aus­ legung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Vergleich mit der juristischen Argumentationslehre: Rechtsethischer Minimalismus in der rechtsethischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Prozedurales Konzept der juristischen Argumentationslehre . . . . . . . . . . . . . 57 2. Rechtsethischer Minimalismus für inhaltliche Begründung . . . . . . . . . . . . . 59 3. Rechtsethische Auslegung mit dem rechtsethischen Minimalismus . . . . . . . 62 IV. Vergleich mit der Normkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Verständnisse der Normkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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Inhaltsverzeichnis 2. Kritik an Müllers Vorstellung der Normerzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Verhältnis zwischen der Normkonkretisierung und der rechtsethischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I.

Bedeutung der Lücke im Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Planwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Unvollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

II. Kriterium des möglichen Wortsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 III. Verhältnis zwischen der Lückenfeststellung und der Lückenausfüllung . . . . . . . 77 IV. Verhältnis zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Rechtsfortbildung 79 E. Schlussbemerkung zum ersten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Zweiter Teil Anwendung der rechtsethischen Auslegung am Beispiel der Drittschadensliquidation 87



A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I.

Allgemeine Problematik des Drittschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

II. Begriff der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Fälle der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Obligatorische Gefahrentlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Mittelbare Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 IV. Besonderheit der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Kriterium der zufälligen Schadensverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Zufälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Schadensverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Differenzhypothese als Ausgangspunkt der Schadensermittlung . . . 100 bb) Zusammenhang zwischen der Differenzhypothese und der Schadensverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 cc) Normativer Schadensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 dd) Kritik an der Schadensverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 ee) Möglichkeit der Schadensentstehung bei Dritten . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Verhältnis zum Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I.

Teleologische Reduktion des Dogmas vom Gläubigerinteresse . . . . . . . . . . . . . 116 1. Zweck des Dogmas vom Gläubigerinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Inhaltsverzeichnis

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2. Materielle Abgrenzung zwischen mittelbar und unmittelbar Geschädigten . 118 3. Bedingte Auflockerung des Dogmas vom Gläubigerinteresse bei der Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 II. Rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Identität des Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Symmetrie als Indikator für gerechten Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Vergleich der Auslegungsmöglichkeiten für einen eigenen direkten Schadensersatzanspruch des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Konstruktion der Vertrauensvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Schutzanspruch zugunsten Dritter und § 311 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . 134 c) Konstruktion des wirtschaftlichen Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Möglichkeit des deliktischen Schutzes von Forderungen . . . . . . . . . . . . . 142 e) Vergleich der Auslegungsmöglichkeiten für einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter mit der Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 C. Schlussbemerkung zum zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

„Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

„Das Recht sucht den rechten Ton.“ Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen

Einleitung Das Gesetz ist nicht „mit den gleichen Augen“1 zu lesen. Der Text selbst wird nicht notwendig an seiner Entstehungszeit festgehalten und kann damit auch unabhängig von der eigentlichen Absicht des Gesetzgebers interpretiert werden. Dabei besteht die Schwierigkeit, das Erfassen des Gesetzesinhalts einem bestimmten und einheitlichen Maßstab zu unterwerfen. Da das Verständnis der Gesetzesinhalte allzu häufig mit Zweifeln behaftet ist, kann es nicht ausreichen, nur ihren wortwörtlichen Sinn in den Blick zu nehmen. Das Gesetz weist vielmehr daneben implizite Inhalte auf. Die Schriftlichkeit des Gesetzes führt zu einer „Differenz zwischen Geschriebenem und Gemeintem“2. Diese Differenz zwischen Geschriebenem und Gemeintem verdeutlicht, dass aufgrund des gegebenen Gesetzeswortlauts verschiedene Möglichkeiten der Auslegung gegeben sind.3 Dabei zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und dem denkbar oder potenziell Gemeinten nicht inhaltsgleich und in diesem Sinne symmetrisch sein muss. Mit dieser möglichen Asymmetrie4 von Geschriebenem und Gemeintem im Gesetzestext befasst sich die Gesetzesauslegungslehre. Trotz der Offenheit des Gesetzestexts für verschiedene Interpretationen im asymmetrischen Verhältnis zwischen Geschriebenem und Gemeintem darf das Gesetz dennoch nicht beliebig ausgelegt werden. Angesichts der möglichen Abweichung von Geschriebenem und Gemeintem sind keinesfalls allein implizite Gesetzesinhalte in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr hat sich der Ausleger dieses wechselseitige Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und dem potenziell Gemeinten bewusst zu machen. Ansonsten wären nicht mehr die gegebenen Gesetzesinhalte maßgeblich, sondern sie wären lediglich noch eine wünschenswerte, aber zur Disposition des Interpreten gestellte Möglichkeit, die mit dem irreführenden Etikett „Gesetzesinhalt“ versehen werden könnte. Würde nur diese Möglichkeit bei der Gesetzesauslegung betrachtet, liefe man Gefahr, den Gesetzesinhalt mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsgebot gleichzusetzen. Der „geschriebene“ Gesetzesinhalt ergibt sich indes unter anderem aus dem Wortlaut des Gesetzes und aus dessen Entstehungsgeschichte. Da diese beiden Auslegungsmittel mit dem öffentlich verkündeten Gesetz und den Parlamentsmaterialien eine besondere Form auf 1

Derrida, Die différance, S. 262. Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, S. 66; vgl. auch Legendre, Die Kinder des Textes, S. 72; Barck, De Legum interpretatione, S. 21 f., 118 f. 3 Vgl. auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 111: „Wir gehen […] davon aus, daß in aller Sinnerfahrung zunächst eine Differenz vorliegt, nämlich die Differenz von aktual Gegebenem und auf Grund dieser Gegebenheit Möglichem.“ 4 Bohn, Schriftlichkeit und Gesellschaft, S. 36. 2

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Einleitung

weisen, lassen sie sich als formell geprägte explizite Normgehalte des Gesetzes bezeichnen. Bezüglich dieser Gesetzesinhalte sind aber auch materiell geprägte implizite Normgehalte des Gesetzes denkbar, die sich stärker auf das Gemeinte richten. Hierzu sind sowohl Sinn und Zweck des Gesetzes als auch rechtsethische Prinzipien zu berücksichtigen. Durch letztere findet die Perspektive des richtigen, d. h. gerechtigkeitsangenäherten Rechts5 im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben Verwendung und das zumeist als objektive Rechtszwecke oder spezifisch rechtliche Wertungsmaßstäbe6, die mit den gesetzlichen Grundgedanken verwoben sind. In diesem Zusammenhang geht es nicht zuletzt bei gesetzlichen Prinzipien und bei unbestimmten Begriffen des Gesetzes darum, was das Gesetz potenziell meint, also meinen könnte. Das Verhältnis zwischen dem expliziten und dem potenziell gemeinten Gesetzesinhalt ist durch zwei Situationen beschrieben: Entweder sie stimmen überein oder sie stehen in Konflikt. Mit der für jede Gesetzesauslegung grundlegenden Prüfung, ob der explizite Gesetzesinhalt mit dem potenziell gemeinten Gesetzesinhalt übereinstimmt, lässt sich feststellen, ob und inwieweit explizite Gesetzesinhalte aufrechtzuerhalten sind. Daneben stellt sich die Frage, inwieweit die für die konkrete Interessenlage relevanten, impliziten Normgehalte des Gesetzes Geltung beanspruchen können, auch wenn sie den expliziten Gesetzesinhalten widersprechen. In diesem spannungsreichen Verhältnis zwischen den möglichen Interpretationen des dem Gesetz innewohnenden Normgehalts stellt sich letztlich heraus, was als Gesetzesinhalt zu verstehen ist. Selbst wenn die ausdrücklichen Gesetzesinhalte durch die Feststellung von impliziten Normgehalten flexibilisiert werden können, darf diese Materialisierung7 des Verständnisses des Gesetzes nicht grenzenlos erweitert werden. Dehnt man die so angenommenen materiellen Gesetzesinhalte unzulässig aus, wird der Bezug auf den Gesetzestext selbst gefährdet, welcher auch eine rationale Gesetzesanwendung gewährleistet. In diesem Sinne steht die Gesetzesauslegung grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen der textbezogenen und der wertbezogenen Gesetzeserkenntnis.8 Im Spannungsverhältnis zwischen expliziten geschriebenen und potenziell gemeinten Gesetzesinhalten geht es zunächst einmal darum, wie und inwieweit implizite Gesetzesinhalte erkannt werden können. Mit dieser rechtsmethodischen Frage beschäftigt sich der erste Teil der vorliegenden Arbeit. Die Erkenntnis der impliziten Gesetzesinhalte hängt meist mit rechtsethischen Wertungen zusammen, welche die gesetzlich niedergelegten Gesetzesinhalte rechtfertigen oder diesen zu 5 von der Pfordten, Rechtsphilosophie, S. 14 f.; Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 34 f.; Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 20 f. 6 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 177. 7 Zu einem der begrifflichen Umrisse der Materialisierung siehe Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 23 f. 8 Vgl. Froese, Die Grenze des Rechts als Herausforderung der Auslegung, oder: Interpretation als Flexibilitätsreserve der Rechtsordnung, Rechtstheorie, 2015, 481, 483 f.; Gardner, Law as a Leap of Faith, S. 46.

Einleitung

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widerlaufen können. Insoweit wird der Bezug rechtsethischer Wertungen auf die hier so bezeichneten potenziell gemeinten Gesetzesinhalte betrachtet. Um diese rechtsethischen Wertungen im Gesetz zu verstehen, wurde in Deutschland die objektiv-teleologische Methode der Gesetzesauslegung herangezogen.9 Zwar steht der von dieser verwendete objektive Gesetzeszweck im Zusammenhang mit den rechtsethischen Wertungen innerhalb des Gesetzes. Aber die Auslegung nach dem objektiven Gesetzeszweck begegnet in rechtsmethodischer Hinsicht Bedenken. Sie könne mitunter „stillschweigend“ einem abstrakten, „eindimensional“ interpretierten und ausgerichteten Normzweck folgen.10 Diesbezüglich lässt sich fragen, ob der objektive Gesetzeszweck dabei die Gefahr birgt, den bestimmten Gesetzeszweck mit normativen Werten selbst oder mit allgemein vermeintlich vernünftigen Vorstellungen gleichzusetzen. Wenn dem so ist, könnte der Begriff des objektiven Gesetzeszwecks den Unterschied zwischen dem potenziell Gemeinten des Gesetzes einerseits und einer allgemeinen Gerechtigkeitserwägung andererseits verwischen. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, ist zu erörtern, ob rechtsethische Wertungen im Gesetz anders als der abstrakte objektive Gesetzeszweck zu behandeln sind. Dabei ist auch fraglich, in welchem Zusammenhang und Bezugspunkt rechtsethische Wertungen im Gesetz zu analysieren sind. Es wird dazu geprüft, ob sie mit ihrem Minimalgehalt zu interpretieren sind, der angesichts häufig widerstrebender Interessenlagen jeweils neu herauszuarbeiten wäre. Dadurch könnte sich die Möglichkeit eröffnen, implizite Gesetzesinhalte in ihrem Spannungsfeld mit expliziten Gesetzesinhalten mit größerer Sicherheit entsprechend der jeweiligen gesetzlich geschützten Interessen zu erfassen, ohne den Gesetzesinhalt mit einer allgemeinen ethischen Wertungsbetrachtung zu verwechseln. In diesem Zusammenhang kann man darüber nachdenken, ob es eines Wechsels des rechtsmethodischen Ausgangspunkts bedarf, weg von dem abstrakt-einheitlichen objektiven Gesetzeszweck hin zur situationsbedingten Ausdifferenzierung der rechtsethischen Wertungen des Gesetzes. Dafür schlägt die vorliegende Arbeit die rechtsethische Auslegung als weitere Gesetzesauslegungsmethode vor, die in ihrer ursprünglichen Form Savignys Gesetzesauslegungslehre11 entspringt. Mit der rechtsethischen Auslegung rückt rechtsmethodisch in den Blick, inwieweit rechtsethische Argumente in die Gesetzesauslegung einzubeziehen sind, ohne dass die Betrachtung der impliziten Gesetzesinhalte zu einer Ethisierung des Gesetzes führt, die keine Grenzen kennt. Im Vergleich zu anderen Gesetzesauslegungslehren bzw. juristischen Methodenlehren wird untersucht, welche besonderen rechtsmethodischen Eigenschaften der rechtsethischen Auslegung zukommen. Dabei muss eine rechtsethische Wertung nicht gänzlich, sondern kann auch lediglich teilweise in das Gesetz einbezogen sein, weil das Gesetz notwendiger 9

Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 106 ff.; Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 530 ff. 10 Wagner, Zivilrechtswissenschaft heute, in: Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, S. 174. 11 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 206 ff.

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Einleitung

weise nur bestimmte Fälle und Ziele im Blick haben kann. Indem sich durch die rechtsethische Auslegung herausstellen könnte, ob und inwieweit die rechtsethische Wertung punktuell in Gesetzesinhalte einbezogen ist, könnte die rechtsethische Auslegung dazu dienen, den impliziten Gesetzesinhalt zu erfassen. Dabei ist des Weiteren zu fragen, in welchem Verhältnis diese rechtsethische Bedeutungserfassung zur rechtsethischen Lückenausfüllung steht. Denn die Wirkung einer rechtsethischen Wertung ist nicht von vornherein auf das Gesetz beschränkt. Selbst wenn eine rechtsethische Wertung im Gesetz zu finden ist, kann sie im Zusammenhang mit einem ihr benachbarten oder sogar zuzuordnenden rechtsethischen Wertgehalt stehen, der auch außerhalb des Gesetzes bestehen kann. So kann man fragen, ob die Betrachtung der rechtsethischen Wertungen sowohl die rechtsethische Auslegung als auch die rechtsethische Lückenausfüllung betrifft und in welchem Verhältnis zueinander die rechtsethische Auslegung und die rechtsethische Lückenausfüllung stehen. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird der Fragestellung nachgegangen, wie die Drittschadensliquidation rechtsethisch zu rechtfertigen ist, um neben der Lösung noch nicht abschließend geklärter zivilrechtsdogmatischer Fragen auch die praktische Anwendbarkeit der rechtsethischen Auslegung zu prüfen. Die Problematik der Drittschadensliquidation zeigt vor allem einen Widerspruch zwischen der formellen Rechtsstellung der beteiligten Parteien und ihrer materiellen wirtschaftlichen Interessenlage auf. So ist in rechtsdogmatischer Hinsicht der Ersatz eines Drittschadens nicht vorgesehen. Der Verletzte kann grundsätzlich nur seinen eigenen Schaden ersetzt verlangen. Das folgt aus dem Dogma vom Gläubigerinteresse, welches sich im Wege der Auslegung der §§ 249 ff. BGB ergibt.12 Es sorgt für eine angemessene Haftungsbegrenzung, die als eine Ausprägung des Prinzips der ausgleichenden Gerechtigkeit angesehen werden kann. Es wendet sich zudem gegen eine ungerechte Schadenskumulation, die der Drittschadensersatz mit sich bringen kann. Das Verbot des Drittschadensersatzes nach dem Dogma des Gläubigerinteresses gewährleistet aber nicht in allen Drittschadensfällen einen gerechten Interessenausgleich. Denn es kann Fälle eines Drittschadens geben, in denen es auch dann keine Schadenskumulation gäbe, wenn der Drittschaden ersetzt würde. Auf diese Weise können Drittschäden ersetzt werden, ohne dass dies dem Zweck der angemessenen Haftungsbegrenzung zuwiderliefe. Es wäre vielmehr nicht zu rechtfertigen, wenn der Schädiger nur deshalb entlastet würde und keinen Schadensersatz leisten müsste, weil der angerichtete Schaden in formeller Hinsicht ein Drittschaden ist. In diesem Zusammenhang lässt sich fragen, ob die auf dem Dogma des Gläubigerinteresses beruhende „Subjektbezogenheit des Schadens“13 durch andere rechtsethische Erwägungen flexibilisiert werden kann.

12 13

BeckOK BGB / Flume, § 249, Rn. 354 ff. Jauernig / Teichmann, Vorbemerkungen zu den §§ 249–253, Rn. 18.

Einleitung

17

Dabei wird ein Widerspruch zwischen dem, was das Gesetz vorschreibt, und dem, was es potenziell meint, deutlich. Um diesen neuralgischen Punkt zu lösen, bedarf es rechtsmethodisch einer rechtsethischen Auslegung, womit die situationsbedingte Einbeziehungsmöglichkeit rechtsethischer Wertungen in der Gesetzesauslegung betrachtet wird. Dadurch wird hier punktuell überprüft, welche rechtsethischen Wertungen des Schadensrechts den Ausgleich eines Drittinteresses rechtfertigen können. Dabei lässt sich die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation auch mit anderen Lösungswegen, die die Drittschadenliquidation ablehnen, abgleichen, die aus anderen rechtsethischen Wertungen des Haftungs- und Schadensrechts abgeleitet werden können. Diese rechtfertigende Erwägung aufgrund rechtsethischer Wertungen des Schadensrechts soll folglich zur Rechtfertigung der Drittschadensliquidation dienen. Damit kann auch gezeigt werden, ob und inwieweit die rechtsethische Auslegung sowohl rechtsmethodisch als auch praxisrelevant im Zusammenhang mit der Rechtsfortbildung steht. Die folgende Arbeit will dementsprechend eine bisher in dieser Weise noch nicht kategorisierte und insoweit neue rechtsmethodische Auslegungsart und ein zivilrechtliches Standardproblem zusammenführen und zusammendenken: Die rechtsethische Auslegung wird grundlegend herausgearbeitet und auf die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation angewandt. Dabei wird sich zeigen, wie die Einbeziehung der rechtsethischen Argumente in die Gesetzesauslegung auf die Rechtfertigung einer als Ausnahme angesehenen und rechtfertigungsbedürftigen Rechtsfigur Einfluss nehmen kann. Auf diese Weise soll ein verbessertes und vertieftes Verständnis dieser Rechtsfigur im allgemeinen Schadensrecht geleistet werden.

1.

Erster Teil

Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode Die wesentliche Aufgabe der Gesetzesauslegung ist es, die normative Bedeutung des Gesetzes festzustellen. Das Gesetz erklärt selbst nicht vollständig, welchen Inhalt es hat. Denn selbst wenn der explizite Normgehalt ausreichend erkennbar ist, ist es weiterhin nötig, einen möglichen impliziten Normgehalt festzustellen.1 Außerdem enthält das Gesetz vielfach offene wertende Begriffe und Grundsätze, die auslegungsbedürftig sind. Die normative Bedeutungsklärung des Gesetzes kann nicht ausschließlich durch eine sprachliche Erläuterung der Gesetzesvorschrift oder eine formell-logische Deduktion erfolgen.2 Denn die Gesetzesauslegung lässt sich nicht von der praktischen Anwendung des Gesetzes auf konkrete Interessenlagen trennen. Dabei geht es häufig um die Frage, wie implizite Normgehalte des Gesetzes auf eine bestimmte Interessenlage anzuwenden sind. Hierzu wiederum ist zu fragen, was als implizite Normgehalte des Gesetzes zu verstehen sind. Um implizite Normgehalte des Gesetzes zu erfassen, bedarf es einer vielseitigen und umsichtigen Betrachtung. In diesem Zusammenhang wurde der Gesetzesauslegung schon das „Zuendedenken eines Gedachten“3 bzw. „Mit- und Weiterdenken des Gesetzes“4 zugeschrieben. Dazu wurde bisher hauptsächlich der Gesetzeszweck bzw. die Begründung der normativen Gesetzesinhalte herangezogen, wie die Entwicklungsgeschichte der Gesetzesauslegungsmethodik zeigt.5 Die Betrachtung des Gesetzeszwecks bzw. der Begründung des normativen Gesetzesinhalts bezieht sich insbesondere auf rechtsethische Wertungen.6 Diese dienen dazu, mögliche implizite Normgehalte des Gesetzes zu ergründen und ihre 1

Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 262. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 47 ff.; Dreier, Rechtswissenschaft als Wissenschaft – Zehn Thesen, in: Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, S. 15 f. 3 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 108. 4 Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 70. 5 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 133 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 428 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 136 ff., 213 ff., 598 ff., 652 ff.; Bd. II, S. 780 ff., 963 ff., 1295 ff.; Ogorek, Aufklärung über Justiz, Hbd. 1, S. 105 ff., 121 ff.; Hbd. 2, S. 39 ff.; Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 70 f.; Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793, 795. 6 Larenz / Canaris, a. a. O., S. 153 ff. 2

1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode

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praktische Anwendung auf konkrete Interessenlagen zu rechtfertigen. Bei der Auslegung der impliziten Gesetzesinhalte ist jeweils die Frage zu betrachten, welche normative Prämisse für eine konkrete Lösungsmöglichkeit aus dem jeweiligen Gesetz abgeleitet werden kann. Die Feststellung dieser normativen Prämisse hängt mit der Frage zusammen, ob und inwieweit rechtsethische Wertungen angesichts gegenläufiger Interessenlagen in der Gesetzesauslegung verwirklicht werden können. Für das Verständnis der impliziten Gesetzesinhalte ist es also erforderlich, rechtsethische Wertungen im Zusammenhang mit Gesetzesinhalten nicht einheitlich, sondern je nach konkreter Interessenlage im Einzelfall zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich dann um eine rechtsethische Auslegung. Grundsätzlich stellt die Rechtsethik die Frage, welches Recht gerecht ist. Die Rechtsethik befasst sich demnach inhaltlich mit der Rechtfertigung bzw. Legitimation und Kritik des Rechts.7 Die Rechtsethik, auf der die vorliegende Arbeit aufbaut, versteht sich als die kritische und rechtfertigende Funktion der Ethik im Recht, nicht als die tatsächlich bestehende Moral.8 Es stellt sich die Frage nach der begrifflichen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik. Was Moral und Ethik bedeuten, ist bisher nicht einheitlich definiert. Teilweise wird die Differenzierung sogar jeweils gegensätzlich verstanden.9 Um eine terminologische Abgrenzung vorzunehmen, kann als inhaltliches Kriterium dienen, ob es bei einer normativen Aussage um eine positive, tatsächlich bestehende Eigenschaft oder um eine theoretische Reflexion bzw. Rechtfertigung und Kritik geht.10 Die vorliegende Arbeit folgt dem Verständnis von der Pfordtens, das folgendes Kriterium zugrunde legt: Danach zählen als Moral die „tatsächlich bestehenden kategorischen, nichtrechtlichen Normen“.11 Demgegenüber ist die Ethik sowohl als das Reflektieren über die Begründbarkeit der Normen, insbesondere der Moral und des Rechts, als auch 7 von der Pfordten, Rechtsethik, S. 1, 7; ders., Rechtsethik, in: Hilgendorf / Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 95; Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 230; Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 20 f.; ders., Eine deskriptive Rechtsethik, JRE 19 (2011), 241, 251 ff. 8 Die Rechtsethik ließe sich womöglich auch als allgemeine Gegenposition zur ökonomischen Analyse des Rechts verstehen. Darauf fokussiert sich die vorliegende Arbeit aber nicht. Zum Verhältnis zwischen der Rechtsethik und der ökonomischen Analyse des Rechts siehe von der Pfordten, Rechtsethik, S. 373 ff.; Grundmann, Methodenpluralismus als Aufgabe, RabelsZ 1997, 423, 430 ff. 9 Siehe dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 63; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 126 f. 10 Vgl. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, S. 32; von der Pfordten, Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik, in: Sandkühler (Hg.), Recht und Moral, S. 34 ff.; ders., Rechtsethik, S. 63 ff.; Siep, Normenbegründung in der praktischen Philosophie, in: Jansen / Oestmann (Hg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz, S. 252; Hoerster, Was ist Moral?, S. 19; Waldenfels, Schattenrisse der Moral, S. 35 ff. 11 von der Pfordten, Rechtsethik, S. 63 ff. Nach von der Pfordten besteht etwa zwischen der Moral und dem Recht „allenfalls ein Praktikabilitäts- und Akzeptabilitätszusammenhang, aber keine Begründungsbeziehung“ (von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, S. 443).

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

über die dafür maßgeblichen Gründe zu verstehen.12 Bei der Rechtsethik geht es letztlich um die Begründbarkeit des Rechts, also auf einer Metaebene um „das rechtlich Gute, die Qualität und Bonität des Rechts“13. Damit wird aber nicht die allgemeine Qualitätsbewertung des Rechts in den Mittelpunkt gestellt, sondern die angesichts konkreter Sachverhalte gestellte Begründungsfrage, „wann und wie rechtliche Normen gegenüber den von ihnen Betroffenen zu rechtfertigen sind“14. Die Rechtsethik hat zur Aufgabe, eine inhaltliche,15 materielle und normative Reflexion des positiven Rechts zu leisten. Allerdings bleiben rechtsethische Wertungen nicht immer außerhalb des positiven Rechts. Sie können ausdrücklich in dieses einbezogen sein, wie etwa bei Treu und Glauben in § 242 BGB, Billigkeit in § 315 BGB, den guten Sitten in § 138 BGB sowie konkludent bei der ausgleichenden Gerechtigkeit im Schadensrecht und Bereicherungsrecht. Dabei darf die Berücksichtigung der rechtsethischen Wertungen beim Verständnis des Rechts wie bei der Rechtsanwendung auch nicht zur uferlosen Ethisierung des Rechts führen.16 Die einzelnen positiven Rechtsnormen können lediglich einen begrenzten inhaltlichen Teil jener rechtsethischen Wertung abbilden, auf die sie sich stützen und mit der sie zusammenhängen.17 Einzugehen ist dabei auf die Frage, inwieweit diese rechtsethischen Wertungen inhaltlich in das positive Recht einbezogen werden und auch in der Auslegung relevant sind. Dabei hat man auch wechselseitige18 Einflussmöglichkeiten zwischen rechtsethischen Wertungen und dem positiven Recht zu berücksichtigen. Insofern müssen die normativen Bedeutungen der rechtsethischen Wertungen des Gesetzes im Spannungsfeld zwischen dem rechtsdogmatischen Verständnis und der rechtsethischen Rechtfertigung bzw. Kritik des Rechts herausgearbeitet werden. Darin besteht die hier einzunehmende rechtfertigende und kritische Perspektive, die für das Recht im Verhältnis zur Ethik geboten ist.19 Nähme man nur

12

Siehe dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 63 ff.; ders., Rechtsphilosophie, S. 66 f.; ders., Normative Ethik, S. 1 ff.; Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 26 f.; vgl. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 2 f.; Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 34 f.; Hepfer, Philosophische Ethik, S. 9 f., 14 f.; Campbell, The Legal Theory of Ethical Positivism, S. 3; Staake, Werte und Normen, S. 64 f.; Gruschke, Externe und interne Ethisierung des Rechts, in: Vöneky u. a. (Hg.), Ethik und Recht – Die Ethisierung des Rechts, S. 41; Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, S. 358 ff.; Krämer, Integrative Ethik, S. 9 ff., 75 ff. 13 Hollerbach, Rechtsethik, in: Görres-Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 692. 14 Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 230. 15 Dreier, Rechtsethik und staatliche Legitimität, UNIVERSITAS 4/1993, 377. 16 von der Pfordten, Rechtsethik, S. 185. 17 Vgl. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, S. 649. 18 Honoré, The Dependence of Morality On Law, Oxford Journal of Legal Studies 1993 (Vol. 13, No. 1), 1, 2 f. In diesem Sinne beeinflussen diese beiden Bereiche „einander wie zwei Himmelkörper, die starke Gravitationskräfte aufeinander ausüben“ (Patzig, Ethik ohne Metaphysik, S. 31). 19 Vgl. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, S. 119.

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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die rechtsinnere Perspektive ein, dann perpetuierte sich lediglich der Autoritätsanspruch des positiven Rechts.20 Der Auslegungsspielraum ist nach dieser Perspektive begrenzt. Innerhalb dieser Arbeit wird daher angesichts entgegengesetzter konkreter Interessenlagen über die normativen Bedeutungen der rechtsethischen Wertungen und ihre Realisierbarkeit im positiven Recht nachgedacht, um die Reichweite der Auslegung zu bestimmen. In diesem Teil der vorliegenden Arbeit sind zuerst die rechtsmethodischen Charakteristika der rechtsethischen Auslegung zu betrachten. Im Zuge dessen wird erörtert, was das Besondere der rechtsethischen Auslegung im Vergleich zu bisherigen Gesetzesauslegungsmethoden bzw. Rechtsmethodenlehren ist. Ferner ist das Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung zu untersuchen.

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung In rechtsmethodischen Beiträgen gilt Savignys Verständnis der Gesetzesaus­ legung nach wie vor als Ausganspunkt für die Erklärung und Erläuterung der Gesetzesauslegungsmethode.21 Dabei ist interessant und aufschlussreich, dass auch die rechtsethische Auslegung von Savignys Verständnis ausgehen kann. Dazu wird im Folgenden insbesondere das Verständnis Savignys einem Vergleich mit der heutigen Gesetzesauslegungslehre unterzogen. Durch diese Betrachtung wird die Vorarbeit zur Antwort auf die Frage geleistet, weshalb die rechtsethische Auslegung notwendig ist und was ihre besonderen Eigenschaften sind.

I. Grundlinien der Gesetzesauslegungslehre Savignys Savigny zufolge gilt der Norminhalt der Rechtsquellen als „die selbstständige Regel des Rechts“ und als „ein Gegebenes“.22 Um die so gegebene Regel des Rechts auf einen tatsächlichen Sachverhalt anzuwenden, bedürfe es einer geistigen Tätigkeit als einer Aufnahme dieser Regel.23 Zu dieser geistigen Tätigkeit gehört die

20

8.

von der Pfordten, Rechtsphilosophie, S. 45; Jestaedt, Wissenschaft im Recht, JZ 2014, 1,

21 Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 136; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 67; Ogorek, Aufklärung über Justiz, Hbd. 1, S. 111; Buchwald, Die canones der Auslegung und rationale juristische Begründung, ARSP 1993, 17, 17 f.; Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik, AcP 2014, 7, 26 f.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 698 ff.; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, S. 291 ff.; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 12 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 132. 22 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 206. Zum Rechtsbegriff Savignys siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 194 ff. 23 Savigny, a. a. O., S. 206.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Gesetzesauslegung.24 Jedes Gesetz spreche einen Gedanken so aus, dass er als Regel gelten könne.25 Um das Gesetz zu interpretieren, solle man über den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken und den Inhalt des Gesetzes nachvollziehen.26 Dabei hält Savigny es für das wesentliche Geschäft der Gesetzesauslegung, den dem Gesetz innewohnenden Gedanken zu rekonstruieren.27 Die Rekonstruktion des Gesetzes bedeutet danach, dass der Interpret sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers stellt, und dessen Gedanken künstlich wiederholt, und so das Gesetz des Gesetzgebers im Denken des Interpreten erneut hervorbringt.28 Bei jedem Gesetz, „wenn es in das Leben eingreifen soll“, sei diese Rekonstruktion notwendig.29 So stellte Savigny schon an dieser Stelle fest, dass eine vollständig eindeutige Erkenntnis dessen, was der Gesetzgeber früher entschieden hat, nicht mehr zu erlangen sei.30 Somit hänge der Erfolg jener Auslegung davon ab, „daß wir uns die geistige Thätigkeit, woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken hervorgegangen ist, lebendig vergegenwärtigen“.31 Dadurch sei die Gesetzesauslegung darauf gerichtet, gerade aus dem Gesetz „so viel als möglich an wirklicher Rechtskenntniß zu gewinnen“; „die Auslegung also soll von der einen Seite individuell, von der andern reichhaltig in Resultaten seyn“.32 Bei der Gesetzesauslegung unterscheidet Savigny zum einen die Auslegung einzelner Gesetze und zum anderen die Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Zunächst soll für die Auslegung einzelner Gesetze die vollständige Einsicht in das Gesetz auf vier Elementen beruhen, dem logischen, grammatischen, histori 24

Savigny, a. a. O., S. 206 f. Der Ausdruck Savignys „eine geistige Tätigkeit“ könnte einen Zusammenhang mit der damaligen philosophischen Hermeneutik bzw. Geisteswissenschaft etwa von Schleiermacher andeuten. Allerding ist umstritten, ob Savignys Hermeneutik tatsächlich von Schleiermachers beeinflusst worden ist. Siehe dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 332; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 1 ff., 8 ff., 28 ff.; Rückert, SavignyStudien, S. 359 ff.; Meyer, Hermeneutik und Rechtswissenschaft: Hans-Georg Gadamer und Josef Esser, RphZ 2020, 59, 60 f. 25 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 143. 26 Savigny, a. a. O., S. 143. 27 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 213; ders., Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 143, 217. 28 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 213; ders., Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 217. 29 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 207. 30 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, S. 82. 31 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 215. In diesem Sinne wäre es falsch, Savigny als einen Vertreter der sogenannten subjektiven Auslegungstheorie zu verstehen. Vgl. dazu Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1, 2 f., 12; Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, 853, 855; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 16; Ogorek, Aufklärung über Justiz, Hbd. 2, S. 164; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 125 ff.; Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 141; ders., Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, S. 354. 32 Savigny, a. a. O., S. 216. Siehe dazu Rückert, Savigny-Studien, S. 335 f.

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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schen und systematischen Element.33 Es ist zu bemerken, dass es dabei nicht vier getrennte Auslegungen nach Savigny gibt, sondern es sich nur um eine Auslegung handelt, die aus diesen vier Elementen zusammengesetzt ist, und dass je nach Einzelfall eines dieser Elemente vorherrschend sein kann.34 Ferner betonte Savigny die Harmonisierung dieser Elemente für das Gelingen der Gesetzesauslegung.35 Dabei seien weder eine feststehende Anwendungsreihenfolge noch eine zu pedantische analytische Zergliederung des Auslegungsprozesses in diese Elemente angezeigt.36 Nach Savignys Ansicht sind diese Elemente der Gesetzesauslegung nur für den Umgang mit einem „gesunden“ Zustand des Gesetzes vorgesehen. Bei einem Gesetz im gesunden Zustand stehen nach Savigny Ausdruck und Gedanke in Einklang.37 Die vier Elemente der Gesetzesauslegung dienen dabei lediglich einer sicheren und vollständigen Einsicht in den Inhalt des Gesetzes.38 Demgegenüber werden bei einem „mangelhaften“ Zustand des einzelnen Gesetzes, also einer Unvollkommenheit des Gesetzes wie es bei ihm heißt, andere Hilfsmittel für die Gesetzesauslegung vorgeschlagen. Als Beispiele des mangelhaften Zustandes des Gesetzes führte Savigny folgende an: „I. Unbestimmter Ausdruck, der also überhaupt auf keinen vollendeten Gedanken führt. II. Unrichtiger Ausdruck, indem der von ihm unmittelbar bezeichnete Gedanke von dem wirklichen Gedanken des Gesetzes verschieden ist.“39 Dabei werden von ihm drei Hilfsmittel zur Abhilfe der Mängel erwähnt: „Das erste Hülfsmittel besteht in dem inneren

33 Es lässt sich schwerlich behaupten, dass diese Elemente allein von Savigny stammen, denn im römischen Recht fanden sie sich bereits verstreut in den Digesten und dem Codex Iustinian. Vgl. C. 1, 14; D. 1, 3; D. 50, 16; D. 50, 17. 34 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 217; ders., System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 213 ff.; vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 206 f.; Reutter, „Objektiv Wirkliches“ in Friedrich Carl von Savignys Rechtsdenken, Rechtsquellen- und Methodenlehre, S. 441. Zu heutigen Missverständnissen von der Gesetzesauslegungslehre Savignys siehe Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 141 f. 35 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 215. 36 Vgl. Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1, 6; Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, S. 352; Reutter, „Objektiv Wirkliches“ in Friedrich Carl von Savignys Rechtsdenken, Rechtsquellen- und Methodenlehre, S. 442: In Savignys methodologischer Darstellung wohne dem Auslegungsprozess ein Momentum intuitiver Spontaneität inne. 37 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 222. Vgl. Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 143. 38 Savigny, a. a. O., S. 213, 207 f.: „Allein jene Eigenschaft des Gesetzes ist eine Unvollkommenheit, und es ist nöthig von der Betrachtung des gesunden Zustandes auszugehen, um für den mangelhaften Zustand sicheren Rath zu finden.“ 39 Savigny, a. a. O., S. 222. Diesbezüglich findet sich auch der Begriff „kranke[r] Zustand des Gesetzes“ (Savigny, a. a. O., S. 319).

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Zusammenhang der Gesetzgebung; ein zweytes in dem Zusammenhang des Gesetzes mit seinem Grunde; ein drittes in dem innern Werthe des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts.“40 Beim ersten Hilfsmittel gehe es darum, ob der mangelhafte Teil des Gesetzes aus einem anderen Teil desselben Gesetzes oder aus anderen Gesetzen erklärt werden kann.41 Der Grund des Gesetzes als das zweite Hilfsmittel sei als ratio legis, das heißt als der Zweck oder die Absicht des Gesetzes, anzusehen.42 Dabei sollen sich spezielle und generelle Gründe unterscheiden lassen, obwohl diese Unterscheidung nicht trennscharf unternommen werden kann.43 Außerdem wird als drittes Hilfsmittel erwähnt, dass der innere Wert des Auslegungsergebnisses an sich überprüft werden kann. Dies sei am gefährlichsten, weil dadurch der Interpret am leichtesten die Grenze der Auslegung überschreite und in das Gebiet des Gesetzgebers hinübergreife; also könne das dritte Hilfsmittel nur bei der Unbestimmtheit des Ausdrucks angewendet werden.44 Anders als beim gesunden Zustand des einzelnen Gesetzes gebe es beim mangelhaften eine Stufenfolge der Hilfsmittel: „Das erste ist unbedenklich überall anzuwenden: das zweyte macht schon größere Vorsicht nöthig: das dritte endlich kann nur in den engsten Gränzen zugelassen werden.“45 Bei der Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen gehe es um zwei Anforderungen – Einheit und Vollständigkeit.46 Ebenso wie die Auslegung einzelner Gesetze sei diese Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen von zwei Situationen geprägt:47 Zum einen komme das regelmäßige Verfahren zur Anwendung, das in der Bildung eines Rechtssystems besteht. Letzteres sei ähnlich der Konstruktion der einzelnen Rechtsinstitute. Dabei soll der Gesetzesgrund, der in Beziehung auf einzelne Gesetze betrachtet worden ist, eine übergreifende Bedeutung erhalten. Damit erscheine „die organisch bildende Kraft der Rechtswissenschaft“ hier in ihrer größten Ausdehnung.48 Mit dem Begriff meint Savigny den Prozess der Verwissen­ schaftlichung des Rechts. Insofern gelte es, die immanente Einheit des Rechts herauszuarbeiten, wodurch „neues organisches Leben“ entstehe, „welches bildend auf den Stoff selbst zurückwirkt, so daß auch aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung … hervorgeht“.49 Dies weist große Ähnlichkeit mit

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Savigny, a. a. O., S. 223. Savigny, a. a. O., S. 223. 42 Savigny, a. a. O., S. 217. 43 Savigny, a. a. O., S. 219. 44 Savigny, a. a. O., S. 225. 45 Savigny, a. a. O., S. 225. 46 Savigny, a. a. O., S. 262. 47 Savigny, a. a. O., S. 262 ff. 48 Savigny, a. a. O., S. 263. 49 Savigny, a. a. O., S. 46 f. 41

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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dem Verständnis von Rechtsdogmatik auf, ohne mit den heute vorherrschenden Begriffen von Rechtsdogmatik vollständig übereinstimmen zu müssen.50 Zum anderen gehe es um die mangelhaften Zustände, bei denen Widersprüche oder Lücken vorhanden sind. Fehlt die Einheit der Rechtsquellen, so soll ein Widerspruch entfernt werden; fehlt die Vollständigkeit, so soll eine Lücke ausgefüllt werden.51 Für diese Fälle verwendet Savigny die Analogie sowie das historische und systematische Element als Abhilfemöglichkeiten. Dabei werden verschiedene Regeln zur Abhilfe erwähnt. Wenn sich ein unauflöslicher Widerspruch der Rechtsquellen findet, sei etwa die Regel heranzuziehen, dass die neuere Rechtsquelle der älteren vorzuziehen ist.52 Damit sei auch ein Verfahren vorhanden, welches systematische und historische Aspekte miteinander verbindet.53 Um erkannte Lücken auszufüllen, sei die Analogie zur Anwendung zu bringen.54

II. Savignys Grundidee in der Gesetzesauslegungslehre Schon Gadamer und Esser übten Kritik an der juristischen Hermeneutik ­Savignys: Savigny habe die juristische Hermeneutik bloß als historische betrachtet und die Spannung zwischen dem ursprünglichen und dem gegenwärtigen juristischen Sinn eines Gesetzes ignoriert.55 Aber dies beruht auf einem Missverständnis seiner Hermeneutik.56 Savigny vernachlässigt nicht den Zusammenhang der Auslegung mit dem gegenwärtigen 50

Die Rechtsdogmatik ist zwar grundsätzlich darauf gerichtet, das positive Recht begrifflichsystematisch zu ordnen und zu verstehen, wie auch Savigny zeigte. Aber ihr heutiger Begriff wurde nicht eindeutig erklärt, weil er sich auf die Beziehungen konzentrierte, die zwischen der Rechtsdogmatik und anderen Disziplinen liegen. Auch kann es dabei einen Unterschied ausmachen, ob Rechtsdogmatik überwiegend historisch, sozialwissenschaftlich, philosophisch oder wirklichkeitsbezogen ausgeführt wird. So ist die heutige Rechtsdogmatik selbst eine „mehrdimensionale Disziplin“ (Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 22). Siehe dazu Bumke, Rechtsdogmatik, S. 6, 42 f., 161 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 307 ff.; Dreier, Rechtswissenschaft als Wissenschaft – Zehn Thesen, in: Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, S. 25 ff.; Jestaedt, Vom Beruf der Rechtswissenschaft – zwischen Rechtspraxis und Rechtstheorie, in: Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, S. 235 ff.; Lobinger, Perspektiven der Privatrechtsdogmatik am Beispiel des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts, AcP 2016, 28, 34 ff. 51 Aber der Unterschied zwischen Widerspruch und Lücke ist lediglich ein relativer, denn die beiden sind auf den gemeinsamen Grundbegriff der Einheit zurückzuführen. Siehe dazu Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 263 f. 52 Savigny, a. a. O., S. 264. 53 Savigny, a. a. O., S. 273 ff. 54 Savigny, a. a. O., S. 290 ff. 55 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 190, 332; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 136. 56 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 64 f.; ders., Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, S. 177 ff.; Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung? – Teil 1, JZ 1988, 1, 4. 

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Sinn des Gesetzes.57 Wie oben bereits betrachtet, betont Savigny, dass das Gesetz durch die Auslegung als eine geistige Tätigkeit lebendig vergegenwärtigt werden soll und die Auslegung sowohl „individuell“ als auch „reichhaltig in Resultaten“ sein soll.58 Dies deutet zunächst an, dass die Gesetzesauslegung nicht nur auf die früher bestimmte Absicht des Gesetzgebers angewiesen ist, sondern auch auf individuelle Momente bzw. Interessenlagen, die der Gesetzgeber so womöglich nicht vorhersehen konnte. Dass die Auslegung reichhaltig in Resultaten sein soll, weist eine relative und komparative Eigenschaft der Gesetzesauslegungslehre Savignys auf.59 Diese inhaltliche „Ausbeute für die Kenntnis des Rechts“ wird immer reicher, indem Auslegungsmöglichkeiten des Gesetzes nicht abstrakt, sondern in den jeweiligen Situationen ausgelotet und gewichtet werden.60 Der Umfang des Wissens in einer Auslegungssituation kann also von Auslegungssituation zu Auslegungssituation unterschiedlich sein und aus diesem Unterschied zusätzliche Verständnis- und Erklärungskraft gewinnen. Damit geht Savigny nicht rein historisch vor, sondern bezieht die gegenwärtige konkrete Auslegungssituation in die Interpretation mit ein. Dabei ist die Leistungsfähigkeit der Gesetzesauslegung nicht auf die Betrachtung der von vornherein bestimmten historischen Seite des Gesetzes beschränkt. Die Gesetzesauslegung soll immer wieder ein möglichst angemessenes Ergebnis aus dem Gesetz hervorbringen.61 Damit wird ein objektiv verbessertes62 Verstehen des Gesetzes versucht.63 Diese Hermeneutik Savignys ist nicht einfach gegeben, sondern wird demnach stetig neu vorgenommen. In diesem Zusammenhang war Savigny der Ansicht, dass der Erfolg der Gesetzesauslegung in verschiedenen Graden erreicht werden könne und diese Verschiedenheit teils von der Kunst des Auslegers, teils von der Kunst des Gesetzesgebers abhänge.64 Dabei gebe es „eine Wechselwirkung zwischen trefflicher Gesetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und gesichert ist“.65 Somit betont die Gesetzesauslegungslehre 57

Gadamer verschrieb sich beim Titel des Werks Savignys „System des römischen Rechts“, ohne „heutigen“ einzufügen. Falls man dieser Tatsache einiges Gewicht, insbesondere für Gadamers Verständnis zumäße, Savigny nähme nur die historische, nicht aber die gegenwärtige Perspektive ein, könnte dies Gadamers Fehlverständnis erklären. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 332. Zur Bedeutung des Titels des Werks Savignys siehe Unberath, Der Nachhall der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre im System des heutigen römischen Rechts, ZRG GA 2010, 142, 150. 58 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 206, 215 f.; ders., Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 218. 59 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 116 f. 60 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 218. 61 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 116. 62 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 218. 63 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 116 ff. 64 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 216. 65 Savigny, a. a. O.

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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Savignys die Vergangenheit bzw. die subjektive Historie der Gesetzesauslegung nicht übermäßig.66 Aus diesem Gedanken ergibt sich, dass Savignys Auslegungslehre im Spannungsfeld zwischen der subjektiven historischen und der objektiven gegenwärtigen Seite der Gesetzesauslegung liegt.67 Dabei verwirklicht sich auch Savignys Grundauffassung von der Rechtswissenschaft. Diese hat Einfluss auf seine Gesetzesauslegungslehre, welche die historische und die gegenwärtige Bedeutung des Gesetzes zu harmonisieren versucht. So setzte Savigny seine geschichtliche Ansicht der Rechtswissenschaft nicht mit einer lediglich auf die Vergangenheit gerichteten Sichtweise und einer blinden Überschätzung der Vergangenheit gleich, sondern wies vielmehr auf einen lebendigen Zusammenhang hin, welcher die neue, gegenwärtige und selbständige Rechtsbildung auf die aus der Vergangenheit resultierende Rechtsbildung bezieht.68 Keineswegs stand seine historische Rechtswissenschaft auf der Basis einer sich selbst genügenden, antiquarischen Beschäftigung mit der Vergangenheit.69 Savigny versuchte, einen lebendigen Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu erkennen, indem er jedem Zeitabschnitt gleichmäßige Berücksichtigung zuteilwerden ließ.70 So hielt es Savigny konsequenterweise für erforderlich, Inhalte des Überlieferten im Recht neu zu prüfen.71 In diesem Zusammenhang betonte er „die geistige Freiheit“ und „die Unabhängigkeit von aller Autorität“, indem man sich fortwährend bewusst in die Lage versetzen soll, „als hätten wir das überlieferte Material einem Unkundigen, Zweifelnden, Widerstrebenden mitzutheilen“.72 Dabei ist nicht nur die Erkenntnis des geschichtlichen Verlaufs hervorzuheben, also „wie die Gegenwart geworden ist“, sondern auch das Nachdenken über „die Gegenwart selbst“, weil die Vergangenheit in ihr als integrierender Teil fortbesteht.73 Daraus geht also hervor, dass seine geschichtliche Rechtswissenschaft vorzugsweise einen kritisch-aktualisierten Charakter hat und damit gerade nicht ausschließlich in die Vergangenheit blickt.74 Nicht nur der so bezeichneten geschichtlichen, sondern auch der systematisch orientierten Rechtswissenschaft ging Savigny nach. Er verstand die systematische Methode als die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs, womit die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln als eine Einheit verstanden werden.75 So erfasst er den Rechtsstoff als Einzelnes und Ganzes, als Besonderes und 66

Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 85 ff. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 65, 125 ff. 68 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Vorrede, S. XIV f. 69 Benedict, Savigny ist tot!, JZ 2011, 1073, 1077; Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 17 ff. 70 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Vorrede, S. XIV f. 71 Savigny, a. a. O., S. XI. 72 Savigny, ebenda. 73 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 284. 74 Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Vorrede, S. XXXII. 75 Savigny, a. a. O., S. XXXVI. 67

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Allgemeines, als subjektiv und objektiv.76 Dabei gelte es, Einzelnes und Ganzes stets zusammenzudenken und beides miteinander in Einklang zu bringen.77 Auf diese Weise wird die systematische Methode nicht mehr als bloße Zusammenstellung verstreuter Rechtssätze gesehen, sondern als einheitliches Ganzes bzw. organischer Zusammenhang der Rechtssätze, aus dem sich dann der „Spielraum für die schöpferische dogmatische Konstruktion“78 ergibt. Seine systematische Vorgehensweise war weder überhistorisch noch hegelianisch,79 sondern stand vielmehr im Zusammenhang mit der geschichtlichen Rechtswissenschaft. Savigny sieht diese als die zwei Hauptlinien der Rechtswissenschaft an, die unentbehrlich seien.80 Savigny strebte nach dem sich wechselseitig befruchtenden Zusammenhang dieser beiden prägenden methodischen Elemente. Der rechtstheoretische Grundgedanke des lebendigen Zusammenhangs bei Savigny hat Einfluss auf seine Gesetzesauslegungsmethode genommen. So besteht seine kritische und gleichzeitig zu rechtfertigende Eigenheit in der Gesetzesauslegung, die die Wechselwirkungen der methodischen Elemente fortsetzt.81

III. Vergleich der Gesetzesauslegungslehre Savignys mit der heutigen Rechtsmethodenlehre Im Anschluss an die Gesetzesauslegungslehre Savignys sind verschiedene moderne Gesetzesauslegungsmethoden entwickelt worden.82 Hervorzuheben sind dabei die objektiv-teleologische Auslegung und die folgenorientierte Auslegung. Sie verfolgen angesichts konkreter Sachverhalte eine objektive und problembezogene Auslegungsmethode, indem sie nicht nur auf der – subjektiv bestimmten – Absicht des Gesetzgebers basieren. Im Folgenden soll der Zusammenhang der Gesetzesauslegungslehre Savignys mit der objektiv-teleologischen Auslegung und der folgenorientierten Auslegung näher beleuchtet werden. Bei diesem Vergleich kann man die Frage stellen, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der modernen Auslegungsmethode und der Gesetzesauslegungslehre Savignys bestehen. Anhand dieser Fragestellung wird sich zeigen, ob es einer neuen Kategorie der Gesetzesauslegung bedarf und wie die Methode der Gesetzesauslegung zu verbessern ist.

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Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 111. 77 Rückert, a. a. O. 78 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 372. 79 Rückert, Savignys Dogmatik im „System“, in: Heldrich u. a. (Hg.), FS Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. II, S. 1295. 80 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 48. 81 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 216. 82 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 702 f.

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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1. Vergleich mit der objektiv-teleologischen Auslegung Unter dem großen Einfluss der Auslegungselemente der Gesetzesauslegungslehre Savignys richtet sich die gegenwärtige Gesetzesauslegungslehre grundsätzlich nach vier Teilaspekten, nämlich der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung.83 Die moderne Gesetzesauslegungslehre fokussiert sich auf Gesetze, die unbestimmte oder unrichtige Ausdrücke enthalten und damit laut Savigny in einem mangelhaften Zustand sind.84 Dabei lohnt es sich, die moderne Gesetzesauslegungslehre vorzugsweise mit Savignys Gesetzesauslegung beim mangelhaften Gesetzeszustand zu vergleichen, um darüber nachzudenken, wie das Gesetz im mangelhaften Zustand auszulegen ist. Die systematische Auslegung Savignys wurde in der modernen Gesetzesauslegungslehre aufrechterhalten. Denn Savignys erstes Auslegungshilfsmittel beim mangelhaften Gesetzeszustand ist der innere Zusammenhang der Gesetzgebung.85 Auch heute noch wird eine sachliche Übereinstimmung zwischen den einzelnen Gesetzes­ bestimmungen als Bedeutungszusammenhang des Gesetzes betrachtet.86 Insofern hat dieses Hilfsmittel Savignys viel mit der heutigen systematischen Auslegung gemeinsam. Weniger eindeutig ist das Verhältnis zwischen der heutigen teleologischen Auslegung und derjenigen Savignys. Früher wurde Savignys Gesetzesauslegungslehre kritisiert, weil sie kein teleologisches Element enthalte.87 Dazu ist indes zu sagen, dass nach Savigny zwar die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes mit vier Elementen der Auslegung ohne ein teleologisches Element vollendet sei,88 aber das in dieser Aussage erwähnte Gesetz nur ein Gesetz in einem gesunden Zustand meint. Zu beachten ist, dass die Betrachtung der Auslegung von Gesetzen im gesunden Zustand nötig ist, um belastbare Erkenntnisse auch für den mangelhaften Zustand des Gesetzes zu finden.89 Hinzu kommt, dass sich seine ganze Auslegungslehre nicht vollständig nur anhand der besagten vier Elemente erklären lässt. Unter dem Titel „Auslegung mangelhafter Gesetze“90 finden sich Savignys weitere drei, bereits angesprochenen Hilfsmittel. Diese Hilfsmittel dienen der Aus-

83 BVerGE, 11, 126, 130; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 136; Larenz  / ​ ­Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 141 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 436 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 29 ff. 84 Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 145. 85 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 223 f. 86 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 145 ff. 87 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 437; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 13; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 207. 88 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 215. 89 Savigny, a. a. O., S. 208, 318 f. 90 Savigny, a. a. O., S. 222.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

legung des Gesetzes im mangelhaften Zustand und sind damit Teil von Savignys Gesetzesauslegungslehre.91 Das zweite Hilfsmittel von Savigny, der Grund des Gesetzes bzw. die ratio legis, weist Ähnlichkeit mit der objektiv-teleologischen Auslegung auf.92 Nach Savigny habe der Grund des Gesetzes eine Dimension der Vergangenheit und eine der Zukunft: In der Vergangenheitsdimension gelte als Grund die schon vorhandene höhere Rechtsregel, deren konsequente Durchführung das gegenwärtige Gesetz beeinflusst hat und dessen Ausgangspunkt sie ist; in der zukünftigen Dimension des Gesetzesgrundes gelte als Grund die Wirkung, die durch das Gesetz hervorgebracht werden soll, sodass der Grund, von diesem Standpunkt aus, auch als Zweck oder als Absicht des Gesetzes bezeichnet wird.93 Es sei Savigny zufolge irrig, diese beiden Dimensionen der ratio legis in einem absoluten Gegensatz zu verstehen: „Vielmehr ist anzunehmen, daß dem Gesetzgeber stets beide Beziehungen seines Gedankens gegenwärtig gewesen sind. Eine relative Verschiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine, bald die andere derselben bey einzelnen Gesetzen überwiegend seyn kann.“94 So besteht Savignys Verständnis vom Grund des Gesetzes aus zwei Formen, zum einen dem rechtsdogmatischen Prinzip, das als bereits vorhandene höhere Rechtsregel zur Normkonkretisierung und damit der Folgerichtigkeit des Gesetzes dient, zum anderen dem rechtspolitischen Zweck, der eine Richtung für die zukünftige Wirkung des Gesetzes aufzeigt.95 Für Savignys Verständnis von den Gesetzesgründen ist auch zu beachten, dass sie „stets ein Verhältniß haben zu dem Wesen des Gesetzesinhaltes selbst, oder mit anderen Worten eine objective, aus dem Denken des Gesetzgebers heraustretende Natur“.96 Also wohnt Gesetzesgründen nach Savigny eine objektive Eigenschaft inne, womit Gesetzesgründe selbst für jeden erkennbar sind.97 Doch die objektiv-teleologische Gesetzesauslegung ist nicht mit dem zweiten Hilfsmittel Savignys gleichzusetzen. Die objektiv-teleologische Gesetzesaus­ legung, die von Larenz und Canaris betont worden ist, bezieht sich zwar auf die ratio legis, entspricht also insoweit dem zweiten Hilfsmittel Savignys.98 Aufgrund der Mehrdeutigkeit99 der ratio legis ist die objektiv-teleologische Gesetzesausle 91

Savigny, a. a. O., S. 207, 318 ff. Baldus, Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, S. 37, 41. 93 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 217. 94 Savigny, a. a. O., S. 217. 95 Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1, 9. 96 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 220. 97 Savigny, a. a. O., S. 220. 98 Vgl. Larenz  / ​​​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 157; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 454. 99 Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 159 f.; Reimer, Juristische Methodenlehre, Rn. 359; Schluep, Teleologisches Argument: Trivialer Joker, Trumpf-Ass oder gleichgeordnete Stichkarte?, in: Honsell u. a. (Hg.), FS Kramer, S. 292. 92

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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gung aber weiter zu verstehen: So geht diese grundsätzlich davon aus, dass das Gesetz eine vernünftige, gerechte und zweckmäßige Ordnung gestalten will.100 Dies ist dem Gesetzgeber aber selbst nicht immer von vornherein bewusst, sondern kann auch erst nachträglich im wissenschaftlichen Diskurs herausgearbeitet werden.101 Unter Berücksichtigung dieses Grundgedankens soll die objektiv-teleologische Gesetzesauslegung zwei Kriterien umfassen;102 zum einen objektive Zwecke des Rechts, die in vielen Fällen auch Gesetzeszwecke seien, wie Rechtssicherheit und gerechte Konfliktlösung, „Ausgewogenheit“ einer Regelung im Sinne optimaler Berücksichtigung der variablen Interessen, zum anderen, das jedem Gesetz zu unterstellende Streben nach einer sachgemäßen Regelung.103 Nur wenn man dem Gesetzgeber diese Absicht unterstelle, werde man im Wege der Auslegung zu Resultaten gelangen, die eine angemessene Lösung auch im Einzelfall ermöglichten.104 Diese Kriterien sollen überall dort ausschlaggebend sein, wo die anderen Auslegungskriterien noch keine eindeutige Antwort zu geben vermögen.105 Dabei gehe es zum einen um die Strukturen des geregelten Sachgegenstandes, das heißt tatsächliche Gegebenheiten, an denen auch der Gesetzgeber nichts ändern kann, und zum anderen um die rechtsethischen Prinzipien, die hinter einer Regelung stehen. Rechtsethische Prinzipien beziehen sich auf die Rechtsidee und machen deren Sinn fassbar und aussprechbar.106 Im Hinblick auf Wertungswidersprüche von objektiv-teleologischen Auslegungskriterien, die sich aus den objektiven Gesetzeszwecken ergäben, habe der Ausleger die Rechtssätze so zu lesen, „daß Wertungswidersprüche nach Möglichkeit vermieden werden“.107 Wenn die Zielsetzung eines Gesetzes zum Beispiel auf wirtschaftspolitischem Gebiet liegt, dann verlangt die teleologische Auslegung nichts anderes als das Gesetz so auszulegen, dass diese wirtschaftspolitische Zielsetzung so gut wie möglich erreicht wird. Dabei sei die Politik des Gesetzes nicht vom Zweck des Gesetzes zu unterscheiden.108 Mit diesem Verständnis des objektiven Gesetzeszwecks bei der objektiv-teleologischen Auslegung lassen sich Savignys Gesetzesgründe eher vergleichen. Savigny unterscheidet zwischen speziellen und generellen Gesetzesgründen, die nicht scharf voneinander getrennt sind: Sie liegen in einem Verhältnis des allmählichen 100

Staudinger / ​Honsell, Einleitung zum BGB, Rn. 134, 149; Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 4, Rn. 40; Bydlinski / ​Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, S. 42. 101 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 157; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 86; Braun, Deduktion und Invention, S. 68 f. 102 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 153. 103 Larenz / ​Canaris, a. a. O. 104 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 153; MüKoBGB / ​Säcker, Einleitung, Rn. 143. 105 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 153 f.; Bydlinski / ​Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, S. 43. 106 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 154. 107 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 155. 108 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 153; vgl. auch Grundmann, Methodenpluralismus als Aufgabe, RabelsZ 1997, 423, 434.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Ineinanderübergehens.109 Der generelle Grund hat Ähnlichkeit mit dem objektiven Zweck in der objektiv-teleologischen Auslegung. Aber es gibt dabei einen wichtigen Unterschied: Savigny sagt, dass der generelle Grund des Gesetzes, zum Beispiel die aequitas (Billigkeit),110 keine Auslegung beim unrichtigen Ausdruck des Gesetzes stützt.111 Denn durch den Grund des Gesetzes wird nicht erklärt, was Inhalt des Gesetzes ist, sondern nur, was in denselben konsequenterweise hätte einbezogen werden müssen, wenn sich der Gesetzgeber dieses klargemacht hätte.112 Dabei warnt Savigny davor, dass die Anführung des generellen Grundes des Gesetzes zu einer Rechtsfortbildung führen kann, die sich von der Auslegung unterscheidet.113 Beim unbestimmten Ausdruck des Gesetzes lässt sich zudem der generelle Grund des Gesetzes nur mit konkreten Auslegungsmöglichkeiten berücksichtigen, welche durch diese generelle ratio legis gerechtfertigt werden.114 Insofern geht Savigny deutlich vorsichtiger vor als die weitgehende, weniger differenzierende objektiv-teleologische Auslegung. 2. Vergleich mit der folgenorientierten Auslegung Als drittes Hilfsmittel zur Auslegung mangelhafter Gesetze erwähnt Savigny die Berücksichtigung des inneren Werts des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts.115 Savigny zufolge soll dieses Hilfsmittel nur bei der Unbestimmtheit des Ausdrucks angewendet werden können, nicht aber zur Angleichung des Ausdrucks an den eigentlichen Gedanken; letzterer Fall ist die von ihm so genannte Unrichtigkeit des Ausdrucks.116 Die Unbestimmtheit des Ausdrucks lasse sich durch „die Vergleichung des inneren Wertes desjenigen Inhalts“ aufheben, der durch die eine und die andere mögliche Auslegung des Gesetzes sichtbar wird.117 Wenn die eine Auslegungserklärung zu einem leeren und zwecklosen Inhalt führt, die andere aber nicht, könne diese Auslegungsmethode berücksichtigt werden; ebenso wenn das Ergebnis der einen Auslegungsmöglichkeit dem zu verfolgenden Zweck angemessener ist; zuletzt, wenn die eine Auslegungsmöglichkeit „ein milderes, wohlwollenderes Ziel“ erreicht als die andere.118 Von diesem Verständnis ausgehend wird von Rückert abgeleitet, dass es nach Savigny einer Folgenerwägung bei der Gesetzesauslegung bedürfe.119 Insofern ist 109

Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 219. Zur aequitas siehe BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 10 ff. 111 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 238. 112 Savigny, a. a. O. 113 Ebenda. 114 Ebenda. 115 Savigny, a. a. O., S. 225, 229 f. 116 Savigny, a. a. O., S. 225. 117 Savigny, a. a. O., S. 229. 118 Savigny, a. a. O., S. 229 f. 119 Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: Rückert / ​Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, Rn. 145. Außerdem könnte 110

A. Savignys Verständnis der Gesetzesauslegung

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diese Ansicht Savignys mit der heute vertretenen folgenorientierten Auslegung vergleichbar. Eine Folgenerwägung bei der Gesetzesauslegung bedeute, die Folgen der Auslegung zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Auslegung wegen ihrer Folgen zu korrigieren, wenn der Zweck einer Norm unklar ist.120 Grundsätzlich zieht die folgenorientierte121 Auslegung soziale, wirtschaftliche und anderweitige Folgen zum Verstehen des Gesetzesinhalts heran, wenn aus dem Gesetzeszweck keine angemessenen Auslegungsergebnisse abgeleitet werden können. Dabei ist hervorzuheben, dass die teleologische Auslegung allein nicht ausreicht, da sie wegen der Abstraktheit vieler Gesetzeszwecke nicht immer die konkrete Folgerichtigkeit gewährleisten kann. Es kommt also in Betracht, wie eine konkrete Folgenorientierung in die Gesetzesauslegung einzubeziehen wäre. Nach Ecker soll der Gedanke an die möglichen Folgen, Neben- und Begleiterscheinungen ein notwendiger Bestandteil der Gesetzesauslegung sein.122 Es sei zu beachten, dass auch die teleologische Auslegung die tatsächlichen empirischen Wirkungen von Rechtsnormen nicht vollständig ausblenden kann.123 Nach Hassemer sollen interne Folgen als dogmatische Prinzipien innerhalb der teleologischen Auslegung herangezogen werden, externe Folgen werden daneben als alle „empirisch beschreibbaren“ Wirkungen verstanden.124 Zum Beispiel gehört nach Hassemer die Sachgerechtigkeit zu den internen Folgen, während die Gefährdung der Rechtssicherheit oder die Stärkung der demokratischen Grundordnung als empirisch beschreibbarer Zustand eine externe Folge ist und innerhalb der Folgenberücksichtigung wirkt.125 Indes bleibt die Frage, ob die Folgenberücksichtigung bei der Gesetzesauslegung diesem dritten Hilfsmittel Savignys entspricht. Der Folgenbegriff ist überwiegend auf tatsächliche Auswirkungen der Gesetzesauslegung gerichtet. Er ist dabei nicht ohne weiteres mit dem inneren Wert des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts

auch die Bewertung von Auslegungsergebnissen mithilfe der ökonomischen Analyse, die heutzutage zunehmend gefordert wird, mit diesem dritten Hilfsmittel Savignys verglichen werden. Siehe dazu Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1, 9. 120 Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, S. 2; dies., Zur Einführung: Die folgenorientierte Auslegung, JuS 1995, 480; Röhl / ​Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 642. 121 Zur Folgenorientierung siehe Zabel, Postfaktisches Recht?, JZ 2019, 845, 850. 122 Ecker, Gesetzesauslegung vom Ergebnis her, JZ 1967, 265, 271; Deckert, Zur Einführung: Die folgenorientierte Auslegung, JuS 1995, 480. 123 Tröger, Regulierung durch Privatrecht, in: Hopt / ​Tzouganatos (Hg.), Das Europäische Wirtschaftsrecht vor neuen Herausforderungen, S. 301 f.; Deckert, Zur Einführung: Die folgenorientierte Auslegung, JuS 1995, 480, 482; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 150. 124 Hassemer, Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, in: Horn u. a. (Hg.), FS Coing zum 70. Geburtstag, Bd. 1, S. 513 f.; Pajunk, Die Einbindung von Folgenberücksichtigungen in den deutschen Auslegungskanon, in: Sliwiok-Born / ​Steinrötter (Hg.), Intra- und interdisziplinäre Einflüsse auf die Rechtsanwendung, S. 166. 125 Hassemer, a. a. O., S. 513 ff.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

gleichzusetzen,126 weil dieser innere wesentliche Wert die wertende Berücksichtigung der möglichen Norminhalte zum Gegenstand hat und damit in der Binnenperspektive des Rechts verbleibt, ohne auf etwaige tatsächliche Auswirkungen angewiesen zu sein. Daher kann man die folgenorientierte Auslegung in Savignys drittes Hilfsmittel nicht hineinlesen. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung seiner ursprünglichen Auslegungslehre.

B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung Durch den oben dargestellten Vergleich mit der gegenwärtigen Gesetzesauslegungslehre hat sich herausgestellt, dass diese zwar von der Gesetzesauslegungslehre Savignys ausgegangen ist, aber eine davon abweichende Entwicklung erfahren hat. Mit einer Betrachtung dieser Entwicklung lässt sich die Eigenheit der hier zu untersuchenden Gesetzesauslegungslehre und ihrer rechtsmethodischen Vorgehensweise herausarbeiten. Im vertieften Vergleich der gegenwärtigen Gesetzesauslegungslehre mit der Gesetzesauslegungslehre Savignys treten auch ihre möglichen rechtsmethodischen Probleme in Erscheinung. Sie beziehen sich beispielsweise darauf, ob und wie rechtsethische Wertungen als implizite Gesetzesinhalte behandelt werden sollen. Des Weiteren geht es angesichts von Grenzfällen, in denen beispielsweise der Wortlaut im Gesetz äußerst abstrakt ist, darum, ob in rechtsmethodischer Hinsicht die objektiv-teleologische Gesetzesauslegung Schwierigkeiten hat, korrekt einzuschätzen, wie leistungsfähig die Norm im Rahmen der Auslegung ist. Dabei stellt sich die Frage, ob die Abstraktheit des Gesetzeszwecks und dessen sehr weitgehende Erweiterungsmöglichkeit durch die objektiv-teleologische Gesetzesauslegung zu methodischen Mängeln führen. Mit der objektiv-teleologischen Gesetzesauslegung ist auch Savignys Kategorisierung der Auslegungshilfsmittel für den mangelhaften Gesetzeszustand näher zu vergleichen, um daran rechtsmethodische Probleme der objektiv-teleologischen Auslegung zu verdeutlichen. Der Kategorisierung Savignys wohnt dabei ein anderes Verständnis des Gesetzeszwecks inne, was die damit zusammenhängende Bedeutung des dritten Hilfsmittels für den mangelhaften Gesetzeszustand bei Savigny aufzeigt. Darin könnte auch der Ausgangspunkt für die rechtsmethodische Untersuchung der rechtsethischen Auslegung liegen, die nicht mehr auf den abstrakten objektiven Gesetzeszweck angewiesen ist, sondern auf eine situationsbedingte inhaltliche Ausdifferenzierung der rechtsethischen Wertungen im Gesetz.

126 Reutter, „Objektiv Wirkliches“ in Friedrich Carl von Savignys Rechtsdenken, Rechtsquellen- und Methodenlehre, S. 389.

B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung

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I. Ausgangspunkt: Unterschied zwischen der Auslegungslehre Savignys und der modernen Auslegungslehre Die moderne Gesetzesauslegungslehre wurde – wie dargestellt – von der Gesetzesauslegungslehre Savignys beeinflusst. Vor allem zeigte Savigny auf, dass die Gesetzesauslegung die Rekonstruktion der Gesetzesinhalte ist. Dabei befindet sich der Interpret in einem Spannungsfeld zwischen dem ursprünglichen Gedanken des Gesetzes und seiner gegenwärtigen Bedeutungszuschreibung.127 Zu diesem Gesichtspunkt muss allerdings das Verhältnis zwischen Savignys Gesetzesauslegungslehre und der modernen Gesetzesauslegungslehre spezifischer betrachtet werden. Diese Betrachtung bezieht sich insbesondere auf das zweite Hilfsmittel, das nach Savigny im Zusammenhang des Gesetzes mit seinem Grund liegt, und das dritte Hilfsmittel Savignys, das im inneren Wert des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts besteht. Diese Hilfsmittel Savignys zeugen von einem sehr ähnlichen Problembewusstsein wie die objektiv-teleologischen Auslegung, unterscheiden sich jedoch rechtsmethodisch. Die objektiv-teleologische Gesetzesauslegung in der modernen Gesetzesauslegungslehre unternimmt den Versuch, über den Anwendungsbereich des zweiten Hilfsmittels Savignys hinaus den des dritten mit einzuschließen. Die Beachtlichkeit der objektiv-teleologischen Kriterien für die Auslegung ergibt sich nämlich daraus, dass das betreffende Gesetz eine der Sache angemessene Regelung bezweckt.128 Demzufolge könne die objektiv-teleologische Auslegung ohne Bedenken folgenorientierte Argumente in die Betrachtung des Gesetzeszwecks einbeziehen.129 Diese Eigenschaft der objektiv-teleologischen Auslegung geht auf die objektive Zweckorientierung des Gesetzes zurück. Sie wird häufig in Zweifel gezogen, weil sie die Gefahr einer ungebremsten Zweckerweiterung durch die Interpretation birgt.130 Deswegen lehnte Savigny es auch ab, dass der generelle Grund des Gesetzes maßgeblich für die Gesetzesauslegung ist.131 Beim Vergleich zwischen Savignys und der modernen Gesetzesauslegungslehre ist zu fragen, worauf der Unterschied zwischen der Kategorisierung der Hilfsmittel Savignys und der objektiv-teleologischen Auslegung zurückgeht. Dies bezieht 127

Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 128. Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 154; Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kaufmann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 284: „Zentrale Frage ist hier: Wann ist der Rechtsanwendende berechtigt, von Zwecksetzungen, die der Gesetzgeber verfolgt hat, Abstand zu nehmen?“ 129 Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 4, Rn. 41; Leal, Ziele und Autorität, S. 53 ff., 182 f. Zur Frage, wie vielfältig die objektiv-teleologische Auslegung Anwendung finden kann, siehe Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, S. 365 ff. 130 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 147; Herzberg, Kritik der teleologischen Gesetzesauslegung, NJW 1990, 2525, 2529 f. 131 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 238. 128

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

sich unmittelbar darauf, warum Savigny das zweite und das dritte Hilfsmittel stufenweise auseinanderhielt und wieso er das dritte Hilfsmittel nur auf Fälle der Unbestimmtheit anwendete. Durch das Nachdenken über diese Frage wird die mit der Überschreitung von Savignys Kategorien zusammenhängende Gefahr der objektiv-teleologischen Auslegung näher herausgearbeitet. Damit lässt sich auch ein besseres Verständnis von der Gesetzesauslegung als solcher erlangen. Im weiteren Verlauf wird schließlich die rechtsmethodische Einordnung und Stellung der rechtsethischen Auslegung analysiert.

II. Kritik an der Methodenunklarheit der objektiv-teleologischen Auslegung Die objektiv-teleologische Auslegung setzt grundsätzlich voraus, dass es bei ihren Kriterien nicht darauf ankommt, dass sich der Gesetzgeber ihrer Bedeutung für die von ihm geschaffene Regelung stets bewusst gewesen ist.132 Dabei wird die Objektivität des Gesetzeszwecks mithilfe der hermeneutischen Bearbeitung herausgearbeitet:133 Ein Gesetzestext könne danach klüger als sein Verfasser sein.134 Damit handelt es sich bei objektiv-teleologischen Kriterien nicht um empirisch festgestellte, sondern um normativ deklarierte Zwecke des Gesetzes. Diese Kriterien sollen sich folglich auf Prinzipienargumente beziehen.135 Demnach legt die objektiv-teleologische Auslegung das Hauptaugenmerk nicht auf die Suche nach verborgenen Inhalten des gegebenen Gesetzestextes, sondern auf die Suche nach Rechtsgedanken, die dem Gesetz einen überzeugenden rechtlichen Sinn verleihen.136 Von diesem Charakter der objektiv-teleologischen Auslegung wird häufig befürchtet, dass er eine willkürliche Lockerung der Gesetzesbindung durch eine 132

Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 154. Schluep, Teleologisches Argument: Trivialer Joker, Trumpf-Ass oder gleichgeordnete Stichkarte?, in: Honsell u. a. (Hg.), FS Kramer, S. 292. 134 Siehe dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 107; Rüthers, Personenbilder und Geschichtsbilder – Wege zur Umdeutung der Geschichte?, JZ 2011, 593, 600; ders., Miniatur: „Das Gesetz ist oft klüger als seine Verfasser“, ZfPW 2016, 383, 383 f.; Canaris, „Falsches Geschichtsbild von der Rechtsperversion im Nationalsozialismus“ durch ein Porträt von Karl Larenz?, JZ 2011, 879, 886; Höpfner / ​Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 2009, 1, 7; MüKoBGB / ​Säcker, Einleitung, Rn. 80; Looschelders / ​Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, S. 39; Honsell, Die rhetorischen Wurzeln der juristischen Auslegung, ZfPW 2016, 106, 120. 135 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 296 f., 299; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, S. 127; Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 13 f.; Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 384; vgl. auch Barck, De Legum interpretatione, S. 126. 136 Braun, Deduktion und Invention, S. 69. Nach der Meinung von Looschelders und Roth diene die teleologische Auslegung dazu, die Wertentscheidung darzulegen, die der Gesetzgeber bei Kenntnis der Streitigkeit mutmaßlich getroffen hätte. Siehe dazu Looschelders / ​Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, S. 160 ff. 133

B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung

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unklare Bestimmung des Gesetzeszwecks verursachen kann.137 Würde dieser Gesetzeszweck auf eine sehr freie Weise zu weit bestimmt, könnte dies in einer Ethisierung des Rechts enden. Dieser unklaren und kaum beherrschbaren Bestimmung des objektiven Gesetzeszwecks wohnt zugleich die Gefahr inne, dass dabei die Frage nach einer Begründbarkeit des Gesetzeszwecks verschleiert wird.138 In diese Richtung wirkt auch der zu abstrakte Bedeutungsgehalt des objektiven Gesetzeszwecks selbst: Zwecke sind nicht objektiv gegeben, sondern sie werden durch Interpretation gewonnen. Dies wird bereits dadurch erwiesen, dass die objektiv-teleologische Auslegung die außerrechtliche rechtspolitische Erwägung und die Folgenorientierung – ohne notwendigerweise hinterfragenden Blickwinkel – in den objektiven Gesetzeszweck einzuschließen versucht.139 Dieser Versuch ist darauf angewiesen, dass die Ausgewogenheit der betroffenen Interessen nach den objektiven Zwecken des Gesetzes berücksichtigt wird.140 So wird der objektive Gesetzeszweck durch die objektiv-teleologische Auslegung verwendet, um ihre auf irgendeine Weise abgeleiteten Auslegungsergebnisse zu fundieren. Anstelle einer gerechten Konfliktlösung mit individueller situationsbedingter Rechtfertigung des möglichen Gesetzesinhalts kann der objektive Zweck des konkreten Gesetzes selbst nur auf das Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit oder das Rationalitätsgebot abheben. Demnach lässt sich die objektive-teleologische Auslegung nicht mehr als eine Auslegung des Gesetzes, sondern als „eine Auslegung des objektiv Vernünftigen“ ansehen.141 Dieses Verständnis ist darauf zurückzuführen, dass bei der objektiv-teleologischen Auslegung der objektive Gesetzeszweck mit überpositiven Prinzipien verbunden wird, ohne dass es eine Methodenklarheit gibt. Keineswegs kann das Gesetz die unbegrenzt vielen Einzelfälle umfassen. Für Lösungen der mit Gesetzesinhalten zusammenhängenden Fälle kann das Gesetz auch keine generell maßgebende Gerechtigkeit bieten, sondern es räumt einen

137

Auer, Methodenkritik und Interessenjurisprudenz – Philipp Heck zum 150. Geburtstag, ZEuP 2008, 517, 529; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 677 f.; Seybold / ​Sandner / ​Weiß, Richterliche Selbstbindung durch Methodenlehren – eine Frage der Ethik, ARSP 2015, 319, 328 f.; Busse, Juristische Semantik, S. 31; Schünemann, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 95 f. 138 Vgl. Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, S. 135; Albert, Kritik der reinen Hermeneutik, S. 187; ders., Kritische Vernunft und rationale Praxis, S. 178. 139 Röhl / ​Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 622; Schünemann, Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, in: Kohlmann (Hg.), FS Klug zum 70. Geburtstag, Bd. I, S. 185; Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, in: Bumke (Hg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, S. 88 f.: „als ein trojanisches Pferd“. 140 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153; vgl. Pajunk, Die Einbindung von Folgenberücksichtigungen in den deutschen Auslegungskanon, in: Sliwiok-Born / ​ Steinrötter (Hg.), Intra- und interdisziplinäre Einflüsse auf die Rechtsanwendung, S. 163 f. 141 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 110.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

lediglich begrenzten Bewertungsmaßstab ein.142 Indem der insoweit abstrakte objektive Gesetzeszweck bei der objektiv-teleologischen Auslegung maßgebend ist, kann sie eine intransparente Argumentation und eine Methodenunklarheit über die Abgrenzung zwischen Gesetzesauslegung und juristischer Rechtfertigung nicht verhindern.143 Denn die punktuelle Relevanz der rechtsethischen Wertungen lässt sich durch eine objektive Zwecksetzung des Gesetzes verschleiern, welche die jeweilige Leistungsfähigkeit des Gesetzes übersteigen kann. Darüber hinaus verwischt das Verhältnis zwischen der systematischen und der objektiv-teleologischen Auslegung.144 Denn objektiv-teleologische Kriterien sind auch auf der Seite der systematischen Einheit bzw. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung145 zu berücksichtigen,146 da sie in Form von Gesetzeszwecken in die Rechtsordnung eingebettet sind. Dies ist unter anderem der Fall, wenn man objektiv-teleologische Kriterien zum Gesetzeszweck aus der Verfassung herleitet. Dieses undeutliche Verhältnis zwischen der systematischen und der objektiv-telelogischen Auslegung spiegelt auch die Methodenunklarheit der objektiv-telelogischen Auslegung wider, die auf die Unklarheit des objektiven Gesetzeszwecks zurückgeht. Zudem kann die objektiv-teleologische Auslegung mit ihrer Suche nach dem objektiven Gesetzeszweck zur Verfolgung eines vermeintlich einseitigen und einheitlichen Zwecks führen, sodass die Normanwendung andere, nicht vollständig entgegenstehende Interessenlagen außer Betracht lässt.147 Denn der Zweck selbst untermauert meist das Interesse der Mehrheit; demnach lassen sich Einflüsse der Gegeninteressen nicht hinreichend berücksichtigen.148 In diesem Sinne erscheint 142

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b13 ff.; ders., Rhetorik, 1374a31–34; Hamacher, Sprachgerechtigkeit, S. 42. 143 Rüthers / ​Fischer / ​Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 813 ff.; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, S. 47; Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, S. 85 f.; Seinecke, Methode und Zivilrecht bei Claus-Wilhelm Canaris, in: Rückert / ​ Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts, Rn. 1019, 1078; Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 4, Rn. 44. 144 Herzberg, Kritik der teleologischen Gesetzesauslegung, NJW 1990, 2525, 2530; Wendehorst, Von Arbeit im Recht, am Recht und über Recht, in: Heldrich u. a. (Hg.), FS Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. II, S. 1408. So wird sogar angenommen, dass die teleologische Auslegung von der systematischen Auslegung kaum zu trennen ist. Vgl. Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 264. 145 Die Einheit der Rechtsordnung gehört zu den Postulaten der systematischen Auslegung, die daneben aus der Widerspruchsfreiheit, der Nichtredundanz, der Vollständigkeit und der systematischen Ordnung bestehen, vgl. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 124 ff. 146 Grigoleit, Dogmatik – Methodik – Teleologik, in: Auer u. a. (Hg.), FS Canaris zum 80. Geburtstag, S. 247; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 91 f. 147 Ott, Kritik der juristischen Methode, S. 44 f.; Rüthers / ​Fischer / ​Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 808; Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 96; vgl. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. VI, S. 338 f.; Derrida, Schurken, S. 170. 148 Vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 46.

B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung

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es inkonsequent, in die objektiv-teleologische Auslegung auch noch die Folgenorientierung einzubeziehen, die sich nicht einheitlich, sondern individuell und situationsabhängig auf konkrete Ergebnisse der Gesetzesauslegung richtet. Nur der Leser oder Interpret kann den zu interpretierenden Text feststellen und verstehen, nicht der Text selbst.149 Die Feststellung des sogenannten „objektiven“ Gesetzeszwecks birgt damit immer die Gefahr, dass der Interpret sich zu weit vom Gesetzestext entfernt. Dies verdeutlicht die selbstimmunisierende Eigenschaft150 der objektiv-teleologischen Auslegung, die aus der zu starken Betonung der generalisierenden Gestaltungskraft des Gesetzestexts resultiert. Um eine die zulässigen Grenzen überschreitende Selbstbegründung des Gesetzesinhalts mit dem objektiven Gesetzeszweck zu vermeiden, sollten die Besonderheiten jedes Gesetzes respektiert werden, die immer mit den Lösungen von Anwendungsfällen zusammenhängen. Zugleich ist der Gesetzestext nicht im Sinne eines als einheitlich gedachten151 Gesetzeszwecks zu verstehen, sondern muss punktuell durch rechtsethische Rechtfertigungen ergänzt werden. Das Wichtige ist dabei immer die Frage, inwieweit rechtsethische Wertungen interessengerecht und situationsbedingt im Spannungsfeld zum Postulat der Bindung an das Gesetz zu verwirklichen sind. Es muss also das Spannungsverhältnis zwischen möglichen Normgehalten und der rechts­ ethischen Wertung betrachtet werden. Die methodische Struktur einer auf rechtsethische Wertungen bezogenen Gesetzesauslegung muss dies berücksichtigen.

III. Rechtsmethodische Bedeutung der Kategorisierung der Hilfsmittel Savignys für die Gesetzesauslegung Um rechtsmethodische Probleme der heutigen objektiv-teleologischen Gesetzesauslegung zu verdeutlichen und sie zu vermeiden, kann erneut auf die Gesetzesauslegungslehre Savignys abgestellt werden. Savigny setzte sich auch mit der ratio legis als zweitem Hilfsmittel beim mangelhaften Gesetzeszustand auseinander, welche dem objektiven Gesetzeszweck im Sinne der objektiv-teleologischen Auslegung ähnelt. Bei der Gesetzesauslegung sah Savigny den Gesetzeszweck gerade nicht nur als allgemeine objektive Prinzipien an, sondern als harmonisches Verhältnis zwischen der rechtsdogmatisch sowie gesamtrechtssystematisch konsequenten Zielverfolgung und der rechtspolitischen Überlegungen für die Zukunft.152 Hierbei stellt sich auch die Frage, warum es bei der Gesetzesauslegungslehre Savignys noch 149

Rüthers, Personenbilder und Geschichtsbilder – Wege zur Umdeutung der Geschichte?, JZ 2011, 593, 600; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 146. 150 Zu einem ähnlichen Gedanken siehe Dworkin, Law’s Empire, S. 400 ff. 151 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 518; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 165. 152 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 217.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

des dritten Hilfsmittels – der Überprüfung des inneren Werts des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts – neben dem zweiten Hilfsmittel bedarf. Damit wird die weitere Frage aufgeworfen, weshalb das dritte Hilfsmittel ­ avignys beim mangelhaften Gesetzeszustand einen anderen Anwendungsbereich S hat – und zwar nur die Unbestimmtheit der gesetzlichen Termini. Diese Fragen betreffen einen wichtigen Unterschied zur objektiv-teleologischen Auslegung, weil diese mit objektiven Elementen der Gesetzesauslegung den objektiven Gesetzeszweck ermittelt, ohne deren jeweiligen Anwendungsbereich genauer einzugrenzen. Bei der Auseinandersetzung mit der Kritik an der objektiv-teleologischen Auslegung ist dabei die rechtsmethodische Bedeutung dieser Kategorisierung der Hilfsmittel ­Savignys für die Gesetzesauslegung näher zu betrachten. Indem man materielle Gehalte des zweiten und dritten Hilfsmittels S ­ avignys analysiert, nämlich der Gesetzesgründe und der Betrachtung des inneren Werts der Auslegungsergebnisse, lässt sich überprüfen, welche rechtsmethodische Bedeutung gerade die Kategorisierung der Hilfsmittel ­Savignys im Vergleich zur objektiv-teleologischen Auslegung hat. Die objektiv-teleologische Auslegung würde das zweite und das dritte Hilfsmittel ­Savignys bei einem mangelhaften Gesetzeszustand jeweils als Untersuchung des objektiven Gesetzeszwecks einordnen. Aber ­Savigny unterscheidet diese Hilfsmittel ausdrücklich. Allerdings geht es bei ­Savignys Verständnis der Gesetzesgründe auch um objektivierte Gesetzesgründe.153 Diese hätten sodann eine „objective, aus dem Denken des Gesetzgebers heraustretende Natur“.154 Doch auch so beinhalten sie keine rein abstrakten Normgehalte, die unabhängig von konkreten Gesetzesinhalten vorstellbar sind. Bei diesen handelt es sich dann insbesondere nicht um – bei ­Savigny so bezeichnete  – generelle Gründe des Gesetzes, sondern um den „specielle[n], mit dem Inhalt des Gesetzes unmittelbar verwandte[n] Grund“.155 Anders als die objektiv-teleologische Auslegung von Larenz und Canaris, welche beispielsweise die „Ausgewogenheit einer Regelung“, „gerechte Streitentscheidung“ oder „Friedenssicherung“ als Gesetzeszweck heranzieht,156 ist die Zweck­ avigny nicht generell objektiviert, sondern sie kann setzung des Gesetzes bei S nur im Verhältnis mit dem konkreten Gesetzesinhalt betrachtet werden. Insoweit verstand S ­ avigny den Gesetzeszweck nicht als idealisierte Vernunft. Er verstand den Gesetzeszweck vielmehr als ein Hilfsinstrument, um zu einem tieferen Verständnis der vorgegebenen Gesetzesinhalte zu gelangen. Hervorzuheben ist dabei, dass der Gesetzeszweck aus einem unmittelbaren Zusammenhang mit den konkreten Gesetzesinhalten abzuleiten ist. Dies begrenzt die Einbeziehung des Gesetzeszwecks nach der konkreten und spezifischen Wer 153

­Savigny, a. a. O., S. 220; vgl. Reutter, „Objektiv Wirkliches“ in Friedrich Carl von S ­­ avignys Rechtsdenken, Rechtsquellen- und Methodenlehre, S. 382. 154 ­Savigny, a. a. O., S. 220. 155 ­Savigny, a. a. O., S. 228. 156 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153.

B. Notwendigkeit der rechtsethischen Auslegung

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tung der jeweiligen Norm ohne darüberhinausgehende Generalisierung. ­Savigny warnte bereits eindringlich vor der unzulässigen Erweiterung der Gesetzesgründe:157 Auch wenn der Gesetzesgrund im Gesetz selbst ausgesprochen wird, darf dieser nach S ­ avignys Verständnis nicht ohne weiteres als Bestandteil des das Recht bestimmenden Gesetzesinhalts angesehen werden.158 So werden nach ­Savigny Gesetzesgründe zumeist vom Interpreten hinzugefügt, indem der Interpret beispielsweise eine allgemeine Regel als Gesetzesgrund festlegt.159 Aus diesen Gründen hütete sich ­Savigny vor dem Einfluss der generellen Gesetzesgründe auf die Gesetzesauslegung.160 Mit dem dritten Hilfsmittel zeigt ­Savigny den möglichen Einfluss von rechtsethischen Wertungen auf das Gesetz, indem er über immanente rechtliche Werte reflektiert, anhand derer der Gesetzesinhalt verstanden und erklärt werden kann. So versuchte er, durch das dritte Hilfsmittel die Möglichkeit einer anderweitigen Auslegung stets zu bedenken, insbesondere wenn die eine Verständnismöglichkeit ein „milderes, wohlwollenderes“ Auslegungsergebnis herbeiführt als die andere.161 Mit dem Vergleichen der möglichen Auslegungen versuchte S ­ avigny, sich einem insgesamt angemesseneren Auslegungsergebnis anzunähern. Nicht aus dem Gesetzesgrund selbst, sondern aus der punktuellen Beachtlichkeit der rechtsethischen Wertungen ergibt sich die Notwendigkeit dieser vergleichsorientierten Auslegung. Dass sie notwendig ist, sagt allerdings noch nichts zu der Frage, ob und wie tragfähig sie begründet ist, was für die Überzeugungskraft der Auslegung aber von immenser Bedeutung ist. Das Gesetz muss jedoch aufgrund der Gesetzesauslegung mit seinen möglichen, sehr pluralistischen Verständnissen auf einen konkreten Fall angewendet werden. Dabei richtet sich die rechtsmethodische Suche nach der zutreffenderen Gesetzesauslegung auf das unter den gegebenen Umständen bestmögliche Verständnis der Norm; im Auslegungsprozess werden die Interessen einbezogen.162 Damit bezieht sich das dritte Hilfsmittel ­Savignys auf die praktische Rechtsanwendung und deren Begründung. Die vergleichsorientierte Auslegung führt unmittelbar zu den Themenkreisen der Begründung und Kritik der Gesetzesauslegung sowie der Konkretisierung der unbestimmten rechtsethischen Begriffe. Denn eine schlichte Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten der Gesetzesauslegung ist weder stets überzeugend noch das Ergebnis eingehender Auseinandersetzung mit dem Gesetzesinhalt. Eine an 157 ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 216 f.: „Ist es nun die Aufgabe der Auslegung, uns den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtseyn zu bringen, so liegt Alles, was nicht Theil dieses Inhalts ist, wie verwandt es ihm auch seyn möge, streng genommen außer den Gränzen jener Aufgabe. Dahin gehört also auch die Einsicht in den Grund des Gesetzes (ratio legis).“ 158 ­Savigny, a. a. O., S. 218. 159 ­Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 107. 160 ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 238. 161 ­Savigny, a. a. O., S. 229 f. 162 Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 53.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

derweitige Auslegung ist vor allem dann beachtlich, wenn rechtsethische Wertungen eine solche Sichtweise des Gesetzesinhaltes rechtfertigen. Die Leistungsfähigkeit des Gesetzes zur anderweitigen Auslegung hängt entscheidend davon ab, ob und inwieweit rechtsethische Wertungen im Gesetz erkennbar sind. Obwohl die rechtsethischen Wertungen als immanente rechtliche Werte des Gesetzes gekennzeichnet sind, sind sie nicht ohne weiteres als Gesetzeszweck anzusehen. Das Gesetz schreibt ihnen keinen bestimmten Inhalt zu. Denn aufgrund der Trennung von Legalität und Legitimität,163 wobei die Legitimität nicht auf die Legalität reduziert wird, lassen sich rechtsethische Wertungen nicht vollständig aus der jeweiligen Norm bestimmen. Die Legitimität braucht über die bloße Legalität hinausreichende Gründe. Sie können im Gesetz unterschiedlich stark formuliert und ausgeformt sein und folgen aus einer rechtsethischen Rechtfertigung und der eingehenden Kritik. Zum Beispiel kommt der Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit beim Dreipersonenverhältnis im Bereicherungsrecht nicht gleichförmig zum Zuge. Trotz des rechtsdogmatischen Vorrangs der Leistungskondiktion lässt sich je nach Interessenlage die Möglichkeit einer Direktkondiktion in Betracht ziehen.164 Dabei verwirklicht sich das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit einerseits als Äquivalenz, die auf eine Risikoverteilung im Zweipersonenverhältnis angewiesen ist. Dazu werden lediglich vertragliche oder gesetzliche Ansprüche von Parteien des Zweipersonenverhältnisses und deren Inhalte herangezogen. Andererseits gilt die ausgleichende Gerechtigkeit auch als Äquivalenz, die auf die Billigkeit zwischen herauszugebenden und zu fordernden Bereicherungsgegenständen im Dreipersonenverhältnis gerichtet ist, ohne an die Risikoverteilung des zweiseitigen Verhältnisses gebunden zu sein. Dies zeigt an, dass auch Widersprüche bzw. Antinomien der rechtsethischen Wertungen im geltenden Recht vorhanden sein können.165 Erst angesichts gegenläufiger Interessenlagen lässt sich klären, wie und in welchem Ausmaß rechtsethische Wertungen im Spannungsfeld zwischen dem rechtsdogmatischen Verständnis und der rechtsethischen Rechtfertigung verwirklicht werden ­ avigny bei, welches versucht, den können. Dazu trägt das dritte Hilfsmittel von S Gesetzesinhalt dadurch zu ergründen, dass die Realisierbarkeit von rechtsethischen Wertungen untersucht wird. In diesem Sinne geht das dritte Hilfsmittel von ­Savigny wesentlich über eine einfache Folgenorientierung hinaus. In dessen Mittelpunkt steht der Vergleich zwischen zwei Auslegungsergebnissen, einem angemesseneren, in ­Savignys Worten auch dem „milderen oder wohlwollenderen“, gegenüber einem weniger angemessenen, weniger milden oder weniger wohlwollenden. Dabei handelt es sich um den 163 Siehe dazu Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 80; von der Pfordten, Rechtsphilosophie, S. 47 f.; Agamben, Das Geheimnis des Bösen, S. 11; Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, S. 31. 164 BGHZ 205, 377, 385 ff.; Thielmann, Gegen das Subsidiaritätsdogma im Bereicherungsrecht, AcP 1987, 23, 58; Auer, Privatrechtsdogmatik und Bereicherungsrecht, in: Auer u. a. (Hg.), FS Canaris zum 80. Geburtstag, S. 542 f. 165 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 7 ff.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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„inneren Wert“ der Auslegungsergebnisse. Dieser bezieht sich auf die Realisierbarkeit rechtsethischer Wertungen, die sich angesichts entgegengesetzter Interessenlagen mehreren denkbaren Auslegungsweisen des Gesetzes gegenüber sieht. ­Savignys Untersuchung der problembezogenen Auslegung richtet sich folglich nicht auf einen vereinheitlichten Gesetzeszweck, sondern arbeitet die Variabilität des Gesetzesinhaltes je nach Interessenlage heraus. Um der Gefahr vorzubeugen, dass dadurch der Inhalt des Gesetzes ignoriert wird, setzte S ­ avigny voraus, dass das dritte Hilfsmittel nur auf die Unbestimmtheit, nicht auf die Unrichtigkeit des Gesetzesausdrucks angewendet werden soll.166 Wenn man dieses dritte Hilfsmittel auch auf die Unrichtigkeit des Gesetzesausdrucks anwenden würde, wäre dies keine Verbesserung des Verständnisses vom Gesetzestext, sondern vielmehr „eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst“.167 Mit einer Erstreckung des dritten Hilfsmittels auf den unrichtigen Gesetzesausdruck verwischte der Unterschied zwischen der Gesetzesauslegung und ­ avignys nach dem zweiten und der Rechtsfortbildung.168 Für die Kategorisierung S dem dritten Hilfsmittel ist es also wesentlich, dass der Gesetzeszweck bzw. der Grund des Gesetzes nicht die gesamte Methodik bietet, um implizite Gesetzesinhalte zu ergründen. Es gibt regelmäßig verschiedene Auslegungsmöglichkeiten. Vorzug erhält diejenige, welche mit ihren rechtsethischen Wertungen das gesetzliche Ziel besser abzubilden vermag. Dies läuft somit auf einen Vergleich der für einen abstrakten Gesetzesinhalt relevanten Bedeutungen hinaus, die sich aus rechtsethischen Wertungen ergeben.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung Ausgehend von der Kritik an der objektiv-teleologischen Auslegung und auf der Grundlage des dritten Hilfsmittels ­Savignys beim mangelhaften Gesetzeszustand, nämlich der Prüfung des inneren Werts des Auslegungsergebnisses, lässt sich die rechtsethische Auslegung rechtsmethodisch einordnen. Vor allem versucht sie, die Intransparenz zu vermeiden, welche die objektiv-teleologische Auslegung bei der Suche nach dem Gesetzeszweck hinterlässt. Dafür vergleicht die rechtsethische Auslegung verschiedene Auslegungsmöglichkeiten, die mit rechtsethischen Wertungen im Gesetz verknüpft werden. Damit richtet sie sich nicht auf ein vereinheitlichtes Verständnis des Gesetzesinhalts, sondern auf eine punktuelle, situationsbedingte Herangehensweise mit dem Ziel, den milderen und angemesseneren Gesetzesinhalt herauszuarbeiten. Im Folgenden wird betrachtet, welche rechtsmethodische Eigenschaft der rechtsethischen Auslegung innewohnt.

166

­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 225. ­Savigny, a. a. O., S. 240. 168 Ebenda. 167

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

I. Grundposition der rechtsethischen Auslegung Die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist nicht gänzlich von ihrer normativpraktischen Begründung zu trennen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Gesetzesauslegung nicht nur eine literarische Neugier oder ein sprachliches Erklärungsbedürfnis bedient, sondern in der Regel mit dem Ziel einer praktischen Lösung betrieben wird. Dies ist eine Besonderheit der Gesetzesauslegung gegenüber einer rein philologischen Textinterpretation.169 In diesem Sinne rechtfertigt die Gesetzesauslegung unmittelbar die praktische Gesetzesanwendung, die sich darauf bezieht, ob ein Anspruch aufgrund rechtlicher Regeln besteht oder nicht besteht. Somit ist die Gesetzesauslegung selbst nicht von einer anwendungsorientierten Bedeutungsbegründung des Gesetzesinhalts trennbar.170 Das Verhältnis zwischen der sprachlichen Erläuterung und der Begründung des Gesetzesinhalts hängt von der Eindeutigkeit der Gesetzesvorschrift ab. Ein weiterer Faktor ist die mögliche Widersprüchlichkeit der rechtsethischen Wertungen, welche die Lösung eines Falls erschweren kann. Insbesondere bei der Suche nach der zutreffenden Auslegung des Gesetzes für den zu entscheidenden Sachverhalt rückt die Begründung des Gesetzesinhalts in den Vordergrund. Die rechtsethische Auslegung steht in engem Zusammenhang mit der Bedeutungsbegründung. Denn jene fragt, inwieweit rechtsethische Wertungen als implizite Gesetzesinhalte berücksichtigt werden können. Die rechtsethische Auslegung bedeutet demnach, dass bei der Gesetzesauslegung rechtsethische Argumente berücksichtigt werden. In dieser Hinsicht ist die rechtsethische Auslegung wertbezogen.171 Anders als die objektiv-teleologische Auslegung bezieht die rechtsethische Auslegung rechtsethische Argumente nicht ohne weiteres in den Gesetzeszweck ein. Zwar sind solche in das Gesetz teilweise einbezogen, aber auch dann nicht vollständig. Denn das Gesetz kann nicht einheitlich alle Inhalte einer rechtsethischen Wertung erfassen. So sehr das Gesetz auch rechtsethische Wertungen integriert, kann der Gesetzesinhalt doch nicht mit ihnen gleichgesetzt werden. Keinesfalls ist alles, was die rechtsethischen Wertungen behandeln, in das Gesetz einbezogen. Dies geht insbesondere auf das Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität zurück,172 nach dem beides zwar aufeinander bezogen, aber nicht zur gänzlichen Übereinstimmung zu bringen ist. Ein weiterer Grund ist die normative Anforderung, wonach das Recht nicht einer uferlosen Ethisierung unterworfen werden 169

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 364 f. Vgl. MacCormick / ​Summers, Interpretation and Justification, in: MacCormick / ​Summers (eds.) Interpreting Statutes, S. 511 f.: „interpretation-as-justification“; Somek / ​Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, S. 52 f. 171 Zur allgemeinen Erklärung der Wertbezogenheit der Gesetzesauslegung vgl. MacCormick / ​Summers, Interpretation and Justification, in: MacCormick / ​Summers (eds.) Interpreting Statutes, S. 532 ff., 538. 172 Vgl. Agamben, Das Geheimnis des Bösen, S. 11, 31; Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, S. 31. 170

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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darf. In diesem Zusammenhang drohten Legitimität und die Legalität ineinander überzugehen, wenn ein umfangreicher Gesetzeszweck mit seiner Wertbezogenheit die inhaltlichen Grenzen des Gesetzes verdunkelt. Es besteht dabei die Gefahr, dass über eine Heranziehung des objektiven Gesetzeszwecks die Bindung an das Gesetz gefährdet wird, indem der Gesetzeszweck ohne nähere Anhaltspunkte als legitim und gewollt behandelt wird. Um diese Gefahr zu vermeiden, ist das Spannungsverhältnis zwischen dem gegebenen Gesetzesinhalt und der rechtsethischen Rechtfertigung und Kritik hervorzuheben und genauer zu betrachten. Der gegebene Gesetzesinhalt kann dabei in Konflikt zu möglichen rechtsethisch begründeten Normgehalten geraten. Dieses Spannungsverhältnis wird erst angesichts konkreter, gegenläufiger Interessenlagen zum akuten Problem. Es legt nahe, die Auslegung flexibel vorzunehmen und nicht ausschließlich an der ausdrücklichen Bedeutung des Gesetzesinhalts haften zu bleiben. Also ist es wichtig zu ergründen, wie rechtsethische Argumente je nach Interessenlage punktuell das Gesetz und ein Verständnis dessen beeinflussen können. In diesem Sinne wird durch die rechtsethische Auslegung in einem ersten Schritt ermittelt, inwieweit rechtsethische Argumente im Gesetz und Recht verankert sind. In einem zweiten Schritt werden rechtsethische Argumente und Wertungen situationsbedingt in die Gesetzesauslegung einbezogen, ohne sie über ihre Bedeutung für den Gesetzesinhalt hinaus zu generalisieren. Rechtsethische Argumente stehen aber nicht immer mit dem Gesetzesinhalt in Widerspruch. Je nach rechtsethischem Argument kann die rechtsethische Auslegung dazu dienen, einerseits die gesetzgeberischen Ziele und Wertungen und die ausdrücklichen Gesetzesinhalte zu betonen, andererseits aber implizite Gesetzesinhalte freizulegen. Demzufolge schafft die rechtsethische Auslegung kein einheitliches Prüfungssystem der relevanten rechtsethischen Wertungen,173 sondern sie passt im Spannungsfeld zwischen rechtsdogmatischem Verständnis und rechtsethischer Rechtfertigung das Verständnis von positiven Rechtssätzen an die Interessenlage an. Diese Eigenschaft der rechtsethischen Auslegung ergibt sich daraus, dass rechtsethische Wertungen mit ihren verschiedenen inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten einschließlich normativen und empirischen Erkenntnissen über die Existenz und Wirkungsweise des Rechts zusammentreffen. Durch diese Variabilität können auch Widersprüche zwischen den rechtsethischen Wertungen hervortreten. Die rechtsethische Auslegung nimmt diese möglichen Widersprüche ernst. Sie strebt jedoch nach einer in der jeweiligen Situation interessengerechten Gesetzesauslegung. Dabei wird eine angemessene Lösung unterbreitet, ohne den Gesetzesinhalt zu vernachlässigen. Die über die Grundposition hinausgehende Analyse der rechtsethischen Auslegung erschließt sich erst durch den Vergleich mit anderen Methoden, wie etwa der juristischen Hermeneutik, der juristischen Argumentationslehre sowie der Norm 173

BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 215 ff.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

konkretisierung. Diese Methodenlehren beziehen sich im Regelfall darauf, wie der Einfluss der rechtsethischen Argumente auf die Gesetzesauslegung und die juristische Entscheidung gestaltet und gerechtfertigt werden kann. Im Vergleich zu diesen Methodenkonzepten lassen sich im Folgenden die weiteren Wesensmerkmale der rechtsethischen Auslegung feststellen.

II. Vergleich mit der juristischen Hermeneutik Die rechtsethische Auslegung ist zunächst im Vergleich mit der juristischen Hermeneutik zu betrachten, die überwiegend von der philosophischen Hermeneutik174 des 20. Jahrhunderts, insbesondere von der Hermeneutik Gadamers, beeinflusst ist.175 Grundsätzlich richten sich sowohl die juristische Hermeneutik als auch die rechtsethische Auslegung auf eine anwendungsorientierte Gesetzesauslegung. Allerdings bestehen auch Unterschiede, unter anderem der, dass die rechtsethische Auslegung nicht immer mit dem hermeneutischen Zirkel verknüpft ist. 1. Gefahr beim hermeneutischen Zirkel Unter dem Einfluss der philosophischen Hermeneutik entwickelte sich die juristische Hermeneutik mit ihren vielfältigen Ausprägungen.176 Die prominenteste sprichwörtliche Wendung innerhalb der juristischen Methodenlehre des 20. Jahrhunderts ist wohl jene vom „Hin- und Herwandern des Blicks“177 zwischen dem Tatbestand der Norm und dem Sachverhalt. Wird dieser stetige, beidseitig prüfende Blick auf die Gesetzesauslegung angewendet, dann geht es um drei Verhältnisse: das Verhältnis zwischen dem Vorverständnis und der Norm, zwischen dem einzelnen, zu betrachtenden Normausschnitt und dem Ganzen sowie zwischen der 174 Die philosophische Hermeneutik als die erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Prinzipien von Verstehen und Interpretieren unterscheide sich nach Hösle von der Hermeneutik als Kunstlehre der Interpretation. Siehe dazu Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 35 f., 404. 175 Nach Klatt sei dies die juristische Hermeneutik im engen Sinn. Siehe dazu Klatt, Juristische Hermeneutik, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 224. 176 Siehe dazu Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch (Hg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S. 7 ff.; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 1 ff.; Sorge, Zwischen Kritik, Konsens und Reflexion: Hermeneutisch-rhetorische Traditionen der Rechtsfindung, in: Meder u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 185 f. 177 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 117 f.; vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 197 ff.; Pavčnik, Auf dem Weg zum Maß des Rechts, S. 173 ff.; Günther, Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral, ARSP-Beiheft 45, 36 ff.; Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, S. 563 ff.; vgl. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, in: Gesamtausgabe, Bd. 62, S. 346 f.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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Norm und dem Sachverhalt.178 Dabei sollen das Textganze und dessen Teile vom Interpreten in eine Entsprechung gebracht werden, wobei sich die Bedeutung des Texts nicht nur aus einzelnen Wörtern und Sätzen, sondern auch aus dem gesamten Sinnzusammenhang ergibt.179 Auch wird der Zusammenhang der Norm mit dem Sachverhalt thematisiert.180 Die Verwendung des Ausdrucks vom „Hin- und Herwandern des Blicks“ im Rahmen der juristischen Hermeneutik steht in engem Zusammenhang mit der gedanklichen Konstruktion des hermeneutischen Zirkels, die in der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts hervorgehoben wurde.181 Zu betrachten ist vor allem, worin die Konstruktion des hermeneutischen Zirkels ihren Ursprung hat und wozu dieser erdacht worden ist. Dies beantwortet die Frage, ob die Übertragung des hermeneutischen Zirkels auf die juristische Hermeneutik Schwierigkeiten mit sich bringt. Der hermeneutische Zirkel setzt grundsätzlich voraus, dass in jeder Interpretation eine Wechselwirkung zwischen dem zu interpretierenden Text und dem Vorverständnis des Interpreten entsteht.182 Dies hängt wesentlich mit der sogenannten „Vorstruktur des Verstehens“183 zusammen, wie sie der philosophischen Hermeneutik bekannt ist. Die Betrachtung des Vorverständnisses im Rahmen des hermeneutischen Zirkels geht von der Lehre Heideggers aus.184 Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die Seinsfrage. Mit ihr versuchte Heidegger, von dem Objektivismus reiner Theorie Abstand zu nehmen.185 Seine Fundamentalontologie nimmt folgende Grundverfassung des Daseins an, nämlich dass sich der Mensch in einer Umgebung befinde

178

Alexy, Die juristische Argumentation als rationaler Diskurs, in: Alexy u. a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 114 f.; Röhl / ​Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 116 f.; Hassemer, Juristische Hermeneutik, ARSP 1986, 195, 208 ff. 179 Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kaufmann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 270; Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 27 ff.; Doublet, Der hermeneutische Zirkel: Über Grenzen für die Interpretation und Bedingungen für das Verstehen, in: Larsen / ​Zimmermann (Hg.), Theorien und Methoden in den Sozialwissenschaften, S. 65 ff.; vgl. Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 453: Im 1808 erschienenen Werk des Altphilologen Friedrich Ast sei eine Vorwegnahme dieses hermeneutischen Zirkels zu finden. 180 Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 16. 181 Seelmann / ​Demko, Rechtsphilosophie, § 6, Rn. 43 ff.; Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kaufmann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 271 ff.; Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, S. 191 f. 182 Klatt, Juristische Hermeneutik, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 227. 183 Siehe dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 270 ff., 298. 184 Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 468 ff.; Figal, Gegenständlichkeit, S. 95. 185 Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 96 ff.; Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 22 ff.; Mantzavinos, Naturalistische Hermeneutik, S. 25; Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 170.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

und von dieser abhängig sei. Dabei strebte Heidegger danach, die Seinsfrage nicht neutral-kognitiv, sondern vorwissenschaftlich zu deuten. Ferner wich Heidegger mit dem Begriff des „Mitseins“ von der ursprünglichen Auffassung ab, die Anderen seien nichts weiter als „der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt“; er erklärte im Gegensatz dazu: „[D]ie Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.“186 So ist nach Heidegger das Dasein auch ein Sein mit Anderen, also ein Mitsein. Damit sei das Verständnis Anderer im Verständnis des Daseins notwendig inbegriffen.187 Das Verstehen sei demnach „nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht“.188 Mit anderen Worten: Das Dasein wird nicht erst erkannt, sondern erst im Dasein kann überhaupt erkannt werden. Das „Sichkennen“189 beruht darauf, dass im Verständnis des Daseins bereits das Verständnis Anderer enthalten ist und die daraus folgende Gleichsetzung von Dasein und Mitsein das Verstehen im Ganzen ermöglicht. Unter dieser ontologischen Wende gilt das Dasein nicht als Gegenstand der Anschauung, sondern das Dasein sei in seinem „eigensten“ Sein vorhanden.190 Damit werde die kartesisch-kantische Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben.191 Deshalb kann das Sein erst aus einem Selbstverständnis heraus verstanden werden. Es ergibt sich dadurch ein Kreislauf des Verstehens, eben ein Zirkel. Es ist beachtenswert, dass damit alle Erkenntnis bereits ein bestimmtes, im Miteinandersein bewährtes Weltverständnis voraussetzt.192 Dies sei die „philosophische Radikalisierung der Hermeneutik“193. Somit ist die Hermeneutik Heideggers letztlich die Begründung für die Weise, nach der sich das Dasein gleichsam selbst auslegt.194 Diese Deutung der Hermeneutik führt zur Denkfigur des Zirkels, die mit einer Vorstruktur des Verstehens195 verbunden ist.196 Der Zirkel sei „nicht eine Forderung an die Praxis des Verstehens“, sondern „die Vollzugsform des verstehenden Auslegens selbst“.197 In diesem Zirkel verberge sich „eine positive Möglichkeit 186

Heidegger, Sein und Zeit, S. 118. Heidegger, a. a. O., S. 123. 188 Heidegger, a. a. O., S. 123 f. 189 Heidegger, a. a. O., S. 124. 190 Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), in: Gesamtausgabe, Bd. 63, S. 7. 191 Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 24. 192 Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 83. 193 Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 282; Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 96. 194 Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), in: Gesamtausgabe, Bd. 63, S. 15 f.; Mantzavinos, Naturalistische Hermeneutik, S. 31. 195 Heidegger, Sein und Zeit, S. 150: „Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhaben, Vorsicht und Vorgriff fundiert.“ 196 Heidegger, a. a. O., S. 152 f.; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 270 f.; vgl. auch Taylor, Quellen des Selbst, S. 802 f. 197 Gadamer, a. a. O., S. 271. 187

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

49

ursprünglichsten Erkennens“.198 Heidegger zufolge sei das Entscheidende bei der Hermeneutik nicht die Frage, wie man aus diesem Zirkel herausgelangt, sondern die Frage, wie man in ihn nach der rechten Weise hineingelangt.199 Der hermeneutische Zirkel werde „im vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht“, sondern vielmehr „am eigentlichsten vollzogen“.200 Der hermeneutische Zirkel ist insofern unausweichlich. Nach Gadamer kann man die Denkfigur des Zirkels weder als subjektiv noch als objektiv ansehen. Sie beschreibe vielmehr das Verstehen „als ein Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten“.201 Die innere Vorwegnahme von Sinn, die das Verständnis eines Textes leite, sei keine eigene Handlung, sondern bestimme sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der äußeren Überlieferung verbinde.202 Dabei erschaffen wir diese Gemeinsamkeit selbst, „sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selbst weiter bestimmen“.203 Damit folgt die zirkuläre Eigenschaft des Verstehens nicht einer wie immer gearteten Methode, vielmehr bilde sie ein „ontologisches Strukturmoment des Verstehens“.204 Dies legt nahe, den hermeneutischen Zirkel nicht als Methodik zu deuten, sondern als eine einheitliche und notwendige Voraussetzung des Verstehens. Die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, insbesondere jene ­ adamers, war von einem Universalitätsanspruch geprägt. Unter dem starken G Einfluss Heideggers rezipierte sie den hermeneutischen Zirkel. Gadamer sah das Textverstehen in der Folge als „ein Entwerfen“ an.205 Der Interpret konzipiere dabei einen Sinn des Ganzen, sobald sich ihm ein erster Sinn im Text offenbare.206 Ein solcher Sinn zeige sich wiederum nur, weil man den Text schon mit einem entsprechenden Vorverständnis lese.207 Im Verlauf „eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt“, entwickele sich das Verstehen.208 An diese Zirkelstruktur der philosophischen Hermeneutik lehnte sich wiederum die juristische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts an,209 um sich von dem formell-logischen Syllogismus der juristischen Subsumtion emanzipieren und die wertorientierten Urteile des Richters

198

Heidegger, Sein und Zeit, S. 153. Vgl. Heidegger, a. a. O. 200 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 298. 201 Gadamer, a. a. O. 202 Gadamer, a. a. O. 203 Gadamer, a. a. O. 204 Gadamer, a. a. O., S. 298 f. 205 Gadamer, a. a. O., S. 271. 206 Ebenda. 207 Gadamer, a. a. O., S. 271. 208 Ebenda. 209 Klatt, Juristische Hermeneutik, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilo­ sophie, S. 224. 199

50

1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

begründen zu können.210 Aus Sicht eines Juristen ist der Gesetzestext „ein für seine Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster“211. Das Verständnis dieses Weisungsmusters führt zur Gesetzesanwendung. Weil die juristische Entscheidung „generell sachgerecht“ sein und mit der gesamten Rechtsordnung übereinstimmen muss,212 kann das auf einer rein logischen Methode beruhende Gesetzesverständnis für die befriedigende Entscheidung nicht ausreichend sein. Um die Anwendung des Gesetzes zu vollziehen, muss zusätzlich erfasst werden, wie Gesetzesinhalte interessengerecht zu verstehen sind. So geht die Erfassung des Sinns mit den unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der Norm einher. Normanwendung und Normverständnis sind also nicht voneinander getrennt. Dadurch reicht das hermeneutische Verstehen über die bloße Sinnerfassung des juristischen Textes hinaus; es soll auch eine Anwendungsweise gefunden werden, die einer „objektiven Richtigkeit des Rechts“ zumindest nahe kommt.213 Denn das rationale Verstehen des juristischen Texts zielt unmittelbar auf eine sachgerechte Entscheidung ab. Dies ist Ausdruck des Versuchs, der Erwartung von einem objektiv richtigen Verstehen gerecht zu werden. Anhand der metaphysischen Eigenschaft214 der philosophischen Hermeneutik versucht die juristische Hermeneutik den Universalitätsanspruch eines objektiv richtigen Verstehens zu erfüllen. Dabei ist das Vorverständnis „als sprach- und vernunftimmanente Bedingung jeglichen wissenschaftlichen Argumentierens“ nicht vermeidbar, wie der hermeneutische Zirkel veranschaulicht.215 Doch eben das birgt eine Gefahr: Die zirkuläre Eigenschaft des Verstehens in der philosophischen Hermeneutik, die sich auch auf die juristische Hermeneutik auswirkt, ließe sich zwar gut zum ontologischen Verstehen und für den geisteswissenschaftlichen Widerstand gegen eine Neigung zum Szientismus verwerten.216 Indes kann sie nicht dem praktischen Verstehen in Bezug auf die juristische Interpretation dienen, das eine bestmögliche und normativ abgesicherte Lösung für gegenläufige Interessenlagen hervorbringen soll.217 Gesetzesinhalte können

210

Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 44 ff.; Sorge, Zwischen Kritik, Konsens und Reflexion: Hermeneutisch-rhetorische Traditionen der Rechtsfindung, in: Meder u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 186. 211 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 136. 212 Esser, a. a. O. 213 Vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 45. 214 Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, S. 131. 215 Lindner, a. a. O., S. 132. 216 Vgl. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 22 f.; Trawny, Heidegger-Fragmente, S. 27, 35 ff. 217 Doublet, Der hermeneutische Zirkel: Über Grenzen für die Interpretation und Bedingungen für das Verstehen, in: Larsen / ​Zimmermann (Hg.), Theorien und Methoden in den Sozialwissenschaften, S. 72 ff.; Lindroos-Hovinheimo, Justice and the Ethics of Legal Interpretation, S. 66.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

51

keine einheitliche und idealisierte Bedeutung haben, sondern lediglich einen im Zusammenhang mit einem praktischen Fall stehenden individuellen Normgehalt. In diesem Sinne scheint die Übertragung des hermeneutischen Zirkels auf die Methodik der juristischen Auslegung unpassend, weil der hermeneutische Zirkel wesentlich auf das ontologische und einheitliche Verstehen des Seins gerichtet ist. Das Problem ist also, dass der hermeneutische Zirkel wegen seiner ontologischen idealistischen Eigenschaft keine praktisch brauchbare juristische Auslegungsmethode stützen kann. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die ontologische Interpretation im Wesentlichen dem Anspruch auf die Ursprünglichkeit des Seins in seiner eigentlichen Ganzheit folgt,218 während die juristische Auslegung überwiegend punktuell die Wirkungen eines bestimmten Norminhalts herausarbeitet. Die idealistische Gedankenstruktur des hermeneutischen Zirkels verunklarte mithin die grundlegende Struktur der juristischen Auslegung. Im hermeneutischen Zirkel besteht immer die weitere Gefahr, dass er zu einer „Wanderung ohne Ende“219 führt. Es droht ein infiniter Regress, selbst wenn der hermeneutische Zirkel in ontologischer Hinsicht endlich wäre. Dieser infinite Regress ist darauf zurückzuführen, dass sich das juristisch-hermeneutische Verständnis, das auf dem Hin- und Herwandern des Blicks zwischen der Norm und dem Sachverhalt beruht,220 nur auf die Deutungsmittel und den Vollzug des Lesens bezieht. Bei hermeneutischen Problemen geht es aber auch um die Eigentümlichkeit des Auslegungsgegenstandes. Nur durch eine fortschreitende Blickbewegung lässt sich aber nicht immer das Verstehen des Texts im Ganzen herbeiführen. So ist es möglich, dass das Verstehen trotz des hermeneutischen Zirkels noch immer dort stehen bleibt, wo der Text von Anfang an stand.221 Wenn lediglich die fortschreitende Blickbewegung betont würde, droht sie diesen in situ, also in originaler Lage befindlichen, Text zu übergehen. Ohne die Berücksichtigung des Texts, der in der Ausgangslage verharrt, lässt sich das Verstehen nicht vollumfänglich gewährleisten. Denn das Verstehen des Texts erschafft nicht immer ein neues Verständnis, sondern kann das alte und gegebene beibehalten. Der Text und der Lesevollzug sind „simultan“ zu betrachten.222 So darf „die immer schon gegebene Simultaneität des Texts“223 im Verstehensprozess nicht ignoriert werden.

218

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 233. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 76; Mantzavinos, Naturalistische Hermeneutik, S. 38: „diese dramatische Ausweglosigkeit“. 220 Im Gegensatz zur bisherigen Anführung des Ausdrucks „Hin- und Herwandern des Blicks“ zielte Engisch mit diesem Ausdruck ursprünglich nicht auf das mit der philosophischen Hermeneutik zusammenhängende Verständnis ab. Siehe dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 117 ff.; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 16. 221 Stegmüller, Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, S. 37; Figal, Gegenständlichkeit, S. 96. 222 Figal, a. a. O., S. 247. 223 Figal, a. a. O., S. 96. 219

52

1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Zu erkennen und zu beachten ist die Leitfunktion des Textes. Im hermeneutischen Zirkel ist diese Eigenschaft des Textes häufig verborgen, indem sich das Verständnis „in Wechselschritten“ bildet, „die eine wechselseitige Erhellung des einen durch das andere (und dadurch eine Annäherung mit dem Ziele weitgehender Deckung) bezwecken“224. Dies wird auch als hermeneutische Spirale225 und die „Assi­ milation von Lebenssachverhalt und Norm“226 bezeichnet. Dieses Phänomen ist darauf zurückzuführen, dass vielfach Beurteilungsfaktoren, die das Vorverständnis des Interpreten formen, weder im Sachverhalt noch in der Norm enthalten sind. Bei der hermeneutischen Spirale kehrt die Blickbewegung nicht zu ihrem eigentlichen Ausgangspunkt – dem Text – zurück, sondern gelangt in immer höhere Ebenen des Verständnisses,227 löst sich also zusehends vom Textursprung. So befindet sich der hermeneutische Zirkel hiernach im ständigen Fortschreiten. Das Bild der Spirale soll dabei die Produktivität und schöpferische Kraft der Interpretation betonen. Als letzte Konsequenz kann der Text als dem Interpreten vorliegender Untersuchungsgegenstand verloren gehen, indem sich lediglich und einseitig die auf der Angleichung von Fall und Norm abzielende, eigene Interpretation des Interpreten durchsetzt.228 Deshalb ist fraglich, ob der hermeneutische Zirkel für die rechtsethische Auslegung nützlich ist.

224

Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 29. Ogorek, Aufklärung über Justiz, Hbd. 1, S. 118; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 107; Doublet, Der hermeneutische Zirkel: Über Grenzen für die Interpretation und Bedingungen für das Verstehen, in: Larsen / ​Zimmermann (Hg.), Theorien und Methoden in den Sozialwissenschaften, S. 67; Lindroos-Hovinheimo, Justice and the Ethics of Legal Interpretation, S. 60. Dass die Denkfigur des Zirkels bzw. Kreises durch diejenige einer Spirale ersetzt wurde, sei das historische Verdienst von Schleiermacher. Siehe dazu Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 68 f. 226 Kaufmann, Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung, in: Lackner u. a. (Hg.), FS Gallas zum 70. Geburtstag, S. 17 ff. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 311 f., 315; Becker, Begegnung – Gadamer und Levinas, S. 30: „Diese Zirkelbewegung findet dann ihren Abschluß, wenn die anfangs bestehende Kluft zwischen Fremdheit und Vertrautheit (Werk des Zeit­abstandes) durch beantwortete Fragen abgebaut wurde, so daß die anfänglich sichtbare Heterogenität zwischen Eigen- und Fremdhorizont sich zur Übereinstimmung der beiden ­wandelt.“ 227 Vgl. Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 63; Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 28; Becker, a. a. O., S. 26 ff. 228 Vgl. Lindroos-Hovinheimo, Justice and the Ethics of Legal Interpretation, S. 62 f.; Bruns, On the Coherence of Hermeneutics and Ethics, in: Krajewski (ed.), Gadamer’s Repercussions, S. 30 ff., 40; Becker, a. a. O., S. 73 ff., 95 ff. 225

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

53

2. Abstandnahme vom hermeneutischen Zirkel in der rechtsethischen Auslegung Grundsätzlich bedeutet Gesetzesauslegung nach der juristischen Hermeneutik die Konkretisierung des Gesetzes im Einzelfall, also eine anwendungsorientierte Auslegung: Es gibt kein Verstehen ohne Anwendung.229 Dabei ist aber auch zu beachten, dass die juristische Hermeneutik keine disziplinübergreifende Theorie des Verstehens darstellt, weil sie mit der Gesetzesbindung einem rechtlich gesetzten, zwingenden Gebot folgen muss.230 Die rechtsethische Auslegung teilt mit der juristischen Hermeneutik die Eigenschaften,231 dass ihr erstens ein offener, das heißt nicht vollständig determinierter, Verständnisprozess zugrunde liegt, und sie zweitens anwendungsorientiert ist. In der rechtsethischen Auslegung lässt sich ein Einfluss des Vorverständnisses nicht ausschließen. Die rechtsethische Auslegung leugnet keinesfalls das Verdienst der juristischen Hermeneutik, die Rolle der unterschiedlichen Vorverständnisse bei der Interpretation zu erhellen. Bei juristischen Auslegungsproblemen darf man jedoch die hermeneutische Spirale nicht bedenkenlos billigen. Denn deren Akzeptanz läuft auf die Angleichung von Fall und Norm hinaus, obwohl Fall und Norm verschieden sind und sein müssen. Dabei gilt es zu beachten, dass sich aus dem Fall als einer Ansammlung von Tatsachen nicht unmittelbar ergeben kann, wie entschieden werden soll.232 Die Antwort auf diese Frage geht immer von normativen Prämissen aus, die unabhängig von Fällen vorgegeben und für eine bestimmte Interessenlage vorgesehen sind. Diese formen unmittelbar das Verständnis der anwendbaren Norm. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein modifiziertes Verständnis der Norm innerhalb der hermeneutischen Spirale schwer vorstellbar. Denn beim modifizierten Verständnis der Norm geht es keinesfalls um die normative Kraft des Falls zur Normmodifizierung, sondern einzig und allein um die Überprüfung der normativen Prämissen. Diese Differenzierung ginge mit der Angleichung von Fall und Norm als Konsequenz der hermeneutischen Spirale verloren.

229

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 315, 335. Siehe dazu Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, S. 57 ff.; Dreier, Rechtswissenschaft als Wissenschaft – Zehn Thesen, in: Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, S. 17; Lindroos-Hovinheimo, Justice and the Ethics of Legal Interpretation, S. 66. 230 Gadamer, a. a. O., S. 330; Rüthers / ​Fischer / ​Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 160. Das eigentliche Ziel der philosophischen Hermeneutik sei die ontologische Auffassung der Seinsweise des Daseins. Vgl. Gadamer, a. a. O., S. 365. 231 Vgl. Kaspers, Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz, S. 120 ff. 232 Vgl. Koch / ​Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 227; Schünemann, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 109 f.; Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, S. 25, 80; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5 f.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 13; vgl. auch Hume, A Treatise of Human Nature, S. 469 ff.; Stuhlmann-Laeisz, Das Sein-Sollen-Problem, S. 11 ff.; OettingenWallerstein, Humes These, S. 13 ff.; Hare, Die Sprache der Moral, S. 49 ff.

54

1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Um die Gleichsetzung von Fall und Norm bei der hermeneutischen Spirale zu vermeiden, bedarf es nicht nur einer Festlegung der Deutungsmittel; auch ist zu betrachten, was Gegenstand der Interpretation ist. In der hermeneutischen Spirale wurde lediglich der Interpretationsvorgang mit der Heranziehung der Deutungsmittel betont. Um aus der hermeneutischen Spirale herauszugelangen und um „die immer schon gegebene Simultaneität des Texts“233 wiederherzustellen, ist das Augen­merk auf die Norm zu richten, ehe sie Gefahr liefe, sich dem Fall anzugleichen. Denn erst dann kommt zum Vorschein, welche Inhalte des Textes für die Falllösung verwendbar sind. Um eine Gleichsetzung von Fall und Norm zu vermeiden, gilt es sich darüber klarzuwerden, dass der Normtext als Gegenstand der Interpretation von vornherein vorliegt, ohne dass Norm und Fall aneinander nahekommen. Nach der buchstäblichen Bedeutung ist ein Gegenstand „das Entgegenstehende, das, was gegenüber ist und gegenüber stehen bleibt“.234 Wesentliche Eigenschaft des Auslegungsgegenstandes ist also die Distanzierung vom Interpreten.235 Dieser erforderliche innere und äußere Abstand gewährleistet ein genaues Beobachten. Erst ein solches wiederum ermöglicht einen rationalen Zweifel als notwendige Voraussetzung von Kritik und Rechtfertigung. Bei der Gesetzesauslegung ist insbesondere von Bedeutung, die Eigenart des Auslegungsgegenstandes zu bewahren. Der auszulegende Text ist – insbesondere im kodifizierten Recht  – meist zweifelsfrei bekannt und sollte nur unter engen Grenzen ergänzt werden dürfen.236 Denn erst dadurch sind die Verlässlichkeit der Interpretationsergebnisse und die Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs als die Besonderheiten der juristischen Hermeneutik zu erwarten.237 Dies kommt auch der juristischen Entscheidung zugute, weil es der klaren praktischen Anwendung der Normen dient. Es muss vermieden werden, immer wieder von neuem in den hermeneutischen Zirkel einzutreten. Dazu ist die hermeneutische Identifizierung von Fall und Norm auszuschließen und vom Text ein innerer Abstand zu gewinnen, um das Gesetz mit genauer Beobachtung und der dadurch ermöglichten kritischen Auseinandersetzung auszulegen. An einem bestimmten Punkt ist der hermeneutische Zirkel abzubrechen und das gefundene Ergebnis zu akzeptieren. Zwar ist eine mit Vorverständnissen einhergehende Angleichung von Fall und Norm nicht auf die Methodik, sondern auf die grundlegende Voraussetzung des Verstehens gerichtet. Aber nur mit dieser Voraussetzung lässt sich weder das Spannungsverhältnis von expliziten und impliziten Gesetzesinhalten lösen noch die damit zusammenhängende Interpretation rechtfertigen. So muss innerhalb der Interpretation geklärt werden, welche Gründe für eine Auslegungsvariante relevant 233

Figal, Gegenständlichkeit, S. 96. Figal, a. a. O., S. 126. 235 Figal, a. a. O., S. 136. 236 Vgl. Krämer, Kritik der Hermeneutik, S. 16. 237 Morlok, Die vier Auslegungsmethoden – was sonst?, in: Gabriel / ​Gröschner (Hg.), Subsumtion, S. 207. 234

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

55

sind und wie die Gegengründe widerlegt werden können.238 Der hermeneutische Zirkel verschleiert, wenn er sich auf eine Übereinstimmung von Norm und Fall richtet, die argumentative239 Funktion der Interpretation, die das Risiko von widersprüchlichen, gar janusköpfigen Auslegungsergebnissen in Kauf nimmt und damit der Realität des Falls näher kommt. Die rechtsethische Auslegung wahrt die Distanz des Auslegungsgegenstandes zum Interpreten und den Unterschied von Fall und Norm. Sie versucht, die Eigenarten des Auslegungsgegenstandes möglichst weitgehend zu erhalten. Damit dient sie auch dem Auffinden eines interessengerechten Verständnisses vom Gesetzesinhalt. Dem ist dienlich, dass rechtsethische Argumente je nach Situation angeführt oder verworfen werden können. Dies läuft – wie oben bereits dargelegt wurde – im Spannungsfeld zwischen expliziten und impliziten Gesetzesinhalten auf einen Vergleich zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten hinaus. Auch die Spannungen zwischen dem rechtsdogmatischen Verständnis und der rechtsethischen Begründung und Kritik wirken auf die rechtsethische Auslegung zurück. Trotz alledem führt insoweit die Gesetzesauslegung nicht zur höchsten Ebene des Verstehens, die man mit dem hermeneutischen Zirkel jemals erreichen könnte. Es handelt sich mithin um keine idealisierte Auslegung. Das hat seinen Grund darin, dass der Auslegungsgegenstand bei der rechtsethischen Auslegung nicht über die Angleichung von Fall und Norm objektiviert wird. Bei der rechtsethischen Auslegung werden rechtsethische Argumente für die jeweilige Interessenlage punktuell berücksichtigt. Die bedingt eine Auswahl der im Einzelfall relevanten Argumente, aber keine ideale Theorie. So steht eine stetige „Blickbewegung“ für die rechtsethische Auslegung nicht zu befürchten, weil diese nicht der Struktur des hermeneutischen Zirkels folgt. Es werden rechtsethische Argumente genutzt, um Hypothesen über den impliziten Gesetzesinhalt zu beweisen.240 Gleichzeitig bleibt die Ambivalenz zwischen dem Respekt vor dem expliziten Gesetzesinhalt und dem stetigen Versuch, mögliche verborgene Gesetzesinhalte zu ergründen. Es wird eben keine auf der Vorstruktur des Verstehens beruhende Identifizierung der Norm mit dem Sachverhalt, sondern lediglich eine Gegenüberstellung der gegebenen und der potenziellen Gesetzesinhalte durchgeführt, um die für eine Interessenlage relevante rechtsethische Prämisse zu ermitteln und davon ausgehend den Gesetzesinhalt zu ergründen. Auf diese Weise lässt sich die Gefahr vermeiden, die Gesetzesauslegung mit der idealen, aber künstlichen Konstruktion eines gewollten Normgehalts gleichzusetzen, die ein beliebiges Vorverständnis genügen und daher eine Willkür befürchten lässt. Auf ein ausgewogenes Verständnis der Gesetzesauslegung vor dem Hintergrund 238

Deswegen habe die juristische Hermeneutik in den 1980ziger Jahren schnell an Bedeutung verloren. Siehe dazu Klatt, Juristische Hermeneutik, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 229 f. 239 Vgl. Ricœur, Zu einer Hermeneutik des Rechts, DZPh 1994, 375, 376 ff. 240 Vgl. Seelmann / ​Demko, Rechtsphilosophie, § 6, Rn. 44.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

verschiedener, oft gegenläufiger Interessen richtet sich hingegen die rechtsethische Auslegung. Zusammenfassend lässt sich der Unterschied zwischen der hermeneutischen Spirale und der rechtsethischen Auslegung wie folgt schematisieren:

Abb. 1

III. Vergleich mit der juristischen Argumentationslehre: Rechtsethischer Minimalismus in der rechtsethischen Auslegung Wie oben bereits dargestellt, wohnt der rechtsethischen Auslegung die Eigenschaft der argumentativen Interpretation inne, indem rechtsethische Argumente situationsbedingt in die Gesetzesauslegung einbezogen werden. Es liegt insofern nahe, die rechtsethische Auslegung mit der juristischen Argumentationslehre zu vergleichen, wobei es bei letzterer nach übereinstimmender Auffassung um Argumente für die rationale Begründung einer juristischen Entscheidung geht.241 Schon Alexy fasste die Regeln und die Formen der Gesetzesauslegung zu Rechtfertigungselementen der juristischen Entscheidung zusammen.242 Um auf die Frage, ob und wie die juristische Argumentationslehre und die rechtsethische Auslegung miteinander verwoben sind, eine sinnvolle Antwort zu finden, bedarf es einer Betrachtung ihrer jeweiligen rechtsmethodischen Strukturen. Im Vergleich zur juristischen Argumentationslehre lässt sich auch feststellen, welche rechtsmethodische Besonderheit die rechtsethische Auslegung aufweist.

241

Neumann, Juristische Argumentationstheorie, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 235; ders., Theorie der juristischen Argumentation, in: Brugger u. a. (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, S. 239. 242 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 285 ff.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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1. Prozedurales Konzept der juristischen Argumentationslehre Mit der juristischen Argumentationslehre teilt die rechtsethische Auslegung das Ziel einer normativen Rechtfertigung, welche unmittelbar die Überzeugungskraft der juristischen Entscheidung beeinflusst. Um eine hinreichende Überzeugungskraft der Entscheidung zu sichern, wird bei der juristischen Argumentationslehre nicht nur deduktiv-syllogistisch, sondern überwiegend argumentativ eine Entscheidung gefunden.243 Die juristische Argumentationslehre beruht also auf der Grundannahme, dass die formell-logische Deduktion aus gegebenen Rechtssätzen allein nicht in jedem Falle zur befriedigenden juristischen Entscheidung führt.244 Dies kann daran liegen, dass es noch mehr und verschiedener Argumente bedarf, die sich der Auslegung nicht entnehmen lassen.245 Für die hinreichende Überzeugungskraft der juristischen Entscheidung ist daher zentral, wie eine juristische Entscheidung argumentativ gerechtfertigt werden kann, also nach welchem Vorgehen Gründe und Gegengründe heranzuziehen sind. So ist die juristische Entscheidung nicht an sich „richtig“ oder „falsch“, sondern ihr Richtigkeitsanspruch muss mit der Darlegung der dafür relevanten Argumente erfüllt werden.246 Nach Alexy unterscheidet man bei der juristischen Argumentation die interne247 und die externe248 Rechtfertigung. Zur externen Rechtfertigung gehört insbesondere, die erforderlichen Kriterien der Gesetzesauslegung anzugeben.249 Dabei gibt es einen Berührungspunkt mit der rechtsethischen Auslegung: Denn die rechtsethische Auslegung bezieht sich auf die Begründung des impliziten Gesetzesinhalts, die aus den dabei offen vorgebrachten Gründen zur juristischen Entscheidung führt. Indes gibt es zwischen den beiden Methoden einen Unterschied: Während die juristische Argumentationslehre sich grundsätzlich auf neutrale prozedurale Kriterien für die rationale Rechtfertigung der juristischen Entscheidung richtet,250 befasst sich die rechtsethische Auslegung dagegen mit der rechtsethischen Rechtfertigung des Gesetzesinhalts durch Kriterien, die nicht nach einem bestimmten 243 Neumann, Juristische Argumentationstheorie, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 234 f.; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 47. 244 Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, § 8, Rn. 194. 245 Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 47. 246 Neumann, Juristische Argumentationstheorie, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 235. 247 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 273: „In der internen Rechtfertigung geht es darum, ob das Urteil aus den zur Begründung angeführten Prämissen logisch folgt“. 248 Alexy, a. a. O., S. 283: „Gegenstand der externen Rechtfertigung ist die Begründung der in der internen Rechtfertigung benutzten Prämissen. Diese Prämissen können ganz unterschiedlicher Art sein. Es lassen sich (1) Regeln des positiven Rechts, (2) empirische Aussagen und (3) Prämissen, die weder empirische Aussagen noch Regeln des positiven Rechts sind, unterscheiden.“ 249 Alexy, a. a. O., S. 281 f. 250 Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 13.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Verfahren, sondern orientiert an der Situation bzw. dem Interesse berücksichtigt werden. So ist die rechtsethische Auslegung nicht an eine prozedurale Regel für die rationale Argumentation gebunden. Die Argumentationslehre Alexys konzentriert sich auf die Gestaltung der Verfahrensregeln für einen rationalen Diskurs. Dabei sei ein praktischer Diskurs rational, wenn die Bedingungen des rationalen praktischen Argumentierens bzw. bestimmte Diskursregeln erfüllt sind.251 So hat die juristische Argumentationslehre die Aufgabe, diese Bedingungen im Vorfeld herauszuarbeiten.252 Dabei wird die Rechtfertigungsfrage zur Frage nach dem gebotenen Argumentationsverfahren: „Eine Norm oder ein einzelnes Gebot, das den durch die Diskursregeln bestimmten Kriterien genügt, kann als gerecht bezeichnet werden.“253 Dieses prozedurale Konzept soll zwei Vorteile bieten, nämlich eine „Variabilität“ und eine „Ausdehnbarkeit“.254 Der Vorteil der Variabilität bestehe darin, dass das System der prozeduralen Theorie verschiedene Rechtfertigungsmodelle erlaube. Der Vorteil der Ausdehnbarkeit zeige sich daran, dass durch die prozedurale Theorie der gesamte Bereich des Praktischen systematisch erfasst werde.255 Damit beanspruche dieses prozedurale Konzept, dass jede Argumentation der Forderung nach einer Allgemeinheit genüge; für moralische Wertungen bzw. Normen entspräche diese Forderung dem Universalisierbarkeitsprinzip.256 Im Zusammenhang mit den Kriterien der Gesetzesauslegung versucht die juristische Argumentationslehre Alexys nicht, mit den Regeln der juristischen Argumentation eine Stufenfolge der Auslegungskanones aufzustellen und entweder die objektive oder die subjektive Auslegungstheorie zu vertreten. Angegeben werden vielmehr Regeln und Formen, deren Einhaltung die Wahrscheinlichkeit für ein richtiges und vernünftiges Auslegungsergebnis erhöht.257 Beispielsweise wird angesichts der Auslegungskanones die Argumentationslastregel als pragmatische Regel berücksichtigt. Sie beinhaltet, dass Argumente, die eine Bindung an den Wortlaut des Gesetzes oder den Willen des historischen Gesetzesgebers ausdrücken, andersartigen Argumenten vorgehen; dies gilt nur dann nicht, wenn gewichtige Gründe

251 Alexy, Die juristische Argumentation als rationaler Diskurs, in: Alexy u. a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 117; Aarnio / ​Alexy / ​Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, in: Krawietz / ​Alexy (Hg.), Metatheorie juristischer Argumentation, S. 40 f.; Neumann, Juristische Argumentationstheorie, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 237. 252 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 356. 253 Alexy, a. a. O., S. 36 f. 254 Aarnio / ​Alexy / ​Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, in: Krawietz /Alexy (Hg.), Metatheorie juristischer Argumentation, S. 41. 255 Aarnio / ​Alexy / ​Peczenik, a. a. O., S. 41 f. 256 Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 104. 257 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 304.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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für eine Nachrangigkeit sprechen.258 Für gewisse Auslegungssituationen gelte, dass die Bestimmung des argumentativen Gewichts nach Gewichtungsregeln zu erfolgen habe.259 Zudem gelte die weitere Regel, dass alle Argumente einer zu den Auslegungskanones zählenden Form auch zu verwerten sind.260 Durch Nutzung dieser Argumentationsregeln könne der Richtigkeitsanspruch erfüllt werden, obwohl die Auslegungskanones kein einzig richtiges Auslegungsergebnis garantierten.261 2. Rechtsethischer Minimalismus für inhaltliche Begründung An dem prozeduralen Konzept der juristischen Argumentationslehre kann Kritik geübt werden, wenn materiale Kriterien für die Begründung notwendig sein sollten.262 Auf diese inhaltliche Ebene bezieht sich die rechtsethische Auslegung. So nähert sich die rechtsethische Auslegung mit inhaltlichen, eben rechtsethischen Argumenten an das richtige Verständnis vom positiven Recht an. Ein solches Argument könnte beispielsweise die Vorstellung von Gerechtigkeit sein, die mit den verschiedensten Interessen bzw. Wertungen verbunden ist. Aber die Gerechtigkeit ist begrifflich so umfassend und abstrakt, dass es gerade angesichts der sich teilweise diametral entgegenstehenden Belange unklar scheint, was genau sie meint. Dabei kann man mit Recht fragen, wie derartige inhaltliche Argumente erkannt werden und zur rechtsethischen Auslegung dienen können. Zur Begründung ist der rechtsethische Minimalismus heranzuziehen, mit dem die rechtsethische Auslegung einhergeht. Bisher hat man mit dem Begriff des moralischen Minimums meist auf die Frage hingewiesen, ob es in jedem Recht einen wesentlichen gemeinsamen Gehalt von Moral bzw. eine Minimalforderung an Moral im Recht gibt.263 Abweichend von dieser Terminologie des moralischen Minimums versucht die vorliegende Arbeit, mit dem Begriff des rechtsethischen Minimums zu erklären, was als rechtsethische Wertung in das Recht bereits einbezogen und was noch einzubeziehen ist. Soweit

258

Alexy, a. a. O., S. 305. Alexy, a. a. O., S. 306. 260 Alexy, a. a. O., S. 306. 261 Alexy, a. a. O., S. 306 f. 262 Vgl. Kaufmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 45, 77, 79; Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: Krawietz / ​Alexy (Hg.), Metatheorie juristischer Argumentation, S. 190 f.; Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie, Rn. 531; vgl. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, S. 248 ff.; von der Pfordten, Normative Ethik, S. 171 ff. Zur Kritik an der Diskurstheorie anhand eines interessenbasierten Rechtfertigungsmodells siehe Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 41 ff.,157 ff. Dazu auch Hoerster, Wie lässt sich Moral begründen?, S. 58 ff., 94 ff.; Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, S. 38 ff. 263 Siehe dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 68; Hart, The Concept of Law, S. 193 ff.; Green, The Morality in Law, in: d’Almeida / ​Edwards / ​Dolcetti (eds.), Reading HLA Hart’s The Concept of Law, S. 184 ff. 259

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

die Rechtsethik als die Rechtfertigung und Kritik des Rechts definiert wurde,264 soll vor allem erklärt werden, ob und inwieweit rechtsethische Wertungen für die Rechtfertigung und Kritik des Rechts zu erkennen und anzunehmen sind, ohne das Verhältnis zwischen Recht und Moral an sich zu hinterfragen. Dabei geht es nicht darum, was das Recht als Recht akzeptieren kann, sondern darum, wie das Recht durch rechtsethische Wertungen gerechtfertigt oder kritisiert werden kann. Die Wertungen können im Recht enthalten oder aber lediglich darin angelegt sein. Die Vorstellung vom rechtsethischen Minimum verspricht, die rechtsethischen Wertungen in einer Weise zu verstehen, welche inhaltlich im Zusammenhang mit dem Recht steht. In diesem Sinne richtet sich der rechtsethische Minimalismus in der vorliegenden Arbeit nicht auf die Debatte um die Natur des Rechts, sondern auf die Methodenlehre. Grundsätzlich spiegeln sich menschliche Lebenserfahrungen immer nur in einem Teil der ethischen Werte. Genauso bestehen die ethischen Werte nicht nur aus Erfahrungen. Anstatt eine absolute Wertvorstellung und ihre vollständige objektive Verwirklichung zu verfolgen, ist notwendig zu berücksichtigen, in welchem Umfang ethische Werte angesichts von womöglich heteronomen oder gar widersprüchlichen Interessenlagen zu verwirklichen sind.265 Insofern ist relevant, mit welcher Ausprägung eines rechtsethischen Werts man sich angesichts eines Interessenkonflikts zu befassen hat. In diesem Sinne ist auch im Widerstreit von rechtlichen Interessen zu betrachten, inwieweit eine jede rechtsethische Wertung interessengerechte juristische Entscheidungen herbeiführen kann. Damit ist auch beim Verhältnis zwischen dem Recht und der Ethik, also der Rechtsethik, zu beachten, dass die Gerechtigkeit einerseits „keinen allgemeinen einheitlichen Horizont des Rechts“ bildet und sie andererseits „keine bloße Verlängerung des Rechts“ bedeutet.266 Rechtsethische Wertungen im Gesetz sind nicht einheitlich zu begreifen. Sie beziehen sich stets auf verschiedene Situationen, Gesichtspunkte, Kontexte, Kriterien und Zwecke. So zeigt sich auch im menschlichen Lebensalltag, dass in politischen bzw. sozialen Meinungsverschiedenheiten man sich häufig nicht auf ein gemeinsames Verständnis der dem betreffenden Streit zugrunde liegenden Werte einigen kann, sodass keine exakt hälftigen Kompromisse gefunden werden können.267 So wie Menschen politisch, sozial und alltäglich ihre eigenen subjektiven und situationsbedingten Interessen haben, kann eine rechtsethische Wertung auf verschiedenen Dimensionen beruhen. Demgemäß besteht ein praktischer Recht-

264

von der Pfordten, Rechtsethik, S. 1, 7 ff.; ders., Rechtsethik, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 95. 265 Vgl. Gardner, From Personal Life to Private Law, S. 10 f. 266 Waldenfels, Schattenrisse der Moral, S. 130. 267 Vgl. Walzer, Thick and Thin – Moral Argument at Home and Abroad, S. 1, 19; Heisenberg, Der Teil und das Ganze, S. 19 f.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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fertigungsbedarf immer nur im Kontext von Situationen, Problemen und einzelnen Perspektiven.268 In diesem Zusammenhang beschränkt der rechtsethische Minimalismus rechtsethische Wertungen auf möglichst weit und häufig geteilte Rechtfertigungen.269 Bei dem Bedeutungsspektrum der rechtsethischen Wertung ist nur das rechtsethische Minimum, dessen Beachtlichkeit jedermann einleuchten muss,270 situationsbedingt zu berücksichtigen. Dabei kommt es auf die Intensität und Klarheit der Darstellung des rechtsethischen Minimums an.271 Es gibt keinen formellen Algorithmus für die Bestimmung des rechtsethischen Minimums. Es hängt vom Kontext der jeweiligen Situation und seinen Rechtfertigungsmöglichkeiten ab. Anders als die Ausgangssituation der Diskursethik, die inhaltlich neutral ist,272 besteht beim rechtsethischen Minimalismus kein gemeinsamer Anfangspunkt in normativ-ethischer Hinsicht. Deshalb kann ein rechtsethisches Minimum nicht einfach nach einem allgemeinen prozeduralen Konzept konstruiert werden.273 Zwischen den Wertungen eines rechtsethischen Minimums gibt es auch keine im Vorhinein determinierte Hierarchie, vielmehr bleiben sie pluralistisch.274 Dabei sind ein Widerspruch oder Dissens denkbar und zu berücksichtigen.275 Zum Beispiel gilt Treu und Glauben zwar für den Schutz der Geschäftssittlichkeit bzw. die Verhinderung von betrügerischen Manipulationen im Marktgeschehen, aber trotz der bona fides gelten zugleich andere wertende Rechtssätze für die Risiko­verteilung beim Kauf,276 wie etwa der Grundsatz des caveat emptor,277 wonach beim Kaufvertrag lediglich der Käufer das Risiko für offene Mängel des Kaufgegen­standes trägt.278 Wegen dieser Natur des rechtsethischen Minimums führt es nicht zur einseitigen, gleichsam vorbestimmten Vollkommenheit der 268

Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 380. Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 466. 270 BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 246. 271 BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 247 ff.; vgl. Walzer, Thick and Thin – Moral Argument at Home and Abroad, S. 6; Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict, S. 35 ff., 44 f. 272 Vgl. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 58. 273 Siehe dazu Walzer, Thick and Thin – Moral Argument at Home and Abroad, S. 13 f. 274 Vgl. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 25 ff. 275 In diesem Sinne ist das hier erwähnte rechtsethische Minimum in seinem Verwendungskontext anders als Jellineks ethisches Minimum zu verstehen, das mit dem Recht gleich­ zusetzen sei. Vgl. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, S. 45; Hollerbach, Rechtsethik, in: Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 693; Sandkühler, Recht und Staat nach menschlichem Maß, S. 38; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 46 f. 276 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Recht, MWS I/22–3, S. 159 f. 277 Zu deutsch: Der Käufer möge sich vorsehen. Vgl. Honsell, Römisches Recht, S. 150. 278 Zwar ist „caveat emptor“ keine Regelung im deutschen Kaufrecht, aber als ein überlieferter Rechtssatz findet er bei der grundlegenden Diskussion über kaufrechtliche Themen vereinzelt noch Erwähnung wie auch im amerikanischen und englischen Kaufrecht. Siehe dazu Korth, Minderung beim Kauf, S. 22 ff.; Kirsten, Verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung für Sachmängel beim Warenkauf?, S. 154; Massumi, Quo vadis – Unternehmenskaufverträge?, S. 157. 269

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

rechtsethischen Wertung. Es geht nicht um eine bestimmte logische Abfolge, sondern lediglich um situationsbedingte Verwirklichungsmöglichkeiten. Damit ist gemeint, dass es bei der rechtsethischen Begründung keine allgemeine einheitliche Prüfung der rechtsethischen Wertung gibt. Dabei sollte auf eine vermeintlich objektive und vollständige Rechtfertigung der rechtsethischen Wertung verzichtet werden.279 Sie setzte eine allgemeine Prüfinstanz mit dem Recht zur Letztbegründung voraus. Stattdessen geht es darum, wie überzeugend rechtsethische Argumente in ihrer Pluralität hervorgebracht werden, ohne dass in einer bestimmten, mehr oder weniger objektiven Prüfungsmethode der rechtsethischen Wertungen die rechtsethische Rechtfertigung durchgeführt wird. So müssen die Prüfungen nach der Billigkeit, der Gerechtigkeit sowie der Verhältnismäßigkeit situationsbedingt und punktuell ausgeführt werden. Dies gründet darauf, dass der rechtsethische Minimalismus immer von minimalen, klar abzugrenzenden Wertungen in Bezug auf die betreffenden Interessenlagen ausgeht. Der rechtsethische Minimalismus zeigt also, dass es keinen gleichmäßigen Indikator für die Überzeugungskraft einer rechtsethischen Rechtfertigung gibt. Damit löst sich der rechtsethische Minimalismus zum Zwecke der Rechtfertigung vom Erfordernis der neutralen prozeduralen Methode.280 3. Rechtsethische Auslegung mit dem rechtsethischen Minimalismus Auf dem Grundgedanken des rechtsethischen Minimalismus basiert die rechtsethische Auslegung. Sie unternimmt verschiedene Rechtfertigungsversuche des impliziten Gesetzesinhalts anhand eines inhaltlichen, das heißt materialen Minimums von rechtsethischen Wertungen im Gesetz. Dabei richtet sich die rechtsethische Auslegung nicht auf eine Selbstregulierung bzw. Selbstrechtfertigung des Rechts, sondern öffnet es für die zahlreichen Variationen der rechtsethischen Minimalwertungen, die mit rechtsethischen Begründungen bzw. Kritiken einhergehen. Damit nimmt die rechtsethische Auslegung von einer Suche nach der Letztbegründung der rechtsethischen Wertung Abstand.281 Stattdessen zieht sie Möglichkeiten anderweitiger Auslegungen anhand von rechtsethischen Minimalwertungen in 279 Kähler, Pluralismus und Monismus in der normativen Rekonstruktion des Privatrechts, in: Grünberger / ​Jansen (Hg.), Privatrechtstheorie heute, S. 125. 280 Diesbezüglich ist auch zu bemerken, dass die strikte Bindung an die wissenschaftlichen theoretischen Methoden nicht immer die Verbesserung bzw. den Fortschritt der Wissenschaft gewährleistet. Siehe dazu Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, S. 97 ff.; ders., Wider den Methodenzwang, S. 21 ff.: „Der einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes.“ 281 BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 82.2. Zu der allgemeinen philosophischen Diskussion über die Letztbegründung vgl. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 13 ff., 257 ff.; Hilgen­ dorf, Konstruktion und Kritik im Recht, in: Hilgendorf / ​Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 216 ff.; Seelmann / ​Demko, Rechtsphilosophie, § 9, Rn. 47 ff.; vgl. auch Seel, Theorien, S. 128.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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Betracht. So betrifft die rechtsethische Auslegung nicht einfach die Reflexion über eine rechtsethische Wertung selbst: Bei der rechtsethischen Auslegung des § 242 BGB geht es zum Beispiel nicht stets um die Verbindung von Treu und Glauben mit der allgemeinen Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit sowie Interessenabwägung,282 sondern um Treu und Glauben als ein rechtsethisches Minimum, ferner um seine Variationen und sein Verhältnis zu anderen rechtsethischen Minimalwertungen oder rechtsdogmatischen Grundsätzen wie beispielsweise der Vertragsfreiheit. Die rechtsethische Auslegung kann nur deshalb ausgeführt werden, weil beim Verstehen des positiven Rechts die rechtsethischen Minimalwertungen auf vielerlei Weise gedeutet werden können. Diese Variation kommt nicht ohne Widersprüche innerhalb der Interessenlage einer Rechtsbeziehung aus. Daher wäre eine einheitliche Prüfung der rechtsethischen Wertungen in Bezug auf das Recht verfehlt; es werden für rechtfertigungsbedürftige Auslegungsergebnisse verschiedene Möglich­keiten eines richtigen Verständnisses gesucht. Dies gelingt, indem die Verwirklichungschancen möglicher rechtsethischer Argumente im Gesetz einzeln betrachtet werden. Dabei ist auch zu beachten, dass rechtsethische Minimalwertungen gehäuft als negative Aussage formuliert sind, indem sie aufzeigen, was mit ihnen unvereinbar wäre, ohne eine bestimmte Lösung für den jeweiligen Fall anzuraten.283 Davon ausgehend wird die rechtsethische Auslegung auf reflektierende Weise durchgeführt und versucht, zuerst rechtsethische Minimalwertungen vorzuschlagen und danach die Perspektive darauf zu richten, wie sich diese mit den betreffenden Interessen in Einklang bringen lassen.284 Diese Reflexion ist anders als der hermeneutische Zirkel nicht auf einen immer weiter fortschreitenden Zuwachs an Verstehensmöglichkeiten gerichtet, sondern auf eine normativ-praktische Annäherung an ein verbessertes Verständnis des Gesetzesinhalts, welches für eine konkrete Interessenlage relevant ist. Dabei ist kein zwingendes und logisches Verfahren einzuhalten, das den möglichen Sinnzusammenhang der rechtsethischen Minimalwertungen im Spannungsfeld zwischen den rechtsdogmatischen Auffassungen und deren rechtsethischer Rechtfertigung und Kritik regelte. Um diesen Sinnzusammenhang zu finden, ist wie in einem Experiment der rechtsdogmatischen Deutung eine rechtsethische Wertung gegenüberzustellen. Erweist sich diese als situationsgerecht, so ist die Auslegung beendet. Verfehlt sie diese Anforderung, muss weitergesucht werden. Dieses Experiment mit der Auslegung nach rechtsethischen Minimalwertungen führt zu einer problembezogenen normativen Rechtfertigung, bei der 282

Kähler, Raum für Maßlosigkeit, in: Jestaedt / ​Lepsius (Hg.), Verhältnismäßigkeit, S. 220 ff.; BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 215 ff. 283 BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 250; Fuller, The Morality of Law, S. 11 f. 284 Kaulbach, Experiment, Perspektive und Urteilskraft bei der Rechtserkenntnis, ARSP 1989, 447, 448, 455; Hare, Freiheit und Vernunft, S. 106 ff.; Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 386 ff.; Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, ARSP-Beiheft 44, 411, 412 ff.; ders., Rechtsphilosophie, S. 67: „trial and ­error“ oder „conjectures and refutations“.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

es darum geht, aus vielen möglichen rechtsethischen Rechtfertigungen die eine überzeugende aufzufinden;285 so wie auch durch die Abduktion286 eine Hypothese für ein zu erklärendes Phänomen gebildet werden kann. Damit schafft die rechtsethische Auslegung „ein Kontinuum von möglichen Antworten“287. So werden mögliche interessengerechte Alternativen formuliert bzw. Hypothesen des impliziten Gesetzesinhalts aufgestellt. Aus einem situationsbedingten Vergleich dieser möglichen Antworten ergibt sich ein verbessertes Verständnis des impliziten Gesetzesinhalts. Die Formulierung der erklärenden Hypothese kann dazu dienen, den bestmöglichen Sinnzusammenhang zu finden, indem sie nach der überlegenen Alternative sucht.288 Zum Auffinden dieses Sinnzusammenhangs trägt also die rechtsethische Auslegung bei, indem sie vergleichsorientiert insbesondere für – schlagwortartig gesprochen – „mehr Gerechtigkeit“289 in Interessenskonflikten sorgt. Dabei geht es nicht um die strikte Entscheidung wie in einer Ja-Nein-Situation, sondern um die umsichtige Betrachtung möglicherweise beeinträchtigter rechtsethischer Minimalwertungen, die einen kleinen Ausschnitt des Begriffs der Gerechtigkeit verkörpern.290 So werden implizite Gesetzesinhalte schrittweise gewonnen, und zwar mit der Gegenüberstellung der Ausprägungen rechtsethischer Wertungen, die jeweils auf ein inhaltliches Minimum begrenzt sind. Der implizite Gesetzesinhalt wird also auf den relevanten Einzelfall bezogen begründet und damit nachvollziehbar. Dadurch wird zugleich eine Materia­lisierung der scheinbar strikten Rechtsdogmatik versucht. So wird der formell-deduktive Subsumtionsvorgang durch inhaltliche Wertungen der Rechtsethik ergänzt. Die rechtethischen Wertungen haben eine „materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität“291 im Blick und schaffen es so, ein ausgewogenes Verständnis vom Gesetzesinhalt zu gewinnen. Schließlich kann die rechtsethische Auslegung im besten Fall zum „mildere[n] ­ avigny zum dritten Hilfsmitund wohlwollendere[n] Ziel“292 hinführen, wie es S tel für die Gesetzesauslegung beim mangelhaften Gesetzeszustand formulierte. Dabei werden implizite Gesetzesinhalte nicht vollständig auf einen einheitlichen Begriff gebracht, sondern sie werden lediglich bestmöglich entsprechend der interessengerechten, punktuellen Einbeziehung der rechtsethischen Minimalwertungen verstanden. Daraus ergibt sich keine objektiv richtige Antwort, sondern nur eine 285

Vgl. Kaulbach, Experiment, Perspektive und Urteilskraft bei der Rechtserkenntnis, ARSP 1989, 447, 449, 455. 286 Siehe dazu Peirce, Collected Papers, Vol. V / ​VI, S. 105 f.; Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, S. 398 ff., 438 ff. 287 Vgl. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, S. 285. 288 Vgl. Mantzavinos, Naturalistische Hermeneutik, S. 138. 289 Zur Kritik an der Formulierung „mehr Gerechtigkeit“ siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 222. 290 BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 223. 291 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Recht, MWS I/22–3, S. 160. 292 ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 230.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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adäquate Lösung, die für eine – die mögliche Widersprüchlichkeit der Interessen ernst nehmende – Bedeutungserfassung des Gesetzesinhalts grundlegend ist. Aus diesem Grunde ist die rechtsethische Auslegung auch als eine mit der hermeneutischen Bescheidenheit293 bzw. Zurückhaltung verbundene Auslegung anzusehen, die vergleichsorientiert und weder als nur subjektive noch als nur objektive Auslegung verfährt. Durch sie wird lediglich eine interessengerechte Betrachtungsweise verfolgt, die angesichts möglicher Berührungen der rechtsdogmatischen Auffassungen mit rechtsethischen Wertungen nicht zu einem formellen Vorrangverhältnis bzw. einem strikten Regel / ​Ausnahme-Schema führt, sondern zur situationsbedingten und problembezogenen Individualisierung bzw. Ausdifferenzierung des impliziten Gesetzesinhalts. Damit kann die rechtsethische Auslegung mögliche Widersprüche zwischen rechtsethischen Minimalwertungen enthüllen, ohne strikt an eine mit der Teleologie verbundene, systemkonforme Harmonisierung der Rechtsprinzipien gebunden zu sein.

IV. Vergleich mit der Normkonkretisierung Neben der juristischen Argumentationslehre lässt sich noch die Theorie der Normkonkretisierung betrachten, um eine rechtsmethodische Einordnung der rechtsethischen Auslegung vorzunehmen. Zunächst scheinen sowohl die Theorie der Normkonkretisierung als auch die rechtsethische Auslegung die Unbestimmtheit von impliziten Gesetzesinhalten zu behandeln. Doch der Begriff der Normkonkretisierung wird in rechtsmethodischer Hinsicht nicht einheitlich verstanden.294 Aus dem Begriff und Inhalt der Normkonkretisierung könnten sich im Vergleich Schlussfolgerungen ziehen lassen, die auch die rechtsethische Auslegung in ein deutlicheres Licht rücken. 1. Verständnisse der Normkonkretisierung Die Normkonkretisierung bezieht sich darauf festzustellen, ob und inwieweit Norminhalte angesichts ihrer konkreten Anwendungssituationen entfaltet werden können. Dabei richtet die Normkonkretisierung ihr Augenmerk auf die Rolle des „Konkreten“ in der Rechtswissenschaft.295 Insofern wendet sie sich verstärkt dem norminhaltlichen Zusammenhang mit dem juristischen Sachverhalt zu, also dem nach bestimmten Erkenntnisregeln festgestellten, tatsächlichen Geschehen. Die der Normkonkretisierung zugrunde liegende Bedeutung und Auswirkung des Konkreten in der Rechtswissenschaft unterliegt einem historischen Wandel. 293

Vgl. Figal, Der Sinn des Verstehens, S. 11 f.; Leonhardt, Skeptizismus und Protestantismus, S. 318. 294 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 14 ff. 295 Siehe dazu Röthel, a. a. O., S. 7 ff.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

So wurde im Nationalsozialismus die Normkonkretisierung als Argument und Instrument gesetzeskorrigierender Rechtserneuerung verstanden. Hierbei wurde in „konkreten Ordnungen“ wie der Volksgemeinschaft gedacht: Das Konkrete trage seine Ordnung in sich und bringe sein „inneres Recht“ mit sich.296 Mit dem Argument des Konkreten konnte damit von einer abstrakt-generellen Norm abgewichen werden. So relativierte das Konkrete ohne Not die Norm und bekam eine normative Kraft.297 Im heutigen demokratischen Rechtsstaat lässt sich diese normative Kraft des Konkreten dagegen nicht mehr anerkennen. Insofern konzentriert sich die Bedeutung des Konkreten in der Normkonkretisierung anders als in der NS-Zeit hauptsächlich auf die „Durchsetzung des Rechts in der Wirklichkeit“.298 Die Hervorhebung des Konkreten weist dabei darauf hin, dass das Recht realitätsbezogen ist. Damit tritt eine rechtsmethodische Tendenz hervor, die die Rolle des Konkreten im juristischen Fall betont, wie sie auch das hermeneutische Bild vom „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“299 und die Forderung nach einer Folgenorientierung300 aufzeigen. In der heutigen Methodenlehre bezieht sich die Normkonkretisierung zumeist auf die Rechtsanwendung bei Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen.301 In rechtsmethodischer Hinsicht kann aber die Normkonkretisierung als das „[K]onkreter-[M]achen“ der Norm verschiedene Bedeutungen haben.302 Dabei geht es nach Röthel um drei rechtsmethodische Facetten der Normkonkretisierung: Normverwirklichung, Normerzeugung und Normausfüllung.303 Nach diesen Modellvorstellungen weist zunächst die Normverwirklichung auf die formelle Normkonkretisierung hin, die aus der „Konsequenz des Stufenbaus der Rechtsordnung“ folgt.304 So betrifft die Normverwirklichung die Durchsetzung und Anwendung305 einer schon existenten Norm. Danach ist zum Beispiel jede Gesetzesanwendung durch Urteil oder Verwaltungsakt als Schritt der Konkretisierung zu verstehen.306 In diesem Sinne lässt sich die Normverwirklichung als „die Begründung der Legalität des nachfolgenden Rechtsaktes“ ansehen und verdeutlicht die Abhängigkeit der Norm von der Normhierarchie und Normsetzungsbefugnis-

296

Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, DR 1934, 225, 228; vgl. Röthel, a. a. O., S. 8; Schröder, Rechtswissenschaft in Diktaturen, S. 43 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 293 ff. 297 Röthel, a. a. O., S. 8 f. 298 Röthel, a. a. O., S. 9 f. 299 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 117 ff. 300 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 176 ff., 334 ff. 301 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 13, 435. 302 Röthel, a. a. O., S. 12 ff. 303 Röthel, a. a. O., S. 14. 304 Ebenda. 305 Zum Zusammenhang der Rechtsanwendung mit der Konkretisierung vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 75. 306 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 15.

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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sen.307 Insofern ist bei der Normverwirklichung die Frage der Normen­hierarchie und der Gewaltenteilung bedeutsam. Auf materielle Erkenntnisprobleme des Norminhalts ist die Normverwirklichung damit nicht unmittelbar gerichtet.308 Zweitens beruht die Normerzeugung in Röthels Modellvorstellungen auf dem Verständnis der Normkonkretisierung von Müller. Diesem zufolge ist keine Norm vorhanden, ehe der Normtext durch die Konkretisierung im vorliegenden Fall verdeutlicht wird.309 Das gehe auf die Verschiedenheit von Rechtsnorm und Normtext zurück,310 denn die Vorstellung einer präexistenten Norm beruhe auf dem gesetzespositivistischen Grundirrtum, dass die Rechtsnorm mit ihrem Wortlaut gleichzusetzen sei.311 Müllers Vorstellung zufolge ist der Normtext kein Behälter für die vom Gesetzgeber konstruierte Rechtsnorm, sondern nur eine Zeichenkette, die dennoch gilt.312 So komme dem Normtext zu Beginn der Konkretisierung ausschließlich Geltung und nicht schon Bedeutung zu: „Geltung des Normtexts liegt am Anfang, Bedeutung als Ausfüllung des Textformulars (Normativität) am Ende.“313 Damit sei aber der Text der nach und nach geschaffenen Rechtsnorm konkreter als der Normtext.314 Dabei bezeichne die Konkretisierung „nicht das Verengen einer gegebenen allgemeinen Rechtsnorm auf den Fall hin, sondern das Erzeugen einer allgemeinen Rechtsnorm im Rahmen der Lösung eines bestimmten Falls“315: Hiernach wohnt der Normkonkretisierung die Normkonstruktion inne. Dadurch wird der schöpferische Charakter der Normkonkretisierung hervorgehoben.316 Zudem gehe es insbesondere bei unbestimmten Gesetzesbegriffen bzw. Generalklauseln um die Normausfüllung als dritter Ausprägung der Normkonkretisierung. Dabei habe die Normausfüllung die Funktion einer „Aktualisierung“, „Präzisierung“ und „inhaltliche[n] Fortbestimmung der Norm“.317 Diese Funktion überwiege bei der Normkonkretisierung.318 Nach dieser Vorstellung der Normausfüllung sollen sich die Normverwirklichung und die Normerzeugung miteinander verbinden lassen. So gehe es dabei nicht nur um „die Bezugnahme auf die kompetenzielle Funktion des Gesetzes“, sondern zugleich um den schöpferisch schaffen-

307

Röthel, a. a. O., S. 14 f. Röthel, a. a. O., S. 15. 309 Müller / ​Christensen / ​Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 31 f.; Müller / ​Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 274, 276. 310 Müller / ​Christensen, a. a. O., Rn. 277; vgl. Windisch, Jurisprudenz und Ethik, S. 64. 311 Müller / ​Christensen, a. a. O., Rn. 250, 255. 312 Müller / ​Christensen / ​Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 140. 313 Müller / ​Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 185; vgl. Windisch, Jurisprudenz und Ethik, S. 65. 314 Müller / ​Christensen, a. a. O., Rn. 277. 315 Müller / ​Christensen, a. a. O., Rn. 275. 316 Kuntz, Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft und performative Rechtserzeugung, AcP 2016, 866, 903 f. 317 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 20. 318 Röthel, a. a. O., S. 23. 308

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

den Charakter der Normerzeugung.319 In diesem Sinne gelte die Normausfüllung als „gebundene Rechtsbildung“.320 Einerseits füllt sie damit einen unbestimmten Norminhalt autonom aus, andererseits unterliegt sie danach der allgemeinen Gesetzesbindung. So wird der Normausfüllung bei unbestimmten Gesetzesbegriffen und den Generalklauseln die Berücksichtigung beider rechtsmethodischer Einsichten zugeschrieben, also eine „Bindung an Vorgegebenes“ und die „Bildung neuer Vorgaben“.321 2. Kritik an Müllers Vorstellung der Normerzeugung Vor allem ist der Begriff des von Müller erwähnten Normtexts zu kritisieren, welcher nur Geltung, aber keine Bedeutung habe. Es bleibt dabei unklar, ob und wie der geltende Normtext ohne Bedeutung erkennbar ist. Eine Trennung zwischen Zeichenkette und Bedeutung des Normtexts ist problematisch und schwierig,322 denn der Gesetzgeber schreibt keineswegs ein bedeutungsleeres Zeichen vor. Irgend­eine Bedeutung ist im gesetzgeberischen Zeichen enthalten und sei es nur, dass sich der Gesetzgeber derzeit noch auf keine konkrete Bedeutung festlegen will. Ohne diese Tatsache zu berücksichtigen, kann man von vornherein gar nicht feststellen, worauf sich die Geltung des Normtexts inhaltlich erstreckt. Deshalb ist die Konstruktion und Abgrenzung eines Normtextes vom Norminhalt, wie bei Müller geschehen, nicht zutreffend. Mit der These von der Nichtidentität zwischen Normtext und dem Inhalt der Rechtsnorm betont Müller indes nicht eine feststehende Bedeutung des Gesetzesinhalts, sondern er bezieht sich auf den Vorgang der Konkretisierung. Dabei bestehe keine Rechtsnorm als etwas Gegebenes, sondern sie entstehe erst in der Rechtsanwendung.323 Demnach geht es nach Müllers Vorstellung schon terminologisch nicht um das „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Norm und Sachverhalt“. Denn die Rechtsnorm wird erst durch die Integration des konkreten Sachverhalts in den Interpretationsprozess geschaffen.324 Beim Verständnis der Norm ist aber zu beachten, dass der gegebene Norminhalt in einem spannungsreichen Verhältnis zu möglichen weiteren Norminhalten stehen kann. In diesem Sinne weicht auch die rechtsethische Auslegung von der Vorstellung einer Normerzeugung durch Rechtsanwendung ab, indem sie die Bedeutungsbegründung im Spannungs­

319

Röthel, a. a. O., S. 20. Röthel, a. a. O., S. 20 f. 321 Röthel, a. a. O., S. 21. 322 Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, S. 59 ff. 323 Müller / ​Christensen / ​Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 32 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 16 f. 324 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 222; vgl. Müller / ​Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 482. 320

C. Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung

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verhältnis zwischen dem gegebenen expliziten und dem impliziten Gesetzesinhalt nicht außer Acht lässt. Die Vorstellung Müllers kann als ein rechtsmethodischer Versuch angesehen werden, das formell-logische Subsumtionsmodell anzugreifen und den schöpferischen Charakter der Gesetzesauslegung und der Rechtsanwendung hervorzuheben. Müllers Vorstellung der Normerzeugung ist indes auch deshalb zu kritisieren, weil sie die rechtsstaatliche Gesetzesbindung stark beeinträchtigen kann.325 Damit birgt seine Vorstellung die Gefahr, dass die Stabilisierungsfunktion der Bindung an Gesetz und Recht verloren geht. Denn fortgedacht wird hiernach die Norm stets erneut erzeugt. Indem schöpferische Elemente der Normkonkretisierung einseitig hervorgehoben werden, kann die Rechtsanwendung ihre Verlässlichkeit und Erwartbarkeit verlieren. 3. Verhältnis zwischen der Normkonkretisierung und der rechtsethischen Auslegung Sieht man von der Normerzeugungsvorstellung Müllers einmal ab, stellt sich im Übrigen die Frage nach dem Inhalt der rechtsmethodischen Normkonkretisierung. Denn der Begriff der Normkonkretisierung ist sehr abstrakt. Beispielhaft erwähnt Röthel zu den Methoden der Normkonkretisierung den Methodenpluralismus, der u. a. die Auslegung, die Topik und die Abwägungsargumente einer Güter- und Interessenabwägung, Folgenargumente und ökonomische Analysen beinhaltet.326 Dies zeigt bereits, dass die Normkonkretisierung selbst nicht eine bestimmte Richtung vorgeben kann. Vielmehr bleibt sie nur ein Oberbegriff. Durch die rechtsethische Auslegung lässt sich die Norm ebenfalls konkretisieren. Indem rechtsethische Argumente in Bezug auf eine konkrete Interessenlage vergleichsorientiert angeführt werden, zeigen sich mögliche Inhalte des Gesetzes immer konkreter und damit zugleich anschaulicher. Das haben rechtsethische Auslegung und Normkonkretisierung gemeinsam. Im Schrifttum wurden die Gesetzesauslegung und die Normkonkretisierung deshalb teilweise synonym verwendet.327 Allerdings weichen die Gesetzesauslegung und die Normkonkretisierung voneinander ab: Grundsätzlich richtet sich die Gesetzesauslegung auf die nachvollziehende Rechtserkenntnis, während es bei der Normkonkretisierung verstärkt um die konstruktive Rechtsbildung und die Rechtsanwendung geht. So fokussiert sich die Gesetzesauslegung auf die Analyse eines vorgegebenen Gesetzesinhalts, während die Normkonkretisierung überwiegend zur „delegierten Rechtsbildung“328 dient. 325

Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 18 f. Röthel, a. a. O., S. 124 ff. 327 Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, S. 38 ff. Siehe auch Röthel, a. a. O., S. 131. 328 Röthel, a. a. O., S. 130. 326

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Für die Gesetzesauslegung der modernen Rechtsmethodenlehre ist nicht nur die Erkenntnis des expliziten Gesetzesinhalts, sondern auch die Rekonstruktion des impliziten Gesetzesinhalts relevant. Dabei rücken auch die möglichen Bedeutungsvarianten des Gesetzesinhalts und ihre jeweiligen Begründungen in den Vordergrund. Durch die Gesetzesauslegung wird die vorzuziehende Verständnismöglichkeit des Gesetzesinhalts für einen einzelnen Fall festgestellt. Darin besteht ein Berührungspunkt mit der Normkonkretisierung, sofern man annimmt, dass die Aufgabe der Gesetzesauslegung nicht auf die bloße Erläuterung des expliziten Gesetzesinhalts beschränkt ist.329 Insbesondere die Normausfüllung im Sinne der Normkonkretisierung erfüllt nicht nur eine schöpferisch-konstruktive Funktion, sondern muss auch die Gesetzesbindung achten. Bei dieser Aufgabe vermag die Gesetzesauslegung die Normkonkretisierung zu unterstützen, indem nachvollzogen werden kann, was das Gesetz zulässt und was nicht. Ein Berührungspunkt der Gesetzesauslegung mit der Normkonkretisierung wird auch innerhalb der rechtsethischen Auslegung deutlich. Bei Generalklauseln und unbestimmten Begriffen im Gesetz zeigt die rechtsethische Auslegung auf, inwieweit rechtsethische Argumente in Fällen gesetzlicher Unbestimmtheit interessengerecht realisierbar sind. Dabei ähnelt die rechtsethische Auslegung der Normkonkretisierung, insbesondere der Normausfüllung, insoweit mögliche Norminhalte der abstrakten Gesetzesvorschriften mit rechtsethischen Argumenten konkretisiert werden. Indes ist die rechtsethische Auslegung deutlich anders zu verstehen, wenn zwischen der Normauslegung und der Normanwendung unterschieden wird. Denn die Normkonkretisierung versucht, mit der umfassenden Berücksichtigung der verschiedenen Kriterien330, wie den Abwägungselementen, den Auslegungselementen und der Folgenorientierung, eine konkrete Rechtsanwendung hervorzubringen. Dagegen will die rechtsethische Auslegung durch die Nutzung der rechtsethischen Argumente einen möglichen Gesetzesinhalt für eine bestimmte Interessenlage herausarbeiten. Dabei ist die rechtsethische Auslegung zwar auch anwendungsorientiert, indem sie Bezug auf konkrete Interessenlagen in der jeweiligen Situation nimmt. Aber die rechtsethische Auslegung beinhaltet keine umfassende Betrachtung der Rechtsanwendung, sondern sie sucht punktuell nach dem bestmöglichen rechtsethischen Argument im Gesetz. Dafür kommen die Modellvorstellungen der Normverwirklichung und Normerzeugung nicht in Betracht. Lediglich die Normausfüllung kann mit rechtsethischen Argumenten vorgenommen werden. Der Unterschied zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Normkonkretisierung ist daher wie folgt zusammenzufassen: Grundsätzlich bezieht sich die Normkonkretisierung auf die Synthese der verschiedenen Argumente für die konkrete Rechtsanwendung, während die rechtsethische Auslegung hauptsächlich die Überzeugungskraft der rechtsethischen Argumente im Gesetz erhöhen soll. 329 330

Röthel, a. a. O., S. 130 ff. Röthel, a. a. O., S. 124 ff.

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

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Allerdings kann die rechtsethische Auslegung nicht alle Arten von Argumenten für die Normkonkretisierung erfassen. Bei der rechtsethischen Auslegung werden nur rechtsethische Argumente und ihre Verwirklichungsmöglichkeiten im Gesetz berücksichtigt, ohne ausdrücklich darüber nachzudenken, wie die Norm für eine zutreffende und vertretbare Rechtsfolge anzuwenden ist. Schließlich ist die rechtsethische Auslegung nicht mit der Normkonkretisierung gleichzusetzen, sondern es lässt sich nur eine rechtsmethodische Schnittmenge zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Normkonkretisierung insoweit finden, als die Normkonkretisierung Argumente aus der Gesetzesauslegung aufnimmt.

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung Trotz einer Gesetzeslücke kann sich der Richter nicht weigern, ein juristisches Problem zu lösen, sofern seine Entscheidung davon abhängt. Dies wird auch als sogenanntes Justizverweigerungsverbot bezeichnet.331 Dabei ist die richterliche Rechtsfortbildung durchzuführen, um Lücken im Gesetz auszufüllen.332 Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Aufgrund des begrifflichen Unterschieds innerhalb dieser Paarformel333 wird bei der Rechtsfortbildung das Recht fortgebildet und nicht das Gesetz. Dies schließt aber das Gesetzesrecht ein. In diesem Sinne ist die Rechtsfortbildung etwas Anderes als die Gesetzesauslegung. Sofern es bei der Rechtsfortbildung darum geht, ob und inwieweit sich der Richter über den Wortlaut des Gesetzes und dessen Sinn hinwegsetzen darf, hängt die Rechtsfortbildung aber auch mit der Gesetzesauslegung zusammen.334 Denn es kommt bei der Rechtsfortbildung auf die Leistungsfähigkeit der Gesetzesauslegung für die Falllösung an, weil dabei das normative Postulat der Gesetzesbindung335 gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gilt, auch wenn man darüber nachdenkt, ob es der Rechtsfortbildung bedarf. Bei der Gesetzesauslegung geht es nicht nur darum, die expliziten Gesetzesinhalte zu erkennen, sondern auch um die Konkretisierung und Rekonstruktion der impliziten Gesetzesinhalte. Dies gilt etwa für die unbestimmten Rechtsbegriffe, die eine Wertung erfordern. Diesbezüglich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Rechtsfortbildung und der Gesetzesauslegung. Dabei dient die Gesetzesauslegung grundsätzlich zwar auch zur Feststellung einer Gesetzeslücke, die die Grundlage für die Rechtsfortbildung bildet. Es scheint aber auch möglich 331

Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 238; Möllers, Juristische Methodenlehre, § 13, Rn. 8. 332 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187 ff. 333 BVerGE 34, 269, 286 f.: „Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch.“ 334 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 13, Rn. 4 f. 335 Siehe dazu Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, S. 486 ff.

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

zu sein, dass die mit der Gesetzesauslegung einhergehende Bedeutungserfassung der unbestimmten Gesetzesinhalte nicht nur die Lückenfeststellung, sondern auch bereits die Lückenausfüllung betreffen kann. Denn die Auseinandersetzung mit rechtsethischen Wertungen des Gesetzes bewegt sich an der Grenze zwischen der Auslegung des impliziten Gesetzesinhalts und der Ausfüllung des fehlenden Gesetzesinhalts,336 weil diese Wertungen oder allgemeinen Prinzipien wesensgemäß nicht gänzlich in das Gesetz einbezogen sind. Sie können damit sowohl Gesetzesinhalte sein als auch zur Rechtsfortbildung benutzt werden, denn diese rechtsethischen Wertungen stehen dem Gesetz nicht exklusiv zur Verfügung, auch wenn sie in das Gesetz einbezogen wurden. Erörterungsbedürftig ist daher das Verhältnis zwischen der Rechtsfortbildung bzw. der rechtsethischen Lückenausfüllung auf der einen Seite und der rechtsethischen Auslegung auf der anderen Seite, die mithilfe der rechtsethischen Wertung einen möglichen Gesetzesinhalt betrachtet.

I. Bedeutung der Lücke im Gesetz Bei der Rechtsfortbildung kommt es vor allem darauf an, was unter Lücken im Gesetz zu verstehen ist. In der Regel wird die Gesetzeslücke als „eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes“337 definiert. Bei dieser herrschenden Definition der Gesetzeslücke geht es um die Planwidrigkeit einerseits und die Unvollständigkeit andererseits. Zunächst sind daher diese Kriterien näher zu betrachten. 1. Planwidrigkeit Nicht jedes Fehlen eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals für eine Rechtsfolge im Gesetz bedeutet eine auszufüllende Gesetzeslücke.338 Nur die planwidrige Gesetzeslücke ist auszufüllen. Was der Plan eines Gesetzes ist, ist nicht eindeutig, sofern das Gesetz selbst nichts dazu erklärt. Zunächst weist der Plan des Gesetzes auf die dem Gesetz zugrunde liegende Regelungsabsicht oder den Gesetzeszweck hin.339 Dabei ist der Plan des Gesetzes grundsätzlich „vom Standpunkt des Gesetzes“ aus zu betrachten.340 Diese Betrachtung des Plans hängt somit mit der Gesetzesauslegung zusammen. Der Plan des Gesetzes lässt sich durch die verschiedenen Methoden der Gesetzesauslegung erschließen.341 Die tatsächliche Regelungsabsicht des Gesetzgebers kann man insbesondere durch eine historische bzw. genetische 336

Vgl. Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 138. Elze, Lücken im Gesetz, S. 3 ff., 12; Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 194; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 16; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 473. 338 Elze, Lücken im Gesetz, S. 23. 339 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 194. 340 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 194. 341 Larenz / ​Canaris, ebenda; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 103 ff. 337

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

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Gesetzesauslegung konstatieren. Indes umfasst der Plan des Gesetzes nicht nur diese tatsächliche Regelungsabsicht. Selbst wenn das Gesetz zur konkreten Regelungsabsicht schweigt, ist hierbei noch die abstrakte Regelungsabsicht bzw. der Gesetzeszweck zu berücksichtigen. Insofern kann vom Plan des Gesetzes auch eine hypothetische oder konkludente Regelungsabsicht eingeschlossen sein. Denn das „Schweigen“ des Gesetzes kann auch „beredt“, und somit „planmäßig“ sein.342 In diesem Fall stellt sich das bewusste Schweigen des Gesetzes als eine geplante Unvollständigkeit des Gesetzes dar.343 In einem solchen Fall liegt also keine auszufüllende Gesetzeslücke vor, sondern eine Konkretisierung des Gesetzesinhalts.344 Die abstrakte Regelungsabsicht lässt sich erst durch eine systematische oder teleologische Auslegung erfassen. Wie die Vorstellung des objektiven Gesetzeszwecks zeigt, kann auch der Gesetzesplan objektiv-abstrakt sein. Der Gesetzesplan nimmt auf ein Werturteil Bezug, welches auf den teleologischen Wertungen des Gesetzes basiert.345 Danach ist zu fragen, ob und inwieweit „die immanente Teleologie des Gesetzes“ eine gesetzliche Regelung erfordert.346 Die Betrachtung des Gesetzesplans richtet sich darauf, welche normativen Inhalte als Gesetzesinhalte gelten können. Zu dieser Betrachtung des Gesetzesplans kann auch die rechtsethische Auslegung als Teil der Gesetzesauslegung insoweit dienen, als dabei die situationsbedingte Realisierbarkeit von rechtsethischen Wertungen im Gesetz eingehend betrachtet wird. Zudem ist der begriffliche Unterschied zwischen einer offenen Lücke und einer verdeckten Lücke zu betrachten. Prinzipiell hängt er davon ab, „ob der Wortlaut des Gesetzes zu eng oder zu weit ist“.347 Bei der offenen Lücke enthält das Gesetz keine anwendbare Regel für einen Anwendungsfall, der allerdings vom Plan des Gesetzes umfasst wird. Dagegen gibt es bei der verdeckten Lücke zwar eine Regel, die wenigstens auf den ersten Blick eine Lösung für den Fall bereithält.348 Trotzdem stellt sich bei der verdeckten Lücke dann die Frage, ob diese Regel ihrem Sinn und Zweck nach zur Anwendung kommt.349 Verneint man dies, so offenbart sich eine Lücke, die unter der existenten, indes nicht anwendbaren Regel verdeckt war. Die verdeckten Lücken beziehen sich dabei häufig auf die Fälle der teleologischen Reduktion.350

342

Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 41 f. Canaris, a. a. O., S. 134; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 241. 344 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125 f. 345 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 31. 346 Canaris, a. a. O., S. 32. 347 Canaris, a. a. O., S. 136. 348 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 265. 349 Siehe dazu Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, S. 49 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 480 f. 350 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 137. 343

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

2. Unvollständigkeit Neben der Planwidrigkeit erfordert eine Gesetzeslücke die Unvollständigkeit des Gesetzes. Begrifflich setzt die Lücke eine Vorstellung von Vollständigkeit voraus.351 Nur durch den Vergleich mit dem Vollständigkeitsideal lässt sich dabei das Vorliegen einer Lücke feststellen.352 Ob ein Gesetz unvollständig ist, kann man erst nach dessen Anwendung auf den betreffenden Sachverhalt erkennen. Es gilt zu beachten, dass das Gesetz als ein menschliches Werk seinem Wesen nach nicht vollständig ist.353 Die Unvollständigkeit des Gesetzes besagt dementsprechend, dass das Gesetz in jedenfalls einem zu lösenden Sachverhalt keine Lösung aufbieten kann. Dann gilt die Lücke des Gesetzes als Unmöglichkeit der Gesetzesanwendung auf eine konkrete Interessenlage: „Die Lücke besteht nicht im Inneren des Gesetzes, sondern betrifft sein Verhältnis zur Wirklichkeit, die Möglichkeit seiner Anwendung selbst.“354 Diesem Verständnis zufolge ist die Gesetzeslücke kein von vornherein gegebener Umstand, sondern sie stellt sich je nach konkreter Interessenlage im Nachhinein heraus. Das Fehlen eines anzuwendenden Rechtssatzes im Gesetz ist also nicht vom Vollständigkeitsideal des Gesetzes her zu beurteilen, sondern danach, ob sich ein sich aus der Gesetzesauslegung ergebender, auf die Interessenlage anwendbarer Gesetzesinhalt vorbringen lässt.

II. Kriterium des möglichen Wortsinns Wie oben bereits herausgearbeitet wurde, hängt die Feststellung der Gesetzeslücke grundsätzlich von den Ergebnissen der Gesetzesauslegung ab. Diesbezüglich wurde in der hergebrachten Methodenlehre versucht, aus dem möglichen Wortsinn355 des Gesetzes die Grenze zwischen der Auslegung und der Rechtsfortbildung abzuleiten. Die Vorstellung, dem dieser Versuch zugrunde liegt, beruht auf einem formellen Subsumtionsmodell. Man kann aber vor allem keinen eindeutigen Bereich des möglichen Wortsinns bestimmen, der stets als ein Obersatz im Subsumtionsmodell dienen könnte. Das Abgrenzungskriterium „möglicher Wortsinn“ 351

Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, S. 123. Brodführer, Bewusste Lücken im Gesetz und der Verweis auf „Wissenschaft und Praxis“, S. 19. 353 Vgl. Gebhard, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, in: Schubert (Hg.), Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, Allgemeiner Teil, Teil. 1, S. 101: „Kein Gesetz kann in dem Sinne vollständig sein, daß es für jedes denkbare, in den Rahmen des von ihm behandelten Rechtsstoffes fallende Verhältniß eine unmittelbar anwendbare Norm an die Hand giebt. Der Versuch, eine Vollständigkeit dieser Art zu erstreben, wäre verkehrtes Beginnen.“ 354 Agamben, Ausnahmezustand, S. 41; vgl. Benedict, Kodifikation der ‚Einzelfallgerechtigkeit‘? – oder von Geist und (Re-)Form der Zeit, ARSP 2003, 216, 227 ff.; Calliess, Prozedurales Recht, S. 60 ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 324. 355 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 441, 467 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 58 ff. 352

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

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ist „so vage und durch die Möglichkeit technischer Festlegung des Wortsinns so manipulierbar, daß es praktisch nichts mehr bedeutet.“356 Damit ist eine auf der formellen Logik beruhende automatische Subsumtion unter das Gesetz nicht mehr gewährleistet. Im Gegenteil treten häufig situationsbedingte Wertungsentscheidungen hinzu. In sprachphilosophischer Hinsicht ist das Abgrenzungskriterium „möglicher Wortsinn“ auch nicht eindeutig. Wörter stehen grundsätzlich in einem Kontext. Sie hängen nicht immer allein von ihrer wortwörtlichen Bedeutung ab.357 Wörter erhalten vielfach ihre Bedeutung erst aus den Beziehungen, in denen sie stehen. So hängt die Bedeutung der Wörter auch von der Situation ab:358 „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“359 Demnach können Wörter aus sich selbst heraus nicht ihre Bedeutung in abstrakter Weise von vornherein festlegen.360 Darauf hat auch schon Wittgenstein mit seinem Konzept der Familienähnlichkeiten hingewiesen.361 Bei jedem Tatbestandselement einer Rechtsnorm kann es nur darauf ankommen, mit der Sprache einen Ausschnitt unserer gesellschaftlichen Realität begrifflich zu erfassen. Dabei wird der Wortsinn der Norm nicht im Vorhinein, sondern aus der Begegnung mit konkreten Sachverhalten heraus Schritt für Schritt erschlossen.362 Dass das Kriterium des möglichen Wortsinns nicht zur praktischen Abgrenzung zwischen der Auslegung und der Rechtsfortbildung dienen kann, bedeutet nicht, dass jeder Wortlaut eines Gesetzes ohne Bedeutung wäre. Der Wortlaut bildet immerhin „einen unmittelbaren Vertrauenstatbestand“, da das Gesetz öffentlich verkündet worden ist.363 Der Wortsinn steht dem Gesetzestext zwar am nächsten. Es ist dennoch hervorzuheben, dass man allein mit dem gegebenen Wortsinn nicht vollständig verstehen kann, was als Gesetzesinhalt gilt. Dafür bedarf es vielmehr einer vielseitigen Betrachtung, die das historische, systematische oder teleologische Auslegungskriterium heranzieht. Bei dieser Betrachtung spielt eine zentrale Rolle, ob und inwieweit die als möglich erkannten Auslegungen der Norm in ihrem 356

Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 223. Vgl. Fish, Das Recht möchte formal sein, S. 134; Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict, S. 140 ff. 358 Vgl. von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, S. 436; Kuntz, Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung aus sprachphilosophischer Perspektive, AcP 2015, 387, 396 ff.; Lodzig, Grundriss einer verantwortlichen Interpretationstheorie des Rechts, S. 16 f.; Rüthers / ​Fischer / ​Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 164 ff.; Morlok, Der Text hinter dem Text, Intertextualität im Recht, in: Blankenagel u. a. (Hg.), Verfassung im Diskurs der Welt, S. 136; Deleuze / ​Guattari, Rhizom, S. 12 f. 359 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, S. 262 (§ 43). 360 Zu betreffenden Gesichtspunkten der Sprachphilosophie vgl. Greenawalt, Legal Interpretation, S. 33 ff., 38 ff., 62 f. 361 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, S. 277 f. (§§ 66 f.). 362 Probst, Die Grenze des möglichen Wortsinns: methodische Fiktion oder hermeneutische Realität?, in: Honsell (Hg.), FS Kramer, S. 260. 363 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 102. 357

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

jeweiligen Kontext überzeugen. Dabei hat der Wortsinn nicht immer den Vorrang vor anderen Auslegungskriterien,364 sondern er ist lediglich ein Teil dieser Gesamtbetrachtung. In diesem Sinne ist das Abgrenzungskriterium „möglicher Wortsinn“ als eine metaphorische Vereinfachung zu verstehen. Es symbolisiert nur die vielseitigen Betrachtungsmöglichkeiten eines Gesetzesinhalts. Deshalb kann die auf dem möglichen Wortsinn beruhende Unterscheidung365 zwischen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung und der Gesetzesauslegung unklar sein. Dieser Unterscheidung zufolge bedeutet die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung ein Vorgehen, das über die Grenze des möglichen Wortsinns hinausgeht, aber sich noch im Rahmen des ursprünglichen Plans hält.366 Dennoch unterscheidet sich die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung dabei nicht eindeutig von der teleologischen Gesetzesauslegung. Um die Unklarheit dieser Unterscheidung zwischen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung und der Gesetzesauslegung näher zu verstehen, bedarf es folgender Einsicht: „Gesetzesauslegung und richterliche Rechtsfortbildung dürfen nicht als wesensverschieden angesehen werden, sondern nur als voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens.“367 An diesem Verständnis wird aber mit Recht die Kritik geübt, dass es nur Methodenunklarheit mit sich bringt, die sich aus der undeutlichen Grenzziehung zwischen der Rechtsfortbildung und der Gesetzesauslegung ergibt.368 Als Beispiele der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung werden die Analogie und die teleologische Reduktion angeführt.369 Aber auch die objektiv-teleologische Auslegung ist als „eine analogieartige Auslegung“ entsprechend den abstrakten Gesetzeszwecken bzw. Rechtsprinzipien anzusehen.370 Allerdings diene diese analogieartige Auslegung nicht der ergänzenden Rechtsfortbildung, sondern der Auslegung bestehender Normen im Rahmen ihres Vagheitsbereichs.371 Indes schafft diese Zuschreibung zu wenig Klarheit, weil die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung und die objektiv-teleologische Auslegung gemeinsam auf die Unklarheit bzw. Unbestimmtheit eines Gesetzinhalts gerichtet sind, um die es im Rahmen des Gesetzeszwecks geht. Dabei lässt sich also das Verhältnis zwischen der objektivteleologischen Auslegung und der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung nicht hinreichend trennscharf umreißen. 364

Vgl. ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 213 ff.; Esser, Vorverständ­ nis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 121 ff.; Canaris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 50 ff. 365 Zu dieser Unterscheidung siehe Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187 f.; Möllers, Juristische Methodenlehre, § 13, Rn. 17 ff. 366 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S.187. 367 Larenz / ​Canaris, a. a. O., S. 187; vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 221. 368 Rüthers / ​Fischer / ​Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 831; Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, S. 39. 369 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 13, Rn. 17. 370 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 454. 371 Bydlinski, a. a. O., S. 454 f.

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

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III. Verhältnis zwischen der Lückenfeststellung und der Lückenausfüllung Statt weiter auf das unklare Abgrenzungskriterium des möglichen Wortsinnes einzugehen, sind besser die rechtsmethodischen Vorgänge der Lückenfeststellung und Lückenausfüllung zu betrachten, um das rechtsmethodische Verhältnis zwischen der Gesetzesauslegung und der Rechtsfortbildung deutlich zu machen. Im Prinzip dient die Gesetzesauslegung zur Feststellung einer Gesetzeslücke. Erst nach der Lückenfeststellung lässt sich eine mögliche Rechtsfortbildung für die Ausfüllung der Gesetzeslücke betrachten. Auf den ersten Blick scheint es daher so zu sein, dass es sich bei der Lückenfeststellung und der Lückenausfüllung um zwei getrennte Vorgänge handelt. Bei der offenen oder echten Lücke372 kann man die voneinander getrennten Vorgänge ohne Schwierigkeit erkennen. Diese Art von Lücke liegt vor, wenn das Gesetz eine Antwort überhaupt schuldig bleibe.373 Bei dieser Lücke bedarf es der inhaltlichen Ergänzung des Gesetzes.374 Dieser Lücke wird die Eigenschaft zugeschrieben, „daß das Vorliegen der Rechtsfrage feststeht und nur die rechtliche Antwort offen ist“.375 Als ein Beispiel dieser Lücke lässt sich eine Gesetzesvorschrift der Verzinsung anführen, in der keine Höhe der Zinsen festgelegt ist.376 Durch die Gesetzesauslegung kann lediglich das Fehlen der Höhe der Zinsen festgestellt werden. Dabei weist die Gesetzesauslegung nicht darauf hin, wie diese Lücke ausgefüllt werden soll. Dies geschieht in der Regel durch eine Analogie.377 Insofern zeigt sich, dass bei der offenen oder echten Lücke die Lückenfeststellung und die Lückenausfüllung voneinander getrennt sind.378 Auch für die verdeckte Lücke stellt sich die Frage, ob bei ihr die Lückenfeststellung und die Lückenausfüllung getrennt sind.379 Denn die Feststellung der verdeckten Lücke geht von keiner gänzlich offenen Rechtsfrage, sondern von der Frage nach der angemessenen Anwendung der vorliegenden gesetzlichen Regelung aus. Sie kann deshalb ohne weiteres eine bestimmte Rechtsfolge vorsehen, und zwar eine eingeschränkte Anwendungsmöglichkeit. Die Feststellung einer verdeckten Lücke könnte also eng mit der Lückenausfüllung auf der Rechtsfolgenseite zusammenhängen. Innerhalb der verdeckten Lücke steht meist die immanente Teleologie des Gesetzes im Mittelpunkt. Die verdeckte Lücke des Gesetzes wird mit anderen Worten durch die Heranziehung der ratio legis festgestellt. Häufig tritt die verdeckte Lücke dabei in der Verbindung von der ratio legis mit dem Gleichheitssatz 372

Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 131 ff.; Bydlinski, a. a. O., S. 473. Zitelmann, Lücken im Recht, S. 27 ff. 374 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 140. 375 Canaris, a. a. O., S. 145. 376 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 473 f.; Canaris, a. a. O., S. 139 f. 377 Bydlinski, a. a. O., S. 474. 378 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 144 ff. 379 Canaris, a. a. O., 148 ff. 373

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

in Erscheinung. Dabei besagt letzterer, „daß gleichartige Tatbestände gleich und ungleiche verschieden zu behandeln sind“.380 Entsprechend der Verknüpfung der ratio legis mit dem Gleichheitssatz findet insoweit bei der verdeckten Lücke ein wertungsmäßiger Ein- oder Ausschluss von Tatbeständen und den jeweiligen Rechtsfolgen unter Gleichheitsgesichtspunkten statt. Demnach wird betrachtet, ob eine Erweiterung oder Einschränkung der Anwendung der gesetzlichen Norm geboten ist. In diesem Verfahren kann so die planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes festgestellt werden. In einem solchen Falle verlangt die ratio legis die Ergänzung des Gesetzes. Durch die Berücksichtigung der ratio legis wird dabei zugleich beurteilt, ob eine Gesetzesvorschrift im Wege der Rechtsfortbildung auf eine bestimmte Interessenlage anzuwenden ist. Repräsentativ hierfür ist die teleologische Reduktion zu nennen. Hierbei kann es zur sogenannten „Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung“381 kommen. Diese Einheit bedeutet, dass die Lückenfeststellung unmittelbar zur Lücken­ ausfüllung führt. Ein Beispiel für die Anwendung der teleologischen Reduktion ist das Geschäft für den, den es angeht.382 Dabei geht es um eine rechtliche Konstruktion, die es beispielsweise bei Bargeschäften des täglichen Lebens vom Normzweck erfasst ansieht, auf das Offenkundigkeitsprinzip des § 164 BGB zu verzichten. Danach treten in diesen Fällen die Rechtswirkungen auch dann in der Person des Vertretenen ein, wenn der Vertreter dem Geschäftspartner nicht klar macht, dass er für einen anderen handelt.383 Dies wird daraus abgeleitet, dass bei Bargeschäften des täglichen Lebens die Einhaltung des Offenkundigkeitsprinzips für den Schutz des Erklärungsgegners entbehrlich sein kann.384 Angesichts der Bargeschäfte des täglichen Lebens wird damit der negative Gleichheitssatz berücksichtigt, wonach Ungleiches ungleich behandelt wird. Dabei wird durch die teleologische Anforderung, Bargeschäfte des täglichen Lebens anders als normale Fälle der Stellvertretung zu behandeln, eine Lücke in § 164 BGB ersichtlich. Gleichzeitig wird die Lücke dadurch ausgefüllt, dass die Anwendung des § 164 BGB aufgrund der immanenten teleologischen Wertung des Gesetzes eingeschränkt wird. Auf diese Weise zeigt sich bei der teleologischen Reduktion eine Einheit von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung.385

380

Canaris, a. a. O., S. 71: „[H]at nun das Gesetz an den Tatbestand T1 die Rechtsfolge R geknüpft, läßt es sie aber für den gleichliegenden Tatbestand T2 vermissen, so stellt dies eine Lücke dar.“ 381 Canaris, a. a. O., S. 154. 382 Canaris, a. a. O., S. 153. 383 Siehe dazu Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 49, Rn. 50. 384 Wolf / ​Neuner, a. a. O., § 49, Rn. 50; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 154. 385 Canaris, a. a. O., S. 153.

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

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Diese Einheit von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung ist jedoch nicht denknotwendig.386 Denn es kommt bei der Lückenausfüllung nicht bloß darauf an, die Anwendung einer Gesetzesvorschrift einzuschränken, sondern auch darauf, die Lücke mit verschiedenen positiven Regelungen zu schließen. So kann es nur dann eine Einheit von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung geben, wenn die ratio legis mit dem negativen Gleichheitssatz verbunden wird. Dabei lässt sich die Frage stellen, wie sich die teleologische Reduktion, die prinzipiell als Lückenausfüllung bzw. Rechtsfortbildung angesehen wird,387 von der teleologischen Auslegung als Lückenfeststellung unterscheidet. Angesichts der Verbindung der ratio legis mit dem Gleichheitssatz ist beides nicht deutlich voneinander getrennt: „Die teleologische Reduktion verhält sich zu einer einschränkenden Auslegung ähnlich wie die Einzelanalogie zu einer erweiternden Auslegung.“388 Diese Beschreibung fußt darauf, dass die ratio legis unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Sie ist damit sowohl die Grundlage für die Auslegung des impliziten Gesetzesinhalts als auch für die Begründung der Lückenausfüllung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass durch Wertungen des Gesetzes die normative Bedeutung des impliziten Gesetzesinhalts und die damit zusammenhängende Anwendungsmöglichkeit erfasst werden können. Insoweit kann sich die ratio legis auf die Begründung einer konkreten Rechtsfolge erstrecken. Denn die ratio legis ist nicht nur auf einen abstrakten Rechtssatz bezogen, sondern immer auch auf dessen Verknüpfung mit einer konkreten Rechtsfolge. Daraus ergibt sich eine wesentliche Unklarheit der rechtsmethodischen Abgrenzung zwischen der Lückenfeststellung und der Lückenausfüllung. Demzufolge ist auch die Unterscheidung zwischen der teleologischen Auslegung und der teleologischen Reduktion nicht einfach. Es erweist sich damit, dass der rechtsmethodische Anwendungsbereich von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung mit der ratio legis nicht zweifelsfrei abgegrenzt werden kann.

IV. Verhältnis zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Rechtsfortbildung Angesichts der möglichen Einheit von Lückenfeststellung und Lückenaus­ füllung lässt sich fragen, welches Verhältnis zwischen der Rechtsfortbildung und der rechtsethischen Auslegung besteht. Die rechtsethische Auslegung dient als Gesetzesauslegung grundsätzlich zur Feststellung einer Gesetzeslücke. Durch die Heranziehung von rechtsethischen Wertungen bei der rechtsethischen Auslegung lässt sich aber auch herausfinden, was dem bisherigen Verständnis des Gesetzes unter Umständen hinzuzufügen ist. Denn eine rechtsethische Wertung kann nicht nur für die Bedeutungsbegründung des Gesetzesinhalts, sondern auch für dessen 386

Canaris, a. a. O., S. 152. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 480 f. 388 Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 211. 387

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

Kritik oder Verbesserung dienstbar gemacht werden. Aufgrund dieser Eigenschaft rechtsethischer Wertungen ist das Verhältnis zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Lückenausfüllung zu betrachten. Grundsätzlich wird durch die rechtsethische Auslegung versucht, vorhandene rechtsethische Wertungen im geltenden Recht zu betrachten, um interessengerechte rechtliche Lösungsmöglichkeiten zu finden. Aber es kann unklar sein, ob diese konkrete Lösungsmöglichkeit tatsächlich ausschließlich aus dem Gesetz abgeleitet ist. Denn rechtsethische Wertungen sind nicht gänzlich in das Gesetz einbezogen. Auch bleiben rechtsethische Wertungen sowohl innerhalb des Gesetzes als auch außerhalb des Gesetzes parallel bestehen, weil das Gesetz Normgehalte der rechtsethischen Wertungen nicht für sich allein vereinnahmen kann. Sie sind sowohl Teil des Rechts als auch der Ethik und können aus diesem Verhältnis heraus nicht nur einer Sphäre zugeordnet werden. Dennoch stehen die rechtsethischen Wertungen innerhalb und außerhalb des Gesetzes in keinem isolierten Verhältnis; sie sind miteinander verbunden. Zum Beispiel rechtfertigt die ausgleichende Gerechtigkeit als Prinzip im Zivilrecht zwar die Rechtsfiguren des Haftungsrechts, aber sie kann in inhaltlicher Hinsicht auch eine Rechtsfortbildung außerhalb des positiven Haftungsrechts begründen. Indem rechtsethische Wertungen bei der rechtsethischen Auslegung berücksichtigt werden, könnten sie also durchaus Lösungsmöglichkeiten außerhalb des Gesetzes rechtfertigen. Da rechtsethische Wertungen regelmäßig abstrakt sind, ist es nicht stets klar, in welchem Umfang sie in das Gesetz einbezogen wurden. Insoweit könnte die rechtsethische Auslegung nicht nur zur Lückenfeststellung, sondern auch zu einer Lückenausfüllung Verwendung finden. Somit ließe sich keine trennscharfe rechtsmethodische Grenze zwischen der rechtsethischen Auslegung und der rechtsethischen Begründung der Rechtsfortbildung ziehen. Deshalb drängt sich die Frage umso mehr auf, in welchem Verhältnis die rechtsethische Auslegung und die Rechtsfortbildung zueinander stehen. In der Regel strebt die Rechtsfortbildung danach, konkrete Lösungen außerhalb des Gesetzes zu entwickeln, wenn im Gesetz keine unmittelbar vorgeschriebenen und angemessenen Lösungen zu finden sind. Dagegen hat die rechtsethische Auslegung zum Gegenstand, ob und inwieweit gesetzliche rechtsethische Wertungen als potenziell-implizite Gesetzesinhalte situationsbezogen entfaltet werden können. In formeller Hinsicht wird ausdrücklich zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Rechtsfortbildung unterschieden. Indes lässt sich in materieller Hinsicht der Unterschied zwischen rechtsethischer Auslegung und Rechtsfortbildung in Zweifel ziehen. Denn es scheint so, als seien beide auf eine Lückenausfüllung gerichtet, wenn nämlich die rechtsethische Auslegung eine neue Lösungsmöglichkeit im Vergleich zu den bisher angenommenen Bedeutungsgrenzen des Gesetzesinhalts anbietet. Zwar betrachtet die methodengerecht durchgeführte rechtsethische Auslegung dabei lediglich mögliche Gesetzesinhalte; dies kann aber deshalb anders gesehen werden, weil eine neue Auslegungsmöglichkeit aus rechtsethischen Wer-

D. Verhältnis der rechtsethischen Auslegung zur Rechtsfortbildung 

81

tungen herrühren kann, die zugleich sowohl aus vom Gesetz umfassten wie nicht umfassten Erwägungen bestehen können. Durch die oben erwähnte Betrachtung der ratio legis lässt sich feststellen, dass die Lückenfeststellung und die Lückenausfüllung nicht immer zwei getrennte Vorgänge sind. Ein ähnliches rechtsmethodisches Phänomen wie bei jener Rechtsfortbildung tritt bei der rechtsethischen Auslegung auf. Denn rechtsethische Wertungen sind nicht abschließend im Gesetz festgeschrieben. Sie können auch darüber hinausgehen und sich zur Begründung der Lückenausfüllung Anhaltspunkten außerhalb des Gesetzes bedienen. Zu beachten ist, dass rechtsethische Wertungen für die Rechtfertigung des Gesetzes und dessen Kritik relevant sind – sie rechtfertigen es, andererseits können sie ihm aber auch zuwiderlaufen. Sie können ferner dazu genutzt werden, das Recht fortzubilden. Aufgrund dieser Eigenschaften der rechtsethischen Wertungen kann mit ihnen sowohl die gesetzliche Bedeutung erfasst werden als auch eine Rechtsfortbildung betrieben werden. Dabei kann beides nicht immer getrennt durchgeführt werden. Denn aus dem normativen Postulat der Gesetzesbindung resultiert ein Spannungsverhältnis zwischen der rechtsethischen Auslegung des Gesetzesinhalts und der rechtsethischen Begründung der Rechtsfortbildung.389 Deshalb kann mit der Rechtsfortbildung nicht ohne weiteres begonnen werden, ohne die auf rechtsethischen Wertungen beruhenden Möglichkeiten der Gesetzesauslegung zu überdenken und zu berücksichtigen. Dabei ist auch weiterhin zu beachten, dass sich rechtsethische Wertungen nicht in jedem Falle auf Gesetzesinhalte beschränken. Prinzipiell behandelt die rechtsethische Auslegung die Bedeutungserfassung einer Norm. Mit dem Vergleich der möglichen Ergebnisse einer Gesetzesauslegung, die sich ergeben, wenn man rechtsethische Wertungen berücksichtigt, sucht die rechtsethische Auslegung nach der geeigneten Hypothese und dem angemessensten Auslegungsergebnis als potenziellem Gesetzesinhalt. Ebenso ist eine rechtsethische Rechtfertigung für die Rechtsfortbildung relevant. Indem rechtsethische Wertungen sowohl die rechtsethische Auslegung als auch die Rechtsfortbildung beeinflussen, kann es zwischen der Auslegung der unbestimmten Gesetzesvorschrift und der Rechtsfortbildung „Überschneidungen“390 geben, wie zum Beispiel § 242 BGB durch seine rechtsethischen Wertungen nahelegen kann, eine neue rechtliche Konstruktion rechtsfortbildend zu schaffen. Dementsprechend ist das Ergebnis der rechtsethischen Auslegung nicht vollständig unabhängig von der Rechtsfortbildung. Damit können sich die Bedeutungserfassung des impliziten Gesetzesinhalts und die rechtsethische Begründung der Lückenausfüllung nach rechtsethischen Wertungen in „ein[em] wechselseitige[n] Kontinuum der Zu- und Abnahme“391 befinden. Es können fließende Übergänge bestehen, ohne einen exakten Methodenbereich abzugrenzen. 389

von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, S. 433. BeckOGK BGB / ​Kähler, § 242, Rn. 93. 391 von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, S. 433 f. 390

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

So begründet die rechtsethische Auslegung den Ausgangspunkt der Rechtsfortbildung. Dabei kann das Ergebnis der rechtsethischen Auslegung gegebenenfalls zur Begründung der von der Rechtsfortbildung geschaffenen Rechtskonstruktion dienen. Denn rechtsethische Wertungen im Gesetz sind nicht unabhängig von solchen außerhalb des Gesetzes, weil sie einander in der Regel ergänzen. Soweit eine rechtsethische Wertung im Gesetz ein sich aus der Gesamtheit der rechtsethischen Wertung ergebender Wertungsausschnitt ist,392 wird sie von dieser Gesamtheit auch mitbeeinflusst.393 Zwar sind die gesetzliche und die außergesetzliche rechtsethische Wertung positionell voneinander getrennt, aber für ein umfassendes Verständnis vom rechtsethischen Wertungssystem wirken sie zusammen. Dabei ist ein komplementäres Verhältnis zwischen den gesetzlichen und den außergesetz­lichen Teilen der rechtsethischen Wertung denkbar. Dieses Verhältnis besteht darin, dass der äußeren Form nach widersprüchliche, einander ausschließende oder nicht aufeinander bezogene Teile der rechtsethischen Wertung als notwendige wechselseitige Ergänzung für das Verständnis der Gesamtheit der rechtsethischen Wertung anzusehen sind. Die rechtsethischen Wertungen kann man sich wie ein Puzzle vorstellen: Nicht jedes Teil passt zwingend mit einem anderen zusammen, aber in der Gesamtheit der Teile ergibt sich ein vollständiges Bild. Deshalb ist es von vornherein schwierig, den allgemeinen Wirkungs- und Anwendungsbereich einer einzelnen rechtsethischen Wertung im Gesetz genau zu bestimmen. So kann man erst mithilfe der rechtsethischen Auslegung erkennen, inwieweit rechtsethische Wertungen als Gesetzesinhalt je nach Interessenlage und Situation zu berücksichtigen sind. Dabei lässt sich die auf dem möglichen Wortsinn beruhende strikte Abgrenzung zwischen der Gesetzesauslegung und der Rechtsfortbildung nicht aufrechterhalten. Eine allgemeine Grenzziehung zwischen ihnen ist nicht möglich, was aber deshalb nicht entscheidend ist, weil ihr bedingtes Verhältnis im Vordergrund steht, das von den jeweiligen individuellen Ergebnissen der rechtsethischen Auslegung abhängt. Folglich hängt die Rechtsfortbildung von den Ergebnissen der rechtsethischen Auslegung ab. Diese sagt, was das Gesetz noch rechtfertigt, und was nicht mehr. Es arbeitet also die Bedeutungsgrenzen des Gesetzes heraus. Würde man diese missachten, verlöre das normative Postulat der Gesetzesbindung seine regulative Kraft. Eindeutig ist deshalb nur, welches Verhältnis zwischen rechtsethischer Bedeutungserfassung und rechtsethischer Begründung der Lückenausfüllung besteht. So rückt bei der Betrachtung der begrenzt zulässigen Rechtsfindung contra legem nahezu ausschließlich die rechtsethische Begründung der Lückenausfüllung in den Vordergrund. Dagegen wirken die rechtsethische Bedeutungserfassung und die rechtsethische Begründung der Lückenausfüllung anteilig zusammen, wenn eine neue Rechtskonstruktion aufgrund eines unbestimmten Rechtsbegriffs im Gesetz 392

Vgl. Bonifacio, Komplementäres Recht, S. 107. Vgl. Simmel, Lebensanschauung, in: Fitzi / ​Rammstedt (Hg.), Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 423: „Auch im Sollen bestimmt das Ganze den Teil, lebt das Ganze im Teil.“

393

E. Schlussbemerkung zum ersten Teil

83

rechtsfortbildend geschaffen wird. Die rechtsethische Auslegung kommt allein zur Anwendung, wenn man angesichts einer konkreten Interessenlage erfassen will, worauf die für diese Interessenlage relevanten wertenden Begriffe und Grundsätze des Gesetzes gerichtet sind. So sind die rechtsethische Auslegung und die Rechtsfortbildung nicht von vornherein zu trennen. Vielmehr ist ein Spannungsfeld zwischen der rechtsethischen Bedeutungsbegründung und der rechtsethischen Begründung der Lückenausfüllung erkennbar. Dabei ist zu beachten, dass zwischen rechtsethischen Rechtfertigungen und der Gesetzesbindung ein reziprokes Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung besteht. Es hat sich damit gezeigt, dass sich die rechtsethische Auslegung nicht in Gänze erfassen lässt, ohne ihre methodische Verbindung zur Rechtsfortbildung zu sehen.

E. Schlussbemerkung zum ersten Teil Die vorliegende Arbeit befasst sich im ersten Teil mit dem Begriff und Inhalt der rechtsethischen Auslegung. Die rechtsethische Auslegung bezieht rechtsethische Argumente in die Gesetzesauslegung ein, die mit dem Gesetz zusammenhängen. Die rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode beruht auf dem Versuch, von der strikten formell-logischen Subsumtion abzurücken und die für konkrete Interessenlagen relevante Bedeutung des geltenden Rechts mit einer rechtsethischen Rechtfertigung und Kritik zu ergänzen. Um die rechtsethische Auslegung rechtsmethodisch zu kategorisieren, bildet ­ avignys Gesetzesauslegungslehre die Grundlage. Verglichen mit der heutigen S Rechtsmethodenlehre sind für den mangelhaften Gesetzeszustand, unter dem ­Savigny die Unbestimmtheit und Unrichtigkeit des Gesetzes versteht, drei Hilfsmittel von Bedeutung. Der mangelhafte Gesetzeszustand betrifft damit ein Problem, das auch heute noch die Methodenlehre beschäftigt. Um es zu lösen, wird häufig die objektiv-teleologische Auslegung angewendet. Bei ihr wird der objektivierte Zweck des Gesetzes betrachtet, um durch die Gesetzesauslegung eine angemessene Lösung für den Sachverhalt zu finden. Wegen des breiten Bedeutungsspektrums der ratio legis kommen diverse Gesichtspunkte bei der teleologischen Gesetzesauslegung zur Anwendung. Demnach können etwa die Folgenorientierung oder rechtspolitische Erwägungen in den objektiven Zweck des Gesetzes einbezogen werden. Auf diese Weise zieht die objektiv-teleologische Auslegung allerdings eine Methodenunklarheit nach sich. Indem die objektiv-teleologische Zwecksetzung begrifflich-analytisch mit rechtsethischen Prinzipien verbunden wird, wird auch die Grenze zwischen der Legalität und der Legitimität verwischt. Dabei kann die objektiv-teleologische Auslegung dazu führen, dass sich der Auslegende bestimmter Normen und gesetzlicher Prinzipien bedient, obwohl der von ihm gesetzte und vorausgesetzte Zweck darin nicht

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

vorgesehen war. Damit birgt die objektiv-teleologische Auslegung die Gefahr, dass die Gesetzesauslegung als ein allgemeines Gebot zur Rationalität aufgefasst wird oder zur uferlosen Ethisierung des Gesetzesinhalts führt. Angesichts der Methodenunklarheit der objektiv-teleologischen Auslegung ist die Kategorisierung ­Savignys zwischen dem zweiten und dem dritten Hilfsmittel bei der Auslegung des mangelhaften Gesetzes von Gewicht. Die beiden Hilfsmittel betreffen zum einen die Betrachtung des Grundes des Gesetzes und zum anderen die Berücksichtigung des inneren Werts des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts. Während das zweite Hilfsmittel im Falle der Unbestimmtheit und der Unrichtigkeit des Gesetzes angewendet werden kann, soll man das dritte Hilfsmittel nur bei einer Unbestimmtheit anwenden dürfen. Das zweite Hilfsmittel richtet sich zwar auf den Gesetzeszweck, aber es ist nicht mit jenem objektiven Gesetzeszweck gleichzusetzen, mit dem die objektiv-teleologische Auslegung operiert. Im Vergleich zum dritten Hilfsmittel und seinen Anwendungsvoraussetzungen wird für das zweite Hilfsmittel ebenso deutlich, dass auch der Gesetzesgrund den Wortlaut und seine Besonderheit zu beachten hat. Auf dieser Basis dient das dritte Hilfsmittel dazu, in einem an den möglichen Ergebnissen der Gesetzesauslegung orientierten Vergleich den für die betreffende Interesselage relevanten Gesetzesinhalt herauszufinden. Dies steht unmittelbar mit der Bedeutungserfassung des impliziten Gesetzesinhalts in Zusammenhang. Dieses dritte Hilfsmittel als rechtsmethodische Kategorie ist die Grundlage der rechtsethischen Auslegung. Bei der rechtsethischen Auslegung wird mit der Anführung der rechtsethischen Argumente versucht, mögliche normative Bedeutungen des positiven Rechts festzustellen. Dabei kommen rechtsethische Wertungen des Gesetzes in Betracht, die im Spannungsfeld zwischen dem rechtsdogmatischen Verständnis und der rechtsethischen Rechtfertigung liegen. Mit dieser rechtsmethodischen Grundposition weist die rechtsethische Auslegung Ähnlichkeit zur offenen Struktur der juristischen Hermeneutik auf, die ebenfalls anwendungsorientiert ist. Indes ist die rechtsethische Auslegung mit dem hermeneutischen Zirkel nicht vereinbar. Denn dieser ist wegen seiner Ausrichtung auf die metaphysische Ontologie nicht recht geeignet für das praktische Verstehen in Bezug auf die juristische Interpretation, welches eine bestmögliche und normative Lösung für eine gegenläufige Interessenlage hervorbringen soll. Unabdingbar ist, dass die rechtsethische Auslegung aus einer Position der bewussten Distanz zum auszulegenden Gegenstand betrieben wird, um den infiniten Regress des hermeneutischen Zirkels zu vermeiden. Denn diese Distanziertheit vom Gegenstand gewährleistet erst das genaue Beobachten, welches den Zweifel als notwendige Voraussetzung einer Kritik bzw. Rechtfertigung ermöglicht. Ohne die jeweiligen Besonderheiten eines Gesetzesinhalts zu ignorieren, sucht die rechtsethische Auslegung nach geeigneten Auslegungsmöglichkeiten und richtet sich situationsbedingt danach, wie stark sich rechtsethische Wertungen im Gesetz niedergeschlagen haben.

E. Schlussbemerkung zum ersten Teil

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Bei der Bedeutungserfassung des impliziten Gesetzesinhalts adaptiert die rechtsethische Auslegung nicht das prozedurale Konzept der juristischen Argumentationslehre, sondern gründet sich auf den rechtsethischen Minimalismus. Der rechtsethische Minimalismus richtet sich mit Minimalwertungen, die je nach ihrer Intensität und Klarheit an Gewicht gewinnen, nicht auf universale apriorische Moralprinzipien. Er sucht vielmehr nach Möglichkeiten der rechtsethischen Rechtfertigung für geläufige Interessenlagen. Anhand dieser Eigenschaft des rechtsethischen Minimalismus führt die rechtsethische Auslegung gerade keine allgemeine einheitliche Prüfung der rechtsethischen Wertung ein. Sie nimmt mögliche Widersprüche zwischen einschlägigen rechtsethischen Minimalwertungen und deren Zusammenhang mit anderen rechtsethischen Minimalwertungen ernst, ohne strikt an eine teleologische Systematisierung der Rechtsprinzipien gebunden zu sein. So betrachtet die rechtsethische Auslegung die rechtsethische Wertung nicht nach einem formell-logischen oder prozeduralen Konzept, sondern fragt nach ihrer punktuellen Realisierbarkeit im Gesetz. Rechtsethisch ausgelegt wird, indem zuerst rechtsethische Minimalwertungen vorgeschlagen werden. Sodann sucht die rechtsethische Auslegung nach der bestmöglichen normativen Hypothese und deren angemessensten Ergebnis. So ist die Ähnlichkeit der rechtsethischen Auslegung mit der Abduktion zu bemerken. Auch ist die rechtsethische Auslegung vergleichsorientiert, da sie der Auslegungsmöglichkeit mit den besseren Argumenten den Vorzug gibt. Schließlich richtet sich die rechtsethische Auslegung nicht darauf, ein striktes Regel-Ausnahme-Schema in der Rechtsdogmatik zu festigen, sondern auf die situationsbedingte und problembezogene Materialisierung von rechtsdogmatischen Grundsätzen und die interessengerechte Individualisierung der impliziten Gesetzesinhalte. Die rechtsethische Auslegung und die Normkonkretisierung gleichen einander nicht vollständig. Durch die rechtsethische Auslegung kann eine Norm zwar konkretisiert werden. Indem rechtsethische Argumente in Bezug auf eine konkrete Interessenlage vergleichsorientiert angeführt werden, zeigen sich auch mögliche Inhalte des Gesetzes immer konkreter. Darin weisen rechtsethische Auslegung und Normkonkretisierung eine Gemeinsamkeit auf. Die Normkonkretisierung ist ein Oberbegriff für die konkrete Rechtsanwendung und ihr Verfahren. Damit fasst die Normkonkretisierung unterschiedliche Argumente für die konkrete Rechtsanwendung zusammen, während die rechtsethische Auslegung die Überzeugungskraft der rechtsethischen Argumente im Gesetz erhöhen soll. In diesem Sinne gibt es lediglich eine Schnittmenge zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Normkonkretisierung. Betrachtet wurde auch das Verhältnis zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Rechtsfortbildung. Grundsätzlich kann die Gesetzesauslegung vorgenommen werden, um eine Gesetzeslücke festzustellen. In einem zweiten Schritt wird sodann durch die Rechtsfortbildung die Lücke des Gesetzes ausgefüllt. Dies erweckt den Anschein, als ob die Lückenfeststellung und die Lückenausfüllung

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1. Teil: Rechtsethische Auslegung als Gesetzesauslegungsmethode 

voneinander separiert seien. Dennoch lässt sich beides auch simultan ausführen. Insbesondere bei der teleologischen Reduktion wird die Lücke des Gesetzes durch die Berücksichtigung der immanenten Teleologie des Gesetzes festgestellt und gleichzeitig wird diese Lücke mit der Verbindung zwischen der ratio legis und dem negativen Gleichheitssatz ausgefüllt. Diese Einheit von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung ist auch bei der rechtsethischen Auslegung möglich. Prinzipiell behandelt die rechtsethische Auslegung die Bedeutungserfassung. Dabei spielen rechtsethische Wertungen eine Rolle, um mögliche implizite Gesetzesinhalte zu untersuchen. Ebenso ist eine rechtsethische Rechtfertigung für die Rechtsfortbildung erforderlich. Indem rechtsethische Wertungen sowohl die rechtsethische Auslegung als auch die Rechtsfortbildung beeinflussen, gibt es insoweit zwischen der Auslegung der unbestimmten Gesetzesvorschrift und der Rechtsfortbildung Überschneidungen. Das Gesetz kann rechtsethische Wertungen nicht für sich allein beanspruchen, selbst wenn rechtsethische Wertungen in das Gesetz einbezogen sind. Sie können zugleich etwa für die Ethik relevant sein. Rechtsethische Wertungen im Gesetz sind auch nicht ohne jede Abhängigkeit von solchen außerhalb des Gesetzes, sodass sie diese außergesetzlichen rechtsethischen Wertungen ergänzen und mit ihnen innerlich zusammenhängen. Dementsprechend sind die rechtsethische Bedeutungserfassung des Gesetzesinhalts und die rechtsethische Begründung der Lückenausfüllung bei der Prüfung nicht immer strikt trennbar. Unter dem normativen Postulat der Gesetzesbindung wird dabei ein Spannungsverhältnis zwischen der rechtsethischen Bedeutungserfassung im Gesetz und der rechtsethischen Begründung der Lückenausfüllung ersichtlich. Dabei können sich beide in der Betrachtung rechtsethischer Wertungen wechselseitig mehr oder weniger stark beeinflussen.

2.

Zweiter Teil

Anwendung der rechtsethischen Auslegung am Beispiel der Drittschadensliquidation Im zweiten Teil der Arbeit geht es um die Anwendung der rechtsethischen Auslegung. Die rechtsethische Auslegung behandelt Fälle, in denen es um das Spannungsverhältnis zwischen rechtsdogmatischen Inhalten und rechtsethischen Wertungen geht. In solchen Fällen kommt es meist auf eine Materialisierung der Rechtsdogmatik an. Sie besagt, dass eine formelle, rechtsdogmatische Regel je nach Interessenlage nicht immer strikt angewendet werden kann. Dabei ist die Frage zu betrachten, inwieweit formelle, rechtsdogmatische Regeln aufrechtzuerhalten sind, weil sie eine für eine Interessenlage relevante rechtsethische Wertung beinhalten, obwohl andere rechtsethische Wertungen ihnen zugleich zuwiderlaufen. Hierbei könnte auch eine Rechtsfortbildung nötig sein, wenn das Gesetz keine passende Lösung bereitstellt. Zu diesen Betrachtungen trägt die rechtsethische Auslegung bei, indem sie prüft, inwieweit rechtsethische Argumente als Gesetzesinhalte zu berücksichtigen sind Um die praktische Anwendungsmöglichkeit der rechtsethischen Auslegung aufzuzeigen, nutzt die vorliegende Arbeit die Drittschadensliquidation als Beispiel. Die Konstruktion der Drittschadensliquidation ermöglicht, dass ein Gläubiger bzw. Verletzter eines Schuldverhältnisses dann einen Drittschaden geltend machen kann, wenn dabei eine sogenannte zufällige Schadensverlagerung durch Nichterfüllung eines Vertrags oder eine Verletzung der Rechte aus § 823 BGB etc. vorliegt.1 Um die Drittschadensliquidation anzuwenden, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt werden:2 Erstens muss eine Person in einem Rechtsverhältnis zu anderen stehen, dieser Person darf aber kein Schaden entstanden sein. Stattdessen muss der ersatzbedürftige Schaden einem Dritten entstanden sein, welcher keinen Anspruch auf Schadensersatz hat. Drittens muss der Schaden aus Sicht des Schädigers zufälligerweise auf den Dritten verlagert worden sein.3 1

Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 462 ff.; Brand, Schadensersatzrecht, § 4, Rn. 9 ff. MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 289; Brox / ​Walker, Allgemeines Schuldrecht, § 29, Rn. 15; Erman / ​Ebert, Vor §§ 249–253, Rn. 124; Fuchs / ​Pauker / ​Baumgärtner, Delikts- und Schadensersatzrecht, S. 386. 3 Zur sogenannten zufälligen Schadensverlagerung siehe Brox / ​Walker, a. a. O., § 29, Rn. 15; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 46, Rn. 9. Dazu formulierte der BGH wie folgt: „Wenn das durch den Vertrag geschützte Interesse infolge der rechtlichen Beziehung zu einem Außenstehenden in der Weise auf diesen verlagert ist, dass der Schaden ihn und nicht den Gläubiger trifft“ (BGH NJW 1998, 1864, 1864 ff.). 2

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Trägt der Dritte beispielsweise im Verhältnis zu dem Inhaber der verletzten Rechtsposition die Gefahr des zufälligen Untergangs, dann kann der Schaden wegen der Verletzung des Eigentums lediglich beim Dritten entstehen, weil der Dritte diesen Schaden ausgleichen muss, sodass es beim Inhaber der Rechtsposition keine Vermögensveränderung gibt. Infolgedessen findet die Vermögensveränderung beim Dritten statt. Dabei scheint es, als würde der Schaden des Inhabers der Rechtsposition zufällig auf den Dritten, der keinen Anspruch gegen den Schädiger hat, verlagert. Doch diese zufällige Schadensverlagerung rechtfertigt nicht die Entlastung des Schädigers. In einer solchen Situation kann der Inhaber der Rechtsposition mithilfe der Drittschadensliquidation berechtigt sein, den Drittschaden geltend zu machen.4 Diese Konstruktion der Drittschadensliquidation ist in rechtsdogmatischer Hinsicht nicht zweifelsfrei begründet.5 Vor allem widerspricht sie offensichtlich dem Dogma vom Gläubigerinteresse, welches besagt, dass der Geschädigte grundsätzlich nur seinen eigenen Schaden geltend machen kann.6 Daraus ergibt sich, dass der Ersatz eines Drittschadens prinzipiell nicht gestattet ist. Mit diesem strikten Verbot des Drittschadensersatzes lassen sich aber nicht alle Konstellationen vereinbaren, in denen nach §§ 249 ff. BGB ein Schadensausgleich geboten ist. Es können verschiedene Variationen von Drittschadensfällen auftreten, in denen es beim Schädiger keine ungerechte Haftungserweiterung gibt. Zum Beispiel kann man sich vorstellen, dass ein mit dem Leistungsinteresse zusammenhängender Schaden entweder nur beim Verletzten oder nur beim Dritten entsteht. Dabei erweitert sich die Haftung des Schädigers nicht, wenn der Drittschaden zu ersetzen ist. Denn in solch einer Situation kann der Schaden nicht beim Verletzten entstanden sein, sodass es dabei keine Kumulation von Schäden gibt. Vielmehr wäre zumindest in diesem Fall die mögliche Entlastung des Schädigers ungerecht. Nur wegen des Eintritts eines Schadens bei einem Dritten darf sich der Schädiger also nicht vollständig von seiner Schadensersatzpflicht befreien. Diesbezüglich geht es darum, unter welchen materiellen Bedingungen der Drittschaden als ersatzfähig anzusehen ist. Zu betrachten ist dafür die Begründung des Ersatzes bzw. der Liquidation des Drittschadens. Die Drittschadensliquidation weicht zwar vom Dogma vom Gläubigerinteresse ab. Bei der Drittschadensliquidation kommt es aber nicht zu einer Haftungserweiterung des Schädigers,7 weil der dem Leistungsinteresse entsprechende Schaden durch die zufällige Schadensverlagerung entweder nur beim Gläubiger oder nur beim Dritten entsteht. Deshalb gibt es auch keinen Grund dafür, dass der Schädiger von seiner Haftung befreit werden soll. So steht die Drittschadensliquidation 4

RGZ 62, 331; BGH NJW 1970, 38. Siehe dazu Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 156; Diederichsen, Die Haftung des Warenherstellers, S. 146. 6 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 455 ff. 7 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 693. 5

2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung

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grundsätzlich vor einem Spannungsverhältnis zwischen der Widerspruchsfreiheit der Rechtsdogmatik und dem für die Ersatzfähigkeit eines Drittschadens relevanten, gerechten Interessenausgleich.8 In diesem Spannungsverhältnis geht es darum, wie die Drittschadensliquidation zu rechtfertigen ist. Dafür ist zu betrachten, ob und inwieweit rechtsdogmatische Grundsätze des Schadensrechts durch eine rechtsethische Auslegung flexibilisiert werden können. Dadurch lässt sich herausfinden, ob die Drittschadensliquidation dem interessengerechten Ausgleich des Drittschadens dienen kann. Bislang dauert die Diskussion um die Notwendigkeit der Drittschadensliquida­ tion an.9 Dabei ist die Drittschadensliquidation schon als „Tummelplatz der Lehrmeinungen“10 bezeichnet worden. Trotz aller bisherigen rechtsdogmatischen Kritik wendet die Rechtsprechung weiterhin die Drittschadensliquidation an.11 In praxisrelevanter Hinsicht scheint es einer Rechtfertigung der Drittschadensliquidation zu bedürfen. Im Vergleich mit der rechtsdogmatischen Kritik der Drittschadensliquidation ist auch die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation zu betrachten. Denn diese Kritik führt ein neues Verständnis der rechtsdogmatischen Begriffe und eine neue rechtsdogmatische Konstruktion herbei, um die Anwendung der Drittschadensliquidation zu vermeiden. Es bleibt dabei noch ungewiss, ob diese Kritik die Drittschadensliquidation vollständig ausschließen kann. Man kann diese Möglichkeiten für den Ausgleich des Drittschadens erst dann richtig beurteilen, wenn man ihre einzelnen Rechtfertigungen miteinander verglichen hat. Dafür prüft die rechtsethische Auslegung die auf den rechtsethischen Wertungen des Schadensrechts beruhenden Auslegungsergebnisse und unterstützt die für die Drittschadensliquidation relevante Auslegungsmöglichkeit. Insofern stützt sich die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation auf die rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts.

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Vgl. Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 125, 128 ff. Etwa Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik – Ein Beitrag zur Koordinierung von Rechtsfortbildungen, 1971; Peters, Zum Problem der Drittschadensliquidation, AcP 1980, 329; Junker, Das „wirtschaftliche Eigentum“ als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, AcP 1993, 348; Büdenbender, Vorteilsausgleichung und Drittschadensliquidation bei obligatorischer Gefahrentlastung, 1996; Traugott, Das Verhältnis von Drittschadensliquidation und vertraglichem Drittschutz  – Zugleich eine Lanze für die Liquidation im Drittinteresse, 1997; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter – Unter Berücksichtigung der Pflichtenlehre des Kommissionsentwurfs, 1999; Stamm, Regreßfiguren im Zivilrecht – Eine Rückbesinnung auf die Gesamtschuld unter Neubewertung des Zessionsregresses gemäß § 255 BGB und der Drittschadensliquidation, 2000; Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, 2011; Schubert, Drittschadensliquidation und UN-Kaufrecht – Eine Untersuchung vor dem Hintergrund des deutschen Rechts mit vergleichender Betrachtung des englischen, französischen und schweizerischen Rechts, 2011. 10 Reinhardt, Der Ersatz des Drittschadens, S. 1; Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 8. 11 BGH NJW 2016, 1089 ff. 9

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation Zunächst ist zu betrachten, was die Drittschadensliquidation ist und auf welche Interessenlage sie anzuwenden ist. Dabei wird die Drittschadensliquidation mit anderen rechtlichen Lösungen verglichen, die sich mit dem Ausgleich eines etwaigen Drittschadens befassen. Ebenfalls wird auf die rechtsdogmatische Kritik der Drittschadensliquidation eingegangen. Dadurch lässt sich die Frage beantworten, ob die Drittschadensliquidation entbehrlich ist und welche Rolle sie für das zu ersetzende Drittinteresse spielen kann. Auf diesem Wege wird untersucht, ob an der Drittschadensliquidation festzuhalten ist.

I. Allgemeine Problematik des Drittschadens Ein Schaden stellt nicht nur eine abstrakte Verminderung des Vermögenswertes dar; vielmehr setzt der Schadensbegriff einen Geschädigten voraus.12 Die Schadensermittlung hängt mit der Frage zusammen, wem der Schaden zugefügt worden ist. Mit dieser Subjektbezogenheit des Schadens geht die Frage einher, wem der Schadensersatzanspruch zustehen soll. In der Regel sind der Verletzte und der Geschädigte als Einheit anzusehen. Dadurch wird die „Parallelität von Verletzung und Schaden“13 geprägt, die im Allgemeinen dazu führt, dass den verletzten Rechtsverhältnissen die Ausgleichsverhältnisse entsprechen. Daraus ergibt sich konsequenterweise, dass dem Vertragspartner bei der Vertragsverletzung und dem Rechteinhaber bei der deliktischen Verletzung eines in Haftungstatbeständen geschützten Rechtsguts ein Schadensersatzanspruch zustehen soll.14 In diesem Zusammenhang ist auch das „Dogma vom Gläubigerinteresse“15 von Bedeutung. Nach diesem Grundsatz des Schadensrechts ist der Ersatz eines Drittschadens prinzipiell nicht gestattet. Nur der Schaden im Vermögen des Verletzten ist sowohl für die Haftungsentstehung als auch für den Haftungsumfang maßgeblich.16 Demnach scheidet die Ersatzfähigkeit eines Drittschadens prinzipiell aus.

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Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, S. 459; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 455. 13 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 919 ff. 14 BGHZ 51, 91, 93. 15 Dies sei die Kurzform des sogenannten „[Dogmas] von der ausschließlichen Ersatzfähigkeit des Gläubigerinteresses“. Siehe dazu Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 1; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 458; Brand, Schadensersatzrecht, § 4, Rn. 1. 16 Diehle, Rechtsträgerschaft für fremde Rechnung und Schadenseintritt beim Dritten, S. 1.

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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Lediglich der unmittelbar Geschädigte ist ersatzberechtigt.17 § 249 BGB beinhaltet dieses Dogma zwar nicht ausdrücklich; es findet seinen Niederschlag aber in § 251 BGB, der davon spricht, der Gläubiger sei zu entschädigen.18 Dies kann auch im Umkehrschluss aus den Vorschriften zum allgemeinen Schadensrecht, den §§ 249 ff. BGB, abgeleitet werden.19 Es ergibt sich also, dass nicht einem Dritten, sondern dem Gläubiger der Schaden ersetzt werden soll. Dennoch kann die Parallelität von Verletzung und Schaden nicht immer aufrechterhalten werden. Diese Parallelität steht Problemen des Drittschadens gegenüber, die meistens mit einer Koppelung wirtschaftlicher Verhältnisse zusammenhängen. Dabei geht es um Transportleistungen, Veräußerungsketten, Untervertragsverhältnisse sowie den Geschäftsverkehr zwecks moderner Arbeitsteilung und wirtschaftlicher Mobilität wie die mittelbare Stellvertretung etc.20 In diesen Fällen bestehen Verbindungen und Ausweitungen der wirtschaftlichen Verhältnisse, wobei in rechtlicher Hinsicht deren Beteiligte isoliert zu betrachten sind.21 Aufgrund dieser Erweiterung der wirtschaftlichen Verhältnisse entstehen Situationen, in denen durch eine Rechtsverletzung in einem zweipoligen Rechtsverhältnis einem Dritten Schäden zugefügt werden. Dabei besteht eine „Diskrepanz zwischen formaler Rechtsstellung und wahrer (wirtschaftlicher) Interessenlage“.22 Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Schaden zwar aus der Verletzung resultiert, bei der Schadensermittlung aber nicht nur auf die Verletzung abgestellt wird. Insbesondere wenn sich die Schadensermittlung hauptsächlich auf die tatsächliche Gesamtvermögensveränderung fokussiert, kann der Verletzte gegebenenfalls nicht mehr zum Geschädigten werden, wenn ein Dritter den Schaden ausgleicht. Denn eine tatsächliche Gesamtvermögensveränderung aufgrund der Verletzung entsteht dann nur beim Dritten, der an einem mit dem verletzten Rechtsverhältnis zusammenhängenden Rechtsverhältnis beteiligt ist. Von dieser möglicherweise fehlenden Parallelität von Verletzung und Schaden geht die Problematik des Drittschadens bzw. des Schadens des mittelbar Geschädigten aus.

17 RGZ 55, 30; 97, 87; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 46, Rn. 1; Erman / ​ Ebert, Vor §§ 249–253, Rn. 118; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 280. 18 Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 49; Erman / ​Ebert, Vor §§ 249–253, Rn. 118; Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 692; Petersen, Der Dritte im Zivilrecht, § 12, Rn. 1; Witschen, Schadensverteilung im allgemeinen Haftungsrecht und im Schadensvorsorgerecht, S. 17. Ferner ist es auch im internationalen Kaufrecht in Art. 74 CISG zu finden. Vgl. Staudinger / ​Magnus, Art. 74 CISG, Rn. 14; MüKoBGB / ​Huber, Art. 74 CISG, Rn. 6. 19 Stamm, Regreßfiguren im Zivilrecht, S. 226; Kötz, Vertragsrecht, Rn. 1067. 20 HKK / ​Michaels, vor § 241, Rn. 68; Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 56 f., 71; Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, S. 10; vgl. Hénaff, Der Preis der Wahrheit, S. 114 ff. 21 Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 429 ff. 22 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 920.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Dem Ersatz bzw. der Liquidation des Drittschadens wohnt grundsätzlich die Gefahr inne, dass das Haftungsrisiko des Schädigers nicht angemessen verteilt werden kann. Denn der trotz der fehlenden Parallelität von Verletzung und Schaden zu leistende Schadensersatz kann nicht die Berechenbarkeit der Haftung gewährleisten, weil in dem verletzten Zweipersonenverhältnis nicht ohne weiteres mit dem Eintritt des Drittschadens gerechnet werden kann. Daher stellt sich die Frage nach der Ersatzfähigkeit des Drittschadens. Prinzipiell kommt diese nur ausnahmsweise in Betracht, wie die §§ 844 f. BGB, der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte und die Drittschadensliquidation zeigen.23 Derartige Ausnahmevorschriften für den Drittschadensersatz sind auch im Vertragsrecht, etwa in §§ 618 Abs. 3, 701 BGB, oder im Familienrecht, etwa in § 1298 Abs. 1 BGB, zu finden.24

II. Begriff der Drittschadensliquidation Wegen des Ausnahmecharakters der Drittschadensliquidation beschränkt sich ihre Anwendung lediglich auf bestimmte Konstellationen.25 Typische Beispiele der Drittschadensliquidation sind Fälle der mittelbaren Stellvertretung,26 der obliga­ torischen Gefahrentlastung,27 des Obhuts-28 und des Treuhandverhältnisses29. Wenn die allgemeinen Voraussetzungen30 der Drittschadensliquidation erfüllt sind, kann die verletzte Partei des Rechtsverhältnisses den Drittschaden vom Schädiger ersetzt verlangen. Dieser wird mithin wie ein eigener Schaden des Verletzten behandelt.31 „Der Schaden wird zum Anspruch gezogen, nicht der Anspruch zum Schaden.“32 So liquidiert der Gläubiger den Schaden des Dritten. Konsequenterweise müsste zwar der Drittschaden bei der Bestimmung des Schadensumfangs maßgeblich sein; es ist aber umstritten, ob ein entgangener Gewinn des Dritten nach § 252 BGB im Wege der Drittschadensliquidation ersetzt werden

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BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 358 f.; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 280 ff. Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 836; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 461 f. Zu anderen Beispielen der gesetzlichen Ausnahmen vgl. Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 19; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 50. 25 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 701. 26 RGZ 27, 118, 125; 40, 173, 174; BGHZ 25, 250, 258; 57, 335, 336; OLG Düsseldorf TranspR 1998, 265. 27 RGZ 62, 331, 334; BGHZ 40, 91, 100 f.; BGH NJW 1970, 38, 41. 28 RGZ 90, 240, 246; BGHZ 15, 224, 228. 29 RGZ 107, 132, 135; BGHZ 128, 371, 376; BGH NJW 1998, 1864, 1865. 30 Siehe dazu S. 100. 31 Es sei ein „Trick“ oder „kaschiert“ und darin bestehe auch die „Als-ob-Betrachtung“, siehe dazu Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 838; Bredemeyer, Das Prinzip „Drittschadensliquidation“, JA 2012, 102, 107; Weiss, Die Drittschadensliquidation – alte und neue Herausforderungen, JuS 2015, 8, 9.  32 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 694. 24

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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kann oder ob der Schadensumfang sich lediglich nach der Person des Gläubigers richten soll.33 Was ersetzt wird, kann nach § 285 BGB an den Dritten weitergeleitet werden.34 Damit wird dem Dritten durch die direkte oder analoge Anwendung des § 285 BGB ein Abtretungsanspruch gegenüber der verletzten Partei eingeräumt: Der Dritte kann von dieser verlangen, den aus seinem Schaden resultierten Anspruch an ihn abzutreten.35 Ferner kann die verletzte Partei direkt auf Leistung an den Dritten klagen.36 Außerdem kann der Dritte von dieser ermächtigt werden, seinen Schaden im eigenen Namen als gewillkürter Prozessstandschafter (§ 51 ZPO)37 geltend zu machen.38 Bei der Schadensberechnung kann ein etwaiges Mitverschulden der verletzten Partei auf den Schaden des Dritten angerechnet werden.39 § 254 BGB ist auch bei einem Mitverschulden des Dritten anwendbar.40 Die Drittschadensliquidation ist nicht gestattet, wenn sie lediglich die verletzte Partei des Rechtsverhältnisses als den Anspruchsinhaber bereichert, ohne dem geschädigten Dritten den Ersatz weiterzuleiten, oder wenn sie nicht dem Willen des Geschädigten entspricht,41 zum Beispiel weil der Dritte von der Partei des Rechtsverhältnisses keinen Ersatz verlangen kann oder will.42 Allerdings ist das vom Schädiger zu beweisen.43 Die Rechtsfigur der Drittschadensliquidation gab es bereits vor Inkrafttreten des BGB. Erste Diskussionen begannen Mitte des 19. Jahrhunderts.44 Im Jahre 1855 erging hinsichtlich der Drittschadensliquidation bei der mittelbaren Stellvertretung ein Urteil des Lübecker Oberappellationsgerichts.45 Die Pandektenwissenschaftler schwiegen zur Problemlage der Drittschadensliquidation.46 Als der Gesetzgeber 33

Siehe dazu Brand, Schadensersatzrecht, § 4, Rn. 10. Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 67. 35 Weiss, Die Drittschadensliquidation – alte und neue Herausforderungen, JuS 2015, 8, 9; vgl. Nissen, Die Drittschadensliquidation in der Insolvenz des Gläubigers, KTS 2010, 291, 294. 36 BGH WM 1987, 581, 582. 37 Zeiss / ​Schreiber, Zivilprozessrecht, Rn. 132. 38 BGHZ 25, 250, 259; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 294; Esser / ​Schmidt, Schuldrecht, Band 1, Allgemeiner Teil, Teilband 2, S. 250 f. 39 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 481; Brand, Schadensersatzrecht, § 4, Rn. 15; Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 363 f. 40 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 294. 41 Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 334; Hirsch, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 1130. 42 BGH NJW 1998, 1864, 1865; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 295; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 67; Erman / ​Ebert, Vor §§ 249–253, Rn. 124; Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 334. 43 BGH NJW 1998, 1864, 1865. 44 von Caemmerer, Das Problem des Drittschadensersatzes, in: Leser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 597; Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, S. 9 f. 45 SeuffA 11 (1857) Nr. 36; auch vom Reichsoberhandelsgericht (ROHG 11, 256; 14, 400; 17, 78; 22, 248) und Reichsgericht (RGZ 27, 118). 46 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 71. 34

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das BGB einführte, erkannte er bereits deren Notwendigkeit. In der Vorkommission des Reichsjustizamtes47 und in der 2. Kommission48 schlug Jacubezky49 die Kodifikation der Drittschadensliquidation vor.50 Trotzdem wurde dies abgelehnt, da „auch ohne eine ausdrückliche Bestimmung die Rechtsprechung wie bisher zu dem richtigen Ergebnisse gelangen werde, und es sich nicht [empfehle], in einer so zweifelhaften, noch nicht zu festem Abschlusse gelangten Frage der wissenschaftlichen Entwicklung vorzugreifen“.51 In diesem Bewusstsein wurde letztlich auf die Kodifizierung der Drittschadensliquidation verzichtet. Dennoch wurde diese im Wege der richterrechtlichen Rechtsfortbildung weiter anerkannt. Dabei wurde sie in Bezug auf die Fallgruppe der mittelbaren Stellvertretung auch als Gewohnheitsrecht angesehen.52

III. Fälle der Drittschadensliquidation Bei den Konstellationen der Drittschadensliquidation kann es in jeder Fallgruppe verschiedene Unterfälle geben. In der vorliegenden Arbeit lassen sich aber nicht sämtliche Fälle der Drittschadensliquidation betrachten.53 Da sie nicht 47 § 221a: Besteht in Ansehung des Gegenstandes, an welchem der zu ersetzende Schaden entstanden ist, zwischen dem Beschädigten und einem Dritten ein Rechtsverhältniß, vermöge dessen der Beschädigte den Ersatzanspruch dem Dritten abzutreten verpflichtet ist, so kann von dem Schuldner Ersatz des dem Dritten entstandenen Schadens gefordert werden. 48 § 221a: 1. Ist durch den die Ersatzpflicht begründenden Umstand einem Dritten ein Schaden entstanden, wegen dessen der Dritte von dem Ersatzberechtigten Abtretung des Ersatzanspruchs zu verlangen berechtigt ist, so erstreckt sich die Ersatzpflicht auf den dem Dritten entstandenen Schaden. 2. Hat Jemand im eigenen Name für Rechnung eines Anderen einen Vertrag mit einem Dritten geschlossen, so ist im Falle der Nichterfüllung von dem Dritten der Schaden zu ersetzen, welchen derjenige erlitten hat, für dessen Rechnung der Vertrag geschlossen wurde. eventuell mit dem Zusatze: Die Vorschrift des ersten Absatzes findet entsprechende Anwendung, wenn durch eine zum Schadensersatze verpflichtende Handlung Gegenstände beschädigt sind, welche der Beschädigte einem Anderen herauszugeben verpflichtet ist. 49 Zu Jacubezky vgl. Finkenauer, Karl Jacubezky und das BGB, ZRG GA 2014, 325, 325 ff. 50 Jakobs / ​Schubert (Hg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Recht der Schuldverhältnisse §§ 241 bis 432, S. 108 f.; vgl. Brodführer, Bewusste Lücken im Gesetz und der Verweis auf „Wissenschaft und Praxis“, S. 57 ff. 51 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, S. 518. 52 BGHZ 133, 36, 41; vgl. Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 142; Tägert, Die Geltendmachung des Drittschadens, S. 37; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 467; Büdenbender, Vorteilsausgleichung und Drittschadensliquidation bei obligatorischer Gefahrentlastung, S. 70 ff. 53 Zu verschiedenen Fällen der Drittschadensliquidation vgl. Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 466 ff.; Weiss, Die Drittschadensliquidation – alte und neue Herausforderungen, JuS 2015, 8, 8 ff.; ders., Anmerkung zu BGH, Urteil vom 14.1.2016 – VII ZR 271/14, NJW 2016, 1091, 1092; Verweyen, Gegenläufige Entwicklungstendenzen bei der Drittschadensliquida-

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einzelne rechtsdogmatische Fragen der Drittschadensliquidation, sondern deren grundlegende Rechtfertigung zum Hauptthema hat, beschäftigt sie sich im Folgenden lediglich mit einigen für diesen Forschungszweck relevanten Fällen. 1. Obligatorische Gefahrentlastung Aufgrund der gesetzlichen Regelungen oder einer individuellen Vereinbarung über eine obligatorische Gefahrentlastung können Verletzter und Geschädigter differieren. Repräsentativ ist dafür der Fall des Versendungskaufs.54 Nach § 447 BGB geht die Preisgefahr auf den Käufer über, wenn der Verkäufer die Kaufsache einem Spediteur übergeben hat. Diese Regelung ist indes auf den Verbrauchsgüterkauf modifiziert anzuwenden, § 475 Abs. 2 BGB. Wenn die Kaufsache wegen des Verschuldens des Spediteurs untergegangen ist, dann wird das Eigentum des Verkäufers verletzt und damit auch der Speditionsvertrag nicht erfüllt. Aber ein Schaden besteht nicht beim Verkäufer, weil der Käufer wegen des gesetzlichen Übergangs der Preisgefahr trotzdem den Kaufpreis an den Verkäufer zahlen muss. Somit ändert sich nicht die Gesamtvermögenslage des Verkäufers. Folglich hätte der Käufer den Schaden, weil sein Gesamtvermögen wegen der Preisgefahrtragung vermindert wird. Er hätte jedoch keinen Anspruch, denn er ist weder Partner des Speditionsvertrags noch Eigentümer, also auch nicht Inhaber der in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechte. Um den Schaden des Käufers dennoch zu ersetzen, wird die Drittschadensliquidation herangezogen. Das ist aber nicht der Fall, wenn bereits Vorschriften des Transportrechts wie §§ 421 Abs. 1 S. 2, 425 Abs. 1 HGB anzuwenden sind.55 Denn diese berechtigen den Käufer bereits, seinen eigenen Schadensersatzanspruch gegenüber der Transportperson geltend zu machen.56 Dann ist die Drittschadensliquidation entbehrlich.57 Eine dem Versendungskauf ähnliche Situation kann beim Werkvertrag auftreten. Nach § 644 Abs. 1 BGB trägt der Werkunternehmer bis zur Abnahme des Werkes die Preisgefahr. Wenn der Besteller nach §§ 946 ff. BGB bereits Eigentümer der tion?, Jura 2006, 571, 571 ff.; Stamm, Die Auflösung der Drittschadensliquidation im Wege der Gesamtschuld, AcP 2017, 165, 168; Hirsch, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 1129; Gomille, Die Drittschadensliquidation im System des Haftungsrechts, Jura 2017, 619, 626. 54 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 700. 55 Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 46, Rn. 13; Medicus / ​L orenz, a. a. O., Rn. 700; Hk-BGB / ​Schulze, Vor §§ 249–253, Rn. 29; Oetker, Versendungskauf, Frachtrecht und Drittschadensliquidation, JuS 2001, 833, 841. 56 Becker, Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den Frachtführer gemäß § 421 Abs. 1 S. 2 HGB, AcP 2002, 722, 723. 57 Bredemeyer, Das Prinzip „Drittschadensliquidation“, JA 2012, 102, 104; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499.

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Sache ist wie etwa beim Einbau einer Sache, trägt der Werkunternehmer bis zur Abnahme die Gefahr des zufälligen Untergangs der Sache. Wenn das Werk durch Verschulden eines Dritten beschädigt oder zerstört wird, könnte dem Besteller zwar ein Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung des Eigentums zustehen. Allerdings hat der Besteller keinen Schaden, weil der Werkunternehmer aufgrund der Gefahrtragung noch zur Ausbesserung oder zur Neuherstellung verpflichtet ist. In diesem Fall hätte der Eigentümer bei einer durch einen Dritten verursachten Beschädigung der Sache zwar einen Anspruch, aber keinen Schaden. Dagegen hätte der Werkunternehmer zwar einen Schaden, aber keinen Anspruch. Auch hier kann die Drittschadensliquidation angewandt werden. Auch beim Vermächtnis kommt die Drittschadensliquidation in Betracht. Hat ein Erblasser in seinem Testament ein Vermächtnis angeordnet, hat der Erbe nach § 2174 BGB dem Bedachten den vermachten Gegenstand zu übergeben. Beschädigt ein Dritter diesen Gegenstand fahrlässig, bevor der Erbe diese Pflicht erfüllen kann, dann wird der Erbe, der die Beschädigung nicht zu vertreten hat, von dieser Verschaffungspflicht befreit, wie § 275 Abs. 1 BGB anordnet. Somit hätte der Erbe zwar einen Anspruch gegen den Dritten aus § 823 BGB, aber keinen Schaden. Dagegen hätte der Bedachte zwar einen Schaden, er aber hätte keinen Anspruch gegen den Dritten. Schließlich wäre er noch nicht der Eigentümer des vermachten Gegenstandes. Um den Schaden des Bedachten abzuwickeln, kann die Drittschadensliquidation helfen. 2. Mittelbare Stellvertretung Anders als bei der allgemeinen Stellvertretung nach den §§ 164 ff. BGB handelt der mittelbare Stellvertreter im eigenen Namen, aber im Interesse und auf Rechnung des Geschäftsherrn. Infolgedessen kommt kein Rechtsverhältnis zwischen dem Geschäftspartner und dem Geschäftsherrn zustande, sondern der mittelbare Stellvertreter und sein Geschäftspartner werden Geschäftsparteien.58 Das Kommissions- (§ 383 HGB) und das Speditionsgeschäft (§ 453 HGB) sind als Beispiele der mittelbaren Stellvertretung anerkannt.59 Wird der so geschlossene Vertrag infolge des Verschuldens des Geschäftspartners nicht erfüllt, entsteht der Schaden nicht beim mittelbaren Stellvertreter, sondern beim Geschäftsherrn; denn es gibt keine Veränderung der Vermögenslage des mittelbaren Stellvertreters, weil er den Vertrag im Auftrag und auf Rechnung des Geschäftsherrn abgeschlossen hat. Daher kann der mittelbare Stellvertreter

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Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 49, Rn. 57 f.; Rüthers / ​Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 29, Rn. 4. 59 RGZ 27, 118, 125; 40, 173, 174; BGHZ 25, 250, 258; 57, 335, 336; OLG Düsseldorf TranspR 1998, 265.

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keinen Schadensersatz verlangen, weil er keinen Schaden erlitten hat. Für seinen Schaden kann der Geschäftsherr hingegen gegenüber dem Geschäftspartner keinen Schadensersatzanspruch geltend machen, weil kein Vertrag zwischen den beiden besteht. Da der mittelbare Stellvertreter den Vertrag von vornherein im Interesse des Geschäftsherrn abgeschlossen hat, kann der aufgrund der Nichterfüllung des Vertrags eingetretene Schaden auf den Geschäftsherrn verlagert werden. Deshalb kommt die Anwendung der Drittschadensliquidation in Betracht. Auch stellt sich die Frage, ob Frachtgeschäfte zu den Anwendungsfällen der Drittschadensliquidation gehören. Denn §§ 421 Abs. 1 S. 2 und S. 3 HGB billigen sowohl dem Empfänger als auch dem Absender einen eigenen Schadensersatzanspruch gegen den Frachtführer zu, wenn das Frachtgut durch ein Verschulden des Frachtführers beschädigt worden oder verloren gegangen ist. Nach diesen Vorschriften kann der Empfänger als Dritter nun selbst den ihm entstandenen Schaden vom Frachtführer ersetzt verlangen.60 In diesen Vorschriften ist es nicht von Bedeutung, ob Empfänger oder Absender im eigenen oder im fremden Interesse handeln.61 Es stellt sich die Frage, ob diese transportrechtliche Rechtskonstruktion als eine gesetzliche Anerkennung der Drittschadensliquidation anzusehen ist.62 Denn in § 421 Abs. 1 S. 3 HGB besteht die Möglichkeit, neben dem eigenen Anspruch des Dritten, also des Empfängers, die bisher verwendete Drittschadensliquidation des Gläubigers, also des Absenders, anzuwenden.63 Insoweit wird angenommen, dass der Absender dazu berechtigt sein kann, den Schaden des Empfängers im fremden Interesse geltend zu machen.64

IV. Besonderheit der Drittschadensliquidation Um die Konstruktion der Drittschadensliquidation zu erfassen, sind zwei Besonderheiten zu beachten. In Fällen der Drittschadensliquidation ist vor allem das Auseinanderfallen von formell Verletztem und materiell Geschädigtem charakteristisch. Dies hängt grundsätzlich mit der notwendigen Voraussetzung der Drittschadensliquidation, der zufälligen Schadensverlagerung, zusammen. Bei

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Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 111. Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499. 62 BT-Drucksache 368/97, S. 54; BT-Drucksache 13/8445, S. 55; Oechsler, a. a. O., Rn. 499; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 466 f.; Canaris, Handelsrecht, § 31, Rn. 61; Lettl, Handelsrecht, § 12, Rn. 168 f.; MüKoHGB / ​T hume, § 421, Rn. 25 f.; Büdenbender, Drittschadensliquidation bei obligatorischer Gefahrentlastung – eine notwendige oder überflüssige Rechtsfigur?, NJW 2000, 986, 988; Herber, Die Neuregelung des deutschen Transportrechts, NJW 1998, 3297, 3302; Meier, Die Gesamtgläubigerschaft – ein unbekanntes, weil überflüssiges Wesen?, AcP 2005, 858, 887; Becker, Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den Frachtführer gemäß § 421 Abs. 1 S. 2 HGB, AcP 2002, 722, 734 ff. 63 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 114. 64 Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499. 61

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der Drittschadensliquidation ist auch hervorzuheben, dass dem materiell Geschädigten kein eigener Schadensersatzanspruch gewährt wird. Mithin besteht ein Unterschied zwischen der Drittschadensliquidation und dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, der dem geschädigten Dritten einen eigenen Schadensersatzanspruch einräumt. 1. Kriterium der zufälligen Schadensverlagerung Um genau zu erfassen, was die zufällige Schadensverlagerung bedeutet, sind die Schadensverlagerung und deren Zufälligkeit einzeln zu betrachten. a) Zufälligkeit Die Drittschadensliquidation erfordert die Zufälligkeit der Schadensverlage­ rung. So muss der Schaden aus der Sicht des Schädigers zufälligerweise auf den Dritten verlagert werden.65 Diese Zufälligkeit der Schadensverlagerung unterscheidet die eigentliche Drittschadensliquidation von der vereinbarten Drittschadens­ liquidation. Eine Liquidation des Drittschadens kann auch vertraglich vereinbart werden: Die Parteien eines Vertrags können ausdrücklich oder stillschweigend vereinbaren, dass eintretende Schäden nicht im Interesse des Vertragspartners, sondern im Interesse eines Dritten bestimmt werden sollen.66 So kann in einem Vertrag die Maßgeblichkeit von Drittinteressen vereinbart werden.67 Dabei kann der Vertragspartner den Drittschaden liquidieren, ohne dem Dritten einen eigenen Anspruch zu verschaffen. Wurde dies vereinbart, bedarf es keines Rückgriffs auf die Rechts­ figur der Drittschadensliquidation,68 weil die Liquidation des Drittinteresses schon vertraglich vorgesehen ist. Anders als die eigentliche Drittschadensliquidation, die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entstanden ist, geht diese vereinbarte Drittschadensliquida-

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BGH NJW 1998, 1864, 1864 ff.; 2016, 1089, 1090; Brox / ​Walker, Allgemeines Schuldrecht, § 29, Rn. 15; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 46, Rn. 9; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 497. 66 RGZ 170, 246, 251; BGH NJW 1969, 789; 1974, 502; 1978, 1576; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 464; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 307; Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 335; Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 54; Hadding, Drittschadensliquidation und „Schutzwirkungen für Dritte“ im bargeldlosen Zahlungsverkehr, in: Hadding u. a. (Hg.), FS Werner zum 65. Geburtstag, S. 183; Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 134. 67 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 696. 68 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 307.

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tion mit einer bewussten planmäßigen Schadensverlagerung einher.69 Daraus lässt sich vor allem ableiten, dass es sich dann um eine zufällige Schadensverlagerung handeln kann, wenn zwischen Schädiger und Gläubiger keine solche Vereinbarung für die Folgen der Schädigung besteht. Es kommt aber bei der Zufälligkeit der Schadensverlagerung nicht darauf an, ob der Schädiger die Möglichkeit der Schadensentstehung beim Dritten voraussehen oder erkennen konnte.70 Denn die Kenntnis des Schädigers allein kann das Ausgleichsverhältnis zwischen dem formell Verletzten und dem materiell Geschädigten nicht beeinflussen. Dabei darf diese Kenntnis des Schädigers auch nicht dazu beitragen, ihn vom Ausgleich des Drittinteresses zu entlasten. Wenn der Transporteur beispielsweise im Versendungskauffall erkannt hat, dass die S ­ endung an einen Käufer geht, muss der Versendungskäufer seinen Schaden wegen der Erkennbarkeit für den Transporteur nicht hinnehmen.71 Die Zufälligkeit der Schadensverlagerung ist also nicht deshalb abzulehnen, weil die Schädigung des Dritten für den Schädiger nicht erkennbar war. b) Schadensverlagerung Der Begriff der Schadensverlagerung geht auf den Ausdruck Tägerts zurück.72 Seiner Definition nach bedeutet Schadensverlagerung, dass der Schadenseintritt beim Dritten dem Nichteintritt eines Schadens beim Gläubiger entspricht.73 Dabei geht es um ein und denselben Schaden, nicht um die Kumulation mehrerer Schäden.74 In der Literatur wird der Begriff der Schadensverlagerung auch dafür verwendet, dass in Fällen der Drittschadensliquidation eine Diskrepanz zwischen rechtlich geschützter Position bzw. formeller Ersatzberechtigung und geschädigtem materiellem Interesse besteht.75 Wenn der zu ersetzende Schaden nicht beim Dritten, sondern beim Verletzten entstanden ist, bedarf es keiner besonderen Ausgleichsweise im Wege der Rechtsfortbildung wie der Drittschadensliquidation. Die Bestimmung des Drittschadens

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Siehe dazu Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 335; Neuner, Der Schutz und die Haftung Dritter nach vertraglichen Grundsätzen, JZ 1999, 126, 131 ff.; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 464 f. 70 Traugott, Das Verhältnis von Drittschadensliquidation und vertraglichem Drittschutz, S. 71 f. 71 Traugott, a. a. O., S. 72. 72 Stamm, Rechtsfortbildung der Drittschadensliquidation im Wege eines originären und rein deliktsrechtlichen Drittschadensersatzanspruchs analog § 844 Abs. 1 BGB, AcP 2003, 367, 371. 73 Tägert, Die Geltendmachung des Drittschadens, S. 35. 74 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 292. 75 Schlechtriem / ​Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 336; Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 42.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

gilt also als Vorfrage der Drittschadensliquidation. So ist zunächst festzustellen, wem der Schaden zuzurechnen ist. Diese Feststellung richtet sich auf die grundlegende Betrachtung des Schadensbegriffs. In diesem Zusammenhang lässt sich fragen, was das Kriterium der Schadensverlagerung bei der Drittschadensliquidation bedeutet. aa) Differenzhypothese als Ausgangspunkt der Schadensermittlung Die Vorstellung der Schadensverlagerung beruht grundsätzlich auf dem Verständnis des Schadensbegriffs: Ob der Schaden beim Gläubiger oder beim Dritten entsteht, hängt wesentlich mit der Frage zusammen, wie der Schaden zu verstehen und zu ermitteln ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Rechtsordnungen definierten die Verfasser des BGB den Schaden nicht.76 Als grundlegender Ausgangspunkt des Schadensbegriffs wird deshalb die vom Reichsgericht entwickelte Theorie77 der Differenzhypothese genutzt.78 Um den Schaden festzustellen, vergleicht die Differenzhypothese zwei Vermögenszustände, nämlich den tatsächlich eingetretenen mit dem hypothetischen, ohne das haftungsbegründende Ereignis eingetretenen Zustand; die Differenz dieser zwei Vermögenszustände ist der Schaden.79 In rechtsdogmatischer Hinsicht legt auch § 249 Abs. 1 BGB die Differenzhypothese nahe, indem der Inhalt der Schadensersatzpflicht dahingehend vorgeschrieben ist, dass der Zustand herzustellen ist, der ohne das schädigende Ereignis bestehen würde.80 Zugleich wurde die Differenzhypothese mit einem natürlichen Schadensverständnis verbunden.81 Dieses ist auf den Satz des Römischen Rechts „Quatenus cuius intersit, in facto, non in iure consistit.“ (Wie groß jemandes Interesse ist, entscheidet eine Tatsache, nicht eine Rechtsvorschrift)82 zurückzuführen.83 Aufgrund dieses Satzes besagt das natürliche Schadensverständnis, dass der Schaden 76 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, S. 10 f., 434, 438. Dagegen definiert das österreichische ABGB in § 1293 den Schadensbegriff: „Schade heißt jeder Nachtheil, welcher jemanden an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist.“ 77 RGZ 77, 99, 101; 90, 82, 84; 91, 30, 33. 78 BGHZ 3, 162, 177; 11, 16, 26; 27, 181, 183 f.; 40, 345, 347; 86, 128, 130; BGH NJW 1988, 1837, 1838 f. 79 BGH NJW 2015, 1373, 1374; BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 37; vgl. Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 37; Mommsen, Zur Lehre von dem Interesse, S. 3. 80 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 18. 81 Siehe dazu Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, S. 426; Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, S. 59; Müller-Laube, Auswirkungen vorteilhafter Rechts­ geschäfte des Geschädigten auf die Schadensberechnung mit dem Schädiger, JZ 1991, 162, 164. 82 D. 50, 17, 24. Zur Übersetzung vgl. Knütel, Tätige Reue im Zivilrecht, S. 48. 83 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 27; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 35.

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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dem Recht als Faktum vorgegeben ist: ein außerrechtlicher Schadensbegriff mit einer natürlichen Sichtweise.84 Die Verbindung der Differenzhypothese mit dem natürlichen Schadensverständnis führt dazu, dass alle Ursachen und ihre Folgen bei Betrachtung der Kausalität als gleichwertig angesehen und ausnahmslos berücksichtigt werden:85 Die Differenzhypothese basiert auf dem Gedanken der conditio sine qua non.86 Bei ihr wird die Schadensbestimmung grundsätzlich nicht normativ modifiziert. Sie beruht auf dem abstrakten quantitativen Vermögensverständnis ­Savignys, nach dem sich alle geldwerten Güter zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem entsprechenden Geldbetrag widerspiegeln.87 Darin besteht die Umwandelbarkeit eines Vermögensrechts in einen Geldwert.88 Dieses Vermögensverständnis richtet sich weniger auf einzelne Rechte und ihre individualisierende rechtliche Einordnung als auf ihren rein abstrakten Vermögenswert.89 Auf dieser Basis weist die Differenzhypothese nur darauf hin, dass sich alle Schäden als Vermögensnachteile in der Gesamtvermögensdifferenz niederschlagen.90 Damit zielt der aufgrund dieses allgemeinen geldwerten Gesamtvermögensbegriffs verstandene Schadensersatz darauf ab, mögliche Schwierigkeiten der quantitativen Bestimmung der Verletzungen zu beseitigen und zugleich alle Güter der Individuen gegen widerrechtliche Beschädigungen zu sichern.91 bb) Zusammenhang zwischen der Differenzhypothese und der Schadensverlagerung Bei der Schadensermittlung behandelt die Differenzhypothese alle schadensbeeinflussenden Ursachen gleich. Damit bezieht sie diese Ursachen allesamt in die rechnerische Schadensermittlung ein, die nur die tatsächliche Gesamtvermögensveränderung beim Geschädigten betrachtet. Dadurch zielt die Differenzhypothese darauf ab den Schaden möglichst ohne wertende Beurteilungsfaktoren zu ermitteln

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Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 35; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 17; Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, S. 68. 85 Hagen, Zur Normativität des Schadensbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: von Caemmerer u. a. (Hg.), FS Hauß zum 70. Geburtstag, S. 85. 86 Gebauer, Hypothetische Kausalität und Haftungsgrund, S. 9. 87 Würthwein, Schadensersatz für Verlust der Nutzungsmöglichkeit einer Sache oder für entgangene Gebrauchsvorteile?, S. 370 f., 394 f.; Wilk, Die Erkenntnis des Schadens und seines Ersatzes, S. 51 ff.; vgl. ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 375 ff. 88 Würthwein, a. a. O., S. 371. 89 Würthwein, a. a. O. 90 Würthwein, a. a. O., S. 395; Larenz, Der Vermögensbegriff im Schadensersatzrecht, in: Dietz u. a. (Hg.), FS Nipperdey zum 70. Geburtstag, Bd. I, S. 499. 91 Vgl. auch Simmel, Philosophie des Geldes, in: Frisby / ​Köhnke (Hg.), Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 502 f.

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und damit Rechtsunsicherheit zu vermeiden.92 Die Differenzhypothese ist „eine wertindifferente Rechenoperation“93. Mit der Schadensermittlung nach der Differenzhypothese hängt grundsätzlich die Konstruktion der Schadensverlagerung zusammen.94 Insbesondere wenn der Dritte aus irgendeinem Grund den Schaden des Verletzten ausgeglichen hat, lässt sich fragen, ob dieser im Verhältnis zum Schädiger nicht mehr vorliegt. Dabei stellt die Differenzhypothese lediglich die auf der Schädigung beruhende Veränderung des Gesamtvermögenszustandes in den Mittelpunkt. Demzufolge scheint es keinen Schaden des Verletzten zu geben, wenn er durch eine Zuwendung Dritter ausgeglichen wurde, weil dann keine Veränderung im Gesamtvermögen beim Verletzten mehr besteht. Den Fällen der Drittschadensliquidation liegt das Ergebnis der Differenzhypothese zugrunde, soweit es zur Schadensverlagerung führt. Es geht dabei um die Zuwendung Dritter oder die Befreiung des Geschädigten von seiner Leistungspflicht. Aufgrund der Gefahrübertragung, der Rechnung des Dritten oder der internen Kostenübernahme verändert sich der gesamte Vermögenszustand des Gläubigers bzw. Verletzten nicht. Danach richtet die Differenzhypothese die Schadensermittlung aus: Da es dabei keine tatsächliche Schwankung des Gesamtvermögenszustandes gibt, lässt sich kein Schaden beim Gläubiger bzw. Verletzten erkennen. Dieses Ergebnis nach der Differenzhypothese läuft darauf hinaus, dass der aus der rechtswidrigen Schädigung resultierende Schaden vom Dritten übernommen wird, dessen Gesamtvermögen sodann vermindert wird. Daraus ergibt sich die Schadensverlagerung. Unter der konsequent nach der Differenzhypothese durchgeführten Schadensermittlung verschwindet also die Möglichkeit des Schadenseintritts beim Gläubiger, da für die Schadensermittlung keine normativen Beurteilungsfaktoren berücksichtigt werden. In dieser Hinsicht kann die Konstruktion der Schadensverlagerung als eine Widerspiegelung der unterschiedslosen Berücksichtigung der schadensmindernden Ursachen verstanden werden. So hängt die Schadensverlagerung mit der Schadensermittlung nach der Differenzhypothese zusammen, die mit dem natürlichen Schadensverständnis verbunden ist. Wenn lediglich die tatsächliche Vermögensverminderung beim Dritten als Schaden angesehen wird, ohne Schadensposten beim Gläubiger normativ zu berücksichtigen und anzuerkennen, verlagert sich somit der Schaden.

92 Müller-Laube, Auswirkungen vorteilhafter Rechtsgeschäfte des Geschädigten auf die Schadensberechnung mit dem Schädiger, JZ 1991, 162, 164. 93 Brand, Schadensersatzrecht, § 2, Rn. 10. 94 Harke, Allgemeines Schuldrecht, S. 434; Wilk, Die Erkenntnis des Schadens und seines Ersatzes, S. 20; Würthwein, Schadensersatz für Verlust der Nutzungsmöglichkeit einer Sache oder für entgangene Gebrauchsvorteile?, S. 422.

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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cc) Normativer Schadensbegriff Die Differenzhypothese wird in Zweifel gezogen,95 weil sie in einigen Fällen96 zu unbilligen oder unerwünschten Ergebnissen führt. Diese Ergebnisse sind darauf zurückzuführen, dass die Differenzhypothese alle schadensbeeinflussenden Ursachen gleich behandelt und diese allesamt in die rechnerische Schadensermittlung einbezieht. Dabei zielt die Differenzhypothese zwar darauf ab, den Schaden möglichst vorurteilsfrei zu ermitteln und damit Rechtsunsicherheit zu vermeiden.97 Die folgenden Fälle führen aber vor Augen, dass das Vorliegen des Schadens nicht allein durch die rechnerische Betrachtung der auf der Schädigung beruhenden Veränderung der Gesamtgüterlagen beurteilt werden kann. Beispielsweise würde niemand die Schadensersatzpflicht eines Diebes von Luxusverbrauchsgütern nur deshalb bezweifeln, weil der Geschädigte diese Güter inzwischen verbraucht hätte.98 Insbesondere hinsichtlich einiger vom Gesetz offengelassener Problematiken wie der des Vorteilsausgleichs, der hypothetischen Kausalität sowie des Ersatzes für Drittschäden kann die Differenzhypothese zu keiner angemessenen Lösung führen. Wenn der Dritte beispielsweise den Schaden des Verletzten ausgeglichen hat, kann nach der Differenzhypothese beim Verletzten kein Schaden festgestellt werden, weil der Gesamtvermögenszustand des Geschädigten unverändert ist. Dennoch lässt sich dabei fragen, ob und wann der Schädiger wegen dieses fehlenden Schadens beim Verletzten entlastet werden kann. Denn das Fehlen eines Schadens beim Verletzten läuft zwar konsequenterweise auf die Entlastung des Schädigers hinaus; diese Entlastung darf aber nicht ohne weiteres stattfinden, da eine Regressmöglichkeit des Dritten ansonsten nicht gewährleistet werden könnte. Deshalb ist trotz des Nichtvorliegens des Schadens beim Verletzten die Schadensersatzpflicht des Schädigers aufrechtzuerhalten. Dabei zeigt sich, dass sich die Schadensermittlung nicht nur auf die rechnerische Bemessung der Vermögensverminderung, sondern auch auf die normative Frage beziehen kann, ob der Schädiger von seiner Haftung entlastet werden darf. Darauf kann die Differenzhypothese keine ausreichende Antwort geben. In diesem Zusammenhang wird die Unzulänglichkeit der Differenzhypothese deutlich, wenn man den Fall betrachtet, in dem der Verletzte von der Versicherung Entschädigungsleistungen erhalten hat. Beim Verletzten liegt kein Schaden mehr 95

Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 26 ff. Zum Beispiel würden die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Verletzung fast regelmäßig durch ein hoch entwickeltes System von Überwälzungsvorschriften auf einen Privat- und Sozialversicherer, Fürsorgeträger, Dienstgeber oder Unterhaltsverpflichteten verlagert. Siehe dazu Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung nach deutschem und österreichischem Recht, S. 35. 97 Müller-Laube, Auswirkungen vorteilhafter Rechtsgeschäfte des Geschädigten auf die Schadensberechnung mit dem Schädiger, JZ 1991, 162, 164. 98 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 21; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu § 249 ff., Rn. 41; Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 155. 96

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vor, wenn der Versicherer diesen ausgeglichen hat. Konsequenterweise dürfte dem Verletzten auch kein Schadensersatzanspruch zuerkannt werden. Indes ist dieses Ergebnis nicht ohne weiteres anzunehmen, weil der Schadensersatzanspruch des Verletzten gemäß § 86 Abs. 1 VVG auf den Versicherer übergehen soll, soweit dieser den Schaden ersetzt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Schädiger Leistungen Dritter an den Geschädigten nicht ohne weiteres zugutekommen dürfen.99 Für diese Legalzession des § 86 Abs. 1 VVG ist erforderlich, dass der Schaden dem Verletzten zugerechnet werden kann. Denn nur dann kann dessen Schadensersatzanspruch auf den Versicherer übergehen. Nur mit der Differenzhypothese lässt sich dabei nicht erklären, warum der Schaden beim Verletzten noch bestehen soll, obwohl der Versicherer den Schaden ersetzt hat. Diese Unzulänglichkeit der Differenzhypothese ist darauf zurückzuführen, dass sie nur den rechnerischen Vergleich der zwei Gesamtvermögenslagen, nicht aber punktuelle, wertende Beurteilungsfaktoren für die Schadensermittlung berücksichtigt. Dabei gehen auch einzelne Schadensposten verloren, die jeweils zu bewerten sind.100 In der strikten Anwendung der Differenzhypothese besteht die Gefahr, den Schädiger unterschiedslos von seiner Haftung zu entlasten, wenn der Dritte den Schaden des Verletzten ausgeglichen hat. Um diese unangemessenen Ergebnisse der Differenzhypothese zu korrigieren, wird in Betracht gezogen, einen Vermögensschaden aufgrund wertender Betrachtung anzunehmen. Damit zielt dieses Schadensverständnis darauf ab, dass der Schädiger durch die Leistung Dritter an den Verletzten nicht ohne weiteres entlastet werden soll. So stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit des normativen Schadensbegriffs,101 der besagt, dass die Schadensermittlung auf einer gesetzlichen Wertung beruhen kann, obwohl der Schaden tatsächlich nicht eingetreten ist. Angesichts der oben dargestellten Schadensprobleme werden der rein natürliche Schadensbegriff und die rein rechnerische Differenzhypothese nicht mehr vertreten. Auch der BGH tendiert zu einer Normativierung des Schadensbegriffs.102 Grundsätzlich vertritt er zwar die Differenzhypothese,103 verwendet aber gelegentlich auch den normativen Schadensbegriff. Dieser Begriff normiert eine „Abkehr von der reinen Differenzhypothese“.104 Vor allem bei der Vorteilsausgleichung, der Begründung der Nutzungsentschädigung und dem Anspruch einer verletzten, 99

Langheid / ​R ixecker / ​L angheid, VVG § 86, Rn. 5. Steffen, Der normative Verkehrsunfallschaden, NJW 1995, 2057, 2058: „Die Mommsen’sche Rechnung hat blinde Flecken, schwarze Löcher, in denen sog. Schadenspositionen verschwinden.“; vgl. Würthwein, Schadensersatz für Verlust der Nutzungsmöglichkeit einer Sache oder für entgangene Gebrauchsvorteile?, S. 371. 101 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 722; Brox / ​Walker, Allgemeines Schuldrecht, § 29, Rn. 7; Hk-BGB / ​Schulze, Vor §§ 249–253, Rn. 7 ff. 102 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 36. 103 BGH NJW 2015, 1373. 104 BGHZ 50, 304, 306. 100

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nicht erwerbstätigen Ehefrau wurde der normative Schadensbegriff in der Rechtsprechung erwähnt.105 Damit wurde auch in der Rechtsprechung eine wertende normative Korrektur der Differenzhypothese vorgenommen, nämlich: „dass die Differenzierung als wertneutrale Rechenoperation nicht davon enthebt, […] die in die Differenzbilanz einzusetzenden Rechnungsposten wertend zu bestimmen“106. So bringt die Rechtsprechung eine normative Ergänzung der Differenzhypothese zurückhaltend zum Ausdruck.107 In diesem Zusammenhang soll auf der Ebene des normativen Schadensbegriffs berücksichtigt werden, dass ein Geschädigter grundsätzlich im Wege des Schadensersatzrechts nicht mehr als dasjenige erhalten soll, was er nach der materiellen Rechtslage hätte verlangen können.108 So lässt sich der normative Schadensbegriff der Rechtsprechung nach als der schadensrechtliche Begriff verstehen, „der eine rechtliche Endergebnisbetrachtung verlangt“109. Nach diesem Verständnis vom normativen Schadensbegriff könnte er in höchst unterschiedlicher Weise dort eingesetzt werden, wo die Anwendung der Differenzhypothese nicht zu angemessenen Ergebnissen führt. Dementsprechend stimmt die Rechtsprechung der individualisierenden Normativierung des Schadensbegriffs zu. Dem normativen Schadensbegriff wohnen mithin „kein fest konturiertes eigenständiges Schadensverständnis“110 und kein einheitlicher Schadensbegriff inne. Er dient nur als „Schlagwort“111, das auf die wertende Betrachtung der Schadensermittlung hinweist. Damit kann man erkennen, dass ein Vermögensschaden nicht vollständig von der rechnerischen Differenzhypothese, sondern gegebenenfalls aufgrund der Wertungsabhängigkeit des Schadensbegriffs erfasst werden kann. So ist der normative Schadensbegriff zwar nur ein punktuell zu konkretisierender Rahmenbegriff, aber er gibt immerhin Anlass zur situationsbedingten, normativen Betrachtung über das Vorliegen eines Schadens. dd) Kritik an der Schadensverlagerung Die Normativierung des Schadensbegriffs hängt mit der bisher geübten Kritik an der Konstruktion der Schadensverlagerung zusammen. Diese Kritik zielt vor allem darauf ab, eine Diskrepanz zwischen dem materiell Geschädigten und der verletzten Rechtsposition zu verhindern. Damit soll das Dogma vom Gläubigerinteresse gewahrt und die Drittschadensliquidation überflüssig gemacht werden. In diesem Zusammenhang werden einzelne konkrete Schadensposten wertend be 105

BGHZ 42, 378, 381; 51, 109, 110; 54, 45, 50; 59, 109, 110. BGHZ 98, 212, 217; BGH, 25.5.2020 – VI ZR 252/19, Rn. 45. 107 BGHZ 98, 212, 221. Vgl. Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 36. 108 BGH NJW 2013, 540, 543. 109 BGH NJW 2013, 540, 543. 110 Würthwein, Schadensersatz für Verlust der Nutzungsmöglichkeit einer Sache oder für entgangene Gebrauchsvorteile?, S. 442; vgl. Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu §§ 249 ff., Rn. 38. 111 MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 23. 106

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rücksichtigt, die bei der Schadensermittlung nach der Differenzhypothese außer Acht gelassen werden. Zunächst kann die Konstruktion der Schadensverlagerung durch die Versagung der Vorteilsausgleichung kritisiert werden. Die Problematik der Vorteilsausgleichung112 bezieht sich auf die Frage, inwieweit Vorteile, die der zum Ersatz verpflichtende Umstand beim Geschädigten herbeiführt, auf den Schaden angerechnet werden sollen. Nach der Differenzhypothese lassen sich diese Vorteile als ein schadensminderndes Element prinzipiell in die Betrachtung der Gesamtvermögensveränderung einbeziehen. Die rechnerische Einbeziehung aller Vorteile in die Schadensberechnung kann aber problematisch sein, weil dabei eine ungerechtfertigte Entlastung des Schädigers auftreten kann. Dabei kommt die Anwendung der Vorteilsausgleichung in Betracht, um die strikte Differenzhypothese normativ zu berichtigen. Demnach lässt sich die Vorteilsausgleichung als ein wertender Beurteilungsfaktor für die Bestimmung des ersatzfähigen Schadens verstehen.113 Bei der Vorteilsausgleichung geht es nicht nur um schadensbedingte Vorteile aus eigenen Handlungen des Geschädigten, sondern auch um Vorteile aus Zuwendungen Dritter.114 Bei freigebigen Zahlungen Dritter wird zwar in der Regel angenommen, dass die Zweckbestimmung durch den Dritten über die Anrechenbarkeit seiner Leistung entscheidet.115 Angesichts der Legalzession nach § 86 Abs. 1 VVG kommt aber in Betracht, dass die Vorteilsausgleichung aufgrund ihrer Wertungsabhängigkeit nicht auf alle Fälle der Leistungen Dritter angewendet wird. Dabei stellt sich die Frage, ob und wann die Vorteilsausgleichung verweigert werden sollte. Denn es geht dabei darum, ob der Schaden des Verletzten trotz der Leistung des Versicherers als anzurechnender Vorteil noch besteht. Der dem Verletzten zustehende Schadensersatzanspruch soll aber auf den Versicherer übergehen, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt, wie § 86 Abs. 1 VVG zeigt. Zweck dieser Legalzession ist die Gewährleistung der Regressmöglichkeit des Versicherers. Um den abzutretenden Schadensersatzanspruch des Verletzten aufrechtzuerhalten, darf der Schaden des Verletzten nicht durch die Vorteilsausgleichung gemindert werden; in diesem Fall soll die Vorteilsausgleichung verweigert werden. Mit dieser Versagung der Vorteilsausgleichung geht die Normativierung des Schadensbegriffs einher,116 indem ihre Versagung aufgrund der wertenden Einbeziehung des Vorteils in die Schadensermittlung auch die ungerechtfertigte Entlastung des Schädigers verhindert

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Vgl. Mommsen, Zur Lehre von dem Interesse, S. 191 ff. Henke, Die Vorteilsausgleichung, in: Brambring u. a. (Hg.), FS Hagen, S. 376 ff., 381; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 486 f.; Heese, Nutzungsentschädigung zugunsten der Hersteller manipulierter Diesel-Kraftfahrzeuge?, VuR 2019, 123, 125 f.; vgl. Riehm, Deliktischer Schadensersatz in den „Diesel-Abgas-Fällen“, NJW 2019, 1105, 1106 ff. 114 Lange / ​Schiemann, a. a. O., S. 519 ff. 115 Thüsing, Wertende Schadensberechnung, S. 89; Lange / ​Schiemann, a. a. O., S. 519 f. 116 Brox / ​Walker, Allgemeines Schuldrecht, § 29, Rn. 7. 113

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Auf der Basis der Versagung der Vorteilsausgleichung wurde die Schadensverlagerung kritisiert.117 Dieser Kritik liegt prinzipiell zugrunde, dass Drittschadensliquidation und Vorteilsausgleichung als Sonderfragen eines einheitlichen Schadensersatzrechts harmonisiert werden sollen.118 Demnach wurde versucht, die Versagung der Vorteilsausgleichung bzw. den normativen Schadensbegriff auf Fälle der obligatorischen Gefahrentlastung anzuwenden. In solchen Fällen soll die Leistung Dritter wegen der Gefahrübertragung nicht als ein anzurechnender Vorteil verstanden werden. Denn der Sinn und Zweck von Gefahrtragungsregeln wie §§ 447, 644 BGB richtet sich aufgrund ihrer bloß obligatorischen Natur nicht darauf, Konsequenzen für außerhalb der Vertragsbeziehungen stehende Personen abzuleiten, insbesondere nicht für einen unbeteiligten Schädiger.119 Dieses Verständnis steht auch in engem Zusammenhang mit der Relativität der Schuldverhältnisse.120 Gefahrtragungsregeln wie §§ 447, 644 BGB sind also irrelevant für die Schadensersatzpflicht des Schädigers, der außerhalb des mit dieser Gefahrtragung zusammenhängenden Vertrags steht. Beispielsweise ist der Kaufpreis, den der Käufer nach § 447 BGB trotz der Beschädigung der Kaufsache zahlen muss, nicht in die Schadensberechnung beim Ersatzanspruch des Verkäufers gegen den Schädiger einzubeziehen. Die Gefahrtragungsregeln sollen den Schädiger nicht begünstigen. Außerdem lassen sich auch einzelne Schadensposten berücksichtigen, um eine Schadensverlagerung abzulehnen. Dies hängt auch zusammen mit der oben erwähnten Kritik an der Differenzhypothese, dass diese normativ ergänzt werden müsse.121 Vor allem kann es in Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung einen möglichen Wertungswiderspruch zwischen der dinglichen Eigentumsregelung und der schuldrechtlichen Gefahrtragungsregel geben.122 Im geschilderten Fall des Versendungskaufs kommt es zu einer Verletzung des Eigentums. Dabei stellt sich die Frage, ob die Verletzung des Eigentums des Versendungsverkäufers durch seine schuldrechtlichen Ansprüche, die aus der Gefahrtragungsregel resultieren, ausgeglichen werden kann. Diese Frage hängt konsequenterweise mit der Frage zusammen, ob Eigentumsrechte in schadensrechtlicher Hinsicht durch schuldrechtliche Ansprüche entwertet werden können.123 Dies lässt sich mit dem folgenden Fall beschreiben: Ein Gebäudeschaden kann nicht dadurch beseitigt werden, dass ein bereits geschlossener Vertrag über den 117

Büdenbender, Vorteilsausgleichung und Drittschadensliquidation bei obligatorischer Gefahrentlastung, S. 77 ff. 118 Büdenbender, a. a. O., S. 95; vgl. Schiemann, Vorteilsanrechnung beim werkvertraglichen Schadensersatz, NJW 2007, 3037, 3039. 119 Büdenbender, a. a. O., S. 85; Peters, Zum Problem der Drittschadensliquidation, AcP 1980, 329, 344. 120 Büdenbender, a. a. O., S. 86. 121 BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 38, 378. 122 Stamm, Rechtsfortbildung der Drittschadensliquidation im Wege eines originären und rein deliktsrechtlichen Drittschadensersatzanspruchs analog § 844 Abs. 1 BGB, AcP 2003, 367, 384 f.; vgl. Bitter, Rechtsträgerschaft für fremde Rechnung, S. 390 f. 123 BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 379.

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Abriss des Gebäudes zu dessen Entwertung führte; denn dieser rein obligatorische Vertrag hat das Gebäude als solches dem Vermögen des Geschädigten noch nicht entzogen.124 Dabei wies bereits von Tuhr darauf hin, dass eine Sache zum Vermögen ihres Eigentümers zu zählen sei, solange der Eigentümer über sie nur obligatorisch disponiert und nicht dinglich verfügt habe: Die schuldrechtliche Verpflichtung könne nämlich aufgehoben werden oder der Eigentümer könne es vorziehen, die Sache an eine dritte Person zu veräußern und den Käufer zu entschädigen.125 Es zeigt sich, dass der Eigentumsschaden und der Sachwert ungeachtet des Vorliegens eines obligatorischen Anspruchs in Bezug auf diese Sache gegen Dritte fortbestehen können. In diesem Sinne ändert der schuldrechtliche Kaufpreisanspruch des Verkäufers nichts an der Tatsache, dass der Schädiger den Verlust eines bestimmten Vermögensbestandteils des Verkäufers verursacht hat.126 Die schuldrechtlichen Ansprüche hängen von der Risikoverteilung zwischen dem Verkäufer und dem Käufer ab. Sie sind grundsätzlich unabhängig vom Verhältnis zur Person des deliktischen Schädigers; so sind beispielsweise der vereinbarte Kaufpreis und der objektive Sachwert selten identisch.127 Im Fall des Versendungskaufs besteht daher der Schaden wegen der Verletzung des Eigentums beim Eigentümer, also beim Verkäufer. In diesem Fall verlagert sich der Schaden nicht auf Dritte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es aufgrund der Normativierung des Schadensbegriffs bzw. der Kritik der Differenzhypothese rechtsdogmatische Lösungsmöglichkeiten gibt, die in Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung die Drittschadensliquidation überflüssig machen. ee) Möglichkeit der Schadensentstehung bei Dritten Die Normativierung des Schadensbegriffs kann mit ihrer wertenden Betrachtung der einzelnen Schadensposten dazu dienen, ungerechte Ergebnisse bei der Differenzhypothese zu vermeiden. Damit lässt sich auch das Dogma vom Gläubigerinteresse wahren, indem der normativ konstruierte Schaden dem Verletzten zugerechnet wird. Dieser normativ konstruierte Schadensbegriff birgt jedoch die Gefahr, dass Schadensersatz gewährt wird, ohne dass ein Schaden eingetreten ist.128 Allein die Ersatzfunktion des Schadensersatzanspruchs sagt noch nichts darüber aus, was ein Schaden ist und in welchem Umfang Ersatz geleistet werden muss.129 In diesem Sinne ist die „rechtsverfolgende Funktion“ des Schadensersatzanspruchs, die dem Geschädigten den Wert des in der anspruchsbegründenden Norm ge-

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RG SeuffA 59 (1904), 402, 403; vgl. BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 379. von Tuhr, KrVJSch, Bd. 47 (1907), 63, 69 f.; vgl. BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 379. 126 Keuk, Vermögensschaden und Interesse, S. 197. 127 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 104 f. 128 Keuk, Vermögensschaden und Interesse, S. 49 f. 129 Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 30, 212. 125

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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schützten Rechts sichern soll130 und damit mit der Lehre des objektiven Mindestschadens131 verbunden ist,132 nicht ohne weiteres zu rechtfertigen. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, dass zwar Schäden immer von widerrechtlichen Handlungen des Schädigers herrühren, aber nicht alle widerrechtlichen Handlungen zwangsläufig Schäden erzeugen. Wie normativ der Schadensbegriff auch sein mag, so kann ein Schaden nicht angenommen werden, wo es gar keine tatsächlichen Folgen einer Verletzung gibt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der normativ konstruierte Schaden beim Verletzten in Fällen der Drittschadensliquidation nicht zu fiktiv ist. Zudem wird dieser normative Schadensbegriff deshalb in Zweifel gezogen, weil er Folgeschäden nicht sachgerecht erfassen kann.133 Angesichts dieser möglichen Schwächen des normativen Schadensbegriffs muss betrachtet werden, ob der Schaden beim Dritten, dem ein eigener Anspruch fehlt, so unmittelbar eintritt, dass die Schadensentstehung beim Verletzten von vornherein nicht möglich ist. Dabei geht es auch um den realen Schaden des Dritten. In Fällen der mittelbaren Stellvertretung als Anwendungsfälle der Drittschadensliquidation kann man sich vorstellen, dass sie entsprechend den Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung zu lösen sind, bei denen keine Vorteilsausgleichung geschieht.134 Diese Vorstellung ist darauf zurückzuführen, dass der Schädiger nicht von der Verpflichtung des Vertretenen gegenüber dem mittelbaren Stellvertreter profitieren soll. Demnach bedürfe es eines normativ konstruierten Schadens des mittelbaren Stellvertreters,135 um den Schadensersatzanspruch des mittelbaren Stellvertreters gegen den Schädiger zu gewährleisten. Indes ist tatsächlich kein zu kompensierender Nachteil des mittelbaren Stellvertreters vorstellbar,136 denn bei der mittelbaren Stellvertretung handelt der mittelbare Stellvertreter nur auf fremde Rechnung. Damit nimmt er fremde Vermögensinteressen wahr. Der mittelbare Stellvertreter nimmt also keine geldwerten Risiken in Bezug auf die Geschäftsausführung in Kauf. Sein endgültiger Handlungszweck liegt nur darin, seine Provision zu erhalten, nicht aber das Leistungsinteresse.

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Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 12, 30.  Siehe dazu Neuner, Interesse und Vermögensschaden, AcP 1931, 277, 279 ff., 290; Wilburg, Zur Lehre von der Vorteilsausgleichung, JherJb, 1932, 51, 126 ff.; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 191 f. 132 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 30; Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 478; Steindorff, Abstrakte und konkrete Schadensberechnung, AcP 1959/60, 431, 454; Keuk, Vermögensschaden und Interesse, S. 43 ff.; Bydlinski, a. a. O., S. 191; vgl. Roberto, Schadensrecht, S. 21; Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 97 ff. 133 Stamm, Die Auflösung der Drittschadensliquidation im Wege der Gesamtschuld, AcP 2017, 165, 198. 134 Peters, Zum Problem der Drittschadensliquidation, AcP 1980, 329, 356 f. 135 Peters, AcP 1980, 329, 356. 136 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 101 f. 131

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Insbesondere am Beispiel der Leistungsverzögerung im Fall der mittelbaren Stellvertretung wird deutlich, dass der Schaden nicht beim mittelbaren Stellvertreter eintreten kann.137 Führt beispielsweise eine verspätete Lieferung einen Produktionsausfall beim Käufer herbei, dann richtet sich sein Interesse im Normalfall, also ohne mittelbare Stellvertretung, auf den ihm entgangenen Gewinn nach § 252 BGB. Passiert dies aber im Rahmen der mittelbaren Stellvertretung, entsteht der Produktionsausfall und damit der Verzögerungsschaden nunmehr beim Geschäftsherrn und nicht etwa bei seinem mittelbaren Stellvertreter. Denn der mittelbare Stellvertreter, der nicht die Produktion, sondern nur die Vermittlung des Geschäfts übernimmt, erleidet keinen entgangenen Gewinn infolge des Produktionsausfalls. Zwar kann der mittelbare Stellvertreter gegebenenfalls einen eigenen Schaden wie den Ausfall seiner Provision erleiden.138 Dabei handelt es sich jedoch lediglich um „Nebenwirkungen des typischen Schadens“.139 Hinsichtlich des Leistungsinteresses aber erleidet nur der Hintermann einen Verzögerungsschaden.140 Würde man dem mittelbaren Stellvertreter die Vorteilsausgleichung in dieser Situation versagen, käme von vornherein nicht der reale Schaden des Dritten wie der entgangene Gewinn, sondern lediglich ein objektiver typischer Schaden141 des mittelbaren Stellvertreters in Betracht. Dabei würde der normative Schaden des mittelbaren Stellvertreters abstrakt berechnet:142 Dazu dient beispielsweise § 376 Abs. 2 HGB.143 In diesem Fall kann aber der Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters anders zum Schadensersatz verpflichtet sein als im herkömmlichen Fall des Schuldnerverzugs, in dem der Verkäufer den entgangenen Gewinn des Käufers ersetzen soll. Nur aufgrund der Tatsache, dass der mittelbare Stellvertreter den Vertrag im Interesse des Geschäftsherrn abgeschlossen hat, lässt sich nicht rechtfertigen, dass der Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters für die gleiche Verzögerung der Leistung anders haften soll. Ob die Gewinnchance des Geschäftsherrn für den Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters zur Zeit des schädigenden Ereignisses vorhersehbar ist, ist für die Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns nach § 252 BGB nicht immer entscheidend.144 Um den zu ersetzenden Schaden im Fall der mittelbaren Stellvertretung interessengerecht zu ermitteln, können die möglichen Folgeschäden des Dritten, also des Geschäfts 137

Henn, a. a. O., S. 101 f. RGZ 90, 240, 246; Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 338; Langenbucher / ​Adolff, Zur Zulässigkeit der Direktliquidation in Dreipersonenverhältnissen, in: FS Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. I, S. 689; Schlechtriem / ​Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 336; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 468. 139 Hadding, Drittschadensliquidation und „Schutzwirkungen für Dritte“ im bargeldlosen Zahlungsverkehr, in: Hadding u. a. (Hg.), FS Werner zum 65. Geburtstag, S. 181. 140 Vgl. Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 156; Stamm, Regreßfiguren im Zivilrecht, S. 316; Hadding, a. a. O., S. 181. 141 Peters, Zum Problem der Drittschadensliquidation, AcP 1980, 329, 356 f. 142 Peters, AcP 1980, 329, 356 f. 143 Peters, AcP 1980, 329, 357. 144 Vgl. MüKoBGB / ​Oetker, § 252, Rn. 6. 138

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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herrn, berücksichtigt werden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob der Geschäftspartner auch dann für die Provision des mittelbaren Stellvertreters aufkommen muss, wenn er die Folgeschäden des Geschäftsherrn ersetzt hat. Wenn der Geschäftspartner den entgangenen Gewinn des Geschäftsherrn ersetzen muss, kann der zusätzliche Ersatz der Provision zu einer unbilligen Vermehrung des Haftungsrisikos führen; denn die zu zahlende Provision ist bereits in den Weiterverkaufspreis eingepreist und der Provisionsausgleich zwischen dem mittelbaren Stellvertreter und dem Geschäftsherrn kann intern erfolgen.145 Bezüglich der unmittelbaren Schadensentstehung beim Dritten in Fällen der mittelbaren Stellvertretung ist auch der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag zu betrachten. Bei diesem wird ein Arbeitnehmer von einem Verleihunternehmen eingestellt und einem Entleiher zeitweise überlassen. Wenn der Arbeitnehmer dabei dem Entleiher eine nicht vertrags- bzw. ordnungsgemäße Leistung erbringt, entsteht der Schaden unmittelbar beim Entleiher. Der Arbeitsvertrag allerdings wird zwischen dem Arbeitnehmer und dem Verleiher abgeschlossen; hingegen schließen Entleiher und Arbeitnehmer keinen Vertrag.146 Zwischen dem Verleiher und dem Entleiher gibt es zwar den Arbeitnehmerüberlassungsvertrag. Sein Zweck ist aber die Übertragung der Weisungsbefugnis für den Arbeitnehmer vom Verleiher auf den Entleiher, nicht die Erbringung der Arbeitsleistung: Ferner ist der Arbeitnehmer kein Erfüllungsgehilfe des Verleihers, da er bei der Ausführung der Arbeit nur den Weisungen des Entleihers unterliegt.147 Hinsichtlich der deliktischen Haftung hat der Verleiher während der Entsendung des Arbeitnehmers keine Weisungsbefugnisse; demnach muss er keine deliktische Haftung aus § 831 BGB tragen, weil der Arbeitnehmer kein Verrichtungsgehilfe des Verleihers ist.148 Schließlich kann der Entleiher vom Verleiher keinen Ersatz des Schadens verlangen, der durch die nicht vertrags- bzw. ordnungsgemäße Leistung des Arbeitnehmers verursacht ist. In dieser Situation ist mithin wichtig, ob der Entleiher mittels der Drittschadensliquidation Schadensersatz verlangen kann, indem er den Anspruch des Verleihers geltend macht: Der Verleiher hätte einen Anspruch gegen den Arbeitnehmer, aber keinen Schaden; der Entleiher hingegen hätte zwar einen Schaden, jedoch keinen Anspruch gegen den Arbeitnehmer. Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob dem Verleiher ein normativer Schaden zuzurechnen ist, damit der Arbeitnehmer nicht ungerechtfertigt entlastet wird. Indes ist ein normativer Schaden abzulehnen, weil der Verleiher von vornherein keinen Schaden erleidet wegen der nicht vertrags- bzw. ordnungsgemäßen Leistung des Arbeitnehmers, die lediglich dem 145 Traugott, Das Verhältnis von Drittschadensliquidation und vertraglichem Drittschutz, S. 87 f. 146 Dütz / ​T hüsing, Arbeitsrecht, Rn. 341 f.; Walker, Rechtsverhältnisse bei der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung und Schadensersatzansprüche des Entleihers wegen Schlechtleistung, AcP 1994, 295, 299. 147 Dütz / ​T hüsing, a. a. O., Rn. 343. 148 Walker, Rechtsverhältnisse bei der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung und Schadensersatzansprüche des Entleihers wegen Schlechtleistung, AcP 1994, 295, 298.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich des Entleihers zuzurechnen ist. Aufgrund der Normativierung des Schadens werden dabei die konkreten Schadensposten beim Entleiher nicht erfasst. Also ist die Problematik der Schadensentstehung beim Dritten zu berücksichtigen, statt aufgrund des normativen Schadensbegriffs einen Schaden des Verleihers zu konstruieren. Damit kommt konsequenterweise die Frage auf, ob und wie der Drittschaden mittels des vertraglichen Verhältnisses liquidiert werden kann.149 Es gibt also Fälle, in denen ein Schaden so unmittelbar bei einem Dritten entsteht, dass man ihn mit der Normativierung des Schadensbegriffs nicht vollständig erfassen kann. So lassen sich durch die Normativierung des Schadensbegriffs insbesondere die Fälle der mittelbaren Stellvertretung nicht lösen. Es bleibt noch die Frage, wie der Drittschaden in diesen Fällen ersetzt oder liquidiert werden soll, um eine ungerechtfertigte Entlastung des Schädigers zu verhindern. Dafür wird die Drittschadensliquidation in Fällen der mittelbaren Stellvertretung zur Abwicklung der Folgeschäden des Dritten herangezogen.150 2. Verhältnis zum Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte Angesichts der Drittschadensfälle ist zwischen der Drittschadensliquidation und dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte zu unterscheiden. Beim Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte kann der Dritte aufgrund der mit der Begründung der Schutzpflicht verbundenen Schutzbedürftigkeit einen eigenen Schadensersatzanspruch geltend machen. Früher wurde der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte für Personenschäden und die Drittschadensliquidation für Sachschäden herangezogen, aber diese traditionelle Abgrenzung ist heute zu Recht aufgegeben.151 Bei der Unterscheidung der Drittschadensliquidation vom Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter wurde bisher zum einen danach gefragt,152 ob es eine zufällige Schadensverlagerung oder eine Vergrößerung des Haftungsrisikos durch die Einbeziehung Dritter in ein Vertragsverhältnis gebe, zum anderen, ob dem Dritten ein direkter Schadensersatzanspruch gegenüber dem Schädiger zustehe. Das Abgrenzungskriterium der Vergrößerung des Haftungsrisikos beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter lässt sich aber kritisieren. Denn er vergrößert nicht zwangsläufig das Haftungsrisiko: Benutzt beispielsweise statt des Mieters ein 149

Siehe dazu Neuner, Der Schutz und die Haftung Dritter nach vertraglichen Grundsätzen, JZ 1999, 126, 133 ff. 150 Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 255; MüKoBGB / ​ Oetker, § 249, Rn. 298. Zur anderen Ansicht, dass der Liquidationsumfang des Drittschadens je nach Erkennbarkeit für den Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters zu begrenzen sei, siehe Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 349. 151 Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 336; MüKoBGB / ​Gottwald, § 328, Rn. 190; Lange / ​ Schiemann, Schadensersatz, S. 482. 152 Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 693.

A. Rechtsdogmatische Dimension der Drittschadensliquidation 

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Dritter die Mietsache, dann unterliegt nur dieser einer Gefahr der Verletzung des Körpers wegen Mängeln der Mietsache.153 So kommt der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter auch dann in Betracht, wenn der Schaden von vornherein nur beim Dritten und nicht beim Gläubiger eintreten kann.154 Dabei ist die Interessenlage beim Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte und der Drittschadensliquidation in der Hinsicht gleich, dass der Schuldner den nur dem Dritten entstandenen Schaden ersetzen muss.155 Aus diesen Gründen ergibt sich, dass die Drittschadensliquidation und der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sich nicht klar anhand der Frage abgrenzen lassen, ob das Haftungsrisiko erhöht ist. Bezüglich dieser unklaren Abgrenzung ist auch die Entstehungsgeschichte der beiden Rechtskonstruktionen aufschlussreich. Die Drittschadensliquidation war bereits vor 1900 bekannt, während der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte erst im frühen 20. Jahrhundert aufkam.156 In Fällen, in denen ein Dritter einen Schaden erleidet, entwickelte sich die Tendenz, diesem einen eigenen Schadensersatzanspruch einzuräumen, statt den Schaden im Wege der Drittschadensliquidation zu ersetzen.157 Damals wendete das Reichsgericht für die Begründung des eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter die vertragliche Lösung an, die eine vertragliche Schutzpflicht zum Beispiel mit § 328 BGB oder der ergänzenden Vertragsauslegung schafft.158 Dabei ist zu beachten, dass die Drittschadensliquidation und der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können. Um dies zu verdeutlichen, lässt sich ein damaliges Beispiel, der sogenannte Klosterfall,159 anführen: Ein Kloster, in dem ein Zögling erkrankt war, beauftragte einen Fuhrunternehmer damit, einen Arzt zu dem Kloster zu bringen. Auf dieser Fahrt wurde der Arzt durch ein Verschulden eines Knechtes des Fuhrunternehmers verletzt. Auf diesen Fall könnte die Drittschadensliquidation angewendet werden, die bereits seit 1855 für Fälle des Kommissionsgeschäfts anerkannt wurde. Denn der Schaden ist statt beim Vertragspartner des Klosters – dem Fuhrunternehmer – beim Arzt entstanden; demnach liegt eine Schadensverlagerung vor, ähnlich wie bei der Situation des Kommissionsgeschäfts.160 Andererseits könnte auch der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte Anwendung finden. Denn der Vertrag zwischen dem Kloster und dem Fuhrunternehmer bezieht sich inhaltlich auf ein Drittinteresse, da er den Transport des Dritten zum Gegenstand hat.161 Dabei ist nur der Arzt, dem kein eigener Anspruch auf Beförderung zusteht, den Gefahren der Beförde 153

Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 41. BGH NJW 1965, 1955, 1957; MüKoBGB / ​Gottwald, § 328, Rn. 194. 155 Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 47. 156 HKK / ​Vogenauer, §§ 328–335, Rn. 121, 125; Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, S. 9 ff., 19 ff. 157 RGZ 127, 218, 222 ff.; Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 864. 158 RGZ 127, 218, 222. 159 RGZ 87, 289. 160 Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 43. 161 Sutschet, a. a. O., S. 43. 154

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

rung ausgesetzt, und diese Tatsache ist für den Fuhrunternehmer auch erkennbar.162 Mit diesem Problem beschäftigte sich das RG auch in einer Entscheidung, in der ein Vertrag nach § 157 BGB so ausgelegt wurde, dass die Liquidation des Drittinteresses als vereinbart galt.163 Zudem unternahm das RG einen Versuch die Drittschadensliquidation mit dem Willen der Vertragsparteien zu rechtfertigen.164 Diese Erklärungsansätze wurden parallel zur privatautonomen Begründung vertraglicher Schutzpflichten für Dritte entwickelt.165 Wie die Historie dieser rechtsdogmatischen Begründungen zeigt, können auf eine gleiche Interessenlage die Drittschadensliquidation und der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte gleichsam Anwendung finden.166 Folglich kommt es nur darauf an, inwieweit der Dritte schutzbedürftig ist und wie er geschützt werden kann. Das ist nach der angemessenen Risikoverteilung zu bestimmen. Bei einer bestimmungsgemäßen Leistungsnähe zwischen dem Gläubiger und dem Dritten, die für den Schuldner erkennbar ist, kommt beispielsweise in Betracht, dass das Interesse des Dritten nach dem Vertragsinhalt in derselben Weise gewahrt werden soll, wie wenn der Dritte selbst den Vertrag geschlossen hätte.167 So ist nach dieser normativen Erwägung zu bestimmen, ob dem Dritten ein eigener direkter Schadensersatzanspruch zusteht. Bei der Abgrenzung zwischen der Drittschadensliquidation und dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte ist zwar entscheidend, ob dem Dritten ein eigener Schadensersatzanspruch zustehen soll. Indes widerspricht die Konstruktion des Schadensersatzanspruchs Dritter nicht immer der Drittschadensliquidation, weil bei der Drittschadensliquidation gestattet ist, dass der Gläubiger dem Dritten den Schadensersatzanspruch abtritt.168 So kann der Dritte auch bei der Drittschadensliquidation letztlich einen eigenen Schadensersatzanspruch erhalten. Schließlich bezieht sich die Abgrenzung zwischen der Drittschadensliquidation und dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte darauf, ob der Drittschaden mittels eines Anspruchs des Gläubigers oder durch einen eigenen direkten Schadensersatzanspruch Dritter ersetzt werden soll.169 Dies hängt mit der Frage zusammen, unter 162

Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 197; Lorenz, Die Einbeziehung Dritter in vertragliche Schuldverhältnisse, JZ 1960, 108, 111. 163 RGZ 170, 246, 251. 164 RGZ 93, 39, 41. 165 Neuner, Die Entwicklung der Haftung für Drittschäden, in: Falk / ​Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, S. 203. 166 Vgl. Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, S. 98; Hirsch, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 1132. 167 Lorenz, Die Einbeziehung Dritter in vertragliche Schuldverhältnisse, JZ 1960, 108, 110. 168 Vgl. MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 294. 169 Es soll hier die berühmte Formulierung von Medicus erwähnt werden: „Der konstruktive Unterschied besteht in folgendem: Bei der Drittschadensliquidation wird der Schaden zur Anspruchsgrundlage, bei der vertraglichen Schutzwirkung die Anspruchsgrundlage zum Schaden gezogen.“ Vgl. Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 839.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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welchen Bedingungen die Flexibilisierung des Dogmas vom Gläubigerinteresse möglich ist. Für die Drittschadensliquidation ist diese Flexibilisierung zu rechtfertigen. Zugleich lässt sich auch fragen, unter welchen Bedingungen die Erweiterung des Schutzbereichs des Vertrags und der daraus folgende eigene Schadensersatzanspruch des Dritten zuzuerkennen ist, ohne dabei das Dogma vom Gläubigerinteresse zu verletzen. Dafür sind die besonderen Voraussetzungen für die vertragliche Schutzwirkung für Dritte hervorzuheben, die den eigenen Schadensersatzanspruch des Dritten rechtfertigen, wie etwa die Leistungsnähe, die Erkennbarkeit für den Schuldner und die Schutzbedürftigkeit des Dritten.170 Je nachdem, ob die einzelnen Bedingungen erfüllt sind, können die Drittschadensliquidation und der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte gleichzeitig zum Zuge kommen. Der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte verdrängt also nicht unbedingt die Drittschadensliquidation. Er ist nur eine besonders zu rechtfertigende Rechtsfigur für den eigenen Schadensersatzanspruch Dritter, nicht aber für die Ablehnung der Drittschadensliquidation. Je größer die Schutzbedürftigkeit des Drittinteresses ist, desto eher kommt zwar der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte in Betracht. Aber das bedeutet nicht, dass die Drittschadensliquidation nicht mehr anwendbar wäre. Denn sie hat ihre eigenen Voraussetzungen und ist je nach Gesichtspunkt vorteilhafter als der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte: Beispielsweise durchbricht sie nicht die Relativität der Schuldverhältnisse, der der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte hingegen widerspricht. Neben der vertraglichen Schutzwirkung für Dritte lässt sich die Drittschadensliquidation auch als eine besonders zu rechtfertigende Rechtfigur für das Drittinteresse berücksichtigen. Dabei kann man kein striktes Vorrangverhältnis zwischen dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte und der Drittschadensliquidation festlegen,171 da die beiden sich nicht von vornherein ausschließen und sie mit jeweils eigenen Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Die beiden Rechtsfiguren konkurrieren und tragen situationsbedingt und wechselseitig harmonisch zum Ausgleich des Drittinteresses bei.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation Wie in Teil A. der vorliegenden Arbeit dargestellt, kann man feststellen, dass die Drittschadensliquidation je nach Lage des Falls notwendig ist. Es stellt sich daher nach wie vor die Frage nach ihrer rechtsethischen Rechtfertigung. Die Drittscha­densliquidation widerspricht der Dogmatik des allgemeinen Schadensrechts. Dennoch gibt es Konstellationen, in denen sie bejaht wird, wie in den Fällen 170

Siehe dazu Papadimitropoulos, Schuldverhältnisse mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, S. 74 ff.; MüKoBGB / ​Gottwald, § 328, Rn. 164 ff.; BeckOK BGB / ​Janoscheck, § 328, Rn. 50 ff.; Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 868 ff. 171 Hirsch, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 1132.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

der mittelbaren Stellvertretung. Kaum eine Rechtskonstruktion ließe sich jedoch nur aufgrund eines praktischen Bedürfnisses oder damit rechtfertigen, dass eine rechtsdogmatische Lösung bislang fehlt. Denn der Widerspruch zur Rechtsdogmatik lässt an der Richtigkeit der Rechtskonstruktion zweifeln. Dies beruht letztlich auf der Gesetzesbindung. Daher ist eine Rechtfertigung erforderlich. Dies kann die rechtsethische Rechtfertigung leisten. Sie stellt der rechtsdogmatischen Auslegung rechtsethische Wertungen des Schadensrechts gegenüber. Zwischen diesen rechtsethischen Wertungen und dem rechtsdogmatischen Verständnis besteht ein Spannungsverhältnis. Die rechtsethischen Wertungen können die rechtsdogmatischen Inhalte rechtfertigen oder aber in Zweifel ziehen. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses liegt die Drittschadensliquidation. Sie soll einen gerechten Interessenausgleich erreichen, kann in formeller Hinsicht jedoch von den Grundsätzen des Schadensrechts abweichen. Die Anerkennung der Drittschadensliquidation geht daher mit einer Materialisierung bzw. Flexibilisierung der rechtsdogmatischen Grundsätze und Begriffe einher. Die rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation geht vom Gesetzesinhalt aus. Das allgemeine Schadensrecht der §§ 249 BGB ff. setzt sich überwiegend aus auslegungsbedürftigen Begriffen zusammen. Die rechtsethische Auslegung dient der Erforschung des impliziten Gesetzesinhaltes und vermeidet eine isolierte Auslegung nach dem Wortlaut oder der semantischen Aussage. Mit ihr kann auch ergründet werden, inwieweit das Gesetz eine Aussage zum Problem der Drittschadensliquidation trifft. Mit der rechtsethischen Auslegung kann der Sinngehalt des allgemeinen Schadensrechts ermittelt werden. Zwischen dieser Erforschung des Gesetzessinns und der rechtsethischen Begründung der Lückenausfüllung sind die Übergänge fließend. Die rechtsethische Betrachtung schafft „ein wechselseitiges Kontinuum der Zu- und Abnahme“172 von Bedeutungsergründung und Rechtfertigung der Rechtsfortbildung, wie oben bereits betrachtet.173 In diesem Verhältnis dient die rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts der Rechtfertigung der Drittschadensliquidation als Rechtsfortbildung. Dabei ist entscheidend, wie das Dogma vom Gläubigerinteresse und die Subjektbezogenheit des Schadens zu verstehen sind und inwieweit sie flexibilisiert werden können, um Drittschäden zu umfassen.

I. Teleologische Reduktion des Dogmas vom Gläubigerinteresse Die Drittschadensliquidation weicht das Dogma vom Gläubigerinteresse auf, indem der Verletzte ausnahmsweise einen Drittschaden geltend machen kann. Für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation ist daher die Vorfrage entschei 172 173

von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, S. 433 f. Siehe oben den ersten Teil, D. IV.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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dend, inwieweit das Dogma vom Gläubigerinteresse aufgelockert werden kann. Im Anwendungsbereich dieses rechtsdogmatischen Prinzips sind viele Fallgruppen denkbar, in denen Drittschäden auftreten. Die Anerkennung dieser Ausnahmen würde die Notwendigkeit indizieren, die Angemessenheit des Dogmas vom Gläubigerinteresse zu überdenken.174 Dabei besteht die Möglichkeit, dass diese Ausnahmen zwar der äußeren Form des Dogmas vom Gläubigerinteresse zuwiderlaufen, aber nicht seinem Zweck. Denn diesem liegen rechtsethische Wertungen wie etwa die ausgleichende Gerechtigkeit im bipolaren privaten Rechtsverhältnis175 zugrunde. Bei dieser Betrachtungsweise könnte es geboten sein, auf die Anwendung des Dogmas vom Gläubigerinteresse punktuell zu verzichten. Denn die Verletzung eines rechtsdogmatischen Grundsatzes in formeller Hinsicht lässt sich gegebenenfalls rechtfertigen, wenn sein Zweck dennoch erreicht wird. Dazu dient rechtsmethodisch die teleologische Reduktion. 1. Zweck des Dogmas vom Gläubigerinteresse Um zu prüfen, ob von einem Dogma abgewichen werden kann, ist zunächst sein Zweck zu betrachten. Der Zweck des Dogmas vom Gläubigerinteresse ist es, einen am Zweipersonenverhältnis orientierten, gerechten Interessenausgleich zu leisten, welcher grundsätzlich im betreffenden Parteiverhältnis selbst geschehen muss.176 Heutzutage überschreiten moderne Verkehrsformen wie diejenigen des organisatorischen Leistungsverbundes, der Kooperation von Teilleistungsträgern und verbundener Verträge wie Netzverträge177 tendenziell immer mehr die Grenze einer zweiseitigen Beziehung. Trotzdem ist der individuelle Charakter der vertraglichen oder gesetzlichen Beziehung beizubehalten. Dieser dient in rechtlicher Hinsicht noch immer dazu, dass die Beteiligten die Risikoverteilung anhand der jeweiligen 174

Vgl. Luhmann, Kontingenz und Recht, S. 277 f. Dazu Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, S. 164; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 36; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 391 ff., 410 ff.; Pavčnik, Auf dem Weg zum Maß des Rechts, S. 38 f.; Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 59 ff.; Weinrib, The Idea of Private Law, S. 56 ff.; vgl. auch Kähler, Pluralismus und Monismus in der normativen Rekonstruktion des Privatrechts, in: Grünberger / ​Jansen (Hg.), Privatrechtstheorie heute, S. 127 ff.; Arnold, Freiheit, ausgleichende Gerechtigkeit und die Zwecke des Privatrechts, in: Grünberger / ​Jansen (Hg.), Privatrechtstheorie heute, S. 137 ff.; Lomfeld, Der Mythos vom unpolitischen Privatrecht, in: Grünberger / ​Jansen (Hg.), Privatrechtstheorie heute, S. 151 ff.; Röckrath, Umverteilung durch Privatrecht?, ARSP 1997, 506, 545 ff.; Zipursky, Philosophy of Private Law, in: Coleman / ​Shapiro (ed.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, S. 627 ff.; Gordley, Foundations of Private Law, S. 27 f.; Dagan, Reconstructing American Legal Realism & Rethinking Private Law Theory, S. 161 ff., 193 ff. 176 Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union, S. 11; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 92 ff. 177 Teubner, „Verbund“, „Verband“, oder „Verkehr“?, ZHR 1990, 295, 305 ff.; Rohe, Netzverträge, S. 65 ff. 175

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Interessenlagen nachvollziehen können.178 Sofern das Schadensersatzrecht Pflichtverletzungen des Schuldverhältnisses regelt, zeigt sich daran die Beschränkung auf die zweiseitige Rechtsbeziehung zwischen Gläubiger und Schuldner mit ihrem Ziel angemessener Risikoverteilung. Diese Erwägungen einer Risikobegrenzung begründen das Dogma vom Gläubigerinteresse. Danach ist nur der Gläubiger berechtigt, Schadensersatz zu fordern.179 Bei einer unerlaubten Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB kann nur der Inhaber der dort geschützten Rechtsgüter Schadensersatz geltend machen. Dabei ist auch das sogenannte Tatbestandsprinzip zu beachten,180 welches besagt, dass nicht jeder zurechenbar verursachte Schaden zum Ersatz verpflichtet, sondern nur diejenige Interessenverletzung, die einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht.181 Demnach ist nur derjenige ersatzberechtigt, der widerrechtlich und schuldhaft in seinen eigenen, durch § 823 BGB geschützten Rechten bzw. Rechtsgütern verletzt worden ist und dadurch einen Schaden erlitten hat. Mittels des Haftungstatbestands kann also der Geschädigte bestimmt werden.182 Auf diese Weise trägt das Tatbestandsprinzip zur Risikobegrenzung im Gläubigerinteresse bei.183 Das Haftungsrisiko des Schädigers soll ebenfalls berechenbar sein. Dass die lediglich mittelbar Geschädigten keinen Anspruch auf Schadensersatz haben, begrenzt die Haftung. Der Grundgedanke des Dogmas vom Gläubigerinteresse bzw. des Tatbestandsprinzips ist mithin die angemessene Verteilung des Haftungsrisikos.184 2. Materielle Abgrenzung zwischen mittelbar und unmittelbar Geschädigten Trotz des Dogmas vom Gläubigerinteresse ist nicht immer klar, wo die Grenze zwischen dem mittelbar und dem unmittelbar Geschädigten zu ziehen ist. Wenn durch eine widerrechtliche Schädigung gleichzeitig oder nacheinander mehrere Personen unmittelbar in ihren eigenen, rechtlich geschützten Interessen verletzt

178

Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 439. BGHZ 51, 91, 93. 180 Esser / ​Schmidt, Schuldrecht, Band 1, Allgemeiner Teil, Teilband 2, S. 242; MüKoBGB / ​ Oetker, § 249, Rn. 293; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu §§ 249 ff., Rn. 49; Hk-BGB / ​Schulze, Vor §§ 249–253, Rn. 26 f.; BeckOK BGB / ​Flume, § 249, Rn. 355. 181 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 23. 182 Esser / ​Schmidt, Schuldrecht, Band 1, Allgemeiner Teil, Teilband 2, S. 166. 183 Staudinger / ​Röthel, § 844, Rn. 2. 184 Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 456; Staudinger / ​Schiemann, Vorbem zu §§ 249 ff., Rn. 49, 62; Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 19; Traugott, Das Verhältnis von Drittschadensliquidation und vertraglichem Drittschutz, S. 16; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 46, 56; Brand, Schadensersatzrecht, § 1, Rn. 3, § 4, Rn. 1; Windelen, Das Haftungsinteresse: Einfallstor für den Ersatz von Drittschäden?, S. 9; Peters, Zum Problem der Drittschadensliquidation, AcP 1980, 329, 340; Hellwig, Die Verträge auf Leistung an Dritte, S. 88; Hagen, Die Drittschadensliquidation im Wandel der Rechtsdogmatik, S. 99. 179

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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werden, liegt grundsätzlich trotz des Dogmas vom Gläubigerinteresse ein ersatzfähiger Schaden vor.185 Auch kann beispielsweise der Schadensersatzanspruch des Dritten beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter damit gerechtfertigt werden, dass der Dritte aus der Verletzung des eigenen Schutzinteresses einen Schaden erleidet. Dabei scheint es in formeller Hinsicht so zu sein, dass der Dritte als Außenstehender des Vertrages lediglich ein mittelbar Geschädigter ist. Trotzdem kann er in materieller Hinsicht als ein unmittelbar Geschädigter angesehen werden, indem eine Schutzpflicht für Dritte konstruiert wird, die ihn unmittelbar erfasst. Zudem ist es möglich, dass nach dem Ergebnis einer Vertragsauslegung der Dritte als Ersatzberechtigter angesehen wird, obwohl er nicht Vertragspartner ist. Nur aufgrund der Tatsache, dass der Schaden einem außerhalb des Vertrags stehenden Dritten zugefügt worden ist, kann also nicht gesagt werden, dass der Drittschaden als nicht ersatzfähig zu gelten hat. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, den sogenannten Schockschaden zu betrachten. Nach dem Schrifttum und der Rechtsprechung kann ein Schockschaden geltend gemacht werden, wenn die Gesundheit eines Geschädigten etwa durch das Erleben des Todes von nahen Angehörigen unmittelbar verletzt wird.186 Er hat dann einen eigenen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB.187 Beim Schockschaden könnte der Geschädigte aber in formeller Hinsicht als ein Dritter angesehen werden, weil er kein unmittelbares Opfer der Tötung bzw. der widerrechtlichen Handlung ist. Er wäre dann lediglich mittelbar Geschädigter. Indes kann dies auch anders verstanden werden. Die mit Trauerfällen regelmäßig verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen gehören grundsätzlich zum allgemeinen Lebensrisiko und werden daher nicht von § 823 Abs. 1 BGB erfasst.188 Wenn die Verletzung des Geschädigten aber über diesen normalen Schmerz hinausgeht, kann diese als Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden.189 Dabei ist die Gesundheit des Geschädigten unmittelbar verletzt. Somit ist in diesem bestimmten Fall der Schockschaden kein Drittschaden,190 sondern als ein eigener Schaden zu bewerten.191 Ein weiterer Fall ist die Schädigung eines noch ungeborenen Kindes. Dieses ist von der Mutter personenverschieden und insoweit Dritter. Fraglich ist, ob das 185

Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 834. Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 148 ff. 187 BGHZ 56, 163; 172, 263; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, S. 460; Esser / ​Schmidt, Schuldrecht, Band 1, Allgemeiner Teil, Teilband 1, S. 243. 188 BGH VersR 1986, 240; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 45, Rn. 31. 189 Dafür bedarf es bekanntermaßen der Erfüllung der Voraussetzungen, dass der Geschädigte ein naher Angehöriger und der Schock im Hinblick auf dessen Anlass verständlich ist, vgl. BGHZ 56, 165; Brand, Schadensersatzrecht, § 3, Rn. 32; Looschelders, a. a. O., § 45, Rn. 32. 190 RGZ 133, 270; BGHZ 56, 163; Lange / ​Schiemann, Schadensersatz, S. 460; Looschelders, a. a. O., § 45, Rn. 31; MüKoBGB / ​Wagner, § 823, Rn. 187. 191 Park, Grund und Umfang der Haftung für Schockschäden nach § 823 I BGB, S. 25. 186

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Kind als unmittelbar Geschädigter ersatzberechtigt ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die Mutter noch vor der Geburt in einen Verkehrsunfall verwickelt wird. Dabei erkennt der BGH die Ersatzberechtigung des unmittelbar geschädigten Kindes an.192 Diese Beispiele belegen, dass keine klare Grenze zwischen dem mittelbar und dem unmittelbar Geschädigten gezogen werden kann, wenn gefragt wird, ob der Geschädigte ein Dritter ist. Für diese Grenzziehung ist vielmehr entscheidend, ob ein ersatzfähiger eigener Schaden beim Geschädigten anzunehmen ist. Dabei beeinflussen auch Erwägungen zum Schutzzweck der Norm die Beurteilung, wer unmittelbar geschädigt sei. Somit ist diese Frage nicht formell, sondern materiell zu betrachten. Dabei bezieht sich diese materielle Betrachtung des unmittelbar Geschädigten notwendigerweise auf das wesentliche Ziel des Dogmas vom Gläubigerinteresse, nämlich die angemessene Begrenzung des Haftungsrisikos. Eine solche Betrachtungsweise läuft auf die Frage hinaus, ob der Schaden auf den Schädiger abgewälzt werden darf. Eine Alternative ist, die Schadenstragung zwischen dem Geschädigten und dem Schädiger aufzuteilen. 3. Bedingte Auflockerung des Dogmas vom Gläubigerinteresse bei der Drittschadensliquidation Drittschäden sind grundsätzlich nicht vom Schädiger zu ersetzen. Die Anerkennung von Ausnahmen hat situationsbedingt und interessengerecht zu erfolgen. Zu fragen ist, ob es Gründe gibt, aufgrund derer der Drittschaden zu ersetzen ist. Um die Drittschadensliquidation als Ausnahme im obigen Sinne anzuerkennen, muss das Dogma vom Gläubigerinteresse aufgelockert werden. Die Drittschadensliquidation führt grundsätzlich keine wesentliche Steigerung des von vornherein bestehenden Haftungsrisikos des Schädigers herbei. Denn bei ihren Anwendungsfällen geht es entweder nur um den Schaden des Gläubigers oder nur um den Schaden des Dritten. Dabei sind diese Schäden im Wesentlichen miteinander gleichzusetzen, wie das Kriterium der zufälligen Schadensverlagerung dem Begriff nach zeigt. Es kommt zu einem „Entweder-oder-Verhältnis“ zwischen dem möglichen Schaden des Gläubigers und dem möglichen Drittschaden.193 Beide Schäden werden durch das Leistungsinteresse bzw. das durch § 823 BGB geschützte Interesse der Höhe nach begrenzt. Dieses bedingte Alternativverhältnis beweist, dass es auch dann keine wesentliche Steigerung des Haftungsrisikos zulasten des Schädigers gibt, wenn der Drittschaden im Wege der Drittschadensliquidation abgewickelt

192

BGHZ 8, 243; 58, 48; 93, 531; 106, 153. Medicus, Die „Identität des Schadens“ als Argument für Ersatz von Drittschäden, in: Schwenzer / ​Hager (Hg.), FS Schlechtriem zum 70. Geburtstag, S. 615, 626 f.; Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 400. 193

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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wird und der Schädiger damit den Schaden des mittelbar Geschädigten tragen muss. Daraus ergibt sich, dass die Wirkungsweise der Drittschadensliquidation das Ziel der Haftungsbegrenzung nicht gefährdet. So steht die Anwendung der Drittschadensliquidation nicht zu dem Zweck des Dogmas vom Gläubigerinteresse im Widerspruch. Aus diesem Grund kann man für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation die teleologische Reduktion heranziehen,194 sodass das Verbot des Ersatzes von Drittschäden bei der Drittschadensliquidation nicht strikt eingehalten werden muss.

II. Rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts Durch die teleologische Reduktion des Dogmas vom Gläubigerinteresse ist ein Spielraum für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation eröffnet. Dabei ist die ratio legis des Schadensrechts zu beachten, wonach die Haftung nach dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit angemessen zu begrenzen ist. Mit dieser Ratio lässt sich die Drittschadensliquidation jedoch nicht vollständig rechtfertigen. Denn nur mit der Nichtanwendung des Dogmas für die Fallgruppe der Drittschadensliquidation kann nicht erklärt werden, wie die Rechtsfortbildung konkret betrieben werden soll.195 Für die Rechtfertigung der Rechtsfortbildung ist daher zu ergründen, was erforderlich ist, damit rechtsethische Wertungen eine Gesetzeslücke ausfüllen können. Um dieses Erfordernis bei der Rechtfertigung der Drittschadensliquidation zu erfassen, muss zunächst betrachtet werden, welche Bedeutung rechtsethische Wertungen des allgemeinen Schadensrechts haben und inwieweit sie sich für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation eignen. Diesem Ziel dient die rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts. Sie orientiert sich an einem rechtsethischen Minimum und stellt Hypothesen über den impliziten Gesetzesinhalt auf. Die rechtsethische Auslegung erleichtert die Suche nach besseren dogmatischen Alternativen für mehr ausgleichende Gerechtigkeit im Schadensrecht. Sie fördert die Leistungsfähigkeit des allgemeinen Schadensrechts in Bezug darauf, Interessenkonflikte zu lösen. Denn die rechtsethische Auslegung erlaubt es, Auslegungsergebnisse miteinander zu vergleichen, die auf den für Interessenkonflikte relevanten rechtsethischen Wertungen beruhen. Zugleich werden Erkenntnisse gewonnen, die sich für die Rechtfertigung der konkreten Rechtsfortbildung der Drittschadensliquidation nutzen lassen, selbst wenn die rechtsethische Auslegung keine bestimmte rechtsfortbildende Lösung etablieren kann. Um eine atypische Liquidation des Drittschadens im Wege der Rechtsfortbildung zu begründen, ist vor allem zu betrachten, welche Argumente dafür aus dem 194 195

Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 157 f. Canaris, a. a. O., S. 158.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

allgemeinen Schadensrecht und dessen rechtsethischem Minimum abgeleitet werden können. Im Folgenden werden mögliche Argumente für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation herangezogen. 1. Identität des Schadens Das Dogma vom Gläubigerinteresse und die damit zusammenhängende Zusammenschau von Verletzung und Schaden haben zur Folge, dass der Schaden subjektbezogen betrachtet wird. Dabei ist die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs grundsätzlich darauf gerichtet, die persönliche Zurechnung des Schadens mit dem Inhaber des Schadensersatzanspruchs in Einklang zu bringen. Das Dogma vom Gläubigerinteresse soll die Haftung des Schädigers begrenzen, indem das zu schützende Interesse in persönlicher Hinsicht konkretisiert wird. Das heißt, dass entsprechend der am Zweipersonenverhältnis orientierten Vorstellung des Interessenausgleichs im Regelfall nur die unmittelbar Geschädigten ersatzberechtigt sind. Angesichts der Drittschadensfälle, in denen der Schaden entweder nur beim Gläubiger oder nur beim Dritten auftreten kann, lässt sich ein abweichendes Argument anführen. Wie oben bereits betrachtet,196 führt diese Konstellation keine Kumulation des Haftungsrisikos des Schädigers herbei. Deswegen lässt sich die Frage stellen, ob die Subjektbezogenheit des Schadens für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs unbedingt aufrechtzuerhalten ist. In diesem Zusammenhang kann man die Identität des Gläubigerschadens und des Drittschadens heranziehen. Das Argument der Identität wird wie folgt verstanden: Wenn der Schaden des Dritten im Wesentlichen demjenigen Schaden entspricht, der bei dem unmittelbar Geschädigten selbst zu erwarten wäre, erhöht sich das Risiko des Schädigers nicht wesentlich, so dass der Drittschaden mit dem Schaden des Gläubigers gleichgesetzt werden kann.197 So ist aus Sicht des Schädigers die Subjektbezogenheit des Schadens irrelevant, das heißt es ist gleichgültig, wem er letztlich Ersatz schuldet. Das Argument der Identität des Schadens lässt sich auch im geltenden Recht, beispielsweise in § 421 Abs. 1 S. 3 HGB, feststellen. Nach dieser Vorschrift des Frachtrechts macht es für die Geltendmachung des Anspruchs aus § 421 Abs. 1 S. 2 HGB keinen Unterschied, ob Empfänger und Absender im eigenen oder fremden Interesse handeln.198 Zweck dieser Vorschrift ist es, die frachtrechtliche Schadensabwicklung von der Beantwortung der Frage zu befreien, ob der Schaden beim Ab-

196

Vgl. oben den zweiten Teil, B. I. 3. Medicus, Die „Identität des Schadens“ als Argument für den Ersatz von Drittschäden, in: Schwenzer / ​Hager (Hg.), FS Schlechtriem zum 70. Geburtstag, S. 614 ff.: Das sei eigentlich auf die zufällige Schadensverlagerung in der Drittschadensliquidation zurückzuführen. Zur einschlägigen Rechtsprechung vgl. BGH NJW 1998, 1059, 1062. 198 Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499. 197

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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sender oder beim Empfänger eingetreten ist.199 Denn ein Rechtsverhältnis zwischen dem Empfänger und dem Absender ist normalerweise für den Frachtführer nicht erkennbar.200 Dadurch soll die Haftung des Frachtführers nicht gemildert werden. Insofern ist die Subjektbezogenheit des Schadens bei der Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs nicht zwingend zu berücksichtigen. Nur mit dem Entweder-oder-Verhältnis zwischen dem möglichen Schaden des Gläubigers und dem möglichen Drittschaden lässt sich die Identität des Schadens nicht begründen. Damit diese anerkannt werden kann, ist auch nachzuweisen, dass der Schädiger nicht entlastet würde, wenn der Schaden dem Dritten zugerechnet würde. Nur mit demjenigen Drittschaden, für den der Schädiger auch tatsächlich haften muss, ist der mögliche Schaden des Gläubigers gleichzusetzen. Um eine unbillige Entlastung auszuschließen, lässt sich auf den Grundsatz des Römischen Rechts abheben, dass niemand durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichert werden darf.201 Im Wesentlichen bezieht sich dieser naturrechtliche Rechtsgrundsatz auf die Billigkeit (aequitas).202 Diesem Rechtsgrundsatz liegt die rechtsethische Wertung zugrunde, dass eine ungerechte Vermögensvermehrung zu verhindern oder auszugleichen ist. Er wird heutzutage meist mit Bezug auf das Bereicherungsrecht erwähnt.203 Doch ist er so allgemein, dass er auch in den Zusammenhang des Haftungs- bzw. Schadensrechts gestellt ­ avigny ihn als „leitenden Grundsatz“ an, „wowerden kann.204 Auch deshalb sah S raus mehrere Rechtsinstitute ihr Daseyn und ihren besonderen Inhalt ableiten“.205 Mit diesem Rechtsgrundsatz lässt sich die Haftung des Schädigers beim Entweder-oder-Verhältnis rechtfertigen. Sofern sich der Schädiger widerrechtlich verhält und einen Schaden verursacht, darf er nach diesem Grundsatz nicht ohne weiteres entlastet werden, auch wenn der Schaden bei einem Dritten entsteht. Denn eine solche Entlastung bedeutete, den Schädiger unangemessen zu bereichern. Diese Bereicherung des Schädigers ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Geldschuld 199

Luther, Die Haftung in der Frachtführerkette, TranspR 2013, 93, 95; Becker, Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den Frachtführer gemäß § 421 Abs. 1 S. 2 HGB, AcP 2002, 722, 735 f. 200 Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 499. 201 Pomp. D. 12, 6, 14; 50, 17, 206; „Iure naturae aequum est, neminem cum alterius detrimento et iniuria fieri locupletiorem“. Siehe dazu Wollschläger, Das stoische Bereicherungsverbot in der römischen Rechtswissenschaft, in: Behrends u. a. (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition, S. 41 ff.; Kaser, Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, S. 421 f.; vgl. Mousourakis, Fundamentals of Roman Private Law, S. 242; Dworkin, Law’s Empire, S. 15 ff., 20; ders., Taking Rights Seriously, S. 23. 202 Vgl. Kaser, a. a. O., S. 422; Kaser / ​Knütel / ​L ohsse, Römisches Recht, § 48, Rn. 3; Honsell, Drei Fragen des Bereicherungsrechts, in: Zobl u. a. (Hg.), Der Allgemeine Teil und das Ganze, S. 25 f.; Honsell / ​Mayer-Maly / ​Selb, Römisches Recht, S. 351. 203 Kaser / ​Knütel / ​L ohsse, a. a. O., § 48, Rn. 3. 204 Honsell / ​Mayer-Maly / ​Selb, Römisches Recht, S. 351; Kaser, Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, S. 422. 205 ­Savigny, Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 230.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

aus dem Vermögen des Schädigers gerade nicht beglichen wird. Dies ist im Ergebnis als materielle Vermögensvermehrung des Schädigers anzusehen. Der rechtsethische Grundsatz, dass niemand durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichert werden darf, findet sich in § 844 BGB wieder. Entgegen dem Prinzip des Haftungsrechts, wonach Verletzter und Geschädigter personenidentisch sein müssen,206 geht es bei § 844 BGB um Vermögensschäden von Dritten, das heißt der Angehörigen oder Hinterbliebenen. Indes bringt diese Vorschrift keine unangemessene Risikovermehrung des Schädigers mit sich. Bei der Verletzung des Rechtsgutes Leben existiert das Opfer nicht mehr. Damit wird der Verlust des Lebens nicht im Wege des Schadensersatzes kompensiert,207 obwohl infolge des Todes materielle Nachteile entstehen. Unterhaltsberechtigte Angehörige oder Hinterbliebene des Getöteten verlieren nicht nur ihre Unterhaltsansprüche, sondern hätten nach § 1615 BGB auch die Beerdigungskosten zu tragen. Wegen des Wegfalls des primären Rechtsgutsinhabers liefe das Haftungssystem ins Leere.208 Die Vorschrift des § 844 BGB soll ein solches Ins-Leere-Laufen der Haftung vermeiden. Diese Vorschrift modifiziert die haftungsrechtliche Beschränkung auf eigene Rechtsgutsverletzungen, indem sie mittelbare, durch die Tötung verursachte Schäden Dritter als ersatzfähig anerkennt. Diese Norm basiert auf der Erwägung, dass die hiernach ersatzfähigen Schäden für den Schädiger vorhersehbar sind und dieser bei einer Tötung nicht besser stehen dürfe als im Falle einer Körperverletzung,209 bei welcher der lebende Geschädigte gegen den Schädiger Schadensersatzansprüche geltend machen kann. Dabei wird der rechtsethische Grundsatz der Billigkeit210 berücksichtigt. So wird der Schädiger nicht ohne weiteres entlastet, obwohl das unmittelbare Opfer der Tötung nicht mehr lebt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit dem Argument der Identität des Schadens und der Billigkeit eine Begründung gelingt, warum ein Drittschaden mit der Drittschadensliquidation ausgeglichen werden kann.

206 Brüggemeier, Haftungsrecht, S. 547; Meckbach, Zivilrechtliche Ansprüche bei Tötung eines Menschen, S. 6. 207 Pfeifer, Schadensfall Tod: Zur Ersatzfähigkeit entgangenen Gewinns bei Tötungsdelikten, AcP 2005, 795, 800 f. 208 MüKoBGB / ​Wagner, § 844, Rn. 1; Wagner, Schadensersatz in Todesfällen  – Das neue Hinterbliebenengeld, NJW 2017, 2641, 2642; Röckrath, Die vertragliche Haftung für den Unterhaltsschaden Hinterbliebener, VersR 2001, 1197, 1203. 209 Schramm, Haftung für Tötung, S. 22 f.; Meckbach, Zivilrechtliche Ansprüche bei Tötung eines Menschen, S. 26. 210 BGH NJW 1973, 1076; vgl. Röckrath, Die vertragliche Haftung für den Unterhaltsschaden Hinterbliebener, VersR 2001, 1197, 1203.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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2. Symmetrie als Indikator für gerechten Interessenausgleich Es lässt sich fragen, wie diese beiden Gründe, also die Identität des Schadens und die Billigkeit, zusammenwirken. Denn der Satz, niemand dürfe durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichert werden, weist zwar darauf hin, dass der Schädiger nicht unbillig entlastet werden darf. Er schweigt aber zur Frage, inwieweit der Schädiger eine Haftung übernehmen soll. So bedarf es weiterer Argumente, um die Haftung des Schädigers auf den Drittschaden zu erstrecken. Ein solches bietet die Symmetrie als Indikator eines gerechten Interessenausgleichs. Wie das Dogma vom Gläubigerinteresse zeigt, erfordert die ausgleichende Gerechtigkeit für das Schadensrecht, dass ein Interessenausgleich grundsätzlich in einem Zweipersonenverhältnis zustande kommt und Drittschäden an sich unbeachtlich sind. Diese Konzentration des Schadensausgleichs auf die individuelle Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem ist Ausfluss eines rechtsethischen Minimums, nämlich der ausgleichenden Gerechtigkeit. Indes verlangt diese für das Schadensrecht nicht nur den am Zweipersonenverhältnis orientierten Interessenausgleich. Sie kann auch die Äquivalenz zwischen dem zu ersetzenden Schaden und der Inanspruchnahme des Schädigers betreffen: Dieses zweite Erfordernis der ausgleichenden Gerechtigkeit lässt sich insbesondere bei modernen Verkehrsformen aufzeigen, an denen rechtlich oder tatsächlich ein Dritter beteiligt ist, wie etwa die Fallgruppen der mittelbaren Stellvertretung, Treuhandverhältnisse sowie Kostenübernahmen durch Dritte. Der Anspruch, der sich aus dem Zweipersonenverhältnis ergibt, kann die wirtschaftliche Interessenlage verfehlen und ineffektiv sein. Dies ist der Fall, wenn er die beachtlichen Interessen Dritter nicht erfasst. Damit kann die Äquivalenz zwischen Schaden und Schadenswiedergutmachung im Dreipersonenverhältnis relevant werden, ohne dabei auf die intersubjektive Beziehung des einzelnen Zweipersonenverhältnisses beschränkt zu sein.211 In den Zusammenhang zur Äquivalenz gehört auch die Symmetrie als ein Gebot des rechtsethischen Minimums.212 Man kann sagen, dass der bisherigen Begriffsverwendung der „Symmetrie“ lediglich eine deskriptive, also erklärende Funktion innewohnt. Trotzdem lässt sich auch daran denken, mit dem Gedanken der Symmetrie bestimmte Ausprägungen der ausgleichenden Gerechtigkeit, insbesondere der Äquivalenz, zu erfassen.213 Der Begriff der Symmetrie beschreibt ursprünglich das gleichwertige Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen oder die 211

Siehe dazu auch Luhmann, Kontingenz und Recht, S. 317 ff. Vgl. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, S. 50 ff.; Schulze, Symmetrie und Harmonie im Recht – eine Skizze, in: Petsche (Hg.), Symmetrie und Harmonie?, S. 80 ff. 213 Eichenhofer, Licht und Recht, NJW 2008, 2828, 2831; Damler, Rechtsästhetik, S. 205, 244; Schulze, Die Ästhetisierung des Rechts in Theorie und Praxis, in: Lege (Hg.), Gelingendes Recht, S. 75 ff. 212

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

harmonische Übereinstimmung der Teile eines Ganzen.214 Dabei ist zu bemerken, dass das symmetrische Verhältnis der Teile zueinander nur im Zusammenhang mit dem Ganzen erfassbar ist.215 Somit können Überlegungen zur Symmetrie Anlass geben, nicht nur über die Äquivalenz in untergeordneten Relationen der Teile, sondern auch über die Äquivalenz der Teile in deren Gesamtheit nachzudenken. So ermöglicht der Begriff der Symmetrie eine Gesamtbetrachtung. Beim privatrechtlichen Interessenausgleich ist die Symmetrie als ein rechtsethisches Minimalgebot auf eine Harmonisierung des zu ersetzenden Schadens mit der Haftung, also einen äquivalenten Interessenausgleich, gerichtet. Sie ist grundsätzlich nicht auf die Ansprüche im Vertragsverhältnis beschränkt,216 sondern umfasst Dritte, die durch eine Pflichtverletzung der Vertragsparteien geschädigt wurden. Da sich die Symmetrie nicht nur auf das Verhältnis der untergeordneten Teile richtet, sondern zugleich auf die Zusammenfügung der Teile zu einem Ganzen, lässt sich der geschädigte Dritte dank dieser erweiterten Perspektive in das Ausgleichsverhältnis einbeziehen. Über die Zweipersonenverhältnisse hinaus betrifft die Symmetrie die Gleichwertigkeit zwischen dem zu ersetzenden Schaden und der Haftung des Schädigers im Drei- oder Mehrpersonenverhältnis. Sie ermöglicht, dass die Betrachtung der angemessenen Haftung nicht an den Interessenausgleich im Zweipersonenverhältnis gebunden ist. Darin besteht das gegenstandsorientierte Ausgleichverständnis. Dieses unterscheidet sich von dem an den Parteien des betroffenen Rechtsverhältnisses orientierten Ausgleichsverständnis, wie es dem Dogma vom Gläubigerinteresse zugrunde liegt. Die rechtsethische Prämisse der Symmetrie dient zur Rechtfertigung der Liquidation des Drittschadens. Dazu setzt die Symmetrie nach dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit voraus, dass die Haftung des Schädigers und mögliche Schäden beim Dritten in einem gleichwertigen Verhältnis stehen. Nach dem Entfall des Gläubigerschadens ist der Drittschaden auszugleichen, um Haftung und Schaden auszubalancieren. So bezieht sich die Symmetrie in diesem Fall auf den Haftungsumfang des Schädigers; und zwar nicht unter dem Gesichtspunkt der intersubjektiven Relation im Zweipersonenverhältnis, sondern aufgrund der Äquivalenz in einer Gesamtbetrachtung im Dreipersonenverhältnis. Dabei werden die Anforderungen an das Dogma vom Gläubigerinteresse für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs aufgelockert. Dadurch lässt sich schließlich die vom Gläubiger geltend gemachte Liquidation des Drittschadens rechtfertigen. Zusammenfassend lässt sich der fundamentale Unterschied zwischen der Symmetrie und dem Dogma vom Gläubigerinteresse wie folgt schematisieren: Grimm / ​Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, Sp. 1393; Schulze, a. a. O., S. 76; ­Mischer, Vollkommen / ​ Vollkommenheit, in: Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6, S. 375. 215 Angyal, The Structure of Wholes, Philosophy of Science 1939 (Vol. 6, No. 1), 25, 31; Schulze, a. a. O., S. 76. 216 Vgl. Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 34, 42 ff. 214

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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Abb. 2

Auch im Vergleich zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung lässt sich die Symmetrie näher in den Blick nehmen. Soweit das Bereicherungsrecht auf der ausgleichenden Gerechtigkeit beruht, kann die Betrachtung seiner Dogmatik zu ergründen helfen, wie ein Schadensausgleich sachgerecht gestaltbar ist. Dabei kann „die Konformität der rechtlichen Wertungen für die dogmatische Lösung einander entsprechender Sachprobleme“ genutzt werden.217 Die Symmetrie als tragender Gedanke des Interessenausgleichs findet sich insbesondere bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung im Dreipersonenverhältnis wieder, §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB. Die am Zweipersonenverhältnis orientierte Vorstellung des Interessenausgleichs kommt somit nicht nur auf der Ebene des Schadensersatzrechts, sondern auch auf derjenigen des Bereicherungsrechts zum Tragen. Nicht zuletzt bei bereicherungsrechtlichen Mehrpersonenverhältnissen geht es darum, ob die Leistungskondiktion der Nichtleistungskondiktion stets vorrangig ist. Zentral ist dabei der Leistungsbegriff, welcher diese beiden Kondiktionsarten voneinander abgrenzt. Er hängt mit der am Zweipersonenverhältnis orientierten Vorstellung vom Interessenausgleich zusammen. In der Regel ist der bereicherungsrechtliche Leistungsbegriff wie folgt definiert: eine bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.218 217 Hagen, Funktionale und dogmatische Zusammenhänge zwischen Schadens- und Bereicherungsrecht, in: Paulus u. a. (Hg.), FS Larenz zum 70. Geburtstag, S. 868; vgl. Picker, Das Deliktsrecht im Zivilrechtssystem, ZfPW 2015, 385, 390 f.; Jansen, Gesetzliche Schuldverhältnisse, AcP 2016, 112, 189 ff.; Koppensteiner, Probleme des bereicherungsrechtlichen Wertersatzes (II), NJW 1971, 1769: „Bereicherungs- und Schadensausgleich verhalten sich nämlich spiegelbildlich zueinander.“ 218 BGHZ 40, 272, 277; 58, 184, 188; 72, 246, 248; BGH NJW 2001, 2880, 2881; Kötter, Zur Rechtsnatur der Leistungskondiktion, AcP 1954, 193, 195 ff.; Palandt / ​Sprau, § 812, Rn. 14; MüKoBGB / ​Schwab, § 812, Rn. 47; Jauernig / ​Stadler, § 812, Rn. 3; Staudinger / ​L orenz, § 812, Rn. 5; Hk-BGB / ​Schulze, § 812, Rn. 5; Wieling, Bereicherungsrecht, S. 13; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, § 54, Rn. 7; Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 666; Esser / ​Weyers, Schuldrecht, Band 2, Besonderer Teil, Teilband 2, S. 42 f.; Jahn, Der Bereicherungsausgleich im Mehrpersonenverhältnis, S. 16.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Demnach kommt es nicht allein auf rein tatsächliche Vermögensverschiebungen an, sondern auch darauf, worin der finale Leistungszweck besteht. Dahinter steckt der Grundgedanke der Parteiautonomie, wonach insbesondere in Bezug auf sogenannte mittelbare Zuwendungen zu bestimmen ist, was zwischen den Parteien als Leistung gelten soll.219 So bezieht sich die zweckgerichtete Mehrung des Vermögens normativ in aller Regel auf ein kausales Schuldverhältnis als Rechtsgrund.220 Daraus folgt, dass rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen primär allein zwischen den Parteien des betreffenden Kausalverhältnisses abgewickelt werden sollen und Dritte und deren Interessen nicht auf diesen Abwicklungsvorgang einwirken.221 Dies führt schließlich zum sogenannten Subsidiaritätsprinzip, wonach nicht zuletzt beim Bereicherungsausgleich im Mehrpersonenverhältnis die Leistungskondiktion Vorrang gegenüber der Nichtleistungskondiktion genießt.222 Trotzdem stellt der grundsätzliche Ausschluss der Direktkondiktion im Dreipersonenverhältnis keine formelle Ausschlussregel dar, sondern beruht in der Regel auf folgenden normativen Erwägungen: Erstens müssen den Parteien des fehlerhaften Kausalverhältnisses ihre Einwendungen gegen den anderen Teil erhalten bleiben; zweitens muss eine Partei vor den Einwendungen aus fremden Schuldverhältnissen ihres Vertragspartners zu Dritten geschützt werden; drittens muss eine angemessene Verteilung der Insolvenzrisiken gewährleistet werden, wobei jede Partei nur das Risiko der Zahlungsunfähigkeit desjenigen tragen soll, den sie selbst als Vertragspartner gewählt hat.223 Dabei lässt sich der Vorrang der Leistungskondiktion nicht immer schematisch durchsetzen, wenn sich entsprechend den normativen Erwägungen eine andere sachgerechtere Abwicklungsweise aufdrängt.224 219 von Caemmerer, Bereicherung und unerlaubte Handlung, in: Kunkel / ​Wolff (Hg.), FS Rabel, Bd. 1, S. 350; Staudinger / ​L orenz, § 812, Rn. 5. Zum geschichtlichen Kontext der mit der Privatautonomie einhergehenden Zwecksetzung im bereicherungsrechtlichen Leistungsbegriff vgl. HKK / ​Schäfer, §§ 812–822, Rn. 19 ff., 34 ff.; Jansen, Gesetzliche Schuldverhältnisse, AcP 2016, 112, 152 ff. 220 BeckOK BGB / ​Wendehorst, § 812, Rn. 46; Staudinger / ​L orenz, § 812, Rn. 5; Grigoleit, Die Leistungszweckbestimmung zwischen Erfüllung und Bereicherungsausgleich, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 80. Geburtstag, S. 141; Peifer, Schuldrecht – Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 9, Rn. 4. 221 BGHZ 122, 46, 52; Thielmann, Gegen das Subsidiaritätsdogma im Bereicherungsrecht, AcP 1987, 23, 27; Canaris, Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis, in: Paulus u. a. (Hg.), FS Larenz zum 70. Geburtstag, S. 814 ff.; Schall, Abrüstung der Bereicherungsdogmatik im Dreipersonenverhältnis, JZ 2013, 753, 757. 222 BGHZ 40, 272, 278; 56, 288, 240 f.; 69, 186, 189; BGH NJW 1999, 2890, 2892; 2007, 3127, 3130. 223 Canaris, Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis, in: Paulus u. a. (Hg.), FS Larenz zum 70. Geburtstag, S. 801 ff.; vgl. Grigoleit, Die Leistungszweckbestimmung zwischen Erfüllung und Bereicherungsausgleich, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 80. Geburtstag, S. 145. Neuner, Der Schutz und die Haftung Dritter nach vertraglichen Grundsätzen, JZ 1999, 126, 126 f.; Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 667; Thomale / ​Zimmermann, Der Vorrang der Leistungsbeziehung – eine rechtsrealistische und rechtsdogmatische Kritik, AcP 2017, 246, 250 ff. 224 BGHZ 122, 46, 51; BGH NJW 1999, 1393, 1394; 2015, 229, 231; Medicus / ​Petersen, a. a. O., Rn. 667 ff.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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So kann der Vorrang der Leistungskondiktion durch die anderen normativen Gesichtspunkte für den Interessenausgleich ausgehebelt werden. Dies wird anhand der §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB deutlich: Die Vorschriften regeln bestimmte Fälle von Dreipersonenverhältnissen. Sie erlauben dem Bereicherungsgläubiger eine Direktkondiktion gegen den zweiten Erwerber, welche nicht an die Leistungsverhältnisse gebunden ist. Die Gemeinsamkeit dieser Vorschriften liegt darin,225 dass der Dritte bzw. der Zweiterwerber den Leistungsgegenstand unentgeltlich erwirbt, er also nicht zur Gegenleistung verpflichtet ist. Der Hintergrund dieser Vorschriften ist, dass die Interessen des unentgeltlichen Erwerbers weniger schutzwürdig sind als die des früheren Berechtigten.226 Im Grundgedanken der §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB spiegelt sich die rechtsethische Rechtfertigung mittels der Symmetrie wider.227 Im Fall des § 816 Abs. 1 S. 2 BGB erhält der nicht berechtigte Veräußerer bei unentgeltlichen Verfügungen keine Gegenleistung, erlangt also auch nichts. Demnach kommt keine Herausgabe des Erlangten in Betracht,228 obwohl dem Entreicherten ein etwaiger Verlust aufgebürdet wird. Deshalb wird § 816 Abs. 1 S. 1 BGB durch § 816 Abs. 1 S. 2 BGB, also die Direktkondiktion gegen den unentgeltlichen Erwerber, ergänzt. Im Fall des § 822 BGB wird demgegenüber vorausgesetzt, dass die Verpflichtung des Empfängers zur Herausgabe der Bereicherung infolge einer unentgeltlichen Zuwendung an den Dritten gemäß § 818 Abs. 3 BGB ausgeschlossen ist. Wenn der unentgeltliche Zweiterwerber dabei nicht gegenüber dem Entreicherten haften würde, weil ersterer nichts unmittelbar aus dem Vermögen des Entreicherten erlangt hat, würde letztlich niemand gegenüber dem Entreicherten haften.229 Vor diesem Missstand schützt § 822 BGB, indem der Entreicherte seinen Bereicherungsanspruch direkt gegen den unentgeltlichen Erwerber geltend machen kann. Der Normzweck des § 822 BGB ist darauf zurückzuführen, dass anders als in den gewöhnlichen Fällen, in denen jemand durch Wegfall der Bereicherung frei wird, die Zuwendung an den Dritten in Wirklichkeit auf Kosten des Entreicherten erfolgt.230 Dabei rechtfertigt die unentgeltliche Zuwendung die Bereicherung des Zweiterwerbers auf Kosten des Entreicherten nicht.231 Denn der Ersterwerber 225

BeckOK BGB / ​Wendehorst, § 822, Rn. 3. BGH NJW 1982, 761, 762; MüKoBGB / ​Schwab, § 816, Rn. 63; BeckOK BGB / ​Wendehorst, § 816, Rn. 1; vgl. Tonikidis, Die Rechtsnatur des § 822 BGB, NJW 2019, 118, 121. Dies wird als die Schwäche des unentgeltlichen Erwerbs im Zusammenhang mit §§ 528, 988 BGB etc. erklärt. Damit ist die Schwäche des unentgeltlichen Erwerbs auch als allgemeiner privatrechtlicher Grundsatz anzusehen. Siehe dazu Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 382 ff.; MüKoBGB / ​Raff, § 988, Rn. 2; BeckOK BGB / ​Fritzsche, § 988, Rn. 1; Bockholdt, Die Haftung des unentgeltlichen Erwerbers gemäß § 822 BGB, S. 55 ff. 227 Vgl. Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 178 f. 228 Staudinger / ​L orenz, § 816, Rn. 27; Hk-BGB / ​Schulze, § 816, Rn. 10. 229 BeckOK BGB / ​Wendehorst, § 822, Rn. 2. 230 Vgl. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, S. 1413. 231 Mugdan, a. a. O. 226

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

verfolgt mit seiner Zuwendung kein geldwertes Interesse; seine unentgeltliche Zuwendung zielt nicht auf den Erhalt einer Gegenleistung vom Zweiterwerber, welche eine bereicherungsrechtliche Relevanz der Güterverschiebung nahelegte. Beim unentgeltlichen Erwerb durch den Dritten nach den §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB entsteht keine unbillige Risikoverlagerung, weil dabei entweder nur der erste oder nur der zweite Erwerber etwas erlangt. Bei dieser Direktkondiktion im Dreipersonenverhältnis sticht die Gleichwertigkeit der verlorenen und erlangten Werte hervor, um Mängel der Leistungskondiktion zu beheben. Dabei ist die Äquivalenz zu berücksichtigen, wonach man nicht an einzelne Leistungsverhältnisse gebunden ist, sondern an das Dreipersonenverhältnis. Dabei wird der dem Leistungsbegriff entspringende Subjektbezug der einzelnen Leistungsverhältnisse für die Zuerkennung des Bereicherungsanspruchs ausgeblendet. Das Ausgleichsverhältnis richtet sich unabhängig von Zweipersonenverhältnissen auf die Gleichwertigkeit zwischen verlorenen und erlangten Werten; daran zeigt sich abermals das gegenstandsorientierte Ausgleichsverständnis. Aufgrund der Symmetrie weichen die §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB vom Vorrang der Leistungskondiktion für das Dreipersonenverhältnis ab. Aufgrund des Umstands, dass die Symmetrie als Rechtfertigung der Direktkondiktion im Dreipersonenverhältnis in den Vordergrund rückt, zeigen sich Berührungspunkte mit der rechtsethischen Begründung der Drittschadensliquidation. Die äußere Struktur der beiden Abwicklungsweisen, also der Drittschadensliquidation und der Leistungskondiktion, erscheint zunächst gleichartig, weil die jeweiligen zum Interessenausgleich bestimmten Ansprüche aus bestehenden Rechtsverhältnissen folgen; die Drittschadensliquidation orientiert sich am Anspruch des Gläubigers und die Leistungskondiktion wird nach dem Kausalverhältnis durchgeführt. Es besteht allerdings ein Unterschied: Während es bei der Leistungskondiktion um das eigene erlangte Etwas der Parteien des Kausalverhältnisses geht, handelt es sich bei der Drittschadensliquidation nicht um einen eigenen, sondern um einen Drittschaden. Dies wird dadurch verdeutlicht, dass die Drittschadensliquidation dann unzulässig sein soll, wenn der Gläubiger aufgrund des Verzichts des Dritten den Schadensbetrag behalten könnte, ohne ihn an den Dritten weiterleiten zu müssen.232 In materieller Hinsicht bewirkt die Drittschadensliquidation eine Auflockerung des Dogmas vom Gläubigerinteresse, indem der Gläubiger letztlich einen Drittschaden geltend machen kann. In diesem Sinne kommt die Drittschadensliquidation dem abgeschwächten Subjektbezug bei der Direktkondiktion nach den §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB dogmatisch nahe.233 Somit ist hervorzuheben, dass der Rechtfertigungsversuch für die Zuerkennung des Anspruchs bei der Drittschadensliquidation zweierlei Anknüpfungspunkte hat: die Abweichung vom am 232

BGH NJW 1998, 1864, 1865; MüKoBGB / ​Oetker, § 249, Rn. 295. Zur materiellen Ähnlichkeit zwischen § 816 Abs. 1 S. 2 BGB und der Drittschadensliquidation vgl. Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 151. 233

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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Zweipersonenverhältnis orientierten Interessenausgleich und die Aufweichung der Subjektbezogenheit des Schadens. Dabei rechtfertigt die Symmetrie die vom Gläubiger geltend gemachte Liquidation des Drittschadens. Durch die rechtsethische Auslegung wird der Gedanke der Symmetrie in die Auslegung des allgemeinen Schadensrechts einbezogen. Die rechtsethische Auslegung bietet schließlich eine Möglichkeit, ein unangemessenes Auslegungsergebnis zu verhindern, das durch die allzu strenge Einhaltung des Dogmas vom Gläubigerinteresse für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs verursacht würde. 3. Vergleich der Auslegungsmöglichkeiten für einen eigenen direkten Schadensersatzanspruch des Dritten Wie oben betrachtet,234 lässt sich durch die Symmetrie zwischen dem zu ersetzenden Drittschaden und der Haftung des Schädigers die Ersatzfähigkeit des Drittschadens rechtfertigen, obwohl diese das Dogma vom Gläubigerinteresse durchbricht. Das ist Ausfluss eines rechtsethischen Minimums. Damit ist die Drittschadensliquidation aber nicht vollständig gerechtfertigt. Denn es bleibt noch die Frage offen, ob dem Dritten nicht ein eigener, direkter Schadensersatzanspruch zuerkannt werden kann. Auch zur Rechtfertigung dessen könnte die Symmetrie beitragen. Durch die Symmetrie zwischen dem zu ersetzenden Schaden und der Haftung wird lediglich festgestellt, dass die Liquidation des Drittschadens erforderlich ist. Es ist dabei hingegen nicht verbindlich festgelegt, auf welche Weise der Drittschaden abzuwickeln ist. Nur aus der Tatsache der Schadensentstehung selbst ergibt sich unmittelbar kein Schadensersatzanspruch. Um dem mittelbar Geschädigten einen eigenen Schadensersatzanspruch zu gewähren, bedarf es einer speziellen Rechtskonstruktion. Sofern sie dem Gesetz nicht eindeutig zu entnehmen ist, muss sie anhand rechtsethischer Wertungen gewonnen werden. So ist beispielsweise die Zuerkennung eines eigenen direkten Schadensersatzanspruchs zugunsten des Dritten mit der Symmetrie und der Billigkeit durchaus vereinbar. Um einen direkten Schadensersatzanspruch des Dritten in Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung zu begründen, wurde auch die Möglichkeit einer Analogie zu § 844 BGB diskutiert,235 worin die Billigkeit und die Symmetrie als rechtsethische Wertungen enthalten sind. Die Billigkeit und die Symmetrie, welche für die Ersatzfähigkeit des Drittschadens und dessen Liquidation ausschlaggebend sind, können also die Drittschadensliquidation für sich genommen nicht rechtfertigen. Dabei verbleiben andere Auslegungsmöglichkeiten, mittels derer versucht werden kann, mit rechtsethischen Wertungen des Gesetzes einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter zu begründen. 234

Siehe oben den zweiten Teil, B. II. 2. Stamm, Rechtsfortbildung der Drittschadensliquidation im Wege eines originären und rein deliktsrechtlichen Drittschadensersatzanspruchs analog § 844 Abs. 1 BGB, AcP 2003, 367, 397. 235

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Um die Drittschadensliquidation zu rechtfertigen oder dem Dritten einen eigenen direkten Schadensersatzanspruch einzuräumen, bedarf es also noch der Darlegung von Auslegungsmöglichkeiten des Haftungs- bzw. Schadensrechts, die sich auf rechtsethische Wertungen gründen. Bei der rechtsethischen Auslegung wird ein eigener Schadensersatzanspruch des Dritten mit der Zusammenziehung von Anspruch und Schaden im Wege der Drittschadensliquidation verglichen. Indem verschiedene rechtsethische Wertungen herangezogen werden, was im Folgenden unternommen wird, kann festgestellt werden, welche der beiden Abwicklungsweisen eines Drittschadens angemessener ist, um „ein milderes, wohlwollenderes Ziel“236 des Schadensrechts zu erreichen. Dabei stellt sich auch heraus, ob und inwieweit die Drittschadensliquidation zu begründen ist. a) Konstruktion der Vertrauensvertretung Bei der mittelbaren Stellvertretung als Fallgruppe der Drittschadensliquidation stellt sich die Frage, ob dem mittelbar Geschädigten, also dem Geschäftsherrn, ein eigener Schadensersatzanspruch gewährt werden kann. Es wurde anhand des Bedürfnisses des mittelbar Geschädigten nach Gewährung und Inanspruchnahme von Vertrauen versucht, ein eigenständiges Schutzverhältnis zwischen dem Schädiger und dem Dritten zu begründen; darin liegt eine Absage an die Drittschadensliquidation. Junker versucht auf der Basis der Vertrauenshaftung237 eine haftungsbegründende Vertrauensbeziehung zwischen dem Schädiger und dem Dritten nachzuweisen.238 Er rückt die Möglichkeit einer Analogie zu den §§ 164 ff. BGB in den Mittelpunkt dieser Vertrauensbeziehung. Damit lasse sich die Vermittlung von Vertrauen zwischen dem Schädiger und dem Dritten konstruieren; auf diese Weise könne auch zwischen nicht unmittelbar miteinander in Kontakt tretenden Personen eine Sonderverbindung für die Vertrauenshaftung entstehen.239 Dabei soll das Vertrauen, welches der Dritte dem Schädiger entgegenbringt, geschützt werden: Der materiell Geschädigte vertraue darauf, durch Vertragspartner des vermittelnden Partners der Sonderverbindung nicht geschädigt zu werden.240 Unter diesem Gesichtspunkt will Junker dem Geschäftsherrn in den Fällen der mittelbaren Stellvertretung einen eigenen Schadensersatzanspruch zuerkennen.241 So steht Junkers Konstruktion eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter in engem Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz als rechtsethischer Wertung. Indes ist in Fällen der mittelbaren Stellvertretung die Vermittlung von Vertrauen als Haftungsbegründung schwer greifbar und schemenhaft, weil das für die Haf 236

­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 230. Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 539 ff. 238 Junker, Die Vertretung im Vertrauen im Schadensrecht, S. 23 ff. 239 Junker, a. a. O., S. 23. 240 Junker, a. a. O., S. 28. 241 Junker, a. a. O., S. 52 f. 237

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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tungsbegründung nötige Vertrauen nicht immer besteht. Die Hauptproblematik der Drittschadensliquidation in Fällen der mittelbaren Stellvertretung liegt in der Beantwortung der Frage, wie das Haftungsrisiko bei fehlender Interaktion zwischen dem Schädiger und dem Dritten verteilt werden soll.242 Bei ihnen ist die konkrete Vertrauensbeziehung zwischen dem Schädiger und dem Dritten nicht gegeben. Allenfalls besteht ein allgemeines Vertrauen des Dritten darauf, dass niemand das Leistungsverhältnis zwischen dem mittelbaren Stellvertreter und dem Vertragspartner verletzt.243 Dieses Vertrauen ist jedoch so abstrakt, dass es keine konkrete Pflicht des Schädigers gegenüber dem Dritten schaffen kann. Die Anerkennung der Vertrauensbeziehung zwischen dem Schädiger und dem Dritten könnte daher zu einer übermäßigen Haftungsbelastung des Schädigers führen. Folglich ist die Konstruktion der Vermittlung von Vertrauen nicht ausreichend, um einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter zu begründen. Zudem ist die Analogie zum gesetzlichen Konzept der Stellvertretung, das grundsätzlich mit dem Offenkundigkeitsprinzip verbunden ist,244 nicht überzeugend. Das Offenkundigkeitsprinzip dient primär dem Schutz des Geschäftspartners des Vertretenen, indem er informiert wird, wer sein Vertragspartner ist.245 Aufgrund der Anwendung des Offenkundigkeitsprinzips lässt sich die Haftung des Geschäftspartners gegenüber dem Vertretenen bei der unmittelbaren Stellvertretung rechtfertigen. Demgegenüber unterliegt die mittelbare Stellvertretung nicht dem Offenkundigkeitsprinzip. Das Fehlen der Offenkundigkeit ist der entscheidende Unterschied zur unmittelbaren Stellvertretung. Demnach ist es konsequent, dass der Geschäftsherr keinen direkten Anspruch gegenüber dem Vertragspartner des mittelbaren Stellvertreters haben kann. Die analoge Anwendung des Offenkundigkeitsprinzips auf die mittelbare Stellvertretung führt lediglich zur Vermengung der mittelbaren mit der unmittelbaren Stellvertretung. Damit trotz des Fehlens der Offenkundigkeit dem Vertretenen ein eigener Schadensersatzanspruch gewährt werden kann, bedarf es also nicht der Analogie zu den Normen der Stellvertretung, sondern einer gesonderten Legitimation.246 Auch wenn im Rahmen einer teleologischen Reduktion des Offenkundigkeitsprinzips die Zulässigkeit des verdeckten Geschäfts für den, den es angeht, gelingen kann,247 ist dies lediglich in den Fällen zu erlauben, in denen es nicht auf die Zahlungsfähigkeit und die Identität des Vertragspartners ankommt.248 Das ist etwa beim Bar­geschäft des täglichen Lebens der Fall. Diesem verdeckten Geschäft für den, den es angeht, wohnen indes die Verletzung des Offenkundigkeitsprinzips und eine Verwischung 242

Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 332. Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 127. 244 Henn, a. a. O., S. 123 ff.; Stamm, Regreßfiguren im Zivilrecht, S. 325. 245 MüKoBGB / ​Schubert, § 164, Rn. 24. 246 Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 341. 247 Junker, Die Vertretung im Vertrauen im Schadensrecht, S. 30 ff. 248 Wolf / ​Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 49, Rn. 50; Rüthers / ​Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 30, Rn. 7. 243

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

der eigentümlichen Grenze zwischen der mittelbaren und der unmittelbaren Stellvertretung inne.249 Zusammenfassend gesprochen kann die Konstruktion der Vertrauensvertretung mit einer Analogie zu den §§ 164 ff. BGB in Fällen der mittelbaren Stellvertretung nicht angenommen werden. b) Schutzanspruch zugunsten Dritter und § 311 Abs. 3 BGB Für die Begründung der Schutzbedürftigkeit des Erwerbsinteresses Dritter in Fällen der mittelbaren Stellvertretung zieht Sutschet in Betracht, einen Schutzanspruch zugunsten Dritter zu konstruieren.250 Danach könne dem Dritten ein eigener Schadensersatzanspruch zustehen;251 auf die Drittschadensliquidation werde verzichtet. Der Schutzanspruch zugunsten Dritter fußt auf der grundlegenden Unterscheidung Kreß’ zwischen Erwerbansprüchen und Schutzansprüchen.252 Laut Kreß sind Schutzansprüche grundsätzlich auf die Vermeidung verletzenden Verhaltens gerichtet.253 Vor dem Eintritt einer Verletzung soll mit ihnen regelmäßig das die Verletzung vermeidende Verhalten nicht verlangt werden können. Wegen dieser Eigenschaft seien sie als unentwickelte Schutzansprüche gekennzeichnet; erst im Fall einer Verletzung gelange der Anspruch zu seiner vollen Entwicklung, entstehe also ein Anspruch auf Wiedergutmachung.254 Die Schutzansprüche lassen sich in der Regel mit gesetzlichen Bestimmungen oder besonderen Vereinbarungen begründen. Dabei ist zu bemerken, dass den Schuldverhältnissen diverse nicht eigens vereinbarte Schutzverpflichtungen entspringen, welche durch ergänzende Vertragsauslegung feststellbar oder mit dem Grundsatz von Treu und Glauben begründbar seien.255 Die Idee eines Schutzanspruchs wandte Sutschet auf den Schutzanspruch zugunsten Dritter an,256 um dem Dritten in Fällen der drittbezogenen Verträge wie

249

Vgl. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band 2, S. 771 ff. Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 46 ff., 154 ff. 251 Sutschet, a. a. O., S. 16. 252 Die einheitliche Entwicklungsmöglichkeit der Schutzansprüche sei nicht erst von Canaris erkannt worden, sondern ergebe sich bereits aus Kreß’ Darstellung, Sutschet, a. a. O., S. 16, 77. Vgl. auch Bachmann / ​Schirmer, Leistungs- und Schutzpflichten in der Zivilrechtsdogmatik, in: Auer u. a. (Hg.), FS Canaris zum 80. Geburtstag, S. 384: Hugo Kreß gelte heute als der geistige Vater der modernen Schutzpflichtenlehre. 253 Vgl. Sutschet, Schutzansprüche und Schutzpflicht Dritter im Lichte des § 311 III BGB, in: Sutschet (Hg.), Tradition und Moderne – Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, S. 96. 254 Kreß, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, S. 5 ff., 578 ff.; vgl. Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 52; Schur, Leistung und Sorgfalt, S. 17 ff.; Bachmann / ​Schirmer, Leistungs- und Schutzpflichten in der Zivilrechtsdogmatik, in: Auer u. a. (Hg.), FS Canaris zum 80. Geburtstag, S. 384 ff. 255 Kreß, a. a. O., S. 580; vgl. Sutschet, a. a. O., S. 79. 256 Sutschet, a. a. O., S. 80 ff. 250

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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der mittelbaren Stellvertretung einen eigenen Schutzanspruch einräumen zu können. Prinzipiell habe der Gläubiger vor dem Unmöglichwerden der Leistung folgende Ansprüche: Entwickelte Ansprüche auf Erbringung der Leistung und unentwickelte Ansprüche auf Unterlassen der Herbeiführung der Unmöglichkeit der Leistung, Unterlassen einer Leistungsverzögerung etc.257 Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass der Schutzanspruch nicht zugunsten einer anderen Person entstehen könne. Weil der später entstehende Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung auch im Wege der Abtretung übertragbar wäre, sei es genauso möglich, dass Schutzansprüche zur Sicherung der Leistungserbringung für eine anderen Person bestehen.258 Aufgrund dieser Überlegung stellt Sutschet die weitere Frage, ob in Fällen der mittelbaren Stellvertretung anzunehmen sei, dass dem Geschäftsherrn ein der Leistungssicherung dienender Schutzanspruch zustehen kann. Zunächst geht es um die Interessenlage bei der offenen mittelbaren Stellvertretung: Dabei sollen über die ergänzende Vertragsauslegung objektive Kriterien herangezogen werden; nämlich das fehlende wirtschaftliche Interesse des mittelbaren Stellvertreters, das vorhandene wirtschaftliche Interesse des Geschäftsherrn, die Erkennbarkeit dieser Umstände für den Vertragspartner und die mangelnde Sanktionierung einer vertraglichen Pflichtverletzung.259 Unter diesen den Beteiligten offenkundigen Umständen sei die Annahme fernliegend, die Vertragsparteien hätten den Schadensersatz beim mittelbaren Stellvertreter gewollt.260 Vielmehr liege eine Ersatzpflicht des Schuldners nach dem Sinn und Zweck des Vertrags im Interesse des Hintermannes.261 Für die Frage, ob der Anspruch von dem Hintermann geltend gemacht werden kann, sei ferner der Vertrag zugunsten Dritter näher zu betrachten.262 Der Begriff der Leistung in § 328 Abs. 1 BGB soll nicht auf Erwerbsansprüche beschränkt sein, sondern alles umfassen, was überhaupt Inhalt eines Schuldverhältnisses sein kann.263 Insofern sei in Fällen der offenen mittelbaren Stellvertretung davon auszugehen, dass „die besonders vereinbarten relativen Schutzansprüche“ zur Leistungserbringung mithilfe des Vertrags zugunsten Dritter dem Hintermann zustehen können.264 Daraus soll sich Folgendes ergeben: Neben dem Anspruch auf Schadensersatz kann der Hintermann gemäß § 333 BGB das erworbene Recht zurückweisen und der mittelbare Stellvertreter kann nach § 335 BGB auf Leistung an den Hintermann klagen.265

257

Sutschet, a. a. O., S. 155. Sutschet, a. a. O., S. 155 f. 259 Sutschet, a. a. O., S. 156 f. 260 Sutschet, a. a. O., S. 158. 261 Sutschet, a. a. O., S. 158 f. 262 Sutschet, a. a. O., S. 159 f. 263 Sutschet, a. a. O., S. 89. 264 Sutschet, a. a. O., S. 159 f. 265 Sutschet, a. a. O., S. 160 f. 258

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Bei der verdeckten mittelbaren Stellvertretung weicht die Interessenlage von jener bei der offenen mittelbaren Stellvertretung ab; bei der verdeckten mittelbaren Stellvertretung ist das Drittinteresse im Gegensatz zur offenen nicht so gut erkennbar. Dabei sollen durch die ergänzende Vertragsauslegung Umstände einbezogen werden, die für die Vertragsparteien nicht erkennbar waren. Doch diese Nichterkennbarkeit gewisser Umstände sei kein Grund dafür, diese bei der Vertragsauslegung außer Betracht zu lassen.266 Die Wendung „durch Vertrag“ des § 328 Abs. 1 BGB schließe es auch nicht von vornherein aus, dass etwas zum Inhalt des Vertrags gehöre, was diesem erst mittels der ergänzenden Vertragsauslegung zu entnehmen sei.267 Aus diesen Gründen habe der Hintermann in Fällen der verdeckten mittelbaren Stellvertretung einen eigenen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung einer der Leistungserbringung dienenden Schutzpflicht. Im Zusammenhang mit dem Schutzanspruch zugunsten Dritter lässt sich auch § 311 Abs. 3 S. 1 BGB betrachten. Bei der Norm geht es unter anderem um die Frage, ob dem Geschäftsherrn der mittelbaren Stellvertretung ein eigener Schadensersatzanspruch zu gewähren ist.268 § 311 Abs. 3 S. 1 BGB zeigt auf, dass die Entstehung eines Schuldverhältnisses mit Dritten grundsätzlich möglich ist. Aus diesem können sich Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB ergeben. Entscheidend für die Entstehung eines Schuldverhältnisses mit Dritten ist, ob die Vorschrift nicht nur eine Haftung Dritter anordnet, sondern auch dem Schutz Dritter dient.269 Obwohl § 311 Abs. 3 S. 2 BGB lediglich die Haftung Dritter formuliert, reicht der § 311 Abs. 3 S. 1 BGB dem Wortlaut nach weiter. Denn die Formulierung „ein Schuldverhältnis“ in § 311 Abs. 3 S. 1 BGB, welches zu dem Dritten entsteht, lässt offen, ob der Dritte dabei ein Schuldner oder ein Gläubiger zu sein hat.270 Ferner deutet auch die Formulierung „insbesondere“ in § 311 Abs. 3 S. 2 BGB an, dass keine abschließende Regelung beabsichtigt ist.271 Aufgrund dieses Verständnisses könnte man § 311 Abs. 3 S. 1 BGB zur gesetzlichen Verankerung auf den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter übertragen.272 So zeigte der Bundesgerichtshof im „Gemüseblatt“-Fall273 schon die 266

Sutschet, a. a. O., S. 163 f. Sutschet, a. a. O., S. 169. 268 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 242 f., 254 f. 269 Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, JZ 2001, 499, 520; Sutschet, Schutzansprüche und Schutzpflicht Dritter im Lichte des § 311 III BGB, in: Sutschet (Hg.), Tradition und Moderne – Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, S. 101; Krebs / ​Lieb / ​Arnold, Kodifizierung von Richterrecht, in: Dauner-Lieb u. a. (Hg.), Das neue Schuldrecht, S. 142; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, Rn. 1326. 270 Sutschet, a. a. O., S. 103. 271 Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 9, Rn. 19. 272 Kersting, Die Dritthaftung für Informationen im Bürgerlichen Recht, S. 322 ff.; Kötz, Vertragsrecht, Rn. 514; vgl. auch Lorenz / ​Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, Rn. 376; Medicus / ​L orenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 540. 273 BGHZ 66, 51. 267

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

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Möglichkeit einer Kombination274 der culpa in contrahendo mit dem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter auf, wobei dem Dritten ein eigener Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo zu gewähren sei. Selbstverständlich weist § 311 Abs. 3 S. 1 BGB keine konkreten Tatbestände für den Schutz Dritter auf.275 Doch die Norm legt immerhin nahe, dass einem Dritten unter Umständen Schutzpflichten geschuldet sein können.276 In diesem Sinne könnte § 311 Abs. 3 S. 1 BGB der Begründung des Schutzes Dritter dienen.277 Trotzdem hat der Gesetzgeber § 311 Abs. 3 S. 1 BGB überwiegend für die Haftung Dritter in Fällen wie der sogenannten Sachwalterhaftung konzipiert: Es gelte für § 311 Abs. 3 S. 1 BGB, „dass im Gesetz zwar die Möglichkeit einer Haftung auch von Dritten angesprochen, aber in einer Weise geregelt werden soll, die eine Weiterentwicklung dieses Rechtsinstituts durch Praxis und Wissenschaft erlaubt“.278 Dieses gesetzgeberische Ziel kann man dahingehend deuten, dass einer Weiterentwicklung durch Praxis und Wissenschaft nicht vorgegriffen werden ­solle,279 sodass die Auslegungsmöglichkeit für den Schutz Dritter nicht von vorherein ausgeschlossen erscheint. Aber § 311 Abs. 3 S. 1 BGB muss im Zusammenhang mit § 311 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 BGB ausgelegt werden. Die Vorschriften sind auf rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse ausgerichtet, die vor einem möglichen Vertragsschluss entstehen. Dabei werden diese Vorschriften grundsätzlich als gesetzliche Verankerung der culpa in contrahendo angesehen.280 Nach diesem Verständnis ist der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte nicht in § 311 Abs. 3 S. 1 BGB einbezogen, da dieser nicht ausschließlich auf eine vorvertragliche Stufe gerichtet ist.281 Die Formulierung „eine Weiterentwicklung dieses Rechtsinstituts durch Praxis und Wissenschaft“ in den Gesetzesmaterialien ist darauf zurückzuführen, dass die Etablierung der allgemeinen Voraussetzungen der Haftung aus culpa in contrahendo schwierig ist, weil das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo selbst zuvor schon in verschiedener Weise entwickelt worden war.282 Dabei richtet sich der Wille des Gesetzgebers hauptsächlich und ausdrücklich auf die Haftung Dritter. Damit weist die historische Auslegung des § 311 Abs. 3 S. 1 BGB darauf hin, dass diese Vorschrift nicht mit dem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zusammenhängt.

274

Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, S. 19. Krebs / ​Lieb / ​Arnold, Kodifizierung von Richterrecht, in: Dauner-Lieb u. a. (Hg.), Das neue Schuldrecht, S. 143. 276 Kötz, Vertragsrecht, Rn. 515. 277 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 242 f., 254 f. 278 BT-Drucksache 14/6040, S. 163. 279 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 242. 280 BT-Drucksache 14/6040, S. 161 ff. 281 MüKoBGB / ​Gottwald, § 328, Rn. 171; Staudinger / ​Feldmann, § 311, Rn. 222. 282 BT-Drucksache 14/6040, S. 161 f. 275

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Auf der anderen Seite könnten die systematische und teleologische Auslegung dafür sprechen, dass § 311 Abs. 3 S. 1 BGB den Schutz Dritter einbezieht.283 Doch diese Vorschrift allein reicht wegen ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit nicht aus, um sie als eine gesetzliche Grundlage des Schutzes Dritter zu verstehen.284 Es bedarf dabei einer gesonderten Rechtfertigung, um Dritte im konkreten Fall zu schützen. Aus § 311 Abs. 3 S. 1 BGB selbst ergibt sich also unmittelbar kein eigener Schadensersatzanspruch bzw. Schutzanspruch Dritter. Auch wenn § 311 Abs. 3 S. 1 BGB als eine gesetzliche Grundlage für den Schutz Dritter verstanden würde, wären konkrete Schutzbedingungen zugunsten Dritter herauszuarbeiten, wie die Konstruktion des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte veranschaulicht. In den Fällen der mittelbaren Stellvertretung sind indes die Konstruktion des Schutzanspruchs zugunsten Dritter und die des eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter mithilfe des § 311 Abs. 3 S. 1 BGB problematisch. So kann es Situationen geben, in denen dem Dritten kein Vertrauensschutz gewährt wird. Anders als bei der offenen mittelbaren Stellvertretung ist der Geschäftsherr bei der verdeckten mittelbaren Stellvertretung nicht dem Vertragspartner des mittelbaren Stellvertreters bekannt. Wegen dieser Nichterkennbarkeit des Drittinteresses für den Schuldner lässt sich der Vertrauensschutz des Dritten nicht ohne weiteres rechtfertigen. Um dem Dritten dennoch einen eigenen Schadensersatzanspruch über § 311 Abs. 3 S. 1 BGB zu gewähren, könnte man in einer solchen Situation andere Argumente heranziehen, nämlich ein objektives Vertrauen oder eine sozialtypische Erkennbarkeit des Drittinteresses.285 Die Konstruktion des objektiven Vertrauens kann jedoch problematisch sein. Denn dieses Vertrauen als ein Anknüpfungspunkt für die Haftungsbegründung ist so abstrakt, dass dabei die Schwierigkeit bleibt zu klären, ob und wann der Geschädigte überhaupt vertrauen durfte.286 Wegen des breiten Spektrums des Vertrauensbegriffs ist es schwierig zu beurteilen, ob und wann ein haftungsrechtlich relevantes Vertrauen entsteht und inwieweit es schützenswert ist. Deshalb ist der eigene Schadensersatzanspruch Dritter nicht allein mit dem Argument eines objektiven Vertrauens in den § 311 Abs. 3 S. 1 BGB hineinzulesen. Für die sozialtypische Erkennbarkeit des Drittinteresses könne eine „faktische Leistungsbeziehung“ zwischen Schädiger und Geschädigtem sprechen.287 Die Be-

283

Siehe dazu Kersting, Die Dritthaftung für Informationen im Bürgerlichen Recht, S. 323 ff.; Sutschet, Schutzansprüche und Schutzpflicht Dritter im Lichte des § 311 III BGB, in: Sutschet (Hg.), Tradition und Moderne – Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, S. 106 ff. 284 Vgl. Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, S. 60. 285 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 253 f. 286 Vgl. Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 423 f.; ders., Positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo, AcP 1983, 369, 419 ff. 287 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 249 ff.

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trachtung der faktischen Leistungsbeziehung geht auf einen Versuch Pickers288 zurück, bei der Gutachterhaftung „die erkennbare faktische Drittleistung“289 in die Sonderverbindung zum Schutz des Drittinteresses einzubeziehen. Diese Sonderverbindung ist für § 311 Abs. 3 S. 1 BGB relevant.290 Die Konstruktion der faktischen Leistungsbeziehung werde hauptsächlich bei einem Vertrag, an dem Dritte beteiligt sind, berücksichtigt.291 Dabei komme ein Leistungsverbund292 in Betracht. Obwohl zweiseitige Schuldverhältnisse in rechtlicher Hinsicht einzeln erfasst werden, sei der Leistungsverbund nicht in jeder Hinsicht vom persönlichen Wirkungsbereich des einzelnen Schuldverhältnisses abhängig. Im Leistungsverbund richte sich die faktische Leistungsbeziehung nicht mehr nur auf einzelne Schuldverhältnisse, sondern auf ein unmittelbar betroffenes Interesse, das „bei der Durchführung der einzelnen Leistungsbeiträge im Endeffekt auf dem Spiel steht“.293 Sofern keine Erhöhung des Haftungsrisikos im Leistungsverbund drohe,294 rechtfertige das Kriterium der faktischen Leistungsbeziehung eine haftungsbegründende Sonderverbindung zwischen Schädiger und Geschädigtem;295 ein Beispiel ist die im Rahmen der Gutachterhaftung behandelte Ersatzpflicht zwischen dem Gutachter, der mit dem Verkäufer den Gutachtervertrag abgeschlossen hat, und dem Käufer, der sich aufgrund des Gutachtens zum Kauf unter Haftungsausschluss des Verkäufers entschlossen und sich auf die Angaben verlassen hat.296 Diese Betrachtung diene der Anwendung des § 311 Abs. 3 S. 1 BGB, um dem Geschäftsherrn bei der mittelbaren Stellvertretung einen eigenen Schadensersatzanspruch zu gewähren.297 Indes birgt die Konstruktion der faktischen Leistungsbeziehung die Gefahr, dass die Grenze einer faktischen Leistungsbeziehung verwischt. Bei der Gutachterhaftung kann die faktische Leistungsbeziehung zwar noch einigermaßen deutlich bestimmt werden: Der Gutachter erstellt sein Gutachten in dem Wissen, dass irgendjemand auf Basis dieses Gutachtens verhandeln wird.298 Aber schon bei der Veräußerungskette in einem Leistungsverbund kann man die Grenzen der faktischen Leistungsbeziehung schwer festlegen. Denn faktische Leistungsbeiträge sind überwiegend auf den wirklichen Willen und die tatsächlichen Pläne und Fähigkeiten der Vertragsparteien angewiesen. Diese unterscheiden sich von Person zu 288

Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 428 ff. 289 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 251. 290 Vgl. Henn, a. a. O., S. 259. 291 Henn, a. a. O., S. 249 ff. 292 Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 439; Henn, a. a. O., S. 252. 293 Picker, a. a. O., S. 439; vgl. Henn, a. a. O., S. 252 f. 294 Picker, a. a. O., S. 447. 295 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 252 ff. 296 BGHZ 127, 378. 297 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 254 f. 298 Picker, Gutachterhaftung, in: Beuthien u. a. (Hg.), FS Medicus zum 70. Geburtstag, S. 443 f.

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Person, während die vertraglichen Leistungspflichten innerhalb der Veräußerungskette unpersönlich formuliert sind. Dabei können sowohl die rechtlich relevante Verteilung des Haftungsrisikos als auch mögliche Einwendungen aus den einzelnen Schuldverhältnissen außer Acht bleiben. Aus diesen Gründen ist es ausgeschlossen, dem Geschäftsherrn bei der verdeckten mittelbaren Stellvertretung einen eigenen direkten Schadensersatzanspruch zu gewähren, der auf dem Vertrauensschutz Dritter oder der faktischen Leistungsbeziehung in Zusammenhang mit § 311 Abs. 3 S. 1 BGB beruht. Bei der offenen mittelbaren Stellvertretung ist die Erkennbarkeit des Drittinteresses so deutlich, dass die oben dargestellte Konstruktion eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter zum Schutz des Drittinteresses herangezogen werden könnte. Bei der Nichterfüllung des Ausführungsgeschäfts in der verdeckten mittelbaren Stellvertretung besteht jedoch kein Grund für die Sonderbeziehung zwischen Geschäftsherrn und Schädiger. Denn einzig aus dem Kaufvertrag des mittelbaren Stellvertreters, in den üblicherweise kein Dritter einbezogen ist, ergibt sich keine faktisch erkennbare Leistungsbeziehung zum Geschäftsherrn und auch kein schützenswertes Vertrauen auf das Drittinteresse. Ferner nimmt der Schädiger dabei das eigene Interesse des Geschäftsherrn nicht zur Kenntnis. In einer solchen Situation lassen sich durch die ergänzende Vertragsauslegung auch keine objektiven Umstände heranziehen, um einen Schutzanspruch des Dritten zu begründen. Im Ergebnis können § 311 Abs. 3 S. 1 BGB und die Konstruktion des Schutzanspruchs Dritter die Anwendung der Drittschadensliquidation nicht ausschließen. c) Konstruktion des wirtschaftlichen Eigentums In den Fällen der mittelbaren Stellvertretung geht es auch darum, ob dem Geschäftsherrn ein deliktischer Schadensersatzanspruch zustehen soll. Bezüglich der Konstruktion des deliktischen Schadensersatzanspruchs stellt sich die Frage, ob dem Geschäftsherrn aufgrund der wirtschaftlichen Interessenlage eine dem Eigentümer gleichartige Rechtsstellung zuzuerkennen ist. Diese Frage betrifft die Konstruktion des „wirtschaftlichen Eigentums“ als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB.299 Wenn zum Beispiel eine im Wege der Einkaufskommission gekaufte bewegliche Sache durch Verschulden eines außerhalb des Kommissionsvertrags stehenden Dritten beschädigt wird, steht dem Kommittenten grundsätzlich kein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB wegen der Verletzung des Eigentums zu. Denn er ist nicht Eigentümer im Sinne des § 903 BGB, solange ihm die Sache nicht übergeben worden ist. Demgegenüber hat der Kommissionär keinen Schaden, weil er gemäß § 275 BGB von der Pflicht, die Sache an den Kommittenten zu übereignen, befreit ist. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob dem 299

Junker, Das „wirtschaftliche Eigentum“ als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, AcP 1993, 348 ff.

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Kommittenten ein Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung eines sonstigen Rechts im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB zustehen kann. Als ein solches sonstiges Recht hat Junker den Begriff des wirtschaftlichen Eigentums verwendet,300 um dem Kommittenten einen deliktischen Schadensersatzanspruch zuzuerkennen. Wirtschaftlicher Eigentümer sei derjenige, der „das alleinige Risiko einer Beschädigung der Sache trägt und den alleinigen Nutzen aus der Sache zieht“, ohne jedoch Eigentümer gemäß § 903 BGB zu sein.301 Der Schaden wegen einer Verschlechterung der Sache entstehe allein bei ihm und auch der Gewinn aus der Nutzung der Sache komme allein ihm zu.302 Demzufolge sei die Beschädigung der Sache, an der dem Geschädigten das wirtschaftliche Eigentum zusteht, zwar eine Verletzung des Eigentumsrechts des Eigentümers; aber ein deliktischer Schadensersatzanspruch des Eigentümers müsse abgelehnt werden, weil er keinen Schaden erlitten habe.303 Dieses Ergebnis ist darauf zurückzuführen, dass wegen der Risikotragung des wirtschaftlichen Eigentümers keine tatsächliche Veränderung des Vermögenszustandes beim rechtlichen Eigentümer eintritt. Schließlich grenze der entstandene Schaden die deliktischen Schadensersatzansprüche des rechtlichen Eigentümers von denen des wirtschaftlichen Eigentümers ab.304 Ein Herausgabeanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit §§ 249 ff. BGB wegen Verletzung des wirtschaftlichen Eigentums müsse hier außer Betracht bleiben:305 Damit habe der wirtschaftliche Eigentümer keinen Herausgabeanspruch gegen Dritte. Um das wirtschaftliche Eigentum als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB zu begründen, muss zuerst die Frage beantwortet werden, wie dieses einzuordnen ist. Die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem und rechtlichem Eigentum wirft die Frage auf, wie Eigentum allein durch die Betrachtung der wirtschaftlichen Interessenlage vom ursprünglich gegebenen Sinne des Eigentums abweichen kann.306 Durch die begriffliche Anerkennung des wirtschaftlichen Eigentums können auch schuldrechtliche Ansprüche unabhängig von ihrer Qualifizierung als Anwartschaftsrecht systemwidrig dem Eigentum gleichgestellt werden.307 Beispielsweise ist der Kommittent nur ein Gläubiger des Kommissionärs; trotzdem könnte er mithilfe der Konstruktion des wirtschaftlichen Eigentums gegenüber dem Schädiger die Stellung eines rechtlichen Eigentümers geltend machen.

300

Junker, AcP, a. a. O., 352 ff. Junker, AcP, a. a. O., 354. 302 Junker, AcP, a. a. O., 354. 303 Junker, AcP, a. a. O., 355. 304 Junker, AcP, a. a. O., 355. 305 Junker, AcP, a. a. O., 358. 306 Herrmann, Kernstrukturen des Sachenrechts, S. 21; vgl. Stamm, Regreßfiguren im Zivilrecht, S. 329; Traugott, Das Verhältnis von Drittschadensliquidation und vertraglichem Drittschutz, S. 48. 307 Büdenbender, Drittschadensliquidation bei obligatorischer Gefahrentlastung – eine notwendige oder überflüssige Rechtsfigur?, NJW 2000, 986, 987 f. 301

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Indes lässt § 823 Abs. 1 BGB, dessen Voraussetzung die Verletzung eines absoluten Rechtsguts ist, dieses Ergebnis nicht zu. In diesem Sinne wohnt der teleologischen Interpretation des § 823 Abs. 1 BGB wie der Anerkennung des wirtschaftlichen Eigentums die Gefahr inne, schuldrechtliche Ansprüche leichtfertig zu verdinglichen. Das Deliktsrecht unterscheidet aber nicht umsonst zwischen relativen Rechten wie schuldrechtlichen Ansprüchen einerseits und gegenüber jedermann wirkenden absoluten Rechten andererseits. Die Erweiterung des deliktischen Schutzes durch die analoge Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB birgt zudem die Gefahr, eine allgemeine Haftung für reine Vermögensschäden herbeizuführen, welche mit dem geltenden Deliktsrecht und der Ausnahmeregelung des § 826 BGB nicht vereinbar ist.308 So schafft § 826 zwar eine Haftung für reine Vermögensschäden und setzt dazu nicht voraus, dass bestimmte Rechtsgüter verletzt sind; er stellt für die Haftung gleichwohl hohe Hürden auf, indem die Schädigung hierfür vorsätzlich in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise erfolgen und der Vorsatz sich auf den Schaden beziehen muss. Die Anerkennung des wirtschaftlichen Eigentums geht darauf zurück, dass allein der entstandene Schaden die deliktischen Ansprüche des eigentlichen Eigentümers und des wirtschaftlichen Eigentümers voneinander abgrenzt. Dabei kann allein aufgrund der Schadensbeurteilung ermittelt werden, wer unter dem deliktischen Schutz der dinglichen Rechte steht. Wer einen Anspruch auf Schadensersatz hat, hängt danach schließlich von der rechnerischen Ermittlung der geldwerten Gesamtvermögensveränderung ab, ohne die individuelle Verletzung dinglicher Rechte zu betrachten. Durch das wirtschaftliche Eigentum wird somit der deliktische Schutz absoluter Rechte auf die Feststellung eines Schadens reduziert. Die Konstruktion des wirtschaftlichen Eigentums ist in diesem Sinne ein Versuch, mit dem rechnerischen Ergebnis der Schadensermittlung die Anspruchsberechtigung zu schaffen. Sie ist daher abzulehnen. d) Möglichkeit des deliktischen Schutzes von Forderungen Abgesehen vom wirtschaftlichen Eigentum geht es in Fällen der mittelbaren Stellvertretung noch darum, welcher Tatbestand des § 823 BGB für einen deliktischen Schadenersatzanspruch des Geschäftsherrn einschlägig ist. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, ob beispielsweise die aus dem Kommissionsvertrag folgende obligatorische Position des Kommittenten in die von § 823 BGB geschützten Interessen einzubeziehen ist.309 Diese Frage hängt grundsätzlich davon ab, wie die Tatbestände des § 823 BGB auszulegen sind und wie das Tatbestandsprinzip des Haftungsrechts zu verstehen ist.

308 309

Soergel / ​Ekkenga / ​Kuntz, Vor § 249, Rn. 333. Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 259 ff.

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Im Haftungsrecht des BGB gilt der Grundsatz casum sentit dominus (lat., den zufälligen Verlust trägt der Eigentümer), wonach schädigende Vorgänge infolge eines zufälligen Ereignisses von demjenigen zu tragen sind, den sie treffen.310 Es kann zwar fraglich sein, wieso der Geschädigte rechtlich seinen Schaden tragen soll, obwohl dessen Eintritt für ihn zufällig ist. Aber der Grundsatz casum sentit dominus betrifft keine gerechte Verteilung der Lebensgüter und des damit zusammenhängenden Haftungsrisikos: Die Schadenstragung durch den Inhaber der Rechtsgüter bei zufälligen Schadensereignissen ist deshalb sachgerecht, weil die Überwälzung des Schadens auf ein anderes Privatrechtssubjekt nicht gerechtfertigt werden kann.311 Aus diesem Grundsatz folgt, dass grundsätzlich jedermann sein allgemeines Lebensrisiko selbst zu tragen hat312 und es keine vollständige Garantie des Vermögens im Haftungsrecht gibt. Es ist also nicht jeder Schaden ersatzfähig,313 sondern nur dann, wenn rechtliche Gründe die Schadensabwälzung auf andere Personen rechtfertigen. So führt nicht jede Schädigung von vornherein zu einer Ausgleichspflicht.314 Aufgrund dessen ist das Tatbestandsprinzip, das nur die Verletzung bestimmter Rechtsgüter und sonstiger absoluter Rechte für die Schadensabwälzung anerkennt, ein rechtsdogmatischer Grundsatz des Haftungsrechts, der neben dem Verschuldensprinzip steht. Hauptsächlich wird das Tatbestandsprinzip im Zusammenhang mit § 823 Abs. 1 BGB erwähnt.315 Es besagt, dass nicht jeder zurechenbar verursachte Schaden ersatz­fähig ist, sondern nur jene Interessenverletzung eine Schadensersatzpflicht nach sich zieht, die auch einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht.316 Demnach ist nur derjenige ersatzberechtigt, der durch widerrechtliche Schädigung in seinen eigenen, durch § 823 BGB geschützten absoluten Rechten bzw. Rechtsgütern verletzt ist. Zum einen müssen dabei Verletzter und Geschädigter personenidentisch, also Haftungsgrund und -ausfüllung in derselben Person gegeben sein.317 Zum anderen steht das Tatbestandsprinzip einer Generalklausel des Haftungsrechts ent 310

Larenz / ​Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, Besonderer Teil, S. 351; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 1; Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, S. 117; Schramm, Haftung für Tötung, S. 17; vgl. Reinhardt, Die Gefahrtragung beim Kauf, S. 23 f., 66 ff.; Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 68 ff.; Meder, Risiko als Kriterium der Schadensverteilung, JZ 1993, 539, 541; Waldkirch, Zufall und Zurechnung im Haftungsrecht, S. 201 ff. Diesbezüglich geht es auch um den Zusammenhang mit § 1311 ABGB. Siehe dazu Bydlinski, Die Suche nach der Mitte als Daueraufgabe der Privatrechtswissenschaft, AcP 2004, 309, 316 f. 311 Siehe dazu Looschelders, a. a. O., S. 122 f. 312 Larenz / ​Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, Besonderer Teil, S. 351. 313 Deutsch, Der Ersatz des reinen Vermögensschadens, in: Gerhardt u. a. (Hg.), FS Henckel zum 70. Geburtstag, S. 81. 314 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 158. 315 Vgl. Kreße, Schadensersatzansprüche mittelbar Geschädigter nach deutschem und französischem Zivilrecht, ZEuP 2014, 504, 512. 316 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 23. 317 Brüggemeier, Haftungsrecht, S. 547; Meckbach, Zivilrechtliche Ansprüche bei Tötung eines Menschen, S. 6.

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gegen. Es wird also aufgrund des Tatbestandsprinzips zwischen Ersatzfähigkeit und -losigkeit sowie zwischen Eigen- und Fremdverantwortung unterschieden.318 Vom ersten Entwurf des BGB bis zu dessen heutiger Fassung gab es einen Systemwechsel von einer deliktsrechtlichen Generalklausel hin zum Tatbestandsprinzip.319 Dieser Paradigmenwechsel im Deliktsrecht beruht auf dem Willen des historischen Gesetzgebers, mit dem Verzicht auf die Generalklausel ein unvorhersehbares allgemeines Haftungsrisiko des Einzelnen zu vermeiden, das die Handlungsfreiheit und die der wirtschaftlichen Betätigung stören könnte.320 So wird der konkreten Aufzählung der haftungsbegründenden Rechtsgutsverletzungen in § 823 Abs. 1 BGB grundsätzlich ein „freiheitswahrender Charakter“ zugeschrieben.321 Zudem hat eine Generalklausel die Schwäche, dass sie keine wertungsmäßige Vorgabe für die Rechtsfindung bietet und wiederum selbst einer weitgehenden Konkretisierung bedarf.322 Damit trägt die abschließende Tatbestandsschranke zur Haftungsbegründung und der Berechenbarkeit der Haftungsgrenze bei.323 Aufgrund des Tatbestandsprinzips gewährleistet das deutsche Privatrecht keinen allgemeinen Schutz von Vermögen und Handlungsfreiheit, sondern zielt grundsätzlich auf eine klare Haftungsbegrenzung ab, die im Spannungsfeld zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit liegt.324 Infolgedessen ist dem deutschen Deliktsrecht prinzipiell der Rechtssatz fremd, man habe allgemein für vorsätzlich und fahrlässig angerichtete Vermögensschäden einzustehen.325 Jedoch lässt sich Haftung mit den Tatbestandsmerkmalen des § 823 Abs. 1 BGB nicht immer eindeutig begrenzen; insbesondere das generelle Tatbestandsmerkmal des „sonstigen Rechts“ ist auslegungsbedürftig. Entsprechend des Zwecks des Tatbestandsprinzips kann dieses Tatbestandsmerkmal nicht sämtliche rechtlich geschützten Interessen umfassen.326 Es werden beispielsweise weder das Vermögen als Ganzes noch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Vielmehr erfasst das „sonstige Recht“ Interessen, die besonders schutzbedürftig sind wie etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Recht am eingerichteten und ausgeübten 318 Esser / ​Schmidt, Schuldrecht, Band 1, Allgemeiner Teil, Teilband 2, S. 241; Schramm, Haftung für Tötung, S. 15. 319 MüKoBGB / ​Wagner, Vor § 823, Rn. 7 ff.; Meckbach, Zivilrechtliche Ansprüche bei Tötung eines Menschen, S. 25; vgl. auch BGH NJW 1952, 1249. 320 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, S. 405; vgl. Picker, Positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo, AcP 1983, 369, 476 ff.; Henn, Zur Daseinsberechtigung der sogenannten „Drittschadensliquidation“, S. 23; Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, S. 245. 321 Peukert, a. a. O., S. 246. 322 Larenz / ​Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, Besonderer Teil, S. 358. 323 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 46, 56; Brand, Schadensersatzrecht, § 4, Rn. 1; vgl. Canaris, Schutzgesetze – Verkehrspflichten – Schutzpflichten, in: Canaris / ​Diederichsen (Hg.), FS Larenz zum 80. Geburtstag, S. 31 f. 324 Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, Rn. 1170; Larenz / ​Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, Besonderer Teil, S. 350 f. 325 Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, S. 245. 326 Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 467.

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Gewerbebetrieb.327 Diese Beispiele zeigen eine Relativierung des haftungsrechtlichen Tatbestandsprinzips auf, aufgrund derer der Anwendungsbereich der Tatbestandsmerkmale immer mehr erweitert wurde. Diese Relativierung des Tatbestandsprinzips bezweckt vor allem den möglichst umfassenden Schutz individuell zugewiesener Rechtsgüter. Dabei lässt sie sich verstehen als die haftungsrechtliche Zuweisung des Schadens zum Schädiger, in konkreter Umsetzung des Satzes neminem laedere (lat., niemandem schaden), also des allgemeinen Schädigungsverbots.328 Diesem Satz als Gerechtigkeitsgebot kann wegen seiner hohen Abstraktheit unmittelbar keine konkrete rechtliche Norm entnommen werden. Trotzdem ist er nicht bedeutungslos. Er enthält die tragende Wertung des Haftungsrechtssystems, dass bei einer Schädigung der Rechtsgüter einer anderen Person stets gefragt werden soll, ob der betreffende Schaden zu ersetzen sei.329 Diese Wertung gibt Anlass zur Klärung, ob der Anwendungsbereich gesetzlicher Tatbestandsmerkmale ausgedehnt werden sollte, um den Schaden auf den Schädiger abzuwälzen. Im Hinblick auf das Verständnis des haftungsrechtlichen Tatbestandsprinzips stehen die Sätze casum sentit dominus einerseits und neminem laedere andererseits in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dieses Spannungsverhältnis ist bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Haftungsrechts zu berücksichtigen. In den Fällen der mittelbaren Stellvertretung stellt sich die Frage, ob einem Geschäftsherrn ein eigener Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu gewähren ist, wenn auf seiner Seite kein absolutes Recht verletzt ist. Das hängt davon ab, ob eine Forderung als sonstiges Recht in § 823 Abs. 1 BGB einzuordnen ist. Mit der historischen Auslegung dieser Vorschrift und der darauf beruhenden herrschenden Meinung wird grundsätzlich der deliktsrechtliche Schutz von Forderungen abgelehnt, weil es sich dabei im Vergleich zu anderen Tatbestandsmerkmalen des § 823 Abs. 1 BGB nicht um Rechte mit absoluter Wirkung gegenüber jedermann handele.330 Insbesondere wird das Eigentumsrecht in § 823 Abs. 1 BGB als maßgebliche Referenz angesehen, um zu bestimmen, welche einzelnen Rechte unter den Begriff des sonstigen Rechts zu subsumieren sind.331 Die haftungsrechtliche Funktion der 327

Hk-BGB / ​Staudinger, § 823, Rn. 28 ff.,  90 ff.; MüKoBGB / ​Wagner, § 823, Rn. 265 ff.; HKK / ​Schiemann, §§ 823–830, 840, 842–853, Rn. 121, 123 f.; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, Rn. 1174, 1215 ff.; Peifer, Schuldrecht  – Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 2, Rn. 3. Allerdings ist noch umstritten, ob das Recht am Gewerbebetrieb anzuerkennen und inwieweit dessen Anwendung einzuschränken ist. Siehe dazu Larenz / ​Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, Besonderer Teil, S. 544 ff.; Medicus / ​Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 611 ff. 328 Schramm, Haftung für Tötung, S. 17; Schiemann, Das allgemeine Schädigungsverbot: „alterum non laedere“, JuS 1989, 345, 350. 329 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 158. 330 RGZ 57, 353, 355 ff.; BGH 29, 65, 73 f.; Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, S. 1076; BeckOK BGB / ​Förster, § 823, Rn. 174; MüKoBGB / ​Wagner, § 823, Rn. 291; Jauernig / ​Teichmann, § 823, Rn. 17. 331 MüKoBGB / ​Wagner, § 823, Rn. 265; Brox / ​Walker, Besonderes Schuldrecht, § 45, Rn. 9.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Tatbestandsmerkmale besteht grundsätzlich darin, mithilfe absoluter Rechte reine Vermögensschäden aus der allgemeinen Fahrlässigkeitshaftung auszuklammern.332 Trotzdem wird zuweilen die Auffassung vertreten, ein Forderungsrecht sei zwar prinzipiell kein sonstiges Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB; es könne aber ausnahmsweise dann als solches eingeordnet werden, wenn es sozialtypisch offenkundig ist.333 Mit der sozialtypischen Offenkundigkeit sei „die aufgrund unserer Sozial- und Kulturauffassung selbstverständliche […] Erkennbarkeit des Rechtsguts“ gemeint.334 Dabei geht es darum, „ob die typische Kenntnis, daß die Forderung einem anderen zusteht, der sozialtypischen Offenkundigkeit eines Rechtsgutes gleichgestellt werden kann“.335 Aufgrund dieses Verständnisses lässt sich in Fällen der Drittschadensliquidation fragen, ob dem obligatorisch berechtigten Dritten ein eigener Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB insoweit zustehen kann, als mit der sozialtypischen Erkennbarkeit eine ausreichende Vorhersehbarkeit des durch Forderungsverletzung angerichteten Schadens gewahrt wird.336 Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen. Einerseits ist es schwierig zu erkennen, was als die typische Kenntnis anzusehen ist, die mit der sozialtypischen Offenkundigkeit eines Rechtsguts gleichzustellen ist.337 Anhand dieses abstrakten, verschwommenen Kriteriums lässt sich eine Forderung in den deliktischen Schutzbereich einbeziehen, ohne dass jedoch geklärt wäre, wie mit der sozialtypischen Offenkundigkeit die Rechtswidrigkeit oder die allgemeine Unterlassungspflicht begründet werden kann.338 Die Anerkennung des Kriteriums der sozialtypischen Offenkundigkeit würde mit einer unerträglichen Erweiterung des Haftungsrisikos für den Einzelnen im Rechtsverkehr einhergehen.339 Zudem hilft das Kriterium nicht in allen Fällen der Drittschadensliquidation, auch wenn durchaus Fälle denkbar sind, in denen die Forderung sozialtypisch offenkundig erscheint. Beispielsweise im Fall der verdeckten mittelbaren Stellvertretung kann der Vertragspartner des mittelbaren Stellvertreters anhand seiner Forderung nicht offensichtlich das Interesse des Dritten erkennen. In diesem Fall kann das Kriterium der sozialtypischen Offenkundigkeit keine Rolle spielen und darf nicht angewendet werden. Denn würde in einer solchen Situation die Forderung als sozialtypisch offenkundig angesehen, müsste der Vertragspartner des mittelbaren Stellvertreters als Ver-

332

MüKoBGB / ​Wagner, a. a. O. Fabricius, Zur Dogmatik des „sonstigen Rechts“ gemäß § 823 Abs. 1 BGB, AcP 1961, 273, 301 ff.; Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 196 ff. 334 Fabricius, AcP, a. a. O., 291. 335 Fabricius, AcP, a, a, O., 303 f. 336 Henn, Zur Daseinsberechtigung der so genannten „Drittschadensliquidation“, S. 260. 337 Canaris, Der Schutz obligatorischer Forderungen nach § 823 I BGB, in: Deutsch (Hg.), FS Steffen zum 65. Geburtstag, S. 93 f.; vgl. Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 470 f. 338 Vgl. Schad, Die Verleitung zum Vertragsbruch – eine unerlaubte Handlung?, S. 29 ff. 339 Vgl. Rauser, Schadensersatz für vorsätzliche Eingriffe in fremde Vertragsbeziehungen, S. 77 f. 333

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

147

tragspartei des Kaufvertrags zu viele Risikofaktoren im Zusammenhang mit einer möglichen Nichterfüllung berücksichtigen. Andererseits würde ein derartiges Verständnis der sozialtypischen Offenkundigkeit eine haftungsbegründende Erkundigungspflicht hinsichtlich Drittinteressen schaffen, die ersichtlich mit dem Relativitätsgrundsatz in Widerspruch stünde. Eine solche Erkundigungspflicht liefe darauf hinaus, dass der Grundsatz neminem laedere die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Einzelnen aushöhlte. Wenn eine Forderung nur aufgrund ihrer sozialtypischen Offenkundigkeit mit den absoluten Rechten gleichgesetzt würde, wäre auch der Grundzweck des Tatbestandsprinzips gefährdet, wonach nicht jede unfreiwillige Vermögenseinbuße ersatzfähig sein soll, sondern nur solche, die einen gesetzlichen Tatbestand verwirklichen. So ist das Argument der sozialtypischen Offenkundigkeit im Zusammenhang mit der Forderungsverletzung nicht ausreichend, um dem obligatorisch berechtigten Dritten in allen Fällen der Drittschadensliquidation einen eigenen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB zuzuerkennen. e) Vergleich der Auslegungsmöglichkeiten für einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter mit der Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation Es hat sich gezeigt, dass es verschiedene Auslegungsmöglichkeiten für die Begründung eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter gibt, welche die Konstruktion der Drittschadensliquidation überflüssig machen sollen. So wie die Konstruktion der Drittschadensliquidation mithilfe der Symmetrie der ausgleichenden Gerechtigkeit im Schadens- und Bereicherungsrecht erklärt werden kann, beruhen die oben dargestellten Auslegungsmöglichkeiten ebenfalls grundsätzlich auf rechtsethischen Wertungen innerhalb des Gesetzes. Als diese rechtsethischen Wertungen wurden bereits der Vertrauensschutz, die Berechenbarkeit der Haftung sowie das allgemeine Schädigungsverbot als Gerechtigkeitsgebote erwähnt. Wie oben bereits betrachtet,340 können diese einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter begründenden Auslegungsmöglichkeiten zwar zu Problemen führen. Dennoch könnten sie einige Unterfälle der Drittschadensliquidation auflösen. Zum Beispiel lässt sich bei der offenen mittelbaren Stellvertretung der Vertrauensschutz des Vertretenen anerkennen, da der anderen Partei hierbei das Drittinteresse deutlich erkennbar ist. Um das Vertrauen des Dritten insoweit zu schützen, ist das Tatbestandsprinzip im Spannungsfeld mit dem allgemeinen Schädigungsverbot aufzuweichen. Um einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter zu begründen, lässt sich auch die sozialtypische Offenkundigkeit der Forderung anführen. Demnach kann 340

Siehe oben den zweiten Teil, B. II. 3. a)–d).

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

dem Dritten ein eigener Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB insoweit zustehen, als mit der sozialtypischen Erkennbarkeit eine ausreichende Vorhersehbarkeit des durch Forderungsverletzung angerichteten Schadens gewahrt wird. Bei der offenen mittelbaren Stellvertretung erkennt der Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters, dass die Forderung des Geschäftsherrn gegen den mittelbaren Stellvertreter besteht und dass der mittelbare Stellvertreter auf Rechnung des Geschäftsherrn und damit in dessen Interesse handelt. In einer solchen Situation wäre der Schaden, der durch die Verletzung der dem Geschäftsherrn zustehenden Forderung verursacht wurde, für den Geschäftspartner des mittelbaren Stellvertreters ausreichend vorhersehbar. Insofern kann die Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation noch immer mit den Auslegungsmöglichkeiten für den eigenen Schadensersatzanspruch Dritter in Konkurrenz treten. Die rechtsethischen Wertungen des Haftungs- und Schadensrechts tragen auf verschiedene Weise zur inhaltlichen Rechtfertigung der einzelnen Rechtsfiguren bei. Dementsprechend ergeben sich vielfältige Auslegungsmöglichkeiten des Haftungs- und Schadensrechts, die sich auf unterschiedliche rechtsethische Wertungen innerhalb des Gesetzes stützen lassen. Dabei wird mittels der rechtsethischen Auslegung versucht, vergleichsorientiert eine überzeugende Auslegungsmöglichkeit zu finden und dadurch ein Ergebnis zu erreichen, das dem Gesetzesinhalt angemessen ist. Damit lässt sich ein verbessertes Verständnis des impliziten Gesetzesinhalts gewährleisten, ohne dass dabei Gesetzesinhalte leer laufen. Die Problematik der Drittschadensliquidation, nämlich die Diskrepanz zwischen formeller Rechtsstellung und materieller Interessenlage, erfordert insbesondere ein verbessertes Verständnis des impliziten Gesetzesinhalts, da sich allein aus der formellen Rechtsstellung keine Lösungen für den Ersatz des Drittschadens ergeben. Im Wege der rechtsethischen Auslegung des Haftungs- und Schadensrechts ist zu berücksichtigen, welches Verständnis des Gesetzesinhalts mittels der Betrachtung der punktuellen Realisierbarkeit der rechtsethischen Wertung an ein milderes, wohlwollenderes Ziel des Gesetzes herankommt. Im Vergleich mit den Auslegungsmöglichkeiten, die aufgrund des Vertrauensschutzes einen eigenen Schadensersatzanspruch Dritter begründen, lässt sich die Frage stellen, ob auch die Drittschadensliquidation zur Relativität der Schuldverhältnisse in Widerspruch steht. Wird ein eigener direkter Schadensersatzanspruch Dritter wegen einer Verletzung von Pflichten aus einem bestehenden Schuldverhältnis zuerkannt, liegt eine Verletzung des Relativitätsgrundsatzes nahe. Bei der Drittschadensliquidation geht es zwar vorrangig um die Verletzung des Dogmas vom Gläubigerinteresse; es kann aber dann auch um die Verletzung des Relativitätsgrundsatzes gehen, wenn man das Dogma vom Gläubigerinteresse als das Spiegelbild des Relativitätsgrundsatzes im Schadensrecht ansieht. Da das Dogma vom Gläubigerinteresse prinzipiell den Ersatz des Drittschadens ausschließt, steht es mit dem Relativitätsgrundsatz in engem Zusammenhang.341 341

Vgl. Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, S. 75.

B. Rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation 

149

Indes steht die Drittschadensliquidation dem Relativitätsgrundsatz nicht entgegen.342 So werden durch die Drittschadensliquidation keine neuen Ansprüche Dritter begründet. Es wird lediglich die Subjektbezogenheit des Schadens für den Schadensersatzanspruch flexibilisiert, ohne dabei eine besondere Sonderbeziehung zu Dritten zu schaffen. So entfaltet das Schuldverhältnis gegenüber weiteren Personen keine Wirkung, die nicht privatautonom gesetzt wurde. Zwar betrifft die Drittschadensliquidation den Schaden auf Seiten des außerhalb des Vertrags stehenden Dritten. Aber sie umfasst nur das Problem des gerechten Interessenausgleichs, welches sich bei der Verletzung von Vertragspflichten stellt; sie verursacht hingegen kein Problem hinsichtlich der Abhängigkeit des Schuldverhältnisses von einer privatautonomen Entscheidung. Aufgrund der für das Mehrpersonenverhältnis relevanten Symmetrie zwischen dem zu ersetzenden Wert und der Haftung des Schädigers ist dabei der Drittschaden mit dem Schaden des Gläubigers gleichzusetzen, um eine ungerechtfertigte Entlastung des Schädigers zu vermeiden. Also ist es nicht notwendig, dem Dritten einen neuen, eigenen Anspruch zu gewähren. Anders als die Etablierung eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter wie beispielsweise der auf dem Vertrauensschutz beruhende kann also die Drittschadensliquidation das Problem umgehen, durch die Zuerkennung eines neuen Anspruchs Dritter den Relativitätsgrundsatz zu gefährden. Ferner ist der aus der Drittschadensliquidation folgende Schadensersatzanspruch auch abtretbar. Mit der Abtretung des Anspruchs an den geschädigten Dritten könnte man also das gleiche wirtschaftliche Ergebnis erzielen wie mit der Konstruktion eines ihm eigenen Schadensersatzanspruchs. Dieses Ergebnis ähnelt der Konstruktion eines eigenen Schadensersatzanspruchs des Dritten. Doch muss die Drittschadensliquidation wegen dieser Ähnlichkeit nicht abgelehnt werden. Denn sie und die mit ihr einhergehende Abtretung des Schadensersatzanspruchs verursachen kein Problem im Hinblick auf den Relativitätsgrundsatz. Dagegen steht die Auslegungsmöglichkeit für den eigenen direkten Schadensersatzanspruch Dritter zu diesem in Widerspruch. Mit der Anerkennung der Abtretung des Schadensersatzanspruchs wahrt die Drittschadensliquidation nicht nur den Relativitätsgrundsatz, sondern führt wirtschaftlich zum gleichen Ergebnis wie ein eigener Schadensersatzanspruch Dritter. In diesem Sinne minimiert die Konstruktion der Drittschadensliquidation rechtsdogmatische Widersprüche. Nicht nur im Hinblick auf die Relativität der Schuldverhältnisse ergeben sich Unterschiede zwischen der Drittschadensliquidation und dem eigenen Anspruch Dritter. Die Theorien, die dem Dritten einen deliktischen Schadensersatzanspruch oder gar eine eigentümerähnliche Rechtsstellung gewähren, erreichen dies, indem sie das haftungsrechtliche Tatbestandsprinzip auflockern. Sie stützen sich im Wesentlichen auf das allgemeine Schädigungsverbot als rechtsethische Wertung. Beispielsweise für den Fall, dass das Drittinteresse so offenkundig ist, dass 342

Hassemer, a. a. O., S. 76.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

es als sonstiges Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB eingeordnet werden kann, ist eine Erweiterung der deliktischen Haftung möglich. Im Gegensatz zur Konstruktion eines eigenen deliktischen Schadensersatzanspruchs Dritter hat aber die Drittschadensliquidation bei einem vertraglichen Anspruch einen Vorteil: bei ihr kommt die vertragliche Verschuldensvermutung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB zur Anwendung.343 Damit kann die Drittschadensliquidation eine bessere Stellung des verletzten Dritten gewährleisten als ein eigener deliktischer Anspruch Dritter, bei dem der Geschädigte auch für ein Verschulden des Schädigers beweisbelastet ist. Zudem haftet der Schuldner für das Verschulden seiner Gehilfen aufgrund § 278 BGB, ohne dass ihm die Entlastungsmöglichkeit des für die deliktische Haftung geltenden § 831 BGB zukommt.344 So bietet die Konstruktion der Drittschadensliquidation im Vergleich zu derjenigen eines eigenen deliktischen Schadensersatzanspruchs Dritter praxisrelevante Vorteile für den Geschädigten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Auslegungsmöglichkeit zur Drittschadensliquidation mögliche rechtsdogmatische Widersprüche minimiert und gleichzeitig praxisrelevante Vorteile für den Geschädigten bietet. Zwar führen die anderen Auslegungsmöglichkeiten zum eigenen Schadensersatzanspruch Dritter auch die rechtsethischen Wertungen wie das allgemeine Schädigungsverbot und den Vertrauensschutz ins Feld; aber die Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation passt besser zum „milderen wohlwollenderen Ziel“345 des Haftungs- und Schadensrechts.

C. Schlussbemerkung zum zweiten Teil Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wurde mittels der rechtsethischen Auslegung im Hinblick auf die Drittschadensliquidation überprüft, wie die rechtsdogmatischen Begriffe und Grundsätze des Haftungs- und Schadensrechts zu verstehen sind. Um Drittschäden auszugleichen, wurden verschiedene Rechtskonstruktionen wie z. B. der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geschaffen. Eine dieser Konstruktionen, die Drittschadensliquidation, ist nach wie vor auf der Suche nach ihrem Platz innerhalb der privatrechtlichen Dogmatik. Angesichts der Diskrepanz zwischen formeller Rechtsstellung und materieller Interessenlage räumt die Drittschadensliquidation dem Gläubiger die Berechtigung ein, den Schaden eines Dritten ersetzt zu verlangen. Damit schränkt die Drittschadensliquidation das Dogma vom Gläubigerinteresse ein. Die Diskrepanz zwischen formeller Rechtsstellung und materieller Interessenlage bei der Problematik der Drittschadensliquidation beruht vor allem auf der Dif-

343

Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, S. 10. Fuchs / ​Pauker / ​Baumgärtner, Delikts- und Schadensersatzrecht, S. 388. 345 ­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 230. 344

C. Schlussbemerkung zum zweiten Teil

151

ferenzhypothese. Bei ihrer Anwendung wird lediglich die durch das schädigende Ereignis eintretende Veränderung des Gesamtvermögenszustandes betrachtet, so dass die Zusammensetzung des Schadens aus Einzelposten nicht berücksichtigt wird. Nach der Differenzhypothese kann also etwa eine mit dem Schadensereignis zusammenhängende Zuwendung Dritter wie eine Zahlung des Versicherers in die Schadensermittlung beim Verletzten einbezogen werden, ohne dabei den konkreten Leistungszweck in Betracht zu ziehen. Diese unterschiedslose Einbeziehung der Leistung Dritter in den rechnerischen Vergleich des Gesamtvermögenszustandes auf Seiten des Verletzten läuft darauf hinaus, dass eine Vermögenseinbuße lediglich beim Dritten vorliegt, dieser also den Schaden zu tragen hat. Das beschreibt das Problem der zufälligen Schadensverlagerung auf Dritte, welches die Besonderheit der Drittschadensliquidation ausmacht. Um die mechanische Anwendung der Differenzhypothese und die daraus folgende zufällige Schadensverlagerung zu kritisieren, kann der normative Schadensbegriff angeführt werden. Mit ihm lässt sich betrachten, ob und inwieweit eine Leistung Dritter in die konkrete Schadensermittlung auf Seiten des Verletzten einzubeziehen ist. Um den zu ersetzenden Schaden individuell und interessengerecht zu erfassen, ist das konkrete Rechtsverhältnis zu betrachten, das die Leistungspflicht des Dritten begründet. Dabei lässt sich auch berücksichtigen, dass die auf der Differenzhypothese beruhende Vorteilausgleichung nicht immer durchgeführt werden kann. Der normative Schadensbegriff kann somit insbesondere dann zielführender sein, wenn die reine Anwendung der Differenzhypothese zu einer ungerechtfertigten Entlastung auf Seiten des Schädigers führen würde. In Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung verhindert der normative Schadensbegriff, dass sich der Schaden zufällig verlagert. Dadurch wird das Dogma vom Gläubigerinteresse gewahrt. Wenn beispielsweise im Fall eines Versendungskaufs die Sache infolge eines Verschuldens des Spediteurs untergeht, gilt zwar unter den Parteien des Kaufvertrags die Gefahrentlastungsregel des § 447 BGB; sie ist jedoch nicht relevant für die Schadensersatzpflicht des Spediteurs. Deshalb ist die aufgrund dieser Gefahrentlastungsregel weiterhin geschuldete Zahlung des Kaufpreises nach dem normativen Schadensbegriff nicht in die Ermittlung des vom Spediteur beim Verkäufer angerichteten Schadens einzubeziehen. Dabei ist diese Kaufpreiszahlung nicht als ein anzurechnender Vorteil beim Schaden des Verkäufers anzusehen, um in Anbetracht des Zwecks der Gefahrentlastungsregel das Dogma vom Gläubigerinteresse zu wahren. Zudem lässt sich die zufällige Schadensverlagerung im Fall des Versendungskaufs dadurch verneinen, dass die betreffenden Schadensposten individualisiert betrachtet werden. Im Fall des Versendungskaufs wird dabei untersucht, ob der vom Spediteur schuldhaft verursachte Schaden am Eigentum des Verkäufers durch dessen schuldrechtliche Ansprüche gegen den Käufer – wie etwa den Kaufpreiszahlungsanspruch  – ausgeglichen werden kann. Diese Betrachtung hängt mit der Frage zusammen, ob Eigentumsrechte in schadensrechtlicher Hinsicht durch

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

schuldrechtliche Ansprüche entwertet werden können. Indes ändert der weiterhin bestehende schuldrechtliche Kaufpreiszahlungsanspruch des Verkäufers nichts an der Tatsache, dass der Schädiger den Verlust eines bestimmten Vermögensbestandteils des Verkäufers verursacht hat. So kann mit der Normativierung des Schadensbegriffs keine zufällige Schadensverlagerung in Fällen der obligatorischen Gefahrentlastung eintreten. Insoweit ist die Anwendung der Drittschadensliquidation nicht mehr notwendig. Dennoch kann der normative Schadensbegriff nicht alle Fälle des Drittschadens lösen. Wenn etwa der von einem mittelbaren Stellvertreter geschlossene Vertrag infolge des Verschuldens des anderen Teils nicht erfüllt wird, kann der Schaden trotz der Normativierung des Schadensbegriffs noch bei einem Dritten, nämlich dem Geschäftsherrn, entstehen. Der mittelbare Stellvertreter nimmt von vornherein kein eigenes Interesse wahr, sondern handelt – wenn auch im eigenen Namen – auf Rechnung des Geschäftsherrn. Deshalb kann beim mittelbaren Stellvertreter im Hinblick auf das Leistungsinteresse kein Schaden entstehen, auch wenn der Vertrag zwischen ihm und dem anderen Teil verletzt wird. Insbesondere betreffen die Folgeschäden wegen Verzugs lediglich den Geschäftsherrn und nicht seinen mittelbaren Vertreter. Mit dem normativen Schadensbegriff lassen sich diese Folgeschäden nicht erfassen, da er lediglich auf einen Schaden des mittelbaren Stellvertreters gerichtet ist. Somit gewährleistet der normative Schadensbegriff nicht immer eine interessengerechte Rechtsfolge. Um den Drittschaden im Fall der mittelbaren Stellvertretung auszugleichen, kommt die Anwendung der Drittschadensliquidation noch in Betracht. Sofern die Drittschadensliquidation im Fall der mittelbaren Stellvertretung für den Ausgleich des Drittschadens zur Anwendung kommen soll, bedarf es ihrer Rechtfertigung. Denn sie steht ersichtlich im Widerspruch zu dem Dogma vom Gläubigerinteresse. Um diesen rechtsdogmatischen Widerspruch zu lösen, sind rechtsethische Wertungen innerhalb des Haftungs- und Schadensrechts zu betrachten, die jeweils rechtsdogmatische Inhalte rechtfertigen oder diesen zuwiderlaufen können. Um die Drittschadensliquidation zu rechtfertigen, ist zuerst vorstellbar, das Dogma vom Gläubigerinteresse teleologisch insoweit zu reduzieren, als es auf die Fälle der Drittschadensliquidation nicht anzuwenden ist, in denen das Haftungsrisiko nicht erweitert ist. Zwar verbietet es grundsätzlich den Ersatz von Drittschäden, verfolgt damit jedoch den Zweck, das Haftungsrisiko des Schädigers zu begrenzen und ihn vor einer Schadenskumulation zu bewahren. Bei der Drittschadensliquidation geht es aber von vornherein nur um Fälle, in denen keine solche Erweiterung des Haftungsrisikos droht. Das ist darauf zurückzuführen, dass ein dem Leistungsinteresse entsprechender Schaden in Fällen der Drittschadensliquidation entweder nur beim Gläubiger bzw. Verletzten oder nur beim Dritten entstehen kann. So verursacht die Konstruktion der Drittschadensliquidation keine für den Schädiger unangemessene Haftungssteigerung. In diesem Sinne widerspricht

C. Schlussbemerkung zum zweiten Teil

153

die Drittschadensliquidation zwar in formeller Hinsicht dem Dogma vom Gläubigerinteresse, läuft aber nicht dessen Zweck zuwider. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dieses rechtsdogmatische Dogma teleologisch zu reduzieren. Mit der teleologischen Reduktion des Dogmas vom Gläubigerinteresse ist zwar ein Spielraum für die rechtsethische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation eröffnet; vollständig rechtfertigen kann man sie mit ihr jedoch nicht. Denn allein die Möglichkeit, das Dogma vom Gläubigerinteresse nicht anzuwenden, liefert noch keine positiven Gründe dafür, den Drittschaden im Wege der Drittschadensliquidation zu ersetzen. Dafür sind vielmehr die für die Drittschadensliquidation relevanten rechtsethischen Minimalwertungen des allgemeinen Schadensrechts zu betrachten. Dabei werden im Wege der rechtsethischen Auslegung die dafür relevanten rechtsethischen Wertungen im Gesetz ermittelt. Zuerst werden rechtsethische Minimalwertungen vorgeschlagen, sodann wird mittels der rechtsethischen Auslegung nach der normativen Hypothese und deren angemessensten Ergebnis gesucht. Damit können mittels der rechtsethischen Auslegung die rechtsethischen Gründe für die Drittschadensliquidation aufgezeigt werden, selbst wenn sie allein keine konkreten Lösungswege bieten kann. Um die Drittschadensliquidation zu rechtfertigen, muss vor allem geklärt wer­ den, aus welchen Gründen die Subjektbezogenheit des Schadens für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs eingeschränkt werden muss. Die Subjektbezogenheit des Schadens, die auf dem Dogma vom Gläubigerinteresse beruht, bezieht sich grundsätzlich auf die Vorstellung des am Zweipersonenverhältnis orientier­ ten Interessenausgleichs, die wiederum auf der ausgleichenden Gerechtigkeit beruht. Für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation lassen sich aber auch weitere rechtsethische Minimalwertungen im Zusammenhang mit der ausgleichenden Gerechtigkeit berücksichtigen. Bei der Drittschadensliquidation ist vor allem das Entweder-oder-Verhältnis zwischen dem Schaden des Gläubigers bzw. Verletzten einerseits und andererseits demjenigen des Dritten vorausgesetzt. Dieses bedingte Alternativverhältnis zwischen zwei möglichen Geschädigten beweist, dass sich das Haftungsrisiko des Schädigers auch dann nicht wesentlich erhöht, wenn der Drittschaden im Wege der Drittschadensliquidation abgewickelt wird. Dazu kann zuerst das Argument der Identität des Schadens herangezogen werden. Demnach ist die Identität des Schadens zwischen dem Gläubiger und dem Dritten dann gegeben, wenn der Schaden des Dritten im Wesentlichen demjenigen Schaden entspricht, der bei dem Gläubiger selbst entstanden wäre. Dies soll sicherstellen, dass sich das Haftungsrisiko des Schädigers nicht erhöht. So wird die Möglichkeit eröffnet, die Subjektbezogenheit des Schadens für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs zu flexibilisieren. Diese Möglichkeit offenbart sich auch in § 421 Abs. 1 S. 3 HGB, wonach es für die Geltendmachung der in § 421 Abs. 1 S. 2 HGB bezeichneten Ansprüche keinen Unterschied macht, ob Empfänger und Absender im eigenen oder fremden Interesse handeln.

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

Damit diese Identität des Schadens angenommen werden kann, ist aber zu überprüfen, ob der Schädiger auch dann belastet würde, wenn der Schaden nur beim Dritten entstanden wäre. Denn derjenige Drittschaden, den der Schädiger nicht ersetzen muss, ist nicht auf den Schaden des Gläubigers begrenzt, auch wenn der Ausgleich des Drittschadens keine Haftungserhöhung herbeiführt. So bedarf es eines Grundes, um den Schädiger für den Drittschaden haften zu lassen. Für die Haftung des Schädigers, die sich unabhängig von der Subjektbezogenheit des Schadens auf den Drittschaden bezieht, ist der aus dem Römischen Recht überlieferte allgemeine Rechtsgrundsatz anzuführen, niemand dürfe durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichert werden. Dieser Satz beruht grundsätzlich auf der Billigkeit. Er wohnt auch § 844 BGB inne, wonach der Ersatzpflichtige dem zur Beerdigung Verpflichteten die Kosten hierfür ersetzen muss, obwohl der Geschädigte nicht mehr lebt. In Verbindung mit diesem Satz rechtfertigt die Identität des Schadens die Konstruktion der Drittschadensliquidation. Zudem bedarf es noch einer vertieften rechtsethischen Rechtfertigung. Denn der Grundsatz, niemand dürfe durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichert werden, weist zwar darauf hin, dass der Schädiger nicht entlastet werden darf, nicht aber unmittelbar darauf, wie sich die Haftungsbelastung des Schädigers auf den Drittschaden erstreckt. Die unmittelbare Beziehung zwischen der Haftung des Schädigers und dem Drittschaden betrifft die Symmetrie als ein rechtsethisches Minimum für den gerechten Interessenausgleich. Der Begriff der Symmetrie bezeichnet das gleichwertige Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen oder die harmonische Übereinstimmung der Teile eines Ganzen. Dementsprechend bedeutet die Symmetrie des Interessenausgleichs grundsätzlich die Gleichwertigkeit zwischen dem zu ersetzenden Schaden und der Haftung des Schädigers. Dem Schadensrecht wohnt diese Symmetrie als Äquivalenzgebot inne. Es ist dabei von Bedeutung, dass das symmetrische Verhältnis nur im Zusammenhang mit dem Ganzen erfassbar ist. Wenn der Drittschaden beispielsweise durch die Verletzung eines Vertrags entsteht, weist die Symmetrie darauf hin, dass für die Beurteilung des gerechten Interessenausgleichs nicht nur dieses Vertragsverhältnis als Zweipersonenverhältnis in Betracht kommt. Denn die Symmetrie richtet sich auf die Übereinstimmung der Teile eines Ganzen. Der geschädigte Dritte ist demnach auch in das ganze Ausgleichsverhältnis einzubeziehen. Über das Zweipersonenverhältnis hinaus sieht die Symmetrie die Gleich­ wertigkeit des zu ersetzenden Schadens des Geschädigten einschließlich des Drittschadens und der Haftung des Schädigers auch im Drei- oder Mehrpersonenverhältnis vor. So ermöglicht sie bei der Beurteilung der angemessenen Risikoverteilung, nicht an das am Zweipersonenverhältnis festhaltende Verständnis vom Interessenausgleich gebunden zu sein. Die Symmetrie als rechtsethische Minimalwertung enthalten auch die §§ 816 Abs. 1 S. 2, 822 BGB, wonach dem Bereicherungsgläubiger eine Direktkondiktion gegen den zweiten Erwerber gewährt wird,

C. Schlussbemerkung zum zweiten Teil

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welche nicht aus den auf dem Vertrag beruhenden Leistungsverhältnissen folgt. Mithilfe der Symmetrie lässt sich das gleichwertige Verhältnis der Haftung des Schädigers zu dem zu ersetzenden Drittschaden rechtfertigen. Die Berücksichtigung der Symmetrie im Schadensrecht vermag schließlich ein unangemessenes Ergebnis zu verhindern, das einträte, wenn die Subjektbezogenheit des Schadens für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs kategorisch eingehalten würde. So lässt sich mit der Symmetrie die Haftung des Schädigers für einen Drittschaden begründen. Es bleibt noch die Frage offen, mit welcher Rechtskonstruktion dieses ausgleichende Verhältnis konkretisiert werden soll. Um die Drittschadensliquidation zu kritisieren, wurden bisher verschiedene Auslegungsmöglichkeiten bemüht, welche in engem Zusammenhang mit den rechtsethischen Wertungen des Haftungs- und Schadensrechts stehen. Diese Auslegungsmöglichkeiten richten sich gemeinsam auf die Zuerkennung eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter. Sie basieren auf rechtsethischen Wertungen wie beispielsweise dem Vertrauensschutz und dem allgemeinen Schädigungsverbot. Bei der rechtsethischen Auslegung des allgemeinen Schadensrechts werden die Auslegungsmöglichkeiten für die Zuerkennung eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter mit der Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation verglichen, um ein angemessenes Ergebnis für den gerechten Interessenausgleich zu erreichen. Die Auslegungsmöglichkeiten für die Begründung eines eigenen direkten Schadensersatzanspruchs Dritter können vor allem in Fällen der verdeckten mittelbaren Stellvertretung Probleme bereiten. Denn in solch einer Situation ist das Drittinteresse für den anderen Teil nicht erkennbar, weshalb man aufgrund des Vertrauensschutzes keinen direkten Schadensersatzanspruch Dritter begründen kann. In diesem Zusammenhang scheitert auch die Auslegungsmöglichkeit, aufgrund der sozialtypischen Offenkundigkeit einen eigenen deliktischen Schadensersatzanspruch Dritter zu schaffen. Zudem ist die Auslegungsmöglichkeit einer Drittschadensliquidation auch vorteilhafter als die Auslegungsmöglichkeit eines eigenen Schadensersatzanspruchs Dritter: Sie ist mit dem Relativitätsgrundsatz vereinbar, da direkte Schadensersatzansprüche Dritter gar nicht erst begründet werden. Im Vergleich zur Konstruktion eines eigenen deliktischen Anspruchs des Dritten kann bei der Drittschadensliquidation die vertragliche Verschuldensvermutung angewendet werden. Aus diesen Gründen ist die Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation angemessener als die Auslegungsmöglichkeit für den eigenen Schadensersatz­ anspruch Dritter. Durch die rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts hat sich gezeigt, dass rechtsethische Argumente wie die Symmetrie, die Identität des Schadens und Billigkeitserwägungen herangezogen werden können, um das Dogma vom Gläubigerinteresse zu materialisieren und zu flexibilisieren. Dies führt schließlich zu einem verbesserten Verständnis der §§ 249 ff. BGB, was angesichts

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2. Teil: Anwendung der rechtsethischen Auslegung 

der Problematik der Drittschadensliquidation erforderlich ist. Auf dieses Verständnis lässt sich die Drittschadensliquidation stützen, indem es zeigt, dass die Subjektbezogenheit des Schadens für die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs durch rechtsethische Argumente des allgemeinen Schadensrechts flexibilisiert werden kann.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Was als Gesetzesinhalt zu verstehen ist, wird bestimmt durch das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem, was wörtlich im Normtext steht, und dem, was damit gemeint ist. Was das Gesetz meint, entspricht meist einem impliziten Gesetzesinhalt, welcher durch Gesetzeszwecke oder rechtsethische Prinzipien innerhalb des Gesetzes geprägt wird. Um zu erfassen, was das Gesetz meint, bedarf es also einer Auslegungsmethode, die sich mit rechtsethischen Wertungen innerhalb des Gesetzes befasst. Dazu wurde in der vorliegenden Arbeit die rechtsethische Auslegung herangezogen, wonach rechtsethische Argumente punktuell und interessengerecht in die Gesetzesauslegung einzubeziehen sind. 2. Zur Erfassung rechtsethischer Wertungen innerhalb des Gesetzes dient zwar schon die objektiv-teleologische Auslegung; diese aber bringt rechtsmethodische Probleme mit sich. Die Festlegung des objektiven Gesetzeszwecks ist derart abstrakt und willkürlich, dass dabei die Grenze zwischen implizitem Gesetzesinhalt und allgemeinem Gerechtigkeitsgebot verschwimmt. So bezieht die objektiv-teleologische Auslegung stillschweigend rechtsethische oder folgenorientierte Argumente mit in die generalisierende Setzung des objektiven Gesetzeszwecks ein, ohne dass dafür ausdifferenzierte Gründe vorlägen. Das Gesetz gilt grundsätzlich für bestimmte Fälle und verfolgt dabei bestimmte Zwecke. Dementsprechend darf die Berücksichtigung des Gesetzeszwecks für die Gesetzesauslegung nicht uferlos erweitert werden. Um die übermäßige Einbeziehung des Gesetzeszwecks ­ avignys Gesetzesauslegungslehre in die Gesetzesauslegung zu verhindern, ist S gut geeignet. Bei seiner Gesetzesauslegungslehre werden die für den objektiven Gesetzeszweck oder die rechtsethischen Wertungen relevanten Auslegungsmethoden herangezogen. Dabei unterscheiden sich bereits rechtsmethodisch die Betrachtung der ratio legis und die Berücksichtigung der „inneren Werte“ der aus der Gesetzesauslegung hervorgehenden Inhalte. Diese Unterscheidung sorgt dafür, dass die ratio legis bei der Gesetzesauslegung nicht verwässert wird mit dem Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit oder dem abstrakten Rationalitätsgebot. Die rechts­ methodische Kategorisierung ­Savignys liegt der rechtsethischen Auslegung zugrunde, welche rechtsethische Argumente punktuell in die Gesetzesauslegung einbezieht, ohne dabei an den generalisierenden einheitlichen Gesetzeszweck gebunden zu sein. 3. Als Folge der Übertragung der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts auf die juristische Hermeneutik weicht die heutige objektiv-teleologische Auslegung von der Auffassung ­Savignys ab. Dabei fand der hermeneutische Zirkel bei der juristischen Hermeneutik Anwendung und half zur Herausarbeitung des objektiven Gesetzeszwecks. Zwar dient der aus der philosophischen Hermeneutik

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Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

des 20. Jahrhunderts stammende hermeneutische Zirkel der Gesetzesauslegung; er birgt aber rechtsmethodisch die Gefahr, dass sich die Zirkelstruktur des Verstehens ohne Ende fortsetzt. Es droht ein infiniter Regress, wurde doch der hermeneutische Zirkel für die ontologische Betrachtung entworfen, welche nach einer allgemeinen einheitlichen Antwort auf die Seinsfrage sucht. Hingegen richtet sich die Gesetzesauslegung nicht lediglich auf eine allgemeine Erläuterung des Gesetzestexts, sondern überwiegend auf die praktische Lösung eines bestimmten Falls, welche aus dem Verständnis des Gesetzesinhalts folgt. In diesem Sinne ist der hermeneutische Zirkel für das praktische Ziel der Gesetzesauslegung nicht immer geeignet. 4. Bei der rechtsethischen Auslegung werden Auslegungsmöglichkeiten des impliziten Gesetzesinhalts im Hinblick darauf geprüft, ob und inwieweit rechtsethische Wertungen punktuell in die Gesetzesauslegung einzubeziehen sind. Angesichts konkreter Interessenlagen liegt dabei eine mögliche Differenz bzw. ein möglicher Widerspruch zwischen dem geschriebenen und dem impliziten rechtsethischen Gesetzesinhalt besonders nahe. Damit zielt die rechtsethische Auslegung grundsätzlich darauf ab, den Gesetzesinhalt abhängig vom konkreten Einzelfall zu ergründen. Dabei führt die rechtsethische Auslegung auch nicht zu einem logisch-rationalen, prozeduralen Konzept der juristischen Argumentation, sondern kommt dem rechtsethischen Minimalismus nach. Anhand des rechtsethischen Minimums ist nicht generalisierend, sondern einzelfallbezogen und interessengerecht zu betrachten, inwieweit eine rechtsethische Wertung innerhalb des Gesetzes zu berücksichtigen ist. Hierfür werden mögliche rechtsethische Minimalwertungen innerhalb des Gesetzes, denen je nach ihrer Intensität und Klarheit mehr oder weniger Gewicht zukommt, kontinuierlich identifiziert und einander gegenübergestellt. Auf diesem Wege wird versucht eine bessere Alternative als Auslegungsmöglichkeit zu finden. In diesem Sinne ist die rechtsethische Auslegung vergleichsorientiert und zielt darauf ab, gegenüber anderen Auslegungsmöglichkeiten „ein milderes, wohlwollenderes Ziel“1 des Gesetzesinhalts zu erreichen. Sie richtet sich für die Bedeutungserfassung des Gesetzesinhalts auf eine situationsbedingte umsichtige Betrachtung möglicher rechtsethischer Minimalwertungen. Dabei werden etwaige Widersprüche zwischen einschlägigen rechtsethischen Minimalwertungen und deren Zusammenhang mit anderen rechtsethischen Minimalwertungen ernst genommen. Die rechtsethische Auslegung bildet somit kein striktes Entscheidungssystem der Rechtsprinzipien, sondern sorgt für eine angemessene Vermittlung zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten. 5. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der rechtsethischen Auslegung und der Rechtsfortbildung wurde zunächst die mögliche Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung berücksichtigt. Insbesondere bei der teleologischen Reduktion 1

­Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, S. 230.

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werden Gesetzeslücken festgestellt, indem der innere Zweck des Gesetzes aufgedeckt wird. Sodann werden diese Lücken mittels der ratio legis und des negativen Gleichheitssatzes ausgefüllt. Auch bei der Anwendung der rechtsethischen Auslegung besteht diese Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung. Prinzipiell behandelt die rechtsethische Auslegung die Bedeutungserfassung. Dabei spielt die Betrachtung der rechtsethischen Wertungen eine Rolle, um mögliche implizite Gesetzesinhalte zu ergründen. Ebenso ist für die Rechtsfortbildung eine rechtsethische Rechtfertigung erforderlich. Damit sind rechtsethische Wertungen nicht nur auf das Gesetz beschränkt. Indem sie sowohl die rechtsethische Auslegung als auch die Rechtsfortbildung beeinflussen, ähneln sich die Auslegung der unbestimmten Vorschrift und die Rechtsfortbildung stellenweise. Dabei schafft die Betrachtung der rechtsethischen Wertungen mit dem normativen Postulat der Gesetzesbindung ein Spannungsverhältnis zwischen der Bedeutungserfassung des Gesetzes und der Begründung der Rechtsfortbildung. Bei der Betrachtung der rechtsethischen Wertungen können also die Bedeutungserfassung des impliziten Gesetzesinhalts und die Begründung der Lückenausfüllung in ein wechselseitiges Verhältnis gesetzt werden. So ist die rechtsethische Auslegung im Zusammenhang mit der Rechtsfortbildung zu erfassen. 6. Als Anwendungsbeispiel der rechtsethischen Auslegung wurde in der vor­ liegenden Arbeit die Drittschadensliquidation angeführt. Sie ist auf eine Kluft zwischen dem rechtlichen Grundsatz, dass nur zwischen den Parteien des jeweiligen Rechtsverhältnisses rechtliche Wirkungen bestehen sollen, und der tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkung einer Vertragsverletzung auf Dritte zurückzuführen. Dabei steht die Drittschadensliquidation mit dem Dogma vom Gläubiger­ interesse im Konflikt. Ihre Rechtfertigung hängt mit dem Verständnis der rechtsdogmatischen Begriffe und Grundsätze des Schadensrechts zusammen, die sich aus der Auslegung des allgemeinen Schadensrechts – also der §§ 249 ff. BGB – ergeben. 7. Das Dogma vom Gläubigerinteresse als rechtsdogmatischer Grundsatz des Schadensrechts, dem die Drittschadensliquidation entgegensteht, fordert für die Zuerkennung eines Schadensersatzanspruchs grundsätzlich die Identität von Verletztem und Geschädigtem. Es orientiert sich somit am Zweipersonenverhältnis und begrenzt die Haftung. Doch ein auf der ausgleichenden Gerechtigkeit basierender angemessener Interessenausgleich kann sich nicht auf den am Zweipersonenverhältnis orientierten Interessenausgleich nach dem Dogma vom Gläubigerinteresse beschränken. Vielmehr besteht die Möglichkeit, den rechtsdogmatischen Grundsatz zu flexibilisieren, indem andere rechtsethische Wertungen des Schadensrechts berücksichtigt werden, welche für den Ausgleich des Drittschadens relevant sind. Etwa besteht in Fällen, in denen keine ungerechte Erweiterung der Haftung aufgrund einer Schadenskumulation entstünde, kein Widerspruch der Drittschadensliquidation zu dem Zweck des Dogmas vom Gläubigerinteresse.

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Zu diesen Fällen gehören insbesondere diejenigen Fälle der Drittschadensliqui­ dation, in denen der dem Leistungsinteresse entsprechende Schaden entweder nur auf Seiten des Gläubigers oder nur auf Seiten des Dritten entstehen kann. Aus diesem Grund ist das Dogma vom Gläubigerinteresse teleologisch insoweit zu reduzieren, als es nicht auf solche Fälle der Drittschadensliquidation anzuwenden ist, in denen keine Erweiterung der Haftung droht. Um die damit einhergehende Aufweichung des Dogmas vom Gläubigerinteresse zu rechtfertigen, sind das Argument der Identität des Schadens und der auf der Billigkeit beruhende Rechtsgrundsatz heranzuziehen, niemand dürfe sich durch sein unrechtmäßiges Verhalten zum Nachteil eines anderen bereichern. Zusätzlich kann auch die Vorstellung der Symmetrie für den gerechten Interessenausgleich angeführt werden, welche als Übereinstimmung der Teile zum Ganzen die Gleichwertigkeit von dem zu ersetzenden Schaden und der Haftung des Schädigers im Mehrpersonenverhältnis vorsieht, ohne an das Zweipersonenverhältnis gebunden zu sein. Für die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation werden diese rechtsethischen Argumente bei der Auslegung des allgemeinen Schadensrechts berücksichtigt, wenn und soweit dadurch keine substanzielle Haftungssteigerung entsteht. Ferner ist die Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation mit den anderen Auslegungsmöglichkeiten zu vergleichen, die dem Dritten einen eigenen Schadensersatzanspruch zuerkennen. Die Auslegungsmöglichkeit für die Drittschadensliquidation ist vorteilhafter als die anderen Auslegungsmöglichkeiten, da sie nicht den Relativitätsgrundsatz verletzt und die vertragliche Verschuldensvermutung nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB aufrechterhält. 8. Mit der rechtsethischen Auslegung des allgemeinen Schadensrechts lässt sich schließlich das Dogma vom Gläubigerinteresse flexibilisieren, sodass der Ausgleich eines Drittschadens nicht mehr von vornherein ausgeschlossen ist. Durch die Feststellung der rechtsethischen Minimalwertungen, insbesondere durch den Interessenausgleich nach der Symmetrie und die Billigkeitserwägung, zeigt die rechtsethische Auslegung des allgemeinen Schadensrechts, dass der Verletzte situationsbedingt einen Drittschaden geltend machen kann. Auf dieses Auslegungsergebnis stützt sich die Drittschadensliquidation.

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Sachwortregister Äquivalenz  42, 125 f., 130 Allgemeines Schädigungsverbot  145 Arbeitnehmerüberlassungsvertrag 111 Ausgleichende Gerechtigkeit  16, 20, 42, 80, 117, 121, 125 ff. Billigkeit  20, 123 f., 131 Culpa in contrahendo  137 f. Differenzhypothese  100 ff. Direktkondiktion  42, 128 ff. Dogma vom Gläubigerinteresse  16, 90 f., 116 ff. Drittschaden  90 ff. Drittschadensliquidation  92 ff. Einheit von Lückenfeststellung und ­-ausfüllung  78  f. Entgangener Gewinn  110 Ethik  19 f.

Legalität und Legitimität  44 f. Legalzession 104 Leistungskondiktion  127 f. Lücke im Gesetz  72 ff. Mangelhafter Zustand des Gesetzes  23 f. Mittelbare Stellvertretung  96 f. Möglicher Wortsinn  74 ff. Moral 19 Normativer Schadensbegriff  103 ff. Normausfüllung  67 f. Normerzeugung  67 ff. Normkonkretisierung  65 ff. Normverwirklichung  66 f. Objektiv-teleologische Auslegung  30 ff., 36 ff. Objektiver Gesetzeszweck  15, 31 f., 37 ff. Obligatorische Gefahrentlastung  95 f. Philosophische Hermeneutik  46 ff.

Faktische Leistungsbeziehung  138 ff. Folgenorientierte Auslegung  32 ff. Gesetzesauslegung  18, 21 f. Gesetzesbindung  71, 81 ff. Gesetzesinhalt  13 ff. Gesunder Zustand des Gesetzes  23 Grund des Gesetzes  24, 40 f. Hermeneutische Spirale  52 ff., 56 Hermeneutischer Zirkel  46 ff. Hin- und Herwandern des Blicks  46 f. Identität des Schadens  122 ff. Innerer Wert des aus der Auslegung hervorgehenden Inhalts  24, 32 ff., 41 ff. Juristische Argumentationslehre  57 ff. Juristische Hermeneutik  46 ff.

Rechtsethik  19 f. Rechtsethische Auslegung  15 f., 43 ff., 56, 62 ff., 121 ff. Rechtsethischer Minimalismus  62 ff. Rechtsethisches Minimum  61 ff., 121 f., 125, 131 Rechtsfortbildung  71 ff. Relativität der Schuldverhältnisse  148 f. Savignys Auslegungslehre  21 ff. Schadensposten  102, 104 f., 107 f., 112 Schockschaden 119 Schutzanspruch zugunsten Dritter  134 ff. Symmetrie  125 ff. Tatbestandsprinzip  143 ff. Teleologie  65, 73, 77, 86 Teleologische Reduktion  76 ff., 116 ff.

Sachwortregister Vermögensbegriff 101 Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte ​ 112 ff. Vertrauensvertretung  132 ff. Vorteilsausgleichung  106 f., 110 f.

Wirtschaftliches Eigentum  140 ff. Zufällige Schadensverlagerung  98 ff.

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