Rechtliche Freiheit: Politik und Recht in der kategorialen Wahrnehmung [1. Aufl.] 9783658307592, 9783658307608

Julia Neuhof zeigt, dass Komplexität und Unübersichtlichkeit politisch-rechtlicher Entwicklungen in der modernen Gesells

300 85 3MB

German Pages XIV, 218 [220] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Julia Neuhof)....Pages 1-20
Front Matter ....Pages 21-21
Politik • Recht • Wandel (Julia Neuhof)....Pages 23-45
Politische Bildung • Recht • Wandel (Julia Neuhof)....Pages 47-79
Front Matter ....Pages 81-81
Theoretische Konzeption (Julia Neuhof)....Pages 83-94
Empirisches Arbeiten und Verstehen (Julia Neuhof)....Pages 95-104
Studiendesign (Julia Neuhof)....Pages 105-110
Methoden der Studie (Julia Neuhof)....Pages 111-133
Front Matter ....Pages 135-135
Deskriptiver Überblick (Julia Neuhof)....Pages 137-143
Fünf Themencluster (Julia Neuhof)....Pages 145-159
Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen (Julia Neuhof)....Pages 161-166
Zusammenfassende Reflexion der Befunde (Julia Neuhof)....Pages 167-175
Front Matter ....Pages 177-177
Verstehen: Kategoriale Wahrnehmungsprozesse (Julia Neuhof)....Pages 179-181
Kultivieren: Mentale Spielräume (Julia Neuhof)....Pages 183-186
Handeln: Interpretative Fallanalyse (Julia Neuhof)....Pages 187-190
Fazit und Ausblick (Julia Neuhof)....Pages 191-192
Back Matter ....Pages 193-218
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Rechtliche Freiheit: Politik und Recht in der kategorialen Wahrnehmung [1. Aufl.]
 9783658307592, 9783658307608

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Politische Bildung

Julia Neuhof

Rechtliche Freiheit Politik und Recht in der kategorialen Wahrnehmung

Politische Bildung Reihe herausgegeben von Carl Deichmann, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Thüringen, Deutschland Ingo Juchler, Lehrstuhl für Politische Bildung, Universität Potsdam, Potsdam, Brandenburg, Deutschland

Die Reihe Politische Bildung vermittelt zwischen den vielfältigen Gegenständen des Politischen und der Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen in politischen Bildungsprozessen an Schulen, außerschulischen Einrichtungen und Hochschulen. Deshalb werden theoretische Grundlagen, empirische Studien und handlungsanleitende Konzeptionen zur politischen Bildung vorgestellt, um unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen zu Theorie und Praxis politischer Bildung aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Die Reihe Politische Bildung wendet sich an Studierende, Referendare und Lehrende der schulischen und außerschulischen politischen Bildung.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13420

Julia Neuhof

Rechtliche Freiheit Politik und Recht in der kategorialen Wahrnehmung

Julia Neuhof Zentrum für Arbeit und Politik (zap) Universität Bremen Bremen, Deutschland Zgl. Dissertation an der Universität Bremen, 2020

ISSN 2570-2114 ISSN 2570-2122  (electronic) Politische Bildung ISBN 978-3-658-30759-2 ISBN 978-3-658-30760-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

Die Frage nach dem Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und praktischer Umsetzung ist eine zentrale meiner Ausbildung. Zunächst aufgetaucht in meinem Lehramtsstudium, begleitete sie die wissenschaftliche Tätigkeit in der Arbeitsgruppe „Staatlichkeit im Wandel und Politische Bildung“ an der Universität Bremen und ist auch Ausgangpunkt der vorliegenden Arbeit, meiner in der Struktur leicht angepassten Dissertation. Die meisten Ideen dazu, die Auseinandersetzung mit deren Tragfähigkeit, vorläufige Antworten und sich daraus ergebende neue Fragen, sind im Dialog mit anderen Menschen entstanden. Der „ALMHA“. Prof. Dr. Andreas Klee danke ich für sein Vertrauen in mich und die Förderung; seine klare, kritisch-konstruktive und kluge Sicht auf Wissen und Wissenschaft ist inspirierend und war in so vielen Phasen der Promotion hilfreich. Dr. Luisa Girnus, mit ihr kann ich weiterdenken, sie hat meine Arbeit unterstützt und mit ihrem Wissen beeinflusst. Prof. Dr. Marc Partetzke und Dr. Hendrik Schröder danke ich dafür, dass sie mir immer als Fragende und Antwortende gegenüberstanden. Alle: Merci an das Zentrum für Arbeit und Politik für die Begeisterung stiftende Arbeitsatmosphäre. Ich danke Dr. Dieter Wolf vom SOCIUM, der die großen Fragen stellt; mit ihm hat die wissenschaftliche Laufbahn als Zweitgutachter im Staatsexamen begonnen und mit ihm wird die Dissertation als Zweitgutachter beendet. Ich danke den Schülerinnen und Lehrkräften, die mich in meinem Vorhaben gewähren ließen und Torsten Grün, der mit seinem Pragmatismus zum Gelingen der Dissertation beigetragen hat.

V

VI

Danksagung

Meiner Schwester, den Familien im Hannoverschen und im Bergischen, Anne, den Freunden und Menschen in Panama und anderswo; besonders danken möchte ich meinen Eltern Christian und Maggy für die vielen Lebens- und Bildungsmöglichkeiten und: die Durchsicht der Arbeit. Zuletzt und am allermeisten danke ich Oliver und Jim, durch die es nicht nur eine richtige, sondern eine erfüllende Arbeit war, wir haben es geschafft!

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Über die Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Empirisches und analytisches Beziehungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Ziel, Forschungsgegenstand und Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . 10 1.4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Teil I  Theoretischer Rahmen 2

Politik • Recht • Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Sozialwissenschaftliche Sinnangebote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1.1 Staat: Formherstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1.2 Staatlichkeit: Prozessperspektivierung. . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.3 Recht und Politik: Beziehungsfelder. . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2 Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven. . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.1 Internationale Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2.2 Transnationale Rechtsprozesse/Weltrecht. . . . . . . . . . . . 38 2.2.3 Feld der Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.3 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

3

Politische Bildung • Recht • Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1 Wandel in der politischen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.1 Fachdidaktische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.1.2 Demokratie- und gesellschaftstheoretische Analysezugänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.1.3 Staatszentrierter Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2 Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse. . . . . . . . . . . . . 57 3.2.1 Bewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.2.2 Erfahrbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2.3 Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3 Wahrnehmung in der politischen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3.1 Wahrnehmung als Grundlage politischen Urteilens. . . . . 64 3.3.2 Wahrnehmung kategorial bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.3.3 Wahrnehmung als Kategorisierungsprozess . . . . . . . . . . 71 3.3.4 Wahrnehmung differenzieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Teil II  Empirische Studie 4

Theoretische Konzeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.1 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.2 Detaillierte Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.3 Zusammenhang von Theorie und Empirie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

5

Empirisches Arbeiten und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.1 Methodologische Klärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.2 Bildungs- und Erhebungssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.3 Gütekriterien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung. . . . . . . . . 101

6 Studiendesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.1 Sampling und Umfang der Stichprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.2 Forschungsethik und rechtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . 107 6.3 Ablauf des Transferlabors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 7

Methoden der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7.1 Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als Erhebungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7.1.1 Aufgabenkonstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 7.1.2 Gestaltung und Validierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 7.2 Computergestützte Aufbereitung und Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . 127 7.2.1 Einfache Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7.2.2 Komplexe Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 7.3 Nachbefragungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Teil III  Ergebnisse 8

Deskriptiver Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 8.1 Fallaspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 8.2 Häufigkeit von Themen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Inhaltsverzeichnis

9

IX

Fünf Themencluster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9.1 Ergebnisse der einfachen Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9.2 Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon. . . . . . 146 9.3 Freiheit durch hierarchische Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 9.4 Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 9.5 Freiheit in guter Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 9.6 Plural gelingende Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 9.7 Instruktionsorientierte Akte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

10 Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen. . . . . . . . . . . . . . . 161 10.1 Ergebnisse der komplexen Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 10.2 Absolute Perspektivübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 10.3 Unstete Perspektivübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 10.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 11 Zusammenfassende Reflexion der Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 11.1 In Bezug auf die Forschungsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 11.1.1 Im Hinblick auf Kategorisierungsprozesse . . . . . . . . . . . 167 11.1.2 Im Hinblick auf die Bedeutung der Kategorien Recht und Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 11.1.3 Im Hinblick auf Veränderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 11.2 In Bezug auf die Forschungsanlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 11.2.1 „Eier finden, die man selbst versteckt hat“ – die Verwendung eines sensitizing concepts. . . . . . . . . . . . . . 173 11.2.2 „Das Eine, das Andere, sowohl als auch“ – die Anlage als Forschung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 11.2.3 „Letztbegründung“ – das qualitative Design. . . . . . . . . . 175 Teil IV  Transfer 12 Verstehen: Kategoriale Wahrnehmungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . 179 13 Kultivieren: Mentale Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 14 Handeln: Interpretative Fallanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 15 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1.1 Zusammenhang von Individuum, Kollektiv und Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Abbildung 3.1 Zusammenfassung der Arbeitsschritte . . . . . . . . . . . . . . . 78 Abbildung 4.1 Verbindungen zwischen Theorie und Empirie . . . . . . . . . 94 Abbildung 5.1 Phasen im Transferlabor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Abbildung 7.1 Themenkomplexe und Leitfragen der Studie. . . . . . . . . . 114 Abbildung 7.2 Design und Funktionsweise des Rechtsbaukastens (pictures with permission of Reuters/dpa Picture Alliance GmbH). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Abbildung 7.3 Aufgabenkonstruktion – Ausziehelemente. . . . . . . . . . . . 123 Abbildung 7.4 Aufgabenkonstruktion – Zusatzelemente (pictures with permission of Reuters) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abbildung 7.5 Steigende Komplexität der Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abbildung 7.6 Analyseformen der einfachen Analyse nach Kuckartz (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Abbildung 7.7 Analyseformen der komplexen Analyse nach Kuckartz (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Abbildung 9.1 Fünf Themencluster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Abbildung 10.1 Zwei visuelle Beispiele aus MAXQDA 12. . . . . . . . . . . . 165 Abbildung 12.1 Charakterisierung von Kategorisierungsprozessen nach Neuweg (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Abbildung 13.1 Lehr-Lernmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

XI

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1.1 Theoretische und empirische Modellierung. . . . . . . . . . . . . . 15 Tabelle 3.1 Wandel in fachdidaktischen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Tabelle 3.2 Grundbegriffe rechtlicher Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tabelle 4.1 Politische Akte und ihre Gegenstände nach Egner (2008). . . 93 Tabelle 6.1 Auswahlmerkmale der Stichprobe nach Klee (2008: 140). . . 106 Tabelle 6.2 Stichprobe im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Tabelle 7.1 Merkmale von fokussierten Aufgaben in Anlehnung an Helfferich (2005: 33) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Tabelle 7.2 Aufgabenanforderungen und Operatoren nach Senatorin für Bildung und Wissenschaft (2008: 13–14). . . . . . . . . . . . . 116 Tabelle 7.3 Aufgabenanforderungen, Operatoren und Fallaspekte. . . . . . 118 Tabelle 7.4 Aufgabenanforderungen, Operatoren, Fallaspekte und Aufgabentyp. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Tabelle 7.5 Einfache Analyse kategorialer Wahrnehmungsprozesse . . . . 129 Tabelle 7.6 Komplexe Analyse kategorialer Wahrnehmungsprozesse . . . 130 Tabelle 8.1 Thematische Haupt- und Subkategorien entlang der Leitfragen und Aufgabenstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Tabelle 8.2 Ausschnitt aus dem Kategoriensystem mit Codierleitfaden nach Kuckartz (2016). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Tabelle 8.3 Sampling Unit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Tabelle 8.4 Überblick über Codehäufigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Tabelle 9.1 Überblick Themencluster 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Tabelle 9.2 Überblick Themencluster 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Tabelle 9.3 Überblick Themencluster 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Tabelle 9.4 Überblick Themencluster 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

XIII

XIV

Tabellenverzeichnis

Tabelle 9.5 Überblick Themencluster 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Tabelle 10.1 Codierte Segmente: Absolute Perspektivübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Tabelle 10.2 Kennzeichen qualitativ unterscheidbarer Wahrnehmungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

1

Einleitung

1.1 Über die Wahrnehmung Demokratie bleibt laut Derrida stets „im Kommen“ (Derrida 2003: 123). Das Kommen der Demokratie ist das Versprechen auf Freiheit und politische Gleichheit, politische Beteiligungsmöglichkeiten, Wohlstand, Sicherheit und Frieden. Dass sich um die Realisierung dieses Versprechens bemüht wird, zeigen Trends der Ausweitung der Demokratie als politische Ordnung1 und als universelle positiv konnotierte Begrifflichkeit. Die kommende Demokratie sucht nach Wegen neuer Verfahren und Gegenstandsbereiche, die bislang nicht oder unzureichend demokratisiert sind (Buchstein 2013: 37–40). Das verhandeln von Krisendiagnosen2 im

1Mit

Ordnung wird das In-Beziehung-Setzen unterschiedlicher Teile zu einem Ganzen bezeichnet. Max Weber führt den Begriff undefiniert zur Erfassung normativer Strukturen ein. Ordnung und Handeln stehen bei ihm in einem engen Zusammenhang (Weber 1968[1922]). „Soziales Handeln kann von den Beteiligten an der Vorstellung des Bestehens einer legitimen O. orientiert werden“ (Fuchs-Heinritz et al. 2011). Politische Ordnungen, deren Geltungswillen auf die Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen ausgerichtet ist, werden auf dem Wege der Zuschreibung von Legitimität durch die Bürgerinnen hergestellt (Brodocz 2015: 24; Martinsen 2015a: 14). Die Konstituierung, Stabilisierung, Modifizierung, Revolutionierung und Restabilisierung, Zerstörung und Auflösung politischer Ordnung (Ordnungsbildung) ist umkämpft und deshalb auch politisch (Peter 2014: 15). Politische Ordnung wird in der vorliegenden Arbeit nicht institutionell (Politik) verengt verstanden, sondern als politisierte soziale Zusammenhänge (das Politische). 2Krisendiagnosen sind im fachlichen Diskurs umstritten. Inwieweit eine Krise der Demokratie attestiert wird, ist abhängig vom jeweiligen Demokratiebegriff und bis heute gibt es keinen Konsens über die Bedeutung von Demokratie (Brodocz 2015: 36). Zudem kann ein Rückzug der Demokratie systematisch-empirisch nicht gestützt werden (Merkel 2015). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_1

1

2

1 Einleitung

öffentlichen und fachlichen Diskurs, wie Legitimationskrise, Überforderung des Staats3, Entpolitisierung und Entgrenzung der Politik, sowie Krisenerscheinungen, wie der Zunahme sozialer und politischer Ungleichheit und das Erstarken populistischer Bewegungen legen jedoch eine Demokratie nahe, die auch „im Gehen“ ist (Brodocz 2015: 39; Martinsen 2015a: 14). Die gehende Demokratie ist zunehmend fragmentiert, sie büßt ihren normativen Anspruch ein. Wenn man politische beziehungsweise demokratische Ordnung mit Brodocz als diskursives Produkt4 versteht, sichern „[…] Deutungskonflikte zunächst die Fortsetzung des Diskurses […], der die Ordnung konstituiert […]“ (Brodocz 2011: 50). In diesen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskursen5 wird um das angemessene Verständnis und die angemessene Diagnose von Demokratie gestritten (Martinsen 2015b: 46). Es werden durch Grenzziehungen als „[…] sprachliche Etikettierungen zur Kategorisierung von Menschen, Praktiken, Objekten, Zeit und Raum“ (Kroneberg 2014: 9) Ordnungsvorstellungen gebildet, konstituiert, reproduziert und reformiert6. Konflikte um Ordnungsdeutungen sind dabei häufig dafür verantwortlich, dass sich Form, Prozesse und Inhalte von Demokratie geändert haben und, folgt man Habermas, kollektive Lernprozesse sich als problembewältigende kooperative Deutungspraxis darstellen (Gaus 2009: 27; Habermas 1981: 136). Doch die problembewältigende Deutungspraxis ist vor Herausforderungen gestellt. Auf der Ebene des Handelns beziehungsweise partizipatorischer Verhaltensweisen deuten Unterlassungspraktiken der jungen Bürgerinnen7 hinsichtlich institutioneller Beteiligung unter anderem in Form

3Staat

wird arbeitsdefinitorisch in einem weiten Sinn verstanden als institutionalisiertes und gleichzeitig umkämpftes soziales Verhältnis (Brand 2011: 145), er ist „Terrain, institutionelles Ensemble, Akteur, Diskurs und Praxis (vgl. Sauer 2001, 69)“ (zit. nach: Brand 2011: 153). Die sozialwissenschaftliche Formherstellung von Staat ist Gegenstand in Abschnitt 2.1.1. 4In kommunikativen Politikmodellen werden Diskurse als demokratieförderlich ausgewiesen (Martinsen 2015: 53–54). 5Dazu gehören vor allem dialogische Kommunikationsformen, wie gesellschaftliche Debatten, Diskussionen oder Streitgespräche. 6In einem allgemeinen Verständnis bezeichnet der Begriff Kategorie ordnende Allgemeinbegriffe, sie sind Formen des Sprechens und Denkens (Scherb 2007: 131), die Etablierung eines gegenstandsbezogenen Verständnisses ist Aufgabe des Kapitels 3. 7Es sind in der Regel Personen jedes Geschlechts gleichermaßen gemeint; aus Gründen der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Femininum gebraucht.

1.1  Über die Wahrnehmung

3

einer zurückgehenden Wahlbeteiligung8 (Abendschön/Roßteutscher 2011) und Ergänzungspraktiken hinsichtlich n­icht-institutionalisierter Beteiligung unter anderem in Form von Demonstrationsteilnahme oder des ›political consumerism‹ (Gaiser et al. 2016) an, dass diese auf eine Orientierung an parlamentarischer Repräsentation als Ordnungsvorstellung immer mehr verzichten (Brodocz 2015: 38). Zudem verfügt die Gesellschaft vor dem Hintergrund politischer Transformations- und Ausdifferenzierungsprozesse nicht mehr über ein Zentrum oder eine Spitze; für alle verbindliche Maßstäbe gibt es deshalb nicht (Martinsen 2015a: 10). Insgesamt kennzeichnet dies eine Situation struktureller Unsicherheit und wachsender Komplexität, eine Situation gesellschaftlichen und politischen Wandels9, in der tradierte Deutungen uminterpretiert werden. Thema der vorliegenden Studie ist das Verhältnis von individueller Wahrnehmung und politisch-rechtlicher Ordnung im Kontext von Wandel. In einer kulturalistischen Lesart politischer Bildung (Deichmann 2004, 2009) sind politisch-kulturelle Ordnungsvorstellungen Bestandteile der politischen Wirklichkeit und in ihrer stabilen und tradierten Form gilt es sie erstens offenzulegen, damit junge Menschen Zugang zum demokratischen Selbstverständigungskurs erhalten. Gerade weil Deutungen aufgrund kultureller Interpretationsroutinen oft latent sind und von jungen Menschen als anthropologische Konstanten der politischen Wirklichkeit wahrgenommen werden können, ist eine Bewusstmachung durch Hinterfragen, Politisierung und Kontrastierung Aufgabe der Didaktik der politischen Bildung (Lange 2003: 66). Ein Hinterfragen gelingt in Situationen gesellschaftlichen und politischen Wandels, weil hier politischkulturelle Ordnungsvorstellungen ihren latenten Charakter verlieren und neue Vorstellungen und Typisierungen kreiert werden, „[…] um die problematischen Aspekte der Situation in die Übereinstimmung mit den bereits vorhandenen Elementen zu bringen“ (Stachura 2005: 76). Von der Didaktik der politischen Bildung verlangt dies zweitens ein Didaktisieren von Zeitdiagnosen, im Besonderen das Fruchtbarmachen des Wandels als didaktische Perspektive. Die Träger politisch-kultureller Vorstellungen sind zwar gesellschaftliche Kollektive,

8Die

Wahlbeteiligung von jungen Menschen sinkt, ebenso wie in allen Altersklassen, zwischen 1980–2009 (Abendschön/Roßteutscher 2011: 66); bei der Bundestagswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung der 18–20-Jährigen bei 69,9 %, der 21–24-Jährigen bei 67 % (Statistisches Bundesamt 2017). 9Grundlegende Veränderungsprozesse kennzeichnen die Gesellschaft und das politische System und werden im Folgenden als sozialer und politischer Wandel rubriziert.

4

1 Einleitung

es bedarf allerdings konkreter Individuen10, die sie in ihr Wahrnehmen aufnehmen (Rohe 1987: 39). Die Konstitutionsregeln der politischen Wirklichkeit sind s­prachlich-symbolisch vermittelt, die Aufnahme dieser ist individuell. Für die Didaktik der politischen Bildung bedeutet dies drittens die Integration der subjektiven Dimension der Wahrnehmung11 für Situationsdeutungen, weil im individuellen Akt des Verstehens Ordnungsvorstellungen aktualisiert werden. Lernprozesse gründen in diesen subjektiven Voraussetzungen als Lernendenvoraussetzungen (Lange 2005: 263). Das semantische Feld von Wahrnehmung, Ordnung und Wandel wird im Rahmen der politischen Kultur als Metatheorie begründet, um die selektiven Vorentscheidungen, welche die Welt- und Wirklichkeitssicht, das Menschenbild sowie den Forschungsprozess der vorliegenden Studie bestimmen, darzulegen und den Bildungswert offenzulegen. Verknüpft werden die Grundannahmen mit Wahrnehmungs- und Handlungstheorien, die epistemologische Korrespondenzen mit dem Gegenstand der Untersuchung ausweisen und die Aufstellung eines Forschungsprogramms Grund legen.

1.2 Empirisches und analytisches Beziehungsfeld Entgegen der Einschätzung, die politische Bildung und Politikdidaktik12 sei wenig theoriebeladen13 (Weißeno 2016) und die politikdidaktische Theoriebildung „[…] höchst amorph, eklektizistisch und alles andere als widerspruchsfrei“ (Goll 2018: 50), kann die Politikdidaktik epistemologisch nicht als

10Mit

Individuum, Subjekt und Akteur sind Konzeptionen von ,Personalität‘ gemeint, die soziale Personen und ihre Fähigkeiten beziehungsweise Eigenschaften beschreiben. Personalitätskonzepte unterscheiden sich stark voneinander, gehen aber alle von anthropologischen Annahmen aus (Lüdtke 2011: 12). 11Wahrnehmung wird nicht ästhetisch oder passiv verstanden, sondern als mentales Können der Mustererkennung. 12Mit der Schreibweise politische Bildung ist umfassend schulische und außerschulische beziehungsweise formale und non-formale Bildung gemeint, mit Politischer Bildung ausschließlich das Unterrichtsfach. Unter Politikdidaktik wird die wissenschaftliche Disziplin gefasst, die Lehr- und Lernprozesse formaler und non-formaler politische Bildung zum Gegenstand hat. 13Abhängig ist die Einschätzung vom zugrunde gelegten Theoriebegriff, vgl. Partetzkes Übersicht zum Theoriebegriff und zur Diskussion (Partetzke 2016: 102–111).

1.2  Empirisches und analytisches Beziehungsfeld

5

desinteressiert bezeichnet werden, gerade auch im Gegensatz zur traditionellen Politologie (von Beyme 1996). Vor allem die konstruktivistische Epistemologie ist Grundlage metatheoretischer und methodologischer Klärungen (vgl. Klee 2008; Sander 2014b) ebenso wie die Wissenschaftstheorien der Hermeneutik oder des Pragmatismus (Goll 2018: 49). Zwar stellen die Theorieintentionen und Reflexionen über sinnstiftende Prämissen, die in die politikdidaktischen Wirklichkeitsdeutungen eingehen, keine Gewähr für ein wünschenswertes Niveau von Theorie dar; in der methodischen Vielfalt sowie in dem Pluralismus von normativen und deskriptiven sozialwissenschaftlichen Bezugstheorien in der Politikdidaktik finden sich jedoch wissenschaftstheoretische Bezüge, an die mit einer inhaltlichen Begründung angeschlossen werden kann. Die vorliegende Studie verortet sich innerhalb der Metatheorie der politischen Kultur (vgl. Almond/Verba 1965; vgl. aber Rohe 1994b), die einen übergeordneten gesellschafts- und differenzierungstheoretischen Bezugsrahmen zur Verfügung stellt (Pickel/Pickel 2006; Stachura 2005: 13). Politische Kultur und politische Bildung hat umfangreich Deichmann aufeinander bezogen und daran anschließend unter anderem Partetzke konkretisiert (Deichmann 2004, 2009; Partetzke 2016). In seinem politikdidaktischen Modell und dessen Aktualisierungen formuliert Deichmann eine mehrdimensionale soziale und politische Realität, die es durch politische Bildung zu verstehen gilt. Neben der Alltagsweltdimension, der politischen Dimension und der Dimension regulativer Ideen ist politische Kultur eine Dimension dieser Realität und umfasst kollektive und politische Deutungen (Deichmann 2009: 178) sowie „[…] subjektive Deutungen, die als (soziokultureller) Reflex auf die beiden anderen zu verstehen sind“ (Partetzke 2016: 12). Die vorliegende Studie schließt an diesen theoretischen Ausgangspunkt an und interessiert sich für die Konstituierung der politischen beziehungsweise der politisch-rechtlichen Realität. Grundlegend für diese normative und empirische Perspektive sind Grundsätze politischer Kultur, wie sie Rohe formuliert14 und anhand derer sich ein Zusammenhang von Individuum, Kollektiv und Ordnung begründen lässt (Rohe 1987, 1994a). Für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz sind fünf Aspekte einer dynamischen Konzeption politischer Kultur:

14Rohe

verbindet vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung traditionelle Überlegungen der politischen Kultur mit kulturalistischen Ansätzen (Pickel/Pickel 2006: 123–124). Zu verschiedenen Ansätzen und zu der Kritik der politischen Kultur vgl. Stachura (2005).

6

1 Einleitung

(1) Politische Kulturen sind Ordnungsvorstellungen, die die politische Wirklichkeit (sprachlich-symbolisch) konstituieren. (2) Es sind kollektive Ordnungsvorstellungen, die jedoch eine individuelle Entsprechung haben. (3) Politische Ordnungsvorstellungen sind in der Alltagswelt der Normalbürger verankert. (4) Politische Kulturen erneuern sich im Diskurs. (5) Politische Ordnungsvorstellungen sind mit politischen Institutionen verbunden. Ad 1: Rohe formuliert politische Kulturen als sich innerhalb eines sozialen Verbandes durchgesetzte politische Alltagstheorien (Rohe 1994a: 162). Sie sind Grundannahmen über die politische Welt (Rohe 1994a: 165), die einen sinnstiftenden „politischen Denk-, Handlungs- und Diskursrahmen“ (Rohe 1994b: 1) darstellen. Sie repräsentieren politische Wirklichkeit also nicht, sondern konstituieren sie. Ad 2: „Kultur hat ›man‹ stets nur mit anderen zusammen“ (Rohe 1987: 40). Politische Kulturen sind kollektive Theorien (Rohe 1994a: 164), die als politisches Sinnangebot in die Wahrnehmung von Individuen aufgenommen beziehungsweise vermittelt werden müssen. Ad 3: Politische Kultur ist Praxis. In der Alltagspraxis, der sogenannten Soziokultur, versuchen Normalbürger ihre Erfahrungen mit der Politik und politischer Alltagswelt auf der Grundlage von Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten zu durchdringen (Rohe 1994b: 8). Politische Kultur stellt in diesem Sinne eine kulturelle Dimension der politischen Lebensordnung dar (Stachura 2005: 88). Ad 4: Politische Kultur ist Prozess. Der gesellschaftliche Diskurs ist der Reproduktionsort politischer Kultur, wo Ordnungsvorstellungen tradiert und uminterpretiert werden (Stachura 2005: 77–78). Diese werden in Deutungsprozessen auf der Ebene der sogenannten Deutungskultur von professionalisierten Sinninterpreten und -produzenten in Frage gestellt, aktualisiert und erneuert (Rohe 1994a: 170)15.

15Ordnungsvorstellungen

werden innerhalb der Deutungskultur von professionalisierten Sinninterpreten beziehungsweise -produzenten uminterpretiert. Ursprünglich kontroverse Themen der Deutungskultur wandern in den Bereich der Soziokultur, „[…] um dort zumindest für eine zeitlang als fraglos Hingenommenes zu existieren“ (Rohe 1994a: 170).

1.2  Empirisches und analytisches Beziehungsfeld

7

Ad 5: Politische Kultur umfasst Ordnungsvorstellungen, die die politischen Institutionen legitimieren und Orientierungen politischen Handelns sinnhaft begründen (Stachura 2005: 88). Dass Politische Kultur eine vermittelnde Instanz zwischen Individuum und politischen Institutionen bildet (Westle 2009: 13), macht sich die vorliegende Studie als theoretischen Ansatz zu Nutze. Der theoretische Ansatz wird für eine Begründung des Individuums geöffnet, weil politisch-rechtliche Realität durch als sinnvoll und legitim erscheinende politisch-kulturelle Vorstellungen konstituiert wird, die eine individuelle Entsprechung haben. Politische Ordnungen, deren Geltungswillen auf die Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen ausgerichtet ist, werden auf dem Wege der Zuschreibung von Legitimität durch die Bürgerinnen hergestellt (Brodocz 2015: 24; Martinsen 2015a: 14). Bei der Bildung politischer Ordnungen handelt sich zwar um einen kollektiven Aneignungsprozess, bedarf aber des Individuums, das Merkmal des Kollektivs ist. Wie auch Subjekt und Objekt sind Individuum und Kollektiv aufeinander bezogen, „sie müssen also gleichursprünglich sein […]“ (Egner 2008: 13). Die Gleichursprünglichkeit von Individuum und Kollektiv ist im menschlichen Handeln begründet, was auf die Fundierung der Politischen Kultur durch Grundprämissen der Handlungstheorie im Sinne Webers und der Phänomenologie von Husserl beziehungsweise Schütz‘ Umformulierung der Weberschen Handlungstheorie durch Husserls Phänomenologie verweist (Egner 2008; Husserl 1992; Weber 1972; Schütz 1974; Schwelling 2001)16. Menschliche Handlungen oder anders bezeichnet: ›Akte‹, lassen sich sowohl Individuen als auch Kollektiven zurechnen, durch die politische Welt im Individualbewusstsein respektive Kollektivbewusstsein17 konstituiert wird (Egner 2008: 12–13).

16Beide Theorien beziehungsweise Begriffe der Theorien können aus Perspektive der vorliegenden Arbeit synkretisch aufeinander bezogen werden. 17Im Sinne Durkheims, der dieses als kollektive Vorstellungen konkretisiert (Durkheim 1999[1893]).

8

1 Einleitung

ORDNUNG Orientierung des Handelns an einer legitimen Ordnung

INDIVIDUUM Konstituierung von Ordnung im Individualbewusstsein durch mentale Akte

KOLLEKTIV Konstituierung politischer Wirklichkeit durch kollektive Akte

Abbildung 1.1   Zusammenhang von Individuum, Kollektiv und Ordnung

Alltägliche Wahrnehmung ist nach Martinsen durch einen grundsätzlichen Bezug auf Ordnung strukturiert: Im Alltagsleben […] versuchen wir durch Ordnungsvorstellungen Orientierungsmöglichkeiten und Planbarkeit für die Lebensführung beziehungsweise für das Denken von Gesellschaft zu etablieren, indem wir den einmaligen prozessualen Strom der Ereignisse zerstückeln und die so entstandenen Teile Kategorien zuordnen […]. Erst so wird Ordnungs- und Sinnbildung im (wissenschaftlichen) Umgang mit Welt ermöglicht. (Martinsen 2015a: 9)

Wie in Abbildung 1.1 dargestellt, baut sich Realität nicht aus „brute facts“ auf, entscheidend für die Situationsbestimmung sind intentionale kategoriale Wahrnehmungsakte als mentale Handlungen18, durch die Ordnung im Prozess der Bewusstseinsbildung erzeugt wird. Die Konstituierung von Ordnungen im menschlichen Bewusstsein durch mentale Akte ist gleichursprünglich mit

18Die

Außenwelt ist dem Subjekt nicht unmittelbar anschaulich gegeben, der Kontakt zur Wirklichkeit ist ein indirekter. Er erfolgt über die Wahrnehmung und das Bewusstsein als Interpretament (Neuweg 1999: 145–151). Die vorgefundene Welt gehört zu unserer

1.2  Empirisches und analytisches Beziehungsfeld

9

kollektiven Akten, durch die politische Ordnungen gebildet werden (Egner 2008: 13). Durch die Orientierung des Handelns an einer Ordnung wird diese hergestellt und zwar in der Art und Weise, wie wir Ordnung legitim vorstellen (Brodocz 2015: 23; Fuchs-Heinritz et al. 2011: 472). Erst durch kollektive Akte wird politische Wirkung entfaltet, jedoch ohne den Bezug zu ihrem Ursprung in der individuellen Wahrnehmung zu verlieren. Der Dualismus von individualistisch und kollektivistisch wird in diesem Sinne hinterfragt. Dass sich von politischen Akten, die kollektiv sind, in jedem von uns etwas wiederfindet, ist empirischer Ausgangspunkt dieser Studie. Der Anspruch des zu Grunde gelegten sozialwissenschaftlichen theoretischen Ansatzes ist es, menschliches mentales Handeln zu verstehen. Entgegen individualistischer Reduktionismen innerhalb sozialwissenschaftlicher Theorien, in denen die Kategorien ›Mensch‹ und ›Individuum‹ „[…] häufig als eine Art »black box« zur Ablagerung von Vorurteilen im Sinne der Verwendung eines unhinterfragten Sets von Begrifflichkeiten“ (Martinsen 2004: 43) fungieren, wird die Bedeutung des Subjektiven betont; mit subjektiver Wahrnehmung lässt sich zwar keine politische Ordnung bilden, aber wie zuvor dargelegt, ist sie mit einer solchen verbunden. Dass es sich nicht um einen normativen Individualismus handelt, verdeutlicht der Fragesinn der vorliegenden Arbeit, subjektive Konstitutionspraxen als Strukturprinzip politisch-rechtlicher Realität zu verstehen und daraus fachdidaktische Ansatzpunkte zu entwickeln19. Partetzke formuliert als zentrale Anforderung an die Didaktik der politischen Bildung die Entwicklung von LehrLern-Strategien, „[…] die […] einen jeweils spezifischen, interpretativen und

phänomenalen, also anschaulich-erlebten, Wirklichkeit. „Das Objekt, wie ich es sehe, ist die Bedeutung, die ich den Reaktionen gebe, die das Objekt in meinem Körper hervorruft“ (Polanyi 1968, zit. nach: Neuweg 1999: 153). Die Objektseite wird mit dem subjektiven Aspekt des Erkennens verschränkt. Es handelt sich also nicht um einen passiven Vorgang des Sich-Verhaltens, sondern um einen ­ Wahrnehmungs-Akt des Mustererkennens. Das Wesen eines Gegenstandes ist nur aufzuschließen über eine Kette konkreter Erfahrungen mit Aspekten der Realität, Wahrnehmung ist also in einzelnen Anschauungsakten fundiert. Das Subjekt wiederholt aktiv und explorativ zunehmend adäquatere Wirklichkeitsgestalten (Neuweg 1999: 145–149). Wahrnehmung stellt die reduzierteste Form mentaler Akte dar, deren Strukturmerkmale sich auf allen Ebenen menschlicher Tätigkeit wiederfinden. Mentale Akte sind in ihrer Qualität veränderbar, das politische Wahrnehmen-Können kann als Expertise erlernt werden. 19Ausgehend vom Erleben des Einzelnen, stellt die subjekthafte Intentionalität die Möglichkeit für das Soziale dar, das sich durch Intersubjektivität ausbildet (Knoblauch 2008: 68). Ins Bewusstsein eingeschlossen ist also ein Alter Ego und damit die These der Reziprozität der Perspektiven (Hitzler 1987).

10

1 Einleitung

verständnisintensiven Einblick in diese ›Realität‹ gewährleisten müssen […]“ (Partetzke 2016: 13–14; Hervor. im Original aufgehoben). Als ergänzende fachdidaktische Perspektive wird vorgeschlagen, dass Lehr-Lern-Strategien entwickelt werden, die auf der Grundlage geschärfter Wahrnehmung einen Einblick in die Konstitutionsregeln und -elemente dieser Realität gewährleisten müssen.

1.3 Ziel, Forschungsgegenstand und Fragestellung Ziel der Studie ist es, individuelle Wahrnehmung und die darin konturierten Beziehungen zur politischen und rechtlichen Ordnung qualitativ zu erfassen und aus fachdidaktischer Bildungsperspektive inhaltlich zu beschreiben. Die Fähigkeit, zwischen dem individuellen Selbst und der gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Ordnung eine Verknüpfung herzustellen, hat rechtliche Freiheit; die „[…] Vorstellungen davon, was für das Individuum das Gute ist, enthalten zugleich Anweisungen für die Einrichtung einer legitimen Gesellschaftsordnung“ (Honneth 2011: 36). Rechtliche Freiheit kann als Mittler zwischen Individuum und Kollektiv verstanden werden, weil in ihr sowohl gesellschaftliche Deutungsmuster als auch individuelle Sinngebungspraktiken eingeschrieben sind (Lange 2011a: 130). Rechtliche Freiheit20 wird in der vorliegenden Studie verstanden als ein normatives Gut, das eine institutionelle, subjektive und kollektive Dimension umfasst. Durch die institutionelle Absicherung von Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz (=Rechtsstaatlichkeit) ermöglicht rechtliche Freiheit subjektiv, sich aus der kommunikativen Praxis von Rechtfertigungsbitten, -forderungen und -verpflichtungen zurückzuziehen (=Privatautonomie beziehungsweise subjektive Rechte), die eigene Wahrnehmung und das eigene Handeln zu evaluieren und dadurch „[…] seine eigene Vorstellung des Guten zu erkunden […]“ (Honneth 2011: 132). Sie ist zugleich Teil diskursiver Praktik, da Forderungen nach Rechtfertigung im Namen des Rechts von der und an die Gesellschaft herangetragen werden. Als kollektives oder soziales Faktum (Somek 2008: 436) wird rechtliche Freiheit nur dann existent, wenn es als rechtliche Freiheit gewusst und diskutiert wird (=Willensbildung). Es kann dann institutionell wiederrum eine Anpassung an artikulierte Ansprüche und zivilgesellschaftliche Partizipation an Rechtsprozesse erfolgen. 20Der

Begriff ‚rechtliche Freiheit‘ wird innerhalb des Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ als ein Grundwert beziehungsweise Ziel von Staatlichkeit formuliert (SFB 2009); zu philosophischen Auseinandersetzungen mit rechtlicher Freiheit vgl. vor allem Fichte 1971; Honneth 2017; Kant; 1985.

1.3  Ziel, Forschungsgegenstand und Fragestellung

11

In Situationen gesellschaftlichen und politischen Wandels wird rechtliche Freiheit als kollektive Sinnbildungsform für Wissenschaften beobachtbar, weil im Diskurs tradierte Muster erneuert werden. Die Sozialwissenschaften beobachten die Politisierung der Gesellschaft, die vermehrt Ansprüche an Recht und Politik stellt. Die Ordnung von Recht und Politik wird nicht dem Nationalstaat überlassen. Hinweise darauf finden Zürn und seine Mitautorinnen in der zunehmenden gesellschaftlichen Wahrnehmung der Relevanz von trans-, supraund internationalen Institutionen, deren Eingriffstiefe und Bedeutung wächst (Zürn et al. 2007: 129). In der Deutungskultur und in den Sozialwissenschaften zerfasern etatistische Denkweisen, es werden universalistische und dezentrale Deutungen etabliert, in denen das Verhältnis von Politik und Recht, von Rechtsnormen und demokratischer Willensbildung neu geordnet werden. Unklar ist, wie sich rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildungsform und in ihrem Bezug auf die Kategorien Recht und Politik darstellt. Hinweise darauf, dass entgegen der Wahrnehmung der Relevanz trans-, supra- und internationaler Institutionen sich Ansprüche an Nationalstaaten als Gewährleistende von Recht richten, finden sich in der Literatur (Klee et al. 2011; Lemme/Neuhof 2015). Aus politikdidaktischem Blickwinkel ist damit eine Grundfrage berührt, die den Gegenstand politischer Bildung und dessen Erkenntnisweisen betrifft. Rechtliche Freiheit lebt als eine kollektive und subjektive Sinnbildungsform aus der Praxis sowohl einer Deutungskultur als auch Soziokultur. Wichtig sind Erkenntnisse darüber, inwieweit gesellschaftliche Gruppen beziehungsweise trans-, supra- und internationale Akteure in der subjektiven Wahrnehmung „[…] zu zentralen Bestandteilen einer normativ gehaltvollen politischen [und rechtlichen, d. Verf.] Ordnung jenseits des Nationalstaates aufgewertet werden“ (Zürn et al. 2007: 139). Aus politischer Bildungsperspektive geht es darum, Politik und Recht aufeinander zu beziehen und bei den Lernenden die Fähigkeit zu entwickeln, Veränderungen wahrzunehmen, um die richtigen, guten, legitimen politisch-rechtlichen Ordnungen jenseits des Nationalstaats beurteilen zu können. Thema der Studie ist die Wahrnehmung von Schülerinnen von rechtlicher Freiheit und der darin konturierten Beziehungen zur politischen und rechtlichen Ordnung vor dem Hintergrund von Wandlungsprozessen. Was sollte rechtliche Freiheit sein? Wie kann sie unter den Bedingungen von Vielheit sichergestellt werden? In welcher Ordnung kann sie verwirklicht werden? Zur qualitativen Erfassung des Verhältnisses von individueller Wahrnehmung und Ordnung wird nicht der häufig innerhalb der Fachdidaktik beziehungsweise sozialwissenschaftlichen Lehr-Lernforschung anzutreffende Weg über die Erfassung alltäglicher Vorstellungen von Politik (vgl. u. a. Lange 2007) aus (sozial) konstruktivistischer Perspektive gegangen; Politik ist in dieser Hinsicht dann

12

1 Einleitung

Inhalt dieser Vorstellung. Empirische Herangehensweise der vorliegenden Studie ist es, Konstitutionen von politisch-rechtlicher Realität zu erfassen. Empirischer Gegenstand sind Wahrnehmungen in ihrem Bezug auf das Produkt beziehungsweise den Inhalt: Nicht nur ›was‹ wird wahrgenommen, sondern ›wie‹ wird es wahrgenommen. Das Erkenntnisinteresse im Hinblick auf die Zielperspektive richtet sich nicht auf eine substanziell umschriebene Vorstellung von „richtigem“ Verhältnis, sondern (1) auf die tatsächliche Wahrnehmung rechtlicher Freiheit durch Schülerinnen als Lernendenvoraussetzung und (2) auf das Wahrnehmen-Können als Bildungsperspektive, das sich als Qualität in Interpretationsprozessen entwickelt. Hierzu werden zwei Strategien verfolgt, die forschungspraktische und didaktische Implikationen ausweisen. Es wird das Prinzip der Sozialwissenschaftlichkeit verfolgt. Individuelle Wahrnehmungsprozesse entstehen und zeigen sich in der Konfrontation mit kollektiv-politischen Deutungen. Sozialwissenschaften erfassen kollektiv-politische Deutungen, sie tragen aber auch selbst zum Entstehen von Deutungen bei21. In beiden Fällen sind dabei Wandlungsprozesse von Bedeutung; zum einen werden hier tradierte Deutungen uminterpretiert. In diesen Interpretationsprozessen verlieren Deutungen ihren latenten Charakter und werden für die wissenschaftliche Beobachtung geöffnet (Stachura 2005: 78). Zum zweiten trägt die Wissenschaft durch Ordnungsvorstellungen zur Orientierung bei; den Sozialwissenschaften kommt in diesem Sinne ein „profilbildender Ordnungsimpuls“ (Martinsen 2015a: 11) zu. Eine Auseinandersetzung mit zentralen sozialwissenschaftlichen Begriffen der Welterschließung vor dem Hintergrund von Wandlungsprozessen ist forschungspraktische und didaktische Implikation. Es wird das Prinzip der Kategorialität verfolgt. Subjektive Wahrnehmung ist nur im Zusammenhang mit Objekten zu verstehen, auf die sie sich beziehen. Die Welt, wie wir sie erleben oder anschauen, denken und ordnen ist abhängig von eben diesen Formen des Anschauens, Denkens und Ordnens (Egner 2008: 22), also von kategorialen Wahrnehmungsprozessen. Eine

21In

einem engen Sinne ist politische Kultur aus Perspektive politischer Kulturforschung Forschungsgegenstand, Wissenschaft ist dementsprechend nicht Teil derselben. Auf dieser Ebene verfolgen Sozialwissenschaften den gesellschaftlichen und öffentlichen Diskurs, weil ­ kollektiv-politische Deutungen hier ihren latenten Charakter verlieren. Dadurch, dass sie Teil des gesellschaftlichen Diskurses sind, werden sie geöffnet für wissenschaftliche Beobachtung. Versteht man politische Kultur in einem weiteren Sinn nicht nur als Forschungsperspektive, sondern als tatsächlichen kollektiven Prozess, dann sind auch Wissenschaften Teil dieses Prozesses, machen mit ihren Deutungen Sinnangebote und sind Element der Deutungskultur.

1.3  Ziel, Forschungsgegenstand und Fragestellung

13

­ useinandersetzung mit Kategorien, Kategorisierungen und kategorialer Bildung A ist forschungspraktische und didaktische Implikation. In der folgenden Untersuchung sind die Fragestellungen22 leitend: • Wie nehmen Schülerinnen rechtliche Freiheit wahr? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen Politik und Recht? • Welche Perspektiven ergeben sich daraus für eine kategoriale Bildung? Im Mittelpunkt der Studie steht: • Das Explizieren sozialwissenschaftlicher Sinnangebote. • Die Bildung eines Verstehensrahmens, der kategoriale Wahrnehmung in der politischen Bildung herleitet und begründet. • Die Entwicklung von Forschungsmethoden, die die kategoriale Wahrnehmung von rechtlicher Freiheit erfassen können. • Die Formulierung von Lehr-Lern-Strategien einer am Wahrnehmen-Können orientierten Politikdidaktik. Die leitenden Fragestellungen gründen in den Vorannahmen, dass • rechtliche Freiheit ein inhaltliches Konzept kategorialer Bildung darstellt. • sich in Interpretationsprozessen rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildungsform beobachten, verstehen und lernen lässt. • sich der sozialwissenschaftliche Diskurs um den Wandel von rechtlicher Freiheit als Interpretationsanlass eignet. • Erkenntnisse an den Schnittstellen von politischer Bildung und politischer Kultur, politischer Bildung und Wahrnehmungstheorie sowie politischer Bildung und Sozialwissenschaften gewonnen werden. Die zu Grunde gelegten Fragestellungen schließen sich an die seit Anfang der 1980er Jahre entstandene politikdidaktische Lehr-Lernforschung an, die sich mit Bedingungen tatsächlichen Politikunterrichts auseinandersetzt und Vorstellungen, Einstellungen, Denkweisen und Interessen von Lehrerinnen und Schülerinnen untersucht (Klee 2008: 15–16). Das Erkenntnisinteresse an ­Wahrnehmung bestimmt die Auswahl des methodischen Instrumentariums und kann als wissenschaftstheoretische Grundlegung der Forschungsmethoden in

22Die

Fragestellungen erfahren im empirischen Teil eine Ausdifferenzierung.

14

1 Einleitung

der empirischen Studie ausformuliert werden. Wahrnehmungsprozesse sind als Tiefenstrukturen nicht direkt beobachtbar und müssen in ihrer Weite und Qualität verstanden sowie in ihrer Standortgebundenheit und Aspekthaftigkeit interpretiert werden, was die Entscheidung für qualitative Sozialforschung bedingt. Der nach wie vor bestehenden Kritik an qualitativer Forschung wird in ihrer Argumentation nicht gefolgt, auch wenn sie positiv formuliert als durchgängige Kontrolle wissenschaftlicher Güte im Forschungsprozess mitgedacht wird23. Die Entscheidung für qualitative Sozialforschung in der vorliegenden Untersuchung ist primär in einer nicht-immanenten Kritik an quantifizierend verfahrender Sozialforschung begründet. Mit qualitativer Forschung sind andere wissenschaftstheoretische Paradigmen verbunden, die für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung angemessener erscheinen. Qualitative Sozialforschung ermöglicht in der Untersuchung Analyse- und Verstehensleistungen hinsichtlich des Gegenstands, also der in sozialen Kontexten lebenden und handelnden Jugendlichen24. Untersuchungsgruppe sind Schülerinnen der Klassen 11 und 12 im Alter von 15–18 Jahren an zwei Bremer Gymnasien. Durch die Adaption qualitativer Erhebungsmethoden (Aufgaben beziehungsweise Schülerinnenprodukte) und Auswertungsformen (kategorienbasierte Textanalyse) werden Wahrnehmungen von rechtlicher Freiheit empirisch erschlossen und aus Perspektive zweiter Ordnung25 prozessrekonstruktiv entdeckt. Die forschungspraktischen und didaktischen Implikationen können als Modellierungen eines Untersuchungskonzeptes zusammengefasst werden (Tabelle 1.1).

23Die

Betrachtung empirischer Entwicklungslinien zeigt zudem, dass ein Verständnis von qualitativen und quantifizierenden Verfahren als homogene und sich geschlossen gegenüberstehende Forschungsansätze empirische Sozialforschung nicht mehr hinreichend definiert. Dass als Aussichten aus beiderseitig bestehenden methodologischen Problembereichen die Verknüpfung der Verfahren fokussiert wird, zeigt, dass die methodologischen quantitativen und qualitativen Entwürfe sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern als sich ergänzende Alternativen in der Betrachtung von Gegenständen zu begreifen sind (Lamnek 2005: 277–278). 24Die Spanne dieser Lebensphase wird unterschiedlich gefasst. In dieser Arbeit wird an die rechtliche Definition nach deutschem Recht angeschlossen, das Jugendliche als schon 14-Jährig, aber noch nicht 18-Jährig festlegt (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). 25Die Grundlegung wissenschaftlicher Beobachtung auf Gegenstände und die Analyse von Gegenständen lässt sich der Perspektive zweiter Ordnung zuordnen, die rechtliche Freiheit aus der Sicht der Schülerinnen beschreibt.

1.3  Ziel, Forschungsgegenstand und Fragestellung

15

Tabelle 1.1   Theoretische und empirische Modellierung Rechtliche Freiheit Forschungsein- Inhaltliches stellung Konzept

Forschungsgegenstand

Verstehensrahmen Semantik zur Interpretation

Verknüpfung

individueller und von Lernendem zwischen Individuum und kollektiver Akte und Lerngegenstand Ordnung herstellen

Schnittstelle

zwischen politischer Bildung und Politischer Kultur

zwischen politischer Bildung und Wahrnehmungs-/ Handlungstheorie

der Sinnbereiche Politik und Recht

zwischen zwischen fachlichen politischer Bildung und Lehr- Disziplinen Lerntheorie

Die Studie versteht sich als ein Beitrag zu Forschungsdesideraten an verschiedenen Schnittstellen: mit der Verknüpfung von Ordnung und Individuum an der Schnittstelle von politischer Bildung und politischer Kultur, mit der Anregung einer Theoriedebatte über die didaktische Relevanz von sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen an der Schnittstelle von politischer Bildung und Sozialwissenschaften, mit der inhaltlichen beziehungsweise empirischen Fundierung kategorialer Bildung an der Schnittstelle von politischer Bildung und ­Lehr-Lerntheorie, mit der Verknüpfung von Politik und Recht an der Schnittstelle zwischen Fachdisziplinen. Für ein theoretisches Inbeziehungsetzen von Politikdidaktik und Sozialwissenschaften wird ein dringender Bedarf formuliert (Oberle/ Weißeno 2017: V). Mit dem Konzept kategorialer Bildung hingegen wird zwar an Tradition und Kontroverse in der Politikdidaktik angeknüpft, hinsichtlich einer empirischen Fundierung jedoch „nur“ an eher auf der Ebene von wissenschaftlicher Reflexion anzusiedelnder Beobachtungen26 aus den Jahren 1997 und 1999 angeschlossen. So betreibt die Studie an dieser Stelle Grundlagenforschung, die als solche für die politische Bildung zunächst wieder als Bedarf ausgewiesen und begründet werden muss. Hinsichtlich verschiedener Fachdisziplinen leistet die vorliegende Studie einen Beitrag zu einer Konzeptualisierung politisch-rechtlichen Lernens, was in der Trennung und Verknüpfung der Sinnbereiche Politik

26Gemeint

sind hier evaluierte Beobachtungen zum Einsatz beziehungsweise zur praktischen Umsetzung von Kategorien seitens der Lehrerinnen und Wirksamkeit seitens der Lernenden von Massings und Kuhns systematisierten Mikrosequenzen von Unterricht (Kuhn 1997; Massing 1999).

16

1 Einleitung

und Recht im Begriff rechtliche Freiheit offenkundig wird. Die Verschränkung von Politik und Recht ist nicht nur ein charakteristisches Merkmal moderner Gesellschaften (Becker/Zimmerling 2006), sondern sollte auch Merkmal einer modernen synoptischen Politikdidaktik sein. Politikdidaktik wird demgemäß als Integrationswissenschaft (Siedschlag et al. 2007: 11) verstanden, deren Qualität es gerade ausmacht, komplexe Forschungs- und Lehr-Lernbereiche aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und eine Synopse herzuleiten, ohne die eine wissenschaftlich sinnvolle Auseinandersetzung mit Lehr-Lernprozessen nicht auskommt. Die Studie verfolgt die Intention, strukturelle Lücken in der empirischen Fundierung politikdidaktischer Konzeptbildung zu schließen.

1.4 Aufbau der Arbeit Kapitel 2 füllt das Prinzip der Sozialwissenschaftlichkeit inhaltlich und setzt sich mit rechtlicher Freiheit als Teil des sozialwissenschaftlichen Diskurses auseinander. Themen sind sowohl Wandel, eher zu kennzeichnen als neueres Phänomen im Forschungsgebiet, als auch Recht in seinem Verhältnis zur Politik, als harter Kern ebendessen (Becker/Zimmerling 2006: 9). Der Diskurs wird nicht fachsystematisch aufbereitet, sondern es werden für sozialwissenschaftliches Denken und Beobachten zentrale Begriffe rechtlicher Freiheit (Abschnitt 2.1) und Deutungszugänge (Abschnitt 2.2) vor dem Hintergrund aktueller Problemlagen expliziert. Tradiertes sozialwissenschaftliches Sinnangebot ist das Erbringen rechtlicher Freiheit durch den Staat, wobei der Nationalstaat gleiche geschützte Freiheitsspielräume für individuelle Selbstbestimmung und kollektive Selbstverständigung sichert; Rechtsstaatlichkeit sorgt für die Konvergenz von Recht und Politik. Der Einfluss der Staatskategorie (Abschnitt 2.1.1) auf die Wahrnehmung des Politischen und Rechtlichen in den Sozialwissenschaften ist eminent (Vollrath 2003: 13). Wie dargelegt werden wird (Abschnitt 2.1.2), ist ›der Staat‹ jedoch vor dem Hintergrund von Wandlungsprozessen nicht mehr alleiniges Wahrnehmungsprimat und kann in gewisser Weise hinsichtlich der Wahrnehmung der Politisierung der Gesellschaft, die vermehrt Ansprüche an Recht und Politik stellt, als Wahrnehmungshindernis charakterisiert werden. Die Divergenz von Politik und Recht wird durch Entwicklungen von Ver- und Entrechtlichung fokussiert (Abschnitt 2.1.3) und als Entwicklungsperspektiven internationaler Rechtsstaatlichkeit (Abschnitt 2.2.1) und transnationaler Rechtsprozesse (Abschnitt 2.2.2) formuliert, die als unterschiedliche Deutungszugänge im Bereich der Menschenrechte (Abschnitt 2.2.3) konkretisiert werden. In Kapitel 2 werden also nicht theoretische Auseinandersetzungen mit Wandlungsprozessen oder rechtlicher

1.4  Aufbau der Arbeit

17

Freiheit an sich dargestellt, sondern sozialwissenschaftliche Bedeutungsherstellungen in ihrem Wahrnehmungsbezug. Hauptsächlich verwendete Literatur sind staatsbezogene Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 597 »Staatlichkeit im Wandel« (Genschel et al. 2006; Genschel/Zangl 2008; Leibfried/Zürn 2006), der unter anderem Politik- und Rechtswissenschaft sowie transnationale Theoriebausteine verbindet (Fischer-Lescano 2005; Kreide/Niederberger 2008). Über die Relevanz im Hinblick auf aktuelle Problemlagen hinaus, erfüllt die Auswahl der Literatur den Anspruch, möglichst ein breites Spektrum des sozialwissenschaftlichen Diskurses abzudecken. Weil subjektive Wahrnehmungsakte in der Konfrontation mit kollektiv-politischen Deutungen entstehen und sich zeigen, wird abschließend geschlussfolgert (Abschnitt 2.3), welche Grundbegriffe fachlicher Ordnungsbildung als Gesichtspunkte und Geltungskriterien für Deutungen und Wahrnehmungen hinsichtlich einer Didaktisierung genutzt werden können. Kapitel 3 setzt sich mit rechtlicher Freiheit als subjektiver Sinnbildungsform, die gelernt werden kann, beziehungsweise allgemeinen Annahmen über subjektive Sinnbildung auseinander: Durch politische Bildung in der Konfrontation mit kollektiven Sinnbildungen zu Recht und Politik vor dem Hintergrund von Wandel. Die aktuellen sozialwissenschaftlichen Befunde sind so bedeutsam, weil sie es ermöglichen, komplexe Lernprozesse zu induzieren. Sie verweisen auf Situationen, die Fragen und Antworten provozieren, weil gewohnte Deutungen nicht mehr als verlässliche Orientierung dienen können. Dargelegt werden in Abschnitt 3.1 Ereignisse, Entwicklungen und Wandlungsprozesse als Integrationsanlass, um Lernprozesse zu ermöglichen (Grammes 2004: 271). An diese werden in Kapitel 3.2 zentrale Annahmen und Begründungen über die gelingende Gestaltung von Interpretationsprozessen, in denen sich rechtliche Freiheit als Sinnbildungsform bildet oder verändert, angeschlossen. Kategoriale Bildung als Lehr-Lern-Strategie und kategoriales Wahrnehmen als Zielperspektive werden begründet. Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung mit Bewusstsein in der lerntheoretischen Rezeption (Neuweg 1999) als Mittler zwischen Subjekt und Objekt sowie in der politikdidaktischen Rezeption (vgl. Lange 2008) als Mittler zwischen politischer Bildung und politischer Kultur (Abschnitt 3.2.1). Argumentiert wird, dass in der politikdidaktischen Inszenierung der Entwicklung des Bewusstseins sachbedingte Lehr-Lernschwierigkeiten geschaffen werden, die mit der Frage nach der Erfahrbarkeit von Politik und Recht zusammenhängen (Abschnitt 3.2.2): Die Konfrontation mit kollektiven Sinnbildungen erfolgt häufig über schematische Darstellungen und gerade nicht über die Konfrontation mit sozialwissenschaftlichen Diskursen beziehungsweise Zeitdiagnosen. Zudem findet sich in der Politikdidaktik häufig die Entkopplung der Erkenntnisweisen von Gegenständen und gerade nicht die

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1 Einleitung

Auseinandersetzung mit fachlich-begrifflicher Ordnungsbildung. Als didaktische Entwicklungsperspektive wird ein Wahrnehmen-Können vorgeschlagen (Abschnitt 3.2.3), das als grundlegend für politisches Urteilsvermögen als domänenspezifische Erkenntnisweise dargelegt wird (Abschnitt 3.3.1) und sich in kategorial organisierten Bildungsprozessen entwickelt (Abschnitt  3.3.2). Ausgewählte und grundlegende Begriffe der Lern- und Bildungstheorie sowie Politikdidaktik bilden den Rahmen, in dem kategoriales Wahrnehmen verstanden wird (Abschnitt 3.3.3) und Annahmen über den Aufbau der politischen Welt im Bewusstsein theoretisch Grund gelegt werden (Abschnitt 3.3.4). Die verwendete Literatur geht aus politikdidaktischen und ­lehr-lerntheoretischen (wahrnehmungstheoretisch, bildungstheoretisch, philosophisch) Argumentationszusammenhängen hervor, die mit dem Ziel einer kohärenten Analytik systematisiert aufeinander bezogen werden. Während die Auseinandersetzung mit Kategorialität teilweise auf ältere Literatur rekurriert, die aufgrund ihrer Bezüge noch immer Gültigkeit besitzt, finden sich in klassischen Texten der Politikdidaktik als Wissenschaft von der politischen Bildung kaum Auseinandersetzungen mit Wandlungsprozessen. „Hier setzen erst jüngere Arbeiten an und suchen explizit nach Antworten (vgl. z. B. Reinhardt 1999 und Steffens 2007)“ (May/Schattschneider 2011: 9). In der abschließenden Schlussfolgerung werden die Begriffe fachlicher Ordnungsbildung (Kapitel 2) als sozialwissenschaftliche Konstitutionselemente und -regeln in einen Zusammenhang gebracht mit den Annahmen über individuelle Wahrnehmung (Kapitel 3); der Übergang zum empirischen Teil wird Grund gelegt. Kapitel 4 wird eingeleitet mit der Darstellung der Fragestellungen und Thesen für die empirische Studie, die aus den Forschungsständen abgeleitet werden (Abschnitt 4.1). Für das Vorhaben bedeutende Forschungsstände sind jene, die Hinweise auf Vorstellungen von Jugendlichen über rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung liefern. Diese sind als individuelle Lernvoraussetzungen von Schülerinnen zu verstehen und als solche ernst zu nehmen. Die Lernvoraussetzungen im Kontext politischer Kultur werden anhand eines Modells individueller und politischer Akte modelliert und so ein analytischer Rahmen für die Empirie entwickelt (Abschnitt 4.2). Im Hinblick auf schulische politische Bildung bedeutend in diesem paradigmatischen Zusammenhang ist die theoretische Konstruktion der Beziehungen zwischen politischer Ordnung und individueller Wahrnehmung, die Implikationen für Forschungs- und ­Lehr-Lern-Strategien politischer Bildung eröffnet. Dieses Modell plausibilisiert zugleich das qualitative und explorative Vorgehen der Arbeit, das in Kapitel 5 dargelegt wird. Methodologische Klärungen (Abschnitt 5.1), das Design der Studie als Bildungs- und Erhebungssituation (Abschnitt 5.2) sowie das Ausweisen von

1.4  Aufbau der Arbeit

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Gütekriterien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung (Abschnitt 5.3) bilden den Grund für die Umsetzung des Vorhabens eines ›Transferlabors‹. Das Design dieses experimentellen Instruments der qualitativen Sozialforschung lehnt sich an die von Steffe und D‘Ambrosio für die Domäne Mathematik entwickelten ›teaching experiments‹ an (Steffe/D‘Ambrosio 1996). Ziel ist es, Schülerinnen mit dem erklärungsbedürftigen Phänomen rechtlicher Freiheit in Materialien und Aufgabenstellungen zu konfrontieren. Insgesamt ist in der vorliegenden Studie die Intention zentral, eine Balance zwischen einer Bildungs- und Erhebungssituation herzustellen. In Kapitel 6 wird das Studiendesign mit Sampling und Umfang der Stichprobe (Abschnitt 6.1), der Forschungsethik und rechtlichen Anforderungen (Abschnitt 6.2) sowie Ablauf des Transferlabors (Abschnitt 6.3) konkretisiert. Die Methodik zur qualitativen Erfassung tatsächlicher Wahrnehmung politisch-rechtlicher Realität beziehungsweise von Fällen als Exempel einer ­ solchen durch Schülerinnen umfasst mit problemfokussierten Aufgaben und Schreibprodukten als Erhebungsinstrumente (Abschnitt  7.1), der computergestützten Aufbereitung und kategorienbasierten Inhaltsanalyse (Abschnitt 7.2) sowie anschließenden Nachbefragungen systematische und regelgeleitete Verfahren qualitativer Datenanalyse. Ausgewertet werden 47 Schreibprodukte von Schülerinnen. Die Wahrnehmung rechtlicher Freiheit kann nicht an sich erfasst werden, sondern wird ausgehend von den Gegenständen, die konstituiert werden, und anhand der Performanz der Schülerinnen rekonstruiert. Anhand der qualitativen Datenanalyse werden Wahrnehmungen rechtlicher Freiheit zweifach, in einer einfachen Analyse und in einer komplexen Zusammenhangsanalyse, interpretativ erschlossen. In Kapitel 8 wird zunächst ein beschreibender Überblick der Ergebnisse der Datenanalyse gegeben, an den sich die Ergebnispräsentation der zwei Analyseaufgaben anschließt. Ergebnisse der einfachen Analyse sind fünf analytische Themencluster (Kapitel  9), die verallgemeinern, in welcher begrifflichen Ordnung die Probanden rechtliche Freiheit durch unterschiedliche mentale Handlungen konstituieren (=kategoriale Wahrnehmung). Die Datenbasis der einfachen Analyse wird über Ausschnitte der Schülerinnenprodukte dargestellt und integriert. Ergebnisse der komplexen Analyse sind Muster von Codierungen im Material in Form von zwei qualitativ zu unterscheidenden Wahrnehmungsweisen rechtlicher Freiheit (Kapitel 10), die grundsätzlich unterschiedliche Haltungen in der Welterschließung explizieren. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und der empirische Teil der vorliegenden Arbeit mit der Beantwortung der Fragestellungen abgeschlossen. Mit der gelungenen Erfassung der Wahrnehmung rechtlicher Freiheit werden subjektbezogene

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1 Einleitung

und soziokulturelle Bedingungen politischer Bildung reflektiert und weitergehend perspektiviert (Abschnitt 11.1). Inwieweit sich der Zusammenhang von subjektiver Wahrnehmung und kollektiven beziehungsweise fachlichen Deutungen in einer politischen Bildung kohärent begründen, empirisch erfassen und als didaktische Perspektive modellieren lässt, wird abschließend bewertet (Abschnitt 11.2). Die vorliegende Arbeit fokussiert eine politikdidaktische Fragestellung, die durchgängig dargestellt und begründet wird. Bildungs- beziehungsweise Lehr-Lernprozesse werden nicht an sich untersucht, sondern die Wahrnehmung rechtlicher Freiheit ist als Lernendenvoraussetzung Ausgangs- und Zielperspektive für politische Bildungsprozesse. Im Anschluss an den empirischen Teil der vorliegenden Studie werden legitime Transferperspektiven in Form einer wechselseitigen Bezugnahme von empirischen Ergebnissen und konkreten politikdidaktischen Gestaltungsoptionen eröffnet. Die Ausgestaltung dieser Wechselbeziehung wird dreischrittig vollzogen. Zunächst erfolgt in Kapitel 12 die empirische Erweiterung bisheriger Annahmen zu kategorialer Bildung, indem an den in Kapitel 2 und 3 eröffneten Verstehensrahmen angeknüpft und dieser auf der Ebene eines Gesamtverständnisses kategorialer Wahrnehmung komplementiert wird. Es schließt sich die empirische Erweiterung bisheriger Annahmen zu Kategorisierungsprozessen und die politikdidaktische Nutzbarmachung an, indem Chancen im Umgang mit (den in dieser Studie belegten) Herausforderungen von kategorialer Wahrnehmung für politische Bildung in Kapitel 13 ausgelotet werden. Zuletzt werden in Kapitel 14 handlungsleitende Vorschläge für eine Umsetzung gemacht. Kapitel 15 diskutiert die Ergebnisse der Studie vor der Hintergrundfolie demokratietheoretischer Problemstellungen.

Teil I Theoretischer Rahmen

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Politik • Recht • Wandel

2.1 Sozialwissenschaftliche Sinnangebote Ob Deutungsuminterpretationen ins öffentliche Bewusstsein gelangen und sich in der Soziokultur wiederfinden, hängt unter anderem davon ab, inwiefern sie durch neue Begriffe, Definitionen und/oder Konzepte benennbar sind und dadurch kommunizierbar werden; durch solche ›semantic shifts‹ wird der Wahrnehmung von Veränderungsprozessen Nachdruck verliehen, Wandlungsprozesse werden „[…] durch einen sich ändernden Sprachgebrauch begleitet, beschleunigt oder in gewissem Umfang erst konstituiert […]“ (Schuppert 2010: 115). Den Sozialwissenschaften kommt in diesem Sinne ein „profilbildender Ordnungsimpuls“ (Martinsen 2015a: 11) zu. Sozialwissenschaften beobachten und erfassen politischen und gesellschaftlichen Wandel. Zugleich produzieren sie aber auch (immer beobachtungsabhängiges) Wissen, das als Sinnangebot (zum Beispiel dargestellt in medialer Form) in den Diskurs einfließt. Im Folgenden werden sozialwissenschaftliche Bedeutungsbildungen expliziert, in denen sich semantische Beibehaltungen respektive Verschiebungen in den begrifflichen Ordnungsbildungen zur Gewährleistung rechtlicher Freiheit feststellen lassen, die eine Deutungsöffnung unwahrscheinlich machen (siehe Abschnitt 2.1.1) beziehungsweise die für eine Deutungsöffnung und damit Erneuerung von Deutungsmustern notwendig sind (siehe Abschnitt 2.1.2). Problematisiert wird in didaktischer Vermittlungsabsicht der sozialwissenschaftliche Beitrag eines etatistischen Kernkonzepts für die Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit von rechtlicher Freiheit, angeschlossen wird an eine Prozessperspektive als Paradigmenwechsel, die, was noch zu zeigen sein wird, den bestehenden kulturellen Rahmen in Frage stellt.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_2

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2  Politik • Recht • Wandel

2.1.1 Staat: Formherstellung Dominante politische Ordnungsvorstellung in der westlichen Moderne ist ›Staat ‹, der Orientierung bietet. Genschel und Leibfried vermuten: Der kognitive Magnetismus […] hängt mit der Einfachheit seiner Formidee zusammen: dem Staat als territorialen Herrschaftsmonopolisten, der nur für sein Staatsgebiet zuständig ist, dort aber für alle Politik. (Genschel/Leibfried 2008: 366; Hervorh. im Original)

Es ist das Leitbild des Gewährleistungsstaats als kognitiver und normativer Orientierungspunkt, der neben rechtlicher Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung, soziale Sicherung und Ausgleich erbringt. Staat ist eine prägnante, positive sozialwissenschaftliche und kollektive Formidee (Genschel/Leibfried 2008: 366). Sowohl die Konzentration auf Staatskonstrukte, vor allem den Typus des allseits souveränen Nationalstaates, als auch die Stilisierung eines bestimmten Staatstyps, kennzeichnen Grenzen des Erkennen-Könnens von Wandlungsprozessen (Schuppert 2010). Die Neigung, das fest umrissene Konstrukt Staat, das sich leicht nachzeichnen lässt, zu fixieren und diesem den Vorrang vor Veränderungsprozessen und Konfigurationen zu geben, die unordentliche Strukturen haben, stellt Schuppert in Anlehnung an Taleb als Erkenntnishindernis dar (Schuppert 2010; Taleb 2008). Staatskonstruktionen finden sich innerhalb der Politischen Theorie, der Vergleichenden Politikwissenschaft und den Internationalen Beziehungen, in denen Staat zum Teil als selbsterklärend und „[…] lange Zeit völlig unhinterfragt vorausgesetzt [wird] als Rahmen, in dem sich normative Analyse zu bewegen hat“ (Deitelhoff/Steffek 2009: 7). In substanziellen Konzeptionen wird Staat als Einheit von Territorium, Staatsvolk und Staatsgewalt oder als Anstaltsbetrieb, der das Monopol legitimer Gewaltsamkeit für sich beansprucht, konstruiert. Es gibt „[…] bis heute kaum Versuche, eine Staatsdefinition jenseits von Jellinek oder Weber zu etablieren – und wenn doch, sind die Schatten der beiden Ahnherren deutlich zu erkennen“ (Nullmeier 2009: 36). Jenseits dieses Common Sense erschließt sich innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplinen die Bedeutung von Staat häufig über den Sinnzusammenhang seiner Verwendung (Klee et al. 2013: 106): Innerhalb der Politischen Theorie, besonders in politikwissenschaftlichen Makrotheorien und in der politischen Ideengeschichte, wird die Entstehung und Entwicklung von Staaten erklärt, ihr Wandel und ihre Modernisierung (von Alemann 1995: 81). Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Rechtfertigung und Begründung der Existenz eines Staates in Auseinandersetzung

2.1  Sozialwissenschaftliche Sinnangebote

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mit Gesellschaft. Innerhalb der vergleichenden Politikwissenschaft wird Staat als Form (Nohlen/Schultze 2005) bestimmt. Als analytisches Konzept dient der Staat hier als oberste Ordnungsgröße, in dem einzelne Teile wie Regierungsaufbau, Verfassung oder Wahlsystem betrachtet und verglichen werden (Klee et al. 2013: 107). In den Internationalen Beziehungen steht Staat als Akteur im Mittelpunkt der Betrachtungen, der auf internationaler Ebene politisch handelt (Rittberger et al. 2010: 157). Staat wird als legitimer Typus politischer Ordnung international als Kategorie etabliert. „Er ist ein Element der Menge ‚Staaten‘, jener Menge sich wechselseitig anerkennender politischer Akteure und Ordnungen“ (Nullmeier/ Nonhoff 2010: 25). In aktuellen Staatsdiskursen wird Staat als Normgarant verhandelt und über seine Funktion erklärt (Benz 2012; Genschel/Zangl 2007; Mayer/Knoblich 2011). „Ihm wird dabei eine zu erfüllende Aufgabe zugeordnet und seine Fähigkeit zur Erbringung der damit verbundenen normativen Erwartungen geprüft oder analysiert“ (Klee et al. 2013: 107). Neben der Konzentration auf Staatskonstrukte kann die Stilisierung eines bestimmten Staatstyps und anschließende Feststellung von dessen Verfall oder Niedergang ein Erkenntnishindernis darstellen (Schuppert 2010: 164). Ausgehend von dem Typ ›souveräner Nationalstaat‹ finden sich Feststellungen zu seinem Verfall oder Thesen zu seiner Ohnmacht in Geschichte und Gegenwart, wie es Benz beschreibt: Der Staat wurde von Theoretikern zu unterschiedlichen Zeiten als eine alte, zu überwindende Gestalt bezeichnet, angefangen von Hegel über Marx, Engels und Lenin bis hin zu konservativen Staatswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts […]. (Benz 2012: 224)

In den Internationalen Beziehungen wird seit Ende der 1990er Jahre im Zuge der Nebenfolgen der Globalisierung1 in Debatten die Diagnose des Bedeutungsverlustes des Nationalstaats gestellt. Nach dem Zusammenbruch der bis dahin als bipolar verstandenen Weltordnung streben in den 1990er eine Vielzahl von regional oder global agierenden governementalen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren auf das politische Parkett (Zürn 1998). Die Gesellschaftswelt wird in den Blick genommen, die zunehmend die Macht der Staatenwelt beschränkt (Czempiel 1993). Innerhalb der Theorie der Global

1Der

Begriff ›Globalisierung‹ umfasst unterschiedliche Bedeutungen, er ist sowohl politisch umkämpft als auch transdisziplinäres Konzept.

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2  Politik • Recht • Wandel

Governance2 wird diese Gesellschaftswelt analytisch und empirisch integriert und die Frage nach der Bedeutung des Staates nicht mehr nur in Bezug auf zwischenstaatliche Bereiche, sondern auch aus innerstaatlicher Perspektive gestellt (Genschel/Zangl 2008). Aus Sicht der Steuerungsdebatte gerät der Staat vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und notwendiger Steuerungsanforderungen zunehmend als „zentrale Regelsetzungs- und Gewährleistungsinstanz“ (Deitelhoff/Steffek 2009: 11) unter Druck und greift „[…] auf die Kompetenzen und Ressourcen gesellschaftlicher Akteure zurück, um seine Ziele zu erreichen und seine Handlungskapazitäten zu entlasten“ (Deitelhoff/Steffek 2009: 11). Eine effektive Problembewältigung scheint der Staat nicht mehr in Eigenleistung vollbringen zu können (Neyer 2004) und/oder zu wollen (Genschel et al. 2006). Insgesamt werden Erkenntnishindernisse geschaffen beziehungsweise nicht überwunden, wenn aus einer epochalen Kategorie eine universale Staatskategorie gemacht wird, Potenziale zur Erfassung von Wandlungstendenzen und staatlichen Veränderungen nicht offengelegt oder an tradierten Staatskonstrukten und „eingefahrenen Begriffsverständnissen“ (Nullmeier 2009: 50) festgehalten wird. Hingegen befördern eine Diagnostik der Veränderungsprozesse und ihre staatstheoretische (gesellschaftszentierte, soziologische, Akteurs zentrierte, institutionalistische) Interpretation und Erklärung eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept Staat, nicht nur als analytisch gegebene Form, sondern auch als normatives Konstrukt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Staat und eine Offenheit gegenüber neuen oder anderen Konfigurationen sind Voraussetzungen, um „[…] nicht jede grundlegende Veränderung von Nationalstaatlichkeit gleich als ›Niedergang des Staates‹ […] bezeichnen zu müssen“ (Nullmeier 2009: 51) und Wandlungsprozesse erfassen zu können. Eine Deutungsöffnung im Diskurs erfolgt, indem wissenschaftliche Denkweisen durch eine Prozessperspektivierung wieder beweglich gemacht werden.

2.1.2 Staatlichkeit: Prozessperspektivierung Vor dem Hintergrund tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche in der Spätmoderne und Ausdifferenzierungsprozessen in der Gesellschaft zeugen semantische Verschiebungen in der Staatsterminologie „[…] von einer veränderten

2Der

Begriff ›Governance‹ bezieht sich auf das Handeln von Institutionen, die nicht staatsartig organisiert sind oder staatsartig agieren (Deitelhoff/Steffek 2009: 8).

2.1  Sozialwissenschaftliche Sinnangebote

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Perzeption der Handlungsfähigkeit des Staates zu Beginn des neuen Jahrtausends“ (Martinsen 2015b: 47). Der Staat ist nicht mehr die alleinige Normgestalt, beobachtbar ist eine „Umstellung im politischen Wahrnehmungsprimat“ (Vollrath 2003: 196), die universalistische und dezentrale Deutungen von ›Staatlichkeit‹ befördert. Der Wandel von Staatlichkeit ist das politikwissenschaftliche Megathema seit dem Ende des 20. Jahrhunderts (Martinsen 2015b: 47), eine enorme Bandbreite von Wandelsemantiken (Schuppert 2008: 327) die Folge. Eine Begriffsstrategie, die Wandlungstendenzen im Staat auf europäischer und globaler Ebene (Deitelhoff/Steffek 2009: 12) zu erschließen, besteht laut Nullmeier […] in der Logik einer Betonung der funktionalen Dimension, wenn […] in ›Staatlichkeit‹ (›statehood‹) ermäßigte Formen jener kompakten Bündelung von Aufgaben, Mitteln und Verantwortlichkeiten zu erkennen suchen, die bisher als ›Staat‹ bezeichnet wurden. (Nullmeier 2009: 44)

In Anlehnung an Leibfried und Zürn kann Staatlichkeit entlang der vier Dimensionen Ressourcen, Recht, Legitimation und Intervention und der darin zu erbringenden normativen Güter soziale Sicherung und Ausgleich, ­rechtliche Gleichheit und Freiheit, demokratischer Selbstbestimmung und Sicherheit, sowie durch die Betrachtung zweier Entwicklungsebenen moderner Staatlichkeit betrachtet werden (Leibfried/Zürn 2006). Der Wandel von Staatlichkeit wird als graduelle Verschiebung entlang einer räumlichen Achse, auf der Verlagerungen von Staatlichkeit zwischen nationalstaatlichen und internationalen Institutionen untersucht, und einer modalen Achse, auf der Verlagerungen zwischen staatlichen und privaten Institutionen analysiert werden (Genschel et al. 2006: 4–5; Zürn et al. 2004: 6–8). Die Differenzierung von Staat und Staatlichkeit ermöglicht die Grundlegung einer Prozessperspektive, die die Veränderungen anhand von Akteurskonstellationen, institutionellen Arrangements und Grenzverschiebungen sowie Legitimationskonzepten betrachtet (Schuppert 2010: 162). Akteurskonstellationen Durch die Erschließung des Wandels von Staatlichkeit kann eine Vielfalt an inter- und supranationalen sowie gesellschaftlichen Staatlichkeitsproduzenten beziehungsweise Akteurskonstellationen, die sich neu bilden oder wandeln, herausgestellt werden. Die Akteure sind multinationale Unternehmen, transnationale Nichtregierungsorganisationen, private Schiedsgerichte und transnationale Protestbewegungen, die ›global public networks‹ bilden und an einer Form der politischen Steuerung jenseits des Nationalstaats mitwirken (Zürn 1998, 2007). Interdependenz zwischen Staaten, Pluralisierung von Nationen

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2  Politik • Recht • Wandel

und funktionale Arbeitsteilung sowie Machtverflechtung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren (Benz 2012: 243) prägen eine multipolare Weltordnung (Czempiel 1993; Czempiel/Rosenau 2000). Der Staat bleibt zentraler Bestandteil der „varieties and configurations of statehood“ (Zürcher 2005), jedoch hat sich seine Rolle gewandelt. Er ist eingebunden in ein Geflecht paralleler teils konkurrierender und teils komplementärer n­icht-staatlicher Strukturen, die Entscheidungs- und Organisationsverantwortung bei der Erbringung normativer Güter übernehmen (Genschel et al. 2006; Leibfried/Zürn 2006), wie es auch Hurrelmann und seine Mitautorinnen beschreiben: Due to the internationalization and privatization of decision-making compencies, and to the increasing pressure from financal and business interests, nation states now find themselves tied into a web of multiple and interconnected centres and layers of political authority. (Hurrelmann et al. 2007: 1)

Während dem Staat die Letztverantwortung zukommt, werden die Organisationskompetenz besonders durch Privatisierung und die Entscheidungskompetenz in erster Linie durch Internationalisierung beschränkt (Genschel/Zangl 2007: 10–13). Institutionelle Arrangements Weil Transformation und Pluralität von Organisationsprinzipien, Akteuren und Prozessformen keinem kohärenten Standard folgen und zwischen den Dimensionen Ressourcen, Recht, Legitimation und Intervention stark variieren, kann insgesamt von einer Situation wachsender Komplexität politischer Herrschaft und struktureller Unsicherheit (Genschel et al. 2006; Leibfried/Zürn 2006) gesprochen werden, in der Grenzen zwischen privat und öffentlich verwischen sowie Territorialstaat beziehungsweise ›Raum‹ als Ordnungsprinzip erodiert (Eis 2011: 144–146). Beobachtbare Prozesse des Wandels von Staatlichkeit vollziehen sich vor allem als Prozesse von Entgrenzungen und Grenzverwischungen, bisherige Grenzziehungen (national/international, öffentlich/privat, innen/außen usw.) lösen sich auf (Schuppert 2010: 162). Legitimationskonzepte Es stellt sich die Frage, was die nicht-staatlichen Ko-Produzenten von Staatlichkeit legitimiert (Schuppert 2010: 160) beziehungsweise welche legitimatorischen Anforderungen sich an neue Governanceformen formulieren (Schuppert 2010: 162) sowie Elemente demokratischer Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit sich dem nationalstaatlichen Entstehungskontext entnehmen lassen

2.1  Sozialwissenschaftliche Sinnangebote

29

(Deitelhoff/Steffek 2009: 19). Neben dem in Frage stellen einer demokratischen Legitimierung internationalen Regierens (Kielmannsegg 1994), wird in verschiedenen Ansätzen eine Globalisierung und Denationalisierung von Demokratie fokussiert, indem globale institutionelle Strukturen aufgebaut (kosmopolitische Demokratietheorie) oder zumindest einzelne Regulierungsarrangements durch Anforderungen von Zurechenbarkeit, Responsivität und Partizipation demokratisiert (deliberative Demokratietheorie) werden (Deitelhoff/Steffek 2009: 16–18). Mit der Begriffsverwendung Staatlichkeit wird eine Prozessperspektive etabliert, mit der sich die als ›postnational‹ zu beschreibenden Konstellation (Habermas 1998; Zürn et al. 2007) und Regieren „jenseits des Nationalstaats“ (Zürn 1998) erfassen sowie durch Akteure, Institutionen und Legitimationen dimensionieren lassen. Der Prozess der Ordnungsbildung kann vor dem Hintergrund dieses Begriffsverständnisses als Kampf um die Erbringung von Schlüsselmonopolen verstanden und beschrieben werden (Schuppert 2008: 334). Ob Sicherheit, rechtliche Gleichheit und Freiheit, demokratische Selbstbestimmung sowie soziale Sicherung und Ausgleich als normative Güter beziehungsweise Grundwerte moderner Gesellschaften in diesen Konfigurationen sichergestellt werden können, ist eine offene Frage. Normative Güter sind zugleich als funktionale Güter zu verstehen, da ein dauerhaftes Nichterreichen den Status quo in Frage stellt (SFB 2009). In dem Maße, wie institutionelle Komponenten des Nationalstaats Veränderungen ausgesetzt sind beziehungsweise institutionelle Arrangements und Regelungsstrukturen sich wandeln oder neu entstehen, gerät auch die staatlich gestützte Sicherung von Frieden, Rechtssicherheit, Demokratie und sozialer Wohlfahrt unter Druck (Leibfried/Zürn 2006). Die normative Diskussion politischer und rechtlicher Strukturen, die sich lange Zeit auf Fragen der Stabilität, Gerechtigkeit und Demokratie innerhalb einzelner Staaten konzentriert hat (Kreide/Niederberger 2008: 15), formuliert vor dem Hintergrund von Demokratiedefizit und Legitimationserosion Verrechtlichung, Demokratisierung und Konstitutionalisierung internationaler Beziehungen als normativ wünschenswerte Entwicklungen, ohne die es keine legitimen politischen Verhältnisse jenseits der Einzelstaaten geben kann (Kreide/Niederberger 2008: 16). Zugrunde liegt hier die Annahme in der Governance-Forschung und politischen Theorie sowie in rechtswissenschaft­ lichen Ansätzen, „[…] dass sich bestimmte Elemente moderner Staatlichkeit im internationalen, wenn nicht gar globalen Maßstab reproduzieren lassen, dass also Recht und Demokratie auch ohne das Gesamtpaket Staat zu haben seien“ (Deitelhoff/Steffek 2009: 9–10). Während mit den noch zu klärenden Begriffen Demokratisierung, Verrechtlichung und Konstitutionalisierung Optimismus

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2  Politik • Recht • Wandel

analytisch Ausdruck verliehen wird, werden empirische gegenläufige Entwicklungen mit den Begriffen Entrechtlichung, Entformalisierung und Fragmentierung in den Blick genommen. Gemeinsam ist in beiden Analytiken die Verschränkung von zwei Perspektiven: Politik und Recht. Die disziplinären Perspektiven werden überwunden, die Aufhebung verwandelt den Dualismus von Politik und Recht in ein Beziehungsfeld, das gegenläufige Tendenzen von Ver- und Entrechtlichung, Demokratisierung und Entformalisierung, Konstitutionalisierung und Fragmentierung umfassen kann (Brunkhorst 2008: 47), die die Verhältnisse von Recht und globaler Politik (Oeter 2008: 90) kennzeichnen. Die Beziehungsfelder Politik und Recht weisen sowohl über nationalstaatliche Grenzen als auch über Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinaus.

2.1.3 Recht und Politik: Beziehungsfelder Nach Becker und Zimmerling ist die Verschränkung von Politik und Recht3 ein charakteristisches Merkmal moderner Gesellschaften, weshalb deren Verhältnis zentraler Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung ist (Becker/Zimmerling 2006). In der klassischen Theoriedebatte staatstheoretischer Erörterungen beziehungsweise rechtlicher und politikwissenschaftlicher Grundlagenarbeiten wird das Verhältnis von Recht und Politik je nach Paradigma (staatszentriert, rechtszentriert, politisch) unterschiedlich konstruiert, dementsprechend kommt der Politik beziehungsweise dem Staat (staatszentriertes Paradigma) das Primat zu, respektive dem Recht (rechtszentriertes Paradigma), oder aber Politik und Recht bilden keine entgegengesetzte Pole, sondern ein Kontinuum (politisches Paradigma) (Martinsen 2015b: 50–51) von Normenvollzug, Veränderung, Interpretation und Konkretisierung (Brunkhorst 2008: 47). Paradigmatisch für eine jeweilige konträre Primatisierung ist die Debatte zwischen Hans Kelsen als

3Traditionell

besteht eine Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen: Gegenstand der Politikwissenschaft ist der ›Staat in Aktion‹, also die Auseinandersetzung mit staatlichem Handeln, politischen Prozessen, Gestaltungsfragen in dem rechtlich gewährten Ermessensund Handlungsspielraum. Gegenstand der Rechtswissenschaft ist die rechtlich-normative Verfassung, geltendes Staatsrecht, die rechtliche Ordnung, also insgesamt der „Staat in ruhendem Zustand“ (Becker/Zimmerling 2006: 12). Heute findet sich der Gegenstand Recht im politikwissenschaftlichen Curriculum wieder, vor allem in den Teilbereichen Politische Theorie und Ideengeschichte, Regierungssystem und Innenpolitik der BRD, der Vergleichenden Politikwissenschaft und der Internationalen Politik (Becker/Zimmerling 2006: 15–19).

2.1  Sozialwissenschaftliche Sinnangebote

31

­ ertreter des staatsrechtlichen Positivismus, der den wissenschaftlichen Anspruch V Recht und Politik auseinander zu halten verteidigte (Kelsen 2008[1934]), und Carl Schmitt, der ein politisches Recht verteidigte (Schmitt 2015[1932]). Deutungsversuche jenseits einseitiger Perspektivierungen konstruieren das Verhältnis von Politik und Recht in interdisziplinären Ansätzen aktuell differenzierter. Mit den Begriffen ›Verrechtlichung‹ und ›Konstitutionalisierung‹ werden Entwicklungstendenzen in Politik und Recht im Kontext von Staatswandel beschrieben; während mit Verrechtlichung die Entstehung von staatlich eingerichteten Rechtsregimen bezeichnet werden (Buckel/Fischer-Lescano 2008: 114), umfasst Konstitutionalisierung die „[…] Ausbildung einer normativen Vorrangordnung mit übergeordneten Prinzipien und herrschaftslegitimierenden Elementen […]“ (Knauff 2008: 455). Verrechtlichung internationaler Beziehungen Die Bedeutung des Rechts für die internationale Politik ist geprägt von der Lehre der Internationalen Beziehungen. Aus Sicht des Institutionalismus4 ist Verrechtlichung zum wichtigsten Modus der Interaktion und Koordination in den internationalen Beziehungen geworden (Abbott et al. 2000, zit. nach: Oeter 2008: 90). In einer allgemeinen Definition wird mit Verrechtlichung5 der Prozess der Unterwerfung internationaler Kooperation unter rechtsstaatliche Prinzipien bezeichnet, „wenngleich sich bislang keine einheitliche internationale Rechtsordnung im Rahmen eines Weltstaates herausgebildet hat, finden sich jedoch Ansätze zu Rechtsstaatlichkeit“ (Abendschein-Angerstein 2015: 10). So haben sich Rechtsnormen nicht nur fortschreitend verbreitet, sondern es ist auch eine neue Rechtsqualität entstanden (Zangl/Zürn 2004a). Deitelhoff und Steffek fassen zusammen: Insgesamt lässt sich konstatieren, dass international gesetzte Normen und Regeln immer tiefer in die nach wie vor national verfassten Gesellschaften hineinregieren, während sich gleichzeitig die Subjekte des Regierens und des Rechts zunehmend grenzüberschreitend bewegen. (Deitelhoff/Steffek 2009: 7)

4Es

existieren verschiedene Institutionalismen, die sich in ihren Konzeptionen teils sehr unterscheiden (Schieder 2017: 205–206). „Der“ Institutionalismus wird an dieser Stelle beschrieben in seinem Gegensatz zum Realismus und Idealismus. 5Zur Kritik an dem Begriff Verrechtlichung bzw. der wissenschaftlichen Begriffsverwendung siehe Fischer-Lescano und Liste (2005), Koskenniemi (2000: 30), Teubner (1984: 290). Zur kritischen Analyse bestehender Verrechtlichungsprozesse siehe Kreide (2008).

32

2  Politik • Recht • Wandel

Dabei gibt es Argumente für eine Politisierung von Recht respektive Verrechtlichung der Politik (Niederberger 2007: 143). In der Deutung einer Verrechtlichung von Politik werden mit der Steuerungsressource Recht gesellschaftliche Verhältnisse durch Recht gestaltet (Becker/Zimmerling 2006), gerade „in Zeiten schwacher Staatlichkeit bleibt das Recht ein wichtiges Instrument, die Ökonomisierung und Vermachtung unserer Lebensverhältnisse einzuhegen“ (Kreide/Niederberger 2008: 26–27). Zentrale Fragen der zwischenstaatlichen Beziehungen unterliegen so nicht mehr der rein politischen Entscheidungsfindung, sondern sind der Bindung an völkerrechtliche Normen unterworfen (Oeter 2008: 90). Aus Perspektive von Juristen gewinnt globale Politik mit Verrechtlichung an Rationalität, wird in Maßen berechenbar (Oeter 2008: 90). Nach Maus kann die Wirksamkeit von Recht durch den Bezug auf Gerechtigkeitsprinzipien (Menschenrechte) und die Ausweitung des Regelungsbereiches auf Friedenssicherung durch Demokratieförderung erhöht werden (Maus 2002: 243). Es kann so ein Beitrag zu einer Verrechtlichung und Demokratisierung von Politik geleistet werden. In der Deutung einer Politisierung des Rechts ist die Struktur des internationalen Systems von Macht geprägt; Staaten orientieren sich neben Grundnormen an der eigenen Machterhaltung (Zürn 2007). Legion ist, dass es weitere Instanzen gibt, die legislativ und judikativ agieren. Andere Stimmen warnen dagegen, dass die These des Rechtspluralismus dazu missbraucht werden kann, das internationale Recht mit Hilfe von Kategorien und Begriffen neu zu beschreiben, die es auf etwas anderes, wie etwa Politik oder Moral, reduzieren […]. (Kreide/Niederberger 2008: 19)

Recht wird dann politisiert und normative Politik entkernt: Normative Politik wird ersetzt durch Regulierungsarbeit und der juristische Code legal/illegal abgelöst von Mechanismen der Berichterstattung, Diskussion und Überzeugungsarbeit; es geht dann nicht um Normen, sondern um strategische Handlungen (Koskenniemi 2008: 71–75). In einer solchen Entwicklung ersetzt die disziplinarische Macht die formale Souveränität, leitend sind nicht rechtliche Verantwortung und Normenkomplexe in formalen Institutionen, sondern Praktiken in bestimmten Themenbereichen und die faktische Regelbefolgung (Koskenniemi 2008: 70). Im Unterschied zu den linearen Denkweisen hinsichtlich Politik und Recht, wird in der vorliegenden Arbeit an ein dialektisches Denken von Politik und Recht angeschlossen: Einerseits geht mit Verrechtlichung Entrechtlichung durch die Ausweitung hegemonialen und demokratisch defizitären Rechts e­inher

2.1  Sozialwissenschaftliche Sinnangebote

33

(Kreide 2016: 51), andererseits gilt es auch als „Motor der Demokratisierung […] und Raum für die (Wieder-)Aneignung der Politik durch die Öffentlichkeit […]“ (Kreide/Niederberger 2008: 26). Aus sozialwissenschaftlichem Blickwinkel rücken aus dieser Dialektik Akteure in den Fokus, die mit der Rechtsetzung und -anwendung betraut werden, es interessieren Macht- und Legitimitätsfragen (Becker/Zimmerling 2006). Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen internationales Recht und entsprechende institutionelle Implementierungen rechtliche Freiheit sicherstellen und welche Bedeutung der institutionellen Kompetenz des Staates beziehungsweise Struktur- und Funktionsäquivalenzen dabei zukommen; es stellt sich die Frage nach internationaler Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise einer international zu deutenden Rechtsstaatlichkeit in seiner Bedeutung für rechtliche Freiheit. Konstitutionalisierung Der Prozess der Konstitutionalisierung wird in einem engeren und weiteren Sinn bestimmt. In einem weiteren Sinn bedeutet Konstitutionalisierung „[…] die Durchdringung rechtlicher Ordnungen mit materiell verfassungsrechtlichen Elementen […]“ (Knauff 2008: 456), in einem engeren Sinn handelt es sich um „[…] die Ausbildung einer normativen Vorrangordnung mit übergeordneten Prinzipien und herrschaftslegitimierenden Elementen […]“ (Knauff 2008: 455). Im internationalen Raum wird eine Vielfalt von Rechtsquellen beobachtet, die miteinander konkurrieren, sich gegenseitig verdrängen, durchdringen oder überlagern (Dethloff 2014: 48–49). Neben dem Nationalstaat schaffen Private und internationale oder supranationale Organisationen eigene Regelwerke, Rechtsprechung erfolgt auch durch internationale oder supranationale Gerichte sowie Schiedsgerichte; der Pluralismus der Rechtsregime ist global (­Fischer-Lescano/ Teubner 2007: 45–46). Die Einheit des Völkerrechts wird institutionell durch die Einrichtung der verschiedenen Rechtsregime und substanziell durch das Herausbilden von Teilrechtsgebieten wie Welthandelsrecht und Umweltvölkerrecht aufgelöst (Koskenniemi 2007). In der Öffnung, Verzahnung und Interaktion von Rechtsordnungen kommt es dann zu Normenkollisionen zwischen den Rechtsregimen, also der gleichzeitigen Gültigkeit verschiedener Rechtsnormen für denselben Sachverhalt, und Widersprüchen zwischen Geltungsansprüchen (Fischer-Lescano/Teubner 2006). „Die Konstitutionalisierung des Rechtssystems“ lässt sich dann „an der Verfügbarkeit von Kollisionsnormen ablesen […]“ (Kreide/Niederberger 2008: 21–22), die auf eine normative Vorrangordnung mit übergeordneten Prinzipien und herrschaftslegitimierenden Elementen verweisen. Neben dem Vorhandensein von Kollisionsnormen zeichnet eine Konstitutionalisierung das Vorhandensein deliberativ organisierter

34

2  Politik • Recht • Wandel

Verhandlungen, Netzwerkstrukturen oder in von definiertem Wahlvolk ungebundenen Repräsentationsverfahren ab, da die Pluralität der Rechtsquellen von einem Legitimationsproblem begleitet wird, wie es Kreide und Niederberger beschreiben: Während internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die EU durch die Interessen ihrer Mitgliedstaaten wenigstens indirekt auch den Willen ihrer Bürger vertreten, trifft dies auf nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen oder NGOs nicht mehr zu. (Kreide/Niederberger 2008: 19–22)

In dieser Denkrichtung kommt Recht also die Funktion einer vermittelnden Instanz hinsichtlich der Entformalisierung des Regierens zu, wenn es die einzelnen Subsysteme wieder miteinander verklammert und an die Meinungs- und Willensbildung ihrer Adressaten anschließt, es Rechts(um-)setzung mit demokratischer Rechtsgenese vereint (Deitelhoff/Steffek 2009: 15–19). Jedoch baut das Völkerrecht auf rechtlichen und institutionellen Infrastrukturen nationaler Rechtsordnung im Territorialstaat auf, obwohl „[…] viele Staaten dieser Welt dem Typus allenfalls in der Fassade ähneln, realiter jedoch ganz anderen Konstruktionsprinzipien folgen“ (Oeter 2008: 106). Fokussiert wird daher die Autonomie des Rechts und ein von Staatszentrierung befreiter gesellschaftlicher Konstitutionalismus (Franzius 2014: 73), also nicht eine Konstitutionalisierung des Rechts, sondern eine Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft ­(Fischer-Lescano 2005; Teubner 2003). Die Entwicklung des Völkerrechts vollzieht sich nicht in ausschließlicher Koevolution mit Politik beziehungsweise dem internationalen Staatensystem, sondern wird angetrieben durch die zivilgesellschaftliche Partizipation an der globalen Rechtsetzung (Fischer-Lescano/ Liste 2005: 238). Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen eine nicht etatistische Globalverfassung rechtliche Freiheit sicherstellen kann und welche Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Partizipation zukommt; es stellt sich die Frage nach einem Weltrecht in seiner Bedeutung für rechtliche Freiheit.

2.2 Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven Die Ordnung von Recht und Politik ist beobachtungsabhängig. Konstitutiv für den Deutungszugang Internationale Rechtsstaatlichkeit sind Verfahren (siehe Abschnitt 2.2.1). Rechtliche Freiheit ist in diesem Sinne Resultat einer Verfahrensform gleicher Freiheit. Durch die demokratische Willensbildung werden Verfahren zum Ausdruck gebracht, nach denen sich eine Gemeinschaft

2.2  Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven

35

organisiert. Recht und Politik sind also durch Macht- und Legitimitätsfragen aufeinander bezogen. Der Deutungszugang transnationaler Rechtsprozesse ist keine dazu konträre Perspektive, setzt aber mit seiner Betrachtung an einer anderen Stelle ein, nämlich Vor-Recht-und-Politik (siehe Abschnitt 2.2.2). Recht und Politik sind durch moralische Fragen aufeinander bezogen: Recht wird vor dem Hintergrund zivilgesellschaftlicher Partizipation an der globalen Rechtsetzung betrachtet. Rechtliche Freiheit ist in diesem Sinne Teil von Konsens und Kampf in der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Die Deutungszugänge werden auf den Bereich der Menschenrechte (siehe Abschnitt 2.2.3) angewendet. Auch an dieser Stelle werden Grundfragen rechtlicher Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht systematisch, ideengeschichtlich oder komplett im Sinne rechtspositivistischer, vernunftrechtlich-normativer oder rechtsphilosophischer Begründungen abgehandelt; vielmehr werden aktuelle Theorie und Empirie in ihrer jeweiligen Erklärung hinsichtlich der Auffassung von Recht mit dessen Funktion zur Gewährleistung von Freiheit und Sicherstellung in der Wirklichkeit ausgewählt.

2.2.1 Internationale Rechtsstaatlichkeit Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 ist sowohl nationale und internationale Politik als auch nationales Recht und Völkerrecht an das System souveräner Staaten gebunden. Diese Konzentration erfährt nach 1989 wichtige Modifikationen, die Niederberger als „[…] Tendenzen der Juridifizierung des globalen politischen Raums […]“ (Niederberger 2007: 146) zusammenfasst. Staaten, ebenso wie private Akteure, unterwerfen sich Recht, das für alle gilt; zunehmend unterwandert die traditionelle staatliche Souveränität als Rechtsprinzip nicht mehr die Institutionalisierung von Rechtsstaatlichkeit nach außen (Zangl 2006: 12). Offenkundig werden diese Veränderungen unter anderem in einer veränderten Semantik: Mit internationalen Rechtsnormen beziehungsweise internationalem Recht sind Regeln6 des Völkerrechts gemeint; eine andere Begrifflichkeit soll jedoch verdeutlichen, dass es sich nicht mehr ausschließlich um Recht zwischen

6Dem

liegt die Grundvorstellung von einem deskriptiv-empirischen Regelmodell zu Grunde, wie es Hart formuliert hat (Hart 1994). Recht sind Regeln, die in eine Rechtsordnung eingebunden sind, in der substanzielle und prozedurale Regeln zusammenwirken.

36

2  Politik • Recht • Wandel

Völkern handelt (Zangl 2006). Es ist eingebunden in eine Rechtsordnung, in der substanzielle und prozedurale Regeln zusammenwirken. In einer einfachen Rechtsordnung schreiben substanzielle Regeln Regelungsadressaten konkrete Verhaltensweisen vor, verbieten oder erlauben, prozedurale Regeln bestimmen, wie substanzielle Regeln aufzustellen, umzusetzen, anzuwenden oder durchzusetzen, sind also Verfahrensvorschriften für Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung (Zangl 2006: 26–28). Es gilt gleiches Recht für alle, für mächtige ebenso wie weniger mächtige Akteure. In entwickelten Rechtsordnungen erfolgt Gesetzgebung in zwanglosen Diskursen, in der Rechtsprechung werden auf den Diskurs einwirkende Zwänge ausgeschlossen und Urteile überzeugend begründet, ebenso erfolgt Rechtsdurchsetzung durch eine die Gleichbehandlung sichernde Sanktionsinstanz (Zangl 2006: 34–42). Indikatoren für die Entstehung internationaler Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise Elemente rechtlicher Freiheit sind aus Perspektive des Institutionalismus7 in Anlehnung an Zangl und Zürn neben der verfassungsrechtlichen Verankerung der Menschenund Bürgerrechte die Schaffung von Rechtsweggarantie, also die Möglichkeit der Rechtssubjekte, ihre Rechte über eine unabhängige Gerichtsbarkeit selbstständig wahrzunehmen und zu verfolgen. Gerichte bieten internationalem Recht ein Rückgrat und schränken staatliche Willkür ein8 (Zangl/Zürn 2004b). Beispiele hierfür sind der Internationale Strafgerichtshof zur Verurteilung von Kriegsverbrechern, der Internationale Seegerichtshof, der Europäische Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Menschengerichtshof des Europarats, die Rechtsstreitigkeiten in Europa verbindlich entscheiden. Dass gleiches Recht für alle gilt, mächtige und weniger mächtige Akteure also gleich behandelt werden und dass mächtigen gegenüber schwachen Rechtsgenossen keine ungerechtfertigten Vorteile verschafft werden (Zangl 2006: 48–49),

7Siehe Fußnote 5. Aus Sicht des Realismus ist die Sicherstellung rechtlicher Freiheit über Landesgrenzen hinweg wirkungslos, da es kein legales Gewaltmonopol gibt, also keinen Weltstaat, aufgrund dessen alle Akteure auch bei widerstreitenden Interessen zur Rechtsbeachtung gezwungen oder vor Rechtsbrüchen abgeschreckt werden können; und auch aus Perspektive des Liberalismus wirkt Recht über Landesgrenzen hinweg nur auf demokratische Staaten (Zangl 2006: 13–16). 8Besonders i. G. z. diplomatischen Verfahren, die auf politischen Verhandlungen beruhen, in denen Machtmittel zur Geltung gebracht werden. Internationale Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise institutionell gesicherte internationale Rechtsstaatlichkeit entsteht, wenn Konflikte zwischen Akteuren in Verfahren der Streitbeilegung gelöst werden, die judizialisiert, also vergerichtlicht, sind und sich Staaten an diesen Verfahren orientieren (Zangl 2006: 12).

2.2  Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven

37

gewährleisten gerichtliche Verfahren besser als diplomatische, auf politischen Verhandlungen beruhende Verfahren, da der Gleichbehandlungsgrundsatz institutionell verankert ist. Zangl beziehungsweise Helmedach und Mitautorinnen nennen folgende Kriterien für eine Verankerung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Zangl 2006: 50–57; Helmedach et al. 2009: 39–51): – Politische Unabhängigkeit: In gerichtlichen Verfahren existieren politisch unabhängige, dauerhafte Spruchkörper. – Rechtliches Mandat: In gerichtlichen Verfahren soll ein verbindliches Verfahren zu einem juristischen Entscheid führen. – Obligatorische Gerichtsbarkeit: In gerichtlichen Verfahren können Verfahren und Entscheid nicht von einer einzelnen Streitpartei blockiert werden. – Kollektive Sanktionsbefugnisse: In gerichtlichen Verfahren existiert eine erhebliche Sanktionskompetenz; Sanktionen können mandatiert werden, ohne dass betroffene Streitpartei dies blockieren kann. – Offenes Beschwerderecht: In gerichtlichen Verfahren gibt es ein offenes Beschwerderecht; auch einzelne Individuen, ebenso wie Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen können Streitbeilegungsverfahren anrufen. Das Vorhandensein dieser rechtlichen Infrastruktur sagt jedoch noch nichts über die Anerkennung und Befolgung seitens ihrer Adressaten aus. Internationale Rechtsstaatlichkeit im engeren Sinn ist nur gegeben, wenn die Verfahren wirksam sind. Aus Perspektive des Institutionalismus sind zumindest nach Zangl gute, normative und strategische Gründe für Wirksamkeitseffekte beziehungsweise Regelbeachtung internationaler Institutionen9 zu finden (Zangl 2006: 72–81): – Normativ: Staaten haben gegenüber Institutionen Verpflichtungsgefühle, weil sie sich an die dort verankerten Regeln und Verfahren gebunden fühlen. Gerichtliche Streitbeilegungsverfahren werden als legitim wahrgenommen. – Normativ: Staaten halten sich an die Regeln und Verfahren von Institutionen, weil Verstöße gegen diese zur Beschädigung des Rufs führen. Staaten setzen sich normativer Empörung aus und werden angeprangert, wenn sie die Regeln oder Verfahren von Institutionen verletzen. – Strategisch: Staaten sind bereit, sich auch unliebsamen Regeln zu fügen, um nicht durch Regelverstöße die Glaubwürdigkeit der Institution, an der sie

9Die

Erklärungen stammen aus dem soziologischen und rationalen Institutionalismus.

38

2  Politik • Recht • Wandel

grundsätzlich interessiert sind, zu beschädigen. Eigene Regelbrüche könnten dazu beitragen, dass sich auch andere Staaten zu Regelverstößen berechtigt sehen, was die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Institution massiv beeinträchtigen würde. – Strategisch: Staaten halten sich an die Regeln und Verfahren von Gerichten, weil sie die Anwendung von Sanktionen beschließen und koordinieren können. Allein Sanktionsdrohungen können Streitbeilegungsverfahren zugutekommen, weil sie vor Regelbrüchen abschrecken. Die normativen beziehungsweise strategischen Gründe eignen sich zur empirischen Überprüfung der Rechtswirklichkeit, die durch die Wirksamkeit der Verfahren und Rechtsnormen gestaltet ist (Zangl 2006: 71–73). Mit Varwick bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass nicht mehr die bedingungslose staatliche Souveränität gilt; allerdings bleiben weite Bereiche beziehungsweise die Anerkennung internationaler Rechtsnormen von Staaten und ihren Interessen und Überzeugungen abhängig (Varwick 2005: 126–132). Im Verhältnis von Recht und Politik, ist Recht also auf Politik bezogen. Eine Perspektivierung dieses politischen Rechts erbringt der Deutungszugang transnationaler Rechtsprozesse.

2.2.2 Transnationale Rechtsprozesse/Weltrecht Mit den neuen Begrifflichkeiten ›transnationales Recht‹, ›Globalverfassung‹, ›globaler Rechtspluralismus‹ oder ›Regimekollisionsnormen‹ wird versucht, die Dynamik der Transnationalisierung des Rechts in Form von beispielsweise soft law oder codes of conduct einzufangen (Teubner 2010: 13–14). Eine Transnationalisierung des Rechts, die aber mindestens beobachtet wird (Calliess 2014; Franzius 2014), ist umstritten. Transnationalisierung des Rechts bezeichnet im Folgenden die Loslösung des Rechts vom staatlichen Gewaltmonopol ­(Fischer-Lescano 2013) und bezieht sich auf private Akteure (Kreide/ Niederberger 2008: 24). Bei transnationalen Rechtsprozessen gibt es rechtlich bindende Ansprüche von Akteuren der Weltgesellschaft auf die globale Exklusion von Menschenrechtsverletzungen, Ungleichheiten und Unrechtmäßigkeiten (Brunkhorst 2008: 55). Rechtliche Freiheit umfasst diskursives Recht auf Rechtfertigung als Vetorecht gegen all die Normen und Praktiken, die nicht ­allgemein-gegenseitig gerechtfertigt werden können, das als moralisches Recht von Personen in einem gegebenen Gerechtigkeitskontext substanzielle Formen annimmt und zu institutionalisieren ist; besonders nötig hierfür sind verfahrensrechtlich abgesicherte Klagerechte zur Durchsetzung von Menschenrechten

2.2  Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven

39

(­Buckel/Fischer-Lescano 2008: 129). Sie bilden die Grundlage für eine Konzeption von Menschenrechten wie auch für die Rechtfertigung einer konkreten gesellschaftlichen Struktur. In dieser rechtssoziologischen10 beziehungsweise sozialtheoretischen Perspektive in Anlehnung an Luhmann und Teubner, kann transnationales Recht als ein Weltrecht verstanden werden, das Völkerrechtssubjektivität nicht-staatlicher Akteure umfasst (Kreide 2008: 270–273; Luhmann 1995; Teubner 1996). Recht ist ein dynamisches System, es wird von einer Vielzahl an Akteuren, Apparaten und Systemen erst hergestellt und gerade nicht von der internationalen Politik und ihren m ­ ilitärisch-polizeilichen Apparaten gebildet, durchgesetzt und administriert (­ Buckel/Fischer-Lescano 2008: 115). Als nicht staatlich organisiertes Recht wird es „[…] in Rechtsverfahren, im Streit der Beteiligten, in richterlichen Begründungen, in Skandalisierungsprozessen, politischen Interventionen, insgesamt also in lokalen und globalen Netzwerken der Rechtskreation“ (Buckel et al. 2006: XII) beziehungsweise in komplexen globalen Kommunikationsprozessen (­ Fischer-Lescano/Liste 2005: 233) erzeugt. Fischer-Lescano expliziert folgende Kommunikationsprozesse des ›Herbeiredens‹ der Menschenrechte (Fischer-Lescano 2005: 32–39 und 277)11: – Protest: Infolge von Rechtlosigkeit wird gesellschaftliches Schweigen gebrochen. Die Zivilgesellschaft rekurriert auf Menschenrechtskataloge und formuliert ihre Rechtserwartungen, sie fordert Gerechtigkeit ein und befördert Irritationen. – Empörung: Es folgt eine Reaktion der Staaten und internationalen Institutionen, die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeiten und der Politik wird gewonnen. Der Protest internationalisiert sich durch das weltweite Engagement von Betroffenen und Menschenrechtsorganisationen sowie einer durch die Massenmedien vermittelten Empörung. Es wird ein globaler Menschenrechtsdiskurs geführt. – Rechtsetzung: Die Skandalisierung hat eine rechtsgenerierende Wirkung, Menschenrechte entstehen als Folge politischer Mobilisierung oder anders: die Wirkung normativer Erwartungen führt zur Entstehung internationaler

10Angeschlossen

wird an „die Wirklichkeitswissenschaft vom Recht“ (Rehbinder 2000: 1), dessen Gegenstand die „Erforschung der sozialen Wirklichkeit des Rechts“ (Rehbinder 2000: 1) ist. 11Grundlage der Analytik ist der Fall der Madres de Plaza de Mayo (vgl. Fischer-Lescano 2005).

40

2  Politik • Recht • Wandel

Menschenrechtsstandards. Das global law stabilisiert die Erwartungen, der kommunikative Einfluss der Zivilgesellschaft ist in politische Macht transformiert. Diese weltgesellschaftlichen Rechtssetzungsmechanismen sind als weltgesellschaftliches Gewohnheitsrecht zu begreifen, das als ungeschriebenes Recht nicht planmäßig gesetzt wird, sondern sich allmählich aus dem Verhalten der Gesellschaft bildet (Fischer-Lescano 2005: 23). Es ist anders formuliert Eugen Ehrlichs lebendes Recht als law in action, im Gegensatz zum law in books (Ehrlich 1989[1913]). Lebendes Recht beschreibt Rechtsnormen, die in der Rechtspraxis durchgesetzt werden (Rehbinder 2000: 2). Grundlegend für die Wirksamkeit von Rechtsnormen ist dabei die gesellschaftliche Normanerkennung; Rechtsentwicklung liegt nicht in der Gesetzgebung oder Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst (Ehrlich 1989[1913]: 55–57). Brunkhorst resümiert, ein immer noch hegemoniales Recht ohne Repräsentation aller betroffenen Interessen (Brunkhorst 2002: 182), obwohl es die Vision eines Weltrechts mit einem Zentrum heterarchisch organisierter Weltgerichte (global remedies) und einer Peripherie partizipierender politischer Akteure und zivilgesellschaftlicher Gruppen (Fischer-Lescano 2005: 271) gibt. Im Rahmen transnationaler Rechtsprozesse wird das Verhältnis von Recht und Politik nicht mehr durch den Staat geordnet, sondern ist losgelöst davon. Politik und Recht sind voneinander getrennt, das Rechtssystem der Weltgesellschaft hat sich zu einer politisch ernst zu nehmenden Realität emanzipiert und öffnet sich normativen Forderungen wie der nach Gerechtigkeit (Fischer-Lescano/Liste 2005).

2.2.3 Feld der Menschenrechte Historisch gesehen war Staat primärer Adressat in Bezug auf Menschenrechte, „[…] da er durch seine unvergleichliche Machtfülle zugleich ihr Gewährleister und ihre größte Bedrohung war“ (Deitelhoff/Steffek 2009: 26). Politikwissenschaftlich diskutiert werden die Entwicklungen, dass einerseits die rechtliche Zurechenbarkeit von Menschenrechtsverletzungen und Durchsetzungschancen von Menschenrechten durch Prozesse der Privatisierung und Internationalisierung verschwimmt (Deitelhoff/Steffek 2009: 27). Zum anderen geht es um die Wirkung zivilgesellschaftlicher Akteure im Bereich der Menschenrechtspolitik, die an Prozessen der Rechtsetzung beteiligt werden (List/Zangl 2003). Im Fokus stehen damit empirische Veränderungen und die Frage, inwieweit diese ein

2.2  Rechtliche Freiheit: Entwicklungsperspektiven

41

demokratisches Defizit oder eine neue Qualität anzeigen; neben dem Sicherheits-, Kommunikations- oder Umweltbereich ist der Bereich der Menschenrechte sowie das staatliche und nicht-staatliche Handeln in diesem tendenziell schwieriger zu beeinflussen (Zangl 2006: 254). Mit dem europäischen System und der Weltgesellschaft werden im Folgenden (Positiv-)Beispiele politischer und nicht-politischer12 Souveränität zum Schutz sowie zur supranationalen und transnationalen Expansion der Menschenrechte vorgestellt. Supranationales Menschenrechtsschutzsystem Traditionell und auch noch heute gilt Menschenrechtsschutz als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, weil gerade auf internationaler Ebene ein aufgrund von Menschenrechtsverletzungen Staaten verurteilender Gerichtshof fehlt13; anders die Judizialisierung dieses Politikbereichs durch das „Erfolgsmodell Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)“ (Blome/Kocks 2009: 229). Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die vom Europarat 1950 verabschiedet wurde, umfasst einen verbindlichen Katalog substanzieller und prozeduraler Rechtsnormen; Freiheitsrechte und zentrale Justizgrundrechte, die faire Verfahren und Strafverhängung nur mit gesetzlicher Grundlage festschreiben sowie Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung grundlegen (Blome/Kocks 2009: 229–230). Wie Blome und Kocks in ihrer Untersuchung der Judizialisierungsprozesse im Menschenrechtsbereich herausstellen, ist das Niveau der Gerichtsbarkeit des EGMR im Hinblick auf das Beschwerderecht, die politische Unabhängigkeit, das rechtliche Mandat und die Blockademöglichkeiten (siehe Abschnitt 2.2.1) als sehr stark zu bewerten: neben Staaten haben nichtstaatliche Organisationen, Personengruppen und Individuen Beschwerderecht; hauptamtliche Richter als unabhängiger, dauerhafter Spruchkörper befinden über Konventionsverletzungen; eine rechtliche Entscheidungsfindung wird durch Verfahrensregeln, die rechtlich bindend und in der EMRK festgelegt sind, zementiert; ein Veto der Streitparteien gegen die Einschaltung des EGMR gibt es nicht. Einzig die Sanktionsbefugnisse werden als schwach eingeschätzt, da die Überwachung der Urteilsumsetzung dem Ministerkomitee obliegt (Blome/Kocks 2009: 238–240). Der EGMR ist jedoch deshalb ein

12Internationale

Beziehungen und systemtheoretische Auseinandersetzung/rechtswissenschaftliche Systemtheorie 13Der UN-Menschenrechtsrat ist politisch erheblich zu beeinflussen (Helmedach et al. 2009: 40).

42

2  Politik • Recht • Wandel

Erfolgsmodell14, da Staaten Souveränitätsvorbehalte aufgeben und sich dem Verfahren vor dem EGMR unterwerfen (Blome/Kocks 2009: 264). Insgesamt trägt dies zu der Verringerung von Machtdifferenzen bei, zwischen Staaten, aber auch zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren (Helmedach et al. 2009: 40). Menschenrechtliche Globalverfassung Im Diskurs über globalen Konstitutionalismus werden Menschenrechte nicht nur dem politischen Souverän zugerechnet. Herausgebildet haben sich unterschiedliche Hegemonieapparate (Zangl 2006), die Rechtsfragen vom Völkerrecht bis zu Restitutionsforderungen bei weltweiten Menschenrechtsverletzungen verhandeln (Buckel/Fischer-Lescano 2008: 125). Menschenrechte können als aus gesellschaftlichen Konfliktlagen und politisch-rechtlichen Entscheidungen resultierende latente Rechte konzipiert werden (Teubner 2006: 173). Rechtsprozesse werden in diesem Sinne nicht an die internationale ­(Staaten-)Gemeinschaft beziehungsweise staatliches Verhalten, sondern an die Weltgesellschaft selbst rückgebunden; konkret bedeutet dies, dass zur Beschreibung der Geltungsbedingungen des Rechts auf in transnationalen Kommunikationsprozessen artikulierte Rechtserwartungen abgestellt wird (Fischer-Lescano/Liste 2005: 210). Es ist eine gegenhegemoniale Praxis beziehungsweise ein menschenrechtlicher Anerkennungskampf (Buckel/Fischer-Lescano 2008: 125–126). Menschenrechtliche begründbare Ansprüche werden für die Schaffung von Gegenmacht, Hegemonie von unten, genutzt (Krennerich 2013: 478). Das Einbringen der Ansprüche nach „globalen sozialen Rechten“ (Fischer-Lescano/Möller 2012: 11) kann als gesellschaftliche Dimension der Rechtsetzung im Bereich der Menschenrechte interpretiert werden. Zivilgesellschaftliche Akteure und Entscheidungsinstanzen sind zunehmend auf globaler Ebene in der Lage, politische Macht wirksam an Rechtsgarantien zu binden (Leisering 2015: 385). Zusammenfassend kann ein supranationales Menschenrechtsschutzsystem das Verhalten von Staaten einhegen, so dass diese nicht allein nach ihren nationalen Interessen handeln. Dass internationales Menschenrecht global zur Geltung gebracht wird, dafür ist zivilgesellschaftliche Partizipation notwendig. Für sozialwissenschaftliches Denken konstitutiv sind internationale Organisationen, die als Rechtsgaranten auftreten. Eine Erweiterung durch die transnationale Perspektive fokussiert zudem Rechtswirklichkeit in Abhängigkeit zu der Rechtskenntnis

14Grundlage

der Einschätzung sind Streitfälle zwischen einem OECD-Staat und einem nichtstaatlichen Akteur (Blome/Kocks 2009).

2.3 Schlussfolgerungen

43

und dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung: Recht wird jenseits des Nationalstaats in Anspruch genommen, die Menschen orientieren ihr Handeln daran. Die verschiedenen Blickrichtungen, supranationales Menschenrechtssystem und menschenrechtliche Globalverfassung, können aufeinander bezogen werden über eine institutionelle Anpassung an artikulierte Ansprüche, die bewirkt wird.

2.3 Schlussfolgerungen Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen sind zugleich Herausforderungen an die Theorieproduktion der Sozialwissenschaften. Vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen, wie einer politischen Steuerungs- und Effektivitätskrise sowie politischen Legitimationskrise, kommt im neueren Staatsdiskurs eine veränderte sozialwissenschaftliche Wahrnehmung der Staatsformation zum Ausdruck (Martinsen 2010: 117–118). Sie beschreibt kein gleichförmiges Muster des Wandels von Staat, sie diagnostiziert vielmehr Wandlungen in verschiedene Richtungen und von unterschiedlicher Art. In der Vielfalt der Debatten werden Bezugspunkte für die Messbarkeit und Analyse des Wandels vorgeschlagen und kritisch diskutiert, Wandlungssemantiken werden konstruiert, rekonstruiert, dekonstruiert, Assoziationsräume aufschließende Metaphern werden angegriffen und verteidigt, Indikatoren und Staatsattribute werden gesucht und gefunden, neue Typologien werden kreiert oder es wird resigniert zurückgekehrt zum alten hierarchischen Staatsmodell. Aus fachlicher Sicht handelt es sich nicht um akademische Fingerübungen, sondern die pluralen Perspektiven leisten ein in der Art und Weise unterschiedliches Verstehen von Politik, Recht und Wandel. Als konstituierende Elemente sozialwissenschaftlicher Denkweisen zur Wahrnehmung von rechtlicher Freiheit lassen sich explizieren: Formherstellung Staat ist nicht mehr alleiniger Entscheidungsträger und Gewährleister15 rechtlicher Freiheit. Die Etablierung einer an Staaten orientierten politischen Welt im Bewusstsein der Menschen seit dem Zeitalter des Kalten Krieges wird seit Ende der 1990er zunehmend hinterfragt (Reinhard 2007; Wolf 2000). Erscheinungsformen des Hierarchieprinzips im politischen System werden mit dezentralistischen Gegenbewegungen konfrontiert (Mayntz 2001). Eine

15Staat

wird dabei nicht mehrheitlich als obsolet, sondern seine Rolle neu bewertet (vgl. Deitelhoff/Steffek 2009: 29).

44

2  Politik • Recht • Wandel

hierarchische und hoheitliche Formherstellung markiert Erkenntnisgrenzen. Hingegen wird Staat als fachliches Konstrukt beweglich gemacht durch die Differenzierung von räumlichen, modalen und dimensionalen Besonderheiten, die strenge Grenzen von Territorium sowie von Individuum und Staat verwischen. Prozessperspektivierung Durch die Prozesshaftigkeit und Dynamik der in Staatlichkeit angelegten Perspektive ist eine Ko-Produktion rechtlicher Freiheit begrifflich herausstellbar (Schuppert 2008). Alternativen zum Organisationstyp Hierarchie sind als Beschreibungsangebot notwendig, um Variationen der Gewährleistung rechtlicher Freiheit wahrnehmen zu können. Dimensionierungen durch Funktionen, Verfahren und Verhalten, können das Erfassen und Reflektieren der Wirklichkeit von rechtlicher Freiheit leisten. Insgesamt werden kollektive Konstrukte entgrenzt und Staatlichkeit wird als Resultat freier menschlicher Handlungen erfassbar, auch wenn diese nicht vollständig auf menschlichen Willen zurückgeführt werden können. In den Mittelpunkt rückt entgegen eines hierarchischen und bürokratischen Staatskonstrukts Staatlichkeit als Modell menschlicher Planung, Organisation und Aktivität in Wandlungsprozessen und wird so gegenüber einer Demokratisierung geöffnet. Die Verschränkung von Politik und Recht Staat erhält in disziplinären Ansätzen, die Politik- und Rechtswissenschaft verbinden, eine andere Bedeutung. Im Begriff rechtlicher Freiheit kommt das Aufeinander beziehen von Politik und Recht zum Ausdruck, welche durch das zunehmend komplexere Formulieren ihrer gegenseitigen Beziehungen das Denken vielschichtigerer Voraussetzungen und Erscheinungsformen wissens- und wissenschaftsbasierten Gesellschaften (Martinsen 2010: 119) eröffnet. An die Stelle der „[…] hierarchischen Produktion des Rechts durch das Quasi-Subjekt Staat […]“ (Buckel et al. 2006: XI), „[…] tritt die Frage den Bedingungen von Vielfalt […]“ (Buckel et al. 2006: XIII). Gemeinsam ist allen den Debatten die Infragestellung der traditionellen Sichtweise. Im Gegensatz zu der Identifikation des Politischen und Rechtlichen mit dem Staat, erweitert das Beobachten von Wandlungsprozessen beziehungsweise die veränderte Beschreibung gesellschaftlicher und demokratischer Wandlungsprozesse entlang von Staatlichkeitskonstellationen Wahrnehmungshorizonte. Darüber hinaus kommt Sozialwissenschaften ein ordnungsbildender Impuls zu, wenn sie etwas Neues, etwas Anderes neben deskriptiver Erfassung kreiert:

2.3 Schlussfolgerungen

45

Regulative Ideen Neben der Wahrnehmung veränderter Staatlichkeitskonstellationen ist die Evaluation der Wahrnehmung notwendig. Neue Denkbahnen und Perspektiven generieren sich über normativ-ontologische Überlegungen, inwiefern es sich um gute, richtige oder die besseren configurations of statehood handelt, die neben dem Staat in funktionalistischer Lesart rechtliche Freiheit als Grundwert moderner Gesellschaften gewährleisten. Die Imagination positiver neuer Formideen bezieht sich auch darauf, was rechtliche Freiheit sein sollte und in welcher Ordnung sie verwirklicht wird. Rechtliche Freiheit wird gewährleistet durch rechtsstaatsanaloge Herrschaftsgrundsätze internationaler Rechtsstaatlichkeit oder rechtliche Freiheit ist nicht als politische Rechtsetzung, sondern als Ergebnis zivilgesellschaftlichen Gewohnheitsrechts zu haben. Insgesamt legt Kapitel  2 damit eine sozialwissenschaftlich informierte Perspektive Grund, aus der heraus in der didaktischen Reflexion ein etatistisches Kernkonzept für die Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit von rechtlicher Freiheit zu problematisieren und eine Prozessperspektive als Paradigmenwechsel, die den bestehenden kulturellen Rahmen in Frage stellen kann, zu etablieren ist. Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen sind also nicht nur Herausforderungen an die Theorieproduktion der Sozialwissenschaften, sondern auch Herausforderungen an kollektive und individuelle Lernprozesse. Eine solche Konfrontation beziehungsweise Infragestellung kann in Situationen des Wandels gelingen, weil gewohnte Deutungen nicht mehr als verlässliche Orientierung dienen können (siehe Abschnitt 3.1). Notwendig werden politische Lernprozesse, in denen der tradierte und symbolisch vermittelte kollektive Sinnzusammenhang der Sicherstellung rechtlicher Freiheit durch den Staat neu definiert wird (siehe Abschnitt 3.2). Wandel stellt eine Lerngelegenheit dar, wenn politische Bildung als kollektives Lernen beziehungsweise als kollektive Deutungspraxis verstanden wird. Die in den sozialwissenschaftlichen Denkweisen hervorgebrachten Deutungen sind dann als Sinnangebote zu verstehen (siehe Abschnitt 3.3).

3

Politische Bildung • Recht • Wandel

3.1 Wandel in der politischen Bildung Unter der Perspektive des Wandels gelingt eine Gestaltung von Interpretationsprozessen, in denen sich rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildungsform bildet oder verändert, weil gewohnte Deutungen nicht mehr als verlässliche Orientierung dienen können. Hier „[…] werden Integrations- und Innovationsprozesse der politischen Kultur sichtbar, die auf Lernprozesse verweisen und von politikdidaktischem Interesse sind“ (Lange 2011a: 129). Die fachdidaktischen Ansätze, die unter der Perspektive des Wandels eine lernförderliche Auseinandersetzung mit gegenwärtigen politischen sowie gesellschaftlichen Prozessen durch Analyse, Reflexion und Gestaltung formulieren (siehe Abschnitt 3.1.1), verfolgen verschiedene analytische Zugänge (siehe Abschnitt 3.1.2). Im aktuellen staatszentrierten Ansatz (siehe Abschnitt 3.1.3), in dem sich die vorliegende Arbeit verortet, wird die gewandelte Staatlichkeit als sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose zum Ausgangspunkt genommen, um sich über die Substanz postnationaler Konfigurationen und die Neugestaltung des Konstellationsgefüges staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure zur Erbringung normativer Güter, wie rechtliche Freiheit, zu verständigen. Während die Sammlung und die Entwicklung von Minimaldefinitionen sowie die empirische Fundierung in den fachdidaktischen Ansätzen zwar noch an vielen Stellen ausstehen, gibt es im Gegensatz zu der Auseinandersetzung in der geplanten Schulpraxis unterschiedliche Theoriebausteine und Überlegungen.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_3

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

3.1.1 Fachdidaktische Ansätze Sozialer und politischer Wandel müssten eigentlich Kerngeschäft politischer Bildung sein. Im Hinblick auf politikdidaktische Prinzipien und Grundsätze (Sander 2014a) hat Wandel auf Seiten der Wissenschaftlichkeit einen starken fachlichen sowie empirischen Bezug und wird kontrovers diskutiert: Für die Subjektseite hat Wandel Zukunftsbedeutsamkeit, permanente Aktualität und Problemgehalt, weil das Gelingen von Transformationsprozessen unter anderem von der gesellschaftlichen Lernleistung abhängt (Steffens 2011: 390). Dass Wandel in der politischen Bildung als didaktische Perspektive eher eine untergeordnete Rolle spielt, hängt auch mit dessen in erster Linie politisch linken Rezeption und Bildungsperspektivierung in der Vergangenheit zusammen. Im Zuge der Studentenunruhen gab es in den 1970er-Jahren Auseinandersetzungen in der Bildungspolitik und Politikdidaktik über Aufgaben und Funktionen politischer Bildung, die verkürzend zusammenfassend als kritisch-progressiv (Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf Verwirklichung ihres demokratischen Anspruchs) versus konservativ (Orientierung und Stabilisierung des Status Quo) formuliert werden können. Auch wenn sich die aktuelle fachdidaktische Diskussion politisch gesehen nicht so problemlos mit einem Rechts-Links-Schema darstellen lässt, im inhaltlichen Hinblick geht es nach wie vor um die Begründung respektive Ablehnung der theoretischen Analyse der bestehenden Gesellschaft, die sich in Debatten um die Etablierung ›kritischer‹ politischer Bildung, um Theoriepluralität und politische Positionierung innerhalb der Politikdidaktik offenbart (Pohl 2016). Aufgrund der Bedeutung von Zeitdiagnosen in der Vergangenheit (Henkenborg 1997: 95–96) ist deren Stellenwert in der politischen Bildung bis heute schwächer und problematischer. „Unbestritten scheint aber zu sein, dass ein erheblicher politischer Orientierungsbedarf besteht. Dieser Herausforderung muss sich die politische Bildung stellen“ (Achour/Gill 2017: 8). Gerade Wandlungsprozesse bieten sich an, neue Fragen zu formulieren und Theoreme zu klären, die für eine Selbstverständigung politischer Bildung Aufklärung bringen. In den fachdidaktischen Auseinandersetzungen mit Wandlungsprozessen gibt es Rückbezüge und Reaktionen auf sozialwissenschaftliche Analysen um Globalisierung und Transformation sowie auf internationale Perspektiven; es werden Herausforderungen von Globalisierung, Migration, Populismus oder europäischer Integration für die politische Bildung diskutiert (vgl. Hedtke 2002; Overwien 2014; Steffens 2007). Gemeinsamkeiten in diesem Spektrum sind hinsichtlich des Einbezugs öffentlicher Diskurse und sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen um Umbrüche in Sozialstruktur, Ökonomie und politischer Repräsentation sowie

3.1  Wandel in der politischen Bildung

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der Konsequenz einer Gestaltungsaufgabe politischer Bildung auszumachen. Der Konsens über die Auseinandersetzung um Wandel spiegelt sich auch in dem Hauptdokument der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugendund Erwachsenenbildung (GPJE) wieder mit den Bildungsstandards: Sozialer Wandel sowie Möglichkeiten und Grenzen politischer Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen sind als Fragen und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu thematisieren (GPJE 2004: 11). Konsensual stellt auch die Autorengruppe Fachdidaktik fest, dass eine Auseinandersetzung mit Wandel „[…] die Kontingenz, Diversität, historische Gewordenheit und Zukunftsgewissheit gesellschaftlichen Handelns“ fokussiert und „[…] eine prozessbezogene Vorstellung von Stabilität und Wandel gesellschaftlicher (Teil-)Systeme“ eröffnet (Autorengruppe Fachdidaktik 2011b: 170). Tabelle 3.1   Wandel in fachdidaktischen Ansätzen Wandel Befragung

Beschreibung, Erklärung, normative Bewertung

Öffentliche und sozialwissen- Fachlich begründete schaftliche Diskurse, aktuelle Diagnosen Problemlagen

Analysieren Demokratie-, gesellschafts-, staatstheoretisch

Grundlegend (siehe Tabelle 3.1) ist in den Ansätzen, dass auf viele Begriffsdefinitionen und Theorien als Referenzen zurückgegriffen wird, die der Diskurs bereits hervorgebracht hat. Unterschiede bestehen hinsichtlich Zielformulierungen und dessen Legitimation sowie der Auswahl konkreter Gegenstände; die Ansätze werden in der vorliegenden Arbeit auf dieser Grundlage hinsichtlich ihrer Analysezugänge als demokratie-, gesellschaftsund staatszentriert systematisiert1. Demokratietheoretische Zugänge mit emanzipatorischem oder demokratiefunktionalem Schwerpunkt fokussieren die Entwicklungsfähigkeit demokratischer Systeme und Verfahren. In emanzipatorischer Hinsicht durch das Suchen neuer Legitimationswege und Partizipationsformen, also durch eine Erweiterung um neue Aktionsformen zur Ausgestaltung gesellschaftlicher Konflikte (Eis 2014: 258; Eis/Salomon 2014b: 9);

1Eis

und Salomon formulieren als analytische Zugänge transformations-, demokratieund staatstheoretische Ansätze (Eis/Salomon 2014: 14), die jedoch nicht weiter expliziert werden.

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

in demokratiefunktionaler Hinsicht wird dafür der politische Meinungs- und Willensbildungsprozess in Form einer auf intersubjektive Verständigung ausgerichteten Öffentlichkeit in den Fokus gerückt. In gesellschaftszentrierten Ansätzen sind Diagnosen Anknüpfungspunkte, die die gegenwärtige Gesellschaft vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen beschreiben und die für Bildungsprozesse fruchtbar gemacht werden. Der staatszentrierte Ansatz didaktisiert in erster Linie fachliche Erkenntnisse zum Wandel nationaler und globaler Government- und Governance -Strukturen und überführt diese in konkrete Lernangebote (Klee et al. 2011; Klee et al. 2013). Aus politikdidaktischen Motiven der Vermittlungsabsicht heraus wird im staatszentrierten Ansatz Staatswandel als Ausgangspunkt sowie das Erkennen und Beurteilen der sich wandelnden Staatlichkeit als Zielpunkt formuliert.

3.1.2 Demokratie- und gesellschaftstheoretische Analysezugänge Vor dem Hintergrund politischer, ökonomischer und sozialer Wandlungsprozesse werden in der politischen Bildung wesentliche Fragen der Zukunft der Demokratie gestellt sowie Konsequenzen für jeweilige Demokratiebildung abgeleitet. Fachdidaktische Ansätze mit demokratietheoretischen Analysezugängen sind dabei maximal kontrastiv, je nach zu Grunde gelegtem Demokratiebegriff, herangezogener Demokratietheorie oder verwendetem Demokratiemodell. In der Analyse der Wandlungsprozesse werden moderne Demokratietheorien (Überblick vgl. Buchstein 2004; Schmidt 2000) ebenso wie deren aristotelische, radikale, liberale und revolutionäre Vorläufer als analytische Zugänge gewählt und so jeweils elitistische, ökonomische, soziale, repräsentative, radikale, pluralistische, liberale, partizipatorische oder deliberative Demokratieverständnisse einer politischen Bildung explizit. Es wird in der Debatte um die Zukunft der Demokratie an Analyseansätze angeknüpft, die sich grundlegend dahingehend unterscheiden, inwieweit sie einen Verfall beziehungsweise Krisenerscheinungen von Demokratie oder aber einen Formwandel begründen, was in der begrifflichen Unterscheidung von ›Postdemokratie‹, die vor allem mit Crouch von einer Erosion der Demokratie ausgeht (Crouch 2008), und ›post-repräsentativer Demokratie‹ (Keane 2009) zum Ausdruck kommt. Insgesamt existiert also ein divergierendes Begriffsverständnis wobei unter Demokratie und Demokratiebildung Unterschiedliches verstanden wird. Hinsichtlich aktueller Problemlagen formulieren

3.1  Wandel in der politischen Bildung

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konzeptionelle Herangehensweisen normative demokratietheoretische Fragestellungen, die zugleich zwar nicht die ganze Bandbreite, jedoch Vielfalt in Zielperspektive und Gegenstand politischer Bildung repräsentieren; zum einen der emanzipatorische Ansatz, dessen Weiterentwicklung auf einer Bandbreite an Konzeptionen fußt (vgl. den Sammelband von Eis/Salomon 2014a) und der auf die Analyse postparlamentarischer Konstellationen rekurriert, zum zweiten als demokratiefunktional zu kennzeichnende Zugänge, die dem Rationalitätspostulat folgen und auf repräsentative beziehungsweise postrepräsentative Demokratiemodelle abstellen (vgl. u. a. Juchler 2005a; Lange/Fischer 2010). Innerhalb des gesellschaftszentrierten Zugangs (vgl. u. a. Steffens 2003; Steffens/Widmaier 2010) wird sich auf Diagnosen konzentriert, die die gegenwärtige Gesellschaft vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen beschreiben; es werden positive Effekte ebenso wie benachteiligende Folgen von Entgrenzungen im Zusammenhang mit Globalisierung betrachtet (Lange 2011b). Demokratietheoretischer Zugang: emanzipatorischer Ansatz Mit dem emanzipatorischen Ansatz wird an Analysen postparlamentarischer Demokratien (Benz 1998) oder von Postdemokratie (Crouch 2008; Rancière 2010[1996]) angeknüpft (Eis/Salomon 2014b: 9), also an Krisenannahmen der Demokratie und des Sozialen. Referenztheorien für Demokratiemodelle und ­-analysen sind neben poststrukturalistischen/-modernen Ansätzen subjekttheoretische, radikaldemokratische und kritische, personalisiert in Badiou, Bourdieu, Butler, Crouch, Derrida, Foucault, Gramsci, Lefort, Mouffe, Rancière und Marx. Demokratie ist im emanzipatorischen Ansatz kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess und „[…] verändert sich mit den sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen, die sie kennzeichnen und gleichzeitig auch ihrer Transformation Richtung geben“ (Lösch/Rodrian-Pfennig 2014: 28). Zugrunde liegt ein weiter Demokratie- und Politikbegriff, der den Alltag einbezieht; durch den emanzipatorischen Ansatz sollen Jugendlich dazu befähigt werden, vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen eigene Entgrenzungs- und Ausgrenzungserfahrungen zu reflektieren und diese als eingebunden in die Verhältnisse, in soziale Interessenkonflikte, Macht- und Herrschaftsstrukturen zu begreifen (Eis/Salomon 2014b: 9). Gerade Ausschlussmechanismen und strukturelle Widersprüche können in einer politischen Bildung überwunden werden, die „[…] Möglichkeiten zum Empowerment schafft, also zu einer emanzipatorisch-politischen Selbstbefähigung der Lernenden“ (Eis 2014: 266) beiträgt.

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Demokratietheoretischer Zugang: demokratiefunktionale Ansätze Ansätze, die nicht die Diagnose der Postdemokratie teilen, erfassen den Gestaltwandel der Demokratie mit anderen Demokratiekonzepten. Mit Demokratie werden in erster Linie Formen politischer Ordnung bezeichnet: Demokratie ist eine Gestalt des Politischen (Sander 2006: 26). Als bevorzugte Klassiker-Referenzen dienen Kant, Weber, Arendt und Habermas. Angeknüpft wird an Diagnosen, die den Wandel repräsentativer Demokratien beschreiben beziehungsweise post-repräsentative Demokratien fokussieren, die sich zum Beispiel durch die Verbreitung neuer Beteiligungsformen und damit eine Ausdifferenzierung demokratischer Beteiligung (Schöne 2015: 8) oder durch neue Verfahren der Willensbildung und des Interessenausgleichs und dem Entstehen M ­ acht-kontrollierender Organisationen (Schöne 2015: 10) auszeichnen. In Bildungskontexten gilt es fokussiert den Formwandel von Demokratie zu analysieren, zu beurteilen und auf dieser Grundlage selbst zu handeln. In demokratietheoretischer Sicht geht es um die Frage nach spezifischen Qualifikationen als Bürgerin. Aufgabe politischer Bildung ist nach Lange und Fischer die Entwicklung eines globalen Demokratiebewusstseins (Lange/Fischer 2010: 174; Lange/Himmelmann 2007). Juchler rückt in Anlehnung an Kants Ausführungen zur kosmopolitischen Öffentlichkeit und Hannah Arendts Faktum der Pluralität und Überlegungen zum Urteilen für die politische Bildung transnationale Urteilskraft in den Fokus. Diese ist auf globale Fragen gerichtet; Bezugspunkt ist die Welt als politisches Gemeinwesen (Arendt 1985; Juchler 2011: 403; Kant 1983[1790]). Gesellschaftszentrierter Zugang Gesellschaftliche Transformationen werden zugleich als Lernproblematik und Lerngelegenheit beschrieben (Eis/Salomon 2014b: 7), da sie Schlüsselprobleme mit nachhaltigen Auswirkungen erzeugen und dazu auffordern, Entwicklungsalternativen zu formulieren (Steffens 2010). Es existiert dabei eine enorme Anzahl von Gesellschaftsdiagnosen – Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft (Überblick vgl. Bogner 2012) – um nur wenige zu nennen. In der Vielfalt und Komplexität der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und der damit einhergehenden Herausforderungen für Politikdidaktik und politische Bildung, sind besonders solche Perspektiven und Ansätze aktuell, die zeigen, dass es „[…] in Zeiten der Globalisierung noch Handlungs- und Akteursperspektiven gibt und dass es gilt […] diese als Bürgerinnen und Bürger aktiv zu nutzen“ (Steffens/Widmaier 2010: 6), die also aus Bestandsanalysen Handlungsoptionen und Visionen formulieren. Die politische Bildung diskutiert hier die Perspektiven eines kosmopolitischen Weltbürgertums (Steffens 2008), mit dem alte nationalstaatliche Grenzen sowie Staatsbürgerschaftskonzepte

3.1  Wandel in der politischen Bildung

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überarbeitet werden; angeschlossen wird an die sehr heterogene sozialwissenschaftliche Weltgesellschaftsforschung beziehungsweise an unterschiedliche und umstrittene Konzepte von ›Weltgesellschaft‹ und ›Kosmopolitismus‹ (vgl. Burton 1972; Gantzel 1975; Heintz 1974; List 1992; Luhmann 1975; Meyer 1980). Als eine Definition2 ist nach Stichweh „Weltgesellschaft ein weltweites Sozialsystem, das alle Kommunikationen und Handlungen in der Welt aufeinander bezieht und sie füreinander zugänglich macht“ (Stichweh 2011: 423). Weltgesellschaft ist Resultat von Globalisierungsprozessen, da diese menschliche Beziehungen verdichten und so Weltgesellschaft für immer mehr Menschen zur erfahrbaren Wirklichkeit wird (Sander 2011: 417). Auch zu dem Konzept des Kosmopolitismus gibt es unterschiedliche fachwissenschaftliche Ideen (Köhler 2010: 13–15). Gemeinsam ist ihnen, dass ein Denken im „nationalstaatlichen Container“ (Steffens 2004: 28) überwunden, dem methodischen Nationalismus ein „methodologischer Kosmopolitismus“ (Beck 2002) gegenübergestellt werden soll. Als unterschiedliche Ziele und Inhalte werden in gesellschaftszentrierten fachdidaktischen Ansätzen die Förderung eines globalen Bürgerbewusstseins (Fischer/Lange 2010), die Anbahnung eines kosmopolitischen Blicks3 als Weltwahrnehmung (Juchler 2010: 183–184; Juchler 2011: 404; Sander 2011: 426) sowie das Globale Lernen4 als Lernweg zur Förderung eines kosmopolitischen Blicks beziehungsweise globalen Bürgerbewusstseins (Brunold 2008; Ohlmeier/ Brunold 2015: 137; Overwien 2010) begründet. Dass Weltbürgertum beziehungsweise Kosmopolitisierung in der politischen Bildung keine unumstrittenen Leitperspektiven sind und kontrovers diskutiert werden, zeigt der Sammelband von Widmaier und Steffens, in dem verschiedene Kritikpunkte aufgegriffen werden (vgl. Haus 2010: 118; Möhring-Hesse 2010: 82–84; Mohrs 2010: 100–102; Widmaier/Steffens 2010). Unter der Vielfalt an Definitionen und Diskussionen des Konzepts der Weltgesellschaft sind in der

2Für

das Verständnis von Weltgesellschaft grundlegend ist die normative Theoriebildung durch Kants „Weltbürgergesellschaft“ (Kant 1975) und Habermas, der sich in seinen Arbeiten an Kant orientiert. Bei Kant steht die Frage nach der Mitgliedschaft beziehungsweise der bürgerlichen Zugehörigkeit im Fokus; der Weltbürgerstatus betrifft die Welt als einzigen Kontext, auf den sich Identifikation im Sinne einer sozialen Mitgliedschaft bezieht (Stichweh 2009: 7). 3Nach Beck ein „[…] historisch wacher, ein reflexiver Blick, ein dialogischer Blick für Ambivalenzen im Milieu verschwimmender Unterscheidungen und kultureller Widersprüche“ (Beck 2004: 13). 4Ebenso didaktische Konzepte der Menschenrechtsbildung oder Europabildung

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Politikdidaktik in jedem Falle solche bedeutend, die Weltgesellschaft und Kosmopolitisierung durch die Auseinandersetzung mit komplexen und kontroversen politischen Fragen als politisches Projekt in den Fokus rücken, wie obige Beispiele zeigen.

3.1.3 Staatszentrierter Ansatz Während in den Sozialwissenschaften, besonders der Politikwissenschaft seit langem ein breiter und vielschichtiger Diskurs über Staat geführt wird, wird Staatswandel zwar als Lerngegenstand in der Politikdidaktik im Kontext von Globalisierung thematisiert (Lange 2011b; Sander 2011), jedoch nicht eigenständig behandelt. Im Verhältnis zu seiner Bedeutung in fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen der Politikdidaktik und des Politikunterrichts erfährt der Forschungs- und Lehr-Lernbereich ›Staat‹ in der politischen Bildung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit (Lemme/Neuhof 2015). Die Relevanz von staatlichen Transformationsprozessen spiegelt sich auch in den Lehrplänen zum Politikunterricht nur unzureichend wieder; Wandel wird nicht der angemessene Bildungswert zugeschrieben. In der Durchsicht bundesweiter Curricula ist eine indirekte Thematisierung von Staatswandel und Staatlichkeit feststellbar. So werden Teilaspekte wie Sozialstaat und Rechtsstaat explizit zum Gegenstand von Bildungsprozessen gemacht, jedoch als gewissermaßen statisch konzipiert beziehungsweise nicht vor dem Hintergrund von Wandlungsprozessen kontextualisiert. Grundbegriffe sind an ein territoriales und nationalstaatliches Gesellschaftsverständnis gebunden (vgl. Bildungsplan für die Gymnasiale Oberstufe Politik in Bremen oder Kerncurriculum Politik-Wirtschaft in Niedersachsen). Fruchtbarer können Bildungspläne sein, ­ in denen sich Aspekte beispielsweise internationaler Verflechtung moderner Gesellschaften und die Auseinandersetzung mit internationalen Organisationen als Gegenstände finden, so wie im Bremischen Bildungsplan für die gymnasiale Oberstufe (Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2008). Globalisierung wird hier als Inhalt für den Themenbereich Wirtschaft genannt, globale Akteure und supranationale Organisationen als Themenbereich Internationaler Politik, Demokratietheorien als Themenbereich für Staat sowie Entwicklungstendenzen als Themenbereich für Gesellschaft (Bildungsplan Politik). Die Themenbereiche und Theorien stellen dabei keine integralen Bestandteile einer Gesamtperspektive auf politischen und sozialen Wandel dar, sondern „[…] erscheinen diese Aspekte als bloße Ergänzung oder Erweiterung eines Themenkatalogs, der sich ansonsten am

3.1  Wandel in der politischen Bildung

55

nationalen Referenzrahmen orientiert“ (Sander/Scheunpflug 2011: 13). Der enge Zusammenhang zwischen Politischer Bildung in der Schule und der Bildung von Nationen und Nationalstaaten ist unter anderem historisch erklärbar, da politische Bildung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich für einen nationalstaatlichen Rahmen konzipiert wurde (Juchler 2011: 401); so ist sie heute noch als Teil des staatlichen Systems in die Logiken nationaler Politiken eingebettet (Sander 2011: 418). Auch der Blick in internationale Untersuchungen zu Politikunterricht und Bürgerschaftlichkeit (vgl. die International Civics and Citizenship Study von Schulz et al. 2010) zeigt, dass der Schwerpunkt auf nationalen politischen Strukturen und Systemen liegt (Kennedy 2011: 326). Themen wie ›Die Weltgemeinschaft und internationale Organisationen‹ oder ›Regionale Institutionen und Organisationen‹ werden von nicht einmal 30 % der untersuchten Länder als Hauptschwerpunkte der politischen Bildung erachtet und spiegeln kaum eine internationale oder globale Perspektive wider; diese Themen kommen in 7,9 % (Die Weltgemeinschaft und internationale Organisationen) beziehungsweise 21 % (Regionale Institutionen und Organisationen) der Länder überhaupt nicht vor (Kennedy 2011: 319). Laut Kennedy gibt es „[…] nur ein Thema, auf das 80 % der Länder besonderes Gewicht legen, nämlich ‚Rechtssysteme und Gerichte‘“ (Kennedy 2011: 319). „Der Schwerpunkt liegt auf nationalen politischen Strukturen und Systemen“ (Kennedy 2011: 326). Im aktuellen staatszentrierten Ansatz wird an sozialwissenschaftliche Diagnosen angeknüpft, die Staat nicht als gegeben annehmen, sondern von seiner historischen Konstitution, Krisenhaftigkeit und Transformation (Brand 2011: 146) ausgehen. Gemeinsam ist den sozialwissenschaftlichen Diagnosen, die unterschiedliche Staatsbegriffe, analytische Konzepte und dementsprechend Thesen und Ergebnisse haben, dass sie Herrschaft zunehmend differenzierter und komplexer beschreiben. Gemeinsamer Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen (Politikwissenschaft, Soziologie, Rechts-, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften) sind Veränderungsprozesse, die sich auf die Bereitstellung normativer Güter wie Sicherheit, rechtliche Gleichheit und Freiheit, demokratische Selbstbestimmung, soziale Sicherung und Ausgleich moderner Staatlichkeit auswirken. Aus politikdidaktischer Perspektive wird der fachlich konstatierte Wandel von Staat als einschneidende Entwicklung ernstgenommen. Für die politische Bildung zentraler Ansatzpunkt ist, dass die Formen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlfahrt und sozialer Sicherung infrage stehen und laut Eis und Salomon diesbezügliche Veränderungen von Betroffenen politischer Entscheidungen mit Bedrohungen „[…] diffuser Verantwortungszuschreibung,

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

erhöhter Wettbewerbs- und Leistungsorientierung sowie mit reduzierten oder verhinderten Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung […]“ (Eis/Salomon 2014b: 7) verknüpft werden. Reflektierte ­Anspruchs-und Loyalitätsvorstellungen über die Rolle und den Wandel von Staatlichkeit werden jedoch als eine Voraussetzung für die politische Orientierung und Teilhabe angesehen (Klee et al. 2011). Aus diesem Spannungsfeld heraus wird der wissenschaftlich konstatierte Wandel des Staates als Paradigmenwechsel verstanden, Staatlichkeit differenzierter zu betrachten und Lernende in die Lage zu versetzen, den gewandelten und sich stetig wandelnden Staat zu verstehen (Sehen), beurteilen (Urteilen) und mitgestalten (Handeln) zu können. Dafür gilt es den fachlichen Ausgangspunkt durch die Perspektive der Vermittlung sowie Aneignung anzureichern (Klee et al. 2011: 21–22). Auf der Grundlage der Lernendenvorstellungen zu Staat (Klee et al. 2014; Lemme/Neuhof 2015a, 2015b) werden Vorschläge gemacht, das Themenfeld ›Staat‹ didaktisch neu zu rekonstruieren, beispielsweise über einen begriffssensiblen Umgang mit Staat (Klee et al. 2014). Inhaltlicher Bezugspunkt sind dabei die vier Dimensionen von Staatlichkeit (Ressourcen, Recht, Legitimation, Intervention) und der darin zu erbringenden normativen Güter, deren Gewährleistung sich durch die Betrachtung der zwei Entwicklungsebenen moderner Staatlichkeit, räumlich (national-international) und modal ­(staatliche-private Akteure), beschreiben lässt (siehe Abschnitt 2.1.2; Genschel et al. 2006: 4–5). Rechtliche Freiheit wird somit funktional als ein normatives Gut betrachtet, dessen Gewährleistung durch den Staat sich wandelt. Die vorliegende Arbeit knüpft an den staatszentrierten Ansatz an, konkretisiert ihn aber dahingehend, dass – nicht fachliche Erkenntnisse, sondern die fachliche Erschließung von Erkenntnissen, genauer: die in Abschnitt 2.1 und 2.2 dargelegten und für die Konstituierung von rechtlicher Freiheit relevanten fachlichen Denkweisen vor dem Hintergrund von staatlichen Wandlungsprozessen für eine Konfrontation mit subjektiver Sinnbildung zum Ausgangspunkt für Bildungsprozesse genommen werden. In der vorliegenden Arbeit wird rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildung begründet und untersucht, die sich in der Konfrontation mit fachlichen Denkweisen und Deutungen zeigt. – die integrative Perspektive auf Problemstellungen fokussiert wird. Wie in Abschnitt 2.3 dargelegt, setzt die Verständigung über die Neugestaltung des Konstellationsgefüges staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure zur Erbringung normativer Güter wie rechtliche Freiheit, Politik und Recht in ein neues Verhältnis. Es gibt innerhalb der Politikdidaktik bis auf

3.2  Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse

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kürzere Ausführungen und unterrichtspraktische Umsetzungen, keine weiterführenden Arbeiten, an die angeschlossen werden kann5. In der vorliegenden Arbeit wird rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildung begründet und untersucht, die im politisch-rechtlichen Bewusstsein gebildet wird. Wandlungsprozesse beziehungsweise dessen fachdidaktische Perspektivierung und staatszentrierte Analyse werden in der vorliegenden Arbeit als Hintergrundfolie eines Verstehensrahmens (siehe Abschnitt 3.2) genutzt, der rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildungsform begründet und Wahrnehmung in der kategorialen Bildung (siehe Abschnitt 3.3) herleitet.

3.2 Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse Der Verstehensrahmen wird aus inhaltlichen Facetten und prozessualen Aspekten von Bildungsprozessen generiert. Angeschlossen wird an die lerntheoretische Grundannahme, dass Lernprozesse abhängig von subjektiver Wahrnehmung (Holzkamp 1993) sind; Lernen ist subjektiv begründet, Sinn und Bedeutung von Lernen bestimmen sich aus der eigenen Lebensperspektive und erfordern die Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung des Lernenden. Diese Orientierung an den Lernenden ist gemeinsamer Nenner politikdidaktischer Überlegungen (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 8). Subjektive Sinnbildungen sind als Lernendenvoraussetzungen politischer Bildungsprozesse zu betrachten. Dem Bewusstsein (siehe Abschnitt 3.2.1) kommt dabei eine Mittlerposition zu, da dieses individuelle Sinngebungspraktiken umfasst, in die kollektive Sinnbildungen eingeschrieben sind. In der Entwicklung des Bewusstseins durch Lernen können sachbedingte Lernschwierigkeiten herausgestellt werden, die in der (angenommenen) Differenz von Politik/Recht und alltäglicher Wahrnehmung

5Bedeutende

politikdidaktische Autorenkollektive formulieren ein staats- beziehungsweise systemzentriertes Konzept: den nationalen Rechtsstaat als Teil politischer Ordnung (Weißeno et al. 2010: 83–87) oder Recht als systemischer Handlungsrahmen, unter dem die jeweilige Herrschaftsordnung mit ihren Institutionen und Rechtsgrundlagen verstanden wird (Autorengruppe Fachdidaktik 2011b: 169). Die Rechtsdimension ist es auch, die auch ohne Wandlungskontext vor allem Eingang in Lehrpläne findet und in didaktischen Konzeptionen als Elemente des politischen Handlungsrahmens (Verfassung, Rechtsordnung, Institutionen) konkretisiert wird.

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

begründet sind (siehe Abschnitt 3.2.2). Diese sachbedingten Lernschwierigkeiten sind im Hinblick auf rechtliche Freiheit zu identifizieren, damit ein verständnisvolles Lernen befördert werden kann, also ein Lernen, das Verstehen ­politisch-rechtlicher Realität ermöglicht (siehe Abschnitt 3.2.3).

3.2.1 Bewusstsein Subjektive Sinnbildungsformen sind als Lernendenvoraussetzungen ernst zu nehmen, da Lernende durch sie Politik und Recht konstituieren und für sich sinnhaft machen. Sie stellen im Konzept des Bürgerbewusstseins eine sinnstiftende Kulturtätigkeit des Menschen dar. Das Bürgerbewusstsein umfasst „[…] die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit“ (Lange 2008: 431) und dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Bürgerbewusstsein bildet mentale Modelle, welche die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich, erklärbar und anerkennungswürdig machen. Politisch-rechtliche Realität baut sich in dieser Hinsicht nicht aus ›brute facts‹ auf, sondern über Sinnbildung wird diese erst konstituiert. Lange dimensioniert Bürgerbewusstsein weiter hinsichtlich unterschiedlicher Bereiche und benennt das Politikbewusstsein, politisch-soziale Bewusstsein, politisch-ökonomische Bewusstsein, historisch-politische Bewusstsein und das politisch-moralische Bewusstsein sowie hinsichtlich unterschiedlicher Sinnbereiche und benennt Vergesellschaftung, Bedürfnisbefriedigung, Gesellschaftswandel und Herrschaftslegitimation (Lange 2008: 434–436). Vor allem das Politikbewusstsein ist Gegenstand theoretischer und empirischer Politikdidaktik (vgl. Klee 2014; vgl. Massing 1998). „Als Politikbewusstsein kann derjenige Bereich des menschlichen Bewusstseins angesehen werden, in dem Vorstellungen über Politik aufgebaut werden“ (Lange 2011a: 131). Sein Politikverständnis darlegend, das in der Politikdidaktik mehrheitlich als enger Politikbegriff geteilt wird, konkretisiert Lange den Aufbau von Vorstellungen darüber, wie Individualinteressen in allgemeine Verbindlichkeit transformiert werden (Lange 2011a: 133). Syring kritisiert an dieser Stelle „[…] das Fehlen des politisch-rechtlichen Bewusstseins“ (Syring 2012: 34). In der vorliegenden Arbeit werden nicht Vorstellungen über Politik, Ökonomie, Moral usw. als Inhalt von Bewusstsein untersucht, über das das Bewusstsein verfügt, sondern es interessiert, wie diese Vorstellungen gebildet werden; im Mittelpunkt stehen individuelle Wahrnehmungsakte (siehe Abschnitt 1.2). An das Konzept des Bürgerbewusstseins wird in seiner lerntheoretischen Relevanz angeschlossen. In lerntheoretischer Hinsicht bestimmt das Bürgerbewusstsein,

3.2  Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse

59

was Lernende wahrnehmen. Dazu gehört „[…] zum einen, „was Schüler/-innen aus dem unterrichtlichen Informationsangebot auswählen, zum anderen, wie sie es aufnehmen und zu bestehenden Wissensbeständen in Verbindung setzen“ (Heldt 2015: 13; Hervorh. im Original). Mit rechtlicher Freiheit als Sinnbildung wird politisch-rechtliche Ordnung im Bewusstsein konstituiert. Analog zu Vorstellungen, die sich danach unterschieden lassen, ob sie dem Politikbewusstsein, dem historisch-politischen Bewusstsein usw. zuzurechnen sind, lässt sich auch Wahrnehmung danach unterscheiden, inwieweit sie historisch-politische, politische, politisch-moralische usw. Ordnung im Bewusstsein konstituiert. In Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Denkweisen sowie politischen und kollektiven Deutungsmustern entwickelt und verändert sich rechtliche Freiheit als Sinnbildung. In der fachdidaktischen Inszenierung der Auseinandersetzung kann es dabei zu sachbedingten Lernschwierigkeiten kommen. Die Analyse und Bewertung von sowie das Handeln in Prozessen, Inhalten, Strukturen des Politischen6 sind auf eine Überschreitung lebensweltlicher Erfahrungen angewiesen. Der Weg, auf welchem diese Überschreitung erfolgt und beschreibt, wie sich Lernen vollzieht, wird in der Politikdidaktik unterschiedlich gezeichnet. In der didaktischen Reflexion wird dabei häufig der Gegenstand von Erkenntnisweisen entkoppelt, was sach- beziehungsweise vermittlungsbedingte Lernschwierigkeiten evoziert (siehe Abschnitt 3.2.2).

3.2.2 Erfahrbarkeit Von didaktischem Interesse ist die Konzeptualisierung sachbedingter Lernschwierigkeiten, die sich aus einer didaktisch aufrechtgehaltenen Gegenüberstellung von Lebenswelt und Politik beziehungsweise Recht ergeben. Phänomene erscheinen in subjektiven und kollektiven Deutungen, welche die Art und Weise der Weltwahrnehmung beeinflussen, aufgrund unterschiedlicher Entstehungskontexte verschieden, was Grenzen des jeweiligen Erfahrungsraums markiert.

6In

der politischen Bildung verweist in diesem Sinne das „Politische“ auf „die öffentliche Gestaltungskraft mündiger Bürgerinnen. Das Politische der Bildung transportiert den Anspruch und die Fähigkeit von Lernenden, die soziale Welt zu verstehen, zu beurteilen, zu kritisieren und zu verändern. Die aktuellen Herausforderungen von Mündigkeit und demokratischer Selbstbestimmung bestimmen die Lerngegenstände. Sie sollten als Kontroversen didaktisiert und mit wissenschaftlichen Diskursen in Beziehung gesetzt werden“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 8).

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3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Problematisch ist es, wenn aus didaktischer Vermittlungsabsicht fachliche Konstrukte wie Demokratie, Nationalität oder Staat als Entitäten gebildet werden, die in Schemaform mit festen und klaren abbildhaften Strukturen lebensweltlichen Erfahrungen gegenübergestellt werden. Solche fachlichen Konstrukte werden in Bildungskontexten mitgedacht (Weißeno 2008: 13), um mit dem Bezug auf Disziplinen der Sozialwissenschaften eine inhaltliche Gewichtung auszuweisen, eine ›lückenhafte‹ Alltagserfahrung zu kompensieren und fachspezifische Kompetenzen in ihrem Bezug auf fachliche Konzepte zu bewerten. Analog zu den Sozialwissenschaften werden dabei innerhalb der Politikdidaktik Staat und Demokratie teilweise selbsterklärend und unhinterfragt vorausgesetzt und vornehmlich als Modell der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie oder als Deutscher Nationalstaat in Vermittlungssituationen modelliert. Solche Ontologisierungen machen Institutionen wie ›der Staat‹ oder ›die Demokratie‹ zu „unabhängigen Weseneinheiten mit eigenem Willen“ (Steffens 2011: 395), die nicht mehr als Produkt menschlicher Handlungen erscheinen. Diese fachdidaktisch gebildeten beziehungsweise reproduzierten Entitäten sind in der Lebenswelt der Lernenden nicht erfahrbar, da in der Lebenswelt als Welt der natürlichen Einstellung Phänomene erfasst werden, nicht aber deren theoretische oder politische Erklärungen (Murmann 2002: 70). Die Nicht-Erfahrbarkeit fachlicher Konstrukte beziehungsweise deren theoretische ­ oder politisch-fachliche Erklärungen deuten sich in verschiedenen Untersuchungen zu Vorstellungen, Erwartungen und Vertrauen von Jugendlichen an (Lemme/Neuhof 2015a; Torney-Purta et al. 2001: 70)7. Diese lassen sich wie folgt explizieren: Das Konstrukt des ›Nationalen‹ Erwartungen und Ansprüche von Lernenden richten sich an den hierarchisch, patriarchalisch und territorial gedachten Nationalstaat, der als Sinnhorizont das Wahrnehmen von Beschaffenheit, Herkunft und Legitimation neuer Institutionen und Akteure erschwert (Lemme/Neuhof 2015a). Kennedy bezeichnet dies als ›Neo-Etatismus‹; selbst in einer zunehmend globalisierten Welt wird die Rolle der Nationalstaaten fokussiert (Kennedy 2011: 310). Zusammenhängen könnte dies mit dem Einfluss von Entscheidungen der nationalen Regierungen auf die ­ Lebensumstände der Bürgerinnen (Finanzvorschriften, staatliche Sicherheitsmaßnahmen, Gesetze zu Bereichen wie Verkehr, Wohnungsbau

7Die Ergebnisse der Untersuchungen werden ausführlich in Abschnitt  4.1, dem Forschungsstand, geklärt.

3.2  Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse

61

und Bildung) (Kennedy 2011: 310–311). Die Kategorie des Nationalen hat ihre Deutungskraft nicht verloren. Nach wie vor besitzt sie Erklärungskraft in der Lebenswelt der Jugendlichen. Staatsbilder Lernende verwenden narrative Strukturelemente wie Metaphern, Metonymien und Analogien in ihren Wirklichkeitserzählungen über Herrschaft, Staat und Politik. Diese sind Ausdruck alltäglicher Erfahrungsmuster; es zeigt sich, „[…] dass Staat in der Lebenswelt der Schüler zwar einen bedeutenden Begriff darstellt; über ihn wird jedoch nicht auf spezifische gesellschaftspolitische Kontexte zugegriffen“ (Klee et al. 2013: 115–116). Musterstück Demokratie Lernende erleben Demokratie und Politik als getrennte Sphären, was sich in der Gegenüberstellung der Begriffe ›Demokratie‹ und ›Politik‹ manifestiert. Demokratie ist ein positiv besetzter Begriff für Handlungsverhältnisse im guten Leben, Politik bezeichnet als Negativbegriff Funktionsverhältnisse im politischen System (Beutel/Fauser 2001: 88). Anspruch und Wirklichkeit driften auseinander, wenn Demokratie mit ihren normativen Versprechen als anziehend, ihre reale institutionelle Kompetenz hinsichtlich globaler Herausforderungen und politischer Koordinierungszwänge im europäischen Mehrebenensystem als brüchig wahrgenommen wird. Die Konzentration liegt auf idealen Konstrukten, die als Steuerungssubjekte erscheinen und denen entlang von Wertmaßstäben Versagen bescheinigt wird. Das Erleben von Imprägnanz erscheint als Abweichung einer Wahrnehmungsgestalt von einem außer ihr bestehenden Musterstück. Die Beispiele bekräftigen die Vermutung, dass Alltagswahrnehmung weniger durch Definitionen geschult wird. Erfahrungen mit dem Politischen scheinen unter Begriffe subsumiert zu werden, Begriffe scheinen also zuvorderst ohne Rekurs auf fachliche Konzepte oder Explizitdefinitionen erworben zu werden (Neuweg 1999: 272). Zu sachbedingten Lernschwierigkeiten werden diese Erkenntnisbegrenzungen dann, wenn in den didaktischen Ausrichtungen politische Prozesse als lineare, strukturierte Abläufe mit klaren Interessensstrukturen inszeniert werden, die die in der Alltagswahrnehmung existente Gleichzeitigkeit, Vielschichtigkeit und (Über)Komplexität von Politiken verkennen (Klee et al. 2014) und die im Hinblick auf sozialwissenschaftliche Inhalte lebensweltliche Erfahrung auf dem Weg fachlicher Abstrakta zu überschreiten versuchen. Das Erkenntnisobjekt wird von der Erkenntnisweise entkoppelt. Der hier vertretene Ansatz richtet das Augenmerk auf domänenspezifische Erschließungsweisen, die Gegenstände überhaupt erst konstituieren. In dem für

62

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

die Arbeit zu Grunde gelegten Lehr-Lernverständnis ist die Verknüpfung von Lebenswelt, Lernen sowie Politik und Recht zentral und grundlegend für die Politisierung des Menschen.

3.2.3 Lernen Die Politisierung vollzieht sich in der produktiven Auseinandersetzung des Lernenden mit seiner sozialen und physikalischen Umwelt (Hurrelmann 2002). Ausgangspunkt ist ein normativ-empirisches Bildungsverständnis, das die Förderung der Subjektentwicklung durch politisches Lernen und die Konstituierung, Reproduktion und Reformierung von Demokratie fokussiert (Massing 2005: 26). In der vorliegenden Arbeit wird ein emanzipatorisches Politik- und Bildungsverständnis als gangbare beziehungsweise anschlussfähige Perspektive innerhalb der Politikdidaktik zugrunde gelegt. Zur Kennzeichnung dieses Bildungsverständnisses wie auch der folgenden Aussagen gibt es relevante Kontroversen, die typisch für Sozialwissenschaften, das heißt auch für die politische Bildung und Politikdidaktik sind. Mit dem Verweis auf jeweilige Nachverfolgung werden diese nicht systematisch dargelegt, sondern im Sinne einer pragmatischen Basis an ein jeweils ausgewiesenes didaktisches Minimum (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 9; GPJE 2004) angeschlossen. So existiert auch zu der Frage, was politisches Lernen ist und wie es sich entwickelt eine wissenschaftliche Multiperspektivität. Deren Konkretisierung durch den Bezug auf fachliche Disziplinen der Sozialwissenschaften, die Verortung innerhalb der Sozialisationstheorie und die Verknüpfung mit Lehr-Lerntheorie, wie folgend, ist gängige Perspektive innerhalb der Politikdidaktik als synoptischer Wissenschaft (Detjen 2007: 418). Hinsichtlich eines normativen Bildungsverständnisses betrifft die Ausformulierung der Subjektentwicklung durch politisches Lernen, die Lernenden als künftige Autoren gesellschaftlicher Selbststeuerung (Steffens 2011: 385) anzuerkennen und die Frage danach zu stellen, wie politische Bildung Autonomie, Deutungsfähigkeit und demokratische Selbstbestimmung, kurz: Mündigkeit8, befördern kann. Autonomie, Emanzipation, Kritikfähigkeit und Demokratie sind dabei ›contested concepts‹ in der Politikdidaktik; als ›umkämpfte Begriffe‹, „[…] die in ihrer Verwendungspraxis zugleich bewertende Urteile wie Zustimmung,

8Zu

konzeptionellen Kontroversen siehe Autorengruppe Fachdidaktik (2017: 17–21).

3.2  Verstehensrahmen politischer Lehr-Lernprozesse

63

Hoffnung, Verachtung oder Ablehnung ausdrücken“ (Buchstein 2016: 3). Als Bildungsideal, das fachdidaktische Überlegungen stets leitet, wird Mündigkeit in der vorliegenden Arbeit konkretisiert als reflexive Fähigkeiten, sich mit Gesellschaft, Politik und Wirtschaft interessengeleitet und kritisch-widersprechend auseinanderzusetzen (Eis 2011: 146–149 und 2017) und „[…] dort selbstbestimmt und selbstwirksam handeln und dies nachvollziehbar rechtfertigen zu können“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 15). Normativ-empirische Bezugspunkte sind der Einzelne und „[…] die politische und gesellschaftliche Welt, ihre zentralen Konflikte und Problemlagen und deren mutmaßliche Entwicklungstendenzen“ (Steffens 2011: 385); in der politischen Bildungsarbeit geht es dann um die Frage, wie politische Bildung Lernende auf neue Kontexte vorbereitet, sich in diesen zurechtzufinden und Lernanlässe zu bieten, „[…] die eigenen Lebenschancen und Interessen innerhalb der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen zu analysieren und Möglichkeiten solidarisch gemeinwohlorientierten Handels auszuloten“ (Eis 2012: 31) sowie zu einer Deutungsermächtigung Jugendlicher beizutragen. Gesellschaftliche Widersprüche, die als Herausforderungen die Mündigkeit in Frage stellen, müssen „[…] als Kontroversen didaktisiert und mit wissenschaftlichen Diskursen in Beziehung gesetzt werden“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 8). In dem für die Arbeit zu Grunde gelegten Lehr-Lernverständnis ist die Verknüpfung von Fähigkeiten des Einzelnen, politischer und rechtlicher Realität sowie wissenschaftlichen Deutungsmustern zentral sowie grundlegend für die Politisierung des Menschen. Vor dem Hintergrund dieses Bildungsverständnisses richtet der hier vertretene Ansatz das Augenmerk – auf die Verankerung alltagsweltlicher Zugänge zum Politischen. Es sind konkrete Erfahrungen, die sinnstiftendes Lernen begründen (Dewey 1997). Ein ausschließlich vielfältiges und intensives Erfahren der Lebenswelt führt allerdings nicht zu politischem Lernen; die eigenen Lebenschancen und Interessen innerhalb der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen zu analysieren und Möglichkeiten solidarisch gemeinwohlorientierten Handels auszuloten ist auf die Überschreitung lebensweltlicher Erfahrungen angewiesen. – auf domänenspezifische Erschließungsweisen, die Gegenstände überhaupt erst konstituieren. Die notwendige und an den Lernenden anschlussfähige Überschreitung lebensweltlicher Erfahrung erfolgt auf dem Weg wissenschaftlicher Erschließungsperspektiven durch eine am mentalen ­Wahrnehmen-Können orientierte Politikdidaktik. In dieser wird an subjektive Konstitutionsakte angeknüpft und als Zielperspektive domänenspezifische Erschließungsperspektiven fokussiert.

64

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Chancen politischer Bildung bestehen darin, Wahrnehmung kategorial als domänenspezifische Erkenntnisweise zu entwickeln.

3.3 Wahrnehmung in der politischen Bildung Wahrnehmung wird innerhalb der Politikdidaktik in erster Linie im Kontext ästhetischer Bildung als erfahrungsbasierte Wahrnehmung verhandelt, die sich geprägt durch Medien an ästhetischen Erscheinungsweisen orientiert (Besand 2004) und sich vor allem auf symbolische Politik bezieht (Richter 2003). Als geistiger beziehungsweise mentaler Akt, der die Grundlage domänenspezifischer Erkenntnis bildet, wird sie nicht umfassend begründet. Wahrnehmung stellt in diesem Sinne die reduzierteste Form mentaler Tätigkeit dar, deren Strukturmerkmale sich auf allen Ebenen menschlicher Tätigkeit wiederfinden. Wahrnehmung wird in der vorliegenden Arbeit nicht passiv, sondern als komplexe Wahrnehmung verstanden. In diesem Verständnis wird Wahrnehmung als Grundlage politischen Urteilens beschrieben (siehe Abschnitt 3.3.1). Sie ist zwar trennscharf von politischem Urteilen zu unterscheiden, politische Urteilsfähigkeit ist jedoch auf komplexe Wahrnehmungsprozesse angewiesen. Dafür wird an die Theorie kategorialer Bildung angeschlossen (siehe Abschnitt 3.3.2) und es wird begründet, dass komplexe Wahrnehmung kategoriale Wahrnehmung ist (siehe Abschnitt 3.3.3), die erlernt werden kann: als Vermögen, etwas ›als Fall von‹ zu erkennen, also in kategorialen Akten politisch-rechtliche Realität zu erschließen. Wahrnehmung ist in der Qualität veränderbar (siehe Abschnitt 3.3.4), sie ist von den Möglichkeiten und Besonderheiten ihrer bewussten Herbeiführung abhängig.

3.3.1 Wahrnehmung als Grundlage politischen Urteilens Politisches Urteilen ist eine domänenspezifische Erschließungsweise, durch die Erfahrung überschritten wird. Politische Urteilsbildung ist anerkanntes Leitziel und gehört zum set of beliefs der Politikdidaktik (Pohl 2004: 319). Ausgehend von diesem wissenschaftlichen Konsens, der in den Kompetenzbestimmungen der Gesellschaft für politische Jugend- und Erwachsenenbildung verstetigt wird (GPJE 2004), lässt sich in der konkreten Ausgestaltung des didaktischen Zusammenhangs von politischem Urteilen, Inhalten, Organisations- und Vollzugsformen sowie Medien des Unterrichts eine enorme Bandbreite fachdidaktischer Überlegungen ausmachen (Klee 2008). Die Bestimmung von Weisen, politisches Urteilen und politische Urteilsbildung zu denken, wird durch

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

65

anthropologische, pädagogische, fachwissenschaftliche, bildungspolitische und empirische Prämissen strukturiert, was nicht zuletzt in einem divergierenden Begriffsverständnis von Urteilsfähigkeit, Urteilskompetenz oder Urteilskraft offenkundig wird. Prominent ist in den politikdidaktischen Überlegungen zum einen das Anknüpfen an die normativen Bestimmungen des sensus communis politischer Philosophie, speziell Kants Denkarbeiten und Hannah Arendts darauf bezugnehmende Interpretation9: Politisches Urteilen wird als „erweiterte Denkungsart“ (Juchler 2005b) konzeptualisiert und als E ­ rkenntnis- und Einbildungsvermögen beschrieben. Zum anderen das Anknüpfen an die in der Soziologie von Weber formulierten rationalen Handlungstypen; die GPJE, die Fachdidaktiker als Autoren unter dem Dach einer Fachgesellschaft beherbergt, formuliert politische Urteilsfähigkeit als im eigentlichen Sinne domänenspezifische Kompetenz. Kompetent ist, wer Ereignisse, Probleme und Kontroversen angemessen unter Wert- und Sachaspekten betrachtet und damit politische Rationalität ausweisen kann (GPJE 2004). Mit diesem Minimalkonsens im Moment eingefangen, werden zugleich zahlreiche Kontroversen um Theoriekerne, inhaltliche Bezugspunkte, Denktraditionen, Vollzüge, Messbarkeit beziehungsweise -machung, unterrichtlicher Praxis u. v. m. eröffnet. „Die Problematik der politischen Urteilsbildung ist letztlich so alt, wie die Politikdidaktik selbst“ (Klee 2007b: 142). Politisches Urteilen kann auf Grundlage bestehender Konzeptionen charakterisiert werden – als Ethik: Politisches Urteilen bedeutet ein selbstreflexives und kritisches Abwägen von Wertvorstellungen, individuellen und kollektiven Interessen, politischen Positionen und gesellschaftstheoretischen Konzepten. Auf dieser Grundlage wird ein eigenes Werturteil gefunden, begründet und reflektiert (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 146). Bedeutend ist die Existenz eines Abwägungsprozesses und einer Positionierung.

9Für

Kant bedeutet Urteilen einerseits das Besondere unter das Allgemeine als Regel, Prinzip oder Gesetz zu subsumieren und zu ordnen (bestimmendes Urteil) sowie andererseits zum Besonderen das Allgemeine zu finden (reflektierendes Urteil). Das Allgemeine ist jedoch nicht etwas bereits Bestehendes, sondern muss immer wieder aufs Neue Kraft Einbildung als zusammenhängendes Ganzes vergegenwärtigt werden (Kant 1983[1790]). Arendt charakterisiert die beiden Urteilstypen näher als Vermögen des Subsumierens des Einzelnen und Partikularen unter etwas Universales, das durch logische Operationen hergeleitet wird, sowie die maßstablose Tätigkeit des Vermögens der Einbildungskraft, durch die das allgemeine Politische als Muster der Pluralität imaginiert wird (Arendt 1985).

66

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

– als Typ: Politisches Urteilen bedeutet rationales Urteilen, im Sachurteil als Erläuterung und Begründung in Übereinstimmung mit Wirklichkeit (dazu gehören Feststellungs- und Erweiterungsurteile, die sich auf die Vergegenwärtigung und die analytische Erhellung von Sachverhalten beziehen), in normativen Urteilen wie Wert-, Entscheidungs- und Gestaltungsurteilen durch evaluative Handlungen, Abwägen und Sich-Entschließen sowie Problemlösungsprozessen (vgl. Detjen et al. 2012; Massing 2012). – als Prozess: Politisches Urteilen bedeutet Lernen (Klee 2007b: 146–150). Urteilen als Prozess umfasst eine Vielzahl von Aneignungsprozessen und ist neben rationalen auch auf irrationale Zugänge angewiesen. Im Prozess der Urteilsfindung als Erkenntnisprozess wird die Fähigkeit gebildet, zwischen Rationalität und Irrationalität zu unterscheiden (Klee 2007b: 147–148). Aktuell offene Fragen, die neben normativen Bestimmungen die Notwendigkeit empirischer Fundierung fokussieren, beziehen sich auf ein deskriptives Modell, das die „[…] Bestandteile Argumentation und Urteilen auf der Basis eines Modells des Fachwissens definiert“ (Manzel/Weißeno 2017: 59), die Ausweisung inhaltlicher Bezugspunkte politischer Urteile (Lange 2011a; Girnus 2019) sowie auf die empirische Erfassung emotionaler und irrationaler Aspekte (Schröder 2015). Insgesamt bekräftigen diese politisches Urteilen als Explanandum der Politikdidaktik – das politische Urteil ist das, was es zu erforschen, zu erklären und zu begründen gilt. Die vorliegende Arbeit schließt an eine dynamische Urteilsbestimmung (Klee 2007b) an und versteht Urteilen als prozessuale Tätigkeit und nicht als Ergebnis am Ende logischer Operationen. Von besonderem Interesse ist die politikwissenschaftliche Bestimmung von von Bredow und Noetzel, weil sie den synoptischen Zusammenhang von Wahrnehmung und Urteilen bekräftigt. Hier wird politisches Urteilen als Vorgang der Situationsdeutung (von Bredow/Noetzel 2009: 15) sowie daraus gezogener Schlussfolgerungen verstanden, indem allgemeine Aspekte politischer Sachverhalte erkannt und in einen Zusammenhang mit Auswirkungen auf das eigene Leben gebracht werden. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses wird – politisches Urteilen als eine domänenspezifische Erschließungsweise verstanden, durch die Erfahrung überschritten wird. – als Kriterium für gelingendes Urteilen geschärfte Wahrnehmung für Situationsdeutungen formuliert. Geschärfte Wahrnehmung bildet die Grundlage politischen Urteilens.

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

67

Die politikwissenschaftliche Definition von von Bredow und Noetzel ist anschlussfähig für eine lerntheoretische (wahrnehmungsorientierte) und politikdidaktische Ausdeutung.

3.3.2 Wahrnehmung kategorial bilden In die Politikdidaktik kommt „das Kategoriale“ über die Bildungsperspektive allgemeiner Bildungstheorie und wird dort mit den Gründungsvätern der Politikdidaktik, Kurt Gerhard Fischer, Hermann Giesecke, Bernhard Sutor und Wolfgang Hilligen, nutzbar gemacht (Giesecke 1970; Fischer 1970; Hilligen 1985; Sutor 1984). Adaptiert werden die bildungstheoretischen Grundlagen von Klafkis kategorialer Bildung (Klafki 1964[1959])10. In dieser legt Klafki sein Bildungsverständnis in Auseinandersetzung mit traditionellen Bildungstheorien Grund. Sein bildungstheoretischer Kerngedanke: Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen (objektiver Aspekt) und zugleich Erschlossensein dieses Menschen für seine Wirklichkeit (subjektiver Aspekt). Begriff und Wesen von Kategorien beziehen sich auf diese doppelte Erschließung, denn „[…] diese Aufbaugesetze der objektiven Welt und der subjektiven Seele […]“ (Klafki 2013[1951]: 67) fließen in Kategorien zusammen. Kategorien sind nach Klafki also nicht rational oder formal zu charakterisieren, sondern inhaltlich-funktional: Die Kategorien sind nicht erst rationale Verknüpfungsformen einer chaotischen Fülle von sinnlich gegebenen Empfindungen und Erlebnissen, vielmehr sind sie schon die Ordnungsprinzipien dieser Empfindungen und Erlebnisse selbst. (Klafki 2013[1951]: 77)

In der kategorialen Bildung geht es dann darum, die doppelseitige Erschließung als allgemeine Inhalte auf der objektiven Seite sichtbar werden zu lassen und damit allgemeine Einsichten, Erlebnisse und Erfahrungen auf der Seite des Subjekts zu ermöglichen, indem das Fundamentale, Elementare und

10Der

Begriff „kategoriale Bildung“ ist erstmals von Erich Lehmensick und seiner Auseinandersetzung mit der Kategorienlehre Kants eingeführt (Lehmensick 1926).

68

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Exemplarische11 (Klafki 1961: 120–139) der Erscheinung als innere kategoriale Gliederung durch Aktualisierung und Funktionalisierung als Bildungsprinzipien sowie Analyse und Synthese, als subjektive Erschließungsperspektiven herausgeholt werden (Klafki 2013[1951]: 82). Bildung ist für ihn daher immer eine kategoriale, „[…] weil erst das Kategoriale einer Sache sie zum Bildungsgegenstand machen kann“ (Sander 2008: 80; Hervorh. im Original). In der Auseinandersetzung mit kategorialer Bildung knüpft man dabei zugleich an Tradition wie Kontroverse in der Politikdidaktik an; sieht man von Stimmen ab, die Kategorien als bloße aufgesetzte Begrifflichkeit ablehnen (Kuhn 1999: 50) oder der kategorialen Bildung ihre Zeitgemäßheit absprechen, ist sie auch heute noch aktuell für Theorie und Praxis der politischen Bildung (Breit/Massing 2006; Görtler 2015; Juchler 2011: 91–113), wenn auch nicht unhinterfragt (Manzel 2017: 34). Aufgrund der Funktion von Kategorien, als Verallgemeinerungen des Politischen, Zugänge zu Politik zu eröffnen und Komplexität zu reduzieren, kommt der kategorialen Bildung nach Kuhn und Massing Aufmerksamkeit zu: Ein Politikunterricht, in dessen Mittelpunkt Kategorien stehen und der eine kategoriale Bildung anstrebt, hat zum Ziel, bei Schülerinnen und Schülern die Gewohnheit und die Fähigkeit auszubilden, generell bei der Beschäftigung mit Politik Schlüsselfragen zu stellen und in den darin enthaltenen Kategorien zu denken, mit ihnen konkrete Politik zu analysieren, zu beurteilen, um so zu eigenen handlungsleitenden Werten zu kommen. (Massing 1999: 11)

Weitestgehend Einigkeit herrscht darüber, auf welchem Wege eine kategoriale Bildung erfolgen soll, nämlich auf dem exemplarischen. Das exemplarische Prinzip beschreibt den Lernweg, ausgehend vom anschaulichen Beispiel. Anhand von Situationen (Erfahrungen), institutionellen Konflikten (Fälle), sozialwissenschaftlichen Problemen oder Aufgaben wird im Wechsel von Induktion und Deduktion gelernt und zwar indem aus dem Besonderen ein Allgemeines und aus dem Allgemeinen ein Besonderes abgebildet wird (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 99–100). Jedoch ist es gerade die von Klafki an die Fächer formulierte

11Das

Fundamentale ist als Grundbereich das allgemeinste Prinzip, das Elementare sind begrenzte wesentliche, zentrale, bedeutsame Einsichten, Zusammenhänge und Verfahren, die immer wieder neu zu bestimmen sind; das Exemplarische ist die Verkörperung des Elementaren bzw. des Allgemeinen als Geschehen in lebensnahen Zusammenhängen; ergänzend sind zu nennen das Typische, das Klassische, das Repräsentative (Klafki 1975).

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

69

­ ufgabe, die für Kontroversen über geeignete Kategorien damals wie heute sorgt. A In jeweiligen Sinngebieten sind […] die entscheidenden, heute gültigen Kategorien herauszuarbeiten, ihre innere Gliederung aufzuzeigen sowie darzulegen, welche Einzelphänomene mit oder ‚auf‘ diesen Kategorien, verstanden werden können. (Klafki 2013[1951]: 94)

So gibt es in der Politikdidaktik eine erstaunliche Anzahl an mehr oder weniger umfangreichen Kategorienschemata, vor allem als Grundlage von Urteilen (Kuhn/Massing 1999; Massing 1997) oder formuliert als kategoriale Schlüsselfragen (Breit, Giesecke, Henkenborg, Massing, Skuhr, Sutor, Weinbrenner), die Kategorien je nach Politikbegriff, Referenztheorien und Einsatzgebiet formulieren (vgl. Pohl 2004). Nicht im Einzelnen, aber im Großen und Ganzen hat die Diskussion über die Unterschiedlichkeit der Kategorien Ähnlichkeit mit der in der Politikdidaktik zwischen zwei Autorengruppen geführten Kontroverse um Konzepte der Politik beziehungsweise des Politischen: Hier wie da ist die theoretische und praktische Begründung und entsprechende deskriptiv-analytisch und/oder normativ-bewertende Benennung von Begriffen, die Gleichsetzung von Kategorien beziehungsweise Konzepten und Fachbegriffen, die wissenschaftliche Pluralität oder das Problem des Verhältnisses der Politikdidaktik zu den Sozialwissenschaften und das Lehren und Lernen oder das Problem der Vorgabe von Systematik (Sander 2008: 79–85) zu diskutieren (zur Prüfung der Einwände vgl. Görtler 2015: 230–232). Insgesamt ist Kritik an theoretisch begründeten Modellierungen immer wohlfeil; die Architektur von fachdidaktischen Kategoriensystemen ist per se tendenziös, weil sie als Klassifikationsversuch immer bestimmte Ansätze favorisieren (Henkenborg 1997). In der vorliegenden Arbeit werden zwei Desiderate im Kontext kategorialer Bildung fokussiert: Zum einen die fehlende empirische Basis der Kategorienmodelle; es gibt ausschließlich evaluierte und systematisierte Beobachtungen zum Einsatz beziehungsweise zur praktischen Umsetzung von Kategorien seitens der Lehrerinnen und Wirksamkeit seitens der Lernenden (Massing 1999). Mit dem Ergebnis, dass Kategorienmodelle für Lehrerinnen als Analyse- und Suchinstrument hilfreich bei der inhaltlichen Planung von Unterricht sein können im Sinne einer Sachanalyse (Massing 1999: 26) und für Schülerinnen ein Instrumentarium, um sich Politik selbstständig zu erschließen (Kuhn 1999: 50). Allerdings beziehen sich diese Betrachtungen auf fachdidaktisch oder fachwissenschaftlich hergeleitete und begründete Kategorien, bei der der Einbezug der Struktur der Kategoriengewinnung seitens der Lernenden fehlt. Massing fasst die mit kategorialer Bildung verbundenen Gefahren wie folgt zusammen:

70

3  Politische Bildung • Recht • Wandel Kategorien werden leicht zu einem »mechanisch zu handhabenden Instrumentarium«, zu einem »leeren Schematismus«, der den Schülerinnen und Schülern äußerlich bleibt Sie können zwar die Kategorien reproduzieren, aber nicht wirklich damit umgehen. (Massing 1997a: 131)

Die einseitige wissenschaftstheoretische Ausrichtung muss durch ein erweitertes Verständnis politischer Aneignungsprozesse angereichert werden (Klee 2007b). Zum anderen handelt es sich vorwiegend um statisch formulierte Modelle, in dem Sinne, dass sie von einem übergeschichtlichen Politikbegriff ausgehen, was Kategorien zwar systematisch, aber nicht historisch begründet (Chu 2002: 63). Wie Klafki argumentiert, umfasst kategoriale Bildung auch die gesellschaftliche Bedeutung der Lerninhalte. In seiner sozial-politischen Weiterentwicklung kategorialer Bildung formuliert Klafki dementsprechend Weltprobleme beziehungsweise gesellschaftlich-politische Probleme als Schlüsselprobleme12. Während die Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen noch weitestgehend Konsens findet, ist deren Kopplung mit Zeitdiagnosen, wie Gagel auch 1994 feststellt, kontrovers (Gagel 1994: 53). Henkenborg stellt in seinem Vergleich von Kategorien der Fachdidaktik fest, dass es zwar einen Kategorienkern gibt, der dem Grundmodell klassischer Gesellschaftstheorien zugerechnet werden kann, dieser sei jedoch unvollständig und umfasst unterbewertete Kategorien (Henkenborg 1997: 95–121). Die einseitige wissenschaftstheoretische Ausrichtung muss durch die Geschichtlichkeit von Kategorien ergänzt werden, da diese auch immer historische Ordnungsformen darstellen. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses kategorialer Bildung – bilden Kategorisierungen die Grundlage politischen Urteilens als domänenspezifische Erkenntnisweise, durch die Erfahrung überschritten wird. – sind für Prozesse der Kategorisierung Bildungsinhalte exemplarisch nach gesellschaftlich-politischen Beispielen zu organisieren. In dem für die Arbeit zu Grunde gelegten Bildungsverständnis ist innerhalb kategorialer Bildung die lehr-lerntheoretische und historische Perspektive auf Kategorien zentral sowie grundlegend für die Politisierung des Menschen.

12Dazu

gehören die Friedensfrage, Umweltfrage, gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien, die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität, des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder gleichgeschlechtlichen Beziehungen (Klafki 1993: 43–81).

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

71

3.3.3 Wahrnehmung als Kategorisierungsprozess Grundlage geschärfter Wahrnehmung für Situationsdeutungen und Lageansprüche (von Bredow/Noetzel 2009: 15) sind Kategorisierungen, die innerhalb einer kategorialen Bildung forciert werden. Im Hinblick auf eine Struktur der Kategoriengewinnung ist das funktional-inhaltliche Verständnis von Kategorien beziehungsweise Kategorisierungen bedeutend, an das in der vorliegenden Arbeit angeknüpft und das weiter wahrnehmungstheoretisch ausformuliert wird. Prozesse der Kategorisierungen werden in wahrnehmungstheoretischer Lesart durch Wahrnehmungsakte der Mustererkennung und begrifflichen Subsumtion vollzogen; im Wahrnehmungsakt wird kategorisiert, indem von dem Tatsächlichen auf das Wesen umgestellt wird (Neuweg 1999: 149). Zu kategorisieren bedeutet, etwas ›als Fall von‹ zu erkennen. Mit Kant ist es „[…] das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe oder nicht“ (Kant 1998 [1781]: 133; Hervorh. im Original). Der Prozess der Zuordnung funktioniert durch Ähnlichkeitswahrnehmung, Kategorien werden um einen Prototypen als typisches Beispiel der jeweiligen Klasse gebildet (Neuweg 1999: 276). Es ist nicht die Menge an Informationen, die geschärfte Wahrnehmung bildet; wie geschärft die Wahrnehmung ist, hängt unter anderem von der Differenziertheit der Kategorien ab, mit der man an Erfahrung herantritt (Neuweg 1999: 374), die sich in einer Lerngeschichte aus der Konfrontation mit Klassenvertretern einerseits und Einzelheiten des aktuellen Falls (holistisches Erkennen von Ähnlichkeiten) andererseits entwickelt; der dadurch konstituierte Gegenstand ist die ­begrifflich-thematische Entität als Kategorie (Neuweg 1999: 190). Kategorien sind dementsprechend nicht statisch, sondern „[…] jeder neue unter den Begriff subsumierte Fall modifiziert die Bedeutung des Begriffs […], jedes Urteil ist Assimilation von Erfahrung und Adaption des Begriffs in einem […]“ (Neuweg 1999: 281). Kategorien sind also nicht unmittelbar gegeben, sondern Ergebnis von Mustererkennungsprozessen, in denen zwischen zufälligen Aspekten ­politisch-rechtlicher Realität, dem kontingenten Besonderen einerseits und notwendigen Eigenschaften, dem Allgemeinen, andererseits unterschieden wird (Neuweg 1999: 148–149). Mit Manzel und Weißeno lässt sich an dieser Stelle argumentieren, dass es sich um Wahrnehmungsqualität handelt, die inhaltsleer ist (Manzel/Weißeno 2017: 60–61). Entgegen einer formalen Bestimmung kategorialen Wahrnehmens beziehungsweise von Kategorisierungsprozessen als abstrakte Gliederungsprozesse, die Wahrnehmungen unabhängig von den Inhalten „in Form“ (Klafki 2013[1951]: 86) bringen, wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen,

72

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

dass Kategorisierungsprozesse nur in ihrem Bezug auf Gegenstände, auf die sie gerichtet sind, denkbar sind. Im Kontext von Bildung und einem Lernzielbezug werden hier zwei inhaltliche Ausrichtungen kategorialen Wahrnehmens vorgeschlagen13; als Vorschläge sind sie hypothetisch und individuelle Setzung, schließen jedoch an in der Politikdidaktik grundsätzlich formulierte Bildungsperspektiven an. Situationsdeutungen bilden sich im sozialwissenschaftlichen (1) und /oder politischen (2) Umgang mit Welt. (1) Sozialwissenschaftliche Situationserfassung Wahrnehmung kann über den Bezug auf Fachlichkeit beziehungsweise Wissenschaftlichkeit inhaltlich bestimmt werden. Kategoriales Wahrnehmen bedeutet Situationen sozialwissenschaftlich-theoriegeleitet zu erfassen. Diese Perspektive findet sich ähnlich formuliert in Bestimmungen zu sozialwissenschaftlichem Analysieren (Autorengruppe Fachdidaktik 2017) und dem Konzept kategorialer Erschließung (Juchler 2005a). Die Autorengruppe Fachdidaktik beschreibt sozialwissenschaftliches Analysieren als Fähigkeit, anhand sozialwissenschaftlicher Instrumente, wie Methoden, Kategorien, Modelle oder Theorien, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Probleme, Fälle und Konflikte „[…] auf ihre Inhalte, Strukturen und Prozesse zu untersuchen, um ein sachlich begründetes Urteil abzugeben“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 145). Es bedeutet soziale Phänomene wahrnehmen zu können. Die dabei genutzten Theorien und Modelle sind jeweils werthaltig und als solche zu reflektieren. Innerhalb der kategorialen Erschließung, wie sie Juchler formuliert, dienen die fachlichen Kategorien als heuristische Instrumente, sie erhalten ihren Bedeutungsgehalt dabei erst auf der Grundlage politiktheoretischer Zusammenhänge, es ist notwendig sie fachwissenschaftlich zu deuten sowie theoretisch einzuordnen und zu interpretieren (Juchler 2005a: 229–230). (2) Politische Akteurs- und Adressateninterpretationen Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit konkreter und realer Politik unterscheidet Massing für politisches Urteilen drei Perspektiven, von denen aus politische Prozesse betrachtet werden, nämlich die Perspektive der politisch Handelnden (Akteure), die Perspektive der von der Politik Betroffenen (Adressaten) sowie die Perspektive des demokratischen Systems (Massing 1995: 222).

13Diese

beziehen sich auf Erschließungsweisen und nicht auf wissenschaftliche Deutungen und Bestimmungen des Inhalts der Kategorien. Der inhaltliche Bezug wird nicht hergestellt über den Bezug auf als Kanon vorliegendes angenommenes Fachwissen, wie es Manzel und Weißeno hinsichtlich politischer Urteilsfähigkeit vorschlagen (Manzel/Weißeno 2017).

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

73

An Massings Unterscheidung wird angeschlossen, die Umsetzung und Benennung jedoch angepasst und vor allem begründet und konkretisiert. Wahrnehmung kann über den Bezug auf Akteurs- und Adressateninterpretationen inhaltlich bestimmt werden. Kategoriales Wahrnehmen bedeutet ein politisches Problemfeld interessenund ideengeleitet zu erfassen. Für eine Konkretisierung der Perspektiven wird an zwei Argumentationsstränge in den Sozialwissenschaften für die Unterscheidung von Adressat und Akteur angeschlossen. (A) Die Unterscheidung von Akteur und Adressat ist relevant in Bezug auf politische Ordnungen und ihren Herrschaftsverhältnissen: „In größeren politischen Einheiten gibt es stets ein Gefälle zwischen Akteuren und Adressaten […]“ (Göhler 1997: 27). Akteure werden gleichgesetzt mit Herrschern, Adressaten mit Beherrschten. (B) Die Unterscheidung von Akteur und Adressat ist relevant in Bezug auf politisches Handeln. Akteure sind aktiv Handelnde, während Adressaten angesprochen werden beziehungsweise auf diese als Handlungsobjekt Bezug genommen wird (Polownikow 2017: 133). In beiden Fällen (A und B) sind Akteure und Adressaten als politisch Handelnde nur in ihrem Bezug auf politische Ordnungen beziehungsweise Institutionen zu verstehen. Situationsdeutungen hängen zusammen mit den Akteurskonstellationen und den institutionellen Handlungskontexten, in denen sie operieren (SFB 2009). Im Hinblick auf reales politisches Handeln wird die soziale Umgebung für Akteure kalkulierbar über Interessen und Ideen. Ideen als kognitive und normative Wissensbestände sind notwendig, um jeweilige Interessen in bestimmten Handlungssituationen wahrnehmen zu können (Münnich 2010: 16). Zusammenfassend ermöglichen Prozesse der Kategorisierungen als mentale Akte der Mustererkennung dem Individuum Konzeptualisierungen der jeweiligen Situation. „Nur über zunächst bewußt erarbeitete Perspektiven bilden sich Situationsklassen mit gemeinsamer Zielperspektive […]“ (Neuweg 1999: 355), wie mit sozialwissenschaftlicher Situationserfassung und Akteurs- beziehungsweise Adressateninterpretation dargestellt. Die Formierung der Situation ist durch das kohärenzstiftende und komplexitätsreduzierende Zurückgreifen auf Wissenschaftsbegriffe oder Ideen/Interessen selektiv. Fachliche und politische Kategorisierungen sind zugleich wahrnehmungsermöglichend und -begrenzend. Kategoriale Wahrnehmung lässt sich qualitativ entwickeln, was eine Bildungsperspektive eröffnet. Wahrnehmung kann als ein Können der kategorialen Situationserfassung erlernt werden. „Können“ bezeichnet als Begriff sowohl Tiefenprozesse, die Vorgänge des Wahrnehmens strukturieren, als auch den Modus der Performanz, in dem situativ geprägte Anforderungen handelnd bewältigt werden. Insgesamt wird Wahrnehmen nicht als passives Verhalten oder bloß leibliches Erfahren verstanden, sondern kennzeichnet intentionale Prozesse.

74

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Vor dem Hintergrund dieses Wahrnehmungsverständnisses – richtet der hier vertretene Ansatz einer am mentalen Wahrnehmen-Können orientierten Politikdidaktik das Augenmerk auf mentale Akte als Situationsdeutung durch Kategorisierungsprozesse. – verweist Können aus politikdidaktischer Vermittlungsperspektive auf das, was als Bedingung arrangiert werden kann. Kategorisierungen verlaufen im Alltag quasi-automatisch, beruhen aber auch auf Sekundärerfahrungen wie formalen Bildungsprozessen. Das für die Arbeit zu Grunde gelegte Lehr-Lernverständnis kategorialer Wahrnehmung ist entgegen einem formalen Verständnis von Kategorisierungen, ein funktional-inhaltliches.

3.3.4 Wahrnehmung differenzieren Wahrnehmen-Können bezeichnet also keine Substanz, sondern erfasst Qualitäten des Tuns. Im Hinblick auf eine Differenzierung von Wahrnehmung bieten sich verschiedene theoretische Anknüpfungspunkte an14. In der vorliegenden Arbeit wird an Ansätze angeschlossen, die kategoriale Wahrnehmung in verschiedenen Phasen modellieren und Gestaltungsprinzipien für die Makrostruktur von Lernprozessen begründen. Besonders interessante Impulse lassen sich Modellen entnehmen, die Können als Zieldimension formulieren (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1987; Polanyi 1985; Ryle 1979). Diese fokussieren eine Regression im Stufenmodell als schrittweises Hinführen des Lerners vom regelgeleiteten-analytischen über den hierarchisch-planerischen zum intuitiven Problemlösemodus. Den Denkzusammenhängen soll in dem Dissertationsvorhaben nicht in der Breite gefolgt werden. Für die vorliegende Arbeit sind die Entwicklungsmodelle anschlussfähig,

14Eine

prominente Herangehensweise, um „[…] vorhandene Vorstellungen zu aktivieren und Lernanlässe zu geben, diese zu wandeln und auszudifferenzieren“ (Lange 2011b: 101), ist das Anknüpfen an die Conceptual-Change-Theorie. Obwohl diese interessante Anstöße für eine Gestaltung von Lehr-Lernprozessen gibt, kommt sie in der vorliegenden Arbeit nicht zur Anwendung. Für die vorliegende Arbeit gilt diesbezüglich die Argumentation analog zur Untersuchung von Vorstellungen; die konkreten Arbeiten hierzu fokussieren auf eine „Veränderung“ von Vorstellungsinhalten.

3.3  Wahrnehmung in der politischen Bildung

75

weil sie in der Rezeption gerade nicht als durchaus kritisierbare Stufenmodelle15, sondern als Phasen von Lernprozessen ausgewiesen werden (Neuweg 1999). Lernprozesse können phasiert werden in Analyse (1), a­bstrahierenddistanzierendes und kontextsensitives Reflektieren (2) sowie Imaginieren (3), zwischen denen der Lernende wechselt. (1) Analyse Lernende stehen vor dem Problem, dass sie etwas lernen sollen, von dem sie nicht wissen, dass es etwas zu lernen gibt. Situationsdeutungen sind nur möglich, wenn Situationen als solche erkannt werden. Weil Gesamtsituationen für Lernende unerfassbar sind, bedarf es einer theoretischen Vorbereitung, wie relevante Muster erkannt werden können. Notwendig sind kontext-freie Instrumente, die kontext-freie Elemente zueinander in Verbindung setzen (Knoll 2005: 56–58). ­ Regeln und Faktenwissen ermöglichen eine Orientierung und Verarbeitung eindeutig definierter Aufgabenelemente. „Die Regeln ignorieren den Kontext, der ihre Ausführung in der Praxis oft entscheidend mitbestimmt […]“ (Neuweg 1999: 94). (2) Reflexion Die Phase der Reflexion lässt sich zweifach skizzieren: Zum einen als ein abstrahierend-distanzierendes Reflektieren, zum zweiten als ein kontextsensitives Reflektieren. Bei dem abstrahierend-distanzierenden Reflektieren werden die abstrakten Begriffs-Instrumente um situative Elemente erweitert beziehungsweise spezifiziert (Knoll 2005: 59–65). Es wird reflektiert in Form des Erwägens von Regeln, mit denen eine Verbindung zur Gesamtsituation hergestellt wird, die so eine kontextuelle Bedeutung erhalten. Bei dem kontextsensitiven Reflektieren werden Elemente, die in verschiedenen Situationen auftreten und die Situationen einander ähnlich machen, erkannt. Es werden situational bedeutsame Elemente erkannt, die nicht in kontext-freie Instrumente gefasst werden können (Knoll 2005: 59–65). (3) Imaginieren In der Phase der Imagination werden Situationen intuitiv als Ganzes wahrgenommen, es wird sich nicht an einzelnen Elementen orientiert. Ein Abgleich

15Zur

politikdidaktischen Diskussion von Kompetenz-Graduierungsvorschlägen siehe Autorengruppe Fachdidaktik 2017: 180–189; Manzel/Weißeno 2017: 59–86.

76

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

der Situation mit Regeln oder Merkmalen entfällt, es werden Elemente, die in verschiedenen Situationen auftreten und die Situationen einander ähnlich machen, durch Integration erkannt. Einzelfälle werden adaptiv, intuitiv und holistisch wahrgenommen (Knoll 2005: 56–60; Neuweg 1999: 364). Das Wechselspiel zwischen den Phasen, zwischen Analyse und Integration, wird zum Gestaltungsprinzip für die Makrostruktur des Lernprozesses und soll zum Modell dafür werden, wie der Lernende später mit neuen Fällen umgeht (Neuweg 1999: 395–398). Es ist ein Wechsel zwischen kontrollierten Abstraktionsprozessen und eher spontanen und imaginativen Prozessen beziehungsweise sprachlich-intellektueller und wahrnehmend-tuender Durchdringung von Lerngegenständen in Form einer Pendelbewegung zwischen Detaillierung und Integration (Unterscheidung und Integration der unterschiedenen Aspekte). Im Sinne eines funktionalen-inhaltlichen Verständnisses von kategorialer Wahrnehmung reicht es dabei nicht, eine zunehmende Wahrnehmungsqualität mit einer zunehmenden Komplexität (Manzel/Weißeno 2017: 60–61) zu beschreiben. Das zugrunde gelegte funktional-inhaltliche Verständnis kategorialen Wahrnehmens beschreibt qualitative Wahrnehmungs differenzierung zum einen als qualitative Entwicklung von Fachlichkeit (in Richtung sozialwissenschaftlicher Situationserfassung): Die Wahrnehmung von diffusen und willkürlichen Elementen in einem politischen Problemfeld entwickelt sich in Richtung theoriegeleitetem kategorialem Wahrnehmen in Form sozialwissenschaftlicher Denkweisen. Zum anderen bedeutet es die Entwicklung von politischem Handeln (in Richtung Adressaten- beziehungsweise Akteursinterpretationen): Die Wahrnehmung diffuser und willkürlicher Elemente in einem politischen Problemfeld wird in Richtung interessen- und ideengeleitetem kategorialem Wahrnehmen entwickelt. Im Fokus von formalem Lernen beziehungsweise kategorialer Anforderungen stehen Situationen nicht als Realsituation, sondern Fälle als deren dichte Illustration beziehungsweise wirklichkeitsgetreuen Darstellung einer tatsächlichen Begebenheit (Grammes 2014: 254). Über Fälle werden Zugänge zu komplexen politischen oder rechtlichen Beziehungen und abstrakten politischen oder rechtlichen Ideen geschaffen sowie Beziehungen zu der Welt der Schülerinnen hergestellt (Reinhardt 1997: 72). Das Lernen an Fällen und durch Fälle vollzieht sich exemplarisch zwischen Induktion (Abstrahierung), Deduktion (Konkretisierung) und Rekonkretion (Grammes 2014: 249;

3.4 Schlussfolgerungen

77

Massing 1999: 11–12). Vor dem Hintergrund dieses Wahrnehmungsverständnisses werden aus politikdidaktischer Vermittlungsperspektive in Bildungsprozessen unterschiedliche Phasen fokussiert, in denen Kategorisierungsprozesse herausgefordert werden. Im Hinblick auf die Fragestellung der Arbeit, wie 15–18-Jährige rechtliche Freiheit tatsächlich wahrnehmen, – können sozialwissenschaftliche Grundbegriffe ein Sinnangebot darstellen, um ›einen Fall von rechtlicher Freiheit‹ zunehmend differenzierter zu erkennen. Es ist dann eine empirische Frage, inwieweit die Wirklichkeit erschließenden fachlichen Grundbegriffe als Such- und Erkenntnisinstrumente genutzt werden oder als angelernte Definitionen leere Begriffsschemata bleiben (Kuhn/ Massing 1999: 1). – kann ›ein Fall von rechtlicher Freiheit‹ unter Akteurs- und Adressatenperspektive in ihrem Bezug auf institutionelle Kontexte erfasst werden. Es ist dann eine empirische Frage, welche Perspektive im Kategorisierungsprozess in Bezug auf was eingenommen wird. Das für die Arbeit zu Grunde gelegte Lehr-Lernverständnis kategorialer Wahrnehmung ist eine normative und analytische Bestimmung und empirisch zu operationalisieren.

3.4 Schlussfolgerungen In der vorliegenden Arbeit wird die Frage nach der Gewährleistung rechtlicher Freiheit im Kontext von Deutungsprozessen und Sinnproduktion behandelt. Zusammenfassend, wie in Abbildung  3.1 dargestellt, lebt rechtliche Freiheit als eine kollektive und subjektive Sinnbildungsform aus der Praxis sowohl kollektiver Deutungsprozesse als auch individueller Sinnproduktionen (siehe rechtliche Freiheit als Sinnbildung, Kapitel 1). Die politikdidaktische Vermittlungsperspektive rückt dabei den Zusammenhang von individuellem (Deutungs-)Handeln und sozialem System beziehungsweise kollektiven Deutungsmustern in den Fokus, die dem Individuum Konzeptualisierungen von Wandlungssituationen ermöglichen (Konstituierung rechtlicher Freiheit, siehe Kapitel 2 und 3).

78

3  Politische Bildung • Recht • Wandel

Rechtliche Freiheit als Sinnbildung (Kap. 1) Kollektiv Sozialwissenschaftliche Denkweisen und Politisierung von Handelnden

Individuum Unklare Lernendenvoraussetzungen

Konstituierung rechtlicher Freiheit (Kap. 2, 3) Konstitutionselemente und -struktur - Konstruktfixierung - Prozessperspektivierung

Einen Fall von rechtlicher Freiheit erkennen - Erkenntnishindernisse - Erkenntnismöglichkeiten

Kategorisierungsprozesse (Kap. 4) Jugendliche - Konstruktfixierung vorhanden - Prozessperspektivierung

Forschungsperspektive - Konfrontation mit kollektiver Sinnbildung - Individuelle Sinnbildung als Reflex darauf

Abbildung 3.1   Zusammenfassung der Arbeitsschritte

Wenn junge Menschen als Akteure des gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurses ernst genommen werden sollen, benötigen „[…] sie Orientierungs- und Kommunikationsfähigkeiten, die sie eben dazu in Stand setzten“ (Steffens 2003: 9). Um den gesellschaftlichen und politischen Wandel vor dem Hintergrund von Erkenntnishindernissen begrifflich zu reflektieren und den Blick auf das analytische und politische Feld zu richten, ist geschärfte Wahrnehmung für Situationsdeutungen im Hinblick auf sozialwissenschaftliches Analysieren und politisches Handeln notwendig. Die in den fachlichen Diskursen hervorgebrachten Deutungen (siehe Tabelle 3.2) sind dabei als Sinnangebote in der individuellen Wahrnehmung zu verstehen, die über „Wirklichkeit erschließende Grundbegriffe“ (Klafki 2019: 109) vermittelt werden und können als fachlich-kategoriale Typologie zusammengefasst werden:

3.4 Schlussfolgerungen

79

Tabelle 3.2   Grundbegriffe rechtlicher Freiheit Sollen, Sein und Werden rechtlicher Freiheit

Rechtsnormen, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit Formale Verfahren, faktisches Verhalten Internationale/transnationale Rechtsordnung

Im Kontext von Bildungsprozessen können sie Kategorien darstellen, die entsprechend einer Prozessperspektivierung entweder auf einem domänenspezifischen Erkenntnisweg Ordnungen fachlich konstituieren oder Akteursbeziehungsweise Adressatenhandeln forcieren. Empirisch stellt sich die Frage, wie Schülerinnen auf ein solches Sinnangebot reagieren. In der empirischen Studie wird der Frage nachgegangen, wie rechtliche Freiheit und deren Gewährleistung in der Konfrontation mit kollektiver Sinnbildung von Schülerinnen gedeutet und bewertet wird.

Teil II Empirische Studie

4

Theoretische Konzeption

4.1 Forschungsstand Rechtliche Freiheit wird in der vorliegenden Untersuchung nicht nur als objektive Eigenschaft einer politischen Ordnung konzipiert. Rechtliche Freiheit wird als Wert klassifiziert, der Ziel politischer Forderung ist (SFB 2011), aber sich ebenso auf den „[…] Orientierungshorizont des einzelnen [sic!] […]“ (Honneth 2017: 36) bezieht. Rechtliche Freiheit stellt also nicht a priori ein feststehendes normatives Gut dar, sondern entwickelt sich in einer freiheitlichen und demokratischen (Deutungs-)Praxis selbst (Martinsen 2015a: 13). Für das Vorhaben bedeutende Forschungsstände sind dabei solche, die Hinweise auf Deutungsprozesse liefern, die der individuellen und kollektiven Sinnbildungsform der rechtlichen Freiheit zu Grunde liegen. Vorrangig finden sich Hinweise in der empirischen Jugendforschung (vgl. Gille et al. 2006; Helsper et al. 2006; ­Hoffmann-Lange/Gille 2016; Krüger et al. 2002; Oesterreich 2002; Schneekloth 2010, 2015; Torney-Purta et al. 2001). Diese fragen zwar in erster Linie politische Einstellungen, politisches Vertrauen und Interesse sowie politische Unterstützung und Teilnahmebereitschaft gegenüber politischer Ordnung ab; aus ausgewählten Befunden lassen sich jedoch erste Annahmen zu Kategorisierungsprozessen, dem Einfluss der Staatskategorie auf die Wahrnehmung sowie der Offenheit der Staatskategorialität ableiten. Annahmen zu Kategorisierungsprozessen Im Hinblick auf Bildungsprozesse sind Kategorisierungen Chance und Schwierigkeit zugleich, das deuten Ergebnisse aus der Psychologie mit pädagogischem Interesse sowie aus den Bereichen der Soziologie und Sozialisationsforschung an. Es handelt sich um ältere wegbereitende Arbeiten, mit großem Einfluss © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_4

83

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4  Theoretische Konzeption

über Jahrzehnte, an die in empirischen Studien noch aktuell angeschlossen wird (Bernstein/Inowlocki 2015: 193). In den Pionierarbeiten Allports, seine Begriffe wirken und funktionieren noch immer in der Gegenwart, findet sich die Annahme der menschlichen Neigung zu Kategorisierungen als Zuordnungs- und Zuschreibungsprozesse, vor allem in Form von kategorialen Verallgemeinerungen (Allport 1971[1954]: 22). Allport untersucht Kategorisierungsprozesse als Definitionsmerkmal von Vorurteilen und Stereotypen (Allport 1971[1954]), an dessen Ergebnisse auch die Politikdidaktik in Bezug auf politische Urteilsbildung anschließt (Massing 1997a/b)1. Allport formuliert fünf Merkmale von Kategorisierungsprozessen: 1. Der Kategorisierungsprozess bildet Zuordnungen, „[…] die unsere tägliche Anpassung steuern“ (Allport 1971[1954]: 34; Hervorh. im Original). Begriffe beziehungsweise Kategorien als Zuordnungen entwickeln sich in der Erfahrung. „Jede neue Erfahrung muß mit alten Kategorien aufgefaßt werden“ (Allport 1971[1954]: 34; Hervorh. im Original). 2. „Kategorisierung assimiliert soviel wie möglich in ihren Zuordnungen“ (Allport 1971[1954]: 34; Hervorh. im Original). Als Zuordnungsprozesse dienen sie der Strukturierung und Reduktion des Wahrnehmungsflusses, das heißt, sie vereinfachen Wahrnehmung durch Assimilation. 3. „Die Kategorisierung ermöglicht uns rasche Identifizierung von Objekten“ (Allport 1971[1954]: 35; Hervorh. im Original), da jedes Objekt bestimmte Merkmale hat, wodurch jeweilige Kategorisierungen ausgelöst werden. 4. „Die Kategorie tönt alles, was sie enthält, mit der gleichen Vorstellungs- und Gefühlsqualität“ (Allport 1971[1954]: 35; Hervorh. im Original). Begriffe haben inhaltliche Bedeutung und „Gefühlswert“ der Zu- oder Abneigung. 5. „Kategorien können mehr oder weniger rational sein“ (Allport 1971[1954]: 35–36; Hervorh. im Original): Es werden rationale und irrationale Kategorien gleichermaßen gebildet. Kategorisierungen sind Wahrnehmungsbegrenzung und -ermöglichung. Im Wahrnehmungsgeschehen wird auf kohärenzstiftende und komplexitätsreduzierende Kategorien zurückgegriffen, die Wahrnehmung begrenzen. Zugleich ermöglichen sie einen Wahrnehmungsgewinn und Orientierung, „[…] denn von der Mitgliedschaft in einer Kategorie kann auf weitere Eigenschaften […] geschlossen

1Massing

adaptiert Kategorisierungsmerkmale in Bezug auf politische Urteilsbildung, erschließt diese jedoch nicht empirisch umfassend, siehe Abschnitt 3.3.2.

4.1 Forschungsstand

85

werden“ (Hastedt 1998: 3). Von besonderer Relevanz ist Allports ambivalente Erkenntnis, dass Kategorisierungen zwar scheinbar natürliche Zuordnungsprozesse, zugleich aber etwas Erlerntes sind (Allport 1971[1954]: 124). Als quasi-automatische Wahrnehmungsvorgänge sind Kategorisierungen unmittelbar. In „[…] erstaunlich raschen klassifikatorischen Leistungen des Menschen […]“ (Neuweg 1999: 270) wird Wesentliches von Unwesentlichem unterschieden. „Dem Menschen ist unvoreingenommene Wahrnehmung unmöglich. Alle Wahrnehmungen werden durch Vorabannahmen, Hypothesen und Erwartungen beeinflusst. Andererseits können diese durch Wahrnehmungen verändert werden“ (Raab/Unger 2016: 19). Eine solche selektive Wahrnehmung ist durch Sozialität zu erklären. Kern der Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung2 (Bruner 1951; Postman 1951) ist, dass Wahrnehmungsvorgänge in Situationen mit Erwartungen verknüpft sind. Auf Basis dieser Erwartungen oder Hypothesen wird das Wahrnehmungsgeschehen selektiv zur Kenntnis und im Sinne der eigenen Erwartungen verzerrt wahrgenommen. Wahrnehmungsvorgänge sind also selektiv auf erfolgversprechende Hypothesen gerichtet, was bei jedem erneuten Wahrnehmungsakt verstärkt wird. Gefördert wird dieser Prozess neben der Häufigkeit der Hypothesenbestätigung, der kognitiven und motivational-emotionalen sowie sozialen Unterstützung (Bruner 1951) durch die „Anzahl der verfügbaren Alternativhypothesen“ (Postman 1951). An diese Bestimmung von Wahrnehmungseffekten anschließend, wird angenommen, dass eine Kategorie stärker ist, je weniger alternative Kategorien zur Verfügung stehen. Annahmen zu dem Einfluss der Staatskategorie auf die Wahrnehmung Ansatzpunkte für das Wirken der Staatskategorie auf die Wahrnehmung von Jugendlichen3 liefern Befunde der politischen Kultur- und Sozialisationsforschung, im Besonderen Umfragen zu Erwartungen an staatliche Institutionen beziehungsweise Gewalten und deren Aufgabenbestimmungen sowie zu dem Vertrauen in staatliche Institutionen. Wesentlich sind diesbezüglich die ShellJugendstudien (2006, 2010, 2015), die von der International Association for

2Die

Hypothesentheorie hat eine Weiterentwicklung in Form des theoretischen und empirischen „directive-state“-Konzepts (Lilli/Frey 1993) erfahren, wonach soziale Faktoren einen unmittelbaren Einfluss auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Sachverhalten und Personen haben. 3Die Altersspanne wird unterschiedlich bestimmt: in der 3. Welle des Jugendsurveys als 12–29-Jährige, in den Shell-Jugendstudien als 15–/25-Jährige, im Eurobarometer als 16–30-Jährige.

86

4  Theoretische Konzeption

the Evaluation of Educational Achievement (IEA) 1999 bis 2000 durchgeführte Civic Education Study (CES) (Schulz et al. 2010) sowie der deutsche Jugendsurvey (1992, 1997, 2003) (u. a. ­Hoffmann-Lange 1995). Obwohl die Studien in Methodik und Untersuchungsgruppen unterschiedlich ausgerichtet sind, deuten sie in der Tendenz eine Staatsorientierung an, in erster Linie an dem Nationalund Rechtsstaat. In der Civic Education Study zeigt sich, dass hohe Ansprüche der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an das bestehen, was staatliche Institutionen kommunal und bundesweit leisten sollten. Bereitstellung von Bildungseinrichtungen, die Reduzierung von Einkommensungleichheiten und die Kontrolle über Preisbildung werden eindeutig im Verantwortungsbereich des Staates verortet (Torney-Purta u. a. 2001: 70). 14-Jährige in Deutschland formulieren als Aufgaben der Regierung Frieden, Ordnung sowie Sicherung des Lebensstandards und bestimmen damit die Gewährleistung sozialer Sicherung umfangreich (Oesterreich 2002: 115–120)4. Ähnlich fallen die Ergebnisse einer Studie für das Bundesland Bremen aus, die explizit nach Einstellungen Jugendlicher zum Staat fragt. Eine große Mehrheit der Jugendlichen erwartet, dass der Staat in Fragen der persönlichen Sicherheit (Schutz vor Kriminalität), der sozialen Sicherheit (Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Unterstützung sozial benachteiligter Gruppen, Ausgleich der Unterschiede von Arm und Reich) und der wirtschaftlichen Entwicklung (Förderung des Wirtschaftswachstums) eine aktive Rolle einnimmt. (Probst/Pötschke 2008: 81)

Insgesamt belegen die Studien die hohen Erwartungen einer großen Mehrheit der Jugendlichen an den Staat oder staatliche Institutionen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sowie beim Schutz der Sicherheit, weshalb in der Interpretation der Ergebnisse die noch zu überprüfende These einer “verantwortungsübertragenden Rollenzuschreibung an den Staat” (Klee et al. 2011: 22) überzeugt. Diese bringt zum Ausdruck, dass ein ganzes Konglomerat von Aufgaben eindeutig dem Verantwortungsbereich des Staates zugewiesen wird. Die Erwartungen stehen dabei niedrigem Vertrauen in etablierte parteipolitische Politik gegenüber, resümieren die Autorinnen mit Verweis auf Ergebnisse der Shell Jugendstudie; es existiert ein hohes Vertrauen in Institutionen zur Sicherung

4Osterreich

stellt in dem Buch „Politische Bildung von 14-Jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education“ (2002) Ergebnisse des deutschen Beitrags zur Civic-Education-Untersuchung der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) vor.

4.1 Forschungsstand

87

von Recht und Ordnung (Gerichte, Polizei, Bundeswehr), jedoch ein geringes Vertrauen in wahrgenommene parteipolitisch nicht unabhängige Institutionen (Parteien) und Institutionen, die Partikularinteressen verfolgen (zum Beispiel Unternehmen) (Schneekloth 2015: 176–178). Auch empirische Ergebnisse zu Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Rahmen des DJI-Jugendsurveys (2003, 16- bis 29-Jährige) belegen eine solche Hierarchie. Höheres Vertrauen besteht in rechtsstaatlichen Institutionen (57 %) als in parteienstaatlichen Institutionen (45 %) (Gaiser et al. 2012). Laut Gille ist dasjenige Vertrauen geringer, […] welches den Institutionen und Akteuren der konkreten und damit auch parteipolitisch bezogenen Politik entgegengebracht wird. Deutlich stärker ist das Vertrauen in die Institutionen, die der Garantie des Rechtsstaates dienen und daher dem politischen Prozess entfernter sind. (Gille et al. 2016: 169)

Ausgehend von Ergebnissen der Repräsentativerhebungen kann auf ausgewählte nicht repräsentative Befunde aus qualitativen Studien zurückgegriffen werden, vor allem hinsichtlich der Frage, was Jugendliche eigentlich unter Staat verstehen. In dem Staats-Survey von Lemme und Neuhof wird herausgestellt, dass Staat als geographisches Gebiet, als verschiedene politische Institutionen oder als politischer Herrscher beschrieben wird (Lemme/Neuhof 2015: 119–124). Als Staatsaufgaben nennen die Schülerinnen insbesondere die Sicherung der Lebensqualität der Bürgerinnen, die Gewährleistung von Sicherheit vor der Negativfolie von Chaos, die Regulierung der Wirtschaft und die Umsetzung des Volkswillens. Insgesamt werden die individuellen Alltagstheorien von 13–15-Jährigen als heterogen, inkonsistent, mehrdimensional und unverbunden gekennzeichnet. Exemplarisch ist dafür, dass Anspruch an und Wirklichkeit von Staat nicht getrennt werden. Daraus folgt einerseits eine durch die Jugendlichen selbst wahrgenommene Unklarheit über das Wesen des Staates, was in der Folge zu einer Idealisierung beziehungsweise Überhöhung von Staat führt. Andererseits verweist die fehlende Trennung darauf, dass Staat nicht als veränderbares Konstrukt, sondern als naturwüchsiges Phänomen verstanden wird. (Lemme/Neuhof 2015a: 123). Staat scheint also eine starke Kategorie zu sein. Annahmen zu der Offenheit der Staatskategorialität Es ist gibt Hinweise darauf, dass sich Jugendliche in subjektiver Betrachtung auf Alternativen zu Staat beziehungsweise klassischen politischen Institutionen und Formen beziehen, zum Beispiel durch den Bezug auf Aktivitäten von privaten Akteuren, Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken.

88

4  Theoretische Konzeption

Soweit vorhandene und entgrenzte Politik- und Beteiligungsfragen in den Fokus rückend, weisen Meinungsumfragen auf die Bedeutung nicht institutionell gebundenen politischen Engagements und die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen hin. So belegt etwa die Civic Education Study die Beachtung sozialer Bewegungen (Oesterreich 2002: 230) und die ­ Shell-Jugendstudie die Differenzierung gesellschaftlicher beziehungsweise nicht-staatlicher Institutionen: Deutsche Jugendliche vertrauen zentralen gesellschaftlichen Institutionen. Überdurchschnittliches Vertrauen genießen mit 3,5 Punkten auf der vorgelegten Bewertungsskala (1 = sehr wenig bis 5 = sehr viel) Menschenrechtsoder Umweltschutzgruppen, die jeweils als nichtstaatliche oder Nichtregierungsorganisationen parteipolitisch unabhängige Gruppen repräsentieren (ebenfalls hohes Vertrauen, parteipolitisch unabhängig, aber staatlich: Gerichte und Polizei) (Schneekloth 2015: 176). In eine ähnliche Richtung weisen Ergebnisse des Eurobarometers, die andeuten, dass Staat nicht der alleinige Akteur ist, an den große Erwartungen gerichtet werden, sondern das Europäische Parlament als Gewährleistender von Freiheit und Gleichheit adressiert wird (European Commission 2014: 5). Das Vertrauen in das Europäische Parlament ist doch deutlich höher bei den Jüngeren. Das mag ein Hinweis darauf sein, dass die jüngeren Generationen den politischen Objekten bzw. Institutionen, die über den nationalen Kontext hinausgehen und sicher in der Zukunft eine noch zunehmende Rolle spielen dürften, doch eine größere Unterstützung bzw. ein größeres Vertrauen entgegenbringen (vgl. Kleiner/Bücker 2014). (Gille et al. 2016: 170–171)

Allerdings fehlen zur weiteren Überprüfung und Analyse breit angelegte Längsschnittuntersuchungen.

4.2 Detaillierte Fragestellung Im Anschluss an die Forschungsstände werden detaillierte Fragestellungen, Thesen und Analyseaufgaben der empirischen Studie formuliert. Die Befunde legen dabei den Blick frei auf eine starke Staatsorientierung in den untersuchten Grundeinstellungen der Jugendlichen, die gewissermaßen in Kontrast zu in Abschnitt 2.2 dargestellter Sinnproduktion der Sozialwissenschaften und Politisierung von Akteuren steht. Staat wird zunächst als sozial gestützte Kategorie als Quelle für die Sicherstellung normativer Güter bestätigt beziehungsweise Politik und Recht werden in enger Beziehung zu Staat erklärt, während das Heranziehen anderer Akteure nicht nahe liegt; zudem ist Staat für Jugendliche nicht erklärungsbedürftig. Welche konkreten Konstitutionsprozesse den Einstellungen der Jugendlichen zu

4.2  Detaillierte Fragestellung

89

Grunde liegen und inwieweit sich die kollektiven Sinnbildungen im subjektiven Bewusstsein widerspiegeln, ist unklar. Die vorliegende Untersuchung setzt an diese Befunde an und rekonstruiert, wie Schülerinnen rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung deuten. Dafür wird ein Theorierahmen zu Grunde gelegt, der Bezug nimmt auf das (1) Konstitutionstheorem und (2) Wandlungstheorem, auf deren Grundlage die in Kapitel 1 formulierten Fragestellungen konkretisiert und auf den Kontext Lernprozesse zu Politik und Recht bezogen werden: (1) Konstitutionstheorem: Untersuchungsgegenstand sind Konstitutionselemente und -strukturen rechtlicher Freiheit. Die wahrnehmungsbezogene Fragestellung aus Kapitel  1 Wie nehmen Schülerinnen rechtliche Freiheit wahr? wird konkretisiert als Durch welche kategorialen Wahrnehmungsprozesse konstituieren Schülerinnen in der Konfrontation mit exemplarischen Fällen rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung? Inwieweit können sie zu qualitativ unterscheidbaren Wahrnehmungsweisen verdichtet werden? Die Befunde inkonsistenter und indifferenter Vorstellungen über Staat veranlasst die Untersuchung zu folgender Annahme: Rechtliche Freiheit wird als allgemein normativ wünschenswertes Gut qualitativ unterschiedlich und unstrukturiert wahrgenommen (These der Unorganisiertheit). (2) Wandlungstheorem: Untersuchungsgegenstand sind Kontextualisierungen von Politik und Recht. Die lernzielbezogene beziehungsweise fachliche Fragestellung aus Kapitel 1 Welcher Zusammenhang besteht zwischen Politik und Recht? wird konkretisiert als Welche Arrangements von Politik und Recht werden wahrgenommen? Dass die gezielte Thematisierung der Erbringung von und Ansprüche an rechtliche Freiheit möglich ist und sich begünstigend darauf auswirken könnte, dass Schülerinnen Fragestellungen an Recht und Politik entwickeln, deuten die Befunde an und veranlasst die Untersuchung zu folgender Annahme: Rechtsstaatlichen Akteuren wird Bedeutung bei der Sicherstellung rechtlicher Freiheit zugewiesen (These der Relevanzbildung/Anspruchsübertragung). Zusammenfassend deuten die Forschungsstände eine Reflexionsfähigkeit von Kategorisierungsprozessen und eine Offenheit gegenüber neuen begrifflichen Klassen an. Kategorisierung ist bewusstseinsfähig und offen für Bildungsprozesse beziehungsweise Alternativhypothesen. Exemplarische Fälle könnten Erfahrungskontexte und Kategorien Instrumente darstellen, die eine ­ Begriffsbildung

90

4  Theoretische Konzeption

h­erausfordern. Im Anschluss an die empirische Untersuchung wird die Frage Welche Perspektiven ergeben sich aus den Ergebnissen für eine kategoriale Bildung? entsprechend einer theorieentdeckenden Logik der Untersuchung konkretisiert als In welche kategorial orientierten Lehr-Lern-Strategien lassen sich die Ergebnisse am besten didaktisch, das heißt mit dem Ziel praktischer Lernprozesse, transferieren? Die Rekonstruktion, wie Schülerinnen rechtliche Freiheit deuten, also Konstitutionselemente und -strukturen, die rechtliche Freiheit zum Ausdruck bringen, fußt dabei auf einer theoretischen Konstruktion der Beziehungen zwischen politischer Welt und denkenden und handelnden Individuen.

4.3 Zusammenhang von Theorie und Empirie „Weder empirische Verallgemeinerungen noch theoretische Aussagen ‚emergieren‘ einfach aus dem Datenmaterial“ (Kelle/Kluge 2010: 28). Die vorliegende Studie verwendet Theorien als organisierendes Prinzip im qualitativen Forschungsprozess, das die einzelnen Untersuchungsschritte sowie die Interpretation der Ergebnisse leitet. Damit ist die Intention verknüpft, durch theoriegeleitetes Vorgehen die Studie nachvollziehbar zu machen und eine gute Orientierung in der Methodenausbildung zu bieten (Löblich 2016: 67). Theorie wird also nicht ausschließlich als Produkt qualitativer Forschung verstanden. In der vorliegenden Untersuchung wird ein sensitizing concept (Blumer 1954: 7) verwendet, das als offenes theoretisches Raster wie eine Linse den Forschungsfokus auf das empirische Feld richtet. In diesem Sinne stellt Theorie eine Heuristik dar, die anhand empirischer Beobachtungen gefüllt wird. Kategorisierungsprozesse werden in der vorliegenden Studie als wesentlicher Faktor der Wahrnehmung rechtlicher Freiheit angenommen. Dabei zeichnen sich die in Abschnitt 4.1 formulierten Fragestellungen durch einen hohen theoretischen Allgemeinheitsgrad aus: Sie enthalten beispielsweise keine Informationen darüber, welche kategorialen Akte welche Gegenstände konstituieren und dabei welchen Beschränkungen unterliegen; der empirische Gehalt auch der Thesen ist in diesem Sinne gering. Dies ist Bedingung für die Offenheit im Forschungsprozess, die Gewährleistung für Relevanzsetzungen der Probanden und den Zugang zum Alltagswissen (Kluge/Kelle 2010: 37). Allerdings sind die der Studie zugrunde liegenden Fragestellungen lernzielbezogen, das heißt auf Politik und Bildungsprozesse gerichtet, und verfolgen ein starkes fachliches Interesse. Ausgangspunkt des im Folgenden zu formulierenden theoretischen Rasters ist aus diesem Grund die Konstruktion

4.3  Zusammenhang von Theorie und Empirie

91

der Beziehungen zwischen politisch-rechtlicher Welt sowie denkenden und handelnden Individuen, die eine Formulierung von Annahmen ermöglichen, die sich sowohl auf die Struktur als auch Inhalte von Kategorisierungsprozessen beziehen und theoretisch konstruieren. Die sozialwissenschaftliche Konstruktion schließt an Konstruktionen des Alltags an, stellt aber im Sinne Schütz’ (Schütz 1971[1962]) als Interpretation und wissenschaftliche Begriffsbildung eine sekundäre Konstruktion „[…] von implizit im alltäglichen Handeln immer schon vollzogenen Konstruktionen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 26; Hervorh. im Original) dar. Das der Studie zugrunde liegende Theoriemodell knüpft für die Konstruktion politischer mentaler Akte an die dargestellten Theoriebausteine politischer Kultur an (siehe Abschnitt 1.2). Die Wahrnehmung des Politischen ist nach Vollrath nicht bloß ein subjektiver Moment, sondern die kulturelle Präsenz des Politischen in einer Gesellschaft (Vollrath 2003: 9). Vollrath bezieht sich dabei auf die Wahrnehmung, „[…] was und wie das Politische sei“ (Vollrath 2003: 9). Mit dem Erkenntnisinteresse an Kategorisierungsprozessen, die sich auf Bewusstseinsinhalte (›Was‹), aber eben auch auf -strukturen (›Wie‹) beziehen, sind Egners Ausführungen fruchtbar, weil sie darstellen, wie das Politische überhaupt im kollektiven Bewusstsein konstituiert wird: durch politisches Handeln, das er als ausschließlich kollektives Handeln begreift (Egner 2008: 137). Politisch ist nicht nur das ›Was‹, sondern auch das ›Wie‹. Egner geht für seine Begründung den Weg von der Erkenntnis- über die Handlungs- zur Institutionentheorie. Er versucht über die phänomenologische Methode grundlegende Gesetze und Mechaniken des Politischen zu beschreiben und zu begründen, die in ihrer Abstraktheit und Totalität nicht weiter nachvollzogen werden sollen. Anschlussfähig ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Konstitutionsprozess des Politischen im Bewusstsein, der sich aus verschiedenen politischen Handlungsakten aufbaut und sich anhand des Prozesses der kollektiven Willensbildung darstellen lässt. Öffentlichkeit „[…] politisiert sich in dem Maße, in dem aus ihr kollektives Handeln entsteht“ (Egner 2008: 137). Der kollektive Willensbildungsprozess konstituiert sich in Anlehnung an Egner aus den Akten5 Projektion, Artikulation, Repräsentation, Fiktion und Entscheidung, die vollzogen werden, damit es zum tatsächlichen kollektiven beziehungsweise politischen Handeln kommt (Egner 2008: 130–186):

5Handlungen

werden stets von Subjekten ausgeführt, der Charakter der Handlungsakte ist jedoch ein kollektiver.

92

4  Theoretische Konzeption

– Projektion: Ausgangspunkt des Willensbildungsprozesses ist die „[…] gemeinsame Wahrnehmung einer äußeren Umwelt durch die Mitglieder einer Gruppe versammelter Individuen“ (Egner 2008: 150). In Versammlungen, Debatten oder Diskursen wird Stellung genommen gegenüber Erscheinungen, Situationen oder Weltbildern. Diese werden als für die Gemeinschaft freundlich oder feindlich, nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gewertet. – Artikulation: In Meinungsführerschaft findet die kollektive Stellungnahme einen subjektiv-allgemeinen Ausdruck. „Als solcher erhält er dann seine Verbindlichkeit für die Mitglieder des Kollektivs, wird also zu einem kollektiven Handlungsvorsatz“ (Egner 2008: 142), der die Form von Gesetzen oder normativen Ordnungen haben kann. – Repräsentation: Unterschieden von der Präsenz des Gemeinwillens im Moment der Artikulation durch Meinungsführerschaft wird die Repräsentation des Gemeinwillens in der politischen Institution, die jenseits der Versammlung für alle verbindliche Entscheidungen fällen und durchsetzen kann (Egner 2008: 143–144). – Fiktion: Es werden Handlungsgebote durch die Meinungsführerschaft oder den Repräsentanten eingebildet, entworfen oder definiert: als Einbildung von Befehlen durch die Regierung, als Entwerfung von Gesetzen durch das Parlament oder als Bestimmung von Recht durch das Gericht (Egner 2008: 90). Ob die Handlungsgebote realisiert werden, muss entschieden werden. – Entscheidung: Die Handlungsgebote werden erfüllt und es kommt zu kollektivem Handeln. Mittels der exekutiven, legislativen und judikativen Gewalt wird im Sinne des Befehls loyal, im Sinne des Gesetzes legal oder im Sinne des Gerichtes moralisch gehandelt (Egner 2008: 166). Egner beschreibt und begründet mit den unterschiedlichen Akten den Aufbau der politischen Welt im Kollektivbewusstsein (Egner 2008: 131). Der für die vorliegende Arbeit relevante Punkt, der den in Kapitel 1 hergestellten Zusammenhang inhaltlich konkretisiert, ist, dass die politischen Akte für das Individuum geöffnet sind, sie finden sich auch im subjektiven Bewusstsein. Wenn man, wie in der vorliegenden Arbeit, davon ausgeht, dass Individuation und Vergesellschaftung gleichursprünglich sind, also ohne einander gar nicht zu haben sind (Steffens 2011: 389), dann müssten sich die politischen Akte in individuellen mentalen Handlungen wiederfinden. In Anlehnung und Abänderung6 der

6Beispielsweise

wird im Unterschied zu Egner nicht zwischen unterschiedlichen Erkenntnisebenen (Verstand, Vernunft, Wahrnehmung) unterschieden.

4.3  Zusammenhang von Theorie und Empirie

93

Tabelle 4.1   Politische Akte und ihre Gegenstände nach Egner (2008) Kollektive Akte

Projektion

Artikulation

Repräsentation

Fiktion

Kollektiv- Stellungnahme bewusstsein des Kollektivs gegenüber der äußeren Welt

Artikulation des Gemeinwillens durch einen Leader

Repräsentation des Gemeinwillens in der Institution

Fiktion von Imperativen durch Repräsentanten

Gegenstand Gemeinschaft Politische freundliche/feindWelt liche Umwelt, Nützliches/ Schädliches in Situationen, für das Gemeinwesen wertvolles/­ wertloses

Handlungsvorsatz Gemeinsames Ideal, gemeinsame Interessen, gemeinsame Identität

Institutionen Regierung, Parlament, Gericht

Handlungsgebote Rechtsdurchsetzung durch die Exekutive, Rechtsetzung durch die Legislative, Rechtsprechung durch die Judikative

­ usführungen Egners werden politische Akte hinsichtlich der BewusstseinsA tätigkeit und der Gegenstände, die diese konstituiert, nachfolgend als Typik zusammengefasst (Tabelle 4.1): Kategorisierungsprozesse sind nicht direkt beobachtbar. Über das Modell mentaler Akte können sie jedoch anhand qualitativer Datenanalyse erschlossen werden, indem von der Performanz und Kommunikativa auf mentale Akte und kategoriale Wahrnehmungsprozesse geschlossen wird. Das Raster dient am Beginn des Analyseprozesses dazu, den inhaltlichen Bezug in der Untersuchung von Kategorisierungsprozessen auszuweisen („politische“ mentale Akte) und behält sich gleichzeitig eine Vagheit vor, die ausschließlich durch Empirie konkretisiert werden kann. Als sensibilisierendes Konzept kann das Raster „[…] nur in der empirischen sozialen Welt selber präzisiert werden – dort haben die Forschungsgegenstände […] oftmals einen genau umschriebenen Charakter und einen spezifischen Kontext“ (Kelle/Kluge 2010: 30). Die Korrespondenzen mit dem Gegenstand der Untersuchung werden wie folgt in Abbildung 4.1 veranschaulicht:

94

4  Theoretische Konzeption

Theorie

Methodik

Empirie

Kollektive Akte konstituieren politische Ordnung im Kollektivbewusstsein

Sensibilisierendes Konzept Individuelle mentale politische Akte

Empirisches Erfassen Performanz/ Kommunikativa

Definitives Konzept Politisch-rechtliche Kategorisierungen

Abbildung 4.1   Verbindungen zwischen Theorie und Empirie

Die empirische Konkretisierung erfolgt in Auseinandersetzung mit der qualitativ zu untersuchenden Lebensform der Schülerinnen: politisch-rechtlichen Kategorisierungsprozessen in Bildungskontexten.

5

Empirisches Arbeiten und Verstehen

5.1 Methodologische Klärungen Das Erkenntnisinteresse an Wahrnehmungsakten von Schülerinnen bestimmt als Kriterium die Auswahl des methodischen Instrumentariums und kann als wissenschaftstheoretische Grundlegung der Forschungsmethoden in der empirischen Studie ausformuliert werden. Wahrnehmungsakte sind Tiefenstrukturen und nicht direkt beobachtbar. Sie müssen in ihrer Weite und Qualität verstanden sowie in ihrer Standortgebundenheit und Aspekthaftigkeit interpretiert werden, was die Entscheidung für qualitative Sozialforschung bedingt. Der nach wie vor bestehenden Kritik an qualitativer Forschung wird in ihrer Argumentation nicht gefolgt, auch wenn sie positiv formuliert als durchgängige Kontrolle wissenschaftlicher Güte im Forschungsprozess mitgedacht wird. Die Betrachtung empirischer Entwicklungslinien zeigt zudem, dass ein Verständnis von qualitativen und quantifizierenden Verfahren als homogene und sich geschlossen gegenüberstehende Forschungsansätze empirische Sozialforschung nicht mehr hinreichend definiert. Dass als Perspektiven aus beiderseitig bestehenden methodologischen Problembereichen die Verknüpfung der Verfahren fokussiert wird, zeigt, dass die methodologischen quantitativen und qualitativen Entwürfe sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern als sich ergänzende Alternativen in der Betrachtung von Gegenständen zu begreifen sind (Lamnek 2005: 277–278). Die Entscheidung für qualitative Sozialforschung in der vorliegenden Untersuchung ist primär in einer nicht-immanenten Kritik an quantifizierend verfahrender Sozialforschung begründet. Mit qualitativer Forschung sind andere wissenschaftstheoretische Paradigmen verbunden, die für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung angemessener erscheinen. Qualitative Sozialforschung ermöglicht in der Untersuchung Analyse- und Verstehensleistungen hinsichtlich des © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_5

95

96

5  Empirisches Arbeiten und Verstehen

Gegenstands, also der in sozialen Kontexten lebenden und handelnden Jugendlichen (Weber 1968[1922], 1972). Den Ausgangspunkt des Erfassens der kategorialen Wahrnehmungsprozesse von Schülerinnen bilden die Paradigmen des Verstehens und Interpretierens als durchgängige Theoreme qualitativer Sozialforschung. Mit qualitativer Sozialforschung ist die Aussicht verbunden, durch eine Rekonstruktion von sinn-, deutungs- und handlungsgenerierender Tiefenstrukturen, die nur von innen verstanden und interpretiert werden können, Erkenntnisse hinsichtlich politischer Lernprozesse zu erzielen. Im Sinne eines konstruktiven oder subtilen Realismus (Grunenberg 2001: 22–27; Wallner 2002) konstruiert Wissenschaft dabei Realität und stellt Wirklichkeit dar; Phänomene existieren auch unabhängig von wissenschaftlichen Annahmen. Die Gültigkeit von Wissen ist dementsprechend nicht mit Gewissheit zu bestimmen. Verbindlichkeit lässt sich allerdings durch Plausibilität und Glaubwürdigkeit sowie Angemessenheit erzeugen. „Bei empirisch-qualitativer Forschung lautet die zentrale Frage, inwieweit die Konstruktionen des Forschers in den Konstruktionen der Beforschten begründet sind“ (Kuckartz 2016: 203). Der Untersuchung zu Grunde gelegt werden aus diesem Grund auf allgemeinstem Niveau Grundsätze qualitativen Vorgehens, die den Ausgangspunkt der normativen Entwicklung und prozessrekonstruktiven Entdeckung des Gegenstands der vorliegenden Untersuchung darstellen. Die Charakterisierung erfolgt nach Mayrings fünf Postulaten qualitativen Denkens (Mayring 2002: 19–24), die ergänzt werden (unter anderem Lamnek 2005; Steinke 1999). Postulat 1: Qualitative Sozialforschung ist subjektivistisch. Ausgangspunkt und Ziel des Forschungsprozesses sind in sozialen Kontexten handelnde Schülerinnen. Die Methodologie muss aufgrund des besonderen Gegenstands der Sozialwissenschaften vor allem gegenüber den Naturwissenschaften abgrenzbar sein und in ihrer Funktion, einen offenen Zugang zum Subjekt zu eröffnen, ernst genommen werden (Mayring 2002: 20–21). Analysegegenstand qualitativer Sozialforschung sind Menschen als Subjekte; sie können deshalb nicht objektiv ‚beforscht‘ oder als Datenlieferant ‚gebraucht‘ werden (Lamnek 2005: 14). Dieses Vorgehen lässt sich allerdings häufig innerhalb sozialwissenschaftlicher Forschung erkennen, wenn beispielsweise Methoden und deren wissenschaftliche Güte so in den Vordergrund gestellt werden, dass Subjekte in einer passiven Rolle beschrieben werden. In der vorliegenden Untersuchung werden die Schülerinnen, ihre Wahrnehmungen und vorhandenen Erfahrungen ernst genommen. Kriterium der normativen Entwicklung und prozessrekonstruktiven Entdeckung im Forschungsprozess ist die Ausrichtung auf eine Methodologie, die Schülerinnen auch als Subjekte agieren lässt.

5.1  Methodologische Klärungen

97

Postulat 2: Zu Beginn qualitativer Sozialforschung steht eine Offenlegung und Deskription des Gegenstandsbereichs. Hypothetische Konstrukte werden nicht als Entitäten in das Subjekt projiziert. Dieses Postulat bedeutet allerdings nicht, dass die vorliegende Untersuchung voraussetzungslos ist. Im Gegenteil, der drohenden Überabstraktion soll nicht mit weniger, sondern mit mehr Theorie begegnet werden. Zentral ist, dass theoretische Annahmen als Vorverständnisse gekennzeichnet und Selektionsentscheidungen benannt werden (siehe Abschnitt 4.3). Am Anfang der Forschungsproduktion muss aus diesem Grund das Normensystem offengelegt, der Gegenstand genau beschrieben und damit der Weg, auf dem Erkenntnisse erzielt werden sollen, ausgewiesen werden (Mayring 2002: 21–22). Das zu Grunde gelegte Verständnis der Erhebung als soziale Interaktion unter gleichberechtigten Partnern bedeutet zwischen wissenschaftlichen Vorannahmen und vorwissenschaftlichen Erfahrungen der Schülerinnen zu trennen, sie in ein Verhältnis zu bringen und so zu vermeiden, dass die Forscherperspektive als starres Korsett den handelnden Schülerinnen aufgezwängt wird (Lamnek 2005: 15). Eine detaillierte Deskription impliziert vor diesem Hintergrund am Einzelfall anzusetzen und ihm mit Offenheit zu begegnen. Die normative Entwicklung und prozessrekonstruktive Entdeckung stehen in einem Austauschverhältnis zueinander. Kriterium der Wissenschaftlichkeit ist die Handlungsrelevanz (Lamnek 2005: 14), das durch Vermeidung ontologischen Gleichheitsdenkens (Luhmann 1988: 37) Geltung erlangt. So ist der Phänomenologie zuzustimmen, dass Wahrnehmung eine ausschließlich dem erlebenden Subjekt selber wirklich zugängliche Sphäre ist, der Hermeneutik, dass Verstehen als sein Objekt nur andere Individuen haben kann sowie der Wissenssoziologie, dass implizite Erkennungsprozesse der Beobachtung nicht zugänglich sind und deshalb nur Kommunikation Gegenstand des empirischen Zugangs sein kann. Handlungsweisend für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung sind lerntheoretische und politikwissenschaftliche Referenzen. Sie vermeiden den subjektiven Bias der Phänomenologie sowie den strukturellen Bias der Wissenssoziologie und gewährleisten eine politikdidaktische Vermittlungsabsicht, die auf die Variation und Veränderung kategorialer Wahrnehmung von anderen, also Schülerinnen, fokussiert. Postulat 3: Der Untersuchungsgegenstand qualitativer Forschung wird durch aktives Verstehen erschlossen. Kategoriale Wahrnehmungsprozesse als Tiefenstrukturen liegen nie offen. Die subjektiven Bedeutungen müssen erschlossen werden. Sowohl der Forschungsprozess selbst als auch der Gegenstand der Untersuchung sind als Entdeckungsprozesse zu begreifen (Mayring 2002: 22). Die Beziehung zwischen

98

5  Empirisches Arbeiten und Verstehen

Verhaltensäußerungen der Schülerinnen und den dieses Verhalten studierenden Forschendem wird als zirkulärer Prozess normativer Entwicklung und prozessrekonstruktiver Entdeckung verstanden. Kriterium der Wissenschaftlichkeit ist die Reflexion von Bekanntem und Unbekanntem. Die Einheit, die der Forschende verstehen kann, ist zwar eine andere Person, wie er selbst eine ist, aber ebenso soll die Differenz, also das Fremde oder von der Norm Abweichende und Unerwartete, als Erkenntnisquelle in der Untersuchung genutzt werden (Flick 2007: 14). Forschung ist demnach als Forscher-Gegenstands-Interaktion aufzufassen (Mayring 2002). Die Demonstration von Fremdheit und Unkenntnis eröffnet Möglichkeiten erweiterter (Selbst-)Erkenntnis und respektiert das Relevanzsystem beziehungsweise die Erfahrungswelt der Erforschten (Bohnsack 2008: 208). Postulat 4: Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse qualitativer Sozialforschung muss im Einzelfall begründet werden. Die Orientierung am Subjekt bedeutet, es in seiner Ganzheit und Gewordenheit zu sehen. Ziel einer schrittweisen Verallgemeinerung kann es demnach nicht sein, einen starren Gesetzesbegriff zu formulieren. Erst durch eine argumentative und induktive Verallgemeinerung, die im Einzelfall begründet wird, kann eine normative Entwicklung und prozessrekonstruktive Entdeckung erfolgen. Auf der Basis dieser Forschungseinstellung können empirisch begründete Regelbegriffe beschrieben werden, die Möglichkeiten quantifizierender Verfahren eröffnen (Mayring 2002: 22–23). Postulat 5: Die qualitative Erforschung des Untersuchungsgegenstands erfolgt in einem natürlichen Umfeld. Weil Kategorisierungsprozesse als Untersuchungsgegenstand Konstruktion des Forschenden sind, die nur durch eine wissenschaftlich konstruierte Methode erschlossen werden können, ist der Zugang zum Subjekt immer verzerrt. Umso bedeutender wird es, weil es Bildungskontexte sind, auf die hin die Forschungsergebnisse verallgemeinert werden sollen, an bildungsnahe Situationen der Jugendlichen anzuknüpfen (Mayring 2002: 23). Subjektorientierte Forschung heißt auch, an konkreten praktischen Problemen des Subjekts anzusetzen. Erst auf Basis des Wissens um den äußeren Kontext, kann dieses an dem zu verstehenden und interpretierenden Daten aktualisiert werden. Kriterium der normativen Entwicklung und prozessrekonstruktiven Entdeckung ist die Reflexion des allgemeinen und besonderen eines Falles und einer Situation, die wechselseitig Gegenhorizonte füreinander bilden (Bohnsack 2008: 84). Die Erforschung mentaler Akte in einem bildungsnahen Umfeld bedeutet ein Verstehen und Interpretieren in und als Kommunikations- und Interaktionsbeziehung.

5.2  Bildungs- und Erhebungssituation

99

Die Postulate reflektieren den gesamten Forschungsprozess und dienen als Grundgerüst qualitativen Denkens. Die festgeschriebenen Postulate sind dabei nicht ausschließlich als Forschungsphilosophie zu verstehen, die sozusagen als Ideal über der Untersuchung schwebt, sondern diese haben konkrete Folgen für die Anlage der Untersuchung.

5.2 Bildungs- und Erhebungssituation Will man kategoriale Wahrnehmung von Schülerinnen verstehen, also „[…] Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären […]“ (Weber 1976: 1), müssen nach Hopf […] bei einer sinnverstehenden qualitativen Sozialforschung […] Verfahren etabliert werden, die den realen Verlauf sinnhaften Handelns in irgendeiner Weise abbilden, so dass Regelmäßigkeiten des Handelns und ihre möglichen Ursachen sichtbar werden. (Hopf 2016: 11)

Dem Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung liegt eine fachdidaktische Perspektive zugrunde, die auf Lernprozesse zu Politik und Recht bezogen ist. Ziel ist es, Wandlungsprozesse in Bildungsprozessen für Schülerinnen zugänglich zu machen; notwendig ist dabei „ein problemzentriertes, offenes und interaktives Verfahren“ (Riemeier/Krüger 2007: 92), wie es mit dem Vermittlungsexperiment (Niebert 2010; Riemeier 2005; Steffe/Thompson 2000) als Untersuchungsdesign vorliegt. Dieses ist zugleich Bildungs- und Erhebungssituation. Das Design dieses experimentellen Instruments der qualitativen Sozialforschung lehnt sich an die von Steffe und D‘Ambrosio (1996) für die Domäne Mathematik und in Anlehnung an das klinische Interview nach Piaget entwickelten teaching experiments an. „Anders als beim klinischen Interview werden beim teaching experiment Phasen eingeführt, die der Lehr-Lernsituation dienen“ (Riemeier/Krüger 2007: 94). Insgesamt ist in der vorliegenden Studie die Intention zentral, eine Balance zwischen einer Bildungs- und Erhebungssituation herzustellen. Es wird sich an die Untersuchungsanlage von Vermittlungsexperimenten angelehnt und für die vorliegende Arbeit als Bestandteile eines ›Transferlabors‹ ausgewiesen: Erhebungsmethodik zur Erfassung der Wahrnehmung und Austausch über neuestes Forschungswissen. Das Transferlabor eröffnet einen Bildungs- und Forschungskontext, um zum einen über Performanz einzelner Schülerinnen Wahrnehmung zu erschließen und damit Forschungsfragen zu beantworten (›Labor‹). Zum anderen lassen Vermittlungsexperimente Schülerinnen miteinander agieren und befördern die Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Diskursen (›Transfer‹). Das Transferlabor ist also Prozess

100

5  Empirisches Arbeiten und Verstehen

und Raum für Lernen und Forschung. Der Forscherin kommt in dem Transferlabor eine doppelte Funktion zu: Sie initiiert Transferprozesse und erforscht Wahrnehmung. Dadurch, dass sie lediglich eingreift, um Arbeitsaufträge zu formulieren und Verständnisschwierigkeiten auf der Grundlage eines Glossars zu klären, bleiben Kommunikationswege überschaubar und die Datengewinnung kontrolliert (Riemeier 2003: 71–82, 2005: 147). In der Regel kommt das Vermittlungsexperiment, ähnlich wie ›design based research‹, zum Einsatz, um „[…] die Vermittlung und Aneignung von Kenntnissen, Einstellungen und Fertigkeiten zu optimieren“ (Riemeier/Krüger: 87). In der vorliegenden Arbeit wird hingegen nicht die Optimierung von ­Lehr-Lernsituationen erforscht, sondern das mentale Handeln in bildungsähnlichen Kontexten, um daran anschließend Hypothesen für eine Optimierung formulieren zu können. Die Anlehnung an Vermittlungsexperimente begründet in der vorliegenden Arbeit also einen intentionalen spezifischen ›science of view‹, wenn „science in the service of education […]“ (Cobb et al. 2003: 13) verstanden wird, „even though they are conducted in a diverse range of settings that vary in both type and scope” (Cobb et al. 2003: 9). Vermittlungsexperimente sind in ihrem Ablauf nicht festgelegt, der je nach Funktion variiert, in der Regel sind sie jedoch phasiert. In Anlehnung an das Design der Vermittlungsexperimente gliedert sich das Transferlabor in verschiedene, zeitlich und räumlich versetzte und in Abbildung 5.1 dargestellte Teile, die den Ablauf der Forschung darstellen:

Vor-/Endphase

Sampling und Back Talks

Hauptphase

Interaktion Lernvoraus setzung und reflektionen

Lernsituation

Aufgabenphase Wahrnehmungsprozesse und Performanz

Datenerhebung

Abbildung 5.1   Phasen im Transferlabor. (Erläuterung: Die empirisch relevanten Phasen sind hervorgehoben)

5.3  Gütekriterien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung

101

Das Transferlabor ist in der vorliegenden Untersuchung durch die drei Teile Vorbereitungs-, Haupt- und Abschlussphase strukturiert, die sich nach Forschungs- und Bildungsperspektive differenzieren lassen. Auf der Ebene des Forschungsprozesses werden in den Phasen unterschiedliche Arbeitsschritte und Strategien umgesetzt: In der Anfangsphase wird eine Fallauswahl getroffen im Sinne eines purposiv Sampling (siehe Abschnitt 6.1). Die Probanden werden konfrontiert mit einer für das Transferlabor erstellten Zeitung zum Thema rechtliche Freiheit und Aufgabenzetteln. In der Hauptphase, der eigentlichen Erhebungssituation, wird kategoriale Wahrnehmung über Kommunikative (Was) und die Performanz (Wie) erfasst. Hierzu werden Schülerinnen mit exemplarischen Fällen in Arbeitsmaterial (siehe Abschnitt 7.1.2) konfrontiert und ihre Reaktionen darauf über halbstrukturierte Aufgaben (siehe Abschnitt 7.1.1) herausgefordert und erfasst. Kategoriale Wahrnehmung wird also nicht direkt erhoben, sondern mittels qualitativer Datenanalyse über die Performanz in den Produkten der Schülerinnen und unter Bezugnahme auf das sensitizing concept mentaler Akte interpretativ erschlossen (siehe Abschnitt 7.2). In der anschließenden Abschlussphase werden Einzelinterviews (siehe Abschnitt 7.3) geführt, die nicht systematisch ausgewertet, aber zur kommunikativen Validierung einzelner Ergebnisse und Eruierung von weiterem Forschungsbedarf genutzt werden. Auf der Ebene des Bildungsprozesses dient die Anfangsphase der Einführung in die Thematik und der Explikation von Schülerinnenvorstellungen als Lernvoraussetzungen, in der Hauptphase geht es um eine intensive Erarbeitung, in der Lernphasen durch überblickartige, orientierende Lehrphasen ergänzt werden, und der Abschluss bildet eine Ergebnissicherung (siehe Abschnitt 6.3). Der Prozess und die Ergebnisse der Studie werden damit als ein Beitrag zu der Selbstaufklärung der Schülerinnen in Bezug auf ihre Lebensbedingungen und ihren Bildungskontext gesehen (Breuer/Reichertz 2001).

5.3 Gütekriterien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung Die Qualität qualitativer Daten und deren Sicherstellung sind zu problematisieren: Wie wird nachvollziehbar gemacht, wie die Forschung vorgegangen ist und wie dies die Ergebnisse beeinflusst hat? Inwieweit können Ergebnisse des Vermittlungsexperiments verallgemeinert und übertragen werden? Die Klärung dieser Fragen lässt sich unter den Titel ›Kriterien und Strategien der Qualitätssicherung‹ zusammenfassen. Die Diskussion über Qualitätssicherung

102

5  Empirisches Arbeiten und Verstehen

und mögliche Kriterien zur Bewertung qualitativer Forschung wird seit Langem und seit Langem kontrovers geführt, wie auch Flick resümiert. In der qualitativen Forschungslandschaft lässt sich noch nicht ausmachen, ob es in absehbarer Zeit zu einer allgemeinen Verständigung auf Kriterien oder Standards kommen wird. Auch ist nicht klar, ob das überhaupt wünschenswert ist angesichts der Diversifizierung qualitativer Forschung und angesichts dessen, dass sie im Wesentlichen vom Verzicht auf Standardisierung von Vorgehensweisen geprägt ist und lebt. (Flick 2019: 485)

Einen guten Überblick über den Diskurs bieten unter anderem die Texte von Döring und Bortz (2016), Flick (2010), Mayring (2002) oder Steinke (1999). Hervorzuheben ist, dass für die vorliegende Arbeit keine ­Eins-zu-Eins-Übertragung von Kriterien quantitativer Forschung sinnvoll ist. Es wird angeschlossen an eine Position innerhalb des Diskurses, die die allgemeinen Kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität in Analogie zu quantitativer Forschung spezifiziert und neuformuliert sowie durch gegenstands- und methodenbezogene Prozeduren ausarbeitet (Steinke 1999: 43–44). Die Studiengüte wird dabei generell von der gesamten Anlage der Untersuchung beeinflusst, auch wenn sich einzelne Kriterien oder Strategien auf einzelne Schritte im Forschungsprozess mit prozeduralem Charakter beziehen. Abhängig sind die Auswahl und die Verwendung der Kriterien grundsätzlich von wissenschaftstheoretischen Annahmen (Kuckartz 2016: 202); die Offenlegung dieser Annahmen ist deshalb der Anfang in der Strategie der Geltungsbegründung durch Transparenz in der vorliegenden Studie. Von Beginn der Arbeit an ist es Ziel, intersubjektive Nachvollziehbarkeit herzustellen, denn nur auf dieser Grundlage ist eine Bewertung der Studie und kritische Verständigung innerhalb der ›scientific community‹ und darüber hinaus möglich (Steinke 1999: 208). Der gesamte Forschungsprozess, angefangen bei der Formulierung der Fragestellungen bis hin zur Darstellung der Forschungsergebnisse, soll transparent sein (Steinke 1999: 207–215). Intersubjektive Nachvollziehbarkeit stellt in der vorliegenden Arbeit insgesamt ein „Super-Kriterium“ dar, weil es Voraussetzung für die Überprüfbarkeit anderer Kriterien ist. Sichergestellt wird intersubjektive Nachvollziehbarkeit in einem permanenten Auditingprozess. Expliziert und dokumentiert werden demnach Auswahlentscheidungen und Kohärenzherstellungen bei der Theoriegenerierung und Theorieprüfung sowie bei Erhebungs- und Auswertungsmethoden wie der Fallauswahl oder der Auswahl des Materials (Flick 2007: 155; Flick 2019: 483). Die Dokumentation der Auswahlentscheidungen bezieht sich also auf unterschiedliche Schritte im

5.3  Gütekriterien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung

103

­orschungsprozess: auf das Sampling, das Erhebungsverfahren und auf die F Auswertung. Da die Auswertung computergestützt erfolgt, wird ohnehin ein umfassender Auditingprozess durchlaufen. Offengelegt wird damit zugleich die Subjektivität des Forschenden. In der vorliegenden Arbeit wird der Forschende in seiner konstruierenden Rolle als Subjekt und Teil der sozialen Welt durch Prüfung von Selbstbeobachtung und Reflexion von Voraussetzungen in die Forschung miteinbezogen (Steinke 1999: 231). Die Beurteilung der Angemessenheit eines gesamten Forschungsprozesses erfordert die Indikation des qualitativen Vorgehens bezüglich der Fragestellung, der Methodenauswahl sowie von Transkriptions- und Bewertungsregeln. Die Auswahl- und Entscheidungsprozesse sind hinsichtlich ihrer (­Gegenstands-) Angemessenheit zu bewerten (Steinke 1999: 215–217). Über die Systematik der Entstehung, angefangen bei den getroffenen Einzelentscheidungen bei der Konzipierung des Transferlabors, der Konstruktion der Aufgabenstellungen und Entwicklung der Materialien sowie bei den Transkriptionsregeln, der Samplingstrategie und bei der computergestützten Auswertung und Darstellung der Ergebnisse, soll der Prozess der Analyse erschlossen werden (Grunenberg 2004: 75). In der Datenerhebung und Datenauswertung werden dabei mit dem ›purposive Sampling‹, der computergestützten Codierung und strukturierenden Inhaltsanalyse kodifizierte Verfahren angewendet, die methodisch kontrollierten Regeln folgen und Transparenz herstellen. Auf der Basis einer solchen systematischen regelgeleiteten Erhebung und Auswertung ist dann die Entwicklung von Theorien und die Formulierung von Hypothesen möglich, die empirisch verankert sind (Steinke 1999: 221). Die tatsächliche Güte, Verallgemeinerung und Übertragbarkeit der Ergebnisse sowie die Verhältnismäßigkeit von Empirie und Theorie werden dabei erst bei der inhaltsanalytischen Auswertung und diskursiven Verständigung über die Ergebnisse deutlich. Strategisch wird mit dem purposive Sampling zwar eine sorgfältige Fallauswahl getroffen, externe Studiengüte wird in der vorliegenden Studie aber zudem über die Strategien eines ›peer debriefing‹ und eines ›member checking‹ versucht zu gewährleisten: In einem regelmäßigen Austausch mit Kolleginnen außerhalb dieser Studie werden Vorgehensweise und Ergebnisse diskutiert und „Leerstellen“ identifiziert. Eine kommunikative Validierung wird zudem unter dem Einbezug der Probanden bei der Datenauswertung umgesetzt. Gemeint ist dabei jeweils, dass die Forschenden (Zwischen-)Ergebnisse an Interviewpartner […] an einem Punkt im Forschungsprozess […] zurückmelden. Die Zustimmung der Interviewten zu den Ergebnissen oder ihre Ablehnung wird dann als Ansatz der Validierung der Resultate gesehen. (Flick 2019: 476)

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5  Empirisches Arbeiten und Verstehen

In der vorliegenden Arbeit werden ausgewählte Ergebnisse aus der Analyse den Probanden innerhalb der Nachbefragungen, sogenannter ›Back Talks‹, präsentiert mit der Bitte um Rückmeldung. Auch wenn Verallgemeinerung und Übertragbarkeit der Ergebnisse zu den Zielen qualitativer Forschung zählen, sind Reichweite und Aussagefähigkeit von entwickelten Theorien und Ergebnissen zu limitieren (Steinke 1999: 227). Die ausgeführte Methodologie wird konkretisiert in einem Methodenkonzept, das in Bezug auf die Auswahl, die Datenerhebung und die Datenauswertung jeweils die Maßnahmen zur Qualitätssicherung ausweist und so versucht, dem Gegenstand gerecht zu werden, Wahrnehmungen von rechtlicher Freiheit zu erfassen.

6

Studiendesign

6.1 Sampling und Umfang der Stichprobe Hinsichtlich des Erkenntnisgewinns ist die Auswahl von Probanden entscheidend, die im Folgenden dargestellt wird. Die Fallauswahl ist auf Schülerinnen und auf Politiklernen gerichtet. Der Anspruch ist es dabei, das Feld möglichst breit zu erfassen und zugleich tiefgehende Analysen durchführen (Flick 2007: 167). Als Samplingstrategie wird aus diesem Grund das purposive Sampling gewählt, das eine gezielte Auswahl der zu untersuchenden Fälle bedeutet, „[…] it means sampling in a deliberate way, with some purpose of focus in mind“ (Punch 2005: 187). In der vorliegenden Arbeit wird eine zielgerichtete bewusste Auswahl in Abhängigkeit vom konkret untersuchten Material und dessen Erhebung und Analyse (Flick 2010) getroffen, wobei es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Fälle gezielt auszuwählen, beispielsweise die Auswahl von extremen, typischen, kritischen, politisch wichtigen, sensiblen, einfach zugänglichen oder typischen Fällen. „Grundlage sind die Eigenschaften des Falls, die man für die Forschung für besonders relevant hält“ (Kuckartz 2014: 85). In der vorliegenden Studie wird im Sinne des Verfahrens der inneren Repräsentation angestrebt, maximal unterschiedliche und ebenso als typisch geltende Einzelfälle in das Sample einzubeziehen (Merkens 2000: 219–220). Die Zahl der Fälle wird nicht vorab festgelegt. Eine Begrenzung erfolgt durch die Konzentration auf Schülerinnen der

Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi. org/10.1007/978-3-658-30760-8_6.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_6

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6 Studiendesign

Bremer Oberstufe als Grundgesamtheit, wodurch der hypothetische Geltungsbereich der Aussagen limitiert wird (Heldt 2018: 56). Innerhalb dieser Gruppe wird eine breite Variation angestrebt. An dem Transferlabor haben Schülerinnen aus der Oberstufe von zwei Schulen in Bremen Stadt (Mitte/östliche Vorstadt: Altes Gymnasium und Gymnasium an der Hamburger Straße) im Alter von 15–18 Jahren teilgenommen. In diesem Alter festigen sich zum einen politische Werthaltungen (Grob 2009). Zum zweiten stammen die Schülerinnen aus den Qualifikationsphasen Q1 und Q2 mit jeweils gesellschafts- und politikwissenschaftlich orientiertem Profil1. In der Qualifikationsphase werden die Schwerpunktthemen der Abiturprüfung erarbeitet. Jahrgang Q1 hat das Profil Gesellschaftswissenschaftliches Profil, Jahrgang Q2 Historische und politische Welterklärung. Für qualitative Untersuchungen stellt diese Stichprobe einen großen Umfang dar, da in der Literatur für explorative Studien beispielsweise ein Minimum von 12 Interviews und damit 12 Probanden genannt wird (Carter/Jennings 2002: 150). Obwohl die reine Anzahl der Probanden kein hinreichendes Kriterium für eine inhaltliche Sättigung ist, bedeutet nach Mayring ein größerer Stichprobenumfang eine Verbesserung der Aussagekraft der Ergebnisse (Mayring 2012: 295). Nachfolgende Merkmale werden in der vorliegenden Studie bei der Zusammensetzung der Stichprobe berücksichtigt (Tabelle 6.1): Tabelle 6.1   Auswahlmerkmale der Stichprobe nach Klee (2008: 140) Merkmal der Auswahl

Angestrebte Variation innerhalb der Stichprobe

Oberstufe

Jahrgang Q1 und Q2 mit Politikunterricht

Leistungsfeld

unteres, mittleres, oberes

Erfahrung mit kategorialem Unterricht

vorhanden – nicht vorhanden

Die Schülerinnen haben entweder bereits Kontakt mit kategorial orientiertem Unterricht gehabt oder sind nicht explizit mit Kategorien in Kontakt gekommen. Die Auswertung der Vorphase beziehungsweise der Schülerinnenprodukte zu den

1Das zweite und dritte Jahr der Oberstufe stellt die sogenannte Qualifikationsphase (Jahrgang Q1 und Q2) dar, in dieser findet bis zum Abitur der Unterricht einzig im Kurssystem im Profil und in Kursen statt.

6.2  Forschungsethik und rechtliche Anforderungen

107

Aufgaben zeigt, dass die Schülerinnen aus dem unteren, mittleren und oberen Leistungsfeld stammen2 (Tabelle 6.2). Tabelle 6.2   Stichprobe im Überblick 1 Oberstufe

2 Leistungsfeld

3 Kategorialer Unterricht

unten

mittel

oben

Q1 n = 25b

8

13

4

Q2 n = 22c

8

9

3

unbestimmta

vorhanden

nicht vorhanden x

2

x

aNicht

teilgenommen an der Vorphase, aber an der Haupterhebung 15 (1), 16 (14), 17 (7), unbestimmt (3); Geschlecht: m (15), w (10) cAlter: 17 (16), 18 (4), unbestimmt (2); Geschlecht: m (8), w (12), divers (2) bAlter:

Die endgültige Bestimmung der Fallzahl ergibt sich erst im Verlauf des Erhebungs- und Auswertungsprozesses bis eine inhaltliche Sättigung erreicht ist (Bertaux 1981; Helferrich 2011: 174–176). In der vorliegenden Arbeit wird zwar nicht ein Grounded Theory Ansatz verfolgt, jedoch der Grundgedanke, dass in das Sample solange Fälle einbezogen werden, wie diese etwas Neues zur Untersuchung beitragen beziehungsweise sich Erkenntnisse nicht wiederholen (Bertaux 1981; Helferrich 2011: 174–176). Als Fälle der Datenerhebung werden Schülerinnenprodukte von 47 Schülerinnen (n = 47) ausgewählt. Gelungen ist es, das Forschungsfeld in seiner Vielschichtigkeit darzustellen, inwieweit eine inhaltliche Repräsentation erreicht ist, lässt sich abschließend bewerten.

6.2 Forschungsethik und rechtliche Anforderungen In qualitativen Studien allgemein und im Kontakt mit Schülerinnen im Speziellen, ist die Art und Weise der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Forschenden und den Probanden zu reflektieren. Dies betrifft rechtliche Fragen und Grundlagen der Erhebung, Aufbewahrung, Weitergabe und Veröffentlichung sozialwissenschaftlicher Daten ebenso wie ethische Abwägungen. In diesem

2Es

haben Gespräche über Schülerinnenleistungen mit den Lehrkräften stattgefunden. Die eigentliche Einordnung in Leistungsfelder ist jedoch auf der Grundlage der Auswertung der Schreibprodukte anhand diagnostischer Verfahren erfolgt (Neuhof 2014: 38–43).

108

6 Studiendesign

Sinne ist die Durchführung der Studie gekennzeichnet durch die normative Gestaltung der eigenen Forschungspraxis und rechtliche Anforderungen. Diese rahmen den Ablauf der Untersuchung. Wissenschaftliche Untersuchungen im Schulbereich in Bremen unterliegen verschiedenen Regelungen. Rechtlich zu beachten sind die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), das Bremische Ausführungsgesetz zur EU-Datenschutz-Grundverordnung (BremDSGVOAG) sowie das Bremische Schuldatenschutzgesetz (BremSchulDSG). Da die vorliegende Untersuchung mit der Erhebung politischer Meinungen personenbezogene Daten erfasst, bedarf sie nach dem Bremischen Schulgesetz der Genehmigung der Senatorin für Kinder und Bildung (§ 13 (6) BremSchulDSG). Die Studie hat ein Genehmigungsverfahren durchlaufen, das die Antragstellung bei dem Referat für „Qualitätsentwicklung und Standardsicherung“ sowie die Einreichung von einem Exposé, einer Beschreibung der geplanten Untersuchungsinstrumente sowie von Mustern aller Unterlagen, die bei der Erhebung verwendet werden, umfasst3. Sichergestellt werden soll so die Wahrung der Persönlichkeitsrechte beziehungsweise die Wahrung des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen (Helfferich 2009: 190). Ziele, Methoden, Verlauf und Publikationsabsicht der Studie werden in Anschreiben an Schuldirektion, Eltern und Schülerinnen offengelegt sowie ausdrücklich auf die Freiwilligkeit der Teilnahme der Schülerinnen hingewiesen. Es wird eine Pseudonomysierung vorgenommen, indem die Schülerinnen selber Codes wählen, die daraufhin durch eine Buchstabenkombination ersetzt werden.

6.3 Ablauf des Transferlabors Das Transferlabor wird im August und September 2013 durchgeführt. Die Durchführung eines empirischen Transferlabors „[…] erfordert ein hohes Maß an organisatorischer und persönlicher Kooperation zwischen Lehrerin und der Forscherin […]“ (Murmann 2002: 136), die in der vorliegenden Untersuchung gegeben ist. Die vorliegende Studie erfolgt in enger Kooperation mit den Schulen, wobei ein regelmäßiger Austausch mit den teilnehmenden Lehrkräften eine Passung der Erhebungssituation mit der schulischen Bildungssituation ermöglicht.

3Die Anschreiben an Schülerinnen, Eltern und Schulleitung, das Exposé sowie der Genehmigungsantrag befinden sich im digitalen Anhang im Besitz der Autorin.

6.3  Ablauf des Transferlabors

109

In der Vorbereitung des Transferlabors wird der Zeitpunkt bewusst mit den jeweiligen Lehrkräften gemeinsam ausgewählt: Er liegt nach den Schulferien und zu Beginn einer neuen Unterrichtseinheit. Das Transferlabor ist eingebunden in den jeweiligen Jahresplan der Qualifikationsphasen und bildet den Einstieg in das Thema Internationale Politik, das der Bremische Bildungsplan vorsieht (Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2008: 6). Schülerinnen können in dem Themenbereich Internationale Politik lernen unter anderem Akteure internationaler Politik und ihre Interessenlagen zu beschreiben und zu erläutern sowie die Struktur der Staatenwelt mit verschiedenen Kategorien zu untersuchen und Prozesse des Zerfalls oder der Bildung neuer Systeme oder Formen der internationalen Zusammenarbeit zu analysieren (Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2008: 6). Die Schülerinnen können so das Thema rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung „[…] als schulrelevant und vergleichbar mit anderen Unterrichtsthemen erleben […]“ (Murmann 2002: 138). Das Transferlabor (siehe elektronisches Zusatzmaterial) wird umgesetzt in einer ca. 90-minütigen Vorphase im regulären Unterricht an der jeweiligen Schule, einer ca. 270-minütigen Hauptphase als primär empirische Untersuchung an der Universität Bremen und einer ca. 90-minütigen Endphase4 erneut im regulären Unterricht an der jeweiligen Schule. Die drei Phasen finden zeitlich versetzt mit einem Abstand von ca. 1 Woche zwischen erster und zweiter sowie 2 bis 3 Wochen zwischen zweiter und dritter Phase statt. Ziele der Vor- und Endphase sind für die empirische Erhebung wie bereits erwähnt die Umsetzung der Samplingstrategie und die kommunikative Validierung der Ergebnisse. Darüber hinaus dient die Vorphase der Entwicklung des Themas der Untersuchung. Zu diesem Zweck werden Definitionen von ›Staat‹ und ›Staatlichkeit‹ eingeführt. Die Auseinandersetzung mit der Staatserzählung von dem Wandel des Staats als Herrschaftsmonopolisten hin zum Herrschaftsmanager sowie mit Fällen bedrohter rechtlicher Freiheit geben einen Ausblick auf das Transferlabor an der Universität Bremen und legen die zentrale Frage nach der Sicherstellung rechtlicher Freiheit im Bereich der Menschenrechte als Thema der Hauptuntersuchung zu Grunde. Die Forcierung der Forschungs- als Bildungssituation hat unmittelbare fruchtbare forschungspraktische Relevanz: Die Vorphase ermöglicht nicht nur die Umsetzung einer umfassenden Samplingstrategie, sondern eröffnet den

4Im

Rahmen der Endphase werden Nachbefragungen (›Back-Talks‹) durchgeführt; der 90-minütige Unterricht dient der Ergebnissicherung beziehungsweise dem Transfer der Ergebnisse und stellt gewissermaßen eine Gegenleistung für die erhebliche Unterstützung seitens der Lehrkraft dar.

110

6 Studiendesign

Zugang zum Feld und befördert eine freiwillige Teilnahme der Schülerinnen5. Um die Kommunikationswege im Erhebungs- und Bildungsgeschehen besser kontrollieren zu können, wird ein Glossar mit für das Transferlabor bedeutsamen Begriffen erstellt, das von dem Forschenden und der Lehrkraft in Klärungssituationen genutzt wird. Die Datenanalyse mit ihren Untersuchungsverfahren bezieht sich auf Aufgaben und schriftliche Äußerungen der Schülerinnen, die während der Hauptphase an der Universität Bremen erfasst werden und die durch überblicksartige, orientierende Lehrphasen ergänzt werden. Während das Transferlabor insgesamt in den Schulalltag der Schülerinnen eingebunden ist, unterscheiden sich die konkreten einzelnen Aufgaben und Materialien von dem schulischen Kontext, da es sich um Forschungsinstrumente handelt.

5Die

Materialien befinden sich im digitalen Anhang im Besitz der Autorin.

7

Methoden der Studie

7.1 Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als Erhebungsinstrumente Kategoriale Wahrnehmung ist nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur über ihre Darstellung erschließbar. In der vorliegenden Arbeit wird Wahrnehmung als Konstrukt (siehe Abschnitt 4.3) und Performanz als Tun in konkreten Situationen unterschieden (Schott/Ghanbari 2012: 40). Die Performanz beschreibt die Realisierung mentaler Akte: das tatsächliche menschliche Handeln beziehungsweise beobachtbare Produkte des Handelns (Chomsky 1967; Martens/Asbrand 2009: 211). Zentrale Datenbasis der vorliegenden Arbeit sind die beobachtbaren Produkte dieses Handelns: die Schreibprodukte der Schülerinnen. Das Transferlabor mit seinen Phasen hat für die Untersuchung dabei die Funktion, Interaktionsprozesse zu initiieren und den Schülerinnen eine Auseinandersetzung mit dem erklärungsbedürftigen Phänomen rechtlicher Freiheit zu ermöglichen. Der Impuls dazu wird in Anlehnung an Diagnoseaufgaben über fokussierte Aufgaben umgesetzt. Politikdidaktische Forschung arbeitet in erster Linie mit Fragebögen oder Interviews, obwohl sich eine Bandbreite weiterer Verfahren anbietet (Zurstrassen 2011). Der Zugang zu kategorialen Wahrnehmungsprozessen erfolgt in der vorliegenden Studie deshalb über das Erfassen, die Analyse und die Klassifikation der Performanz der Schülerinnen durch Aufgaben in der Auseinandersetzung mit Streitfällen zu rechtlicher Freiheit, die ihre

Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi. org/10.1007/978-3-658-30760-8_7. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_7

111

112

7  Methoden der Studie

schriftliche Fixierung in Schülerinnenprodukten finden. Es handelt sich also um Erhebungsmethodik, die auf sprachlicher Basis arbeitet (Mayring 2002: 66). Aufgaben sind Interaktionssituationen, sie fordern durch ihre Konstruktion mentales Handeln der Schülerinnen heraus. Das bedeutet, dass der Untersuchende über die Interaktion Zugang zum Sinnsystem der Einzelperson in der Konfrontation mit kollektiver Sinnbildung finden kann. Die Probanden bringen im Moment des Tuns ihre subjektiven Deutungen ein (Helfferich 2005: 67–68) als Reflex auf kollektive Deutungen in den Fällen. Der daraus entstehende Sinn ist an die Interaktion als Kontext der Äußerung gebunden (Mayring 2002: 32). Es wird in dieser Arbeit einerseits eine maximale Offenheit angestrebt, die es ermöglicht, dass die Probanden ihre Konstitutionen rechtlicher Freiheit entfalten können. Andererseits werden von dem Forschenden über die Aufgaben Themen und fachliche Entscheidungs- beziehungsweise Wahrnehmungsunterstützungen eingeführt, womit er strukturierend auf den offenen Handlungsraum einwirkt. In der vorliegenden Untersuchung können mit Hilfe von Aufgaben bestimmte Bereiche fokussiert werden. Es ist eine fokussierte Befragung darüber möglich, wie rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung von den Probanden wahrgenommen wird und welche Kategorisierungen sich darin eröffnen. Tabelle 7.1   Merkmale von fokussierten Aufgaben in Anlehnung an Helfferich (2005: 33) Merkmale

Spezifische Ausprägung

Forschungsgegenstand

Performanz/Kommunikativa

Anforderungsrichtung

Hypothesengeleitet

Erkenntnisperspektive

Aufdeckendes und auffindendes Arbeiten

Kommunikationsstruktur

Einzelarbeit

Strukturiertheit

Halbstrukturierte bis offene Aufgaben

Als Instrument der Datenerhebung haben Aufgaben ein spezifisches Merkmalsprofil (siehe Tabelle 7.1). Sie müssen forschungstheoretischen Kriterien gerecht werden1.

1Aufgaben

haben in der didaktischen Diskussion Geschichte. Die in den 1970er Jahren von Klauer und Schott (1972) aufgestellte ­Tyler-Matrix zur Aufgabengenerierung oder Weinerts (1974) formulierte Aufgabenauffassung spielen im Rahmen der Diskussion zur Verbesserung des Unterrichts unter anderem in Folge international vergleichender Schulleistungsstudien wieder eine Rolle, da Defizite bei der Aufgabenkultur sichtbar geworden sind (Reusser/Pauli 2003). Weil Bildungsstandards in der Regel über Aufgaben verdeut-

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

113

Problemzentrierte und methodisch durchdachte Aufgaben stellen sowohl Aktivierungs- als auch Erfassungsmittel der vorliegenden Untersuchung dar. Es wird sich an diagnostische Aufgaben angelehnt, weil sie ein Erfassen von Lernausgangslagen ermöglichen. Die Gruppe der diagnostischen Aufgaben ist dabei keine einheitliche und wird in der methodologischen Literatur unterschiedlich behandelt; in der Politikdidaktik fehlt bisher ein Modell der Aufgabendiagnostik. Angeknüpft wird an allgemeine empirische Auseinandersetzungen mit Diagnoseaufgaben zur Erfassung von Lernausgangslagen (im Unterschied zu Lernprozessen oder Lernergebnissen), wie Vorstellungen, Kompetenzen oder Wahrnehmungsprozessen. Die Rekonstruktion kategorialen Wahrnehmens von Schülerinnen kann der Förderung individueller Lernvorgänge in Bildungskontexten dienen (Hußmann et al. 2007). Vorrangig werden innerhalb von Diagnoseaufgaben Kompetenzen modelliert und die Konstruktvalidität getestet. Zentral in der vorliegenden Studie sind jedoch selbstständige Interaktionen in Bezug auf Gegenstände: die Aufgaben zeichnen sich durch Funktionalität und Problemfokussierung, der in der Literatur eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird (Ellis 2003: 218), aus. Im Fokus stehen Wahrnehmungen zu einem bestimmten Problem (Thema): die Sicherstellung beziehungsweise Gefährdung rechtlicher Freiheit. Wahrnehmungsaktivitäten werden in der vorliegenden Arbeit nur in ihrem Bezug auf Gegenstände gedacht. Entsprechend fokussiert problemzentrierter Interviews (Merton/Kendall 1984: 171), die sich durch Hypothesengehalt auszeichnen, lenken die in der vorliegenden Studie konstruierten Aufgaben durch die Aufgabenformulierung den Blick auf Akte und Gegenstände, um die es in einer Domäne geht (Reusser 2008: 219–237).

licht werden, steht die Frage im Mittelpunkt, was eine gute Aufgabe ist (Kiper et al. 2010: 45–47) und wie Aufgaben Kompetenzen diagnostizieren können. Die Politische Bildung beteiligt sich in diesem Rahmen 2009 an dem Projekt „Fachdidaktische Perspektiven: Kompetenzerwerb durch Lernaufgaben“ (KLee) an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Lange et al. untersuchten für das Fach Politische Bildung, in welcher Weise Urteils- und Handlungsfähigkeiten in den Aufgaben von Schulbüchern der Klasse 7 bis 10 gefördert werden. Reflektierendes Urteilen wird selten durch Aufgaben herausgefordert. Die Ergebnisse zeigen, dass hinsichtlich der Konzipierung von Aufgaben noch erheblicher Handlungsbedarf besteht (Lange et al. 2010: 185–187). In der vorliegenden Arbeit geht es nicht darum, gute Lernaufgaben zu formulieren oder Testaufgaben zu konstruieren, die Kompetenzen messen, weder Aufgabenqualität (Blömeke/Müller 2009) als Thema empirischer Unterrichtsforschung noch Testaufgaben sind Thema der Arbeit.

114

7  Methoden der Studie

Auf der Grundlage der in Kapitel  2 und 3 analysierten Muster und Konstitutionselemente rechtlicher Freiheit und daraufhin formulierter Hypothesen über die Wahrnehmung rechtlicher Freiheit, werden Themenkomplexe (Grundbegriffe fachlicher Ordnung) und Leitfragen (fokussierte Befragung) entwickelt (siehe Abbildung 7.1). Die Grundbegriffe fachlicher Ordnungsbildung als Themenkomplexe werden systematisch in fachliche Schlüsselfragen übersetzt. Es handelt sich also um ein Theorien generierendes Verfahren, das den Gegensatz zwischen Offenheit und Theoriegeleitetsein aufhebt, indem der Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel geregelt wird.

Abbildung 7.1   Themenkomplexe und Leitfragen der Studie

Die Grundfragen an Recht und Politik, die die Perspektive der Sozialwissenschaften herstellen sollen (Henkenborg 2011: 112–113), beziehen sich auf das Sollen, Sein und Werden rechtlicher Freiheit. Sie dienen, analog zu einem Interviewleitfaden, der Fokussierung und Zentrierung von der gesellschaftlich relevanten Frage nach der Sicherstellung rechtlicher Freiheit. Die Fragen leiten jeweils die detaillierteren Aufgaben ein, deren Konstruktion im Folgenden dargestellt wird. Es handelt sich also um ein Wahrnehmungsangebot mit fachlichem Anspruch, welcher sich auf die Erschließung der Fälle bezieht.

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

115

7.1.1 Aufgabenkonstruktion Aufgaben erfassen das, was sie herausfordern. Aufgaben können dabei kategoriales Wahrnehmen herausfordern, indem sie systematisch hergeleitet werden. Den theoretischen Bezugsrahmen der Aufgabenkonstruktion bildet in der vorliegenden Studie das fächerübergreifende Designmodell SEGLER (systematische und entscheidungstheoretisch gestützte Gestaltung von Lernaufgaben) (Richter 2010: 19–27). Dieses ermöglicht die Herleitung systematischer Diagnosevorgänge zur Erfassung von Lernvoraussetzungen, indem es Interaktion herausfordert. Anforderungen an die Konstruktion sind für die vorliegende Studie in Anlehnung an das Modell: – die Festlegung, was durch Aufgaben erfasst werden soll und wie Aufgaben herausfordern können, was sie erfassen sollen; – die Strukturierung des fachlichen Diskurses; – die Zuordnung von Deutungsaktivitäten; – die Bestimmung des Aufgabentyps und – die Aufgabengestaltung. Für die Festlegung dessen, was erfasst werden soll, unterscheidet die vorliegende Arbeit zwischen Tiefen- und Sichtstruktur. Die Tiefenstruktur umfasst das sensitizing concept „politische mentale Akte“ aus Abschnitt 4.3. Welche Entsprechung die nicht beobachtbaren geistigen Handlungen auf der Ebene der Performanz haben, ist im Datenmaterial explorativ zu entdecken. Die Aufgabenkonstruktion stellt in diesem Sinne eine intentionale und komplexe Anordnung von Interaktionsanlässen im Unterschied zu diagnostischen Testverfahren dar, die wiederrum anhand unterschiedlicher Diagnosemethoden verschiedene Wissensaspekte erheben (Krüger 2014: 36–37). Als Strategie zur Erfassung der Performanz der Schülerinnen werden Aufforderungen konstruiert, die die angenommenen Tiefenstrukturen herausfordern. Die vorliegende Arbeit greift hierfür auf die konzeptionellen Vorarbeiten aus Kapitel 3 zurück. Leitfragen Zu fachlichen Themenkomplexen werden die Leitfragen in Form von W-Fragen formuliert: Was sollte rechtliche Freiheit sein? Welche Funktion hat das Rechtliche für die Freiheit? Was ist faktisch hinsichtlich rechtlicher Freiheit gegeben? Durch welche Verfahren kann rechtliche Freiheit formal sichergestellt werden? Warum wirken Verfahren faktisch auf das Verhalten der Beteiligten? In welcher Ordnung kann rechtliche Freiheit sichergestellt werden?

116

7  Methoden der Studie

Aufforderung zur Interaktion Die Aufgaben beziehen sich auf die Phasen Analysieren, ­ abstrahierenddistanzierendes und kontextsensitives Reflektieren sowie Imaginieren (siehe Abschnitt 3.3.4) und werden so ausgewählt, „[…] dass die Charakteristika zu den Bereichen eindeutig in ihnen repräsentiert sind“ (Völzke 2010: 39), was über sogenannte Operatoren umgesetzt wird. Zwar sind die Aufgaben nicht repräsentativ für schulische Aufgaben im Unterricht es werden jedoch mit den Operatoren aus dem Bremer Bildungsplan Qualifikationsphase typische Aufforderungen ausgewählt (Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2008: 13–14). Wie in Tabelle 7.2 dargestellt, werden als Aktivitäten Analysieren, abstrahierendes-distanzierendes Reflektieren, kontextsensitives Reflektieren und Imaginieren festgelegt und durch Operatoren abverlangt2. Tabelle 7.2   Aufgabenanforderungen und Operatoren nach Senatorin für Bildung und Wissenschaft (2008: 13–14) Anforderung

Operatoren

Analysieren

Stelle heraus/Beschreibe… Einen einzelnen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen und kriterienorientiert beziehungs-weise aspektgeleitet bearbeiten.

AbstrahierendErkläre und stelle in einen Zusammenhang… distanzierendes Reflektieren Sachverhalte in einen Zusammenhang stellen und Hintergründe beziehungsweise Ursachen aufzeigen. Kontextsensitives Reflektieren

Erschließe… Einen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen.

Imaginieren

Entwerfe… Ein begründetes Konzept für eine offene Situation erstellen und dabei die eigenen Analyseergebnisse in einen eigenständigen Beitrag einbringen.

2Zu

beachten ist, dass die jeweilige Aufgabenanforderung bestimmter Aufgabenformate verschiedene kategoriale Wahrnehmungsprozesse erfassen kann.

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

117

Mit Analysieren und Interpretieren, Analogiebildung und Vergleichen wird die Wahrnehmung von einzelnen Situationselementen, ganzen Situationen, von Ähnlichkeiten und Unterschieden (Grammes 2014: 254–255) gefordert. Beispiel für die Anforderung Analysieren: Was sollte rechtliche Freiheit im Fall Schwabe und G. versus Deutschland sein? Analysiere im Fall Schwabe und G. versus Deutschland die Rechtskommunikation. a) Wer orientiert sich in welchem Raum am Code rechtmäßig/unrechtmäßig? Stelle die räumlichen und modalen Besonderheiten mithilfe des Instruments I dar. b) Um was geht es in der Kommunikation? Untersuche die Rechtsnormen mit Instrument II. Unter der vorgegebenen Fragestellung wird zu Materialerschließung und Kriterien geleiteter Bearbeitung aufgefordert. Der Weg zur Erschließung ist in dem Beispiel durch die Aufforderung zur Verwendung von Analyseinstrumenten beziehungsweise fachlichen Begriffen zur Erschließung vorgegeben. Fallauswahl Kategorisierungsprozesse finden in der Konfrontation mit Fällen statt, wodurch Gegenstände als Kategorie, also als begrifflich-thematische Entität (Neuweg 1999: 190) erscheinen. Die Aufgaben umfassen neben der Aufgabenstellung einen anwendungsorientierten Aufgabentext. Ausgewählt werden komplexe, realistische und domänenspezifische Streitfälle, in denen rechtliche Freiheit gefährdet ist. Menschenrechte sind ein Schlüsselbereich rechtlicher Freiheit und haben hinsichtlich der Sicherstellung übernationale und überstaatliche Bedeutung. Die ausgewählten Fälle ›Schwabe und G. versus Deutschland‹ und ›Madres de Plaza de Mayo‹ sind exemplarisch für internationale und transnationale Rechtsprozesse. Es sind einzelne Streitfälle in einem Problemfeld internationaler Politik: der Menschenrechte, die jedoch die supranationale (EU) und internationale (VN) Rechtsordnung insgesamt erfassen.

118

7  Methoden der Studie

Tabelle 7.3   Aufgabenanforderungen, Operatoren und Fallaspekte Anforderung

Operatoren

Fallaspekt

Analysieren

Stelle heraus/Beschreibe… Einen einzelnen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen und kriterienorientiert beziehungsweise aspektgeleitet bearbeiten.

Fall Schwabe und G. versus Deutschland Rechtsnormen: Gesetzestexte/ Paragraphen Rechtsfunktion: Konflikt/ Kollision/ Konfliktlösung Rechtswirklichkeit: Verständnisse/ Deutungen

Abstrahierenddistanzierendes Reflektieren

Erkläre und stelle in einen Zusammenhang… Sachverhalte in einen Zusammenhang stellen und Hintergründe beziehungsweise Ursachen aufzeigen.

Fall Schwabe und G. versus Deutschland Rechtsnormen, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit: Formale Verfahren und faktisches Verhalten

Kontextsensitives Reflektieren

Erschließe… Einen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen.

Fall Madres de Plaza de Mayo Rechtsnormen: Gesetzestexte/ Paragraphen Rechtsfunktion: Konflikt/ Kollision/ Konfliktlösung Rechtswirklichkeit: Verständnisse/ Deutungen Rechtsnormen, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit: Formale Verfahren und faktisches Verhalten

Imaginieren

Fälle und darüberhinausgehend Entwerfe… Ein begründetes Konzept für eine Rechtsordnung offene Situation erstellen und dabei die eigenen Analyseergebnisse in einen eigenständigen Beitrag einbringen.

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

119

Im jeweiligen Aufgabentext sind die zentralen Elemente der jeweiligen Fälle angegeben (siehe Tabelle 7.3), es werden verschiedene Aspekte eines Falls gegenstandssensibel und funktional gestaltet. Beispiel für Fallaspekte: Gesellschaftliche Kommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird über Rechtsnormen abgebildet. Aufgabentyp Die Konstruktion von Aufgaben ist komplex. Die Aufgaben sollen durch ihre komplexe Konstruktion anspruchsvolle Interaktion initiieren (Sieberkrob/Chmiel 2017: 25). Sie zeichnen sich durch Situiertheit und Handlungsaktivierung aus. Situiert sind sie, weil sie sich auf die Erschließung konkreter Fälle beziehen. Die Lernumgebung ist dementsprechend materialgesteuert, wodurch die Interaktionen so gesteuert werden, „[…] so dass die Lerner möglichst eigentätig die Problemstellung entdecken, Vorstellungen entwickeln und (Lern)materialien bearbeiten“ (Leisen 2010: 60). Innerhalb der halboffenen Aufgaben (siehe Tabelle 7.4), die sich dadurch auszeichnen, dass das jeweilige Ergebnis beziehungsweise die Antwort offen, der Weg dorthin jedoch strukturiert ist, beziehen sich Material und Aufgaben aufeinander.

120

7  Methoden der Studie

Tabelle 7.4   Aufgabenanforderungen, Operatoren, Fallaspekte und Aufgabentyp Anforderung

Operatoren

Fallaspekt

Typ

Analysieren

Stelle heraus/ beschreibe… einen einzelnen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen und kriterienorientiert beziehungsweise aspektgeleitet bearbeiten

Rechtsnormen: Gesetzestexte/Paragraphen Rechtsfunktion: Konflikt/ Kollision/ Konfliktlösung Rechtswirklichkeit: Verständnisse/Deutungen

halboffen: Material vorgegeben, Erschließungsweg vorgegeben, Ergebnis offen

Abstrahierenddistanzierendes Reflektieren

Erkläre und stelle in einen Zusammenhang… Sachverhalte in einen Zusammenhang stellen und Hintergründe beziehungsweise Ursachen aufzeigen

Rechtsnormen, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit: Formale Verfahren und faktisches Verhalten

halboffen: Material vorgegeben, Erschließungsweg vorgegeben, Ergebnis offen

Rechtsnormen: Gesetzestexte/Paragraphen Rechtsfunktion: Konflikt/ Kollision/ Konfliktlösung Rechtswirklichkeit: Verständnisse/Deutungen Rechtsnormen, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit: Formale Verfahren und faktisches Verhalten

offen: Material nicht vorgegeben, Erschließungsweg nicht vorgegeben, Ergebnis offen

Kontextsensitives Erschließe… Reflektieren einen Sachverhalt unter vorgegebener Fragestellung aus einem Material erschließen

Imaginieren

Rechtsordnung Entwerfe… Ein begründetes Konzept für eine offene Situation erstellen und dabei die eigenen Analyseergebnisse in einen eigenständigen Beitrag einbringen

halboffen/ offen: Material nicht vorgegeben, Erschließungsweg vorgegeben, Ergebnis offen

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

121

Die Aufgaben beziehen sich auf direkt im Material enthaltene Aspekte. Die offenen Aufgaben, die sowohl im Ergebnis als auch im Weg dorthin keine Vorgabe haben, gehen über den Bezug auf das Material hinaus und erfordern eine Integration von Informationen in das eigene Vorwissen: Erklärungen, Spekulationen oder Vorhersagen werden gefordert (Neuhof 2014: 40–41). Die problemzentrierten Aufgaben lassen trotz Strukturierung des Themas also möglichst weiten Raum für die subjektiven Deutungen, an die in dieser Arbeit angeknüpft werden soll. Beispiel für eine halboffene Aufgabe: Was wird subjektiv als geltend angesehen? (Anerkennung) Stelle ausgehend von dem Handeln der Beteiligten heraus, welchen tatsächlichen Sinn die Akteure den Rechtsnormen geben. Beispiel für eine offene Aufgabe: Was sollte rechtliche Freiheit im Fall Madres de Plaza de Mayo sein? Der im folgenden Punkt darzustellenden Gestaltung des Erhebungsinstruments sind verschiedene Aufgabenentwürfe vorausgegangen.

7.1.2 Gestaltung und Validierung Im Prozess der Aufgabengestaltung werden Aufgaben und Material grob skizziert, die empirische Qualität hinsichtlich Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Funktionalität kontrolliert sowie anschließend weiterentwickelt. Im Folgenden dargestellt sind Ausschnitte der endgültigen Aufgabengestaltung in einem ›Rechtsbaukasten‹ (siehe elektronisches Zusatzmaterial) sowie die empirische und didaktische Kommentierung der Elemente.

122

7  Methoden der Studie

Abbildung 7.2    Design und Funktionsweise des Rechtsbaukastens (pictures with permission of Reuters/dpa Picture Alliance GmbH)

Die problemzentrierten Aufgaben, das Material und die Bilder sind in einem Rechtsbaukasten gestaltet. Bestandteile sind einzelne laminierte Aufgabenblätter, Schiebe- und Ausziehelemente sowie ein Ständer zum Aufstellen (Abbildung 7.2). Der Rechtsbaukasten ermöglicht eine selbstständige Interaktion der Probanden mit dem Erhebungsinstrument. Fälle Die Fälle werden über die Elemente Hintergrund, Zusammenfassung des Sachverhalts und Ablauf präsentiert. Es werden verschiedene Aspekte eines Falls gegenstandssensibel gestaltet und in Blöcken angeordnet sowie durch Bilder oder Illustrationen ergänzt (Abbildung 7.3).

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

123

Abbildung 7.3   Aufgabenkonstruktion – Ausziehelemente

Leitfragen (rechte Seite, vertikaler Block) Die Blöcke werden am Rand durch die zentralen politisch-rechtlichen Fragestellungen in Form von W-Fragen ergänzt. Zum einen wird so der Bezug hergestellt zwischen kollektiven und individuellen Sinnbildungen, zum Beispiel wird die Frage nach der Sollbestimmung rechtlicher Freiheit eingeleitet durch „M1 Was sollte rechtliche Freiheit sein?“; M1 stellt einzelne Rechtsnormen dar. Zum anderen werden die Fragen zu Beginn ausformuliert, es werden aus domänenspezifischer Perspektive anhand der Operatoren relevante Schritte zur Beantwortung der Fragen vorgeschlagen. Begriffsklärungen und fachliche Erschließungsinstrumente (linke Seite, Ausziehelement) Begriffserläuterungen ermöglichen eine selbstständige Interaktion; fachliche Analyseinstrumente wie Akteure3 oder Räume und unterschiedliche Perspektivierungen wie Anerkennung oder Wirksamkeit eröffnen Wahrnehmungswege von prägenden Elementen des Politischen und Rechtlichen.

3Im

Bereich des Rechts werden auch Individuen als Akteure gefasst (Kanalan 2015: 168).

124

7  Methoden der Studie

Aufgabentext/Operatoren (rechte Seite, Ausziehelement) Über die Operatoren werden die Aufgaben fachlich und sprachlich klar formuliert. Eben weil sie nur in Bezug auf einen Gegenstand zu denken sind, korrespondiert der Aufgabentext mit jeweiligen Fallaspekten (zum Beispiel Sollen: Rechtsnormen). Die Fallaspekte sind deshalb in einzelnen Blöcken zu den Aufgaben angeordnet (siehe oben Ausführung zu Leitfragen). Komplexitätszunahme Die Komplexität macht sich zum einen durch die Anzahl und Verknüpfung der Elemente in den verschiedenen Phasen bemerkbar. Während in der Phase Analysieren instruktionale Elemente vorhanden sind, ist die Phase ­distanzierend-abstrahierendes Reflektieren gestaltet durch die Erweiterung von situationalen Zusatzelementen, kontextsensitives Reflektieren mit den Bezug auf den Fall Madres de Plaza de Mayo durch den Bezug auf einen neuen, ähnlichen Fall (Abbildung 7.4).

7.1  Problemfokussierte Aufgaben und Schreibprodukte als …

125

Abbildung 7.4   Aufgabenkonstruktion – Zusatzelemente (pictures with permission of Reuters)

Zum anderen erfolgt eine Komplexitätssteigerung über die abnehmende Instruktion; zu den W-Fragen gibt es keine Anleitungen mehr. Die Kontext-freien Analyseinstrumente, die kontext-freie Elemente zueinander in Verbindung setzen, bieten ausschließlich zu Beginn eine Orientierung und ermöglichen die Wahrnehmung eindeutig definierter Aufgabenelemente (Abbildung 7.5).

126

7  Methoden der Studie

Abbildung 7.5   Steigende Komplexität der Aufgaben

Zusammenhang und Beschaffenheit der einzelnen Elemente haben sich im Prozess schrittweise entwickelt (Mayring 2002: 68). Der Rechtsbaukasten wird als konstruktvalide angenommen, weil er den Untersuchungsgegenstand nicht abbildet, sondern herausfordert. Es sind zum einen Erfahrungen aus der Vorphase und den dafür erstellten Materialien und Aufgaben in die Gestaltung eingegangen. Erkenntnisse aus der Vorphase haben dabei die Entscheidung für wahrnehmungsunterstützende Gestaltungselemente bedingt. Notwendig für eine selbstständige Interaktion mit der materialbasierten Umgebung sind Hilfestellungen in Form von Begriffsklärungen. Zum anderen finden Anpassungen im Zuge der kommunikativen Vergewisserung mit den Lehrkräften statt. Der Austausch mit den Lehrkräften hat vor allem die (notwendige) Differenz von Aufgaben als empirisches Erhebungsinstrument und aufgabenbasierten Lernumgebungen im schulischen Kontext hervortreten lassen. Das erstellte und gestaltete Material zu den Aufgaben wird von den Lehrkräften als besonders motivationsfördernd für die Schülerinnen eingeordnet, im Besonderen hinsichtlich der Herstellung und Erhaltung von Aufmerksamkeit, der Verdeutlichung der Relevanz der Aufgabeninhalte für die Lernenden sowie der Herstellung von Erfolgszuversicht. Hingegen wird eine Revision der Aufgabentexte von den Lehrkräften vorgeschlagen, die sich aus Sicht der Lehrkräfte von Lern- oder

7.2  Computergestützte Aufbereitung und Inhaltsanalyse

127

Testaufgaben unterscheiden4. Das hinter den Aufgaben stehende empirische Erkenntnisinteresse wird den Lehrkräften offengelegt; zudem werden die Kritikpunkte im Team besprochen. Die Aufgabentexte werden beibehalten.

7.2 Computergestützte Aufbereitung und Inhaltsanalyse In der vorliegenden Arbeit wird die computergestützte Inhaltsanalyse als Auswertungsverfahren zur Beschreibung von Textbedeutungen genutzt. Mithilfe dieses qualitativ-inhaltsanalytischen Verfahrens werden die innerhalb des Transferlabors erstellten Schülerinnenprodukte ausgewertet, also Dokumente im weitesten Sinne analysiert (Kuckartz 2016: 22). Zentrales Definitionsmerkmal qualitativ-inhaltsanalytischer Verfahren ist die systematische und regelgeleitete Kategorienorientierung; entsprechend dem Erkenntnisinteresse der Studie erfolgt die Gewinnung und Anwendung der Kategorien interpretativ, um Konstitutionselemente und -strukturen rechtlicher Freiheit auf Grundlage der Schülerinnenprodukte zu rekonstruieren. Es werden Kategorien als Ergebnis der Klassifizierung von Einheiten entwickelt und angewendet, mit denen Wahrnehmungen von Schülerinnen erfasst werden können. Es gibt unterschiedliche Varianten des Verfahrens, von denen für die vorliegende Arbeit die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse begründet wird. In diesem Auswertungsverfahren sind Kategorien als das Ergebnis der Klassifizierung von Einheiten zu verstehen und werden synonym für Codes verwendet (Kuckartz 2016: 36). Textpassagen werden thematisch indiziert, indem sie hinsichtlich theoretisch interessierender Merkmale klassifizierend beschrieben und ihnen entsprechende Codes zugeordnet werden (Kluge 1999: 186; Kuckartz 2016: 77). Um einen data overload zu vermeiden, wird das Textdatenbanksystem MAXQDA verwendet, mit dem die qualitativen Daten systematisch und

4Ein

Diskussionspunkt ist die Konstruktion von Aufgabe 1. Typisch ist im sozialwissenschaftlichen Unterricht eine Bewertung und normative Stellungnahme im Anschluss an die Analyse von Situationen oder Sachverhalten. In der vorliegenden Studie wird die Frage nach dem Sollen (Was sollte rechtliche Freiheit sein?) als Erstes gestellt und zudem mit der Aufforderung der Analyse verknüpft. Die Frage nach der Sollbestimmung im Bereich des Rechts ist eine andere als im Bereich der Politik. Dogma und Wirklichkeit von Recht sind der Analyse zugänglich.

128

7  Methoden der Studie

nachvollziehbar durch Automatisierung von ›code-and-retrieve‹-Methodik ausgewertet sowie Auditingprozesse dokumentiert werden können (Flick 2019: 483; Kluge 1999: 185–186). Der Ablauf der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse lässt sich modifiziert auf viele Datenarten anwenden (Kuckart 2016: 98) und wird in der vorliegenden Arbeit als mehrstufiges Verfahren der Kategorienbildung und Codierung, einem zweifach Analyseverfahren, umgesetzt, wobei mit der Erstellung von personenbezogenem und textbezogenem Retrievals zusätzlich Analyseschritte der empirisch begründeten Typenbildung (Kuckartz 2005) integriert werden.

7.2.1 Einfache Analyse Die erste Analysephase setzt sich in Anlehnung an Kuckartz aus folgenden Einzelschritten zusammen (Kuckartz 2016: 97–121; Abbildung 7.6).

Einzelfallanalyse/ Case Summaries

Vergleichende Einzelfallanalyse

Kodeentwicklung: Haupt/Subkategorien

Vergleichende Themenanalyse

Themenanalyse

Erster Codierprozess

Abbildung 7.6   Analyseformen der einfachen Analyse nach Kuckartz (2016)

Zunächst erfolgt in der vorliegenden Arbeit eine Digitalisierung der schriftlichen Schülerinnenäußerungen in MAXQDA. Es wird dabei in dem Sinne die Technik der Übertragung in normales Schriftdeutsch gewählt, wobei unvollständige Sätze um einleitende Worte aus der Fragestellung im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit ergänzt werden. Die Ergänzungen werden durch Hervorhebung (fett) kenntlich gemacht, da diese nicht Teil der Auswertung sind. Nicht angewandt werden Transkriptionsregeln der Behebung von Satzbaufehlern und der Glättung des Stils, weil die genaue Ausdrucksweise wiedergegeben werden soll (Klee 2008: 134).

7.2  Computergestützte Aufbereitung und Inhaltsanalyse

129

Ziel der einfachen Analyse (siehe Tabelle 7.5) ist es, den subjektiven Sinn eines jeden Textes und ein Gesamtverständnis des Datenmaterials zu erhalten. In Fallerkundungen erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Einzelfällen, „[…] weil die Bedeutung der Textpassagen unter Berücksichtigung des Kontextes über die sprachliche und interpretative Kompetenz der KodiererInnen erschlossen werden muß“ (Kluge 1999: 195). Es werden ›Case Summaries‹ angelegt, in denen die Einzelfälle jeweils zusammengefasst werden. Im Anschluss an die Analyse der Einzelfälle wird in einem ersten Codiervorgang5 das qualitative Datenmaterial mit Hilfe thematischer Codes eingeordnet, inhaltlich strukturiert und ein sogenanntes personenbezogenes Retrieval erstellt (Kuckartz 2005: 99–100). Die Analyseeinheit ist der Einzelfall, ein Fall entspricht einem Dokument beziehungsweise einer Schülerin (Kuckartz 2016: 29–30). Kategorisiert werden einzelne vollständige Sätze oder Aussageeinheiten als Kontexteinheit. Einer Textpassage können mehrere Codes zugeordnet werden. Anschließend werden die Einzelfälle systematisch entlang von Gemeinsamkeiten verglichen und Unterschiede und Schwierigkeiten sowie Subcodes entwickelt. Die deduktiven Kategorien werden also am Material induktiv weiterentwickelt und ausdifferenziert. Es wird ein Codierleitfaden für das Kategoriensystem erstellt, indem die Haupt- und Subkategorien inhaltlich beschrieben, Ankerbeispiele für Anwendungen gegeben (Zitate mit Quellenangabe) und die Definitionen als Code-Memos festgehalten werden. Die Offenlegung des Anwendungs- und Geltungsbereichs der Kategorien stellt Intersubjektivität und Nachvollziehbarkeit her. Tabelle 7.5   Einfache Analyse kategorialer Wahrnehmungsprozesse Kategoriale Wahrnehmungsprozesse Welche Aspekte von rechtlicher Freiheit werden wie wahrgenommen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Recht und Politik? Fall=Schülerinprodukt Themen, Zusammenhänge und Überschneidungen innerhalb von und zwischen Fällen

Kategorienbasierte Analyse der Performanz entlang der thematischen Haupt-/ Subkategorien unter Verwendung des sensitizing concepts

Einfache Analyse

5Es

wird an die im Deutschen gebräuchlichen Begriffsverwendungen angeschlossen: Kategoriensystem statt Codesystem, Kategorienbildung statt Codebildung, Code-Memo statt Kategorien-Memo (Kuckartz 2016: 36).

130

7  Methoden der Studie

Das gesamte Datenmaterial wird in einem zweiten Materialdurchlauf erneut codiert. Das themenbezogene Retrieval des zweiten Codierdurchgangs umfasst die Zusammenstellung und Interpretation aller Textsegmente, die dem gleichen Code zugeordnet sind. Innerhalb der Themenanalyse werden die Textstellen pro Kategorie beziehungsweise Subkategorie zusammengestellt und Häufigkeiten der Subkategorien ermittelt. In der vergleichenden Themenanalyse werden Überschneidungen und das gemeinsame Auftreten von Kategorien und Subkategorien anhand von Überschneidungsoperatoren analysiert (Kuckartz 2016: 182), anhand derer nach Segmenten gesucht wird, in denen sich x-Codes überschneiden (Kuckartz 2016: 162). Insgesamt ist es das Ziel der einfachen Analyse durch kontrastierende Vergleiche Ähnlichkeiten zwischen den Fällen, Besonderheiten einzelner Personen sowie Zusammenhänge zwischen den Kategorien zu untersuchen (Kluge 1999) und die komplexe Analyse vorzubereiten. Mit Abschluss der vergleichenden Themenanalyse ist die Systematisierung und Strukturierung des Materials abgeschlossen und die eigentliche Interpretation der erhobenen qualitativen Daten erfolgt (siehe Kapitel 9).

7.2.2 Komplexe Analyse Die weiterführende komplexe oder vertiefende Analyse (siehe Tabelle 7.6) dient dem Zweck, weiterführende Zusammenhänge zu explizieren und der Frage nach Verdichtungen, das heißt Mustern kategorialer Wahrnehmungsprozesse nachzugehen. Die Analyse erfolgt nicht mehr nur auf der Basis von einzelnen Kategorien, sondern auf der Grundlage von Gruppen kategorialer Wahrnehmungsprozesse, also unterschiedlicher Arten rechtliche Freiheit wahrzunehmen. Ausgangspunkt dieser qualitativ – qualitativ gestalteten Zusammenhangsanalyse (Kuckartz 2016) bilden die einzelnen kategorialen Wahrnehmungsprozesse, die in Beziehung zueinander gesetzt werden. Tabelle 7.6   Komplexe Analyse kategorialer Wahrnehmungsprozesse Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen Verdichtung. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wahrnehmungsakten? Fall=Kategorialer Wahrnehmungsprozess Themen, Zusammenhänge und Überschneidungen zwischen kategorialen Wahrnehmungsprozessen Komplexe Analyse

Segmentbasierte Zusammenhangsanalyse der Performanz entlang der explizierten kategorialen Wahrnehmungsprozesse

7.3 Nachbefragungen

131

Das leitende Interesse ist es, Muster in dem Antwortverhalten beziehungsweise in der Wahrnehmungsperformanz festzustellen. Dieses Suchen nach dem gleichzeitigen Vorkommen von Kategorien ist also eine weitere Art der Kombination des qualitativen Materials. Das Vorgehen besteht in der Bildung analytischer Kategorien auf Grundlage der einfachen Analyse, einer anschließenden Zuordnung und Zusammenstellung der Subcodes (siehe Abbildung 7.7), um Muster im Antwortverhalten zu erkennen und diese für die Forschungsfragestellung sinnvoll als Grundelement (mentaler) Handlungen zu verwenden.

Einfache Analyse: Bildung von analytischen Kategorien

Zweiter Codierprozess

Zusammenhangsanalyse

Abbildung 7.7   Analyseformen der komplexen Analyse nach Kuckartz (2016)

Es erfolgt also eine Ablösung von der ursprünglichen Definition des Falles, die für die einfache Analyse maßgebend ist. Das hat zur Folge, dass derselbe Datenerhebungsfall (=Schülerin) mehreren mentalen Akten zugeordnet werden kann (Kelle/Kluge 2010: 86). Dabei handelt es sich um ein überaus exploratives Vorgehen mit dem Ziel, theoretische Horizonte zu eröffnen. Die Analyse stellt einen Akt des Generierens von Kategorien dar.

7.3 Nachbefragungen Im Gegensatz zu problemzentrierten Interviews ermöglichen Aufgaben es nicht, zu überprüfen, inwieweit die Probanden die Aufgaben verstehen. Bedingungen der aufgabenbasierten Erhebungssituation können in der Erhebungssituation selber nicht thematisiert werden. In der Studie werden Nachbefragungen in Form von Einzelinterviews mit ausgewählten Schülerinnen durchgeführt. Die gezielten und vertiefenden Nachfragen haben den Zweck, subjektive Sichtweisen und Problemstellungen des Einzelnen zu explizieren und so einzelne Analyseergebnisse kommunikativ zu validieren sowie methodische Reflexion der Erhebungssituation und Hypothesenbildung zu befördern. In diesen BackTalks werden Ideen der Schülerinnen wieder aufgegriffen und sie werden zu ­ Im-Nachhinein-Rekonstruktionen und Reflexionen angeregt. Mithilfe eines

132

7  Methoden der Studie

Interviewleitfadens (siehe elektronisches Zusatzmaterial) wird die Behandlung relevanter Fragen zu den Aufgabentexten und der Aufgabengestaltung, zu Begriffsverständnissen und zu Gegenständen sowie Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsbaukasten durch theoretisch gestütztes Nachfragen ermöglicht. Der Leitfaden ist in Anlehnung an die von Helfferich formulierten Anforderungen erstellt. Er entspricht den Grundprinzipien der qualitativen Forschung und ermöglicht Offenheit. Die Fragenkomplexe sind so gestaltet, dass sie einen offenen Gesprächsrahmen anbieten. Der Interviewleitfaden ist übersichtlich und nicht zu überladen mit Fragen, die die Schülerinnen überfordern könnten. „Priorität hat die spontan produzierte Erzählung“ (Helfferich 2005: 160). Der Leitfaden ermöglicht eine differenzierte und intentionale Anordnung von Erzählanlässen (Klee 2008: 129). Die Strukturierung und Klassifizierung von Interventionen richtet sich dabei nach den von Mayring vorgeschlagenen Kommunikationsstrategien. Der in dieser Arbeit verwendete Leitfaden umfasst zum Ersten Sondierungsfragen, die als allgemein gehaltene Einstiegsfragen in die Thematik der Ermittlung der subjektiven Bedeutung des Themas für den Gesprächspartner dienen. Zum Zweiten sind wesentliche thematische Fragestellungen als Leitfadenfragen formuliert. Zum Dritten enthält der Leitfaden die Option für ad hoc Fragen, die zwar nicht explizit vermerkt sind, für den Verlauf des Gesprächs aber bedeutsam sein könnten (Mayring 2002: 70). Ebenfalls nicht im Leitfaden explizit vermerkt ist die Gesprächsintervention der spezifischen Sondierung, die ein Rückspiegeln der Äußerungen der Befragten durch den Interviewer im Verlauf des Gesprächs erlaubt (Witzel 2000: 5). Die Interviews haben zeitlich versetzt zu dem Transferlabor im Anschluss an den regulären Unterricht an der Schule stattgefunden (siehe Endphase, Abschnitt 6.3). Insgesamt werden Nachbefragungen mit sechs Schülerinnen geführt, deren Auswahl der Samplingstrategie aus 6.1 entspricht. Die Interviews haben eine Dauer von 17 Minuten bis 33 Minuten und werden mithilfe einer ­Tonband-Aufzeichnung dokumentiert. Die Tonaufzeichnungen und anschließend erstellten Transkripte6 bilden die Basis für die weiteren Analyseschritte.

6Für

eine ausführliche Aufbereitung der Daten ist die Herstellung von Transkripten unabdingbar (Mayring 2002: 89). In der vorliegenden Arbeit wird die Technik der Übertragung in normales Schriftdeutsch gewählt, weil ein inhaltliches Interesse am Thema und an Informationen besteht. Nicht angewandt werden die Transkriptionsregeln der Behebung von Satzbaufehlern und Glättung des Stils, weil die genaue Ausdrucksweise wiedergegeben werden soll (Klee 2008: 134). Sämtliche im Interview vorkommenden Informationen, die Rückschlüsse auf Forschungsteilnehmende zulassen, werden mit der Transkription faktisch anonymisiert (BDSG §3 Abs. 6). Die in der Erhebungssituation aufgenommenen TonbandAufzeichnungen werden elektronisch verarbeitet und als Transkripte aufgeführt.

7.3 Nachbefragungen

133

Die Auswertung der Interviews erfolgt in einem Analyseschritt zur Ermittlung relevanter Rückmeldungen und zur kommunikativen Validierung. Auf der Grundlage des produzierten Textmaterials in Form von Transkripten werden Aussagen zu Aussagenkomplexen gebündelt und dabei Interviewpassagen aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst und interpretativ erschlossen (Mayring 2002).

Teil III Ergebnisse

8

Deskriptiver Überblick

8.1 Fallaspekte Mit Fallzusammenfassungen liegt ein erster analytischer Zugang zum Datenmaterial vor, der den Fokus auf den Einzelfall (Fall = Schülerin) richtet. Die Erstellung der Case Summaries dient unter anderem der Vorbereitung auf die sich anschließende kategorienbasierte Auswertung, indem sie erste Auffälligkeiten sowie Hinweise auf sinnvolle thematische Kategorien zu Tage bringt. Die thematischen Kategorien stammen aus dem bei der Datenerhebung eingesetzten Rechtsbaukasten (siehe Tabelle 8.1); es handelt sich um die fachlichen Begriffe aus den Leitfragen, die als ein erstes Suchraster dienen und von denen auf Textstellen geschaut wird: Recht, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit, formale Verfahren, faktisches Verhalten, Konkret/Allgemein, Moral, Rechtsnormen, Diskurs und Infrastruktur sind deduktiv entwickelte Codes, die fallorientiert entlang der Leitfragen und Aufgaben des Rechtsbaukastens zusammengestellt werden.

Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi. org/10.1007/978-3-658-30760-8_8. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_8

137

138

8  Deskriptiver Überblick

Tabelle 8.1   Thematische Haupt- und Subkategorien entlang der Leitfragen und Aufgabenstellungen Leitfrage/Aufgabenstellung

Formulierung von Haupt- und Subkategorien Im Fall Schwabe und G. versus Deutschland bzw. Madres de Plaza de Mayo Was sollte rechtliche Freiheit sein?

Recht

Welche Funktion hat Recht für die Freiheit? Rechtsfunktion Was ist faktisch hinsichtlich rechtlicher Frei- Rechtswirklichkeit heit gegeben? Durch welche Verfahren kann rechtliche Freiheit formal sichergestellt werden?

Formale Verfahren

Warum wirken Verfahren faktisch auf das Verhalten der Beteiligten?

Faktisches Verhalten

Was bedeutet der Fall für rechtliche Freiheit Konkret/Allgemein im Allgemeinen? Entwerfen einer Rechtsordnung Unterscheide Begriffe und Grundsätze, die Moral für Dich rechtliche Freiheit charakterisieren. Rechtsnormen Entscheide, welche Begriffe als Normen Geltung beanspruchen können und in einen „Katalog rechtlicher Freiheit“ aufgenommen werden sollen. Entscheide, ob der Katalog rechtlicher Frei- Diskurs heit gerechtfertigt ist. Entscheide Dich für eine Ordnung zur Sicherstellung rechtlicher Freiheit.

Infrastruktur

Da die Kategorien die Wahrnehmung der zwei Fälle (Schwabe und G. versus Deutschland, Madres de Plaza de Mayo) und einer allgemeinen Rechtsordnung dimensionieren, werden sie als Unterkategorien formuliert und definiert (Ausschnitt siehe Tabelle 8.2).

8.1 Fallaspekte

139

Tabelle 8.2   Ausschnitt aus dem Kategoriensystem mit Codierleitfaden nach Kuckartz (2016) Code Art Definition/CodierUntercode regel Ankerbeispiel Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland Gesellschaftliche Kommunikation über rechtliche Freiheit, die sich im Medium Recht am Code rechtmäßig/unrechtmäßig orientiert. Codiert werden alle Referenzen auf modale, räumliche und inhaltliche Besonderheiten der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland. Akteure/ Ebenen

Deduktive Kategorie

Codiert wird die Analyse der Rechtskommunikation, in der Akteure und Räume vorkommen.

Rechtmäßig/ Thematische Erstens, als Referenz auf Akteure unrechtmäßig Kategorie (Individuen Schwabe Verhalten und G., staatlich Polizei, Gerichte) und Räume (national, international), die sich in der Rechtskommunikation rechtmäßig/ unrechtmäßig verhalten.

„In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland orientiert sich die Polizei unrechtmäßig, da die Personen zwar ein Transparent dabei hatten, aber auf diesem nicht verbotenes, sondern nur die Meinung der Person stand. Das fällt normal unter freie Meinungsäußerung, deswegen wäre diese Verhaftung unrechtmäßig.“ (GH28)

Die Unterkategorien sind Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial innerhalb der Einzelfallanalyse und vergleichenden Einzelfallanalyse. Das vollständige hierarchische Codesystem mit allen Ebenen von Subkategorien (insgesamt drei Ebenen) und dem Codierleitfaden ist einsehbar im elektronischen Zusatzmaterial und aufgrund des Umfangs nicht sinnvoll abbildbar. Da die thematische Struktur innerhalb der Themenanalyse betrachtet wird, werden die Einzelfälle vor allem hinsichtlich ihrer Formalstruktur analysiert, also dahingehend charakterisiert, anhand welcher Aspekte Schülerinnen die Fälle differenzieren oder in ihre Wahrnehmung integrieren. Was Recht im Fall Schwabe und G. versus Deutschland sowie im Fall Madres de Plaza de Mayo sein sollte, welche Funktion Recht für die Freiheit hat und was tatsächlich in der Rechtswirklichkeit passiert, wird von den Schülerinnen unter anderem durch die Unterscheidung von Akteursperspektiven, modalen Besonderheiten, Gegenständen, Standards, Vorschriften, Ereignissen sowie der Macht- und Regelungsebene

140

8  Deskriptiver Überblick

­ ahrgenommen. Es werden so Fallaspekte aus dem Kontext gelöst und verschiedene w Teile des jeweiligen Falls werden thematisch während andere unthematisch bleiben. Insgesamt handelt es sich bei den Subkategorien also um fachliche Begriffe, die jedoch im Material fundiert sind.

8.2 Häufigkeit von Themen Im Folgenden dargestellt werden die Häufigkeiten der Hauptkategorien. Die Auswahleinheit (Sampling Unit) der Analyse umfasst 47 Dokumente mit insgesamt 747 Codings1 (Tabelle 8.3). Tabelle 8.3   Sampling Unit Schule

Anzahl Dokumente

Anzahl Codings

Hamburger Straße

n = 25

403

Altes Gymnasium

n = 22

344

Die Beschreibung der Codehäufigkeiten, also wie häufig welche Codes zugeordnet werden, dient primär dazu, sich einen Überblick über das analysierte Material zu verschaffen. Leitend ist die Frage, was in welcher Häufigkeit geschrieben wird. Anhand der folgenden Übersichten wird dargestellt, wie viele Codings jeweils auf die Kategorien Recht, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit, formale Verfahren, faktisches Verhalten, Konkret/Allgemein, Moral, Rechtsnormen, Diskurs und Infrastruktur in den Fällen Schwabe und G. versus Deutschland beziehungsweise Madres de Plaza de Mayo sowie hinsichtlich des Entwurfs einer Rechtsordnung entfallen2. Der Tabelle lässt sich entnehmen, dass Unterschiede in den Häufigkeiten und Ähnlichkeiten im Antwortverhalten bestehen. Auffällig sind die gleichen hohen absoluten Häufigkeiten bei den Kategorien Recht und Rechtsfunktion in dem Fall Schwabe und G. versus Deutschland (HS: 48/56, AG: 43/51) sowohl in den Dokumenten der Schülerinnen der Hamburger Straße als auch in denjenigen des Alten Gymnasiums, während die Werte für formale Verfahren und faktisches Verhalten geringer ausfallen (Tabelle 8.4). 1Codieren

des gesamten Materials mit den Hauptkategorien (1. Codierung Schülerinnenprodukte) 2Dokumente (alle Subcodes zählen)

8.2  Häufigkeit von Themen

141

Tabelle 8.4   Überblick über Codehäufigkeiten Code

Häufigkeit

Codings in %

Fall Schwabe und G. versus Deutschland Rechtskommunikation Rechtsfunktion Rechtswirklichkeit Formale Verfahren Faktisches Verhalten gesamt

48 56 52 14 18 188

11,91 13,90 12,90 3,47 4,47 46,65

Fall Madres de Plaza de Mayo Recht Rechtsfunktion Rechtswirklichkeit Formale Verfahren/Faktisches Verhalten Konkret/Allgemein gesamt

31 20 21 35 23 130

7,69 4,96 5,21 8,68 5,71 32,26

Rechtsordnung Moral Rechtsnormen Diskurs Infrastruktur gesamt

30 18 12 25 85

7,44 4,47 2,98 6,20 21,09

Insgesamt

403 = 100

Hamburger Straße (HS)

Altes Gymnasium (AG) Fall Schwabe und G. versus Deutschland Rechtskommunikation Rechtsfunktion Rechtswirklichkeit Formale Verfahren Faktisches Verhalten gesamt

43 51 25 20 23 162

12,50 14,83 7,27 5,81 6,67 47,08

Fall Madres de Plaza de Mayo Recht Rechtsfunktion Rechtswirklichkeit Formale Verfahren/Faktisches Verhalten Konkret/Allgemein gesamt

28 15 18 21 11 93

8,14 4,36 5,23 6,10 3,20 27,03 (Fortsetzung)

142

8  Deskriptiver Überblick

Tabelle 8.4   (Fortsetzung) Code

Häufigkeit

Codings in %

Rechtsordnung Moral Rechtsnormen Diskurs Infrastruktur gesamt

23 16 13 37 89

6,69 4,65 3,78 10,76 25,88

Insgesamt

344 = 100

Die Analyse der thematischen Kategorien zeigt, dass die Probanden häufig darauf antworten, was rechtliche Freiheit gefährdet, welche Konflikte zwischen den Beteiligten bestehen und was Recht im jeweiligen Fall sein sollte; weniger antworten sie darauf, welche Verfahren rechtliche Freiheit sicherstellen und warum sie tatsächlich auf das Verhalten der Beteiligten wirken (Formale Verfahren, HS: 14/ AG: 20). Die Wahrnehmung der Umsetzung von Recht und damit verbundener Schwierigkeiten steht weniger im Fokus der Aufmerksamkeit. Vordergründig different verhält es sich mit der Wahrnehmung des Falls Madres de Plaza de Mayo. Hier ist die Streuung zwischen Recht (HS: 31; AG: 28) und Formalen Verfahren/Faktischem Verhalten in den Dokumenten der Hamburger Straße nicht vorhanden (35) beziehungsweise in denjenigen des Alten Gymnasiums nicht so groß (21), jedoch zwischen Recht und Rechtsfunktion (HS: 20; AG: 15)/Rechtswirklichkeit (HS: 21; AG: 18). Interpretieren lassen sich diese Werte vor dem Hintergrund der Themenanalyse und der Aufgabenstellungen. Während im Fall Schwabe und G. versus Deutschland die Aufgaben halbstrukturiert sind und explizit die Verwendung von Analyseinstrumenten für die Sicherstellung rechtlicher Freiheit vorsehen (Rechtsprechung durch den EGMR), sind die Aufgaben im Fall Madres de Plaza de Mayo offen konstruiert. Als Antworten sind mit den Themen Ereignis, Protest, Unterstützung, Abkommen unter Formale Verfahren/Faktisches Verhalten Kausalerklärungen der Schülerinnen subsumiert. Im Hinblick auf die Bedeutung des Strukturierungsgrades der Leitfragen und Aufgaben in Bezug auf das Antwortverhalten wird eine Perspektivierung auf die Daten zu Grunde gelegt, die die Phasen der Lernprozesse (Analysieren, Distanzierend-abstrahierendes Reflektieren, Kontextsensitives Reflektieren, Imaginieren) und eine zunehmende Komplexitätsanforderung (Analysieren → Imaginieren) beachtet. Dann erscheinen die Codehäufigkeiten nicht mehr als Schwankung, sondern die Codings sinken mit der Anforderungszunahme und dem Komplexitätsgrad. Während die codierten

8.2  Häufigkeit von Themen

143

Segmente bei den Analyseanforderungen am häufigsten sind (Fall Schwabe und G. versus Deutschland), nehmen sie zu der Anforderung der Reflexion hin ab und erreichen mit der Imaginationsanforderung den geringsten Umfang (Entwerfen einer Rechtsordnung). Der erste Überblick gibt Aufschluss darüber, dass die Probanden Recht, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit, formale Verfahren, faktisches Verhalten, Konkret/Allgemein, Moral, Rechtsnormen, Diskurs und Infrastruktur als Fallaspekte unterscheiden und in welcher Häufigkeit sie dies tun. Dass die Schülerinnen in ihrer Wahrnehmung verschiedene Aspekte rechtlicher Freiheit unterscheiden, sagt jedoch noch nichts darüber aus, in welcher Art und Weise sie dies tun, wie sie also das Wahrgenommene einordnen, abstrahieren oder Begriffe bilden.

9

Fünf Themencluster

9.1 Ergebnisse der einfachen Analyse Um die Frage zu beantworten, durch welche kategorialen Wahrnehmungsprozesse Schülerinnen rechtliche Freiheit konstituieren und welche Rolle dabei die Kategorien Recht und Politik spielen, wird im Folgenden reformuliert, was (Kommunikativa) die Probanden wie (Performanz) schreiben. Die kategorienbasierte Auswertung erfolgt fallübergreifend in einem hermeneutischen Schritt durch die Verknüpfung des personenbezogenen und themenbezogenen Retrievals1. Die Themen werden unter dem Fokus performatorischer Aspekte betrachtet2 und in geordneten Aussagen zusammengestellt. Entsprechend der Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Performanzen und unter Verwendung des sensitizing concepts können Muster in dem Antwortverhalten identifiziert und in Gruppen von unterscheidbaren Wahrnehmungsprozessen beschrieben werden. Ergebnis sind fünf Themencluster (Kuckartz 2016: 119), die verallgemeinern, in welcher begrifflichen Ordnung (Performanz/Kommunikativa) die Probanden rechtliche Freiheit durch unterschiedliche mentale Handlungen (sensitizing concept) konstituieren. Die Themencluster sind lern- und fachbezogen. Sie sind unter der Perspektive reformuliert, was fachlich relevante Anteile in der Erschließung rechtlicher Freiheit sind.

1Die

personenbezogenen und themenbezogenen Retrievals befinden sich im Besitz der Autorin und können bei Bedarf eingesehen werden. 2Im Gegensatz zu dem Verfahren der dokumentarischen Methode werden die Themen nicht unabhängig von der Performanz, sondern in ihrem Bezug aufeinander analysiert: Was wird wie gesagt beziehungsweise geschrieben? © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_9

145

146

9  Fünf Themencluster

Es handelt sich um analytische Themencluster (Kuckartz 2016: 34), die sich durch den direkten Bezug auf Theorie von der Beschreibung mittels thematischer Kategorien entfernen. Zu Grunde gelegte Kriterien für die Explikation der Themencluster sind, dass die performatorischen Aspekte direkt im Material aufgefunden und nicht nur im Material fundiert sind und dass jedes Themencluster einen Komplex von kommunizierten Aspekten umfasst, die rechtliche Freiheit thematisieren.

9.2 Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon Tabelle 9.1   Überblick Themencluster 1 Performanz

Tiefenstruktur

Kommunikativa

Gegenüberstellung

Projektive Akte

Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon

Analyse: Geordnete Aussagen (einfache Analyse) Interpretation: Durch Projektion (Tiefenstruktur) wird ein staatlicher Hegemon konsolidiert, der die individuelle Freiheit gefährdet (Kommunikativa), was durch Gegenüberstellungen demonstriert wird (Performanz).

Das Themencluster Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon ist auf der Ebene der Performanz durch Gegenüberstellungen gekennzeichnet (Tabelle 9.1). Staat wird von Gesellschaft und Individuen als Teil von Gesellschaft unterschieden und abgegrenzt. Dem Staat werden das politische System als Ganzes, wie Deutschland oder die EU, beziehungsweise Teile davon, wie politische Institutionen, zugeordnet. Gesellschaft werden Einzelpersonen, Gruppen von Menschen und Nichtregierungsorganisationen zugeordnet. Dem Individuum, dem es um die Verwirklichung individueller Freiheit geht, wird ein Staat gegenübergestellt, der die individuelle Freiheit einschränkt. „In diesem Fall steht der ‚Staat‘ gegen die zwei Zivilisten“ (AGYF: 7–8). Was Recht sein sollte, wird aus Perspektive der Adressaten gedeutet. Rechtliche Freiheit ist Grund- und Bürgerrecht gegenüber dem Staat. Thematisch entsteht durch Gegenüberstellung ein polarer Gegensatz, der rechtliche Freiheit als konfliktiv kennzeichnet und Rechte des Individuums gegen Geltungsansprüche des Politischen stellt. Entlang der Gegenüberstellung von Individuen und Staat beziehungsweise Teilen des Staates wird Recht durch rechtmäßiges und unrechtmäßiges Handeln differenziert. Die Individuen kämpfen um Anerkennung ihrer­ Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gegenüber staatlichen Sicherheitsinteressen.

9.2  Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon

147

Meinungs- und Demonstrationsfreiheit werden vom Staat, der die Deutungshoheit besitzt, unterdrückt. „Die Individuen haben gegen die Polizei und das Gericht wenige Chancen sich durchzusetzen und hatten deshalb keine Chance, der Strafe (des Freiheitsentzuges) zu entgehen“ (GHWK: 18–21). Auf der Ebene der Tiefenstruktur wird der Modus, in dem politische Handlungssituationen beziehungsweise die Fälle perzipiert werden und Kategorisierungen stattfinden, als Projektion interpretiert. Das Erleben der Fälle und die dadurch ausgelösten Gefühle werden auf Individuen und Staat projiziert. Je nach Situationswahrnehmung kann eine negative oder positive Projektion herausgestellt werden. Durch negative projektive Akte steht der Staat den Individuen unrechtmäßig handelnd (Recht), mächtig (Rechtsfunktion), unglaubwürdig oder unterdrückend (Rechtswirklichkeit) und politisch kalkulierend (Verfahren und Verhalten) gegenüber. In positiven projektiven Akten werden Individuen vor dem Staat geschützt (Rechtsfunktion) und Demonstrationen gegen den Staat bewirken politische Veränderungen (Rechtsfunktion und Rechtsordnung). Das Politische am Recht Weil rechtliche Freiheit unter der Perspektive von Herrschaftsverhältnissen betrachtet wird, stehen Politik und Recht in einer Wechselwirkung zueinander. Interaktionen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren fußen auf einer unterschiedlichen Macht- und Ressourcenverteilung und führen zu einer Durchsetzung privilegierter Staatsinteressen. In der Sicherstellung rechtlicher Freiheit werden supra- und internationale Akteure gegenüber dem Nationalstaat aufgewertet. Der Einfluss rechtlicher Normen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht dabei darin, dass sie ein Instrument zum Schutz vor dem Staat darstellen. Entworfen wird dementsprechend eine Rechtsordnung, in der Grund- und Bürgerrechte verwirklicht sind. In einer Rechtsordnung könnten die Grund- und Bürgerrechte (gerechtfertigt) in der Öffentlichkeit wahrgenommen und ausgeübt werden. „Wenn ich also gegen etwas, was die Politik macht, demonstrieren möchte, muss ich die Sicherheit bekommen, dass ich dafür nicht bestraft werde“ (GHTM: 116–119). Erschließung von rechtlicher Freiheit und deren Sicherstellung (kategoriale Wahrnehmungsprozesse) 1. Recht: Recht bedeutet Grund- und Bürgerrecht gegenüber dem Staat. 2. Rechtsfunktion: Recht schützt Individuen vor dem Staat. Individuen sind gegenüber dem Staat weniger mächtig.

148

9  Fünf Themencluster

3. Rechtswirklichkeit: Die Individuen kämpfen um ihre Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gegenüber staatlichen Sicherheitsinteressen. Meinungs- und Demonstrationsfreiheit werden von dem Staat unterdrückt. 4. Formale Verfahren: Gerichte sind politisch beeinflussbar. Demonstrationen gegen den Staat können Veränderungen bewirken. 5. Faktisches Verhalten: Staaten haben politisches Kalkül und wollen Strafe umgehen. 6. In einer Rechtsordnung können Einzelinteressen (gerechtfertigt) in der Öffentlichkeit wahrgenommen und ausgeübt werden. Der Staat rechtfertigt gegenüber Demonstranten Recht

9.3 Freiheit durch hierarchische Ordnung Tabelle 9.2   Überblick Themencluster 2 Performanz

Tiefenstruktur

Kommunikativa

Über- und Unterordnung

Affektive Akte

Freiheit durch hierarchische Ordnung

Analyse: Geordnete Aussagen (einfache Analyse) Interpretation: Durch Über- und Unterordnung (Performanz) wird die Sicherstellung rechtlicher Freiheit in einer hierarchischen Ordnung thematisch (Kommunikativa), die durch affektive Wahrnehmungsprozesse (Tiefenstruktur) konstitutiert wird.

Auf der Ebene der Performanz ist das Themencluster Freiheit durch hierarchische Ordnung gekennzeichnet durch Über- und Unterordnung (Tabelle 9.2). Die Ordnung, nach der Objekte wie Akteure, Ebenen und Gegenstände eingeteilt und eingeordnet werden, ist hierarchisch, oben steht eine ›Macht‹ oder eine ›höchste Instanz‹ (u. a. AGBL: 115). Konkretisiert werden diese im Fall Schwabe und G. versus Deutschland als oben stehende internationale Ebene, darunter die nationale, die unterste Ebene bilden Individuen. Das System von Elementen, die einander über- beziehungsweise untergeordnet sind, besteht aus Abhängigkeiten und lässt eine hierarchische Rechtsordnung und Gewaltenteilung thematisch werden. Was rechtliche Freiheit ist und wie sie sichergestellt wird, entscheidet und regelt die oberste Ebene beziehungsweise die höchste Instanz, Regeln werden nicht gedeutet, sondern befolgt. Die Normenkollision im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird dadurch gelöst, dass es in den einzelnen Normenvertretern eine Wahrheit gibt, das heißt der EGMR ist dem BVG überlegen, das BVG dem OLG und das OLG dem LG. Das

9.3  Freiheit durch hierarchische Ordnung

149

LG, OBL und das BVG entschieden alle gegen Schwabe und G: nur der EGMR, eine supranationale Institution, sprach Deutschland schuldig und überstimmte sie. (AGTY: 34–40)

Auf der Ebene der Tiefenstruktur wird der Modus, in dem politische Handlungssituationen beziehungsweise die Fälle perzipiert und Kategorisierungen stattfinden, als Affektion interpretiert. Die Unterordnung unter den Willen einer Autorität wird von den Probanden affiziert. Es handelt sich also um einen affektiven Weltbezug, der sich an einer hierarchischen Ordnung orientiert, die durch Regelbefolgung konstituiert werden. Parallelisierung von Recht und Politik Thematisch werden Prinzipien von hierarchischer Verfasstheit, wie im folgenden Beispiel: Eine Ordnung zur Sicherstellung rechtlicher Freiheit besteht aus einer übergeordneten Macht, die Recht setzt und ausspricht sowie Sanktionen organisiert und koordiniert ausübt. Sie wird kontrolliert, um Machtmissbrauch zu verhindern. Andere Mächte respektieren ihr Urteil. (AGSH: 109–113)

Die Macht beruht auf Autorität, Funktionsgrenzen von Recht und Politik verschwimmen. Es geht dabei nicht um die Auslegung von Normen, sondern um einen hierarchischen Zustand. In der subjektiven Wahrnehmung findet sich also keine Aufwertung supra- oder internationaler Institutionen, sondern es wird sich auf die dem Nationalstaat entsprechende, von ihm geprägte Regierungsform bezogen. Die hierarchischen Instanzen produzieren Recht und sprechen Recht von oben nach unten. Erschließung von rechtlicher Freiheit und deren Sicherstellung (kategoriale Wahrnehmungsprozesse) 1. Recht: Höhere Instanzen bestimmen, was Recht ist. 2. Rechtsfunktion: Recht wird gesprochen und durchgesetzt. 3. Rechtswirklichkeit: Es gilt das Urteil der höchsten Instanz. 4. Faktisches Verhalten: Wenn nicht auf die höheren Instanzen gehört wird, muss mit Konsequenzen gerechnet werden. 5. Hierarchische Rechtsordnung: Eine Rechtsordnung besteht aus einer übergeordneten Macht, die Recht spricht und Strafe organisiert. Andere Mächte respektieren das Urteil.

150

9  Fünf Themencluster

9.4 Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit Tabelle 9.3   Überblick Themencluster 3 Performanz

Tiefenstruktur

Kommunikativa

Darlegung

Repräsentative Akte

Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit

Analyse: Geordnete Aussagen (einfache Analyse) Interpretation: Die Nützlichkeit von Institutionen für rechtliche Freiheit (Kommunikativa) wird dargelegt (Performanz), die eine Entsprechung in Wahrnehmungsakten der Repräsentation hat (Tiefenstruktur).

Auf der Ebene der Performanz wird in dem Themencluster Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit Institutionengestaltung und Wirksamkeit von Institutionen zur Sicherstellung rechtlicher Freiheit dargelegt (Tabelle 9.3). Recht wird aus der Perspektive der Gesetze nachvollzogen, wie im folgenden Beispiel: In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland geht es laut Gesetz um die öffentliche Sicherheit und Ordnung (in ­Mecklenburg-Vorpommern). Laut diesem Gesetz handelt die Polizei rechtens, da man das Verhalten von Sven Schwabe als Ankündigung einer Straftat sehen könnte. (GH10: 27–33)

Recht wird repräsentiert durch nationale und supranationale Gesetze sowie Institutionen. Regeln werden abgeleitet aus Perspektive der jeweiligen Institution. Thematisch werden Kompetenzen der politischen Institutionen der Legislative, Exekutive und Judikative zur Sicherstellung rechtlicher Freiheit. Die Normenkollision wird im Fall Schwabe und G. versus Deutschland supranational gelöst. Das Urteil entsteht durch supranationale Organisation (europ. Gerichtshof). Die Auswirkungen und Ausführung des Urteils liegen in der Verantwortlichkeit des Staates. (AGPP: 23–27)

Institutionen werden als Regelungsstrukturen konstituiert, die Gestaltung der Institutionen wirkt sich dabei auf die Wirksamkeit von Recht aus. Es wird dementsprechend eine institutionalisierte Rechtsordnung entworfen. Das Prinzip, an Hand dessen politische Handlungssituationen beziehungsweise die Fälle perzipiert und Kategorisierungen bewirkt werden, ist Repräsentation beziehungsweise die Vergegenwärtigung von nicht u­nmittelbar

9.4  Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit

151

Gegebenem in der Wahrnehmung. Institutionen und Gesetze repräsentieren Freiheit beziehungsweise die Gewährleistung von Freiheit ist in internationalen Institutionen repräsentiert. Repräsentative Akte bewirken dabei, dass Fallaspekte so aufgestellt werden, dass sie die Wirksamkeit von Institutionen plausibilisieren. Politik durch Recht In der subjektiven Wahrnehmung ist Staat ein Akteur neben anderen, es finden sich supra- und internationale Organisationen als legitime Gewalten, die Recht herstellen, wie im folgenden Beispiel. Bei der Regelung der Normenkollision im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird der EGMR (supranational) eingeschaltet (über Landesgrenzen hinweg), um einen Konflikt innerhalb Deutschlands zu klären, mit einem Recht, das für ganz Europa gilt. (AGCG: 35–39)

Die Sicherstellung rechtlicher Freiheit kann durch eine rechtliche Infrastruktur gelingen. Der Entwurf von Gesetzen durch das Parlament oder die Bestimmung von Recht durch das Gericht werden im internationalen Raum verwirklicht. Recht ist nützlich für die Sicherstellung von Freiheit. Erschließung von rechtlicher Freiheit und deren Sicherstellung (kategoriale Wahrnehmungsprozesse) 1. Recht: Recht wird repräsentiert durch nationale und supranationale Gesetze sowie Institutionen. 2. Rechtsfunktion: Durch Gerichte wird Streit gelöst. 3. Rechtsfunktion: Durch Konventionen wird Recht geändert und Verhalten verboten. 4. Rechtswirklichkeit: Gerichtliche Urteile werden angenommen und setzen durch, was Recht ist. 5. Formale Verfahren/faktisches Verhalten: Internationale Institutionen beeinflussen das Handeln von Staaten. 6. Formale Verfahren/faktisches Verhalten: Durch Konventionen wird Recht gesetzt. Staaten werden zur Beachtung verpflichtet. Letztendlich hängt diese jedoch vom Willen der Staaten und entsprechender Kontrollen ab. 7. Institutionalisierte Rechtsordnung: In einer Rechtsordnung können Rechte vor unabhängigen, internationalen Gerichten eingeklagt werden.

152

9  Fünf Themencluster

9.5 Freiheit in guter Ordnung Tabelle 9.4   Überblick Themencluster 4 Performanz

Tiefenstruktur

Festlegung Normierende Akte Analyse: Geordnete Aussagen (einfache Analyse)

Kommunikativa Freiheit in guter Ordnung

Interpretation: Festgelegt (Performanz) wird die Sicherstellung von Freiheit in der Gemeinschaft (Kommunikativa) durch normierende Akte (Tiefenstruktur).

Rechtliche Freiheit wird als universales und von Rechtsgemeinschaften unabhängiges Menschenrecht festgelegt (Tabelle 9.4): In diesem Beispiel verhält sich die Polizeibehörde, das Amtsgericht Rostock, das Bundesverfassungsgericht und das Land- und Oberlandesgericht Rostock, unrechtmäßig da ein Verstoß gegen die Menschenrechte vorliegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhält sich rechtmäßig, da er die Verletzung der Menschenrechte anerkennt. (GHSE: 7–14)

Der Fall Schwabe und G. versus Deutschland und der Fall Madres de Plaza de Mayo finden sich verallgemeinert und durchgängig unter diesem festgelegten subjektiven Recht wieder. „In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland geht es um Freiheit, die als Begriff in jedem Gesetz und in jeder Rechtsnorm vorhanden und Grundbestandteil ist“ (AGBL: 14–17; vgl. auch GHBI). Recht wird als Gerechtigkeit und Unrecht als Ungerechtigkeit übersetzt. Merkmale der Fälle, wie Akteure, Ebenen, Gegenstände, werden genutzt, um Personen ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben oder ein bestimmtes Verhalten zu verbieten und damit Verhalten zu adressieren. „Damit rechtliche Freiheit gewährleistet sein kann, sollten sich höhere politische Instanzen (z. B. EGMR) einschalten“ (GHNA: 74–76). Recht wird als Standard thematisch aus der Betroffenensicht. Rechtliche Freiheit sollte im Fall Madres de Plaza de Mayo sein, dass sie [die Madres; d. Verf.] ihre Meinung frei äußern dürfen und dass sie vor dem Staat bzw. der Regierung geschützt werden, als stattdessen brutal verschleppt und unter sicherlich unmenschlichen Bedingungen leben zu müssen, falls sie nicht eventuell umgebracht wurden. Und das alles staatlich organisiert und durchgefochten, das heißt legitimiert. (GHAS: 69–76)

9.5  Freiheit in guter Ordnung

153

Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit, formale Verfahren und faktisches Verhalten werden als Ordnungsanforderungen konkretisiert; die Rechtsordnung hat materiellen Charakter. Auf der Ebene der Tiefenstruktur wird der Modus, in dem politische Handlungssituationen beziehungsweise die Fälle perzipiert und Kategorisierungen stattfinden, als Normieren interpretiert. In normierenden Akten werden Gerechtigkeit und Freiheit als Normen zur Wahrnehmung von Situationen angewendet. Oben steht, was Recht ist, also die Norm, die es dann im jeweiligen Fall zu erkennen gilt. Die Fälle werden danach wahrgenommen. Rechtspolitik Ausgehend von der Idee der Gerechtigkeit wird rechtliche Freiheit als Menschenrecht verstanden. Rechtliche Freiheit „garantiert das friedliche Zusammenleben der Menschen in einem Staat. Ohne sie gibt es immer Chaos“ (GHCS: 87–90). Menschenrechte sind Bedingungen guten menschlichen Lebens beziehungsweise eines normativen gehaltvollen kollektiven Zusammenlebens und werden sichergestellt in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Erschließung von rechtlicher Freiheit und deren Sicherstellung (kategoriale Wahrnehmungsprozesse) 1. Recht: Recht ist Menschenrecht, das menschenrechtsverletzendes Verhalten verbietet. 2. Rechtsfunktion: Recht bedeutet Prävention, dass Menschenrechte von Staaten eingehalten werden und Verletzungen von Menschenrechten gar nicht erst passieren. 3. Rechtswirklichkeit: Instanzen bestrafen Staaten bei Verletzung der Menschenrechte und sorgen für Gerechtigkeit. 4. Formale Verfahren/faktisches Verhalten: Instanzen sorgen für Gleichberechtigung und dafür, dass Bürger Recht bekommen. 5. Formale Verfahren/faktisches Verhalten: In einem Übereinkommen werden Menschenrechte gewährleistet. Internationale Instanzen helfen den Menschen bei Verletzungen der Menschenrechte durch Staaten. 6. Materielle Rechtsordnung: In einer Rechtsordnung sind alle Menschen frei, gleich und sicher. Die Freiheit endet dort, wo das Recht des anderen beginnt.

154

9  Fünf Themencluster

9.6 Plural gelingende Freiheit Tabelle 9.5   Überblick Themencluster 5 Performanz

Tiefenstruktur

Deskription Formalisierende Akte Analyse: Geordnete Aussagen (einfache Analyse)

Kommunikativa Plural gelingende Freiheit

Interpretation: Durch Deskription (Performanz) wird eine plural gelingende Freiheit thematisch (Kommunikativa), die durch formalisierende Wahrnehmungsprozesse (Tiefenstruktur) konstitutiert wird.

In den Fällen werden staatliche Akteure wie Deutschland, die EU oder politische Institutionen und private Akteure, wie Rechtsadressaten3 oder NGO’s sowie ihre jeweiligen Perspektiven, Positionen und Kompetenzen beschrieben (Tabelle 9.5). Die Deskription jedes Akteurs und jeder Sichtweise, Position und Kompetenz wiederholt sich, sie wird so zum formalen Kriterium in der Auseinandersetzung mit den Fällen: In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird die Festnahme der Polizisten begründet mit Sicherheit, also der Gefährdung für die Öffentlichkeit. In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird die Beschwerde begründet mit der Freiheit öffentlich die eigene Meinung zu vertreten, in diesem Fall mit Schildern zu demonstrieren. In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird das Urteil des Gerichts mit Sicherheit begründet, aus Angst vor Gewalt. In der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland wird die Entscheidung, also die Verletzung Deutschlands der EGMR, mit Freiheit begründet. (GHTM: 12–23)

Fallaspekte werden unterschieden und beschrieben aus Perspektive der Akteure und Adressaten. Die Kategorien Recht, Rechtsfunktion, Rechtswirklichkeit, formale Verfahren, faktisches Verhalten, konkret/allgemein, Moral, Rechtsnormen, Diskurs und Infrastruktur werden dementsprechend thematisch als Akteurs- und Adressateninterpretationen. Das Prinzip, an Hand dessen politische Handlungssituationen beziehungsweise die Fälle perzipiert und Kategorisierungen bewirkt werden, sind 3Während innerhalb der Politikwissenschaft Individuen i. d. R. nicht als Akteure formuliert werden, stellen Individuen aus juristischer Sicht neben internationalen Organisationen und Unternehmen Akteure dar.

9.6  Plural gelingende Freiheit

155

formalisierende Wahrnehmungsakte. In formalisierenden Akten ist Normativität aufgehoben („Rechtliche Freiheit ist aus jeder Perspektive etwas anderes“) und die Zuordnung von Eigenschaften zu Objekten interpretationsfrei, die ihrerseits nebeneinander bestehen. Thematisch wird so ein kollektives Interesse in einer Situation und rechtliche Freiheit erscheint als plural gelingende Freiheit. Durch formalisierende Akte erscheint rechtliche Freiheit als ein gleichberechtigtes und transparentes Verhältnis, das durch Kausalgesetze bestimmt ist, bei denen die Vernunft von Recht erscheint. Politik und/oder Recht Es gibt eine Vielfalt an Sichtweisen. Politik ermöglicht zum gemeinsamen Hervorbringen rechtlicher Verfahren, die wiederrum inhaltliche Prinzipien festlegen. Verknüpft werden Recht und Politik im internationalen Kontext. Spätestens mit der UN-Konvention von 2006 ist das Verschwindenlassen, wie es im Fall Madres de Plaza de Mayo geschah, auch international geächtet. Doch auch schon vorher gab es die normative Erwartung, dass ein solches Verschwindenlassen unterbunden wird. (AGSO: 82–86)

Beschrieben werden nationale und staatliche Rechtsordnungen sowie andere Rechtsordnungen, Akteure und höher gelegte staatsanaloge Einheiten. Erschließung von rechtlicher Freiheit und deren Sicherstellung (kategoriale Wahrnehmungsprozesse) 1. Recht: Recht bedeutet aus unterschiedlicher Sicht Unterschiedliches. 2. Rechtsfunktion: Recht wird je nach Sichtweise begründet und anerkannt. Organisationen treffen Entscheidungen, die Streit schlichten und für Mitgliedsstaaten verbindlich sind. 3. Rechtswirklichkeit: Internationale Organisationen verabschieden in Konventionen geltendes Recht infolge von Protest. 4. Formale Verfahren/faktisches Verhalten: Supranationale Organisationen behandeln alle rechtlich gleich. 5. Formale Verfahren: Internationale Organisationen stellen durch Übereinkommen rechtliche Freiheit sicher. 6. Plurale gelingende Rechtsordnung: Eine Rechtsordnung besteht aus Freiheit und Partizipation der Menschen. Rechtsnormen werden kollektiv und global festgelegt. Internationale Organisationen und Gerichte kontrollieren Recht und verhindern den Missbrauch staatlicher Gewalt.

156

9  Fünf Themencluster

9.7 Instruktionsorientierte Akte Im Datenmaterial werden performative Aspekte der Wiedergabe aufgefunden; Fallaspekte werden aufgrund einer wahrgenommenen Handlungsanweisung erinnert. Diese sind gekennzeichnet durch die Anwendung vorgegebener Kategorien und Kriterien, anhand derer Begriffe wiedergegeben werden. Weil Kategorien durch bloße Wiedergabe inhaltsleer sind, werden sie nicht als ein Themencluster expliziert, sondern die zu Grunde liegenden instruktionsorientierten Akte dargestellt. Instruktionsorientierte Wahrnehmungsakte finden sich ausschließlich im Fall Schwabe und G. versus Deutschland. Es werden Aspekte von Recht, Rechtsfunktion, formalen Verfahren und faktischem Verhalten durch die Verwendung der angebotenen Kategorien Akteure, Ebenen, Inhalte sowie Kriterien der Institutionalisierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und strategische beziehungsweise normative Gründe genannt, aufgezählt oder chronologisch aneinandergereiht, wie im Folgenden ausgeführt: An der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland beteiligt sind Sven Schwabe und M.G. (Privat) sowie Polizei, Amtsgericht Rostock, Land- und Oberlandesgericht Rostock, Bundesverfassungsgericht, EGMR (Staatlich). An der Rechtskommunikation im Fall Schwabe und G. versus Deutschland beteiligt ist erst die nationale Ebene, als der EGMR eingeschaltet wird, die internationale Ebene. (GHNA: 3–10)

Schwabe und und G., Polizei, Amtsgericht Rostock, Land-, und Oberlandesgericht Rostock Bundesverfassungsgericht, der EGMR sowie nationale und internationale Ebene werden den Kategorien Akteure und Ebenen zugeordnet (Recht und Rechtsfunktion). Charakteristisch für die Performanz ist die Nennung, Aufzählung und/oder Aneinanderreihung von Fallaspekten durch die Fortführung der Fragestellung und das Antworten in Stichworten ohne ganze Sätze. Die Kategorien Recht und Politik stellen leere Begriffe dar.

9.8 Fazit

157

Wiedergabe von Fallaspekten 1. An rechtlicher Freiheit sind Akteure, Ebenen und Gegenstände beteiligt. (Handlungsanweisung) 2. Akteure stehen sich gegenüber. Es gibt eine supranationale Lösung. (Handlungsanweisung) 3. Bei der Lösung werden die Akteure gleichbehandelt. (Handlungsanweisung) 4. Es gibt normative und strategische Gründe von Staatsverhalten. (Handlungsanweisung)

9.8 Fazit Auf der Grundlage der kategorienbasierten Analyse und Interpretation der Daten können resümierend Themencluster (siehe Abbildung 9.1) herausgestellt werden, die zeigen, dass Schülerinnen die Fälle durch unterschiedliche mentale Handlungen erschließen und dadurch rechtliche Freiheit inhaltlich unterschiedlich thematisieren. Durch welche kategorialen Wahrnehmungsprozesse konstitutionalisieren Schülerinnen in der Konfrontation mit Fällen rechtliche Freiheit und deren Sicherstellung? Rechtliche Freiheit wird als allgemein normativ wünschenswertes Gut von den Probanden in einer unterschiedlichen Strukturierung wahrgenommen; Unterschiede bestehen zwischen den Performanzen, den hinter den Kategorien liegenden Verständnissen und den angenommenen Tiefenstrukturen. Schülerinnen erschließen rechtliche Freiheit gegenüberstellend, über- beziehungsweise unterordnend, darlegend, deskriptiv und festlegend, thematisch werden dadurch verschiedene Begriffe und semantische Felder: Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon, Freiheit durch hierarchische Ordnung, Nützlichkeit von Institutionen für Freiheit, plural gelingende Freiheit und Freiheit in guter Ordnung.

158

9  Fünf Themencluster

Abbildung 9.1   Fünf Themencluster

Welche Rolle Recht und Politik in der Wahrnehmung rechtlicher Freiheit spielen und in welcher Beziehung die Kategorien zueinander stehen, kann dahingehend beantwortet werden, dass Recht und Politik als nebeneinanderbestehend, als unterordnend und als näher bestimmend wahrgenommen werden. Staat ist dabei nach wie vor Anspruchsbegriff in der Wahrnehmung der Schülerinnen und wird als autonomiegefährdendes Gegenüber konstituiert (Das Politische am Recht), als institutionelles Instrument zur Realisierung rechtlicher Freiheit (Politik durch Recht), als Teil einer hierarchischen Ordnung (Parallelisierung von Recht

9.8 Fazit

159

und Politik), als Subjekt einer moralischen Ordnung (Rechtspolitik) oder als Akteur eines institutionellen Arrangements, das Freiheit gefährden und zugleich sicherstellen kann (Recht und/oder Politik). Die These der Relevanzbildung wird bestätigt, allerdings in Form einer Neufokussierung umformuliert: die vormals an den Staat gerichteten Ansprüche werden nicht auf neue beziehungsweise andere Akteure übertragen, sondern die Schülerinnen reagieren auf die kollektiven Sinnbildungen mit Erwartungsbildungen, es kommen zu den Ansprüchen an Staat neue Erwartungen an rechtsstaatliche Akteure dazu: Die Ansprüche an Staat sind eingebunden in Erwartungen an rechtsstaatliche und gesellschaftliche Akteure. Es sind Erwartungen an die Erfüllung von neuen Ansprüchen, die auf die Zukunft verweisen und die die Sicherstellung rechtlicher Freiheit vorantreiben sollen. Insgesamt hat sich die Verwendung des sensitizing concepts als fruchtbar erwiesen, um Kategorien analytisch zu entwickeln und im Material zu fundieren. Für die anschließende vertiefende Analyse wird die Frage formuliert, inwieweit die mentalen Akte unstrukturiert oder unorganisiert zusammenhängen und Muster bilden und inwieweit sie zu qualitativ unterscheidbaren Wahrnehmungen verdichtet werden können.

Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen

10

10.1 Ergebnisse der komplexen Analyse Komplexere Verfahren von MAXQDA ermöglichen es, komplizierte Fragen an das Datenmaterial zu stellen und Muster von Codierungen im Material zu entdecken (Kuckartz 2007: 2016). Als Form der Zusammenhangsanalyse wird ein qualitativ-qualitatives Analyseverfahren gewählt. Für die vertiefende Analyse ist es dabei sinnstiftend, die einzelnen Wahrnehmungsakte als Fälle zu betrachten und hinsichtlich ihrer Zusammenhänge zu ordnen. Es wird sich für die Entfernung von der Falldefinition entschieden, weil ein Datenerhebungsfall (=Schülerin) mehreren Wahrnehmungsweisen zugeordnet wird. Projektive, affektive, repräsentative, normierende und formalisierende Akte werden als Hauptkategorien reformuliert und diesen die bereits codierten Segmente zugeordnet. Es wird über die Funktion Analyse > Komplexe Coding-Suche nach Zusammenhängen zwischen den explizierten Wahrnehmungsakten gesucht. Ergebnis sind zwei qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen, die Muster aus pfadgebundenen (gefolgt von: temporaler Zusammenhang) beziehungsweise gerade nicht aufeinander folgenden Wahrnehmungsakten bilden. Es gibt Wahrnehmungsakte, die in einem Großteil der codierten Segmente in einem maximalen Abstand von fünf Absätzen aufeinander folgen und es gibt Wahrnehmungsakte, die keinen Zusammenhang miteinander bilden (Tabelle 10.1):

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_10

161

162

10  Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen

Tabelle 10.1   Codierte Segmente: Absolute Perspektivübernahme Codesystem

Projektiv

Projektiv Formalisierend

Formalisierend

Institutionalisiert Normierend

40

40

45

Institutionalisiert 35

47 41

Normierend

72

70

76

Affektiv

17

21

18

61

Affektiv 19

63

27

65

19 24

18

Innerhalb der absoluten Perspektivübernahme werden die Fälle beziehungsweise konkreten Aspekte rechtlicher Freiheit kanalisiert wahrgenommen durch generelle Rechtsnormen, es findet eine Reproduktion des Bekannten statt. Es wird von den Rechtsnormen (normierende Akte) auf lebensweltliche Kontexte und Praktiken oder von konkreten Fallaspekten auf generelle Rechtsnormen geschaut. Innerhalb der unsteten Perspektivübernahme werden die Fälle ziellos wahrgenommen, ein Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsakten gibt es nicht1.

10.2 Absolute Perspektivübernahme Entgrenzung rechtlicher Freiheit. Konkretisierung des Absoluten. Personale Grundperspektive. Die absolute Perspektivübernahme ist dadurch charakterisiert, dass Recht als ein Instrument das gute Leben in der Gesellschaft regelt. Rechtliche Freiheit wird als Ideal im Sinne eines Rechtsguts entworfen; als Teil einer Werteordnung erstreckt sich seine Geltung auf den nationalen, internationalen und globalen Raum sowie auf alle Personen und Sachen. Es ist ein Wert, der gerecht ist. ­Rechtliche Normierungen oder genauer: von den Rechtsadressaten beziehungsweise Akteuren gedeutete rechtliche Normierungen leiten die Falldefinitionen

1Die

Wahrnehmungsweisen werden im Folgenden ohne Beispiele in Form von Auszügen aus den Schreibprodukten dargestellt, da die Muster über komplexe Kombinationsmodi und in der Struktur der Texte aufgefunden werden, sich jedoch nicht im Text über Zitate an sich abbilden.

10.2  Absolute Perspektivübernahme

163

und stellen Konkretisierungen des Ideals dar. Die Gesellschaft sollte auf die Verwirklichung einer gerechten Rechtsordnung gerichtet sein, weshalb rechtliche Freiheit nicht eingeschränkt werden sollte. Die Einschränkung bedeutet eine ungerechte Handlung, die Förderung und der Schutz eine gerechte Handlung. Von den substanziell verstandenen Rechtsnormen wird auf den vorliegenden Fall geblickt. Bedingungen des guten menschlichen Lebens sind abhängig von dem Sollen und dem Sein rechtlicher Freiheit. Die aufeinander folgenden normierenden und repräsentativen Akte fokussieren rechtliche Freiheit als etwas an sich Gutes für die Allgemeinheit. Rechtliche Freiheit ist ein Grundrecht von Bürgerinnen und Organisationen als Rechtssubjekte, das als geltende Norm in einem einheitlichen Bewusstsein der Menschen angenommen wird. Rechtliche Freiheit erstreckt sich auf substanzielle Menschenrechte und bindet staatliche Willkür an diese, um ein friedliches, freies und kooperatives Zusammenleben zu ermöglichen. In Konventionen sind die global geteilten Wertvorstellungen festgehalten, Gerichte wenden diese an. Die aufeinander folgenden normierenden und projektiven Akte fokussieren rechtliche Freiheit als etwas an sich Gutes für jede Person. Rechtliche Freiheit als Gesetzesgleichheit und Rechtssicherheit sichert die Handlungsfreiheit und Autonomie des Einzelnen gegenüber den Forderungen des staatlichen Hegemons, erstreckt sich aber auch auf Gemeinschafts- und Sozialbeziehungen, man kann alles tun, was einem anderen nicht schadet. Damit werden lebensweltliche Kontexte und Praktiken als von den Bedingungen genereller Normen abhängig konstitutionalisiert. Die aufeinander folgenden normierenden und formalisierenden Akte fokussieren rechtliche Freiheit als etwas Gutes für den Einzelnen und für die Allgemeinheit. Alle halten sich an die Gesetze, praktizieren Gesetzestreue und respektieren das gesetzlich bestimmte Recht eines jeden. Dass es sich bei der absoluten Perspektivübernahme in erster Linie um eine „positive Moral“ handelt, zeigt die Analyse der umgekehrten pfadabhängigen Wahrnehmungsakte. So werden zwar innerhalb der projektiven, repräsentativen und formalisierenden Wahrnehmungsakte institutional-politische Begriffe von Recht und rechtlicher Freiheit als Rahmen fokussiert; das Handeln von Institutionen oder der Ablauf von Verfahren wird dann allerdings auf das Befolgen der Norm reduziert. Letztendlich ist die absolute Wahrnehmungsweise durch eine zentripetale Wahrnehmungsrichtung gekennzeichnet mit Gerechtigkeit als universell akzeptierter und die Lebensbereiche durchdringende Norm.

164

10  Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen

10.3 Unstete Perspektivübernahme Unbestimmte rechtliche Freiheit. Relativismus des Konkreten. Apersonale Grundperspektive. Die Wahrnehmungsweise ist durch eine unstete Perspektivübernahme charakterisiert. Die Beschaffenheit rechtlicher Freiheit wird wechselnd konstituiert, rechtliche Freiheit wird dabei nicht als Ideal im Sinne eines normativen Gutes für bestimmte Situationen beziehungsweise die Fälle entworfen. Die Fälle werden nicht unter der Prämisse betrachtet, ob sie entlang des Ideals rechtlicher Freiheit in sich schlüssig sind, sondern unter dem Aspekt, was rechtliche Freiheit sein kann (und nicht sollte). Innerhalb der pfadunabhängigen Wahrnehmungsweise sind die Wahrnehmungsakte gewissermaßen als Sammlung organisiert; die Fälle werden anhand einer Reihe von Attributen rechtlicher Freiheit erschlossen und zwar aus Perspektive des Rechtssystems je nach rechtlich erlaubten Handlungsoptionen beziehungsweise gegebenem Recht. Rechtliche Freiheit wird in den Fällen als ein möglicher Entwurf neben anderen wahrgenommen. Diese ad hoc- Konstruktionen verweisen auf eine Wahrnehmungsweise, in der jederzeit durch Wahrnehmungsakte konstituierte Gegenstände auswechselbar sind, konkrete Fallaspekte sind relativ. Zwar ist diese Wahrnehmungsweise in dem Sinne perspektivisch, dass sie in einem jeweils subjektiven Bewusstsein vorgestellt wird; allerdings gibt es keine Festlegungen in der Wahrnehmung. Letztendlich ist die unstete Perspektivübernahme durch eine diffuse beziehungsweise unentschlossene Wahrnehmungsrichtung gekennzeichnet, die rechtliche Freiheit im Moment als So-Sein oder im nächsten als Anders-Sein konstituiert. Es lässt sich in Bezug auf rechtliche Freiheit alles finden, was aufzufinden ist.

10.4 Fazit Die vertiefende interpretativ orientierte Analyse erweitert die Befunde von Wahrnehmungsakten dahingehend, dass es zum einen pfadgebundene, zum anderen spontane Wahrnehmungsakte gibt, wie die folgende Abbildung 10.1 beispielhaft visualisiert (über die MAXQDA Funktion Visual Tools > Dokument-Portrait).

165

10.4 Fazit Unstete Perspektivübernahme

Absolute Perspektivübernahme

Sprunghafte Wahrnehmungsakte

Pfadabhängige Wahrnehmungsakte

DokumentPortrait

DokumentPortrait

Altes

Hamburger Straße_Q1 GHBI

Gymnasium_Q2 AGEW

Abbildung 10.1   Zwei visuelle Beispiele aus MAXQDA 12

Erläuterungen: lila = affektiv; türkis = formalisierend; dunkelblau = instruktionsorientiert; dunkelgrün = repräsentativ; pfirsichfarben = normierend; hellgrün = projektiv; grau = unbestimmt Das vorläufige sensitizing concept von mentalen Akten kann im Rahmen eines definitiven Konzeptes zu qualitativ unterscheidbaren Wahrnehmungsweisen weiterentwickelt werden. Innerhalb der pfadabhängigen absoluten Wahrnehmungsweise werden die Fälle durch zwei aneinander anschließende Wahrnehmungsakte erschlossen. Es wird dabei die Grundperspektive der Beteiligten, Betroffenen oder Akteure eingenommen: Ausgehend von einer moralisch richtigen Ordnung wird gerechtes Recht durch die Perspektive der Subjekte gedeutet. Die Konstituierung rechtlicher Freiheit ist abhängig von dem Abgleich eines subjektiven Ideals von einer für sich bestehenden Ordnung, die als Abweichung im Fall wahrgenommen wird, während sich die unstete Wahrnehmungsweise durch das Fehlen einer solchen evaluativen Wahrnehmung auszeichnet.

166

10  Qualitativ unterscheidbare Wahrnehmungsweisen

Tabelle 10.2   Kennzeichen qualitativ unterscheidbarer Wahrnehmungsweisen Pfadabhängig

Fälle

Rechtliche Freiheit

Aufeinander folgende Wahrnehmungsakte

Grundperspektive: gerechte Handlungen/ Rechtliche Freiheit als Rechtserwartung

Pfadunabhängig Unorganisierte Wahrnehmungsakte

Grundperspektive: Handlungssystem Recht/ Rechtliche Freiheit als Rechtsmittel

Innerhalb der pfadunabhängigen Wahrnehmungsweise besteht kein Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungsakten. Vielmehr sind die Wahrnehmungsakte sprunghaft und nicht kohärent eingebettet, es handelt sich um ein wirres Ineinander. Aus den Kontextbedingungen beziehungsweise Fällen wird rechtliche Freiheit dabei immer wieder aufs Neue jetzig-punktuell konstruiert. Zusammenfassend (siehe Tabelle 10.2) schließen unterschiedliche Wahrnehmungsakte Fälle auf, Wahrnehmungsweisen leiten die Art und Weise der Erschließung. Das Ergebnis ist im Falle der absoluten Wahrnehmungsweise eine selektive pfadgebundene Wahrnehmung als Zusammenspiel von normativen Grundsätzen und Rechtssubjektivität. Es wird von den subjektiven Grundsätzen auf die Fälle geblickt. Rechtliche Freiheit erscheint als ein Rechtsgut. Im Falle der unsteten Wahrnehmungsweise wird von der Beschaffenheit des gesetzlichen Rechts auf die Situation der Beteiligten geblickt. Entsprechend der formulierten These der Unorganisiertheit finden sich die Wahrnehmungsakte innerhalb der unsteten Perspektivübernahme in verschiedenen Kontexten. Die These ist jedoch dahingehend zu relativieren, dass es mit der pfadgebundenen absoluten Wahrnehmungsweise auch priorisierte Wahrnehmungsakte und damit eine Wahrnehmungshierarchie beziehungsweise eine Hierarchie von Wahrnehmungsakten gibt.

Zusammenfassende Reflexion der Befunde

11

11.1 In Bezug auf die Forschungsfragen Wie nehmen Schülerinnen rechtliche Freiheit wahr? Auf Grundlage der Gesamtbetrachtung der Ergebnisse, also des deskriptiven Überblicks, der kategorienbasierten Auswertung und der komplexen Zusammenhangsanalyse, werden auf drei Ebenen die Befunde reflektiert, kategoriale Wahrnehmung empirisch charakterisiert und weiterführende Vermutungen angestellt.

11.1.1 Im Hinblick auf Kategorisierungsprozesse Wie im Forschungsstand und der detaillierten Fragestellung (siehe Abschnitt 4.1) dargelegt, steuern Kategorien als Verallgemeinerungen und Zuordnungen unsere tägliche Anpassung. Kategorien assimilieren so viel wie möglich in ihre Zuordnungen (Allport 1954). Die Untersuchung hat gezeigt, dass kategoriale Wahrnehmungsprozesse im Hinblick auf rechtliche Freiheit durch absolute beziehungsweise unstete Perspektivübernahme das Wahrnehmungsgeschehen ordnen. In aufeinander folgenden Wahrnehmungsakten werden Fallaspekte unter Kategorien assimiliert, indem alle Fallaspekte so evaluiert werden, dass sie subjektiven Rechtserwartungen entsprechen (von vornherein oder nachträglich gestützt). In unorganisierten Wahrnehmungsakten werden Fallaspekte unter Kategorien assimiliert, je nach dem, was eben gerade spontan hinsichtlich des Kontextes als wichtig erscheint. Vor dem Hintergrund der beschriebenen staatlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse stellt sich als Anschlussfrage, welche Wirkung die jeweilige Wahrnehmungsweise durch ihre Assimilationen nicht nur auf spezifische Fall-, sondern auf allgemeine Situationsdefinitionen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_11

167

168

11  Zusammenfassende Reflexion der Befunde

hat. Der Zusammenhang von kategorialer Wahrnehmung und Situationsdefinition wird im Folgenden hypothetisch reflektiert. Im Hinblick auf die Zielperspektiven politischer Bildung (siehe Abschnitt 3.3.3), also das sozialwissenschaftliche Analysieren und das politische Handeln, wird als erste Hypothese formuliert: Wirkungen von kategorialen Wahrnehmungsprozessen können ermöglichend oder einschränkend für politische beziehungsweise sozialwissenschaftliche Situationsdefinitionen sein. Innerhalb der pfadabhängigen Wahrnehmungsakte werden Situationen selektiv wahrgenommen, indem diese unter der Perspektive gerechter Ansprüche gedeutet werden. Die normativen Grundsätze bestimmen dabei, welche Situationsaspekte wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden und ermöglichen im Sinne Münnichs (2010) Ausführungen zu politischem Akteurshandeln, prinzipiell die Konstruktion konkreter Präferenzen, welche grundlegend für politisches Handeln sind. Die Rechtserwartungen und subjektiven Ansprüche stellen eine Ressource dar, auch unter den Bedingungen von Herrschaftsvielfalt Ideen und Interessen zu formulieren und Handlungspositionen einnehmen zu können (siehe Abschnitt 3.3.3). Wahrnehmungsbeschränkend wirkt sich die pfadabhängige Wahrnehmungsweise aufgrund ihrer Starrheit aus; auch bei wechselnden Situationen wird auf subjektiven Ansprüchen in Form von Sollensbestimmungen verharrt; erschwert werden so analytische qualitative Definitionen von Seinsbestimmungen rechtlicher Freiheit, die Rechtserwartungen in eine andere Richtung perspektivieren. Die rasche definitorische Wahrnehmung von Situationen durch die Selektivität nach dem Muster „Recht ist Freiheit, wenn…/ Unrecht ist…“ legt eine ausschließliche und absolute Interaktion in Rechtsansprüchen nahe. Eine Orientierungsleistung und Ideenformierungspotenzial durch normative Grundsätze fehlt innerhalb der unorganisierten Wahrnehmungsakte. Es kommt aufgrund nicht leitender normativer Grundsätze zu einer Anpassung an Objektstrukturen vor allem in Form von Gesetzestexten, die die Situationen definieren. Die vage definitorische Wahrnehmung von Situationen durch Unentschlossenheit nach dem Muster „Rechtliche Freiheit könnte so oder ganz anders sein“ legt eine fehlende sinnvolle politische Handlungsorientierung nahe. Zwar ermöglichen die losen und spontanen Wahrnehmungsakte eine Vervielfältigung von Wirklichkeiten und Interessen, wie für sozialwissenschaftliches Analysieren charakteristisch (siehe Abschnitt 3.3.3); Inkonsistenzen oder Ambivalenzen zwischen diesen lassen sich jedoch ohne normative Ideen nicht auflösen. Nur auf Grundlage von Annahmen über Ideen und Interessen, wodurch Aspekte fokussiert werden, entwickeln sich Erwartungen an Situationen (Münnich 2010).

11.1  In Bezug auf die Forschungsfragen

169

Während im Falle der absoluten Perspektivübernahme auf Basis normativer Erwartungen das Wahrnehmungsgeschehen selektiv zur Kenntnis und im Sinne dieser Erwartungen verzerrt wahrgenommen wird, sind Erwartungen im Falle der unsteten Perspektivübernahme nicht verfügbar oder weniger verfügbar.

11.1.2 Im Hinblick auf die Bedeutung der Kategorien Recht und Politik Hauptargumentation der vorliegenden Studie ist das Zusammendenken und -untersuchen der begrifflichen Ordnung rechtlicher Freiheit und von Akten, die diese Ordnung konstitutionalisieren (=kategorialer Wahrnehmung). Wenn Gegenstände beziehungsweise begriffliche Ordnungen von den dahinterliegenden Akten der Konstitution abhängig sind, stellt sich als Anschlussfrage beziehungsweise wird als anschließende Hypothese formuliert, inwieweit die identifizierten Wahrnehmungsweisen in den Kategorien Recht und Politik selbst begründet liegen. Wie im Forschungsstand und der detaillierten Fragestellung (siehe Abschnitt 4.1) dargelegt, ermöglichen Kategorien als Ergebnis lebensweltlicher Erfahrung die rasche Identifizierung von Objekten, weil jedes Objekt Merkmale hat, die entsprechende Kategorien aktivieren, wodurch eine erleichterte Anpassung an Situationen möglich ist (Allport 1954). Wenn Fälle beziehungsweise Situationen entlang von zum Ersten Rechtserwartungen beziehungsweise -ansprüchen, zum Zweiten objektiver Rechtsbeschaffenheit wahrgenommen werden und diese Wahrnehmung in langandauernden Erfahrungsprozessen erworben wird, die in der Regel sozial vermittelt sind, ist dann die Wahrnehmung präformiert durch Prozesse der Verrechtlichung und der Entpolitisierung (Habermas 1981; Honneth 2017)? Auf Grundlage der identifizierten Themencluster werden die Kategorien Recht und Politik zunächst sehr vielfältig von den Schülerinnen gebildet: als nebeneinanderbestehend (Politik und/oder Recht, Politik durch Recht), als unterordnend (Parallelisierung von Recht und Politik) und als näher bestimmend (Politik des Rechts, Rechtspolitik). Insgesamt wird wahrgenommen, dass rechtliche Freiheit gewährleistet und zugleich gefährdet wird durch staatliche und private Akteure. In der thematischen Streuung innerhalb der individuellen Wahrnehmung rechtlicher Freiheit finden sich keine Hinweise auf eine Präformierung durch eine „Verrechtlichung sozialer Lebensbereiche“ (Habermas 1987: 522). Die Befunde der komplexen Analyse öffnen jedoch die Perspektive auf verzerrte Wahrnehmung (absolute Perspektivübernahme) und Nicht-Positionierung (unstete Perspektivübernahme), die in einem Erklärungszusammenhang mit

170

11  Zusammenfassende Reflexion der Befunde

dem „[…] institutionalisierten System der rechtlichen Freiheit […]“ stehen könnten, „[…] weil es von den Teilnehmern hochgradige Abstraktionsleistungen verlangt und daher regelmäßig zu Fehldeutungen einlädt“ (Honneth 2017: 158–159). So kann innerhalb der absoluten Wahrnehmungsweise eine Offenheit gegenüber der semantischen Ausdehnung von Rechtssubjektivität und Rechtsansprüchen auf die Lebenswelt herausgestellt werden. Es wird sich in der eigenen Wahrnehmung an gegebenen Rechten und rechtlich erlaubten Handlungsoptionen, jedoch nicht an politischer Argumentation orientiert. Diese Bereitschaft zunehmend in Rechtsansprüchen wahrzunehmen, deutet sich sowohl innerhalb der absoluten Perspektivübernahme an als auch in den BackTalks, […] dass man nochmal genauer was drüber erfahren hat, wie man jetzt für seine eigene Freiheit kämpfen kann, also, dass man da, also wo man sozusagen überall klagen kann, um, also sein Recht, also die Freiheit zu bekommen […]. (GHPF: 191–199; ähnlich AGSO: 5–14)

Eine solche Ausdehnungs-Offenheit in der kategorialen Wahrnehmung kann in einem Erklärungszusammenhang gelesen werden mit Verrechtlichungsprozessen, in denen das Subjekt als Rechtssubjekt veralltäglicht wird (Fischer-Lescano 2013: 70–71 und 85). Umgekehrt stellt sich als Frage, inwieweit die Ergebnisse einer unsteten Perspektivübernahme in einem Zusammenhang stehen mit Prozessen der Entpolitisierung. Auf der Ebene der komplexen Analyse ist feststellbar, dass rechtliche Freiheit unstet konstituiert wird, die Wahrnehmungsakte sind für unterschiedliche Situationen zugänglich, es fehlen Wahrnehmungsmuster. Hängt diese Unentschlossenheit und diffuse Wahrnehmungsposition zusammen mit einer negativen Freiheit, die es überhaupt ermöglicht, sich aus Kommunikationszusammenhängen zurückzuziehen (Honneth 2017: 137)? Während im Falle der absoluten Perspektivübernahme anzunehmen ist, dass Wahrnehmungsvorgänge auf erfolgversprechende Rechtserwartungen gerichtet sind, was bei jedem erneuten Wahrnehmungsakt durch Verrechtlichung von Bereichen des menschlichen Lebens verstärkt wird, weil dadurch der Prozess der Häufigkeit und Verdichtung der Wahrnehmungsbestätigung zunimmt, fehlt im Falle der unsteten Perspektivübernahme eine solche Ausrichtung. Es ist anzunehmen, dass der Anschluss an kognitive, motivational-emotionale und soziale Unterstützung fehlt (siehe Abschnitt 4.1) und Wahrnehmungsprozesse anschlussfähig für diffuse Situationsdefinitionen sind.

11.1  In Bezug auf die Forschungsfragen

171

11.1.3 Im Hinblick auf Veränderung In der Gesamtbetrachtung der Befunde lässt sich eine bipolare Struktur in der Schülerinnenwahrnehmung rechtlicher Freiheit explizieren. Während die Komplexitätsstruktur der Fragen und Aufgaben extern konstruiert (siehe Abschnitt 7.1) und subjektiv in den Nachbefragungen beschrieben1 zunimmt, bleibt der Zugriff auf Wahrnehmungsakte auf der Ebene der Schülerinnen unabhängig von den einzelnen Phasen und ihren jeweiligen Anforderungen. Die Aufgaben werden entsprechend der Häufigkeiten bedient (siehe Abschnitt 8.2), die Fallwahrnehmung bleibt dabei jedoch unverändert unstet oder absolut (siehe Kapitel 10). Die Codehäufigkeiten und Nachbefragungen zeigen, dass kontextfreie fachliche Begriffe von den Schülerinnen als Instrumente zur Erschließung von kontextfreien Fallaspekten genutzt werden (siehe Kapitel 8). Dieser Befund kann anhand der Back-Talks validiert werden. Die einfache Merkmalsidentifikation anhand der fachlichen Analyseinstrumente wird von den Schülerinnen als hilfreich und produktiv beschrieben, um den Fall strukturiert und analytisch wahrzunehmen: Also, ähm, was ich eigentlich am hilfreichsten fand, war dieses wer und wo, weil man da halt sehr übersichtlich sehen kann, über wen es geht, wer betroffen ist und ob das halt nur ein Staat ist oder mehrere. Und, also das fand ich, hat mir hier auch sehr geholfen, schon alleine wegen dem Europäischen Gerichtshof wegen Menschenrechte, der ist ja supranational oder so Organisation und da konnte man das halt sehr gut mit bearbeiten, dass das halt einmal national, also Deutschland, die privaten Personen und dieser supranationale. (GHTD 16–22; ebenso GHLY: 203–208 und AGSL 541–546)

Fachliche Begriffe stehen so explizit im Fokus der Wahrnehmung und sind dessen Gegenstand (in den Phasen Analysieren und abstrahierend-distanzierendes Reflektieren im Fall Schwabe und G. versus Deutschland). Die Wahrnehmung situationaler oder kontext-abhängiger Aspekte hingegen wird als herausfordernd bewertet:

1Wie

im Folgenden Beispiel: „Und, also mit den ersten Seiten, also der erste, die war, hab ich sehr gut hingekriegt, die zweite auch noch sehr gut, ab den madres wurde das dann halt schwieriger und auf der letzten Seite, da war ich dann doch sehr, ja, erstaunt (lächelt) und geschockt“ (GHTD: 646–650).

172

11  Zusammenfassende Reflexion der Befunde

Also ich fand, glaube ich, die letzte Aufgabe, also 7, das war ja auch in vier, also da waren ja a, b und c jeweils relativ groß, fand ich, und ja, das fand ich, weil es halt, also man musste dann viel zusammentragen, hatte ich das Gefühl und das fand ich halt ziemlich anspruchsvoll […]. (GHPF: 95–100)

Dass sich die Verwendung von abstrakten Begriffs-Instrumenten weniger häufig in Phasen des kontextsensitiven Reflektierens und Imaginierens findet, lässt darauf schließen, dass fachliche Begriffe nicht um situationale Elemente erweitert werden und dementsprechend (noch) nicht instrumentell in ihrem Bezug auf die Fälle als Kontexte fungieren. „So wie Werkzeuge ‚für sich‘ nichts mitteilen oder bewirken, so sehr bleibt die fokussierte Theorie semantisch leer“ (Neuweg 1999: 324). Die Befunde der Studie zeigen, dass politische Bildung Sekundärerfahrungen mit sozialwissenschaftlicher und politischer Fallerfassung dann ermöglichen kann, wenn fachliche Kategorien Gegenstand der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sind. Diese rufen jedoch keine konsistente und nachhaltige Wahrnehmung hervor, weil Grundorientierungen absoluter und unsteter Perspektivübernahme in ihrem Bezug auf Situationsdefinitionen wirksam sind. Dementsprechend nicht sinnvoll ist die Ausdifferenzierung von Lerngegenständen über die Ausdifferenzierung von Kategorien; eine Offenheit für Bildungsprozesse ist effektiv, so die dritte Hypothese, über die Ausdifferenzierung von kommunikativen Möglichkeiten als Grundlage von Kategorisierungen. Bevor im Anschluss an die Hypothesenbildung Ansatzpunkte und Chancen für eine kategoriale Bildung vorgeschlagen und diskutiert werden, wird mit der folgenden Reflexion des Studiendesigns der empirische Teil der Arbeit abgeschlossen.

11.2 In Bezug auf die Forschungsanlage Eine Selbst- und Fremdbefragung hinsichtlich der Vorgehensweise der vorliegenden empirisch-analytischen Arbeit liefert an jeder Stelle von Theorie, Methode, Operationalisierung, Empirie und Reflexion Kritik. Die Frage, inwieweit es gelungen ist, Forschungsmethodik zu entwickeln, die die (kategoriale) Wahrnehmung von rechtlicher Freiheit erfassen kann und zu soliden empirischen Ergebnissen kommt, wird zunächst auf der Ebene immanenter Aspekte diskutiert: der Begründung des wissenschaftlichen Sinns und der Bedeutung der gewählten Fragestellung einerseits sowie der Auswahl der theoretischen und methodischen Vorgehensweise andererseits. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist es, sich einem innerhalb der Sozialwissenschaften kontrovers diskutierten Thema und für die Politikdidaktik

11.2  In Bezug auf die Forschungsanlage

173

auszuweisenden empirischen Desiderat zu widmen mit dem Anliegen, die Wahrnehmung von rechtlicher Freiheit von Schülerinnen empirisch nachzuvollziehen und in einen breiten Verstehensrahmen von Politik, Recht und Wandel einzubinden. Damit sind die Ziele verknüpft, das Verhältnis von individueller Wahrnehmung und Ordnung am Beispiel rechtlicher Freiheit qualitativ zu erfassen, aus fachdidaktischer Bildungsperspektive inhaltlich zu beschreiben und Schlussfolgerungen für die didaktische Vermittlungsperspektive zu ziehen. Mit Kapitel 1, der Einleitung, wird begründet warum und wozu eine empirische Studie notwendig ist. Herangezogen werden dazu Forschungsstände sowie ontologische und epistemologische Paradigmen, die metatheoretische und methodologische Standpunkte kohärent einbetten und intersubjektiv nachvollziehbar machen. Das Thema der Arbeit wird anhand einer Rahmenkonzeption in den Kapiteln 2 und 3 durch die multidisziplinäre Verwendung von Literatur kontextualisiert und konturiert. Bezüge zu dem Thema der Arbeit werden dabei umfassend im Sinne der Relevanz für die Zielstellung hergestellt und Auswahlentscheidungen begründet dargestellt. Die Annahme, dass Erkenntnisse an den Schnittstellen von Politischer Bildung und Politischer Kultur, Politischer Bildung und Wahrnehmungstheorie sowie Politischer Bildung und Sozialwissenschaften gewonnen werden, hat sich dabei als fruchtbar erwiesen. Anhand der Rahmenkonzeption werden Möglichkeiten der empirischen Realisierbarkeit der Fragestellung ausgewiesen und Erwartungen im Hinblick auf die empirische Untersuchung legitim hergestellt. Die methodische Anlage der Untersuchung hat es ermöglicht, rechtliche Freiheit als subjektive Sinnbildungsform zu beobachten und zu verstehen. Es ist gelungen, kategoriale Wahrnehmung mit den fünf Themenclustern und zwei qualitativ unterscheidbaren Wahrnehmungsweisen zu erfassen und eine begrenzte nicht repräsentative, aber aufgrund der inhaltlichen Repräsentation generalisierbare empirische Grundlage in der Diskussion und Reflexion kategorialer Bildung zu liefern. Auf Grundlage der Gesamtbetrachtung der Arbeit, also der Einleitung, der Rahmenkonzeption, des Studiendesigns und der Ergebnisse, werden im Folgenden abschließend drei selbstbefragende „Bruchstellen“ der Arbeit beschrieben.

11.2.1 „Eier finden, die man selbst versteckt hat“ – die Verwendung eines sensitizing concepts In der empirischen und theoretischen Auseinandersetzung mit politischem Lernen gibt es innerhalb der scientific community vereinzelte Tendenzen, Lernprozesse als Informationsverarbeitung zu modellieren und den heuristischen Charakter b­ egrifflich

174

11  Zusammenfassende Reflexion der Befunde

gefasster kognitiver Substanzen als Entitäten in das Subjekt zu projizieren. Ein solches Vorgehen der genannten Tendenzen würde einer Suche „nach Eiern, die wir selber versteckt haben“ (Wyss 1966, zit. nach: Simons 1981: 217) gleichkommen und Problemfelder wegerklären. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Verwendung des sensitizing concepts dem Beobachten von unterstellten Tätigkeiten Vorschub leistet. Der Rekonstruktionsprozess ist theoriegeleitet, das Verstehen der Performanz erfolgt anhand des Modells mentaler Akte, das aus wissenschaftlicher Begrifflichkeit besteht. Vor diesem Hintergrund wird als besondere Güte angeführt, dass im Analyseprozess der Arbeit zunächst an der Performanz angesetzt wird und diese dann erst dem Modell mentaler Akte zugeführt wird. Zudem werden strukturelle und referenzielle Aspekte erfasst und ein dynamischer Aktbegriff statt statischer Annahmen über mentale Repräsentationen zu Grunde gelegt. „In Unterscheidung zu etwas Vermittelnden im psychologischen oder kognitivistischen Sinne […]“, wie es Murmann formuliert, handelt es sich bei der Erfassung der Performanz beziehungsweise mentaler Akte nicht um „[…] von BeobachterInnen unterstellte Dinge oder Tätigkeiten, also etwas Abgeleitetes, Fiktives“ (Murmann 2002: 91–92). Darüber hinaus ist das Modell mentaler Akte Resultat phänomenologischer Betrachtung, die nicht etwas Fiktives darstellt, sondern erfasst, wie politische Welt konstitutiert wird.

11.2.2 „Das Eine, das Andere, sowohl als auch“ – die Anlage als Forschung und Bildung Die Anlage der Studie sowohl als Bildungs- als auch Forschungssituation ist dem explorativen Charakter der Studie geschuldet. Interessanterweise belegen die Back-Talks, dass die Schülerinnen nicht eine naheliegende Laborsituation adressieren, sondern die universitäre Bildungssituation als motivierende Alternative zur schulischen beschreiben, wie in den folgenden Beispielen hinsichtlich der Materialgestaltung und der Aufgaben deutlich wird: „Ich glaube vor allem, also dass man, erst einmal, dass das Material schöner aussieht als bei uns in der Schule (lacht)“ (AGPP: 318–319) oder […] im Unterricht hat man das ja sowieso meistens eher so, wenn man in Politik einen Text bekommt ist Aufgabe 1 fasst du das zusammen, Aufgabe 2 dann irgendwie ordne das in den Kontext ein, was weiß ich, wenn es um Wirtschaftskrise geht irgendwie, was vorher und was die direkte Folge war und dann 3 die eigene Meinung. Also da [im Transferlabor; Anm. d. Verf.] haben wir zwar auch eine Dreiteilung in dem Sinne, aber halt nicht so von wegen, wie es sein sollte, welche Funktion das hat und wie es dann im Endeffekt aussieht. (AGSO: 133–140)

11.2  In Bezug auf die Forschungsanlage

175

Insgesamt ist die Konstruktion als Bildungs- und Laborsituation jedoch als herausfordernd zu bewerten und erfordert für den Forschungsverlauf eine permanente Kontrolliertheit der Kommunikation und Interaktion, die laufend erarbeitet wird: zum einen dahingehend, dass auf das von Forschendem und Lehrkraft abgeschlossene committment hingewiesen werden muss, dass die Lehrkraft stummer Teilnehmender ist; zum anderen hinsichtlich des Eingriffs des Forschenden, der in Situationen erfolgt, in denen Arbeitsaufträge formuliert oder Verständnisschwierigkeiten geklärt werden (Riemeier 2003: 71–82).

11.2.3 „Letztbegründung“ – das qualitative Design Nicht zuletzt das sensitizing concept, sondern vor allem die Computerunterstützung werden in der vorliegenden Arbeit gewählt, um einen „data overload“ (Miles/Huberman 1994: 56) in der Analyse der Textmengen zu vermeiden und den Fokus für das zu analysierende Material zu schärfen. Dennoch stellt sich insgesamt die Frage, was ehrlicherweise in einer Qualifikationsarbeit vor dem Hintergrund von Konformitätsdruck und Originalitätsanforderung (Lingelbach 2003: 319) von einer Person zu leisten ist und inwieweit sich in der Argumentation mit forschungspragmatischen Entscheidungen doch Hinweise auf qualitative „gaps“ finden. In der persönlichen Bilanz ist es gelungen, eine solide qualitativ-empirische Grundlage für fachdidaktische Reflexion zu generieren. Allerdings ist der Forschungsprozess permanent begleitet von einer Art Unsicherheit, die sich am besten mit folgendem Zitat beschreiben lässt und die Strategien der Qualitätssicherung bildlich auszudrücken vermag: „Wie Schiffer sind wir (die qualitativ Forschenden, Anm. d. Verf.), die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können“ (Neurath 1932: 206, zit. nach: Herzog 2012: 59). Zwar gibt es in der Wissenschaft insgesamt keine Letztbegründung; in einem quantitativen Design wären die wissenschaftlichen Aussagen endgültiger. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Politikdidaktik, deren zentrales Anliegen es ist, die Wirklichkeit politischer Bildung zu verstehen und weiter zu entwickeln. „Eine geradlinige Deduktion der empirischen Befunde bis zu didaktisch-methodischen Handlungsanweisungen ist nicht möglich […]“ (Heldt 2015: 274); es werden im Folgenden jedoch Transferaufgaben formuliert, die empirischen Befunde in den Verstehensrahmen kategorialer Bildung zu integrieren (siehe Kapitel 12), neue didaktische Perspektiven zu entwickeln (siehe Kapitel 13) und konkrete Vermittlungsszenarien (siehe Kapitel 14) zu formulieren.

Teil IV Transfer

Verstehen: Kategoriale Wahrnehmungsprozesse

12

Ausgangspunkt zur Bildung eines Verstehensrahmens ist zum einen die fachliche Auseinandersetzung mit Wandlungsprozessen (siehe Kapitel 2), zum anderen die Begründung von rechtlicher Freiheit als subjektiver Sinnbildungsform, die offen für Bildungsprozesse ist (siehe Kapitel 3). Die Wahrnehmung rechtlicher Freiheit ist als Lernendenvoraussetzung Ausgangs- und Zielperspektive für die an dieser Stelle zu entwickelnden Lehr-Lern-Strategien. Die Befunde von mentalen Akten, Wahrnehmungsweisen und einer bipolaren Struktur (siehe Kapitel 9 und 10) werden im Folgenden genutzt, um Kategorisierungsprozesse des Rechtlichen und des Politischen zu charakterisieren. An dieser Stelle werden allgemeine ­Lehr-Lern-Strategien im Kontext politisch-rechtlichen Lernens vorgeschlagen. Kategoriale Externalisierung und Kommunikativa – der tradierte politikdidaktische Weg Aus politikdidaktischer Sicht können Kategorien aus der Fachwissenschaft das strukturelle und prinzipielle Erkennen eines Gegenstandes verdeutlichen und, zum Beispiel formuliert in Schlüsselfragen, den Schülerinnen als heuristische Instrumente zur Erschließung der politischen Wirklichkeit dienen (Juchler 2005a: 229–230). Die empirischen Befunde zeigen jedoch, dass fachliche Kategorien unter den Bedingungen eines Bildungssettings von begrenzter Dauer gerade nicht als implizite Instrumente der Wahrnehmung wirksam sind, sondern ausschließlich als Gegenstand selbst thematisch werden1. Feststellbar ist nicht

1Womit nicht ausgeschlossen wird, dass dies im Rahmen eines andauernden und wiederholenden Bildungssettings möglich und empirisch in einem Längsschnitt zu untersuchen wäre.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_12

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12  Verstehen: Kategoriale Wahrnehmungsprozesse

ein „leerer Schematismus“, wie von Massing vermutet (Massing 1997a: 131; Massing 1997b: 221–230; siehe Abschnitt 3.3.2), sondern explizierbar sind im Fokus der Wahrnehmung stehende Kommunikativa. Diese sind nicht Teil des Wahrnehmungsprozesses, sondern dessen Gegenstand (Neuweg 1999). Wird zur Analyse von Situationen anhand von fachlichen Kategorien in Bildungskontexten aufgefordert, beispielsweise im Rahmen einer Situationsanalyse (Henkenborg 2000), werden diese als Gegenstand der Wahrnehmung thematisch und sind keine Instrumente derselben. Überspitzt formuliert betreibt eine Politikdidaktik, die an vorhandenen Kategorien ansetzt und sie ins Bewusstsein holt, vielmehr einen leeren Schematismus und verhindert Veränderungsmöglichkeiten, weil die bei den Schülerinnen vorhandenen Kategorien durch nicht zu formalisierende Akte konstituiert werden. Fachliche Kategorien können Thema der Zuordnung sein, aber bei dem nächsten Fall oder der nächsten Situation „versagen“ sie als implizites Instrument. Fachlich gebildete Kategorien bleiben so immer Facetten des Gegenstandes, werden aber nicht zu Aspekten der Erschließung. Ist das ernüchternd für eine kategorial orientierte Bildung? Kategoriales Schließen und Wahrnehmungsweisen – die empirische Erweiterung Durch die empirische Studie ist es gelungen, Wahrnehmung zu erfassen und Perspektivierungen herauszustellen, die die Wahrnehmung leiten und von denen auf den Gegenstand geschlossen wird. Es können in der Zusammenschau (siehe Abbildung 12.1) als Elemente von Kategorisierungsprozessen mentale Akte und begriffliche Ordnungen, die durch diese hervorgebracht werden, unterschieden werden. In Akten des Wahrnehmens werden Gegenstände konstituiert. Akte

Begriffliche Muster

Mittel der Wahrnehmung

Gegenstände der Wahrnehmung

Kategoriales Schlussfolgern und Grundeinstellung

Kategoriale

Externalisierung

und

Kommunikativa Veränderung

Schließung

Öffnung

Abbildung 12.1   Charakterisierung von Kategorisierungsprozessen nach Neuweg (1999)

12  Verstehen: Kategoriale Wahrnehmungsprozesse

181

Das Chaos äußerer Erscheinungen wird geordnet, indem kontingente Einzelheiten entsprechend der jeweiligen (absoluten/unsteten) Wahrnehmungsweise zu konstanten begrifflichen Mustern zusammengefügt werden. Kommuniziert beziehungsweise thematisch werden grundsätzlich die Gegenstände der Wahrnehmung, während mentale Akte beziehungsweise Wahrnehmungsweisen implizit wirken (Neuweg 1999). Über absolute oder unstete Perspektivübernahmen werden Aspekte von Situationen zu einem kohärenten Ganzen integriert. Aber auch nach der empirischen Untersuchung stellt kategoriale Bildung gewissermaßen eine „unclear technology“ dar und ist gekennzeichnet durch Inhalts- und Zielambiguität. Perspektivierungen leiten die Wahrnehmung und konstituieren Gegenstände. Werden diese thematisch, leiten sie nicht mehr die Wahrnehmung, sondern werden selbst zum Gegenstand (Neuweg 1999). Dementsprechend lassen sie sich weder formalisieren noch anhand fachlicher Kategorien im Prozess rationalisieren. Legitimes Argument für eine anzustrebende kategorial orientierte Bildung in dem Sinne, dass Schülerinnen etwas anders wahrnehmen, als sie es zuvor getan haben (Murmann 2002), ist der Umgang mit (den empirisch belegten) Subsumtionsproblemen, durch den Wahrnehmungsprozesse für Veränderungen geöffnet werden. Dies betrifft zum einen den Umgang mit einer Vielfalt an Themenclustern, die eben nicht ausschließlich auf eine Ziel- oder Inhaltsgröße rechtlicher Freiheit fokussieren, sondern ein Ineinander von Wahrnehmungshandlungen bilden. Zum anderen umfasst es den Umgang mit Wahrnehmungsweisen, über die geschlussfolgert und Wahrnehmung begrenzt werden. In politikdidaktisch arrangierten Settings lassen sich vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung Momente der Öffnung von Wahrnehmung benennen. Weil Kategorisierungen durch Wahrnehmungsakte vollzogen werden, die nicht unmittelbar didaktisch zugänglich sind, ist die Etablierung von L ­ ehr-Lern-Strategien anzustreben, die der Beachtung von Wahrnehmungsweisen folgen und im Kern auf der Organisation von kommunikativen Horizonten (Husserl 1976) zur Veränderung kategorialer Wahrnehmung beruhen.

13

Kultivieren: Mentale Spielräume

Begründet wird weder ein „Trickle-Down-Transfer“ (von dem Fachlichen in die Lebenswelt) noch ein „Trickle-Up-Transfer“ (aus der Lebenswelt), sondern die Etablierung von kommunikativen Horizonten (Husserl 1976: 26–28), aus denen heraus dann Wahrnehmungsakte und begriffliche Gegenstandskonstituierungen der Schülerinnen erfolgen können (siehe Abbildung 13.1). Sie eröffnen lebensweltlich verankerte kommunikative Hintergründe, die fachlich (sozialwissenschaftlich oder politisch) Situationsdefinitionen der Schülerinnen besser fundieren (Murmann 2002: 68–69).

Wahrnehmungsbedingte Reduktionismen

Kommunikative Horizonte

Abbildung 13.1   Lehr-Lernmodell

Dahingehend formulierbare Charakterisierungen von und Anforderungen an Lehr-Lern-Strategien einer kulturwissenschaftlich orientierten ­politisch-kategorialen Bildung, die mittels exemplarischer Fälle einen Einblick in die Konstitutionsregeln und -elemente politisch-rechtlicher ›Realität‹ gewährleisten sollen (siehe Kapitel 1), sind © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_13

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13  Kultivieren: Mentale Spielräume

• Diskursfälle: Ausgangspunkt ist ein Verständnis von Politik und Recht als Sinnwelten, die in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um deren Bedeutungen konstituiert werden. Intention einer kulturwissenschaftlich orientierten politisch-kategorialen Bildung ist es, zur kategorialen Bestimmung des Politischen und Rechtlichen Deutungen, Interessen und Maßstäbe, insgesamt Wissen, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu rekonstruieren. Für Prozesse der Kategorisierung sind Werte, Maßstäbe, Wissen, Deutungen usw. als Situationselemente von Fällen auszuwählen. Diskurse werden analysiert als subjektiver Sinn von individuellen, privaten und staatlichen Akteuren1 (Nullmeier 2013: 28). • Kategorialer Interaktionismus: Ausgangspunkt ist die Konstitutionalisierung von Handlungssubjektivität, die Grenzziehungen privater und systemischer (Freiheits-)Kategorialität interaktiv neu orientiert und zwischen Mikro- und Makroperspektive vermittelt. Beispielsweise ist rechtliche Freiheit weder reduziert auf das individuelle Selbst noch auf gesellschaftliche beziehungsweise politische Ordnung, sondern kategorial über das Handlungssubjekt verknüpft. Dafür werden innerhalb der Lehr-Lern-Strategie des Adressierens innerhalb von Diskursfällen Werte, Maßstäbe usw. analytisch rückgeführt auf individuelle menschliche Empathie, Rechtsgefühl oder Imagination, die in der deutenden Erzeugung politisch-rechtlicher Realität als Bedingungen der Zustimmung und Anerkennung von Jedermann adressiert werden, sowie angeschlossen an kollektiv geteilte Überzeugungen von Akteuren, die als Handlungssubjekte in politischen Willensbildungsprozessen readressiert werden. Individualisiertes Anspruchsdenken (absolute Perspektivübernahme) und Nicht-Positionieren hinsichtlich kollektiver Werte (unstete Perspektivübernahme) werden so kategorial adressiert (Individuum/System) und miteinander verknüpft (Subjekt). Auf der Ebene der Themencluster und ihres Ineinanders ist es zudem denkbar, die verschiedenen Wahrnehmungsaspekte sachlich, räumlich, zeitlich oder modal zu (re-)adressieren, die sich für jeweilige fachliche (politische oder sozialwissenschaftliche) Diskurse eignen (Mikfeld/Turowski 2014: 26). Die Adressierung bestünde darin, Anschlussmöglichkeiten für die Vielfalt an Wahrnehmungen zu schaffen und so kommunikativ die Reichweite der eigenen Wahrnehmung zu erhöhen: beispielsweise durch die sachliche

1Ebenso

können Diskurse als Strukturen verstanden werden. Zudem: Im Bereich des Rechts werden auch Individuen als Akteure gefasst (Kanalan 2015: 168).

13  Kultivieren: Mentale Spielräume

185

Adressierung des Clusters „Individuelle Freiheit gegenüber dem staatlichen Hegemon“ an prozedurale Rechtstheorie oder durch die Adressierung des Clusters „Freiheit durch hierarchische Ordnung“ an das Modell des demokratischen Positivismus im Sinne Ingeborg Maus’ (Anregungen zu fachwissenschaftlichen Ansätzen siehe u. a. Buckel et al. 2006). • Verständnisbildung: Recht und Politik sind teilbar und werden zwischen unterschiedlichen Handlungssubjekten kollektiv ausgeübt. Verkategorialisierungen wie individualisierte (absolute Perspektivübernahme) oder objektivierte (unstete Perspektivübernahme) Wahrnehmung werden konsens-, kooperations- oder konfliktbildenden Horizonten, die die Reichweite der eigenen Freiheitskategorialität kommunikativ neu orientieren, entgegengesetzt. Anhand der Lehr-Lern-Strategie des Vergleichens und Relationierens von Werten, Maßstäben und Wissen werden Distanzen, Kohärenzen und Inkongruenzen in der Situationsdefinition von Akteuren oder Adressaten identifiziert und/oder durch die Bildung von Haltungsallianzen in Richtung Handlung orientiert. • Kategoriale Reflexion: Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die zuvor formulierten Anforderungen an Lehr-Lern-Strategien unter den Bedingungen von Distanz- und Fremdheitserfahrungen stattfinden (Bonnet 2004; Breidbach 2007), die durch Thematisierung und Aufzeigen widerstreitender Geltungsansprüche reflexiv neuorientiert werden, indem Kontexte, Bedingtheiten und Abhängigkeiten von Kategorisierungen fokussiert werden. Beispielsweise ist das Rechtsgefühl von Individuen etwas anderes als die gesellschaftliche Auseinandersetzung, in der Bedeutungen von Recht und Politik ausgehandelt beziehungsweise Recht und Politik produziert werden (Buckel et al.: XII). In der Thematisierung von Distanz- und Fremdheitserfahrungen als ­Lehr-Lernstrategie werden Wahrnehmungsbegrenzungen von Lernenden vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen Vergesellschaftungsprozesse geöffnet für ein kritisches und reflexives In-Beziehung-Setzen von ›Individuum und Wissenschaft‹, ›Individuum und Kollektiv‹ oder ›das Eigene und das Fremde‹, wodurch Reichweiten von Gegenstandkonstituierungen, also Grenzziehungen von Welt- und Wirklichkeitssichten, diskursiv zugänglich gemacht werden. Weil Kategorisierungen beziehungsweise Perspektivübernahmen in ­politisch-rechtlicher Realität begründet sind, ist in Lehr-Lern-Strategien Bezug zu nehmen auf diesen Anwendungsbereich, also die (politisch-rechtliche) Realität. Die kommunikativen und interaktiven Lehr-Lern-Strategien zielen auf kategoriale Bildung als Deutungsprozess (Gegenstand) sowie ein kritisches und reflexives Verhältnis dazu (Gegenstandskonstituierung) ab. Es geht darum, die

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13  Kultivieren: Mentale Spielräume

Möglichkeiten der subjektiven Wahrnehmungen in den Zusammenhang der politisch-rechtlichen Realität zu stellen und so den empirisch herausgestellten Reduktionismen entgegenzutreten. Ideen von Demokratie, Frieden, Freiheit und Gleichheit werden so für eine Rückführung auf menschliches Handeln zugänglich gemacht, also Politik und Recht werden an menschliches Handeln rückgebunden, denn „alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst.“ (Marx 1983[1843]: 370). Gestärkt wird so die Rolle von Deutungen für Situationsdefinitionen und daraus erwachsene Handlungsorientierungen, wie im Folgenden anhand einer interpretativen Fallanalyse veranschaulicht wird.

Handeln: Interpretative Fallanalyse

14

Im Folgenden wird die interpretative Analyse als Instrument einer Fallanalyse skizziert, die Intention, Idee und Gestaltung von kategorialer Bildung als Deutungsprozess sowie dessen inhaltlich-methodischen Umsetzbarkeit verdeutlichen soll. Mit der Skizzierung einer interpretativen Fallanalyse ist nicht der Anspruch verbunden, eine neue Methode innerhalb der Politikdidaktik auszuweisen. Intention ist vielmehr, an bestehende Fallanalysen (Fallstudie nach Reinhardt, Situationsanalyse nach Henkenborg, Fallanalyse nach Breit/Eichner) anzuschließen und das interpretative Vorgehen (vgl. Münch 2016; Nullmeier 1997, 2013) als ein Element beziehungsweise als eine mögliche Konkretisierung zu integrieren. Diskursfälle lassen sich „[…] hinsichtlich ihres ‚Tiefgangs‘, ihres Zeithorizonts oder ihrer Grundsätzlichkeit“ (Turowski/Mikfeld 2013: 42) unterscheiden. Für die interpretative Fallanalyse bieten sich verschiedene Diskursebenen an, im Folgenden wird sich auf öffentliche Debatten um ein politisches Thema, wie beispielsweise Menschenrechte, konzentriert. Fälle werden also nach Politikfeld beziehungsweise Policies organisiert. In Frage kommen dabei solche Fälle, die Handlungs- und Entscheidungssituation (Reinhardt 2012: 127–132) aus Sicht der Akteure sind. Die Durchführung im Einzelnen Analog zu anderen Fallanalysen gliedert sich die interpretative Fallanalyse in verschiedene Phasen. Das vorgeschlagene Vorgehen besteht aus den Phasen der Perspektivierung, der Elementarisierung, der Komparation und der Strategieexploration, die jeweils kommunikative Kontexte eröffnen, aus denen heraus Kategorien beziehungsweise fachliche Begriffe verwendet werden. Phasenweise werden Situationselemente analysiert und die Lernenden mit Deutungen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Neuhof, Rechtliche Freiheit, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30760-8_14

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14  Handeln: Interpretative Fallanalyse

konfrontiert. Entsprechend der Organisation einer Unterrichtseinheit nach dem Fallprinzip, wie Reinhardt es vorschlägt, werden die Lernenden mit einem Fallausschnitt, beispielsweise in Form eines Zeitungsausschnitts oder Podcasts, als Einstieg konfrontiert (Reinhardt 2007: 121–132). Die Arbeitssituation gliedert sich in verschiedene Phasen, die auch, aber nicht unbedingt, eine zeitliche Abfolge darstellen, sondern jeweils eigene Ziele und Fokusse haben und entsprechend unterschiedliche Formen (beispielsweise in der Gruppe, in aufgabenbasierten Lernumgebungen, im Plenum) annehmen können. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Phasen im Einzelnen kurz vorgestellt. Phase der Perspektivierung: Welche Situation wird von wem wie gedeutet? Wie sich Policy-Fälle darstellen, ist von der jeweiligen Perspektive und Problemdefinition abhängig. Als Perspektive ist subjektiver Sinn einzelnen Personen (zum Beispiel Bezüge von Schülerinnen zu der Situation, wie es Henkenborg in seiner Situationsanalyse vorschlägt, vgl. Henkenborg 2000), ebenso wie individuellen, korporativen und kollektiven Akteuren, Gruppen, Kollektiven, Artefakten oder Institutionen zuzurechnen (Nullmeier 2013: 28). Über die Zurechnung werden Handlungssubjekte konstituiert, da „Person […] dasjenige Subjekt [ist], dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ (Kant 1968[1797]: 223). Neben der heterogenen Zurechnung werden Situationen als problematisch geschildert. Problemdefinitionen und -interpretationen werden selbst zum Gegenstand. Das können sein • Aspekte von Problemen (zum Beispiel Intensität oder Neuartigkeit, Münch 2016: 91), • Prozesse der Problematisierung (zum Beispiel Problemdarstellung in Gesetzesentwurf oder Problemauslassungen, Bacchi 2012: 21) oder • Situationsbeschreibungen (zum Beispiel als ‚ungerecht‘, ‚umweltzerstörend‘ oder ‚unerträglich‘, Nullmeier 2013: 32). Insgesamt geht es in der Phase der Perspektivierung darum, dass Lernende die Perspektive, aus der sie und andere die Wirklichkeit und sich selbst wahrnehmen, erfassen. Die Perspektivierung von Situationen ist ein möglicher Zugang zu Deutungen, welche Situationen als politisch oder rechtlich relevant anerkennen und damit Gegenstand beziehungsweise Grundlage einer Handlungsorientierung werden. Phase der Elementarisierung: Was sind Situationselemente beziehungsweise Elemente der Deutung? Es werden einzelne Situationselemente als Analyseeinheiten von P ­ olicy-Diskursen beziehungsweise der Akteursseite fokussiert. Explizite Situationselemente sind

14  Handeln: Interpretative Fallanalyse

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unter anderem Normen, Wertmaßstäbe, Interessen oder Forderungen, anhand derer Probleme beziehungsweise Situationen überhaupt erst konstituiert und Handlungen orientiert werden. • Beispielsweise stellen Normen rechtliche Regeln oder politische Konventionen dar und sind über Sollen-, Dürfen- und Müssen-Aussagen zugänglich (Nullmeier 2013: 32). • Interessen stellen normative und kognitive Wissensbestände der Handelnden dar und können nach Münnich anhand der materiellen Position des Akteurs („Was brauche ich?“), seiner Ideen („Wie ist die Welt beziehungsweise wie soll die Welt sein?“) und der Interessenformierung beziehungsweise Interpretation der Handlungssituation („Was muss ich in der Situation, so wie ich sie wahrnehme, tun um zu bekommen, was ich brauche?“) erfasst werden (Münnich 2011: 384). Insgesamt wird die Aufmerksamkeit der Lernenden gelenkt auf Aspekte der deutenden Erzeugung politisch-rechtlicher Realität, wobei diese sich isoliert und einfach betrachten lassen ebenso wie verflochten und in komplexen Zusammenhängen. Phase der Komparation: Welche Kohärenzen oder Inkongruenzen bestehen zwischen den Situationsdefinitionen? Im Vergleich der Situationsdeutungen stehen Interaktionen, Verhandlungen und Argumentationen im Mittelpunkt. Interaktionsmuster können als Konflikt, Konsens, Kooperation oder Koalition expliziert werden. Die Interaktionsformen sind davon abhängig, inwieweit beispielsweise Interessen oder Ideenhorizonte geteilt und ähnlich in konkreten Situationen interpretiert werden (beispielsweise als unvereinbar, gegensätzlich, gegenteilig oder als einheitlich, zusammenhängend, zusammengehörig o. ä., vgl. Nullmeier 2008: 163–164). Komparation von Perspektivierungen oder Situationselementen ist ein möglicher Zugang zu Konsens-, kooperations- und konfliktbildenden Horizonten. Es können beispielsweise schrittweise die eigenen Ansprüche aus der Lebenswelt rekrutiert und in den Kontext diskursiver Verständigung gestellt werden oder Interessen und Werte von Akteuren als Gegenhorizonte verglichen werden. Phase der Strategieentwicklung: Wie muss ich kommunizieren, um potenziell gehört zu werden? In der Phase der Strategieentwicklung geht es darum, Anschlussmöglichkeiten an den Prozess öffentlich-diskursiver Auseinandersetzung zu eruieren, indem

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strategisch kommuniziert und so die Perspektive eines Teilnehmenden politischer Praxis (Mikfeld/Turowski 2014) eingenommen wird. Dafür werden • Bezüge zwischen der eigenen Situation und fremden beziehungsweise hegemonialen Problemdefinitionen hergestellt (Situationsdefinitionen), • eigene Interessen und Ideenhorizonte herausgestellt (Elementarisierung), • innerhalb der Lernendengruppe über den Vergleich von Distanz oder Nähe relationiert, • Haltungsallianzen gebildet oder verworfen (Komparation) und Forderungen für ein bestimmtes Thema formuliert sowie • Maßnahmen vorgeschlagen. Abschließend werden die Deutungen und Handlungsorientierungen in bedingende und ermöglichende Kontexte gestellt. Zusammenfassend werden anhand der interpretativen Fallanalyse Akteursdeutungen rekonstruiert, Reaktionen von Schülerinnen darauf provoziert und diese in strategisch-politische Kommunikation übersetzt, wodurch Voraussetzungen für politische Partizipation befördert werden. Insgesamt sind die Phasen so konzipiert, dass sie Schülerinnen zu Unterscheidungen herausfordern; Unterscheidungen zwischen Ansprüchen an die eigene private Autonomie und kollektiven diskursiven Verständigungen, zwischen Sinn und Richtung der individuellen Lebensführung und zivilgesellschaftlicher Kooperation, zwischen Ansprüchen und Erwartungen als unverwirklichte normative Ideen und normativen Aspekten, die in Kraft gesetzt sind. Dabei gemachte Erfahrungen von Fremdheit oder Distanz sind laufend zu thematisieren (beispielsweise die Distanz zu einer Deutung oder das Fremdheitsgefühl in dem analytischen oder strategischen Vorgehen).

Fazit und Ausblick

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Aufgabe und Anliegen der vorliegenden Studie ist es, systematisches Wissen darüber zu erzeugen, wie rechtliche Freiheit von Schülerinnen wahrgenommen wird (Teil 3 Ergebnisse). Rechtliche Freiheit ist etwas Gutes und Wertvolles, deren Sicherstellung durch strukturelle Rahmenbedingungen und veränderte Ansprüche gefährdet scheint (Teil 1 Rahmenkonzeption) und daher wieder gestärkt werden muss (Teil 3 Transfer). An der Schnittstelle zwischen politischer Bildung und Politischer Kultur kann es politische Bildung leisten, genau die Begegnung von politischem Handlungssystem und Lebenswelt zu organisieren und sie in eine Wechselbeziehung zu bringen. An der Schnittstelle zwischen politischer Bildung und ­Wahrnehmungs-/ Handlungstheorie manifestiert sich dabei jedoch ein Spannungsverhältnis: das Andere (Politische, Rechtliche usw.) wird erschlossen, allerdings immer nur mit den Mitteln, die speziell nur dem jeweilig Deutenden verfügbar sind (Ludwig 2005: 79). Rechtliche Freiheit wird deshalb als ein spezifisches inhaltliches Konzept politischer Bildung an der Schnittstelle zwischen fachlichen Disziplinen ausgewiesen, weil das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv hier gegenstandsspezifisch vorliegt: „Sich der rechtlichen Freiheit zu bedienen und sie zu praktizieren bedeutet, an einer gesellschaftlich institutionalisierten Handlungssphäre teilzunehmen, die durch Normen der wechselseitigen Anerkennung reguliert ist“ (Honneth 2017: 147). Individuelle Freiheit ist Resultat einer Verfahrensform gleicher Freiheit: „Die Individuen können den rechtlichen Schutz ihrer Privatsphäre nur in Anspruch nehmen, wenn sie sich auf den kommunikativen Hintergrund einer nicht rechtlich zustande gekommenen Lebenswelt verlassen können“ (Honneth 2017: 156). Individuelle Wahrnehmung, soziale Kommunikation und demokratische Interaktion sind an

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intersubjektive Voraussetzungen und Anerkennungsbeziehungen gebunden. In der politischen Bildungsarbeit kann dies an der Schnittstelle zwischen politischer Bildung und Lehr-Lerntheorie übersetzt werden in das Kultivieren von Fremdverstehen, Relationieren, Reflektieren und Handeln mit interpretativem Verstehen fördernden Methoden. Umgekehrt sei mit dieser abschließenden normativen Stellungnahme zu einem substanziell „gutem“ Verhältnis von Individuum und System, das Anerkennungsverhältnis in umgekehrter Richtung formuliert: Wenn man Demokratie als Prozess versteht, der durch Deutungskonflikte dynamisiert wird, dann kommt der Deutungsfähigkeit der Bürgerinnen obligatorische Bedeutung zu. Nicht nur die Deutungselite beziehungsweise professionelle Sinnproduzenten, sondern auch Bürgerinnen können potenziell Deutungsmacht schaffen, auch wenn sie keinen „mächtigen“ Status erhalten (Martinsen 2015: 52). Es wird Steffens in seiner Einschätzung gefolgt, dass ein „junger, heranwachsender Mensch (kann) sich in ein gesellschaftlich und politisch verstehendes Subjekt nur verwandeln (kann), wenn er eben zu dieser Sphäre diskursiver Selbstverständigungen der Gesellschaft Zugang gewinnt“ (Steffens 2003: 10). Junge Erwachsene sind als impulsgebende Interpreten einer offenen Gesellschaft ernst zu nehmen; dementsprechend ist zu ihrer Deutungsermächtigung beizutragen, wofür das Reflektieren von Diskursen und das Wahrnehmen-Können integrale Bestandteile darstellen.

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