Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit: Britische Exterritorialität im Osmanischen Reich 1825-1914 9783486713824, 9783486589467

Britische Rechtspraxis contra Souveränität des Osmanischen Reiches Westeuropäische Kaufleute genossen seit byzantinisc

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German Pages 317 [320] Year 2009

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Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit: Britische Exterritorialität im Osmanischen Reich 1825-1914
 9783486713824, 9783486589467

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Johannes Berchtold Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit

Studien zur Internationalen Geschichte Herausgegeben von Wilfried Loth und Eckart Conze, Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer und Jürgen Osterhammel Band 22

Johannes Berchtold

Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit Britische Exterritorialität im Osmanischen Reich 1825-1914

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Bibliografische

Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

„Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Sommersemester 2006 auf Antrag von Prof. Dr. Jörg Fisch und Prof. Dr. Christian Windier als Dissertation angenommen." © 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagbild: Kleinasien (Anatolien) 1905. Quelle: PhotoEurasia.com Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Satz: Gerbert-Satz, Grasbrunn b. München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58946-7

Inhalt

Vorwort

9

Zitierregeln und Schreibweisen Abkürzungen Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Karten

11 13 15 17

Einleitung

19

1. 2. 3. 4. 5. I.

Erkenntnisinteresse und Fragestellung Vorgehen und Eingrenzungen Quellen Forschungsstand und Literatur Der Begriff der Exterritorialität

Historische, rechtliche und sozioökonomische Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich 1. Spuren der Vergangenheit: Rechtsprivilegien in der Levante bis zum 20. Jahrhundert 1.1 Von den Chrysobullen zu den Kapitulationen 1.2 Neuer Kontext: die Kapitulationen seit dem späten 18. Jahrhundert . . . . 1.3 Die Aufhebung der Kapitulationen 2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit 2.1 Exterritorialität in Englands Kapitulationen, 1580-1675 2.2 Britische Regulierungen von den Anfängen bis 1843 2.3 Foreign Jurisdiction Act 2.4 Kronakte 3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts . . . . 3.1 Wirtschaftsinteressen 3.2 Britische Bevölkerung und ihre Schutzgenossen 3.3 Sozialstruktur der britischen Gemeinden von Konstantinopel und Smyrna

II.

20 24 28 31 37 41 41 42 45 50 54 54 56 61 64 65 67 71 77

Das Konsulargericht: Institutionen, Rechtsverfahren und Beziehungen zu anderen Gerichtshöfen

83

1. Die Provincial Consular Courts und der Levant Service 1.1 Der Provincial Consular Court in Smyrna 1.2 Der Richterkonsul 1.3 Zuständigkeiten der Provincial Consular Courts

84 87 89 93

6

Inhalt 2. Höhere Gerichtsbarkeit im Konsulargerichtswesen: der Supreme Consular Court und das Judicial Committee of the Privy Council 2.1 Die Bildung des Supreme Consular Court 1857 2.2 Organisation und Zuständigkeiten des Supreme Consular Court 2.3 Das Judicial Committee of the Privy Council 3. Rechtstransfer und eigenständige Rechtsbildung: zum Verhältnis zwischen englischem und konsularischem Rechtssystem 3.1 Rechtsgrundsätze der Konsularrechtsprechung 3.2 Rechtsverfahren im Konsulargericht 3.3 Parallelen zum englischen Rechts- und Gerichtssystem 4. Gerichtsinstitutionen für gemischte Rechtsfälle 4.1 Gemischt-europäische Rechtsfälle 4.2 Gemischte Rechtsfälle mit osmanischen Parteien

III.

IV.

Rechtsprechung und Rechtsvollzug in den Konsulargerichten von Smyrna und Konstantinopel

95 95 98 102 104 104 107 109 113 113 115 119

1. Das Konsulargericht und seine zivilrechtlichen Funktionen 1.1 Uberseehandel und Konsulargerichtsbarkeit 1.2 Die Bedeutung des Konsulargerichts für lokale britische Wirtschaftsaktivitäten 1.3 Arbeitskonflikte 1.4 Geringe Schulden 2. Friedenssicherung und Verbrechensbekämpfung: Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht 2.1 Fehlendes Anklagemonopol in der Strafverfolgung 2.2 Polizeigerichtsbarkeit und summarische Gerichtsverfahren 2.3 Anklageschriftliche Gerichtsverfahren 3. Das Problem der fehlenden Staatsmacht: Rechtsvollzug, Polizei und Gefängniswesen 3.1 Konsulatsgefängnisse 3.2 Grenzen des Rechtsvollzugs innerhalb des Osmanischen Reichs 3.3 Rechtsvollzug außerhalb des Osmanischen Reichs 4. Der Systemcharakter der britischen Konsulargerichtsbarkeit 4.1 Berufungsgerichtsbarkeit 4.2 Kontrolle und Hilfestellungen durch den Supreme Consular Court

181

Konsulargericht und britische Levantegemeinden: Ansichten einer komplexen Beziehung

189

1. Die Stellung des Konsulargerichts innerhalb der britischen Levantegemeinden 1.1 Informelle Beziehungen zwischen Gericht und Rechtssubjekten 1.2 Zwei Konzeptionen von Konsulargerichtsbarkeit 2. Legitimation durch Partizipation: Geschworene, Beisitzer und Schiedsmänner 2.1 Der Kampf um Geschworenengerichte in Zivilsachen 2.2 Partizipation in Geschworenengerichten 2.3 Beisitzer 2.4 Schiedsgerichte

119 120 123 134 136 140 141 148 153 160 163 169 172 174 175

191 192 203 209 210 216 220 222

7

Inhalt 3. In and out: Definitionen der britischen Rechtssubjekte im 19. Jahrhundert 3.1 Proteges 3.2 Naturalisierte Personen 3.3 Levantiner 3.4 Europäer unter britischer Protektion V.

224 225 229 231 235

Grenzen exterritorialer Gerichtsbarkeit

237

1. Eigenschaften und Probleme gemischt-europäischer Gerichtsbarkeit 1.1 Merkmale gemischt-europäischer Gerichtsbarkeit 1.2 Konflikte zwischen Konsulargerichten 1.3 Verfahrenskniffe 2. Klagen und beklagt werden vor lokalen Gerichten: die Rolle des Konsulargerichts in der gemischten Rechtsprechung 2.1 Die Rolle von Konsulaten, Supreme Court und Botschaft 2.2 Dragomanat 3. Gemischte Handels- und Zivilgerichtsbarkeit: die Tidjaret 3.1 Zur Entwicklung der Tidjaret im 19. Jahrhundert 3.2 Fallbeispiel: Gerichtsverhandlung der Tidjaret in Bursa 3.3 Großbritanniens Verhältnis zur Tidjaret

237 238 244 248 251 252 257 263 264 267 270

Fazit

275

Anhang

283

Quellen- und Literaturverzeichnis

289

1. Quellen 1.1 Unveröffentlichte Quellen 1.2 Gedruckte Quellen 1.3 Zeitgenössische Literatur mit Quellencharakter 2. Literatur Register

289 289 290 295 297 313

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version meiner Dissertation, die zwischen 2003 und 2006 in London entstanden ist und im Frühjahrssemester 2006 von der Philosophischen Fakultät der Universität.Zürich angenommen wurde. Auch wenn die Arbeit an dieser Studie zur Mehrheit in der Abgeschiedenheit von Archiven und Bibliotheken geschah, so wäre sie ohne Zutun von außen ein hoffnungsloses und ziemlich freudloses Unterfangen geblieben. Die Windungen und Richtungsänderungen dieses Buchprojekts und schließlich auch seine Festlegungen wurden von vielen Personen begleitet und wesentlich beeinflusst. Meinem Doktorvater Professor Dr. Jörg Fisch, der dieses Projekt angeregt und mit Geduld, Kritik und herausragender Expertise eng betreut hat, gebührt mein erster und größter Dank. Er hat mich auf ein wissenschaftliches Feld geführt, dessen Faszination und Suggestionskraft einzigartig sind. Professor Dr. Christian Windler danke ich für die Bereitschaft, das Zweitgutachten übernommen zu haben sowie für Vorschläge im Hinblick auf die Überarbeitung. In London hatte ich mit Will Hanley einen Fachgenossen zur Seite, der sich weit über die Thematik der Konsulargerichtsbarkeit und der Herausforderungen der Archivarbeit als hervorragender Gesprächspartner erwiesen hat. Danken möchte ich ebenfalls Kaspar Näf für ungezählte Anregungen, die er von einem verwandten Wissenschaftsfeld regelmäßig herübergespielt hat. Dem Manuskript in seiner ganzen Unzulänglichkeit hat sich Markus Ackeret mit diskretem, aber entschiedenem Korrekturstift angenommen. Sein herausragendes Verständnis für Sprache und Inhalt war von unschätzbarem Wert. Astrid Meier danke ich für ihre wertvollen Einwände und Anregungen aus osmanistischer Perspektive. Stellvertretend für die Herausgeber der „Studien zur Internationalen Geschichte" gebührt mein Dank schließlich Professor Dr. Wilfried Loth für die Bereitschaft, meine Dissertation in die Reihe aufzunehmen. Dass dieses Buch überhaupt entstehen konnte, verdanke ich im Besonderen zahlreichen Personen, die mir in London und von der Schweiz aus beispiellose Unterstützung zukommen ließen, die weit über die wissenschaftliche Arbeit hinausreichte. Ich danke im Speziellen meinen Eltern, Reto Lindegger und Marco Sager, Hans und Margret Oberhänsli, Eunice Wilson und Susan Wunderli sowie allen anderen direkt und indirekt beteiligten Freunden und Bekannten. Ohne ihre Hilfe, Präsenz, Gesprächsbereitschaft und nicht zuletzt Gastfreundschaft wäre ich nicht ans Ziel gekommen. Sommer 2008

Johannes Berchtold

Zitierregeln und Schreibweisen

RECHTSFÄLLE

Werden mit Kläger, Beklagtem, Ort und Jahr der Verhandlung, Archivsignatur (FO 626 für Smyrna, FO 780 für Konstantinopel) zitiert. Bei nicht-britischen Streitparteien wird die Staatsangehörigkeit in Klammern angegeben. Bsp.: King ν Ellul, Smyrna 1901, FO 626/20/846 Bsp.: Branzeau (Frankreich) ν Wilkinson, Konstantinopel 1882, FO 780/164 Bei Straffällen aus dem judges note book bzw. den register's notes aus Konstantinopel wird zusätzlich das genaue Datum der Verhandlung angegeben. Dies vereinfacht das Nachschlagen. Bsp.: Queen ν Genovese, Konstantinopel, 3.4.1901, FO 780/358 KRONAKTE (ORDERS IN COUNCIL)

Werden im Text mit OiC und dem entsprechenden Jahr angegeben. Bsp.: OiC 1873. Ein * markiert den zweiten Kronakt innerhalb eines Jahres. Die ausführlichen Titel der Kronakte sind im Quellenverzeichnis aufgeführt. ENGLISCHE GESETZE (STATUTES)

Zitierweise gemäß Oxford Standard for Citation of Legal Authorities 2005 (OSCOLA): Name des Gesetzes und Jahr, Kapitel, Paragraf, Anhang (Regierungsjahr des Monarchen, Monarch, Kapitel [c] der Gesetzessammlung). Bsp.: Foreign Jurisdiction Act 1878, pt2, s3, Sehl (41&42 Vict c 67) WÄHRUNGEN

Britische Währungen werden mit Pfund (£), Shilling (s) und Penny (d) angegeben. Das Pfund Sterling war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gegenüber dem türkischen Pfund (Goldlira, £T) auf folgenden Umrechnungskurs fixiert: £1 = £T1.10' bzw. £ T l = 100 Kurus/Piaster (Pstr.) = £0.909 ORTS- UND REGIONENNAMEN

Smyrna (Izmir) und Konstantinopel (Istanbul) werden in der zeitgenössischen Form verwendet, um Einheitlichkeit zwischen Quellen und Fliesstext zu schaffen. Dasselbe gilt für die Quartiere Galata und Pera (Beyoglu) sowie für gewisse Vorstädte der beiden Metropolen. Uberall sonst gelten die heute üblichen Orts- und Regionenbezeichnungen.

1

Jevket Pamuk, A Monetary History of the Ottoman Empire, Cambridge 2000, S. 209.

12

Zitierregeln und Schreibweisen

ORTS- UND REGIONENNAMEN

Smyrna (Izmir) und Konstantinopel (Istanbul) werden in der zeitgenössischen Form verwendet, um Einheitlichkeit zwischen Quellen und Fliesstext zu schaffen. Dasselbe gilt für die Quartiere Galata und Pera (Beyoglu) sowie für gewisse Vorstädte der beiden Metropolen. Uberall sonst gelten die heute üblichen Orts- und Regionenbezeichnungen.

Abkürzungen

Clunet d DNB FO FJA GK H.M./H.B.M. JCPC IJMES Κ LCC MESA NC OiC PCC PP PRO pt s/ss s

scc

Sch R.D.I.L.C. R.D.I. ρπνέ R.G.D.I.P. SP SS VK

Journal du droit international prive Penny/pence Oxford Dictionary of National Biography Foreign Office bzw. bei Archivangaben Foreign Office Series Foreign Jurisdiction Act Generalkonsul/Generalkonsulat Her Majesty/Her Britannic Majesty Judicial Committee of the Privy Council International Journal of Middle East Studies Konsul/Konsulat Local Consular Court Middle East Studies Association Naval Court Order(s) in Council (Kronakte) Provincial Consular Court Parliamentary Papers Public Record Office, Kew, London (heute: National Archives) Part (Kapitel in einem Gesetzestext) Section/s (Paragraf in einem englischen Gesetzestext) Shilling (in Zusammenhang mit Währungen) Supreme Consular Court Schedule (Anhang eines englischen Gesetzes) Revue de droit international et de legislation comparee Revue de droit international prive et de droit penal international Revue generale de droit international public State Papers Steam Ship Vizekonsul/Vizekonsulat

Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 1 Briten in ausgewählten Städten des Osmanischen Reichs, 1861 und 1870 . . Tabelle 2 Registrierte Personen im britischen Konsulardistrikt Konstantinopel, 1844-1853 Tabelle 3 Britische Schutzgenossen in der Levante, 1856, 1870 und 1886 Tabelle 4 Registrierte Personen unter britischem Schutz, Konstantinopel 1887 Tabelle 5 Registrierte Personen unter britischem Schutz, Smyrna 1887 Tabelle 6 Briten und Malteser in Konstantinopel nach Berufsgruppen, 1887 Tabelle 7 Briten und Malteser in Smyrna nach Berufsgruppen, 1887 Tabelle 8 Personen unter britischer Gerichtsbarkeit in ausgewählten Orten des Osmanischen Reichs, 1870 Tabelle 9 Zivil- und Strafrechtsfälle vor britischen Konsulargerichten in ausgewählten Orten des Osmanischen Reichs, 1858-1874 Tabelle 10 Beschäftigte am Konsulargericht in Smyrna, 1870 und 1888 Tabelle 11 Vizekonsulate im Konsulardistrikt von Smyrna, 1871 Tabelle 12 Vizekonsulate im Konsulardistrikt von Konstantinopel, 1885 Tabelle 13 Zivilrechtsfälle nach Streitwert, Smyrna 1858-1875 Tabelle 14 Zivilrechtsfälle mit Streitwerten über £T100, Konstantinopel 1877-1895 . Tabelle 15 Zivilrechtsfälle nach Branchen, Konstantinopel 1873-1903 Tabelle 16 Zivilrechtsfälle nach Branchen, Smyrna 1860-1914 Tabelle 17 Kläger und Beklagte in wirtschaftsrelevanten Zivilrechtsfällen, Smyrna 1860-1914 Tabelle 18 Klagegründe in Zivilrechtsfällen, Smyrna 1860-1914 Tabelle 19 Gerichtsgebühren und Gerichtsausgaben in £.s.d., Smyrna 1865-1869 . . . Tabelle 20 PCC Smyrna: Summarische Straffälle aus 29 Jahren zwischen 1845 und 1900 Tabelle 21 Straffälle vor dem Supreme Consular Court, 29.7.-31.8.1895 Tabelle 22 PCC Smyrna: Straffälle und Strafmaße aus 27 Jahren zwischen 1845 und 1900 Tabelle 23 Auszug aus dem Strafregister von Nazir Borg, Smyrna 1889-1890 Tabelle 24 Häftlinge und Hafttage, Konsulatsgefängnis Konstantinopel 1859-1867 . . Tabelle 25 Häftlinge und Hafttage, Konsulatsgefängnis Konstantinopel 1884-1890 . Tabelle 26 Häftlinge und Hafttage, Konsulatsgefängnis Smyrna 1861-1864 Tabelle 27 Kosten für Gefangenenunterhalt in Konstantinopel, 1883-1890 Tabelle 28 Berufungsfälle vom Supreme Consular Court in Konstantinopel an das Judicial Committee of the Privy Council QCPC), 1857-1914 Tabelle 29 Berufungsfälle in Zivilfragen vor dem Supreme Consular Court, 1874-1892

72 72 77 78 78 82 82 85 87 88 88 99 121 122 124 124 126 136 139 147 150 150 153 167 167 167 169 179 180

Verzeichnis der Karten

Karte Karte Karte Karte Karte Karte

1 2 3 4 5 6

Das Osmanische Reich am Ende des 18. Jahrhunderts Konstantinopel - die Quartiere Pera und Galata 1881 Konsulardistrikt von Smyrna Konsulardistrikt Konstantinopel und Umgebung Konsulatsgebäude Smyrna mit Gerichtsraum und Gefängnis, 1877 Generalkonsulat, Supreme Consular Court und Spital Konstantinopel 1888

46 68 90 100 165 166

Einleitung The British Consul in the Levant is intrusted with both civil and criminal jurisdiction. Fortunately he has not the power of awarding capital punishment; but he has almost every other: he may banish, dishonour, imprison, and fine at pleasure; he is banker, notary arbitrator, judge, priest, registrar, and administrator of dead men's goods; untold property is confided to his care; the many interests of travellers and merchants are almost entirely intrusted to him; [...] The British Consul has such weight and authority among the Turks, that he may cause almost any amount of mischief unchecked. There is no press to watch his doings; no society to cry shame on him; no means by which an ignorant Maltese or Ionian can make a grievance known and obtain redress. There is indeed no control of any kind over your British Consul; and a very august and singular personage he has become in consequence. 2 (Eustace Murray, 1855)

Eustace Murray, Attache in Konstantinopel und später britischer Generalkonsul in O d e s s a , war kein M a n n der Zurückhaltung. Seine polemischen und scharfzüngigen Lebensbilder aus der Levante zeichnen eine Karikatur des britischen Konsularwesens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die weder seinen eigenen Berufsstand noch seinen Arbeitgeber von der Kritik ausnimmt. Murrays Betrachtungen sind dabei in vielfacher Hinsicht aufschlussreich, vor allem aber eröffnen sie - wenngleich oftmals zugespitzt - Einsichten in die einzigartige Rechtswirklichkeit, mit der Europäer in der Levante konfrontiert waren. D e r rechtsprechende K o n s u l war bereits lange vor dem 19. Jahrhundert eine zentrale Figur und ein herausragendes Charakteristikum der europäischen Gemeinschaften im O s m a n i schen Reich. D i e Gerichtsbarkeit von K o n s u l n hatte ihre Wurzeln im Byzantinischen Reich und lässt sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen. In erster Linie kamen Kaufleute aus den italienischen Stadtstaaten in den G e n u s s weit reichender Handels-, Residenz- und Rechtsprivilegien, die es ihnen ermöglichten, sich als eigenständige, teilautonome Gemeinschaften in der Levante zu organisieren. 3 Unter den O s m a n e n fand die Sonderstellung europäischer Kaufleute nahtlos Fortsetzung und wurde in Privilegienvergaben des Sultans, so genannten Kapitulationen, verbrieft. D a m i t war ein Rahmenwerk geschaffen, das vom 16. Jahrhundert an auf nahezu alle europäischen Staaten A n w e n d u n g fand und in erster Linie G r u n d s ä t z e für das Leben und Arbeiten der christlichen Händlergemeinschaften innerhalb der osmanischen Gesellschaft festlegte. Im Lichte einer späteren Rezeptionsgeschichte ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Kapitulationen und mit ihnen die Konsulargerichtsbarkeit anfänglich nicht als Eingriffe in die Souveränität eines lokalen Herrschers galten, sondern diesem zumeist als Mittel dienten, Kaufleute und damit Handel anzuziehen. 4 L a n g e Zeit blieben europäische Kaufmannsgemeinschaften auf die Hafenstädte der Levante und die alten Handelsstädte im Landesinnern konzentriert. Erst von der zweiten H ä l f t e des 18.Jahrhunderts an und dann forciert nach 1815 begannen viele europäische Staaten, ihr Konsulatsnetz im ganzen Osmanischen Reich auszubauen. Diese Entwicklung war einerseits die Folge einer wachsenden europäischen Einwanderung in die Levante, 2

3

4

Eustace Clare Grenville Murray, The Roving Englishman in Turkey. Sketches from Life, London 1855, S. 50f. Zur bewegten Lebensgeschichte Murrays (1824-1881) vgl. D N B , Bd. 39, 2004, S.919f. Der Begriff „Levante" wird in dieser Untersuchung mit William Harris in der Bedeutung des späten 19.Jahrhunderts verwendet, als „the .Levant' became localized to the coastlands of .Syria', Asia Minor and Egypt, and particularly associated with the cosmopolitan merchant communities of Beirut, Izmir (Smyrna), and Alexandria". William Harris, The Levant. A Fractured Mosaic, Princeton 2003, S.2. Vgl. Jörg Fisch, Law as a Means and as an End: Some Remarks on the Function of European and Non-European Law in the Process of European Expansion, in: Wolfgang J. Mommsen u. Jaap A. de Moor (Hrsg.), European Expansion and Law. The Encounter of European and Indigenous Law in 19th- and 20th-century Africa and Asia, Oxford 1992, S. 15-38, S.23.

20

Einleitung

anderseits reflektiert sie ein allgemein gestiegenes ökonomisches und politisches Interesse in Europa am Osmanischen Reich. Der Ausbau des Konsularwesens zeitigte tief greifende Konsequenzen für die Rechtsautonomie der europäischen Gemeinschaften. Hatten Konsuln ihre richterlichen Aufgaben zuvor nur informell und außerhalb jeder institutionalisierten Form von Rechtsprechung wahrgenommen, begannen sich im 19. Jahrhundert eigentliche Gerichtsinstitutionen innerhalb der Händlerkolonien herauszubilden. Gerichtshöfe, Verfahrenskodizes und Berufungsinstanzen differenzierten sich aus den überkommenen Ad-hocGerichten früherer Jahre aus. Rechtsprechung und Gerichtsbehörden wurden vielfach professionalisiert, und ein eigentlicher Rechtstransfer von europäischen Ländern in die Levante setzte ein. Der Übergang von einer informellen zu dieser mehr formell-institutionalisierten Art und Weise, Recht zu sprechen, lässt sich am Beispiel Großbritanniens exemplarisch nachzeichnen. Ein konstanter Aus- und Umbau der Gerichtsinstitutionen von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an zwang das britische Konsulargerichtswesen in eine verhältnismäßig straffe Organisationsstruktur. Keine andere europäische Kapitulationsmacht im Osmanischen Reich konnte Ahnliches vorweisen. Im Jahre 1870 standen nahezu 11000 Briten und mehr als 1700 Schutzbefohlene (Proteges) unter der Aufsicht von insgesamt 48 konsularischen Provinzgerichten, die von Konstantinopel aus zentral durch den Supreme Consular Court koordiniert wurden.5 Das Gebiet, in welchem britische Konsuln Gerichtsbarkeit ausübten, erstreckte sich über Tausende von Kilometern von der Adriaküste bis nach Basra und von Trabzon bis Jeddah. Die meisten Rechtsgeschäfte fielen indessen in Konstantinopel sowie in den regionalen Zentren Smyrna, Alexandria und Kairo an. 1870 registrierte der Generalkonsul in Konstantinopel 148 Zivil- und 157 Strafrechtsfälle, der Konsul in Smyrna 60 Zivil- und sieben Strafrechtsfälle, die vor die Konsulargerichte gelangten. In den abgelegenen Provinzorten spielte der Richterkonsul hingegen eine bedeutend geringere Rolle. Eine Konzentration auf die Zentren scheint unter diesen Umständen gerechtfertigt zu sein.

1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung Vieles weist darauf hin, dass trotz des vergleichsweise klaren institutionellen Aufbaus einiges mit dem britischen Konsulargerichtswesens im Argen lag. Eustace Murrays eingangs zitierte Kritik an angeblich unkontrollierten Vollmachten und arbiträrem Verhalten der Konsuln fand in zeitgenössischen Betrachtungen und Erlebnisberichten ein zigfaches Echo. Doch nicht nur die Amtsführung der Konsuln, auch Konstitution und Spruchpraxis der Gerichte stießen bei Betroffenen und Kommentatoren oft auf wenig Gnade. Später wird sich der Topos, bei der Konsulargerichtsbarkeit habe es sich um eine im Kern missbräuchliche Institution gehandelt, nahtlos in eine Rezeption einfügen lassen, die Konsulargerichtsbarkeit in erster Linie als imperialistisches Machtmittel europäischer Staaten im 19. Jahrhundert sieht, politische, strategische und ökonomische Interessen im Osmanischen Reich durchzusetzen.6 Diese Kritik sieht Konsulargerichtsbarkeit als Teil einer umfassenden Bevormundung des Osmanischen Reichs durch europäische Staaten in klassischen Hoheitsbereichen wie Staatsfinanzen, Verkehrsinfrastruktur, Militär oder eben Justiz. Konsulargerichtsbarkeit erscheint unter diesem Blickwinkel bloß als eines unter vielen Mitteln, Kontrolle über das Osmanische Reich auszuüben. Kritik dieser Art nährt sich aus einem rigiden Souveräni5 6

Für diese und die folgenden Zahlenangaben vgl. F O (Foreign O f f i c e Series) 78/2165. Für eine ausführliche Literaturdiskussion, welche die im Folgenden erwähnten Forschungspositionen im Detail erläutert, vgl. Abschnitt 4 dieser Einleitung.

1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung

21

tätsdenken, das jede Art von exterritorialer Gerichtsbarkeit als Einbruch in die Souveränität des betroffenen Staates versteht.7 Das Missbräuchliche an der Konsulargerichtsbarkeit ist nun nicht mehr die zweifelhafte Amtsführung der Konsuln oder eine den lokalen Verhältnissen unangemessene Rechtsprechung, sondern der Wille der europäischen Mächte, auf ihren Sonderrechten gegenüber einem souveränen Staat zu beharren. Es kann an dieser Stelle nicht um eine Neubewertung der dominanten Rolle der europäischen Staaten im Osmanischen Reich gehen. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass die europäischen Staaten insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einfluss und Hoheitsrechte auf dem Territorium des Osmanischen Reichs ausübten, die der formalen Anerkennung des Osmanischen Reichs als eines souveränen Staates diametral entgegenstanden. Das völkerrechtliche Gebot von der Staatengleichheit war in jedem Fall verletzt. Unter keinen Umständen hätten die europäischen Kapitulationsstaaten osmanischen Untertanen reziproke Rechtsprivilegien auf ihren Territorien zugestanden. Konsulargerichtsbarkeit war seit dem späten 18. Jahrhundert offensichtlicher Ausdruck dieser Asymmetrie und damit deutlichstes Zeichen einer bevormundenden Politik gegenüber dem Osmanischen Reich. Nun gilt es jedoch klar zu unterscheiden zwischen Rechtsprivilegien, die gewährt wurden, auf denen die europäischen Staaten beharrten und die in der Folge zur Chiffre einer imperialistischen Politik wurden, und einer Rechtswirklichkeit, die unter Umständen weit entfernt von jener Wirkungsmächtigkeit liegen konnte, die den Konsulargerichten häufig zugesprochen wird. Mit anderen Worten: Das Beharren auf exterritorialen Rechten zeigt wohl einen interventionistischen und machtbewussten Geist am Werk, sagt aber für sich genommen noch nichts darüber aus, ob und wieweit sich jene exterritorialen Privilegien praktisch überhaupt durchsetzen ließen. An diesem Punkt nun setzt die vorliegende Studie an. Während zeitgenössische Kritik in der Regel explizit auf Missstände in der Ausübung der richterlichen Pflichten hinweist, geht moderne Kritik an der Konsulargerichtsbarkeit gemeinhin von der impliziten Annahme aus, das System habe zur Zufriedenheit gearbeitet und gerade deshalb eine dominante Stellung innerhalb der osmanischen Gerichtstopografie erlangen können. Eine solche Schlussfolgerung geht unter anderem auf eine Interpretation zurück, welche normative Texte wie die detaillierten britischen Gerichtsordnungen zum Nennwert nimmt. Dass sich der Gerichtsalltag mitunter weit außerhalb der vorgeschriebenen Verfahrenswege abspielen konnte, ist erst einmal eine plausible Vermutung, sodann aber auch eine Erkenntnis, die sich aus dem Studium der Rechtsfälle aus den Konsulargerichten ergibt. Es ist das Ziel der vorliegenden Studie, diese Rechts- und Gerichtswirklichkeit über die Akten der britischen Konsulargerichte zu rekonstruieren. Dadurch soll beurteilt werden können, welche Relevanz den Konsulargerichten tatsächlich zukam, welchen Einfluss sie zu entfalten vermochten und ob sie dabei überhaupt in der Lage waren, britische Interessen im Osmanischen Reich zu fördern. Ein solches Unterfangen wurde bislang für die europäischen Konsulargerichte in der Levante noch nicht unternommen. Die Rechtswirklichkeit in den britischen Konsulargerichten der Levante lässt sich erst dann annähernd adäquat erfassen, wenn Rechtsinstitutionen, Rechtsnormen und Rechtsprechung nicht isoliert, sondern im Kontext spezifischer politischer, ökonomischer und sozialer Bedingungen untersucht werden. Diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt für die methodische und inhaltliche Erschließung des Themas und führt zu folgenden vier Untersuchungsfeldern, um welche die Arbeit zu den britischen Konsulargerichten zentriert ist. 7

Zu den Begriffen „Exterritorialität", „exterritoriale Gerichtsbarkeit" und „Konsulargerichtsbarkeit" vgl. Abschnitt 5 dieser Einleitung.

22

Einleitung

Erstens fügt sich diese Studie in die Geschichtsschreibung zum Zusammenhang von europäischer Expansion und Recht ein. Die Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich im 19.Jahrhundert muss im Kontext einer starken Verbreitung exterritorialer Gerichtsbarkeiten in verschiedenen anderen Weltgegenden gesehen werden, so u.a. in China, Japan und in verschiedenen afrikanischen Gebieten. Im Rahmen dieser Entwicklung wird die Frage gestellt, ob die Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich als Teil einer übergeordneten Strategie angesehen werden muss, Gerichtsbarkeit über Briten in Übersee auszuüben. Überdies gilt es die Anstrengungen Großbritanniens im Auge zu behalten, seinen Gerichtsverwaltungen in den durch koloniale Expansion erworbenen Gebieten Nachdruck zu verschaffen. Ein Schwerpunkt der Studie liegt, zweitens, auf der Institution, wobei zwei Fragen das Erkenntnisinteresse leiten: Konnten die britischen Konsulargerichte im Osmanischen Reich leisten, was ihnen gemeinhin zugesprochen wird? Und waren sie überhaupt in der Lage, die Erwartungen zu erfüllen, die Zeitgenossen in sie setzten? U m diese Fragen zu beantworten, muss in einem ersten Schritt der institutionelle Aufbau der Konsulargerichte erfasst werden. Gerichtshöfe und deren Organisationsstruktur, angewandtes Recht und vorgesehene Verfahren müssen im Hinblick darauf untersucht werden, inwieweit vom Konsulargerichtswesen als einem zusammenhängenden System gesprochen werden kann. Die institutionelle Verfestigung der Konsulargerichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts legt überdies die Frage nahe, ob es sich hierbei um die Umsetzung einer Strategie handelte oder bloß um partielle Eingriffe zur besseren Bewältigung des Gerichtsalltags. U m die Konsulargerichte als ein komplexes System verstehen zu können, muss der Institutionenbegriff allerdings weiter gefasst werden: Die Richter und deren Rechtsprechung müssen ebenso in die Untersuchung einbezogen werden wie die prozessführenden Parteien und die Vollzugsbehörden sowie die direkt oder indirekt in die Rechtsprechung involvierten Akteure wie Geschworene, Beisitzer, Rechtsanwälte, Experten, Publikum und Presse. Um diese Art von institutioneller Wirklichkeit zu erfassen, sind in erster Linie die Rechtskonflikte zu untersuchen, in welche die erwähnten Akteure involviert waren - mithin die Rechtsfälle, die im Gerichtsalltag anfielen und zu bewältigen waren. Diese gilt es von den Rechtsstreitigkeiten zu unterscheiden, die außerhalb derjenigen Gerichtsinstitutionen auftraten, die als „distinctively legal" bezeichnet werden können. 8 Für Rechtshändel zwischen Mitgliedern von Handelsgesellschaften oder Faktoreien bestanden teilweise berufsspezifische Schlichtungsverfahren, in die das Konsulargericht nicht involviert war. Aber auch die Konsuln selbst unternahmen mitunter Anstrengungen, Streitigkeiten außerhalb des Gerichtsraumes auf gütliche oder schiedsrichterliche Weise beizulegen. Solche Konflikte sind allerdings sehr schlecht dokumentiert und daher nur am Rande Thema dieser Studie. Schließlich müssen die Grenzen der Institution Konsulargerichtsbarkeit erfasst werden. Es ist ein Wesensmerkmal der Konsulargerichte, dass sie stets mit verschiedenen anderen Gerichtshöfen innerhalb desselben Territoriums koexistieren mussten. Dieser Zustand wird in der Regel als legal pluralism bezeichnet, wobei für die vorliegende Studie die historisch-juristische Bedeutung des Begriffs eine Rolle spielt, nämlich das historisch bedingte Nebeneinander von Gerichtsinstitutionen. 9 Im Rahmen einer komplexen Gemengelage von lokalen und europäischen Gerichten ist danach zu fragen, wie weit der Einfluss der britischen Zu dieser Unterscheidung vgl. David Sugarman, Writing „Law and Society" Histories, in: The Modern Law Review 55/2 (1992), S. 292-308, S.293. 9 John Griffiths unterscheidet in seinem Grundsatzartikel zum legal pluralism zwischen einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von legal pluralism, d.h. einem empirischen Zustand einer Gesellschaft, innerhalb derer verschiedene Rechtscodes koexistieren, aber nicht zu einem einzigen System gehören, 8

1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung

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Konsulargerichte überhaupt reichte. Wie offensiv bzw. defensiv verhielten sie sich gegenüber anderen Jurisdiktionen und was geschah, wenn verschiedene Gerichtsbehörden Zuständigkeit in der gleichen Rechtsfrage reklamierten? Ein drittes Untersuchungsfeld kann mit dem Titel „Rechtstransfer" überschrieben werden. Konsulargerichte funktionierten im Falle des Osmanischen Reichs zwar im Kontext eines mehrheitlich islamischen Rechtssystems; institutionelle und rechtliche Ausgestaltung hatten ihren Ursprung jedoch in den Rechtsordnungen der einzelnen europäischen Kapitulationsstaaten. Unter dem Eindruck eines starken Ausbaus der Gerichtsinstitutionen im ^ . J a h r hundert zog mancher Beobachter den Schluss, Konsulargerichte repräsentierten nichts anderes als exportierte europäische Rechtssysteme. Selbst wenn dies die Intention der europäischen Mächte gewesen wäre, so bliebe dennoch zu untersuchen, wie sich ein solcher Rechtstransfer praktisch hätte umsetzen lassen. Die Annäherung an diesen Themenkomplex hat dreifach zu geschehen. Erstens müssen britische Gerichtsinstitutionen in der Levante mit denjenigen in England verglichen werden. Dies ist nur ein Nebenaspekt der Studie, es zeigt sich aber schon auf dieser ersten Ebene, inwiefern die Rede von einem Rechtstransfer zutreffend ist. Zweitens, und wichtiger, gilt es danach zu fragen, welcher Teil des englischen10 Rechts in den Konsulargerichten Anwendung fand und ob es Modifikationen oder lokal spezifischen Auslegungen unterworfen war. Drittens schließlich bleibt die Haltung der britischen Gemeinden in der Levante gegenüber einem solchen Rechtstransfer zu untersuchen. Briten im Osmanischen Reich konnten das englische Rechtssystem als den levantinischen Verhältnissen fremd und unpassend, im Extremfall sogar als Zwang empfinden. In diesem Zusammenhang wird es wichtig sein, die sozioökonomischen Grundlagen der britischen Levantegemeinden näher zu betrachten, aus denen erst die spezifischen Erwartungen der Briten an ihre Gerichtsinstitutionen verständlich werden. Der Themenkomplex „Rechtstransfer" läuft somit nicht auf einen systematischen Vergleich zwischen Rechtssystemen hinaus; vielmehr geht es darum, Kontinuitäten bzw. Brüche zwischen der britisch-konsularischen und der englischen Rechtswelt aufzuzeigen. Dies soll helfen, das Spezifische an den Konsulargerichten in der Levante zu erfassen. Ein viertes Untersuchungsfeld schließlich berührt - im Anschluss an die oben angedeutete Entfremdungsmöglichkeit - die zentrale Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gericht und den ihm zugeordneten Rechtssubjekten. Die Konsuln waren die Vorsteher der europäischen Gemeinden im Osmanischen Reich, die in den Quellen und der Literatur als „Kolonien" oder „Nationen" bezeichnet werden.11 Entsprechend übte der Konsul weit mehr Funktionen aus als ein Richter. Das Verhältnis zwischen Konsul und Gemeinde darf

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und einer juristischen Sicht von legal pluralism, welche im Zuge der europäischen Überseeexpansion entstand und eine duale Ordnung von existierenden lokalen und europäischen Rechtssystemen beschreibt. John Griffiths, What is Legal Pluralism?, in: Journal of Legal Pluralism 2 4 / 1 (1986), S. 1-55, S. 5ff. In dieser Bedeutung wird der Begriff auch verwendet von Michael Barry Hooker, Legal Pluralism: An Introduction to Colonial and Neo-Colonial Laws, Oxford 1975, S. 6ff. In den Konsulargerichten kam englisches, nicht schottisches oder irisches Recht zur Anwendung. Im Folgenden wird „englisch" in Zusammenhang mit dem englischen Rechtswesen sowie mit den frühen Kapitulationen verwendet. In allen anderen Fällen wird von „britisch" die Rede sein. „Kolonie" beschreibt eine Gruppe von Europäern, die seit dem späten 16. Jahrhundert im Osmanischen Reich residierten. Der Begriff macht keine Anlehnung an irgendeine Art von kolonialer Abhängigkeit des Osmanischen Reichs. In diesem spezifischen Sinn wird der Begriff „Kolonie" in dieser Arbeit gebraucht. Ab dem 18. Jahrhundert verwendeten Europäer allerdings mehrheitlich den Begriff „Nation", „terme qui renvoie ä une definition plus etroite, ä toute une serie de regies tres strides qui regissent la .colonie'". Marie-Carmen Smyrnelis, Europeens et Ottomans ä Smyrne (de la fin du XVIIle siecle ä la fin du X I X e siecle), in: Meropi Anastassiadou u. Bernard Heyberger (Hrsg.), Figures anonymes, figures d'elite: pour une anatomie de l'Homo ottomanicus, Istanbul 1999, S. 119-133, S. 120.

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Einleitung

keineswegs als einvernehmlich vorausgesetzt werden: Weder führte das osmanische Umfeld zwingend zu einem solidarischen Verhalten innerhalb der britischen Gemeinden noch entstanden Konflikte primär zwischen osmanischer und britischer Bevölkerungsgruppe. Unter der Voraussetzung, alle Rechts- und Autoritätsverhältnisse seien grundsätzlich konfliktanfällig, müssen auch die Beziehungen zwischen dem Richterkonsul und den Mitgliedern der britischen Kolonien als potenziell instabil angenommen werden. Allein schon die beschränkten Vollzugsgewalten des Konsuls liefern einen deutlichen Hinweis dafür, dass die Autorität des Richterkonsuls innerhalb der britischen Gemeinden bei weitem nicht selbstverständlich war. Friktionen zwischen Konsul und Gemeinde konnten unter anderem dort entstehen, wo die Verwaltungs- und Gerichtsorganisationen der verschiedenen Konsulardienste ein national geprägtes Raster über die europäische Bevölkerung in der Levante legten, das mit den Gruppen- und Einzelidentitäten der Gemeindemitglieder keineswegs deckungsgleich sein musste. Die Unterstellung unter eine bestimmte Jurisdiktion erfolgte mehrheitlich aufgrund nationaler Kriterien, und die Gerichte zogen klare Grenzen zwischen den verschiedenen europäischen und osmanischen Gemeinschaften. Alltag, Wirtschaftstätigkeiten und kulturelle Lebenswelt der Levantebewohner blieben dagegen stets über- und zwischennational bestimmt. Es wird daher für die vorliegende Studie zentral sein, der Frage nachzugehen, wie stark sich die britische Levantebevölkerung ihren Gerichtsinstitutionen zugehörig fühlte, wie umsichtig ihre Mitglieder davon Gebrauch machten und wie sie in diversen Funktionen selbst an der Rechtsprechung der Konsulargerichte partizipierten. Aus diesen vier Untersuchungsfeldern ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Im ersten Hauptteil wird ein Uberblick über die historischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit in der Levante gegeben; der zweite Hauptteil ist institutionenzentriert und gibt eine Gesamtansicht des britischen Konsulargerichtswesens im 19. Jahrhundert; im dritten Hauptteil wird untersucht, wie das Konsulargericht seine Rechtsprechungsfunktionen erfüllte und wie effizient dies geschah; der vierte Hauptteil beleuchtet aus einer Binnenperspektive das Verhältnis zwischen Gericht und britischer Gemeinde; der fünfte Hauptteil schließlich positioniert das Konsulargericht im Kontext der europäisch-osmanischen Gerichtstopografie und geht den Grenzen der britischen Konsulargerichtsbarkeit nach.

2. Vorgehen und Eingrenzungen Die Untersuchung zur Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich konzentriert sich weitgehend auf die beiden Hafenstädte Smyrna und Konstantinopel. Die zeitgenössischen Städtenamen werden dabei den modernen Bezeichnungen Izmir und Istanbul vorgezogen, um Einheitlichkeit zwischen zitierten Quellen und Haupttext zu schaffen. Die Berücksichtigung der Konsulargerichte von Smyrna und Konstantinopel hat in erster Linie mit den Gerichtsakten zu tun, die nur aus diesen Konsulaten erhalten geblieben sind bzw. nur dort mit einiger Regelmäßigkeit angelegt wurden. Die anderen Konsulargerichte werden in dieser Studie nur im Zusammenhang mit Berufungsfällen berücksichtigt oder dann, wenn die konsularische Korrespondenz Aufschlüsse über die Gerichtsarbeit gibt. Neben quellentechnischen Gesichtspunkten rechtfertigen auch systematische Aspekte eine Konzentration auf Smyrna und Konstantinopel. Die beiden Hafenstädte bildeten - von Ägypten einmal abgesehen - bei weitem die größten britischen Gemeinden im Osmanischen Reich. Entsprechend zahlreicher waren die Rechtsfälle an diesen Orten im Vergleich zu den Gerichtshöfen an den Dardanellen, in Saloniki, Aleppo, Jerusalem, Trabzon oder Bagdad.

2. Vorgehen und Eingrenzungen

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Die Bedeutung von Smyrna und Konstantinopel zeigt sich überdies in einem starken Bevölkerungswachstum im 18. und 19. Jahrhundert, an dem europäische Einwanderer einen nicht geringen Anteil trugen. Darüber hinaus waren beide Hafenstädte (port-cities) für den britischen Handel von höchster Relevanz: Konstantinopel in erster Linie im Rahmen des Schwarzmeerhandels, Smyrna als Ausgangspunkt für die wirtschaftliche sowie verkehrsund kommunikationstechnische Erschließung des kleinasiatischen Hinterlandes. Schließlich repräsentierte der Provincial Consular Court (PCC) in Smyrna die erste britische Gerichtsinstanz, während der Supreme Consular Court (SCC) in Konstantinopel das oberste britische Berufungsgericht im Osmanischen Reich war. Nur am Rande berücksichtigt werden die britischen Konsulargerichte in Ägypten. Diese basierten auf gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen als die Konsulargerichte in den anderen Teilen des Osmanischen Reichs.12 Wenn gleichwohl hin und wieder auf Ägypten verwiesen wird, so einerseits, um auf Probleme aufmerksam zu machen, die sich im Zusammenhang mit der Konsulargerichtsbarkeit in Ägypten stellten und die oft Auswirkungen für das gesamte Konsulargerichtswesen in der Levante zeitigten; und anderseits, weil der Supreme Court in Konstantinopel das Berufungsgericht für Ägypten war und es daher vertretbar ist, auch Berufungsfälle und damit verbundene Korrespondenz aus Alexandria, Port Said oder Kairo zu berücksichtigen. Zeitlich beginnt die Untersuchung mit der Auflösung der Handelsgesellschaft Levant Company und der Verstaatlichung des britischen Konsularwesens im Osmanischen Reich im Jahre 1825. Die Konsulargerichte standen fortan unter der Aufsicht des britischen Außenministeriums (Foreign Office, FO). Die Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich endete rund 90 Jahre später, im September 1914, als die osmanische Zentralregierung (Pforte) die Kapitulationen aller Staaten einseitig aufhob. Nach 1918 nahmen die Konsulargerichte kurzzeitig ihre Arbeit zwar wieder auf, der Lausanner Vertrag von 1923 beschloss die Ära exterritorialer Gerichtsbarkeit in der Türkei aber endgültig. Die Geschichte der Konsulargerichte kann aus drei grundsätzlich verschiedenen Blickwinkeln erzählt werden. Erstens lassen sich Organisation und Rechtsprechung einer nationalen Konsulargerichtsbarkeit darstellen. Dieser Innenperspektive folgt die vorliegende Studie über weite Teile, daraus erklärt sich auch die Konzentration auf britisches Quellenmaterial. Das britische Fallbeispiel wurde deshalb gewählt, weil Großbritannien über die am besten ausgebauten Gerichtsinstitutionen verfügte und als einzige Kapitulationsmacht

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Britische Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich erstreckte sich während des gesamten 19. Jahrhunderts immer auch auf Ägypten. Zwar stand Ägypten bis zur Proklamierung des britischen Protektorats 1914 nominell unter der Souveränität der Pforte, faktisch jedoch ging Ägypten seit der Herrschaft Muhammad Alis eigene Wege. Deutlich zeigt sich dies am Beispiel der Konsularjurisdiktion. Muhammad Ali versuchte, europäische Kaufleute, Gelehrte und Reisende mit umfangreichen Privilegien ins Land zu locken. N a c h und nach erlangten europäische Konsuln in Ägypten vollständige Gerichtsbarkeit über ihre Landsleute in sämtlichen Rechtsfragen. Lokale Gerichtsbarkeiten wurden dadurch marginalisiert. Gemischte Rechtsfälle zwischen Einheimischen und Europäern, für welche in den anderen Teilen des Osmanischen Reichs ein einheitliches Rechtsverfahren vor einem lokalen Gericht galt, waren in Ägypten ungezählten europäischen Konsulargerichtsbarkeiten vorbehalten. Erst die Errichtung der so genannten mixed courts 1875 vermochte diesen Zuständen einen Riegel vorzuschieben. Bei den Konsulargerichten verblieben die vollständige Strafgerichtsbarkeit über Europäer sowie Fragen des personal status. Aber auch dann noch verfügten die britischen Konsuln in Ägypten über die umfassenderen Vollmachten als ihre Kollegen in den übrigen Teilen des O s m a nischen Reichs. Vgl. Mark Hoyle, Mixed Courts of Egypt, London 1991, S. 6 - 1 5 . Z u r Konsulargerichtsbarkeit und den mixed courts in Ägypten vgl. zudem Jasper Yeates Brinton, The Mixed Courts of Egypt, N e w H a v e n / L o n d o n 2 1968 sowie Nathan J. Brown, The Precarious Life and Slow Death of the Mixed Courts of Egypt, in: IJMES 2 5 / 1 (1993), S. 3 3 - 5 2 .

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Einleitung

auch Straf- und Berufungsgerichtsbarkeit auf osmanischem Territorium ausübte; zudem gehörte Großbritannien während der Untersuchungszeit sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu den einflussreichsten Mächten im Osmanischen Reich. Zweitens wäre eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen europäischen Konsulargerichtsbarkeiten denkbar. Zwar werden die Beziehungen zwischen den britischen und den anderen Konsulargerichten untersucht, auf einen systematischen Vergleich von Gerichtsinstitutionen und Rechtsprechung wird jedoch verzichtet. Ein solcher Vergleich wäre vor allem dann zwingend, wenn Gerichtsakten primär dazu verwendet würden, durch die vor Gericht ausgetragenen Konflikte hindurch auf ökonomische und soziale Grundzüge der levantinischen Gesellschaft zu blicken. Der Wert der Konsulargerichtsakten ist in dieser Hinsicht anerkannt, wenngleich bislang noch kaum systematisch in diese Richtung geforscht wurde. 1 3 Drittens schließlich ließen sich die Beziehungen zwischen den lokalen osmanischen und den konsularischen Gerichten untersuchen. Dabei ginge es um Abgrenzungen bzw. Überlappungen der Gerichtszuständigkeiten, aber auch u m die Alternativen, die sich dem einzelnen Rechtssubjekt angesichts einer vielfältigen Gerichtstopografie boten. Europäer im Osmanischen Reich bewegten sich nie in einer abgeschlossenen, durch die Konsulargerichte begrenzten Rechtswelt. Sie waren in vielen Fällen den osmanischen Gerichten unterworfen oder suchten von sich aus den Weg vor ein osmanisches Gericht. 1 4 Die Untersuchung solcher Vorgänge bedingt die Ausweitung der Quellenbasis auf osmanische Gerichtsakten. A n dieser Stelle wird deshalb nur am Rande auf die Beziehungen zwischen europäischem und osmanischem Gerichtswesen eingegangen. Auf eine weitere Einschränkung der Studie ist hinzuweisen. Die Aktenbestände aus den Gerichtshöfen in Smyrna und Konstantinopel sind vielfach unvollständig und die einzelnen Dossiers teils von fragmentarischem Charakter. Quantitativ lassen sich die Gerichtsfälle daher nur ausschnittweise und für relativ kurze Zeiträume erfassen. Für die übrige Zeit bleibt stets unklar, welchen Anteil die dokumentierten Rechtsfälle an der Gesamtzahl der vom Gericht beurteilten Fälle ausmachen. Diese Tatsache verschärft das ohnehin akute Problem, feststellen zu können, welcher Anteil von Rechtsstreitigkeiten überhaupt vor Gericht gebracht bzw. von den Gerichtsbehörden aufgegriffen wurde. Fallbeispiele, wie sie in dieser Studie berücksichtigt werden, können nicht dasselbe leisten wie eine quantitative Erfassung der Rechtsfälle. Gleichwohl kann beispielsweise der Typus eines Rechtsfalls, der vor Gericht gebracht wurde, Aufschluss über die Stellung des Gerichts in der britischen Gemeinde geben. Entscheidend ist dann weniger, wie häufig dies geschah, sondern dass eine bestimmte Art von Konflikt dem Konsul überhaupt zur Entscheidung vorgelegt wurde. Damit ist ein anderer Weg gefunden, die Attraktivität des Gerichts zu messen und etwas über die Gerechtigkeitserwartung gegenüber den Konsulargerichten auszusagen. Die Fälle, die zur Sprache kommen, wurden danach selektioniert, wie repräsentativ sie für die Gerichtsarbeit und wie typisch sie für bestimmte Rechtsgebiete waren; zudem spielten die Kriterien Anschaulichkeit und Vollständigkeit des Materials eine zentrale Rolle. Abgesehen von Schwierigkeiten der quantitativen Erfassung von Rechtsfällen, halten die Gerichtsdossiers auch einige qualitative Fallgruben bereit. Im Laufe der Untersuchung wird Gerichtsakten aus europäischen Konsulargerichten sind u.a. in Turin (für Sardinien-Piemont), Venedig, R o m (für Italien) sowie in Nantes und Aix (für Frankreich) vorhanden und noch weitgehend unbenützt. Entsprechende Hinweise verdanke ich Will Hanley und Oliver Jens Schmitt. - W . Hanley greift für seine Untersuchung zu den europäischen Konsulargerichten in Alexandria auf Konsulargerichtsakten aus verschiedenen europäischen Staaten zurück. Eine größere Publikation ist zurzeit in Vorbereitung. Für einen ersten Einblick in seine Forschungsresultate vgl. Will Hanley, Second-Rate Foreigners: Maltese and Maghrebis in Alexandria, 1880-1914, unpubliziertes M E S A Paper, November 2005. " Vgl. Kap. II/4.2 u . V / 2 - 3 . 13

2. Vorgehen und Eingrenzungen

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im Detail darauf eingegangen werden müssen, doch auf ein zentrales Charakteristikum sei bereits hier verwiesen, da es die Anlage der gesamten Untersuchung beeinträchtigt: Die Akten der Konsulargerichte halten nur sehr wenig Informationen zu den eigentlichen Gerichtsverhandlungen bereit. Dies hat zum einen mit der verbreiteten summarischen Rechtsprechung zu tun, die auf eine rasche Abwicklung von Verfahren zielte, häufig nur aktengestützt vorgenommen wurde und entsprechend kaum Verhandlungsprotokolle hervorbrachte; zum anderen klaffen aber auch Lücken in den Dossiers, die durch mangelnde Sorgfalt bei der Archivierung entstanden sind. Dies zeigt sich u.a. bei Strafverfahren, die zwar häufig protokolliert wurden, von denen die Niederschriften aber nur selten erhalten geblieben sind. Blindstellen dieser Art führen dazu, dass sich nur für die wenigsten Fälle so etwas wie eine Gerichtsraumrealität rekonstruieren lässt. In der Regel werden Motive, Klageziele oder Tathergang eines Falles aus teilweise ausgreifenden Klage- und Verteidigungsschriften ersichtlich. Urteile und deren richterliche Begründungen sind überdies bekannt, das Recht lässt sich in seiner Anwendung sehen. Aus der Perspektive des urteilenden Richters lassen sich auch Schuld bzw. Unschuld von Parteien einschätzen. Was sich allerdings im Moment der Gerichtsverhandlung abspielte, ist kaum bekannt. Ein Einblick in die Gerichtsarena „where competing narratives were in play, [...] where values and beliefs were not only declared but shaped", wie Wiener diese beschreibt, ist nur sehr beschränkt möglich. 15 Uber das Gericht als Bühne, wo Geschichten eingebracht, rhetorisch geformt und beurteilt werden, schweigen sich die Akten der Konsulargerichte aus. Das Drama des Gerichtsraums bleibt somit weitgehend im Verborgenen. 16 Die Stimmen von Klägern und Beklagten sind oft nur in der bereits stark kodierten Form einer Klage- oder Verteidigungsschrift zu vernehmen. Dem Aufruf, Rechtsgeschichte verstärkt aus der Perspektive der Streitparteien zu schreiben, kann deshalb nur mit Einschränkungen Folge geleistet werden. 17 Das Fehlen von Verhandlungsprotokollen verstärkt den ohnehin schon stark formalen Charakter der Gerichtsakten, in denen Rechtsfälle nicht so sehr als lebendige Auseinandersetzungen zwischen Parteien denn als stark strukturierte Narrative entlang einzelner Verfahrensschritte präsentiert werden. Die Gerichtsakten spiegeln, mit anderen Worten, wesentlich die Logik des Gerichts wider und lassen die Parteien oft nur schattenhaft als Akteure im Gerichtsdrama auftreten. Nur in Einzelfällen kann dieses Problem mit Zeitungsberichten behoben werden (vgl. Abschnitt 3 dieser Einleitung). Schließlich gilt es auf eine letzte Einschränkung hinzuweisen. Der Autor dieser Studie ist weder Jurist noch Osmanist und kann daher Erwartungen, die aus diesen beiden Fachrichtungen an das Thema gestellt werden, unter Umständen nicht gerecht werden. So werden nahezu keine osmanischen Quellen ausgewertet, und ebenso wenig werden allzu theoretische juristische Überlegungen Berücksichtigung finden. Der inhaltliche und methodische Rahmen der Arbeit ist jedoch auf diese Defizite hin abgestimmt.

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Martin J. Wiener, Judges ν Jurors: Courtroom Tensions in Murder Trials and the Law of Criminal Responsibility in Nineteenth-Century England, in: Law and History Review 17/3 (1999), S. 467-506, S.470. Vgl. hierzu Lance W. Bennett u. Martha S. Feldman, Reconstructing Reality in the Courtroom, London/New York 1981, insbes. S. 3-18, sowie den Sammelband zur Gerichtsrhetorik von Peter Brooks u. Paul Gewirtz (Hrsg.), Law's Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, New Haven/London 1996. Vgl. Richard Abel, Western Courts in Non-Western Settings: Patterns of Court Use in Colonial and Neo-Colonial Africa, in: Sandra B. Burman u. Barbara E. Harrell-Bond (Hrsg.), The Imposition of Law, New York 1979, S. 167-200, S. 168f.

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Einleitung

3. Quellen Der weitaus größte Teil der Quellenarbeit wurde an den National Archives (vormals Public Record O f f i c e ) in Kew, London, ausgeführt. Innerhalb der umfangreichen Foreign OfficeBestände wurde ein Schwergewicht auf Gerichtsakten, konsularische und diplomatische Korrespondenz sowie Spezialdokumente gelegt. Gerichtsakten: Das Rückgrat der Untersuchung bilden die Gerichtsakten aus dem Provincial Consular Court in Smyrna (FO 626) und dem Supreme Consular Court in Konstantinopel (FO 780). Smyrna ist für die Jahre 1847-1914 gut dokumentiert (1175 Gerichtsdossiers), Konstantinopel für die Zeit 1873-1903 (332 Gerichtsdossiers). Zusätzlich sind die Protokollbücher aus der Polizei- und Coroner-Sektion des Supreme Court von großem Wert (Judges Note Books, FO 780/348-357, und Register's Notes, FO 780/358-360). Auf den spezifischen Charakter und den teils fragmentarischen Zustand der Gerichtsakten wurde oben bereits hingewiesen, ebenso auf die Implikationen, die sich daraus für diese Studie ergeben. Konsularische und diplomatische Korrespondenz: Aus den umfangreichen FO-Beständen zum Osmanischen Reich wurde für diese Arbeit die Korrespondenz zwischen Generalkonsulat in Konstantinopel (an welches der Supreme Court angegliedert war), Konsulat in Smyrna, Botschaft18 und Foreign O f f i c e für die Jahre 1825-1914 systematisch aufgearbeitet (in erster Linie FO 78 und FO 195). In der Korrespondenz zwischen dem Generalkonsulat und der Botschaft sind auch die relevanten Briefwechsel mit der Pforte enthalten, da der Supreme Court nur über die britische Botschaft mit der Pforte korrespondieren durfte. Der größere Teil der Korrespondenz zwischen dem Supreme Court und den einzelnen Provincial Courts ist nicht erhalten geblieben, Spuren davon finden sich in der allgemeinen konsularischen und diplomatischen Korrespondenz. Ebenfalls berücksichtigt wurden die Gutachten der Law Officers (Rechtsberater) im Foreign O f f i c e in FO 83 (1803-1876) und FO 881 (1870-1914). Suraiya Faroqhi hat auf die Fallgruben hingewiesen, welche konsularische und diplomatische Dokumente als Quellen für die osmanische Geschichtsschreibung bereithalten.19 Berichte europäischer Konsuln und Diplomaten vermitteln oft ein Zerrbild der osmanischen Verhältnisse, bedingt unter anderem durch fehlende Kenntnisse von Fremdsprachen sowie Unvertrautheit mit den lokalen Verhältnissen. Dem Gebrauch solcher Dokumente sind deshalb deutliche Grenzen gesetzt. Für die vorliegende Studie gelten diese Vorbehalte sicherlich in geringerem Maße, da konsularische und diplomatische Akten hauptsächlich für innerbritische Angelegenheiten ausgewertet wurden. Zudem interessiert an der Korrespondenz in erster Linie der Subtext, d.h. die Informationen, Kommentare und Einschätzungen, die solche Dokumente mitliefern und die dazu beitragen, Rechtsfälle oder

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Mit „Botschafter" wurde seit dem Wiener Kongress von 1815 der höchste diplomatische Rang bezeichnet. N u r die fünf wichtigsten Missionen Großbritanniens verfügten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über den Status einer Botschaft: Paris, Wien, St. Petersburg, Brüssel und Konstantinopel. 1914 unterhielt Großbritannien neun Botschaften (die bereits genannten abzüglich Brüssel sowie neu Washington, Berlin, Rom, Madrid und Tokio). Im Folgenden werden f ü r das 19. und 20. Jahrhundert jeweils die Bezeichnungen „Botschaft" und „Botschafter" verwendet, wenn von der britischen Mission und ihres Leiters in Konstantinopel die Rede ist. Vgl. Valerie Cromwell, United Kingdom: The Foreign and Commonwealth Office, in: Zara Steiner (Hrsg.), The Times Survey of Foreign Ministries of the World, London 1982, S. 5 4 1 - 5 7 3 , S. 552; Zara Steiner, The Foreign O f f i c e and Foreign Policy 1 8 9 8 - 1 9 1 4 , London 1969, S. 1 7 3 - 1 8 5 .

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Suraiya Faroqhi, Approaching Ottoman History. A n Introduction to the Sources, Cambridge 1999, S. 14 If.

3. Quellen

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Mechanismen der Konsularrechtsprechung besser zu verstehen. Person, Funktion und Motiv der Korrespondenzführer treten dagegen oft deutlich in den Hintergrund. Spezialdokumente: Eine Reihe von FO-Serien liefern eine Fülle von Informationen zu den Konsulargerichten in der Form von gedruckten Rapporten, Statistiken und Memoranden. Diese Dokumente sind von zentraler Bedeutung, da sie einerseits grundlegendes Datenmaterial liefern, anderseits stets eine breite, über die Tagesgeschäfte hinausweisende Perspektive einnehmen (u.a. F O 198, F O 406 und F O 881). Weitere in der Arbeit berücksichtigte, aber weniger zentrale FO-Serien sind im Quellenverzeichnis aufgeführt. Abgesehen von den Dokumenten in den National Archives stützt sich die vorliegende Arbeit auf folgende weitere Quellengattungen: Akten des Berufungsgerichts: Das höchste Berufungsgericht für die Konsulargerichte im Osmanischen Reich, das Judicial Committee of the Privy Council (JCPC), verfügt über umfangreiche, wenngleich kaum geordnete Archivbestände. Der zugängliche Teil besteht in erster Linie aus gedruckten Urteilsbegründungen, welche ausführlich gehalten sind und reichlich Material liefern; die eigentlichen Berufungsdossiers hingegen sind nicht verfügbar. Die Akten des J C P C geben in erster Linie Aufschluss über Berufungsfälle, die vom Supreme Court in Konstantinopel nach England gelangten. Das Fehlen eines Indexes erschwert die Suche nach Berufungen aus den Levante-Gerichten allerdings ungemein. Eine Durchsicht der Archivbestände des Privy Council an der Downing Street in London erbrachte ein Total von 26 Fällen, die zwischen 1862 und 1913 nach London vor das J C P C gelangten (für eine Ubersicht vgl. Kap.III/4.1). Für diese Zusammenstellung wurden die Printed Cases in Indian & Colonial Appeals, die Printed Cases in Ecclesiastical & Admiralty Appeals sowie die Printed Cases/Papers in Appeals konsultiert. Presseberichterstattung: In den großen europäischen Gemeinden wie Konstantinopel und Smyrna entwickelte sich von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ein lebendiges Pressewesen, wobei vor allem französische und britische Erzeugnisse den Markt dominierten.20 Auch über Gerichtsfälle wurde berichtet, häufig spaltenlang und als Paraphrasierung der Verhandlung, teils sogar in Dialogform, um die Dramatik der Ereignisse dem Leser besser zu vermitteln. Insgesamt fällt die Auswertung des vorhandenen Materials im Zeitungsarchiv der British Library in Colindale, London, allerdings ambivalent aus. Die Erscheinungsweise der Zeitungen war oft erratisch, bedingt durch ökonomische Probleme und Zwangsschließungen durch die osmanischen Behörden, und ebenso erratisch war die Berichterstattung zu Gerichtsverhandlungen. The Smyrna Mail erschien zwar nur während kurzer Zeit zu Beginn der sechziger Jahre, erwies sich aber als äußerst ergiebige Quelle für das Verhältnis zwischen Konsulargericht und britischer Gemeinde. Eine wichtige Stellung in Smyrna nahm auch L'Impartial - Journal de Smyme ein, das 1841 vom Briten M.A. Edwards gegründet wurde und bis 1915 existierte. In Konstantinopel erschien zwischen 1868 und 1874 die Levant Times & Shipping Gazette, eine vom Iren John Laffan Hanly herausgegebene Tageszeitung. Nach einem Intermezzo als Progres d'Orient (1874) führte Hanly den Titel von 1875 an als Stamboul weiter. Ein einflussreiches und gegenüber den britischen Konsuln äußerst kritisch eingestelltes Blatt war der Levant Herald. Dieser wurde ab 1856

20

Zum Pressewesen vgl. das Titelverzeichnis bei Gerard Groc u. Ibrahim (Jaglar, La Presse Frar^aise de Turquie de 1795 ä nos Jours, Istanbul 1985. Ebenfalls aufschlussreich ist Gerard Groc, Le Journal de Gonstantinople ou l'ambiguite du cosmopolitisme, 1843-1853, in: Nathalie Clayer, Alexandre Popovic u. Thierry Zarcone (Hrsg.), Presse turque et presse de Turquie, Istanbul/Paris 1992, S. 15-27, sowie Korkmaz Alemdar, Le Progres d'Orient, predecesseur du journal Stamboul et organe des interets anglais, in: ebd., S. 3 5 - 4 1 .

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Einleitung

von Edgar Whitaker herausgegeben, einem vormaligen Korrespondenten der Times, und erlebte eine turbulente, von Zensur, wirtschaftlichen Problemen und Schließungen geprägte Geschichte. Während Zwangsschließungen wurde der Levant Herald unter den Titeln Constantinople Messenger (1878, 1880-1881, 1882) oder Eastern Express (1882-1886) gedruckt. Ab 1886 bis 1914 erschien dann der Levant Herald & Eastern Express, der vom maltesischen Rechtsanwalt Lewis Mizzi gegründet worden war und während 14 Jahren herausgegeben wurde. Printed Parliamentary Papers: Nicht so sehr für die Konsulargerichte als vor allem für den Konsulardienst im Osmanischen Reich sind die Parliamentary Papers (PP) aufschlussreich. Sie zeigen die Bemühungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Levantedienst des britischen Konsularwesens zu vereinheitlichen und zu professionalisieren. In diesem Zusammenhang flössen Betrachtungen zur exterritorialen Gerichtsbarkeit zwangsläufig ein. Die Parliamentary Papers beziehen sich in erster Linie auf die Kommissionsarbeit des britischen Parlaments und enthalten einerseits Befragungen von Staatsbeamten (im vorliegenden Fall solchen des Foreign Office), anderseits die eigentlichen Kommissionsrapporte. Insbesondere die Befragungen von FO-Beamten geben wichtige Einblicke in die Strategien und das Selbstverständnis des konsularischen Dienstes. Protokolle und Berichte der verschiedenen Kommissionen sind u.a. in den National Archives auf Mikrofiches zugänglich. Zeitgenössische Literatur: Zur Levante des 19. Jahrhunderts liegt eine große Auswahl zeitgenössischer Literatur vor. Reiseschriftsteller, Journalisten, Botschafts- und Konsulatsangestellte sowie zunehmend auch Touristen berichteten über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Osmanischen Reich. Der Wert dieser Quellengattung wurde wiederholt in Frage gestellt, da der Blick auf die osmanischen Lebensverhältnisse häufig durch eine von Vorurteilen und Stereotypen beschlagene Optik geschah.21 Nicht unähnlich der konsularischen Korrespondenz zeigt sich der eigentliche Gewinn aus zeitgenössischer Literatur vor allem bei innerbritischen Angelegenheiten oder bei Themen, die das Verhältnis zwischen den europäischen „Nationen" betrafen. Die Autoren waren in diesen Fällen mit den britischen oder französischen Lebensverhältnissen vertraut und verfügten auch über die entsprechenden Sprachkenntnisse. Die Konsulargerichte fallen dabei nicht in den Kanon jener immer und immer wieder repetierten Themen (die Hunde in Konstantinopel, der Harem, Stadtansichten etc.), sondern finden entweder nur beiläufig oder aber als spezielles Sonderinteresse eines Autors Erwähnung. Journalisten und Reiseautoren betrachteten die Konsulargerichte in der Regel mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung und präsentierten sie oft als ausgesprochenes Kuriosum. Innenansichten der Konsulargerichtsbarkeit gewähren dagegen Berichte von Konsuln und Dragomanen (Gesandtschafts- und Konsulatsdolmetscher), die auch über das entsprechende fachliche Wissen verfügten, um Stärken und Schwachpunkte der Gerichtsarbeit auszumachen. Ihr Tonfall ist zumeist kritischdistanziert. Die Auswahl der Werke wurde aufgrund einer Sichtung von etwas über 200 21

Zur zeitgenössischen Reiseliteratur als Quelle für die Geschichte der Levante vgl. Billie Melman, The Middle East/Arabia: „The Cradle of Islam", in: Peter Hulme u. Tim Youngs (Hrsg.), The Cambridge Companion to Travel Writing, Cambridge 2002, S. 1 0 5 - 1 2 1 ; Sarah Searight u. Malcolm Wagstaff (Hrsg.), Travellers in the Levant: Voyagers and Visionaries, Durham 2001. Speziell zu den britischen Levantereisenden vgl. Henry Romilly Fedden, English Travellers in the Near East, London 1958; Sarah Searight, The British in the Middle East, London 2 1979, Teil II zum 19. Jh.; Reinhold Schiffer, Oriental Panorama: British Travellers in 19th Century Turkey, Amsterdam 1999. In diesem Zusammenhang ist auch auf Edward Saids wegweisende Untersuchung Orientalism zu verweisen, welche die historische, kulturelle und politische Wahrnehmung bzw. „Konstruktion des Orients" durch die westliche Welt zum Thema hat. Vgl. Edward W. Said, Orientalism, New York 1978.

4. Forschungsstand und Literatur

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zeitgenössischen Berichten aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien getroffen.22 Gesetze und Verordnungen: Die Gerichtsordnungen der britischen Konsulargerichte waren in Kronakten (Orders in Council) niedergelegt und wurden später in die Vertragssammlung von L.Hertslet als Ottoman Orders in Council integriert. Für die Rechtsprechung in den Konsulargerichten nahmen zudem englische Gesetze (statutes) einen hohen Stellenwert ein. Englisches statute law wurde kaum je explizit für die Konsulargerichte erlassen, sondern wurde selektiv in deren Rechtsprechung integriert. Die relevanten Gesetze sind in der Collection of the Public General Statutes (bis 1869) bzw. den Public General Acts (ab 1870) publiziert. Für die osmanische Seite wurden die Gesetzessammlungen von G. Young „Corps de droit ottoman" sowie von A. Bey „Legislation Ottomane" herangezogen. Die in der Arbeit zitierten Kronakte und englischen Gesetze werden im Quellenanhang im Detail aufgelistet.

4. Forschungsstand und Literatur Eine Forschungsübersicht zur Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich hat mit der Schwierigkeit fertig zu werden, dass es zum Thema selbst kaum Untersuchungen neueren Datums gibt.23 Von einer eigentlichen Forschung kann mithin also nicht gesprochen werden. Die vorliegende Studie ist - wie oben bereits dargelegt - im Schnittpunkt verschiedener Forschungsrichtungen angesiedelt. Der folgende Überblick rekapituliert entlang dieser Stoßrichtungen einschlägige, für diese Arbeit relevante Literatur. In vielen Teilen Vorbildcharakter haben Studien, die sich dem Thema Gerichtsbarkeit auf empirischem Wege annähern, d.h. in erster Linie über die Auswertung von Gerichtsakten. Nur eine solche Vorgehensweise ermöglicht eine Rekonstruktion von Rechts- und Gerichtswirklichkeit. Aus dem deutschsprachigen Raum sind hierzu M. Wienforts Untersuchung zur preußischen Patrimonialgerichtsbarkeit zu nennen sowie W. Steinmetz' systematische Forschung zum englischen Arbeitsrecht; beide Publikationen verbinden wegweisend Rechtstheorie und Empirie mit institutionellen Aspekten von Gerichtsbarkeit.24

22

Hilfreich hierfür waren neben den oben zitierten Werken zur Reiseliteratur vor allem Jennifer Speake (Hrsg.), Literature of Travel and Exploration. A n Encyclopedia, 3 Bde., N e w Y o r k / L o n d o n 2003, Artikel „Istanbul", „Levant", „Levant Company", „ O t t o m a n Empire" u. „Turkey"; Shirley H o w a r d Weber, Catalogues of the Gennadius Library, Voyages and Travels in the N e a r East during the X I X Century. Being a Part of a Larger Catalogue of Works on Geography, Cartography, Voyages and Travels in the Gennadius Library in Athens, Princeton 1952; The O t t o m a n World: The Sefik E. Atabey Collection. Books, Manuscripts and Maps. Text by Leonora Navari, 2 Bde., Istanbul/ L o n d o n 1998.

23

Die jüngsten einschlägigen - allerdings äußerst oberflächlichen - Untersuchungen sind diejenigen von Gerhard Rill, Zur Geschichte der österreichischen Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 30 (1977), S. 1 5 3 - 1 9 0 , sowie von John P. Spagnolo, Portents of E m pire in Britain's Ottoman Extraterritorial Jurisdiction, in: Middle Eastern Studies 27 (1991), S. 2 5 6 - 2 8 2 . Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1 7 7 0 - 1 8 4 8 / 4 9 , (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 148), Göttingen 2001; Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts ( 1 8 5 0 - 1 9 2 5 ) , (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 51), München 2002. Hierzu auch J. Baberowski, der seine Untersuchung zur zarischen Justizreform im Spannungsfeld von abstrakten Rechtsnormen und soziokulturellen Realitäten des russischen Reichs anlegt. Vgl. Jörg Baberowski, Autokratie und Justiz. Z u m Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1 8 6 4 - 1 9 1 4 , (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 78), Frankfurt a.M. 1996, insbes. S. 3 - 9 , 1 5 6 - 1 8 0 u. 3 6 5 - 4 2 7 .

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Einleitung

Aus englischer Perspektive hat B. Simpson auf die Vorzüge hingewiesen, das Thema Gerichtsbarkeit verstärkt über das Studium von Rechtsfällen und nicht so sehr über die Rechtstheorie anzugehen. 25 Im Unterschied zum Osmanischen Reich liegt für fernöstliche Gebiete und teilweise auch für Afrika eine breite Literatur zu Fragen von Exterritorialität und Konsulargerichtsbarkeit im Speziellen vor. Viele Untersuchungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind jedoch nur von geringem Nutzen. Entweder blicken sie von einem juristischen Standpunkt auf die Konsulargerichte und stützen sich entsprechend auf normative Texte wie Verträge, Kronakte sowie Gerichtsordnungen, kaum je aber auf einzelne Rechtsfälle; oder sie gehen diplomatiegeschichtlich vor und betrachten Exterritorialität als Teilaspekt in der Beziehungsgeschichte von Staaten.26 Auf keinem der beiden Wege lässt sich jedoch zeigen, wie Konsulargerichtsbarkeit tatsächlich funktionierte. Studien neueren Datums knüpfen teilweise an die ältere Historiographie an, verbreitern die Quellenbasis in der Regel aber deutlich. Sie geben gemeinhin nützlichen Aufschluss über Entstehungsgeschichte sowie institutionelle Ausgestaltung der Gerichtshöfe; zudem zeigen sie die Konsulargerichte in ihrem je spezifischen lokalen Kontext. 27 Wegweisend für die vorliegende Untersuchung sind jedoch in erster Linie Forschungen der jüngeren Zeit, die auf die Aktenbestände der einzelnen Gerichtshöfe zurückgegriffen haben. Pioniercharakter kommt in dieser Beziehung R. Chang zu, der, gestützt auf Rechtsfälle aus den verschiedenen westlichen Konsulargerichten in Japan, die These zu widerlegen versucht, Japaner hätten vor diesen Gerichten keine Gerechtigkeit erwarten können. In eine ähnliche Richtung gehen C.R. Pennell und R. Campbell, die ihre Untersuchungen zu Marokko bzw. Sansibar ebenfalls vornehmlich auf die Gerichtsakten der britischen Konsulate konzentrieren und dabei Fallbeispiele von Rechtsstreitigkeiten präsentieren. E. Scully unternimmt eine systematische Auswertung von Gerichtsdokumenten aus den amerikanischen Konsulargerichten in China; ihr Interesse richtet sich jedoch weniger auf die Institution der Konsulargerichte als vielmehr auf das komplexe Verhältnis zwischen den amerikanischen Kolonien in den chinesischen Vertragshäfen und der Zentralregierung in den Vereinigten Staaten. H. Lysas und M. Eichis Untersuchungen zu Bangkok bzw. Shanghai berücksichtigen zwar keine Gerichtsakten, wie E. Scully machen sie jedoch ausgiebig von der Presseberichterstattung zu Gerichtsverhandlungen Verwendung. Allen diesen Untersuchungen ist eine Unmittelbarkeit zum Gerichtsalltag gemeinsam, die ältere Studien nicht aufweisen. 28 25 26

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Brian A.W. Simpson, Leading Cases in the Common Law, Oxford 1995, S. 1-12. Vgl. u.a. Henry Jenkyns, British Rule and Jurisdiction Beyond the Seas, Oxford 1902; Shih-Shun Liu, Extraterritoriality: Its Rise and Its Decline, New York 1925; Anatoly M. Kotenev, Shanghai: Its Mixed Court and Council, Shanghai 1925; George Williams Keeton, The Development of Extraterritoriality in China, 2 Bde., New York 1928; Francis Clifford Jones, Extraterritoriality in Japan, and the Diplomatic Relations Resulting in Its Abolition, 1853-1899, New Haven 1931; Wesley R. Fishel, The End of Extraterritoriality in China, Berkley/Los Angeles 1952; Yvan Debbasch, La nation franfaise en Tunisie (1577-1835), Paris 1957. Vgl. Michael H. Fisher, Extraterritoriality: The Concept and Its Applications in Princely India, in: Indo-British Review 15/2 (1988), S. 103-122; Paul H. Ch'en, The Treaty System and European Law in China: A Study in the Exercise of British Jurisdiction in Late Imperial China, in: Wolfgang J. Mommsen u. Jaap A. de Moor (Hrsg.), European Expansion and Law. The Encounter of European and Indigenous Law in 19th- and 20th-century Africa and Asia, Oxford 1992, S. 83-100; Kenneth Skinner, Extraterritoriality in China, in: British Year Book of International Law 10 (1992), S. 5 6 - 6 4 ; Martin Lynn, Law and Imperial Expansion: The Niger Delta Courts of Equity, c. 1850-85, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 23/1 (1995), S. 54-76. Richard T. Chang, The Justice of the Western Consular Courts in Nineteenth-Century Japan, Westport/London 1984; C.R. Pennell, The British Consular Courts and Moroccan Muslim Identity:

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4. Forschungsstand und Literatur

Exterritoriale Gerichtsbarkeit wurde oft in Verbindung gebracht mit der Überseeexpansion europäischer Staaten im 19. und 20. Jahrhundert. Sie galt als fester Bestandteil zur Bildung und Aufrechterhaltung eines informal

Empire.29

Diese Interpretation wurde

in den vergangenen Jahren mehrfach in Frage gestellt. Z u m einen kam der Begriff des informal

Empire

selbst in Verdacht, weil er Handelspräsenz in einer bestimmten Region

mit ökonomischer und politischer Machtbildung gleichsetzt. 3 0 Z u m anderen

haben

A u t o r e n wie E . Scully darauf hingewiesen, dass Exterritorialität durchaus auch losgelöst von der Imperialismusdiskussion betrachtet werden kann. 3 1 Konsulargerichte mussten nicht zwingend im Dienste einer Expansionsmacht stehen und als Zwangsmittel gegen lokale Herrscher und Einwohner eingesetzt werden. Studien von T. Stephens und R . C h a n g betonen, wie sich die Spruchpraxis der Konsulargerichte keineswegs systematisch unfair gegenüber der lokalen Bevölkerung äußern musste. 3 2 Zumindest an zwei Punkten berühren sich koloniale Rechtsstrategien und Konsulargerichtsbarkeit deutlich: Erstens dort, w o beide zur Schaffung einer Gerichtstopografie beitrugen, in der verschiedene Rechtssysteme parallel existierten und damit einen Zustand schufen, der im Sinne von J . Griffiths und M. H o o k e r als legal pluralism

bezeichnet wird, und zweitens dort, w o Fragen des

Rechtstransfers ins Spiel kamen. 3 3 Inwieweit europäische Staaten ihre Rechtsinstitutionen und Rechtsgrundsätze nach Ubersee brachten, wie dies geschah und welche Folgen sich daraus ergaben, sind Fragen, die sich auch im Zusammenhang mit den konsularischen

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„Christian" Justice as a Tool, in: Journal of North African Studies 1/2 (1996), S. 172-191; Robert Campbell, The Killing of Shabet: A Narrative of Extraterritorial Rights, Zanzibar, 1846-1851, in: American Neptune 58/3 (1998), S. 195-222; Eileen P. Scully, Bargaining with the State from Afar: American Citizenship in Treaty Port China, 1844-1942, New York 2001; Hong Lysa, Extraterritoriality in Bangkok in the Reign of King Chulalongkorn, 1868-1910. The Cacophonies of SemiColonial Cosmopolitanism, in: Itinerario. European Journal of Overseas History 27/2 (2003), S. 125-146; Motono Eichi, H.A. Giles vs. Huany Chengyi: Sino-British Conflict over the Mixed Court, 188?-85, in: East Asian History 12 (1996), S. 135-157. Einen Uberblick zum Thema legal imperialism bietet John Schmidhauser, Power, Legal Imperialism, and Dependency, in: Law and Society Review 23/5 (1989), S. 857- 878, insbes. S. 863f. Für exterritoriale Gerichtsbarkeit als Ausdruck eines legal imperialism vgl. Peter F. Sugar, Economic and Political Modernization: Turkey, in: Robert Edward Ward u. Dankwart Alexander Rustow (Hrsg.), Political Modernization in Japan and Turkey, Princeton 1964, S. 146-175, S. 154f.; Ross W. Johnston, Great Britain, Great Empire. An Evaluation of the British Imperial Experience, St. Lucia/London/New York 1981, S.70ff.; Spagnolo, Portents of Empire, S. 256-282; Lauren Benton, Law and Colonial Cultures. Legal Regimes in World History, 1400-1900, Cambridge 2002, S. 210f. u. 244-252; Jagdish Gundara, British Extraterritorial Jurisdiction in 19th Century Zanzibar, in: Yash Ghai, Robin Luckham u. Francis Snyder (Hrsg.), The Political Economy of Law. A Third World Reader, Delhi 1987, S. 93-95. Zu China in diesem Zusammenhang vgl. die Literaturhinweise bei Scully, Bargaining with the State, S.209. Zu Kritik am informal Empire-Konzept aus britischer Perspektive vgl. Britten Dean, British Informal Empire: The Case of China, in: Journal of Commonwealth and Comparative Politics 14/1 (1976), S. 6 4 - 8 1 , S. 75f.; Martin Lynn, British Policy, Trade, and Informal Empire in the Mid-Nineteenth Century, in: Andrew Porter (Hrsg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 3, Oxford/New York 1999, S. 101-121, S. 120; P.J.Cain u. A.G. Hopkins, British Imperialism, 1688-2000, Harlow/ London 2 2002, S. 26-30. Scully, Bargaining with the State, S. 3. Auch Nathan Brown zeigt für Gebiete, die nicht unter direkter europäischer Kontrolle standen, Zurückhaltung in der Bewertung des europäischen Einflusses auf lokales Recht und lokale Gerichtsinstitutionen. Nathan J. Brown, Law and Imperialism: Egypt in Comparative Perspective, in: Law and Society Review 29/1 (1995), S. 103-125, S. 105f. Thomas B. Stephens, Order and Discipline in China: The Shanghai Mixed Court 1911-1927, Seattle/ London 1992, insbes. S. 113ff.; Chang, Justice of Western Consular Courts. Zu Hooker und Griffiths vgl. Anm. 9 oben. Allgemein zum Begriff legal pluralism vgl. Sally Engle Merry, Legal Pluralism, in: Law and Society Review 22/5 (1988), S. 869-896, insbes. S.870ff.

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Einleitung

Gerichtsinstitutionen stellen. A u c h hier sei primär auf E . Scullys Untersuchung zu China verwiesen. 3 4 F ü r den levantinischen Kontext dieser Studie spielen die Kapitulationen als Grundsatzdokumente exterritorialer Gerichtsbarkeit eine entscheidende Rolle. Die Aufsatzsammlung unter der Herausgeberschaft von M . H . van den Boogert und K. Fleet ist zugleich als Einführung und Detailstudie konzipiert, wobei ein Schwerpunkt auf die osmanische Frühzeit gelegt wird. 3 5 N . Sousa liefert eine umfassende Materialsammlung zu den verschiedenen A b kommen zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Das Werk bietet überdies einen breiten Uberblick zur relevanten Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 3 6 Analytisch tiefer gehen H . Inalcik aus osmanischer Perspektive sowie G. Poumarede in einem Uberblick zur Struktur der Kapitulationen. 3 7 Α . H . de G r o o t liefert einen historischen Abriss, der aber nicht über das E n d e des 18. Jahrhunderts hinausgeht 3 8 , und M. Bulut stellt die Frühgeschichte der Kapitulationen aus niederländischer Sicht dar 3 9 . Zu den englischen Kapitulationen der F r ü h zeit ist vor allem S. Skilliter zu nennen. 4 0 Zur Wirkungsgeschichte der Kapitulationen dominieren Einzelstudien, so u.a. zu den ökonomischen Privilegien 41 , der Frage der Proteges 4 2 , der Rezeption auf osmanischer Seite 43 und schließlich dann auch zu den Rechtsprivilegien 4 4 .

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Scully, Bargaining with the State. - Der Sammelband von Wolfgang J. Mommsen u. Jaap A. de Moor (Hrsg.), European Expansion and Law. The Encounter of European and Indigenous Law in 19thand 20th-century Africa and Asia, Oxford 1992, liefert in erster Linie Hinweise, wie sich die Gerichtsbarkeit der Konsuln auf lokales Recht auswirkte, behandelt jedoch Institutionen und Rechtsprechung der Konsulargerichte im Hinblick auf Transferfragen nur am Rande (vgl. insbes. S. 59-100 u. 129-158). - Zum Thema Rechtstransfer aus theoretischer Perspektive vgl. den Grundsatzartikel von Marie Theres Fögen u. Gunther Teubner, Rechtstransfer, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), S. 3 8 - 4 5 . Ebenfalls aufschlussreich sind die übrigen Aufsätze zu Fragen des Rechtstransfers in Rechtsgeschichte 7 (2005). - Zu den Antipoden in der Diskussion um Rechtstransfer vgl. Alan Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law, Athens 2 1993, insbes. S. 2 1 - 3 0 , 7 1 - 7 4 , 9 5 - 1 0 1 , sowie Pierre Legrand, What „Legal Transplants"?, in: Johannes Feest u. David Nelken (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, Oxford 2001, S. 55-70.

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Maurits H. van den Boogert u. Kate Fleet (Hrsg.), The Ottoman Capitulations: Text and Context, (Oriente Moderno 83/3), Rom 2003. Nasim Sousa, The Capitulatory Regime of Turkey. Its History, Origin, and Nature, Baltimore 1933. Halil Inalcik, Imtiyäzät, in: The Encyclopaedia of Islam, Leiden 1971, Bd. 3, S. 1179-1189; Geraud Poumarede, Negocier pres la Sublime Porte. Jalons pour une nouvelle histoire des capitulations franco-ottomanes, in: Lucien Bely (Hrsg.), L'invention de la diplomatic. Moyen age - Temps modernes, Paris 1998, S . 7 1 - 8 5 . Alexander H. de Groot, The Historical Development of the Capitulatory Regime in the Ottoman Middle East from the Fifteenth to the Nineteenth Centuries, in: Maurits H. van den Boogert u. Kate Fleet (Hrsg.), The Ottoman Capitulations: Text and Context, (Oriente Moderno 83/3), Rom 2003, S. 575-604. Mehmet Bulut, The Ottoman Approach to the Western Europeans in the Levant during the Early Modern Period, in: Middle Eastern Studies 44/2 (2008), S. 259-274. Susan A. Skilliter, William Harborne and the Trade with Turkey, 1578-1582. A Documentary Study of the First Anglo-Ottoman Relations, London 1977. Vgl. Elias Η. Tuma, The Economic Impact of the Capitulations: The Middle East and Europe, a Reinterpretation, in: Journal of European Economic History 18/3 (1989), S. 663-682; Bülent Ari, Early Ottoman-Dutch Political and Commercial Relations after 1612 Capitulations, in: Bulgarian Historical Review 3 2 / 3 - 4 (2004), S. 116-144. Vgl. Salahi Ramsdan Sonyel, The Protege System in the Ottoman Empire, in: Journal of Islamic Studies 2/1 (1991), S. 5 6 - 6 6 . Vgl. Feroz Ahmad, Ottoman Perceptions of the Capitulations 1800-1914, in: Journal of Islamic Studies 11/1 (2000), S . l - 2 0 . Vgl. Herbert Joseph Liebesny, The Development of Western Judicial Privileges, in: ders. u. Majid Khadduri (Hrsg.), Law in the Middle East, Bd. 1: Origin and Development of Islamic Law, Washington 1955, S. 307-333.

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4. Forschungsstand und Literatur

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Spezifisch der Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich nehmen sich eine Reihe zeitgenössischer Untersuchungen an, die vornehmlich zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg erschienen. 4 5 Ihr Erkenntnisinteresse ist primär ein juristisches, und ihre Vorgehensweise gleicht einer Kombinatorik: D e m Leser soll die Menge aller juristischen Konstellationen aufgezeigt werden, mit denen ein Europäer in der Levante konfrontiert werden konnte. Solche Werke waren Kaufleuten und Levantereisenden von großem N u t z e n und dienen auch heute noch als unabdingbarer Leitfaden zur Konsulargerichtsbarkeit. D a sie jedoch die Rechtsprechung in den Konsulargerichten meist unberücksichtigt lassen, mangelt es ihnen an N ä h e zum Gerichtsalltag. Sie sind deshalb im Rahmen dieser Studie nur von begrenztem Nutzen. Neuere Forschung zum T h e m a ist rar. Herauszuheben sind zwei Studien von M . H . van den Boogert z u m Kapitulationssystem im 18. Jahrhundert, die zeigen, dass sich Konsulargerichtsbarkeit nicht isoliert vom osmanischen Rechtssystem abgespielt hat. Dabei wird die verbreitete Ansicht widerlegt, Europäer hätten gegenüber den osmanischen Gerichten Immunität genossen. 4 6 A u c h M . - C . Smyrnelis stellt in ihrer Untersuchung der Gesellschaft Smyrnas im 18. und 19. Jahrhundert Konsulargerichtsbarkeit in den K o n text einer lokalen Gerichtstopografie und zeigt, dass sich dem Rechtssubjekt häufig mehrere Optionen boten, seinem Anliegen rechtliches G e h ö r zu verschaffen. 4 7 Die Studien von van den B o o g e r t und Smyrnelis berücksichtigen teilweise Gerichtsakten, keine widmet sich aber der Institution des Konsulargerichts, und nur am Rande wird die eigentliche Gerichtsarbeit der Konsuln dargestellt. 4 8 Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich spielte sich vornehmlich in bzw. zwischen den europäischen Gemeinden ab, die sich über Jahrhunderte hauptsächlich in den Levantehäfen aber auch in den alten Handelsstädten im Landesinnern wie Aleppo und Bagdad 45

Für eine frühere Zeit vgl. Alexander von Miltitz, Manuel des Consuls, 3 Bde., London/Berlin 1837-1840, Bd. 1, S.516—531. Für später im 19. Jahrhundert vgl. u.a. Louis Joseph Delphin FeraudGiraud, De la Juridiction frangaise dans les Echelles du Levant et de Barbarie. Etudes sur la condition legale des etrangers dans les pays hors chretiente, 2 Bde., Paris 2 1866; Friedrich Martens, Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient, Berlin 1874; William Beach Lawrence, Etudes sur la juridiction consulaire en pays chretiens et en pays non chretiens et sur l'extradition, Leipzig 1880, insbes. S. 105-182; Travers Twiss, On Consularjurisdiction in the Levant, and the Status of Foreigners in the Ottoman Law Courts, London 1880; Charles James Tarring, British Consular Jurisdiction in the East. With Topical Indices of Cases on Appeal from and relating to Consular Courts and Consuls, London 1887; R. Salem, Les etrangers devant les tribunaux consulaires et nationaux en Turquie, in: Clunet 18 (1891), S. 393-425, 7 9 5 - 8 0 9 u. 1129-1146; Stamatios Antonopoulos, Uber die Exterritorialität der Ausländer in der Türkei mit Rücksicht auf die Gerichtsbarkeit in Civil- und Strafprozessen. Ubersetzt, bearbeitet und erweitert von Amtsrichter Dr. F. Meyer, in: Jahrbuch der internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 1 (1895), S. 95-190; Karl Lippmann, Die Konsularjurisdiktion im Orient. Ihre historische Entwicklung von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1898; Gerard Pelissie du Rausas, Le Regime des Capitulations dans l'Empire Ottoman, 2 Bde., Paris 1902-1905; Yves Rioche, Les Juridictions Consulaires Anglaises dans les pays d'Orient, Turquie, Perse, Mascate, Maroc, Paris 1904; Francis Taylor Piggott, Exterritoriality. The Law relating to Consularjurisdiction and to Residence in Oriental Countries, London 1892; Thomas Suck, Über die Entwicklung der Konsularjurisdiktion unter besonderer Berücksichtigung Großbritanniens, Erlangen 1919.

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Maurits H. van den Boogert, The Capitulations and the Ottoman Legal System. Qadis, Consuls and Beratlis in the 18th Century, (Studies in Islamic Law and Society, Bd. 21), Leiden 2005; ders., Consular Jurisdiction in the Ottoman Legal System in the Eighteenth Century, in: ders. u. Kate Fleet (Hrsg.), The Ottoman Capitulations: Text and Context, (Oriente Moderno 83/3), Rom 2003, S. 613-634. Marie-Carmen Smyrnelis, Une societe hors de soi. Identites et relations sociales ä Smyrne aux X V I Ile et X I X e siecles, (Collection Turcica, Bd. 10), Leuven 2005, insbes. S. 19-123. Smyrnelis führt in ihrem Quellenanhang auch die britischen Akten aus dem Konsulargericht in Smyrna auf. Im Anmerkungsapparat ist allerdings kein entsprechender Verweis zu finden.

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Einleitung

herausgebildet hatten. Vor allem zu wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und städtischen Siedlungsstrukturen der europäischen „Nationen" ist in den vergangenen Jahren viel gearbeitet worden. Aber auch Fragen zur Identitätsbildung sowie zur Nutzung von Beziehungsnetzen in Städten mit kosmopolitischer Bevölkerungsstruktur fanden breite Beachtung. Einen Uberblick zur relevanten Literatur für Smyrna und Konstantinopel geben Kapitel 1/3 und III/l. An dieser Stelle sei bloß auf die herausragenden Forschungen von E. Frangakis-Syrett zur europäischen Ökonomie in Kleinasien verwiesen, auf die Arbeiten von M.-C. Smyrnelis zu Smyrna sowie die wichtige, am Schnittpunkt von europäischer und osmanischer Gesellschaft situierte Studie von O.J. Schmitt zu den Levantinern.49 Viele Untersuchungen zu diesem Themenkomplex fügen sich in der einen oder anderen Weise in ein theoretisches Konzept zu d e n p o r t - c i t i e s ein, das die Anbindung des Osmanischen Reichs an die Weltökonomie vom Ende des 18. Jahrhunderts an aus der Perspektive der östlichen Mittelmeerhäfen untersucht. 50 Diese Forschungsrichtung ist auch aus der Sicht der Konsulargerichtsbarkeit von hohem Interesse. Nicht nur für den Handel, auch für das Recht stellten port-cities Einfallstore in neues Territorium dar. Die offizielle britische Präsenz im Osmanischen Reich ist Thema bei D.C.M. Platt, dessen Untersuchung zum britischen Konsularwesen nach wie vor als Standardwerk in diesem Bereich angesehen werden muss.51 Daneben gibt J. Dickies neue Geschichte des britischen Konsularwesen einen guten Uberblick über die britische Präsenz in der Levante.52 Für die britischen Kolonien im Levantebogen liegen, abgesehen von Ägypten, nur wenige Arbeiten für das 19. Jahrhundert vor, so in erster Linie diejenigen von E. Frangakis-Syrett zu Smyrna und U. Turgay zu Trabzon.53 Hier muss stellvertretend auf zeitgenössische Literatur ausgewichen werden (vgl. insbesondere Kap. 1/3). Für das aus englischer Sicht zentrale 17 Jahrhundert geben vor allem D. Goffmans Arbeiten Aufschluss über das Leben in den Levantehäfen, für die Zeit vor 1825 ist auf A. Wood und seine bereits etwas ältere Studie zur Levant Company zu verweisen.54

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Zu den Werken von E. Frangakis-Syrett und M . - C . Smyrnelis vgl. das Literaturverzeichnis. Levantiner bezeichnet nach der Definition von Schmitt „den europäisch-stämmigen Katholiken, Nachfahren von aus Europa in das osmanische Reich, besonders die großen Hafenstädte, eingewanderten europäischen Familien, die häufig Mischehen mit Ostchristinnen eingegangen sind". Oliver Jens Schmitt, Levantiner. Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im osmanischen Reich im „langen 19. Jahrhundert", (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 122), München 2005, S. 60. - A n z u f ü h r e n ist - wenn auch außerhalb des Levantebogens situiert - die Studie zu den französischen Konsuln in Tunis von Christian Windler, La diplomatie comme ε χ ρ έ π ε η ce de l'Autre. Consuls fran^ais au Maghreb ( 1 7 0 0 - 1 8 4 0 ) , (Bibliotheque des Lumieres, Bd. 60), Genf 2002.

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Vgl. Re§at Kasaba, Caglar Keyder u. Faruk Tabak, Eastern Mediterranean Port Cities and Their Bourgeoisies: Merchants, Political Projects, and Nation-States, in: Review 10/1 (1986), S. 1 2 1 - 1 3 5 ; £aglar Keyder, Eyüp Y. Ozveren u. Donald Quataert, Port-Cities in the Ottoman Empire. Some Theoretical and Historical Perspectives, in: Review 16/4 (1993), S. 5 1 9 - 5 5 8 ; Caglar Keyder, Peripheral PortCities and Politics on the Eve of the Great War, in: N e w Perspectives on Turkey 20 (1999), S. 2 7 - 4 5 . Desmond Christopher Martin Piatt, The Cinderella Service. British Consuls since 1825, London 1971, S. 1 2 5 - 1 7 9 . Dickie, The British Consul. Heir to a Great Tradition, London 2007, insbes. S. 5 7 - 8 0 . U.a. Elena Frangakis-Syrett, British Economic Activities in Izmir in the Second Half of the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: N e w Perspectives on Turkey 5 - 6 (1991), S. 1 9 1 - 2 2 7 ; U n e r A . Turgay, Ottoman-British Trade Through Southeastern Black Sea Ports during the Nineteenth Century, in: Jean-Louis Bacque-Grammont u. Paul Dumont (Hrsg.), Economie et societes dans l'Empire ottoman (fin du XVIIIe-debut du X X e siecle), Paris 1983, S. 2 9 7 - 3 1 5 . Daniel G o f f m a n , Britons in the Ottoman Empire, 1 6 4 2 - 1 6 6 0 , Seattle/London 1998; Alfred Cecil Wood, A History of the Levant Company, London 2 1964.

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5. Der Begriff der Exterritorialität

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5. Der Begriff der Exterritorialität Quellen und Literatur liefern eine verwirrende Fülle von Begriffen, mit denen die Gerichtsbarkeit der Konsuln bezeichnet wird. Manche davon haben heute eine gänzlich andere Bedeutung bzw. Verwendung als im 19. Jahrhundert. Im Zentrum steht der Begriff der Exterritorialität (englisch: extraterritoriality oder exterritoriality55; französisch: exterritorialste), der in der hier gewählten Untersuchungsperiode keineswegs eindeutig besetzt war und unter den zeitgenössischen Autoren des internationalen Rechts teilweise sogar auf heftige Ablehnung stieß. „Exterritorialität" bezog sich ursprünglich auf eine von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert vertretene Rechtsdoktrin, die Gesandte eines Staates außerhalb der Gerichtsbarkeit des Gastlandes sah, so, als ob sie nie ihren Herkunftsstaat verlassen hätten, folglich „quasi extra territorium" seien.56 Es war dann Georg Friedrich Martens, der 1789 im „Precis du droit des gens" den Begriff „Exterritorialität" in dieser Bedeutung wesentlich prägte und in Umlauf brachte. 57 Der Begriff fand in der Martensschen Bedeutung während des 19. Jahrhunderts verbreitet Anwendung, um den rechtlichen Status von Gesandten und Staatsoberhäuptern, deren Entourage und Besitz während eines Aufenthaltes auf fremdem Territorium zu beschreiben. 58 Wie Westlake festhält, verlor der Begriff extraterritoriality in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings zusehends seinen Stellenwert als „startingpoint for deductive reasoning by which diplomatic immunities may be measured". 59 So lehnt Hall in seinem „Treatise on International Law" den Begriff extraterritoriality in dieser Bedeutung als „metaphorisch" ab und zieht immunities vor.60 Auch in Kents „Commentaries on International Law" findet extraterritoriality keine Gnade. Auch Thornely und Wheaton verwerfen den Begriff als bloße Rechtsfiktion. 61 Zur gleichen Zeit ist allerdings zu beobachten, wie in bestimmten Begriffsverwendungen die ursprüngliche Bedeutung von „Exterritorialität" zwar beibehalten wurde, der ausschließliche Gebrauch für Gesandtschaften und Staatsoberhäupter jedoch verloren ging. Dieser Bedeutungswandel zeigt sich treffend in der Definition von Adolphe de Heyking aus dem Jahre 1889: „L'exterritorialite n'est pas une fiction, mais un principe de droit, qui, sous certaines conditions et dans une certaine mesure soustrait les personnes exterritoriales au pouvoir territorial et les subjugue ä un pouvoir public exterritorial." 62 Heyking verwendet Einige Autoren unterscheiden zwischen extraterritoriality und exterritoriality. Doch da weder über die begriffliche Trennung als solche noch über den jeweiligen Bedeutungsgehalt Konsens herrscht, werden beide Begriffe an dieser Stelle synonym verwendet. Vgl. Luke T. Lee, Consular Law and Practice, Oxford/New York 2 1991, S. 8; Piggott, Exterritoriality, S. 3f. 56 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (1625), (Die Klassiker des Völkerrechts, Bd.l), Tübingen 1950, S.312 (Buch 2, Kap. 18, Abs.4). Vgl. auch Edward Robert Adair, The Exterritoriality of Ambassadors in the 16 th and 17 th Centuries, London/New York 1929, S. 259; Linda S. Frey u. Marsha L. Frey, The History of Diplomatic Immunity, Columbus 1999, S. 185-197. 57 Georg Friedrich Martens, Precis du droit de gens moderne de l'Europe, 2 Bde., Paris 2 1864, Bd. 2, S.lOf.u. 105f. 58 Vgl. George Cornewall Lewis, On Foreign Jurisdiction and the Extradition of Criminals, London 1859, S.8; Travers Twiss, The Law of Nations Considered as Independent Political Communities. On the Rights and Duties of Nations in Time of Peace, Oxford/London 1861, S. 228; Robert Joseph Phillimore, Commentaries upon International Law, 4 Bde., London '1879-1889, Bd.2, S. 186 u. 219. 59 John Westlake, International Law, Part I: Peace, Cambridge 2 1910, S. 274. 60 William Edward Hall, A Treatise on International Law, Oxford 5 1904, S. 167 u. 200. 61 James Kent, Kent's Commentary on International Law, Cambridge/London 2 1878, S. 127-142; P.W. Thornely, Extraterritoriality, in: British Year Book of International Law 7 (1926), S. 121-134; Henry Wheaton, Elements of International Law, London 4 1904, S. 332. 62 Alphonse de Heyking, L'exterritorialite (1889), Paris 2 1926, S.35. 55

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Einleitung

„Exterritorialität" nun allgemein für den Status von Personen, die von der lokalen Jurisdiktion ausgenommen sind. Gleichzeitig löst er den Begriff zumindest teilweise von der Immunitätsidee, indem er Personen, die Exterritorialität genießen, nur von der lokalen Gerichtsbarkeit, nicht aber von derjenigen ihres Herkunftslandes ausgeschlossen sieht. Diese beiden Erweiterungen erlaubten es Heyking, dem Begriff eine neue, historisch-politische Dimension zu geben. Unter Exterritorialität wurde nun zunehmend eine konkrete historische Situation verstanden, die das internationale Recht zu beschreiben hatte, wie John Moores „Digest of International Law" Anfang des 20. Jahrhunderts beispielhaft zeigt: „Owing to diversities in law, custom, and social habits, the citizens and subjects of nations possessing European civilization enjoy in countries of non-European civilization, chiefly in the East, an extensive exemption from the operation of the local law. This exemption is termed .extraterritoriality'." 63 Exterritorialität bezog sich fortan wesentlich auf Europäer im Osten, die nicht oder nur teilweise den lokalen Gerichtsbarkeiten unterstanden. In diesem Sinne blieb der Begriff auch im internationalen Recht akzeptiert und fand weiterhin Verwendung. 64 An der Festigung dieser Begriffsbedeutung trug die Historiographie zur europäischen Präsenz im Osmanischen Reich und im Fernen Osten während des 18. und 19. Jahrhunderts wesentlichen Anteil. 65 Gleichzeitig drang aber auch eine gewisse Unschärfe in die Begriffsverwendung. Mit Exterritorialität sind nämlich die wenigsten dieser Werke primär beschäftigt; ihr Augenmerk gilt gemeinhin dem, was an die Leerstelle trat, die durch die Ausgrenzung von Europäern aus der lokalen Gerichtsbarkeit entstand: „exterritoriale Gerichtsbarkeit" oder eben „Konsulargerichtsbarkeit". 66 Konsulargerichtsbarkeit setzt Exterritorialität voraus. Der erste Begriff bezeichnet eine Institution, der zweite einen Rechtszustand. Während in der Geschichtswissenschaft sowohl „Exterritorialität" wie auch „exterritoriale Gerichtsbarkeit" vornehmlich im Zusammenhang mit der europäischen Präsenz im Nahen und Mittleren Osten sowie in Asien verwendet werden, haben sich beide Begriffe im Rahmen des internationalen Rechts weiterentwickelt und sich von ihrem historischen Bedeutungsgehalt teilweise deutlich entfernt. Von „Exterritorialität" wird heute zumeist dann gesprochen, wenn Gesetze eines bestimmten Landes Sachverhalte betreffen, die sich außerhalb des Territoriums eines Staates zugetragen haben oder Wirkung auf ein fremdes Staatsgebiet ausüben können. 67 Dies betrifft in erster Linie das Wettbewerbsrecht ( a n t i t r u s t Gesetzgebung). 68 Im gleichen Sinne meint „exterritoriale Gerichtsbarkeit" Rechtsprechung über einen Sachverhalt außerhalb des nationalen Territoriums. Dies ist beispielsweise bei Straftaten der Fall, die sich außerhalb des strafverfolgenden Staates ereignet haben. 69 Im Sinne einer Konkurrenzgerichtsbarkeit, d.h. einer Manifestation von Gerichtsinstitutionen auf dem Territorium eines anderen souveränen Staates, findet „exterritoriale Gerichtsbarkeit" heute dagegen nur noch selten Verwendung. Meist ist dies dann der Fall, wenn

Bassett Moore, Α Digest of International Law, 8 Bde., Washington 1906, Bd. 2, S. 593. Vgl. u.a. George Williams Keeton, Extraterritoriality in International and Comparative Law, in: Academie de droit international. Recueil des cours 72 (1948), S.283-391, insbes. S. 349-385. 65 Zur Historiographie vgl. die einschlägigen Werken in der Forschungsübersicht in Abschnitt 4 dieser Einleitung. 66 Die beiden Begriffe werden im Rahmen dieser Untersuchung synonym verwendet. 67 Beredtes Beispiel hierfür liefert der Sammelband von Karl M. Meessen (Hrsg.), Extraterritorial Jurisdiction in Theory and Practice, London/The Hague/Boston 1996, insbes. S. 1 - 1 8 u. 122-146. 68 Vgl. Mäher M. Dabbah, The Intemationalisation of Antitrust Policy, Cambridge 2003, S. 159-205. 69 Zu Folter vgl. Luc Reydams, Universal Jurisdiction. International and Municipal Legal Perspectives, Oxford 2003, S. 5 u. 6 4 - 6 8 ; zu Sextourismus vgl. Jeremy Seabrook, No Hiding Place: Child Sex Tourism and the Role of Extraterritorial Legislation, London/New York 2000. 63

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5. Der Begriff der Exterritorialität

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es im R a h m e n der ΉΚΐΟ-Status of Force Agreements u m Gerichtszuständigkeit f ü r im A u s land stationierte Truppen geht. 7 0 Diese F o r m v o n exterritorialer Gerichtsbarkeit k o m m t der hier untersuchten am nächsten, nicht zuletzt wegen der K o n t r o v e r s e n , die sie auch heute noch auszulösen vermag. 7 1

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Das Status of Force Agreement (SOFA) vom 19.6.1951 bildet das Grundsatzabkommen zwischen den NATO-Mitgliedstaaten zur zivil- und strafrechtlichen Haftung ihres militärischen und zivilen Personals im Ausland. Vgl. u.a. das Seilbahnunglück im oberitalienischen Cavalese von 1998, das durch fahrlässiges Verhalten eines amerikanischen Jetpiloten verursacht wurde. Der Pilot wurde vor einem amerikanischen Militär- und nicht einem italienischen Strafgericht angeklagt. Der Fall ist beschrieben bei Michael W. Reisman u. Robert D. Sloane, The Incident at Cavalese and Strategie Compensation, in: The American Journal of International Law 94/3 (2000), S. 505-515.

I. Historische, rechtliche und sozioökonomische Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

In den europäischen Levantegemeinden des 19. Jahrhunderts war das Bewusstsein weit verbreitet, in einer langen, nahezu tausendjährigen Rechtstradition zu stehen, die ihnen Gerichtsautonomie und weit reichende Vorrechte innerhalb des lokalen Rechtssystems gebracht hatte. Zeitgenossen erwiesen der Geschichte der Rechtsprivilegierung im Levanteraum deshalb auch regelmäßig Reverenz. Praktisch dienten solche Verweise auf die Vergangenheit im Wesentlichen der Rechtfertigung konsularischer Gerichtsbarkeit; im Gerichtsalltag hingegen spielten solche Bezüge kaum eine Rolle. Hier bildeten die Rechtsgrundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit den entscheidenden Orientierungspunkt. Diese bestanden zuerst einmal aus dem vom osmanischen Staat eingeräumten Rechtsprivileg, Gerichtsbarkeit in der Levante überhaupt ausüben zu dürfen. Diese Grundlage erwies sich jedoch stets als sehr allgemein und auslegungsbedürftig. Ein eigentlich rechtliches Fundament für die Konsulargerichte schufen die britischen Behörden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Gerichtsordnungen und Verfahrensregelungen traten nach und nach in Kraft, eine Entwicklung, die in erster Linie den Stellenwert reflektiert, den die Konsulargerichtsbarkeit im politischen Zentrum in Großbritannien in dieser Zeit einzunehmen begann. Dass es dazu überhaupt kommen konnte, hing zu einem wesentlichen Teil mit den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen in den britischen Levanteniederlassungen zusammen. Wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten, Bevölkerungswachstum und soziale Diversifizierung innerhalb der britischen Gemeinden schufen Rahmenbedingungen, welche die Ausgestaltung der Konsulargerichtsbarkeit entscheidend beeinflussten. Diesen sozioökonomischen Voraussetzungen wie aber auch den rechtlichen und historischen Bedingungen britischer Konsulargerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert geht der folgende erste Hauptteil übersichtshaft nach.

1. Spuren der Vergangenheit: Rechtsprivilegien in der Levante bis zum 20. Jahrhundert Die Geschichte der Konsulargerichte im Osmanischen Reich beschränkt sich nicht auf das 19. Jahrhundert, wie der Zeitrahmen dieser Untersuchung suggerieren könnte. Im Unterschied beispielsweise zu China, wo die Errichtung von Konsulargerichtshöfen auf einen eigentlichen Gründungsakt in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückging, profitierten europäische Kaufleute in der Levante seit byzantinischen Zeiten von einer Reihe von Sonderrechten, unter welche auch konsularische Gerichtsbarkeit fiel.1 Erst der spezifisch politisch1

Zur Diskussion, ob China bereits vor 1842 über eine Tradition von Exterritorialität verfügte, vgl. Yu Shengwu, Vestiges of Colonialist Ideology: An Obstacle to the History of Sino-Western Relations (a Comment on „The Cambridge History of China: Late Ch'ing, 1800-1911"), in: Indian Historical Review 16/1-2 (1989-1990), S . 2 2 3 - 2 4 4 , S.239.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

ökonomische Kontext des 18. und 19.Jahrhunderts führte jedoch zu einer eigentlichen Institutionalisierung exterritorialer Gerichtsbarkeit in der Levante. Die Geschichte der Rechtsprivilegien gewinnt dadurch an Eigenständigkeit gegenüber den anderen Privilegien, die europäischen Kaufleuten gewährt wurden. 1.1 Von den Chrysobullen zu den Kapitulationen Byzanz und die italienischen Stadtstaaten regelten ihre bilateralen Beziehungen in so genannten Chrysobullen, die primär eine Form des Privilegs darstellten, gleichzeitig aber auch als eigentliche Staatsverträge betrachtet werden können. Chrysobullen galten als Gnadenerlasse des Kaisers, unabhängig davon, ob die Privilegierung auf konkreten Gegenleistungen beruhte. 2 Im Chrysobull von 992 gewährte Byzanz den Venezianern rechtliche Sonderbehandlung im Reich und unterstellte sie der Jurisdiktion des Logotheten des Dromos, des Zuständigen für die außenpolitischen Beziehungen Byzanz'. 3 Damit wurden die Venezianer als Gruppe zwar privilegiert, sie verblieben zumindest formell jedoch innerhalb der byzantinischen Rechtsprechung. Faktisch duldete Byzanz allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Venezianer ihre Rechtshändel untereinander selbst regelten. Trugen die Abkommen von 992 und späteren Zeiten alle Zeichen eines Versuchs, lateinische Kaufmannsgemeinschaften ins Reich zu integrieren, so ebnete demgegenüber das Chrysobull an die Venezianer im Jahre 1198 den Weg zur Bildung einer teilautonomen Händlerkolonie mit eigener Rechtsprechung. Durch diesen Akt wurde nicht nur die gewohnheitsrechtlich schon bestehende Gerichtsbarkeit in Rechtshändeln unter Venezianern formal festgeschrieben. Gerichtsbarkeit lag nun überdies in jedem Fall bei den Venezianern, wenn einer ihrer Untertanen angeklagt war. Byzanz verzichtete damit auf den Anspruch, Rechtsprechung über alle Bewohner des Reichs auszuüben. Das Chrysobull von 1198 markiert damit den Beginn verbriefter exterritorialer Rechte in der Levante. Venedig und Genua sicherten sich über die Rückeroberung Konstantinopels im Jahre 1261 hinaus umfangreiche Rechtsprivilegien, die sich auch auf gemischte Rechtsfälle erstreckten. 4 Die Vorstädte Galata und Pera entwickelten sich nach 1261 zu eigentlichen Kolonien Genuas, und vom Ende des 14. Jahrhunderts an standen die Griechen in Pera unter der vollständigen Jurisdiktion der Genuesen 5 Die Rechtsprivilegien der Chrysobullen beruhten auf der damals verbreiteten Vorstellung, dass das Recht etwas Persönliches sei und jeder Mensch auch im Ausland einer personal bestimmten Gerichtsbarkeit unterstehe. Ein Fremder sollte demnach nicht nach dem Recht des Aufenthaltstaates beurteilt werden, sondern nach seinem Heimatrecht. Dieses System fand seit dem frühen Mittelalter vor allem auf Kaufleute Anwendung, die im Mittelmeerraum Handel trieben. Das Personalitätsprinzip wurde mit der Ausbreitung der europäischen Flächenstaaten vom Territorialitätsprinzip verdrängt, prägte jedoch über den Zerfall der

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Vgl. Franz Dölger, Der Kodikellos des Christodulos in Palermo, in: ders., Byzantinische Diplomatik. 20 Aufsätze zum Urkundenwesen der Byzantiner, Ettal 1956, S. 1-74, S.44. Für die folgenden Ausführungen vgl. Angeliki E. Laiou, Institutional Mechanisms of Integration, in: dies. u. Helene Ahrweiler (Hrsg.), Studies on the Internal Diaspora of the Byzantine Empire, Washington D.C. 1998, S. 161-181, S. 173-178. Vgl. Donald M. Nicol, Byzantium and Venice. A Study in Diplomatic and Cultural Relations, Cambridge 1988, S.191f. u.258f. Zur Organisation der genuesischen und venezianischen Kolonien vgl. Michel Baiard, L'organisation des colonies etrangeres dans l'empire byzantin (Xlle-XVe siecle), in: V. Kravari, J. Lefort u. C. Morrisson (Hrsg.), Hommes et richesses dans l'Empire byzantin, 2 Bde., Paris 1991, Bd. 2, S. 2 6 0 - 2 7 6 , insbes. S. 267f.

1. Rechtsprivilegien in der Levante

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byzantinischen Staatsmacht hinaus jahrhundertelang das Verhältnis zwischen Europa und dem Osmanischen Reich. 6 Die italienischen Stadtstaaten Genua und Venedig standen schon früh mit den Osmanen in Kontakt und schlossen im 14. und 15. Jahrhundert bereits auch verschiedene Handelsverträge ab. Dies verschaffte ihnen nicht nur wichtige Vorteile im Mittelmeerhandel, sie gewannen überdies grundlegende Kenntnisse über die neue Großmacht, die in der Levante am Entstehen war. 7 Mit der Eroberung von Konstantinopel 1453 wurde das Verhältnis der italienischen Stadtstaaten zur Levante auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. In einem imperialen Dekret garantierte Sultan Mehmed II. den Genuesern von Galata weit reichende politische und rechtliche Autonomie sowie umfassende Handelsfreiheiten. Damit war der Prototyp eines Dokuments geschaffen, das die Grundlinien für die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und dem Osmanischen Reich für die Zukunft festlegen sollte. Das 1453 an die Genueser erlassene Dekret hatte die Form eines ahdname, eines unilateral gewährten Privilegs. Ahdnames mussten bei jedem Herrscherwechsel von Neuem gewährt werden. Auf europäischer Seite wurden ahdnames in Anlehnung an deren kapitelweisen Aufbau stets als Kapitulationen bezeichnet. 8 Ahdnames verliehen kollektive Privilegien an eine Gruppe von Ausländern und machten individuelle Schutzbriefe (aman) überflüssig. 9 Die osmanischen Kapitulationen führten in pragmatischer Weise die byzantinische Tradition der Privilegienvergabe an lateinische Kaufmannsgemeinschaften weiter. Ein größerer Umbruch in den außenpolitischen Beziehungen ist für die Zeit nach 1453 daher nicht zu erkennen. Auch beeinträchtigte der Fall von Konstantinopel die Handelsbeziehungen zwischen Europa und der Levante kaum wesentlich. 10 Wie sehr Kontinuität das Verhältnis zwischen den Osmanen und den Ausländergemeinden prägte, zeigt ein Blick auf den Inhalt der Kapitulationen, die wie zu byzantinischen Zeiten drei Kernbereiche abdeckten: persönliche Freiheiten (u.a. freie Glaubensausübung, Unverletzlichkeit des Wohnsitzes), ökonomische Privilegien (u.a. steuerliche Befreiungen, z.B. von der Kopfsteuer [cizye], Verbot kollektiver Schuldhaftung; fixierte, tiefe Zölle; freie Berufsausübung) sowie rechtliche Teilautonomie. Für die europäischen Kaufleute in den osmanischen Städten wurden dadurch wichtige Grundsätze sowohl für ihre täglichen Geschäftsangelegenheiten wie auch für das Zusammenleben mit den verschiedenen osmanischen Bevölkerungsgruppen festgelegt. Das Kapitulationssystem basierte auf einer grundsätzlichen Ungleichheit zwischen dem Privilegspender und dem Privilegempfänger. Der Privilegspender war zwar formal gesehen der Unterlegene, in Wirklichkeit aber vergab er die Vorrechte aus einer Position der Überlegenheit und behielt sich das Recht vor, sie jederzeit zu widerrufen. Das Osmanische Reich stand im 15. und 16. Jahrhundert auf dem Gipfel seiner Macht und war zu einem Machtfaktor avanciert, der in die Überlegungen der europäischen Staaten zunehmend einbezogen werden musste. Eine gemeinsame Rechtsgrundlage für Staatsverträge bestand zwischen Europa und dem Osmanischen Reich noch nicht; das Gefühl imperialer Überlegenheit hätte es der Pforte zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht erlaubt, andere Staaten als gleich6

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Zum Personalitätsprinzip vgl. Georg Dahm, Jost Delbrück u. Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1: Die Grundlagen. Die Völkerrechtssubjekte, Berlin/New York 2 1989, S. 303-328. Vgl. Daniel Goffman, The Ottoman Empire and Early Modern Europe, Cambridge 2002, S. 173. Faroqhi vermeidet für die Frühzeit die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert geläufige Bezeichnung „Kapitulationen", um damit den Bedeutungswandel der ahdnames zu betonen. Vgl. Suraiya Faroqhi, The Venetian Presence in the Ottoman Empire (1600-1630), in: Journal of European Economic History 15/2 (1986), S. 345-384, S. 365. Vgl. van den Boogert, Capitulations, S. 30. Vgl. Kate Fleet, European and Islamic Trade in the Early Ottoman State. The Merchants of Genoa and Turkey, Cambridge 1999, S. 122f.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

berechtigte Vertragspartner zu akzeptieren. 11 Ahdnames waren aus diesem Grund nicht Verträge im formalen Wortsinn, die Reziprozität der Privilegien oder verbindliche Gegenleistungen beinhalteten. Dennoch ist klar, dass stets ein politisches Kalkül die Vergabe von Kapitulationen beeinflusste. Hierfür sprechen schon die mitunter ausgedehnten Verhandlungen und wiederholten Bittgänge, die der Gewährung von Kapitulationen vorausgehen konnten. 12 Wenn die osmanischen Sultane Gegenleistungen im Sinn hatten, dann wohl zumeist in der Form von Bündnisversprechen gegen Rivalen, wie beispielsweise Habsburg im 16. Jahrhundert einen solchen darstellte. 13 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dehnte das Osmanische Reich das Kapitulationssystem auf die großen europäischen Handelsnationen Frankreich (1569)14 und England (1580)15 aus, welche die italienischen Stadtstaaten im Mittelmeer zu konkurrenzieren begannen und schließlich verdrängten. Ohne Handelsprivilegien wäre das nicht denkbar gewesen. So konnten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Osterreich und dem Osmanischen Reich erst im 18. Jahrhundert richtig entfalten, nachdem lange Zeit den Österreichern nicht die gleichen Privilegien wie Frankreich oder England eingeräumt worden waren. 16 Die französischen und englischen Kapitulationen übernahmen im Wesentlichen die Privilegien, die mehr als hundert Jahre zuvor Genua und Venedig gewährt worden waren. Mit dem Eintritt der beiden großen europäischen Territorialstaaten Frankreich und England in den Levantehandel wurden die Beziehungen zwischen der Pforte und Europa somit auf keine neue rechtliche Grundlage gestellt. Der Charakter der europäischen Niederlassungen in der Levante änderte sich dagegen mit der Gründung von französischen und britischen Gemeinden grundlegend. Beide Staaten verfügten über weit größere technische, personelle und militärische Ressourcen als die kleinen italienischen Stadtstaaten. Anfänglich blieb der unmittelbare Einfluss von Frankreich und England allerdings noch gering, da keiner der beiden Staaten seine Händlerkolonien ähnlich zentralistisch organisierte wie Venedig oder Genua. 17 Gesandte operierten oft ohne feste Beziehungen zu ihren Hauptstädten, und den Kolonien fehlte es an klaren Organisationsstrukturen. Ein Verantwortlichkeitsverhältnis zwischen Staat, Gesandten und Konsuln begann sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts herauszubilden. 18 Je besser die Kolonien sich zu organisieren begannen und je klarer sich die Beziehungen der Kolonie zum Mutterland 11

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Vgl. Guido Komatsu, Die Türkei und das europäische Staatensystem im 16. Jahrhundert. Untersuchungen zu Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Völkerrechts, in: Christine Roll (Hrsg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 121-144, S.134. Ein Musterbeispiel hierfür sind die Verhandlungen, die zu den ersten englischen Kapitulationen von 1580 führten. Vgl. Skilliter, William Harborne and the Trade with Turkey. Vgl. Suraiya Faroqhi, Before 1600: Ottoman Attitudes towards Merchants from Latin Christendom, in: Turcica 34 (2002), S. 69-104, S. 78ff. Die ersten französischen Kapitulationen werden teilweise bereits auf die Jahre 1535/1536 datiert. In dieser Frage besteht allerdings kein Konsens. Zu dieser Diskussion vgl. Gaston Zeller, Une legende qui a la vie dure: Les capitulations de 1535, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 2 (1955), S. 127-132; Joseph Matuz, A propos de la validite des capitulations de 1536 entre l'Empire ottoman et la France, in: Turcica 24 (1992), S. 183-192. Zu den englischen Kapitulationen von 1580 vgl. Victor Louis Menage, The English Capitulations of 1580: A Review Article, in: IJMES 12 (1980), S. 373-383. Vgl. Halil Inalcik, The Ottoman State: Economy and Society, 1300-1600, in: ders. u. Donald Quataert (Hrsg.), A n Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300-1914, Cambridge 1994, S. 9 - 4 0 9 , S.188. Zu den Konsulardiensten dieser Zeit in der Levante vgl. Niels Steensgaard, Consuls and Nations in the Levant from 1570 to 1650, in: Scandinavian Economic History Review 15 (1967), S. 13-55. Allgemein zu dieser Entwicklung vgl. Matthew Smith Anderson, The Rise of Modern Diplomacy, 1450-1919, London/New York 1993, S.41f.

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1. Rechtsprivilegien in der Levante

über diplomatische und konsularische Vertretungen gestalteten, desto deutlicher bildete sich der exterritoriale Charakter der Händlerkolonien in der Levante heraus. Britische und französische Levantegemeinden bildeten im 19. Jahrhundert klar umrissene Körperschaften mit eigener Verwaltung, Gerichtsbarkeit sowie verschiedensten kulturellen Einrichtungen. Wenig hatten sie mehr gemein mit der losen Gemeinschaft von Abenteurern, die im 16. und frühen 17 Jahrhundert in den Hafenstädten von Konstantinopel und Smyrna oder in Aleppo ihr Glück versucht hatten. 19 Die von den Osmanen auf der Höhe ihrer Macht im 16. Jahrhundert gewährten Privilegien bildeten über die nächsten mehr als 300 Jahre die wichtigste Grundlage der europäischosmanischen Beziehungen. Denjenigen Staaten, die bereits über Kapitulationen verfügten, gelang es, diese im 17. und 18. Jahrhundert beträchtlich zu erweitern; zusätzlich vergrößerte sich der Kreis der Kapitulationsstaaten deutlich. 20 Die inhaltliche Entwicklung der Kapitulationen kam mit den russischen Kapitulationen von 1783 weitgehend zu einem Abschluss, nachdem die französischen Kapitulationen von 1740 diesbezüglich bereits Maßstäbe gesetzt hatten. Die große Bedeutung der Kapitulationen seit dem späten 18. Jahrhundert erklärt sich nicht aus einer Erweiterung der Privilegien, sondern aus deren Einbettung in einen völkerrechtlich und politisch neuartigen Kontext.

1.2 Neuer Kontext: die Kapitulationen

seit dem späten 18. Jahrhundert

Üblicherweise wird die förmliche Aufnahme des Osmanischen Reichs in die Völkerrechtsgemeinschaft europäischer und amerikanischer Staaten auf den Frieden von Paris im Jahre 1856 datiert. 21 De facto erkannte die Pforte aber bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts die europäischen Völkerrechtsnormen an, primär den Grundsatz von der Gleichrangigkeit von Vertragspartnern. Eine Reihe verheerender militärischer Unternehmungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts offenbarte, wie exponiert das Reich gegenüber äußeren Bedrohungen geworden war, und zwang es in vertragliche und diplomatische Beziehungen mit den europäischen Mächten. 22 Kapitulationsstaaten ließen ihre Privilegien nun zunehmend in Friedens- oder Handelsverträgen bestätigen. 23 Beispielhaft zeigte sich dies an der Einbindung der britischen Kapitulationen in das anglo-osmanische Vertragswerk des 19.Jahr19 20

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Vgl. G o f f m a n , Ottoman Empire and Early Modern Europe, S. 198. Uber Kapitulationen verfügten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts folgende Staaten (in der Reihenfolge der Gewährung): Frankreich, England, Osterreich, Niederlande, Schweden, Sizilien, Dänemark, Preußen, Spanien, Russland, Sardinen, Vereinigte Staaten von Amerika, Belgien, die Hansestädte, Portugal, Griechenland, Brasilien und Bayern. Vgl. Sousa, Capitulatory Regime, S. 64ff. In Art. 7 des Vertragstextes „declarent [die Unterzeichnerstaaten] la Sublime Porte admise ä participer aux avantages du droit public et du concert Europeens". Clive Parry (Hrsg.), The Consolidated Treaty Series, Bd. 114, N e w York 1969, S. 4 0 9 - 4 2 0 , S. 414. Zum Begriff der Völkerrechtsgemeinschaft vgl. Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzung um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, (Beiträge zur Kolonialund Überseegeschichte, Bd. 26), Stuttgart 1984, S. 2 8 4 - 2 8 7 . Vgl. Komatsu, Türkei und das europäische Staatensystem, S. 122 u. 142. Zur Wandlung der osmanischen Diplomatie gegenüber den europäischen Mächten vgl. Thomas Naff, The Ottoman Empire and the European States System, in: Hedley Bull u. Adam Watson (Hrsg.), The Expansion of International Society, O x f o r d 1985, S. 1 4 3 - 1 6 9 . Zu Einwänden gegen Naffs Interpretation vgl. A . Nuri Yurdusev, The Ottoman Attitude toward Diplomacy, in: ders. (Hrsg.), Ottoman Diplomacy. C o n ventional or Unconventional?, New York 2004, S. 5 - 3 5 . Ansätze, einzelne Privilegien der Kapitulationen in Friedens- und Handelsverträgen abzusichern, finden sich bereits in den osmanisch-österreichischen Friedensverträgen von 1718 (Art. 13, unter Verweis auf den Zusatzvertrag über Handel und Seefahrt) und 1739 (Art. 11); im russisch-osmanischen Frieden von Kü$ük Kaynarca 1774 werden die Kapitulationen dann erstmals vollständig in ein Vertragswerk integriert (Art. 11) und verlieren damit ihre einseitige Kündbarkeit durch die Pforte. Für

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

hunderts. Die Kapitulationen in ihrer erneuerten Form von 1675 wurden Großbritannien anlässlich des Dardanellenvertrags von 1809 erstmals vertraglich zugesichert. 24 In zwei Handelsverträgen von 1838 und 1861 ließ sich Großbritannien die Privilegien von 1675 nochmals bestätigen. Der Wortlaut ist in beiden Verträgen derselbe. 25 Damit hatten sich die Kapitulationen grundlegend von ihrer ursprünglichen Bedeutung eines unilateralen Gnaden-

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die erwähnten Verträge vgl. Gabriel Noradounghian (Hrsg.), Recueil d'actes internationaux del'Empire ottoman, 4 Bde., Ndr. von 1897, Nendeln 1978, Bd.l: 1300-1789, S. 208-227, 243-254 u. 319-334. Vgl. Treaty between Great Britain and the Sublime Porte, 5.1.1809, Art. 4, F O 93/110/1B. Vgl. Lewis Hertslet (Hrsg.), A Complete Collection of the Treaties and Conventions, and Reciprocal Regulations, at Present Subsisting between Great Britain and Foreign Powers, 31 Bde., London 1827-1925, Bd. 5, S.506-512, S.507, A r t . l , sowie Hertslet, Bd. 11, S.561-568, S.561, A r t . l .

1. Rechtsprivilegien in der Levante

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erlasses des Sultans entfernt. Die bestehenden Privilegien, einst bester Ausdruck osmanischer Überlegenheit, wurden nun zu verbrieften, völkerrechtlich anerkannten Rechten auf der Grundlage eines Staatsvertrags. Formal gesehen erfüllten die Kapitulationen nun den Grundsatz völkerrechtlicher Reziprozität; inhaltlich waren die Verträge allerdings grundsätzlich einseitig, da die europäischen Staaten den Osmanen zu keinem Zeitpunkt Gegenrechte einräumten. Als vertraglich zugesicherte Vorrechte wurden die verschiedenen Privilegien der Kapitulationen einforderbar und damit zu einem Druckmittel gegenüber der Pforte. Die Verankerung der Kapitulationen in Staatsverträgen war eine Folge des weit reichenden politischen und ökonomischen Einflusses, den europäische Staaten seit dem 18. Jahrhundert auf die Geschicke des Osmanischen Reichs erlangten. Wie das Beispiel der exterritorialen Gerichtsbarkeit zeigen wird, formulierten die Kapitulationen nur allgemeine Grundsätze, die zwar die Basis zur Sonderstellung der Europäer im Osmanischen Reich legten, deren konkrete Umsetzung jedoch entscheidend vom politischen Kontext abhing. So ist davon auszugehen, dass im 16. und 17. Jahrhundert wesentliche Bestimmungen der Kapitulationen von der Pforte oft missachtet wurden, dass mithin zwischen Norm und Wirklichkeit ein tiefer Graben klaffen konnte. 26 Das späte 18. und dann vor allem das 19. Jahrhundert brachten nun aber Faktoren ins Spiel, die es den europäischen Mächten ermöglichten, vermehrt auf dem Buchstaben der Kapitulationen zu beharren. 27 In diesem Zusammenhang ist zuerst einmal auf die politische und militärische Schwächung des Osmanischen Reichs zu verweisen. Nach dem Krieg gegen Russland 1768-1774 und dem anschließenden Frieden von KÜ9Ük Kaynarca gelang es dem Osmanischen Reich nie wieder, sich gegen eine europäische Großmacht zu behaupten. Diese Schwäche manifestierte sich in wiederholten Interventionen der europäischen Mächte in die inneren Angelegenheiten des osmanischen Vielvölkerstaates, so unter anderem im griechischen Unabhängigkeitskrieg 1821-1830, in der Auseinandersetzung mit Muhammad Ali in Ägypten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie im Krimkrieg 1853-1856. Zwar garantierten die Unterzeichnerstaaten des Pariser Vertrags von 1856 den Weiterbestand und die Unabhängigkeit des Osmanischen Reichs. Doch bereits 1860 erfolgte eine erneute Intervention Frankreichs und Großbritanniens im Libanon zum Schutz der Christen, und nach dem Berliner Kongress von 1878 verschärften sich die Eingriffe europäischer Staaten in die osmanische Verwaltung drastisch. Teilweise betraf dies sogar die Steuereintreibung und damit die Staatsfinanzen. Auch der ökonomische Einfluss Europas im Osmanischen Reich nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig zu und schränkte den Handlungsspielraum der osmanischen Regierung zunehmend ein. Weite Teile der osmanischen Ökonomie standen gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter der direkten oder indirekten Kontrolle der Großmächte, die zu günstigen Handelsverträgen gekommen waren und deren Kaufleute von niedrigen Zolltarifen und vorteilhaften Steuersätzen profitierten. 28 Die Machtverschiebungen in den osmanisch-europäischen Beziehungen hatten wesentliche Auswirkungen auf die Bedeutung der Kapitulationen. Kapitulationen wurden nun weniger wegen ihren einzelnen Bestimmungen diskutiert, als vielmehr global als Chiffre für den europäischen Einfluss auf das Osmanische Reich betrachtet. Ihre Abschaffung galt später im 19. Jahrhundert und dann vor allem nach der jungtürkischen Revolution von 1908 als eines der großen Ziele der osmanischen Politik. Die Beseitigung aller Vorrechte für Ausländer versprach Remedur zu schaffen gegen die Abhängigkeiten, in die das Reich gegenüber 26 27

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Vgl. Steensgaard, Consuls and Nations, S. 18ff. Für eine Ubersicht zur so genannten „Eastern Question" vgl. Matthew Smith Anderson, The Eastern Question, 1 7 7 4 - 1 9 2 3 : Α Study in International Relations, London/New York 1966. Zum ökonomischen Einfluss europäischer Staaten im Osmanischen Reich vgl. ausführlich Kap. 1/3.1.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

den europäischen Staaten geraten war. 29 Zwar hätte ein Ende der Kapitulationen die europäischen Levantebewohner tatsächlich vieler ihrer Vorrechte beraubt. Doch die Symbolik, mit der die Kapitulationen von europäischer und osmanischer Seite aufgeladen wurden, verdeckte, dass diese in der Endphase des Osmanischen Reichs Ausdruck eines größeren Problems waren und nur unwesentlich das Problem selbst darstellten. Die Abschaffung der Kapitulationen hätte den europäischen Einfluss auf das Osmanische Reich mit einiger Wahrscheinlichkeit kaum wesentlich eingeschränkt. Ein Bereich allerdings, der unmittelbar und tief greifend davon betroffen gewesen wäre, waren die europäischen Konsulargerichte. Ihre Existenz hatte sich in all den Jahrhunderten ihres Bestehens stets und einzig auf die Grundlage der Kapitulationen gestützt. Kein Vertrag und keine weiteren Privilegien regelten auf einer bilateralen Ebene exterritoriale Gerichtsbarkeit im Detail. Mit Blick auf das Schicksal der Konsulargerichte kommt der Diskussion um die Abschaffung bzw. Erhaltung der Kapitulationen deshalb großes Gewicht zu. Europäische Staaten rechtfertigten die Rechtsprivilegien der Kapitulationen jeweils mit dem Hinweis, von ihren Untertanen könne nicht erwartet werden, unter dem fremden und „archaischen" Rechts- und Verwaltungssystem der Osmanen zu leben. 30 Für das Justizwesen genoss dieses Argument besonders starke Verbreitung und Popularität. Den Umkehrschluss, dass eine Reform des Justizwesens nach europäischen Maßstäben die Voraussetzung zur Abschaffung der Kapitulationen schaffen würde, zogen in naheliegender Weise die Osmanen, insbesondere die Jungtürken nach 1908.31 So notierte der Jurist und russische Dragoman in Konstantinopel, Andre Mandelstam, über die Ernennung des Franzosen Leon Ostrorog zum Justizberater der osmanischen Regierung im Jahre 1909: Dans la pensee du ministre, l'engagement du conseiller [Leon Ostrorog] devait etre le premier pas vers l'abrogation des Capitulations qu'il etait impossible d'abolir d'un trait: on ne pouvait arriver a cette abrogation qu'en reorganisant les institutions judiciaires ottomanes de fagon ä inspirer une confiance absolue aux etrangers. 32

Umso frustrierender war es daher für die Pforte zu erfahren, wie trotz zahlreicher Anstrengungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, das osmanische Rechtssystem zu reformieren, sich die europäischen Mächte einer Revision der exterritorialen Rechte grundsätzlich verweigerten. 33 Eine Aufgabe der Kapitulationen lag beispielsweise für Großbritannien nie im Bereich des Erwägbaren, und wenn der Pforte Signale in diese Richtung ausgesandt wurden, dann nur als taktische Täuschungsmanöver oder zum Zweck, Zeit zu gewinnen. 34

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Vgl. Ahmad, Ottoman Perceptions of the Capitulations, S. 9ff. Vgl. Feroz Ahmad, The Late Ottoman Empire, in: Marian Kent (Hrsg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 5 - 3 0 , S. 12f.; Rill, Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien, S. 156f.; Edward Dicey, The Story of the Capitulations, in: The Nineteenth Century and A f t e r 60 (1906), S. 1 7 - 2 4 , S. 22. - Auch f ü r die kontinentaleuropäische Völkerrechtslehre des 19. Jahrhunderts definierten Kapitulationen das Verhältnis zwischen „zivilisierten" Staaten und „barbarischen" bzw. „halb-barbarischen" Gemeinwesen. Vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 532, 534 u. 687. Vgl. Kemal H. Karpat, The Transformation of the Ottoman State, 1 7 8 9 - 1 9 0 8 , in: IJMES 3 (1972), S. 2 4 3 - 2 8 1 , S. 263; Feroz Ahmad, The Young Turks. The Committee of Union and Progress in Turkish Politics 1 9 0 8 - 1 9 1 4 , O x f o r d 1969, S . 6 2 f f . u. 156f. A n d r e Mandelstam, Preface, in: Leon Ostrorog, Pour la reforme de la justice ottomane. Rapports, exposes des motifs, avant-projets de lois, Paris 1912, S. vii-viii. Im Unterschied zum Osmanischen Reich gelang es Japan, durch eine grundlegende Reform des Rechts- und Gerichtssystems die europäischen Mächte und Amerika zur Aufgabe ihrer exterritorialen Privilegien zu bewegen. Die Konsulargerichte in Japan wurden 1899 aufgehoben, vgl. Jones, Extraterritoriality in Japan. Vgl. Joseph Heller, British Policy towards the Ottoman Empire, 1 9 0 8 - 1 9 1 4 , London 1983, S.94f.

1. Rechtsprivilegien in der Levante

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Europäische Beobachter des 19. Jahrhunderts zeichneten ein durchwegs unvorteilhaftes Bild der osmanischen Justiz. 3 5 Solche Einschätzungen sind mit einiger Vorsicht zu behandeln, da die Kenntnisse über das osmanische wie auch über das eigene, nationale Rechtssystem oft dürftig waren, ein Vergleich mithin inkonsistent ausfiel. 36 Die Wahrnehmung des Justizwesens erfolgte zudem überproportional stark über die osmanische Strafrechtsprechung. Europäer konnten osmanische Strafjustiz zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelmäßig im öffentlichen R a u m erleben, in erster Linie in F o r m von E x e kutionen und Körperstrafen. 3 7 In gleicher Weise vermochte die Apostasie-Frage das Bild von der osmanischen Justiz zu prägen. Bis zur Abschaffung der Todesstrafe auf Apostasie 1844 galten die Kapitulationen auch als Schutz für Europäer und insbesondere ihrer Proteges in dieser Sache. 3 8 Allgemein wurden die Rechtsprivilegien der Kapitulationen als Bollwerk gegen Diskriminierungen der christlichen Europäer vor den osmanischen

Gerichten

verstanden. In dieser Haltung sah man sich speziell in Großbritannien nach den Christenverfolgungen im Libanon und in Syrien 1860 sowie der blutigen Niederschlagung des Bauernaufstandes in Bulgarien 1876 bestärkt. 3 9 All diese Argumente schienen aus europäischer Perspektive die Rechtsprivilegien der Kapitulationen bei weitem zu rechtfertigen. Das Urteil von Europäern über die osmanische Justiz fiel im 17. und 18. Jahrhundert gemeinhin wohlwollender aus als in späteren Zeiten. Die Gerichtsbarkeit wurde als effizient, hart und exakt bezeichnet, gleichermaßen aber auch als despotisch. 4 0 Im Unterschied z u m 19. Jahrhundert war der gedankliche Ausgangspunkt noch nicht derjenige, dass die osmanische Justiz im Grunde nach europäischem Vorbild funktionieren sollte. 41 Diese Prämisse war erst den Beurteilungen des 19. Jahrhunderts explizit oder implizit inhärent, und entsprechend fiel der Blick auf die osmanischen Gerichte in dieser Zeit auch negativer aus. 4 2 35

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Für Einschätzungen des osmanischen Rechtssystems vgl. u.a. Austen Henry Layard, The Condition of Turkey and her Dependencies. Speech Delivered in the House of Commons on Friday, May 29, 1863, London 1863, S. 34; George Campbell, A Handy Book of the Eastern Question. Being a very Recent View of Turkey, London 1876, S. 93; Charles Dudley Warner, In the Levant, London 1877, S.214-228; Eduard Engelhardt, La Turquie et le Tanzimat, ou, histoire des reformes dans l'Empire Ottoman depuis 1826 jusqu'a nos jours, 2 Bde., Paris 1882-1884, Bd.2, S.228-232; Henry C. Barkley, A Ride Through Asia Minor and Armenia: Giving a Sketch of the Characters, Manners and Customs of both the Mussulman and Christian Inhabitants, London 1891, S. 102. Vgl. Schiffer, Oriental Panorama, S. 325. Als Beispiel hierfür kann der Bericht aus Erzurum von Robert Curzon genommen werden, einem britischen Mitglied der internationalen Kommission zur Festlegung der Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und Persien. Robert Curzon, Armenia: A Year at Erzeroom, and on the Frontiers of Russia, Turkey, and Persia (1854), London 2003, S. 64f. Vgl. auch Adolphus Slade, Records of Travels in Turkey, Greece, etc. and of a Cruise in the Black Sea with the Captain Pacha, London 1854, S. 230ff.; Robert Walsh, A Residence at Constantinople, during a Period Including the Commencement, Progress, and Termination of the Greek and Turkish Revolutions, 2 Bde., London 1836, Bd. 1, S. 336f. Vgl. Turgut Suba$i, The Apostasy Question in the Context of Anglo-Ottoman Relations, 1843^44, in: Middle Eastern Studies 38/2 (2002), S . l - 3 4 , S . U . Vgl. Carl L. Brown, International Politics and the Middle East. Old Rules, Dangerous Game, Princeton 1984, S. 108f. - So brandmarkte der vormalige Premierminister William Gladstone von einer christlich-moralischen Warte aus die britische Politik gegenüber dem Osmanischen Reich. Vgl. William Ewart Gladstone, Bulgarian Horrors and the Question of the East, London 1876. Vgl. Asli Cirakman, From the „Terror of the World" to the „Sick Man of Europe". European Images of Ottoman Empire and Society from the Sixteenth Century to the Nineteenth, New York/Oxford 2002, S. 67 u. 143. Wie Cunningham zeigt, beschränkte sich dieser Anspruch keineswegs auf das Justizwesen. Allan Cunningham, The Sick Man and the British Physician, in: Middle Eastern Studies 17/2 (1981), S. 147-173, S. 149, 156 u. 166. Typisch hierfür steht der englische Reiseschriftsteller und Politiker Henry Percy, der in seinem Bericht 1899 aus Kayseri die Schwachstellen des osmanischen Rechtssystems mit englischen Rechts-

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Es gehörte zu den verbreiteten Argumenten für die Beibehaltung der Kapitulationen, das osmanische Rechtssystem solle am Vorbild wachsen, welches die verschiedenen europäischen Konsulargerichte für jedermann ersichtlich abgäben. 43 Zwar würdigte Großbritannien durchaus die Rechtsreformen, welche die Pforte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Wege leitete. Gleichwohl herrschte unter britischen Levantebewohnern die Meinung, eine gerechte Rechtsprechung sei von den osmanischen Gerichten noch nicht zu erwarten. So hielt der Brite Edwin Pears, der jahrzehntelang vor osmanischen und europäischen Gerichten in Konstantinopel als Rechtsanwalt (Barrister) tätig war, am Ende seiner Karriere fest: „I note as a fact [...] that the outwards signs of respect for the administration of the law as exhibited by the judicial genius of our race have no existence in Turkey." 44 1.3 Die Aufljebung der Kapitulationen Die Nachricht von der Abschaffung der Kapitulationen auf Anfang Oktober 1914 traf die europäischen Mächte keineswegs überraschend. 45 Der Erklärung waren jahrzehntelange Bemühungen der Pforte vorausgegangen, die europäischen Vorrechte im Osmanischen Reich einzuschränken. An der Pariser Friedenskonferenz von 1856 hatten die Vertragsstaaten der Pforte erstmals eine Neubeurteilung der Kapitulationen in Aussicht gestellt. Daran schlossen sich jedoch keine konkreten Schritte an. Zweimal sah die Pforte ihre Anstrengungen nach 1856 dennoch fast belohnt, einmal in einem Abkommen mit Deutschland (1890), ein anderes Mal mit Frankreich (1914). Beide Verträge scheiterten allerdings jeweils am Einspruch der anderen Kapitulationsmächte. 46 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa bot dann aber eine vorzügliche Gelegenheit, die Bürde der Kapitulationen einseitig abzuwerfen und umfassende Souveränität zu verkünden. Eine Intervention von Seiten der anderweitig beschäftigten europäischen Mächte galt als unwahrscheinlich, zumal zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss war, ob das Osmanische Reich überhaupt in den Krieg hineingezogen würde, und wenn ja, auf welcher Seite. Die Note, die Außenminister und Großwesir Said Halim Pasha den Botschaftern der Kapitulationsmächte am 9. September 1914 zukommen ließ, stellte den ausländischen Bewohnern und ihren Proteges die Gleichstellung mit den osmanischen Untertanen auf Anfang Oktober 1914 in Aussicht. 47 Den lokalen Behörden sollte es fortan möglich sein,

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normen zu kurieren hoffte. Vgl. Henry Algernon George Percy, Highlands of Asiatic Turkey, London 1901, S. 6 3 - 7 3 . Gleichermaßen aufschlussreich ist die Argumentation des britischen Dragomans A n d r e w Ryan in Konstantinopel, dass die Kapitulationen nicht mehr länger zu rechtfertigen wären, sobald die osmanischen Institutionen europäischen Standard erreicht hätten. A n d r e w Ryan, The Last of the Dragomans. With a Foreword by the Editor, Sir Reader Bullard, London 1951, S.68f. Vgl. u.a. Travers Twiss, Rapport: Application aux nations orientales du droit des gens coutumier de l'Europe, in: Annuaire de l'Institut de droit international 5 (1881-1882), S. 1 3 2 - 1 4 9 , S.147. Der tatsächliche Einfluss der Konsulargerichte auf das osmanische und später türkische Rechtssystem scheint allerdings unbedeutend gewesen zu sein. Vgl. Roderic H. Davison, Turkish Attitudes Concerning Christian-Muslim Equality in the Nineteenth Century, in: ders., Essays in Ottoman and Turkish History, 1 7 4 4 - 1 9 2 3 . The Impact of the West, Austin 1990, S. 1 1 2 - 1 3 2 , S.122f. N u r wenige Stimmen gingen so weit zu behaupten, die Rechtsprivilegien hätten Reformen im osmanischen Rechtssystem recht eigentlich behindert. Zu dieser Meinung vgl. Reader Bullard, Britain and the Middle East, f r o m Earliest Times to 1963, London 3 1964, S. 50f. Edwin Pears, Turkey and Its People, London 1911, S. 343. Dies zeigt sich gut in der vorsichtig-abwägenden Haltung der britischen Handelskammer in Konstantinopel im September 1914. Vgl. The British Chamber of Commerce of Turkey and the Balkan States, Quarterly Trade Journal No. 27 (Sept. 1914), S. 115. Vgl. Sousa, Capitulatory Regime, S. 179ff. u. 186f. Said Halim an Mallet, 9 . 9 . 1 9 1 4 , F O 195/2460/4475.

1. Rechtsprivilegien in der Levante

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Ausländer zu inhaftieren und ausnahmslos vor osmanische Gerichte zu stellen. Die gemischten Gerichtshöfe sollten abgeschafft und die Vorrechte von Ausländern aufgehoben werden. In den europäischen Niederlassungen der Levante wurde die Nachricht von der Abschaffung der Kapitulationen mit Gelassenheit aufgenommen.48 Nicht, dass die Kapitulationsmächte diesen Schritt der Pforte als in irgendeiner Weise gerechtfertigt empfunden hätten - ganz im Gegenteil. In einer von Frankreich, Russland und Großbritannien gemeinsam verfassten Note wurde die Pforte auf den Vertragscharakter der Kapitulationen hingewiesen, der eine einseitige Auflösung verbiete.49 Unter den gegebenen Umständen und für den Moment tat es allerdings wenig zur Sache, wer das Recht auf seiner Seite reklamieren konnte. Der Gleichstellung von Ausländern und osmanischen Untertanen war nämlich keine Dauer beschieden. Genau einen Monat nach der Aufhebung der Kapitulationen ordnete Botschafter Mallet in Konstantinopel den Abzug aller britischer Konsuln von osmanischem Territorium an und am 6. November folgte die britische Kriegserklärung ans Osmanische Reich. In Kriegszeiten galten die Kapitulationen ohnehin als ausgesetzt.50 Die Geschichte der britischen Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich endete kurz vor dem Kriegsausbruch in der Levante im November 1914. Die siegreichen Kapitulationsmächte zeigten sich nach dem Krieg vorerst aber noch nicht geneigt, diese Tatsache zu akzeptieren. Der Waffenstillstand von Mudros (30. Oktober 1918) zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich erwähnt die Kapitulationen zwar mit keinem Wort, doch machten die Entente-Staaten keinen Hehl daraus, dass sie die einseitige Abschaffung von 1914 als illegal betrachteten.51 Die Entente befand sich in günstiger Ausgangslage, die osmanische Niederlage zu nutzen und die Bestimmungen der Kapitulationen zu reaktivieren. Doch zwischen ihren Mitgliedstaaten bestanden erhebliche Differenzen über den Status der Kapitulationen. Frankreich und Italien vertraten den Standpunkt, die Kapitulationen seien formell nie außer Kraft getreten, da die Abschaffung im Oktober 1914 einseitig erfolgt sei.52 Sie forderten die Widerrufung aller Gesetze und Verordnungen, welche die Pforte seit 1914 erlassen hatte und die im Widerspruch zu den europäischen Sonderrechten im Osmanischen Reich standen.53 Großbritannien stellte den illegalen Charakter der Abschaffung nicht in Frage, gewichtete jedoch den Einfluss der Kriegsereignisse auf die Kapitulationsverträge stärker. Auch ohne die Initiative der Pforte vor dem Krieg wären die Kapitulationen spätestens mit dem Kriegsausbruch zumindest ausgesetzt worden, argumentierte man im Foreign Office.54 Die Kontinuitätsthese wurde nur insofern geteilt, als sie sich auf die Zeit nach dem Abschluss eines

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Zu Reaktionen auf die Abschaffung der Kapitulationen im Osmanischen Reich vgl. für Großbritannien die Meldungen der Konsuln vom September 1914 in F O 1 9 5 / 2 4 6 0 / 4 4 7 5 . Vgl. N o t e vom 10.9.1914, F O 1 9 5 / 2 4 6 0 / 4 4 7 5 . Die Frage, ob die Kapitulationen in Kriegszeiten außer Kraft treten würden, wurde anlässlich des italienisch-türkischen Krieges von 1912 diskutiert. Im Unterschied zu Italien ging Großbritannien davon aus, dass die Kapitulationen in Kriegszeiten ausgesetzt wären. Vgl. L o w t h e r an Grey, N o . 490, 9 . 6 . 1 9 1 2 , sowie das eingeschlossene Memorandum (undatiert, ohne Titel) von Dragoman Ryan, F O 881/10183X. Das Waffenstillstandsabkommen ist abgedruckt in Paul C . Helmreich, F r o m Paris to Sevres. The Partition of the O t t o m a n Empire at the Peace Conference of 1 9 1 9 - 1 9 2 0 , Columbus 1974, S.341f. Vgl. Calthorpe (Hochkommissar, Konstantinopel) an Balfour, N o . 21, 6.1.1919, sowie N o . 1 4 2 , 25.7.1919, F O 6 0 8 / 1 0 9 / 1 . Vgl. auch das Memorandum (ohne Titel) des französischen Außenministeriums zu dieser Frage, 6 . 1 . 1 9 1 9 , F O 4 0 6 / 4 1 . Vgl. den Entwurf einer gemeinsamen N o t e von Frankreich und Italien an die Pforte, Beilage in Calthorpe an Balfour, N o . 21, 6.1.1919, F O 6 0 8 / 1 0 9 / 1 . Vgl. Balfour an Curzon, N o . 31, 1.2.1919, F O 6 0 8 / 1 0 9 / 1 ; Balfour an Calthorpe, N o . 5 1 , 4.7.1919, F O 406/42.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Friedensvertrags bezog. Diese Auslegung Großbritanniens wurde auch von Teilen der Rechtswissenschaft gestützt. Sowohl Westlakes „International Law" wie auch Halls „Treatise on International Law" betonen die Aussetzung dieser Art von Verträgen in Kriegszeiten, sehen aber keinen Hinderungsgrund dafür, dass diese Verträge mit dem Friedensschluss automatisch wieder Geltung erlangen sollten. 55 Die britische Haltung, die Kapitulationen erst mit einem gültigen Friedensschluss zu aktivieren, schien rechtlich wohl fundiert zu sein, litt aber unter der Tatsache, dass ein solcher Friedensschluss bis 1920 auf sich warten ließ. Der Vertrag von Sevres sah vor, die europäischen Sonderrechte zu stärken und auf diejenigen Alliierten auszuweiten, die vor dem Krieg über keine Privilegien verfügt hatten. 56 Keine dieser Absichten konnte schließlich erreicht werden, da die Umsetzung des Vertrags von Sevres am Widerstand der türkischen Nationalisten scheiterte. Die Ungewissheit über das Weiterbestehen der Kapitulationen machte sich in erster Linie in Konstantinopel bemerkbar. Von den Rechtsinstitutionen, die vor dem Krieg bestanden hatten, funktionierten zu dieser Zeit nur die türkischen Gerichte. Die Konsulargerichte und gemischten Gerichtshöfe blieben suspendiert. 57 Neue Gerichtsinstitutionen zu schaffen stand der Entente nicht zu, da sie nicht offizielle Besatzungsmacht war. 58 Türkische Gerichtsbarkeit über Europäer anzuerkennen kam ohnehin nicht in Frage, solange sich die Entente mit dem Osmanischen Reich formal noch im Kriegszustand befand. 59 Die Sicherheitslage in Konstantinopel wird für diese Zeit als äußerst prekär beschrieben. 60 Erst nach der offiziellen Besetzung Konstantinopels im Mai 1920 nahm das britische Konsulargericht seine Arbeit teilweise wieder auf. Unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang dies geschah, bleibt indessen unklar. 61 Für europäisch-osmanische Rechtsfälle bestand aber auch 1921 noch keine zuständige Gerichtsbehörde, da unter anderem das gemischte Handelsgericht (Tidjaret) seine Arbeit nach dem Krieg nicht wieder aufgenommen hatte. 62 Im Gegensatz zu Konstantinopel wurden Smyrna und sein Umland bereits kurze Zeit nach dem Waffenstillstand militärisch besetzt. Die griechische Besatzungsmacht hob die türkischen Strafgerichte auf und stellte sämtliche Polizei- und Straffälle unter Kriegs-

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Westlake, International Law, Part II: War, S. 32ff.; Hall, Treatise on International Law, S. 389. Spezifisch f ü r die Kapitulationen vgl. C . G . Tenekides, Les Capitulations dans la region de Smyrne et le Traite de Sevres, in: Clunet 48 (1921), S . 9 5 - 1 0 0 , 96f. Treaty of Sevres 1920, A r t . 136 u. 261, abgedruckt in: The Treaties of Peace, 1 9 1 9 - 1 9 2 3 , 2 Bde., N e w York 1924, Bd.2, S. 7 8 7 - 9 4 1 . Vgl. hierzu auch Roderic Η. Davison, Foreign and Environmental Contributions to the Political Modernization of Turkey, in: ders., Essays in Ottoman and Turkish History 1 7 7 4 - 1 9 2 3 . The Impact of the West, Austin 1990, S . 7 3 - 9 5 , S.73f. Vgl. Calthorpe an Balfour, No. 142, 2 5 . 7 1 9 1 9 , F O 608/109/1. Zu Istanbul unter alliierter Besetzung vgl. N u r Bilge Criss, Istanbul under Allied Occupation, 1 9 1 8 - 1 9 2 3 , Leiden 1999, insbes. S. 6 0 - 8 0 . Vgl. F O an Law Officers, 10.12.1919, F O 406/43. Vgl. hierzu auch Criss, Istanbul, S.68. Vgl. Calthorpe an die britische Delegation an der Pariser Friedenskonferenz, N o . 1306, 20.6.1919, F O 608/109/1. Zur Sicherheitslage in Konstantinopel vgl. auch die Aufzeichnungen des britischen Militärattaches Harold Armstrong in Konstantinopel. Harold Armstrong, Turkey in Travail. The Birth of a N e w Nation, London 1925, S. 105ff. Ebenfalls aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist J o h n Presland, Deedes Bey. Α Study of Sir W y n d h a m Deeds, 1 8 8 3 - 1 9 2 3 , London 1942, S. 302ff. Vgl. Curzon an de Robeck, No. 184, 4.3.1920, F O 406/43, sowie das Urteil im Fall Mill ν Asseo & Merkidian (undatiert, vermtl. Aug. 1920), Einlage in Rumbolt an Curzon, N o . 871, 21.9.1921, F O 406/47. Frankreich und Italien öffneten bereits Anfang Februar 1920 ihre Konsulargerichte, vgl. de Robeck an Curzon, No. 270, 22.2.1920, F O 406/43. Maurice Pernot, L'absence d'organisation judiciaire ä Constantinople pour les nationaux et les etrangers, in: Clunet 48 (1921), S. 4 9 7 - 5 0 0 , S. 498.

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1. Rechtsprivilegien in der Levante

recht. 6 3 Die Haltung, Smyrna wie einen Teil des griechischen Königreichs zu verwalten, kulminierte in der Erklärung Griechenlands an die Entente-Mächte, die Kapitulationen in den griechisch

besetzten

Gebieten

gälten als abgeschafft. 6 4

Frankreich,

Italien,

die

Niederlande und auch Großbritannien sahen sich unvermittelt in die Situation versetzt, ihre exterritorialen Ansprüche nicht mehr gegen die osmanischen Behörden durchsetzen zu müssen, sondern gegen eine im Prinzip gleichgestellte und verbündete Kapitulationsmacht. 6 5 Griechenland sah sich schließlich zu Konzessionen an die europäischen Staaten gezwungen, behielt jedoch mit Unterstützung des Foreign

Office

umfangreiche Gerichtskompe-

tenzen unter Kriegsrecht. 6 6 Insbesondere im Falle Großbritanniens entbehrte diese Situation nicht der Ironie. Z u m einen ging die griechische Besetzung Kleinasiens wesentlich auf britische Initiative zurück, z u m anderen lag die Zeit in noch nicht allzu weiter Ferne, da die britischen Konsulargerichte griechische Bürger im Osmanischen Reich unter ihre Protektion genommen hatten. 6 7 Die griechische Herrschaft kam mit den kriegerischen Ereignissen im H e r b s t 1922 dann aber zu einem abrupten Ende, und der folgende E x o d u s besiegelte auch das Schicksal der europäischen Präsenz in Kleinasien. 6 8 Smyrna fiel den F l a m m e n z u m Opfer und hörte auf, eine kosmopolitische Stadt zu sein. U n d w o es keine Ausländer mehr gab, da dienten auch die Konsulargerichte keinem Z w e c k mehr. Was in Smyrna gewaltsam ein E n d e nahm, das hörte im verbliebenen Teil des Osmanischen Reichs, der fortan den türkischen Nationalstaat bilden sollte, mit dem Vertrag von Lausanne 1923 kurze Zeit später ebenfalls auf zu existieren. 6 9 Die „large and loving privileges", wie der britische 63

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Die türkischen Gerichte behielten in den meisten Zivilsachen dagegen ihre angestammte Zuständigkeit. Zur Gerichtsbarkeit unter griechischer Besatzung vgl. C.G. Tenekides, L'occupation hellenique en Asie-Mineure et la Justice repressive ottomane dans leurs rapports avec les Capitulations, in: Clunet 47 (1920), S. 4 6 8 ^ 7 7 , S. 470ff. Vgl. Morgan an Curzon, No. 5, 30.5.1919, F O 141/444/8; Morgan an British High Commissioner, No. 82, 16.7.1919, F O 608/103/3. Zur griechischen Verwaltungsbehörde von Smyrna (Mai 1919 bis Sept. 1922) und deren Verhältnis zu den anderen Kapitulationsstaaten vgl. Evangelia Achladi, De Ia guerre a l'administration grecque: la fin de la Smyrne cosmopolite, in: Marie-Carmen Smyrnelis (Hrsg.), Smyrne, la ville oubliee? Memoires d'un grand port ottoman, 1830-1930, (Collection Memoire, Bd. 121), Paris 2006, S. 180-195, insbes. S. 191f. Vgl. u.a. Morgan an Sterghiades, 29.5.1919, Morgan an Haut Commissaire Hellenique, 25.6.1919, Verduynen an Curzon, 28.7.1919 u. Balfour an Curzon, No. 1637, 18.8.1919, F O 608/103/3. Die italienische Regierung sondierte 1921 beim F O , ob Großbritannien die Anwendung von Kriegsrecht auf Straftaten von Ausländern in Smyrna befürworte. Das F O bejahte und meinte, Kriegsrecht habe gegenüber den Kapitulationen Vorrang, sofern sich die Tat gegen die Besatzungsmacht richte. Ital. Botschaft an F O , 18.12.1921, sowie F O an ital. Botschaft, 4.1.1922, F O 286/819. Vgl. Malcolm E. Yapp, The Making of the Modern Near East, 1792-1923, London/New York 1987, S. 317f. Zum Exodus vgl. die Berichte des britischen Vizekonsuls Urquhart in Smyrna aus den Monaten September bis November 1922, F O 141/580/1. Zu den Ereignissen im September 1922 und der bis heute umstrittenen Ursache des zerstörerischen Brandes von Smyrna vgl. Herve Georgelin, La fin de Smyrne. Du cosmopolitisme aux nationalismes, Paris 2005, S. 201-224. Treaty of Lausanne 1923, Art. 28 u. 71, abgedruckt in The Treaties of Peace, 1919-1923, 2 Bde., New York 1924, Bd. 2, S. 957-1022. Guten Einblick in die Verhandlungen in Lausanne und die unnachgiebige Haltung der türkischen Delegation in allen Fragen, welche die Rechtsprivilegien der Kapitulationen betrafen, geben die Dokumente aus der Kommission zum Rechtsstatus der Ausländer in der Türkei. Vgl. die Zwischenberichte über die Kommissionssitzungen ans F O , spez. vom 3.12. u. 28.12.1922, F O 839/36, sowie die Protokolle zu den Kommissionssitzungen in den Command Papers, Cmd. 1814, Turkey N o . l (1923), Lausanne Conference on Near Eastern Affairs 1922-1923. Records of Proceedings and Draft Terms of Peace (with map). Meetings of the Second Commission, on the Regime of Foreigners, S. 465-535. Zu einer zeitgenössischen Einschätzung der Abschaffung der Kapitulationen im Vertrag von Lausanne vgl. Disappearance of the Capitulations in Turkey (unbekannter Autor), in: British Year Book of International Law 5 (1924), S. 192-193.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Konsul Reader Bullard die Rechtsbestimmungen der Kapitulationen genannt hatte, waren damit Geschichte geworden.70

2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit Der hohe Stellenwert, den die Kapitulationen für das Verhältnis zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Staaten einnahmen, könnte zur Annahme verleiten, auch die Konsulargerichtsbarkeit sei wesentlich durch die Bestimmungen der Kapitulationen geprägt worden. Dies war, wie der Konsularrichter Walter de Sausmarez 1904 festhielt, jedoch nur teilweise der Fall: „The extent of the rights of the Embassies in Turkey to control the application to their countrymen of Turkish law depends in fact far more on precedent and usage than on the capitulations." 71 Folgt man de Sausmarez' Argumentation, dann beruhte die britische Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich nur am Rande auf festgeschriebenen Rechtsgrundsätzen. Wenn Präzedenzfälle und Gewohnheiten die Grenze definierten, wo osmanische Gerichtsbarkeit aufhörte und britische Jurisdiktion einsetzte, liegt die Vermutung nahe, dass die rechtliche Bedeutung der Kapitulationen im Gerichtsalltag eher gering war. Es ist aus diesem Grunde unerlässlich, einen genauen Blick auf die englischen Kapitulationen zu werfen und zu untersuchen, inwieweit die Formulierungen zur exterritorialen Gerichtsbarkeit den Konsuln klare Richtlinien für ihre richterlichen Aufgaben boten. Neben den Kapitulationen ergänzten Regulierungen, die Großbritannien unilateral erließ, das rechtliche Gerüst der britischen Konsulargerichtsbarkeit in der Levante. Unter dem Eindruck eines beschleunigten demografischen und ökonomischen Wandels in den britischen Niederlassungen begann Großbritannien ab den vierziger Jahren des ^ . J a h r hunderts verstärkt, gesetzgeberisch auf die Ausgestaltung der Konsulargerichte Einfluss zu nehmen. Dieses Engagement spiegelte sich in erster Linie in differenzierten Gerichtsordnungen wider, die das Foreign O f f i c e in dieser Zeit einführte. Auf die Problematik, normative Texte wie Kapitulationen, Gesetze oder Verordnungen für die Untersuchung der Konsulargerichtsbarkeit zu berücksichtigen, wurde bereits in der Einleitung hingewiesen. Gerichtsakten und Gerichtskorrespondenz zeigen allerdings, wie stark Kapitulationen, Gesetze und Verordnungen in der Wahrnehmung der Konsuln und der Pforte Referenzpunkte der täglichen Arbeit und Konflikte darstellten. Allein dies rechtfertigt es, in diesem und den folgenden Kapiteln solche Dokumente zu berücksichtigen und angemessen zu gewichten - ohne sie jedoch insgesamt überbewerten zu wollen. 2.1 Exterritorialität

in Englands Kapitulationen,

1580-1675

In den Kapitulationen des 16. und 17. Jahrhunderts ist die Gerichtsbarkeit der Konsuln über ihre Landsleute bloß in kurzen Paragrafen und als Zusätze zu gewichtigeren, in erster Linie den Handel betreffenden Regulierungen geregelt. Die Bestimmungen zu den exterritorialen Rechten sind in den ersten englischen Kapitulationen von 1580 in einem einzigen Satz ausgeführt:

70

71

Reader Bullard, Large and Loving Privileges: The Capitulations in the Middle East and N o r t h Africa, Glasgow 1960. Walter de Sausmarez, Memorandum (ohne Titel), 26.9.1904, F O 195/2168.

2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit

55

Art. 17: And if the English should have disputes one with another let their aforesaid ambassador and consul decide (them) according to their usage; let no one hinder (them). 72 In der Erneuerung der Kapitulationen von 1601 heißt es in Artikel 4: That all Englishmen, and others under the English banner, havinge any difference or sute, the sam shall not be hard or ajudged, except their drogermen or procurators be present. And also, if the sam sute doe amount to more then the som of 4000 aspers, it shalbe hard and ditermyned in no other place, but sent up hether to my happy throne. 73 In den 1675er Kapitulationen w u r d e n die beiden Artikel dann zusammengenommen 7 4 : Art. 15: That in all litigations occurring between the English, or subjects of England, and any other person, the judges shall not proceed to hear the cause without the presence of an interpreter, or one of his deputies. Art. 16: That if there happen any suit, or other difference or dispute, amongst the English themselves, the decision thereof shall be left to their own Ambassador or Consul, according to their custom, without the judge or other governors our slaves intermeddling therein. Art. 24: That if an Englishman, or other subject of that nation, shall be involved in any lawsuit, or other affair connected with law, the judge shall not hear nor decide thereon until the Ambassador, Consul, or Interpreter, shall be present; and all suits exceeding the value of 4000 aspers shall be heard at the Sublime Porte, and nowhere else. Art. 42: That in case any Englishman, or other person navigating under their flag, should happen to commit manslaughter, or any other crime, or be thereby involved in a lawsuit, the governors in our sacred Dominions shall not proceed to the cause until the Ambassador or Consul shall be present, but they shall hear and decide it together without their presuming to give them any the least molestation, by hearing it alone, contrary to the holy law and these Capitulations. Schon in den ersten Jahren des Kapitulationsregimes w u r d e n die beiden Grundprinzipien eingeführt, welche f ü r die gesamte Zeit exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich Gültigkeit haben sollten: Erstens, Rechtsfälle zwischen Briten bzw. unter deren Schutz stehenden Personen fielen in die K o m p e t e n z des Gesandten und der Konsuln; zweitens, in gemischten Rechtsfällen waren die osmanischen Gerichte zuständig, wobei der britischen Partei Beistand von ihrer Behörde zugestanden wurde. Dieser Beistand konnte von Seiten des Gesandten oder Konsuls kommen, in der Regel assistierte jedoch ein Dragoman in britischen Diensten der britischen Partei. Dabei ging es in erster Linie um Dolmetscherdienste. Artikel 42 sah in der englischen Ubersetzung allerdings vor, dass in Strafprozessen ein Vertreter der britischen Gesandtschaft in die Urteilsfindung involviert werden sollte („hear and decide"). Dies scheint bis ins 19. Jahrhundert auch tatsächlich der Fall gewesen zu sein, obschon das „hear and decide" aus einer zweifelhaften Ubersetzung der osmanischen Ausgabe der 1675er Kapitulationen stammte. 7 5 W ä h r e n d Handelsbestimmungen, Fragen des Grundbesitzes oder des Personenstatus vor allem im 19. Jahrhundert mannigfachen Abänderungen unterworfen waren, veränderten sich die Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit nach 1675 nicht mehr. Mit anderen Worten: Die Kapitulationen von 1675 legten eine rechtliche Basis zur britischen Gerichtsbarkeit, die bis zur Abschaffung der Kapitulationen 1923 unverändert Bestand hatte. Substantiellere Translation of the Diploma Incorporating the Privileges for the English Nation Granted by Murad III to Elizabeth I. Constantinople, first decade of Rabi II 988/16-25 May 1580. Abgedruckt in Skilliter, William Harborne and the Trade with Turkey, S. 86-103, S. 88. 73 Capitulations graunted to Elizabeth, Queen of England, März oder April 1601. Abgedruckt in William Foster (Hrsg.), The Travels of John Sanderson in the Levant, 1584-1602. With his Autobiography and Selections from his Correspondence, London 1931, S. 282-287, S. 283f. 74 Hertslet, Bd. 2, S. 346-369. 75 Vgl. Fawcett an John, No. 5, 19.1.1881, FO 195/1356. Zu einer ausführlichen Diskussion der Rolle der Dragomane vgl. Kap. V/2.2. 72

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Änderungen an den Kapitulationen im Allgemeinen und an den Rechtsprivilegien im Speziellen waren nur mittels Meistbegünstigungsklausel möglich. Diese war in den 1675er Kapitulationen verankert und räumte England bzw. später Großbritannien sämtliche Privilegien ein, welche die Pforte anderen europäischen Staaten in deren Kapitulationen zugestehen sollte.76 Zwar glichen sich die einzelnen Kapitulationen zwischen der Pforte und den verschiedenen europäischen Staaten stark. Dennoch gab es immer wieder auch Abweichungen und partielle Erweiterungen von Privilegien, die nur einer bestimmten Nation zukamen. Aus der Sicht Großbritanniens sind in diesem Zusammenhang die französischen Kapitulationen von 1740 von Bedeutung, welche den französischen Konsuln Strafgerichtsbarkeit in Auseinandersetzungen zwischen Franzosen einräumte. Der britische Anspruch auf Strafgerichtsbarkeit ließ sich aufgrund der englischen Kapitulationen nicht ableiten, konnte aber unter Berufung auf die Meistbegünstigungsklausel und die französischen Kapitulationen von 1740 schließlich dennoch durchgesetzt werden.77 2.2 Britische Regulierungen

von den Anfängen bis 1843

Kapitulationen stellten unilateral gewährte Vorrechte dar, die sich die europäischen Staaten im 19. Jahrhundert vertraglich absichern ließen, ohne dass ihnen daraus reziproke Pflichten entstanden wären. Die Kapitulationen gewährten in allgemeiner Form das Recht auf exterritoriale Gerichtsbarkeit. Sie schwiegen sich aber darüber aus, wie dieses Recht praktisch anzuwenden war. Wollten die europäischen Staaten von ihren Rechtsprivilegien Gebrauch machen, dann mussten sie aus eigener Kraft Regeln zu diesem Zweck aufstellen. Frankreich erließ bereits 1681 eine umfassende Gesetzgebung, die seinen Konsuln Richtlinien in allen juristischen, handelstechnischen und administrativen Aufgabengebieten zur Hand gab, die sich aus den Privilegien der Kapitulationen ableiteten.78 Für England sah dies etwas anders aus. Von der Gewährung der ersten Kapitulationen 1580 bis 1825 trat die englische Krone die von der Pforte gewährten Privilegien an die Levant Company ab, eine konzessionierte, private Handelsgesellschaft mit dem Monopol auf dem Levantehandel. James I. übertrug im Charter von 1605 der Levant Company aber nicht nur die Vorrechte der Kapitulationen, sondern auch die Vollmacht, zu deren Umsetzung spezifische Regulierungen zu erlassen.79 Ein Gutachten aus dem Jahre 1812 resümierte diese Kompetenzen wie folgt: The C o m p a n y has full power to make laws for the government of the C o m p a n y and the trade, and to enforce them by imprisonment or fine, or both, and the mode of levying the latter is pointed out, and all the civil authorities are enjoined to give effect to their measures. 8 0 76

77

78 79

80

Art. 18 der 1675er Kapitulationen; Convention of C o m m e r c e and Navigation between H e r Britannic Majesty and the Sultan of the O t t o m a n Empire, 16.8.1838, Hertslet, Bd. 5, S. 5 0 6 - 5 1 2 , S. 507. Vgl. Andre Mandelstam, L a Justice Ottomane dans ses rapports avec les puissances etrangeres, Paris 2 1911, S. 222. F ü r eine ausführliche Argumentation zu dieser Frage vgl. Anm. 92. - E s gilt daraufhinzuweisen, dass Großbritannien nur zurückhaltend von der Meistbegünstigungsklausel Gebrauch machte. So mussten britische Verurteilte von lokalen Gerichten ihre Strafen in der Regel in den osmanischen Gefängnissen absitzen, obschon die österreichischen Kapitulationen die Rechtsgrundlage für einen Vollzug im Konsulatsgefängnis geschaffen hatten. Vgl. Näheres dazu in Kap. III/3.1 u. III/3.2. Vgl. Sousa, Capitulatory Regime, S. 59. Zur Levant C o m p a n y vgl. Wood, History of the Levant Company, hier S. 41, sowie George Cawston u. Augustus H e n r y Keane, The Early Chartered Companies (A.D. 1 2 9 6 - 1 8 5 8 ) , L o n d o n / N e w York 1896, S. 6 7 - 8 5 . Der Charter von 1605 ist abgedruckt in: Mordecai Epstein, The Early History of the Levant Company, L o n d o n 1908, S. 1 5 3 - 2 1 0 , hier S.179f. u. 186ff. Report from Messrs. Freshfield & Kaye, Solicitors to the Levant Company, 8 . 6 . 1 8 1 2 , F O 97/407.

2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit

57

Verordnungen über Rechte und Pflichten der Konsuln wurden im Charter der Levant Company und von dieser wiederum in ihren Gesellschaftssatzungen ( b y - l a w s ) geregelt. D e r Konsul war Repräsentant des Führungsorgans der Levant Company in London ( G e n e r a l Court) und wirkte in der Levante als dessen Exekutivarm. Für die Levant Company bestand jedoch nie die Notwendigkeit, die richterlichen Funktionen ihrer Konsuln detailliert zu regeln, wie George Lisdell, der letzte Sekretär der Levant Company, 1835 erklärte: Its [Levant C o m p a n y ] policy was to avoid doing so; satisfied with a few plain, general rules, it left the application to the discretion and integrity of the Consuls; on their responsibility, which the C o m p a n y considered the best security for the temperate administration of justice. 81

Die by-laws waren entsprechend allgemein gefasst und übernahmen fast vollständig den Wortlaut des Charters. 8 2 Es bleibt aus diesem Grunde weitgehend im Verborgenen, auf welcher Grundlage und wie genau die Konsuln der Levant Company in den britischen Niederlassungen Recht sprachen. Untersuchungen zur britischen Präsenz in der Levante während des 17. und 18. Jahrhunderts liefern vereinzelte Hinweise zur Gerichtsbarkeit der Konsuln. Ein nur annähernd deutliches Bild der britischen Rechtsprechung formt sich daraus jedoch nicht. 83 Gerichtsakten aus dieser Zeit sind keine erhalten, und Protokolle der Faktorei-Versammlungen erwiesen sich als wenig aussagekräftig. 84 Rechtsfälle dürften die Konsuln insgesamt aber auch kaum übermäßig beansprucht haben. Ihre richterlichen Aufgaben werden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Verstöße der Kaufleute gegen Handelsregulierungen der Levant Company beschränkt haben sowie generell darauf, innerhalb der britischen Handelsniederlassungen für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Auflösung der Levant Company 1825 markierte für die britische Präsenz im O s m a nischen Reich in mancher Hinsicht einen Bruch mit der Vergangenheit. Die bedeutendste Veränderung betraf ohne Frage die Konsuln, die von Agenten einer privaten Handelsgesellschaft zu Vertretern des britischen Königreichs aufstiegen. A n den Rechtsgrundlagen der Konsulargerichtsbarkeit änderte sich dadurch allerdings nichts. Die Krone nahm die in den Kapitulationen niedergelegten Vorrechte und Privilegien, die sie im 16. Jahrhundert an die Levant Company abgetreten hatte, zurück und übte sie fortan selbst aus. Die Kapitulationen blieben ihrem Inhalt nach von diesen Veränderungen unberührt; nur ein bilateraler

81 82

83

84

Lisdell an Palmerston, 5.12.1835, F O 4 0 6 / 1 . Extracts from the B y - L a w s of the Late Levant Company, Relating to Consuls and Cancelliers, F O 881/215. Vgl. u.a. George Frederick Abbott, Under the Turk in Constantinople. A Record of Sir John Finch's Embassy, 1 6 7 4 - 1 6 8 1 , London 1920, S . 2 8 - 3 9 , 223f. u. 307f.; Gwilym Ambrose, English Traders at Aleppo ( 1 6 5 8 - 1 7 5 6 ) , in: Economic History Review 3 ( 1 9 3 1 - 1 9 3 2 ) , S. 2 4 6 - 2 6 7 , S.260f.; Sonia P. Anderson, A n English Consul in Turkey: Paul Rycaut at Smyrna, 1 6 6 7 - 1 6 7 8 , N e w Y o r k 1989, S. 2 0 2 - 2 0 9 ; Theodore Bent (Hrsg.), Early Voyages and Travels in the Levant: Extracts from the Diaries of Dr. John Covel, 1 6 7 0 - 7 9 , L o n d o n 1893, S. 1 0 1 - 2 8 7 ; Ralph Davis, Aleppo and Devonshire Square: English Traders in the Levant in the Eighteenth Century, London 1967, S. 45f.; Elena FrangakisSyrett, Trade Practices in Aleppo in the Middle of the Eighteenth Century. The Case of a British Merchant, in: Revue du Monde Musulman et de la Mediterranee 62 ( 1 9 9 1 - 1 9 9 4 ) , S. 1 2 3 - 1 3 2 ; Daniel Goffman, The Capitulations and the Question of Authority in Levantine Trade 1 6 0 0 - 1 6 5 0 , in: J o u r nal of Turkish Studies 10 (1986), S. 1 5 5 - 1 6 1 ; Goffman, Britons in the O t t o m a n Empire, S. 1 3 1 - 1 4 3 ; Goffman, O t t o m a n Empire and Early Modern Europe, S. 186f. u. 195f.; George Larpent (Hrsg.), Turkey. Its History and Progress: F r o m the Journals and Correspondance of Sir James Porter, Fifteen Years Ambassador at Constantinople, 2 Bde., London 1854, Bd. 1, S. 2 7 3 - 3 1 2 ; Wood, History of the Levant Company, S. 219. Vgl. Registers of the Chancery at Constantinople, 1 6 4 8 - 1 8 2 5 , SP 1 0 5 / 1 7 4 - 1 9 8 ; Register of the Cancellaria at Smyrna, 1 6 9 8 - 1 8 2 5 , SP 1 0 5 / 3 3 5 - 3 3 8 ; Registers of the Chancery at Aleppo, 1718-1811, SP 1 1 0 / 6 0 - 6 6 .

58

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Akt mit der Pforte hätte an der Substanz der Rechtsprivilegien etwas ändern können. Die Auflösungsurkunde der Levant Company ließ jedoch ungeklärt, ob die Konsuln weiterhin auf der Grundlage der Gesellschaftssatzungen der Levant Company Recht sprechen sollten. Die Law Officers sowie Generalkonsul John Cartwright in Konstantinopel betonten stets die Rechtskontinuität, in welcher die britische Konsulargerichtsbarkeit nach 1825 stehe, und bezogen sich dabei explizit auf den letzten Charter sowie die Regulierungen der Levant Company.85 Unter den Bedingungen, wie sie die Konsuln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Levante vorfanden, hatte das System informeller Rechtsprechung jedoch ausgedient. Eine hohe Zuwanderung aus Großbritannien und dem Mittelmeerraum ließ die britischen Gemeinden in den Levantehäfen in wenigen Jahren stark anwachsen. Rechtsfälle, in die Briten und ihre Proteges involviert waren, vermehrten sich in der Folge beträchtlich. Die neue soziale Zusammensetzung der britischen Niederlassungen sowie expansive wirtschaftliche Tätigkeiten führten zudem zu neuartigen und komplexeren Rechtsfällen.86 Die Konsuln sahen es zunehmend als ein Problem, nach überkommenen, gewohnheitsrechtlichen Regeln Recht zu sprechen. Insbesondere fürchteten sie, persönlich belangt zu werden, sollten ihre Kompetenzen in Zukunft nicht klarer definiert werden.87 Besonders spürbar waren solch lückenhafte Regulierungen im Bereich der Strafgerichtsbarkeit. Aus allen Teilen des Osmanischen Reichs klagten in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Konsuln über wachsende Kriminalität und verbreitete Gesetzlosigkeit unter ihren Schutzbefohlenen. Sie machten in erster Linie Malteser und Ionier für dieses Übel verantwortlich, aber auch junge Engländer, die erst seit wenigen Jahren in der Levante lebten.88 Die britische Strafgerichtsbarkeit im Osmanischen Reich entwickelte sich in dieser Zeit zu einem beherrschenden Thema - zuerst in der Levante und später dann auch in London. In den Konsulaten war das Bewusstsein schon lange verbreitet, dass Strafgerichtsbarkeit ein heikles Rechtsgebiet mit unscharf definierten Kompetenzen darstelle und klarere Instruktionen deshalb unerlässlich seien. Am grundsätzlichen Recht Großbritanniens, Strafgerichtsbarkeit im Osmanischen Reich überhaupt zu beanspruchen, gab es unter den Konsuln jedoch kaum Zweifel.89 Generalkonsul Cartwrights Instruktionen von 1829 bekräftigten die Konsuln in dieser Annahme.90 85

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L a w Officers an Canning, 2 3 . 9 . 1 8 2 6 ; Provisional Instructions Given by His Majesty's Consul-General at Constantinople to His Majesty's Consul at Smyrna, on the Nature of the Jurisdiction which H e Is to Exercise injudicial Proceedings, 19.9.1829, § § 8 , 15, 17 u. 26 V2, F O 198/5. Zu Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Expansion vgl. ausführlich Kap. 1/3. Generalkonsul Campbell in Alexandria formulierte dies 1837 so: „I have all the responsibility bearing upon me, in cases where, perhaps, the Jurisdiction of the Consul is not clearly defined, and, in consequence of which, I might, perhaps, on my return to England, find a civil action pending against me." Privatbrief, Campbell an Bidwell, 22.5.1837, F O 7 8 / 3 2 2 . Vgl. auch Report of His Majesty's Consul at Smyrna on the Practice Observed in Judicial Proceedings in the Consular C o u r t at that Place, Showing Its Defects, and Proposing Remedies for Its Improvement, 3 0 . 5 . 1 8 3 5 , S. 198, F O 198/5.

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Vgl. Barnett an Aberdeen, N o . 1 4 , 1 4 . 7 . 1 8 4 2 , F O 7 8 / 5 0 3 ; Provisional Instructions, § § 3 0 - 3 4 , u. ViceConsul Brant's Remarks on the Jurisdiction of British Consuls in the Levant, 2 3 . 3 . 1 8 3 5 , F O 198/5; Strangway an Colonial Office, 7.6.1837, u . P o n s o n b y an Palmerston, N o . 114, 8.5.1838, F O 9 7 / 4 0 7 . Probleme mit maltesischen Proteges werden für diese Zeit auch aus anderen Gebieten des Mittelmeerraumes gemeldet. F ü r Tunis beispielsweise vgl. Julia Clancy-Smith, Marginality and Migration: Europe's Social Outcasts in Pre-cononial Tunisia, 1 8 3 0 - 8 1 , in: Eugene Rogan (Hrsg.), Outside in. O n the Margins of the Modern Middle East, L o n d o n / N e w York 2002, S. 1 4 9 - 1 8 2 , S. 154-157.

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Eine Ausnahme bildete Konsul Werry in Aleppo, vgl. Werry an Campbell, 17.6.1837, F O 78/316. Provisional Instructions, 19.9.1829, § 3 , F O 198/5. Vgl. auch Cartwright in einem privaten Brief: „ O u r right to criminal jurisdiction is not clearly stated in our capitulations, but it is certain that we may exercise it to any extent." Privatbrief, Adressat unbekannt, 12.7.1843, F O 97/407.

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2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit

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Es war allerdings nicht weit her mit dieser Überzeugung. Als vier maltesische Fischer 1837 in das Haus eines Spaniers auf Rhodos eindrangen und die Frau des Hausbesitzers ermordeten, verlangte der lokale Gouverneur von den britischen Konsulatsbehörden, an den Maltesern ein Exempel zu statuieren. Nach etlichem Abwägen und einem langen Briefwechsel verzichtete die britische Regierung schließlich auf Gerichtsbarkeit über ihre eigenen Untertanen und überließ die Malteser den osmanischen Gerichtsbehörden. 91 Der Fall veranschaulicht eine grundlegende Schwierigkeit der britischen Konsulargerichtsbarkeit nach 1825. Zwar ließ sich aufgrund der Kapitulationen die britische Zuständigkeit in Strafrechtsfällen grundsätzlich rechtfertigen.92 Doch waren die Konsuln in der Levante von der britischen Regierung nie explizit mit strafgerichtlichen Kompetenzen ausgestattet worden. Die Forderung der lokalen osmanischen Behörden, über die Malteser die Kapitalstrafe zu verhängen, war auch nach englischem Recht verhältnismäßig. Den Konsuln blieben jedoch in solchen wie auch in allen anderen Strafrechtssachen die Hände gebunden, solange ihnen keine entsprechenden Handlungsvollmachten erteilt wurden. Instruktionen aus London hielten die Konsuln wiederholt dazu an, sich bei der Ausübung ihrer richterlichen Pflichten an die Regulierungen der Levant Company zu halten.93 Doch in Fragen der Strafgerichtsbarkeit boten diese keinerlei Orientierungshilfe. Die Law Officers hatten deshalb schon kurz nach der Auflösung der Levant Company vorgeschlagen, den Strafgerichtsbereich mit einer speziellen Gesetzgebung zu regeln.94 Diese Empfehlung blieb indessen ohne Folgen. In den Konsulaten und schließlich auch im Foreign Office und im Colonial Office machte sich die Gewissheit breit, dass Großbritanniens Ansehen enormen Schaden erleiden würde, wenn Mord, Totschlag und Raub durch britische Schutzgenossen ungesühnt blieben. So stellten die Law Officers 1837 fest: „The question naturally arises hereupon whether Great Britain is not virtually bound to exercise that Jurisdiction in cases where, by abstaining from doing so, she would appear to countenance the violation of public tranquillity and the commission of crime." 95 Es ging dabei aber nicht bloß um eine moralische Verpflichtung Großbritanniens, nicht als Schutzmacht krimineller Elemente in der Levante dazustehen. Diese Sicht vertraten naheliegenderweise eher die direkt betroffenen Konsuln. Mehr ge-

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Vgl. zu diesem Mordfall die Dokumente in F O 97/407. N u r wenige Monate vor dem Mord hatte Generalkonsul Campbell in Alexandria die britische Politik in der Levante wie folgt umrissen: „You will bear in mind that it is our policy in the East to prevent, as much as in our power lies, the punishment of British Subjects by the Turkish Authorities." Campbell an Ongley, 8.8.1837, Einlage in Campbell an Palmerston, N o . 23, 9.8.1837, F O 7 8 / 3 2 2 . Der Anspruch auf Strafgerichtsbarkeit ließ sich aus den britischen Kapitulationen von 1675 nicht ableiten. Die in diesem Dokument enthaltene Meistbegünstigungsklausel (Art. 18) räumte den Briten allerdings die gleichen Rechte wie den Franzosen, Venezianern „and other Princes, who are in amity with the Sublime P o r t e " (Hertslet, Bd. 2, S. 350) ein. In den französischen Kapitulationen von 1740 hatte die Pforte auf ihre Jurisdiktion in Strafrechtsfällen verzichtet, die Franzosen untereinander betrafen (Capitulations avec la France en date du 28 Mai 1740, Art. 15, F O 881/9675). G r o ß britannien beanspruchte auf Grund der Meistbegünstigung gleiche Zuständigkeit und folgte der Praxis, bei Strafrechtsfällen zwischen Briten Recht zu sprechen. Die englisch-britischen Kapitulationen wurden 1809 und 1838 bestätigt und mit ihnen auch die Meistbegünstigungsklausel. Vgl. Extract of Letter from M r Consul General Cartwright respecting British Consular Jurisdiction in the Levant, 16.1.1839, u. Extract of a Private Letter from M r Consul General Cartwright, 12.7.1843, F O 9 7 / 4 0 7 ; Canning an Aberdeen, N o . 2 3 , 4 . 2 . 1 8 4 6 , F O 7 8 / 6 3 7 ; Queen's Advocate an Palmerston, 30.12.1846, F O 83/2387. Vgl. Provisional Instructions, § 5 , F O 198/5; King's Advocate an Aberdeen, 3 . 4 . 1 8 3 0 , F O 8 3 / 2 3 8 5 ; Campbell an Werry, N o . 4, 19.5.1837, F O 78/316. L a w Officers an Canning, 2 3 . 9 . 1 8 2 6 , F O 198/5. Law Officers an Foreign Office, 8.6.1837, F O 8 3 / 2 3 8 5 .

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

fürchtet wurde in London eine Störung der guten Beziehungen zum Osmanischen Reich. Im Foreign Office wurde sogar Verständnis geäußert für den Fall, dass sich die Pforte entschließen sollte, zur Herstellung der öffentlichen Ordnung gegen die Kapitulationen zu verstoßen und Verbrecher unter britischer Protektion vor ein osmanisches Gericht zu stellen.96 Einen alternativen Weg, Strafrechtsfälle unter die britische Jurisdiktion zu bringen, wählte Großbritannien einige Jahre später. 1842 brachte der Malteser Giuseppe Azzopardi in Smyrna die Holländerin Rosa Sluyk um, konnte von Konsul Brant aus den oben erwähnten Gründen indessen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. 97 Die Law Officers schlugen vor, sowohl Azzopardi als auch die Zeugen nach London vor den Central Criminal Court zu bringen. Sie bezogen sich dabei auf ein Gesetz aus dem Jahre 1828, das es ermöglichte, britische Untertanen, die des Mordes oder Totschlags außerhalb Englands beschuldigt wurden, in die Jurisdiktion englischer Gerichte zu bringen. 98 Azzopardi wurde nach England überführt, am 12. Mai 1843 vor dem Old Bailey in London angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. 99 Dieses Vorgehen genügte zwar den Ansprüchen an ein ordentliches Rechtsverfahren, war insgesamt jedoch äußerst unpraktisch, zudem aufwändig und daher nur im Ausnahmefall anwendbar. 100 Den Problemen in der Levante war damit nicht Abhilfe getan. Der überwiegende Teil der Straftaten betraf Raub, Tätlichkeiten, Körperverletzungen oder Betrügereien wie Falschgeldprägung. Auf solche Tatbestände ließ sich das im Azzopardi-Fall gewählte Verfahren jedoch nicht anwenden, da sich dieses nur auf Kapitalverbrechen bezog. Die hohe Zahl von Rechtsfällen in der Levante hätte es zudem gar nicht erst zugelassen, jeweils Angeklagte und Zeugen zum Prozess nach England zu bringen. Weiter sprachen die Kosten gegen eine Auslagerung der Gerichtsverhandlungen nach England. Im AzzopardiFall mussten der Angeklagte sowie zwei Zeugen, ein Neapolitaner und ein Malteser, nach England gebracht werden. Reise- und Logiskosten, Erwerbsersatz sowie Unterhalt für die Familien der Zeugen gingen zu Lasten der Staatskasse.101 So etwa Fox Strangways, Parliamentary Under Secretary im FO: „The Porte may be tempted to re-assert, as inherent in her territorial Sovereignty, a right to exercise for that purpose by her own Authorities the power of control, which Great Britain is unable or unwilling to exert." Strangways an Colonial Office, 7.6.1837, FO 97/407. 97 Zu diesem Mordfall vgl. die gesammelten Dokumente in FO 97/407. 98 Act for Consolidating and Amending the Statutes in England relative to Offences against the Person 1828, s 7 (9 Geo 4 c 3). Vgl. auch Law Officers an Aberdeen, 13.9.1842, FO 83/2386; Aberdeen an Canning, No. 125, 20.10.1842, FO 97/407. Die rechtmäßige Anwendung dieses Gesetzes wurde von der Verteidigung bestritten, da sich Art. 7 nur auf Verbrechen von britischen Subjekten gegen andere britische Subjekte beziehen könne. Die Staatsanwaltschaft argumentierte hingegen, Art. 7 befinde sich in pari materia mit dem Act for the more Effectual Punishment of Murders and Manslaughters Committed in Places not within His Majesty's Dominions 1817 (57 Geo 3 c 53). Dieses Gesetz sehe Jurisdiktion über Mörder von nicht-britischen Subjekten vor. Art. 7 ändere nur den Ort, wo solche Prozesse abgehalten werden können. Das Gericht folgte dieser Argumentation. Vgl. Edward William Cox, Reports of Cases in Criminal Law, Argued and Determined in all the Courts in England and Ireland, Bd.l (1843-1846), London 1846, S.28f. 99 Vgl. die Verhandlungsberichte in der Times vom 13.5.1843 u. 20.6.1843. Die Todesstrafe wurde später in lebenslange Haft umgewandelt, vgl. Colonial Office an Home Office, 8.7.1843, FO 97/407. 100 y o r 1865 bestand ein ähnliches Problem in China, wo alle Mordfälle und sonstigen schweren Verbrechen in den fünf Vertragshäfen Canton, Foochow, Amoy, Ningpo und Shanghai vor dem Hong Kong Supreme Court verhandelt werden mussten. Vgl. Patrick Devereux Coates, The China Consuls: British Consular Officers, 1843-1943, New York 1988, S.53ff. 101 Canning an Brant, 28.1.1842, FO 195/177. Am 4.3.1844 wurde im Unterhaus vom FO eine Kostenaufstellung zum Azzopardi-Fall verlangt. Die Antwort des FO vom 2.4.1844 führte für die Kosten der Zeugen und den Unterhalt des Gefangenen einen Gesamtbetrag von £ 115.5.3 auf. FO 78/586. 96

2. Rechtsgrundlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit

2.3 Foreign Jurisdiction

61

Act

Zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts präsentierte sich die britische Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich als ein Flickenteppich von unterschiedlichen Regulierungen, lokalen Rechtsauslegungen sowie überkommenen und inadäquaten Rechtsmitteln. Von einer einheitlichen Organisationsform der britischen Konsulargerichte konnte keine Rede sein. Im politischen Entscheidungszentrum in London stieß die von der Mitte der dreißiger Jahre an geäußerte Forderung der Konsuln nach einem Grundsatzreglement für die Konsulargerichte schließlich auf eine gewisse Resonanz. Dies hing teils mit der unbefriedigenden Abwicklung der richterlichen Aufgaben in der Levante zusammen, teils aber auch mit einem neuen Interesse am Schicksal des Osmanischen Reichs, das Großbritannien in den dreißiger Jahren und dann vor allem nach der zweiten Ägyptenkrise (1839-1840) zu entwickeln begann.102 Die Sensibilität für Fragen, welche die britische Präsenz in der Levante betrafen, war damit geschaffen. Das wachsende Bewusstsein in London für Fragen exterritorialer Gerichtsbarkeit muss zudem in einem globalen Zusammenhang gesehen werden. In verschiedenen Teilen der Welt spielte exterritoriale Gerichtsbarkeit zu dieser Zeit für Großbritannien eine wichtige Rolle. Britische Konsuln übten in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem in Marokko, China, Sansibar, im Südpazifik, an der Westküste von Afrika und teilweise in Lateinamerika Gerichtsbarkeit über ihre Landsleute aus.103 Dies war eine Folgeerscheinung einer globalen, von der Freihandelsidee angeregten Expansion, die Großbritannien seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorantrieb. Nicht der Erwerb von Kolonien war dabei das Ziel, sondern die Öffnung und Sicherung von Märkten und Handelswegen. Großbritannien suchte diese Ziele in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts mit gezielten militärischen Interventionen und Freihandelsverträgen zu erreichen.104 Im Speziellen galt dies für Lateinamerika, wo entsprechende Abkommen mit Brasilien (1810), Argentinien (1825) und Peru (1834) geschlossen wurden. 105 Diese Entwicklung kulminierte im Handelsvertrag von Balta Limani (1838) mit dem Osmanischen Reich und dem Vertrag von Nanking (1842) mit China nach dem ersten Opiumkrieg (1839-1842). Die beiden Ereignisse erlangten globale Bedeutung, weil sie den eigentlichen Beginn der britischen Freihandelspolitik einläuteten und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine informelle Kontrolle von Uberseegebieten schufen. 106 Diese so genannte Open-door-Politik markierte eine neue Phase in der britischen Uberseeexpansion. 107 Handelsinteressen und exterritoriale Gerichtsbarkeit gingen zwar seit JahrVgl. hierzu Frank Edgar Bailey, British Policy and the Turkish Reform Movement. Α Study in AngloTurkish Relations, 1826-1853, Cambridge (Massachusetts) 1942, S. 39-62. 105 Vgl. hierzu die Studie von John Manning Ward, British Policy in the South Pacific (1786-1893). A Study in British Policy towards the South Pacific Islands prior to the Establishments of Governments by the Great Powers, Sydney/Wellington 1948, S. 7 9 - 9 7 u. 171-183. Für weitere Untersuchungen vgl. die Forschungsübersicht in der Einleitung. 104 Vgl. Lynn, Informal Empire, S. 102ff.; John K. Fairbank, The Creation of the Treaty System, in: ders. (Hrsg.), The Cambridge History of China, Cambridge 1978, Bd. 10, S. 213-263, S. 216f. 105 Lynn, Informal Empire, S. 110. ίο« Vg] R e $at Kasaba, Open-Door Treaties: China and the Ottoman Empire Compared, in: New Perspectives on Turkey 7 (1992), S. 71-89, S. 71. Vgl. auch Glenn Melancon, Britain's China Policy and the Opium Crisis. Balancing Drugs, Violence and National Honour, 1833-1840, Aldershot 2003. Melancon weist allerdings darauf hin, dass die Öffnung des chinesischen Marktes keine Langzeitstrategie der britischen Regierung darstellte, sondern als eine Konsequenz des Opiumkrieges (1839-1842) verstanden werden muss. Ebd., insbes. S.108ff. u. 133f. 107 w j e gezielt Großbritannien diese ökonomische und politische Einflussnahme vorantrieb und ob sie zur Bildung eines informal Empire führte, war Gegenstand einer langen Debatte. Vgl. hierzu die Antipoden Ronald Robinson u. John Gallagher, The Imperialism of Free Trade, in: Economic History Review 6/1 (1953), S. 1-15, sowie Desmond Christopher Martin Platt, The Imperialism of Free Trade: 102

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

hunderten Hand in Hand wo immer Briten glaubten, dass lokales Recht ihnen nur ungenügenden Schutz bieten würde. Doch im Rahmen der britischen Expansion in der Mitte des 19. Jahrhunderts war dies zum einen nun weltweit an bedeutend mehr Orten der Fall als zuvor; zum anderen gab das verstärkte Engagement der britischen Staatsmacht nach der Auflösung der privaten Handelsgesellschaften den Konsulargerichten einen fundamentalen Rückhalt.108 Auf den globalen Zusammenhang zwischen den verschiedenen exterritorialen Gerichtsbarkeiten wies zum ersten Mal systematisch der Jurist James Hope in einem Foreign O f f i c e Memorandum von 1843 hin.109 Zwar legte auch er einen Schwerpunkt auf die Levante, doch verknüpfte er Fragen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich mit solchen in anderen Teilen der Welt wie China und Honduras. Die Bedeutung dieses Memorandums lag darin, exterritoriale Gerichtsbarkeit unabhängig von Entstehungsgeschichte und Legitimation als eine einzige Frage zu begreifen, die einer einheitlichen Regulierung bedurfte. Und diese Lösung musste nach Ansicht von Hope ein legislativer Akt sein, denn Konsulargerichtsbarkeit galt nun im Rahmen einer expansiven Uberseepolitik als Staatsaufgabe und nicht mehr länger als Privileg privater Handelsgesellschaften.110 Hope legte damit die Grundlage zum Foreign Jurisdiction Act (FJA) von 1843, welcher zwar von den Problemen in der Levante angeregt worden war, seiner Intention nach jedoch sämtliche nicht-kolonialen Interessengebieten zu umfassen suchte, in denen Großbritannien exterritoriale Gerichtsbarkeit beanspruchte.111 Das Gesetz wurde 1843 weitgehend ohne Opposition durchs Parlament gebracht.112 Mit dem Foreign Jurisdiction Act ermächtigte das Parlament die Krone, spezifische Verordnungen zur Ausgestaltung exterritorialer Gerichtsbarkeiten in Gebieten außerhalb der britischen Besitzungen zu erlassen, in denen die Krone (Art. 1) „by Treaty, Capitulation, Grant, Usage, Sufferance, and other lawful Means" exterritoriale Rechte erlangt hatte. Damit war ein Rahmengesetz geschaffen, das auf einer globalen Ebene die Rechtmäßigkeit der richterlichen Funktionen der Konsuln festhielt, das es aber der Krone überließ, die Gerichtsbarkeiten in den jeweiligen Weltgegenden im Detail zu regeln. Das Parlament beschränkte sich darauf, ein weltweit gültiges Raster an grundlegenden Regulierungen festzulegen und verzichtete darauf, Einzelgesetze für so unterschiedliche Jurisdiktionen wie das Osmanische Reich oder das Niger-Delta zu erlassen. Für die konkrete Ausgestaltung exterritoSome Reservations, in: Economic History Review 21/2 (1968), S. 2 9 6 - 3 0 6 . Eine aktuelle Übersicht zur Debatte gibt Robert Johnson, British Imperialism, N e w York 2003, S. 4 4 - 4 9 . Speziell für das Osmanische Reich vgl. Peter Sluglett, Formal and Informal Empire in the Middle East, in: Robin W. Winks (Hrsg.), The O x f o r d History of the British Empire, Bd. 5, Oxford/New Y o r k 1999, S. 4 1 6 - 4 3 6 , S. 423f. los Vgl. Roger Owen, The 1838 Anglo-Turkish Convention: A n Overview, in: N e w Perspectives on Turkey 7 (1992), S . 7 - 1 4 , S.7. 109 James R. Hope, Report on British Jurisdiction in Foreign States, 1 8 . 1 . 1 8 4 3 , S. 7, F O 881/393. Lauren Benton liegt wohl richtig, wenn er festhält, dass keine Untersuchung vorliegt, „that traces direct links among imperial legal strategies in the mid-nineteenth century". Hopes Memorandum scheint jedoch eine solche „imperial legal strategy" in einem Originaldokument zu präsentieren. Vgl. Lauren Benton, „The Laws of This Country": Foreigners and the Legal Constitution of Sovereignty in Uruguay, 1 8 3 0 - 1 8 7 5 , in: Law and History Review 19/3 (2001), S. 4 7 9 - 5 1 1 , S.483. 110 Hope, Report on British Jurisdiction in Foreign States, S. 1 Iff., F O 881/339. 111 Vgl. Charles A . Price, Malta and the Maltese: A Study in Nineteenth Century Migration, Melbourne 1954, S. 23Iff. 112 The Foreign Jurisdiction Act 1843 (6&7 Vict c 94). Zur Parlamentsdebatte vgl. Hansard's Parliamentary Debates: 3 rd Series, 7 Victoriae, 1843, Bd. 71. House of Commons: 1. und 2. (L)esung, 7.8.1843, S . 3 2 1 ; 3. L., 10.8.1843, S.487. House of Lords: 1. L., 10.8.1843, S . 4 7 1 ; 2. L., 14.8.1843, S.688; 3. L., 17.8.1843, S.906f.

2. Rechtsgrandlagen der britischen Konsulargerichtsbarkeit

63

rialer Gerichtsbarkeit beispielsweise im Osmanischen Reich war nun ein Kronakt (Order in Council, OiC) notwendig, der im Zusammenspiel von Foreign Office, Colonial Office, Schatzamt, Privy Council und der Krone zustande kommen konnte. Der zeitraubende Weg über eine parlamentarische Gesetzgebung sollte dadurch vermieden werden. Diese Machtverschiebung vom Parlament zugunsten der Verwaltung war für Hope entscheidend, denn er sah das Parlament nicht in der Lage, für eine Vielzahl von Gebieten differenzierte Gerichtsordnungen zu erlassen.113 Die Regulierung exterritorialer Gerichtsbarkeit durch Verordnungen der Krone war ohne Zweifel die wichtigste und folgenschwerste Neuerung, die mit dem Foreign Jurisdiction Act eingeführt wurde. Daneben traten zwei allgemeine Bestimmungen in Kraft, die mehr die Prozessverfahren betrafen und sich weitgehend aus den Erfahrungen der Mordfälle auf Rhodos und in Smyrna herleiteten. Es ging erstens um die Verlegung eines Gerichtsverfahrens von einem Gebiet außerhalb in ein Gebiet innerhalb der britischen Überseebesitzungen. Der Foreign Jurisdiction Act hielt fest, dass (Art. 4) „any person charged with the commission of any crime or offence [...] to be sent for trial to any British Colony which Her Majesty may by any Order or Orders in Council from time to time appoint in that behalf". Einer Prozessverlegung vom Osmanischen Reich nach Malta oder Indien stand somit nichts mehr im Wege. Der Foreign Jurisdiction Act ermöglichte es zu diesem Zweck, das gesamte Beweisaufnahmeverfahren inklusive Kreuzverhören im Konsulargericht durchzuführen. Die entsprechenden Protokolle gingen danach an ein zuständiges Gericht auf Malta oder in Bombay, wo der Fall schließlich aufgrund der Dokumentation entschieden wurde (Art. 4). Zweitens ermöglichte es der Foreign Jurisdiction Act, Kapital- oder lange Haftstrafen auf dem Gebiet einer britischen Kolonie zu vollstrecken, da den Konsulargerichten in der Regel die entsprechenden logistischen Mittel für einen Strafvollzug fehlten (Art. 5). Diese Regelung konnte dann zur Anwendung kommen, wenn die osmanischen Behörden auf einem Prozess im Land bestanden - wie dies beim Mord 1837 auf Rhodos der Fall gewesen war.114 Der Foreign Jurisdiction Act stellte einen erfolgreichen Versuch dar, die unterschiedlichen exterritorialen Gerichtsbarkeiten Großbritanniens in ein einheitliches System zu bringen. Der Foreign Jurisdiction Act war so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner all dieser verstreuten Gerichtsbarkeiten.115 Im Wesentlichen diente das Gesetz dem Zweck, das Verhältnis Großbritanniens zu seinen Staatsangehörigen in Gebieten wie dem Osmanischen Reich zu verrechtlichen. Die Krone, so hieß es im Foreign Jurisdiction Act, sollte Briten und Schutzgenossen in diesen Gebieten als unter ihrer Jurisdiktion betrachten (Art. 1) „in the same and as ample a Manner as if Her Majesty had acquired such Power or Jurisdiction by the Cession or Conquest of Territory". Zwischen Briten in den Kolonien und Briten in manchen anderen Überseegebieten sollte es demnach keine rechtlichen Unterschiede geben. In den Jahrzehnten nach dem ersten Foreign Jurisdiction Act von 1843 erließ das Parlament verschiedene Ergänzungen, die entweder der Präzisierung der ursprünglichen Bestimmungen galten oder auf die Ausdehnung der Vollmachten der Krone zielten.116 1878, und dann 113

1,4 115

116

Hope, Report on British Jurisdiction in Foreign States, S. 10, F O 8 8 1 / 3 9 3 . F ü r ein Beispiel einer flexiblen Anwendung von Kronakten vgl. den Mordfall Queen ν Abdullah Khan in Kap. I I I / 2 . 3 . Vgl. Memorandum respecting the Foreign Jurisdiction Bill, Foreign Office, 12.8.1843, F O 9 7 / 4 0 7 . 1887, mehr als vierzig Jahre nach dem ersten F J A , hatte sich der Wirkungsbereich auf folgende Gebiete ausgedehnt: Siam, Marokko, Muscat, Madagaskar, China, Japan, Korea, Osmanisches Reich, Ägypten, Tripoli, Sansibar, Westpazifik, Westafrika, Südafrika sowie Borneo (Charter an die British N o r t h Borneo Co.). Tarring, British Consular Jurisdiction, S. 36. Zu den einzelnen F J A vgl. das Quellenverzeichnis dieser Untersuchung. Einen guten Uberblick zu den materiellen Veränderungen der verschiedenen F J A gibt Tarring, British Consular Jurisdiction, S. 1 4 - 2 0 .

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

wieder in der großen Revision von 1890, bezeichnete das Parlament zudem eine Reihe englischer Gesetze, die von der Krone bei Bedarf ganz oder teilweise auf Gebiete unter Konsularjurisdiktion ausgedehnt werden konnten. 117 Dadurch wurden diejenigen Regionen der Welt, in denen Großbritannien exterritoriale Rechte geltend machte, zunehmend in das Rechtssystem des Mutterlandes integriert. Der Foreign Jurisdiction Act änderte an der Substanz der richterlichen Privilegien, wie sie Großbritannien im Osmanischen Reich zustanden, nichts.118 Die Bedeutung des Gesetzes lag vielmehr darin, die Konsuln zu autorisieren, die bestehenden Privilegien der Kapitulationen auch tatsächlich umfassend zu nutzen. Nur in diesem Sinn kann von einer Erweiterung der konsularischen Kompetenzen in der Levante nach 1843 gesprochen werden.

2.4 Kronakte Der Foreign Jurisdiction Act schuf die Voraussetzungen für eine effizientere und straffere Abwicklung der Gerichtsarbeit in den Konsulargerichten. Es stand der Krone letztlich aber frei, ob sie von diesem Recht auch Gebrauch machen wollte. 119 Im Falle des Osmanischen Reichs gab es darüber allerdings keine Diskussionen. Der Foreign Jurisdiction Act war in hohem Maße von der misslichen Lage der britischen Gerichtsbarkeit in der Levante überhaupt erst angeregt worden. Zwischen 1843 und 1910 erließ die Krone zahlreiche Kronakte, die der besseren Umsetzung der Konsulargerichtsbarkeit im Osmanischen Reich galten.120 In einer ersten Zeit bis 1864 waren diese Kronakte eher knapp gehalten und vor allem darauf ausgerichtet, den ärgsten Missständen zu begegnen. Der Kronakt von 1847 erweiterte beispielsweise die Strafmöglichkeiten der Konsuln als Reaktion auf die nach wie vor hohe Kriminalität in einzelnen Städten der Levante. Und 1857 regelte ein Kronakt Fragen der Straf- und Appellationsgerichtsbarkeit mit der Einführung des Supreme Consular Court in Konstantinopel. Nach 1864 änderte sich die Form der Kronakte allerdings grundlegend. Bis zum Ende der britischen Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich glichen sie fortan regelrechten Kompendien, welche alle Aspekte der Gerichtsbarkeit regelten - von der Organisation der verschiedenen Gerichtshöfe bis zu Verfahrensfragen, Strafmaßen und Gebühren. Kronakte wurden zu dieser Zeit das, was sich die Konsuln schon lange gewünscht hatten: eigentliche Handbücher mit verhältnismäßig klaren Vorgaben, was in welcher Situation zu tun war. Orders in Council stellten ursprünglich Erlasse der Krone dar, die im Rahmen des Privy Council beraten und von der Krone anschließend veröffentlicht wurden. Dabei muss

zwischen prerogative

Orders in Council und statutory

Orders in Council unterschieden

werden. 121 Unter ersteren wird Gesetzgebung als königliche Prärogative verstanden, welche die Krone unabhängig vom Parlament ausübte und wie sie für die Gesetzgebung in den 117

118

119 120

121

Für einen Überblick zu den übertragbaren Gesetzen vgl. Foreign Jurisdiction Act 1878, s 3, Sch 1 (41&42 Vict c 67), sowie Foreign Jurisdiction A c t 1890, s 5, Sch 1 & 2 (53&54 Vict c 37). Einen Überblick über Inhalt und Gültigkeit dieser Gesetze für das Osmanische Reich f ü r die Jahre bis 1887 gibt Tarring, British Consular Jurisdiction, S. 2 0 - 3 0 u. 1 0 6 - 1 0 8 . Anlässlich des ersten O i C von 1843 erinnerte das F O Generalkonsul Canning in Konstantinopel an diese Tatsache: „Your Excellency will have the goodness to bear in mind that this order does not empower you to proceed to exercise any greater degree of jurisdiction than that which y o u have customarily exercised heretofore." F O an Canning, N o . 133, 6.10.1843, F O 78/514. Vgl. Rioche, Juridictions consulaires anglaises, S. 28. Für eine Übersicht zu den wichtigsten O i C vgl. das Quellenverzeichnis dieser Arbeit. Für eine detailliertere Betrachtung zum O i C 1857, O i C 1873 sowie O i C 1899 vgl. Hauptteil II. Marguerite Α . Sieghart, Government by Decree. A Comparative Study of the History of the Ordinance in English and French Law, London 1950, S. 99.

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

65

Kronkolonien Bedeutung erlangte. Prerogative Orders in Council beruhten auf dem common law und stellten eine direkte, nicht delegierte F o r m der Gesetzgebung dar. Statutory Orders in Council dagegen gingen auf einen Entscheid des Parlaments zurück, eben auf ein statute, und delegierten legislative Gewalt an die Krone. Diese Art von Kronakt war im Foreign Jurisdiction Act vorgesehen. Das zweistufige Vorgehen mit einem Rahmengesetz des Parlaments und Verordnungen der Krone war als eine von mehreren Arten von delegierter Gesetzgebung (delegated legislation) bekannt. 122 Im England des ^ . J a h r h u n derts fand die Praxis, delegated legislation im statute law vorzusehen, verbreitet Anwendung. 1 2 3 Der formale Erlass von Kronakten durch Privy Council und Krone verdeckt die bedeutende Rolle der Verwaltung in diesem Prozess. Kronakte wurden in der Regel in den zuständigen Ministerien entworfen, anschließend von Krone und Privy Coundl abgesegnet und dann durch die Verwaltung vollzogen. 124 D e m Parlament fiel in diesem Prozess kein Mitspracherecht mehr zu. Eine Abänderung des Foreign Jurisdiction Act von 1878 (Art. 7) verlangte lediglich, dass jeder Kronakt den beiden Parlamentskammern zur Kenntnisnahme vorgelegt werden musste. 1 2 5 Der Foreign Jurisdiction Act hatte gegenüber den Orders in Coundl Rechtsvorrang, d.h. Bestimmungen in den Orders in Coundl konnten von einem Konsulargericht für ungültig erklärt werden, wenn sie gegen den Foreign Jurisdiction Act verstießen. Ebenso hatten Verträge Vorrang gegenüber den Orders in Coundl und in den meisten Fällen auch gegenüber dem Foreign Jurisdiction Act. N u r dort, so argumentieren Piggott und Rioche, wo die Verträge widersprüchlich waren, habe das Parlament über die Bestimmungen der Verträge hinaus gehen können, „pour assurer l'execution d'une bonne justice". 126

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts Das Engagement Großbritanniens, seine Konsulargerichte im 19. Jahrhundert durch Gesetze und Verordnungen zu vereinheitlichen, lässt sich nur vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Bedeutung der Levante verstehen. Gleichzeitig erfordert das Studium der einzelnen Rechtsgeschäfte, die vor die Konsulargerichte kamen, ein Verständnis der spezifischen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, welche die Lebenswelt der britischen Levantebevölkerung definierten. So unterschieden sich die ökonomischen Bedingungen in Smyrna wesentlich von denjenigen in Konstantinopel, Aleppo oder Jeddah, und entsprechend verschiedenartig waren die Rechtsfälle in den Konsulargerichten. Der Vgl. Cecil T h o m a s Carr, Delegated Legislation. Three Lectures, Cambridge 1921, S. 14. Vgl. Carleton K e m p Allen, L a w and Orders. An Inquiry into the Nature and Scope of Delegated Legislation and Executive Powers in English L a w (1845), L o n d o n 3 1965, S. 31f. Vom Jahre 1890 an wurden diese außerhalb des Parlaments erlassenen Verordnungen in den Statutory Rules and Orders in einer jährlichen Ausgabe separat publiziert, ab 1948 dann als Statutory Instruments gemäß dem Statutory Instrument Act 1946 (9&10 G e o 6 c 36). 124 Yg] Carr, Delegated Legislation, S. 20f. Ein solches Verfahren hatte vor allem für die Gesetzgebung in den Kronkolonien große Bedeutung. Vgl. David Berridge Swinfen, Imperial Control of Colonial Legislation, 1813-1865. Α Study of British Policy towards Colonial Legislative Powers, O x f o r d 1970, S.2. 122 123

125 126

Vgl. u.a. The Parliamentary Debates: 4 th Series, 62 Victoriae, 1899, Bd. 76, S.253 (House of Lords). Rioche, Juridiction consulaires anglaises, S. 34; Piggott, Exterritoriality, S. 31-51. Für ein Beispiel zur Frage des Rechtsvorrangs vgl. die Auseinandersetzung um den Workmen's Compensation Act in Kap. III/l.3.

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I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Eisenbahnbau, um ein Beispiel zu nennen, spielte vor dem Konsulargericht in Smyrna eine große Rolle, in den anderen Niederlassungen hingegen kaum. Ähnliche Unterschiede lassen sich in Bezug auf Wachstum, Größe und Zusammensetzung der britischen Bevölkerung feststellen. An Orten mit nur wenigen britischen Kaufleuten zeigten sich Rechtsfälle grundsätzlich anders gelagert als in den Hafenstädten Smyrna und Konstantinopel, deren britische Gemeinden groß und von einem starken sozialen Gefalle geprägt waren. U m demnach die Rechtsprechung der Konsulargerichte an ihrem Ort situieren zu können, wird in diesem Kapitel ein knapper Überblick zu Wirtschafts- und Sozialstruktur der britischen Levantegemeinden gegeben. Da die britischen Kolonien in Smyrna und Konstantinopel bisher nie systematisch untersucht worden sind, drängt sich ein solches Unterfangen ohnehin auf. 127 In Konstantinopel lebten britische Kaufleute und Handwerker sowie ein großer Teil der maltesischen und ionischen Unterschicht im Galata-Quartier, der früheren Genuesenstadt am Nordufer des Goldenen Horns. 1 2 8 In Galata lagen auch das britische Konsulat und der Supreme Consular Court. Gesandtschafts- und Konsulatsangestellte, wohlhabende Kaufleute und allgemein besser gestellte Personen residierten erhöht und zurückversetzt von Galata im Pera-Quartier (heute Beyoglu), wo sich auch die europäischen Gesandtschaften befanden. Galata und Pera bildeten die europäischen Quartiere par excellence und hoben sich als solche markant aus der Stadttopografie hervor. Insbesondere ließen sie sich vom muslimisch geprägten Stamboul klar abgrenzen. 129 Abgesehen von 127

Ein Uberblick über die europäischen Gemeinden in Smyrna und Konstantinopel findet sich bei Schmitt, Levantiner, S. 89-105. Gut erforscht sind die französischen Levantekolonien. Für die Franzosen in Saloniki vgl. Meropi Anastassiadou, Salonique, 1830-1912. Une ville ottomane ä l'äge des Reformes, (The Ottoman Empire and Its Heritage. Politics, Society and Economy, Bd. 11), Leiden/ New York/Köln 1997, S.285-303; für Smyrna vgl. die Publikationen im Literaturverzeichnis von Marie-Carmen Smyrnelis, die ihre Archivrecherchen zu einem großen Teil auf Frankreich konzentriert hat; für Konstantinopel vgl. Edhem Eldem, Istanbul: From Imperial to Peripheralized Capital, in: ders., Daniel Goffman u. Bruce Masters (Hrsg.), The Ottoman City between East and West: Aleppo, Izmir, and Istanbul, Cambridge 1999, S. 135-206, insbes. S. 179-196. Ebenfalls viele Einblicke in französische Lebensweisen in der Levante gibt der Sammelband von Hämit Batu u. JeanLouis Bacque-Grammont (Hrsg.), L'Empire Ottoman, la Republique de Turquie et la France, Paris/Istanbul 1986. Für einen knappen, aber informativen Uberblick zu den meisten „Nationen" in Smyrna am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Demetrios Georgiades, La Turquie actuelle. Les peuples affranchis du joug ottoman et les ίηιέΓ&β frangais en Orient, Paris 1892, S. 235-304. - Unverzichtbare Informationen zur europäischen Bevölkerung und deren wirtschaftlichen Tätigkeiten in Konstantinopel, Smyrna und anderen Levantehäfen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bieten zudem die Branchenverzeichnisse von Raphael C. Cervati u. N.C. Sargologo, Indicateur constantinopolitain. Guide commercial. Premiere annee 1868-1265, Konstantinopel 1868, sowie Raphael C. Cervati, Annuaire oriental du commerce, de l'industrie, de l'administration et de la magistrature 1889-1890, 9™ annee, Constantinople 1887.

128

Zur Geschichte von Galata vgl. den Sammelband von Edhem Eldem (Hrsg.), Premiere Rencontre Internationale sur l'Empire Ottoman et la Turquie Moderne. Institut National des Langues et Civilisations Orientales, Maison des Sciences de l'Homme, 18-22 janvier 1985, Istanbul 1991, I. Recherches sur la ville ottomane: le cas du quartier de Galata, S. 5-244. Zu Siedlungsstruktur und Stadtentwicklung in Konstantinopel im 19. Jahrhundert vgl. die zeitgenössischen Berichte zu Galata von Edmondo de Amicis, Constantinople, Paris 1878, S. 49-70, sowie zu Pera von Jean Henry Abdolonyme Ubicini, La Turquie actuelle, Paris 1855, S. 430-466. Für neuere Untersuchungen vgl. Zeynep C^elik, The Remaking of Istanbul. Portrait of an Ottoman City in the Nineteenth Century, Berkeley/London 1986; Ilhan Tekeli, Nineteenth Century Transformation of Istanbul Metropolitan Area, in: Paul Dumont u. Fra^ois Georgeon (Hrsg.), Villes ottomanes ä la fin de l'Empire, Paris 1992, S. 33-45; Eldem, Istanbul, S. 135-206; Kemal H. Karpat, The Social and Economic Transformation of Istanbul in the Nineteenth Century, in: ders., Studies on Ottoman Social and Political History. Selected Articles and Essays, Leiden/Boston 2002, S. 243-290; Yavuz Köse (Hrsg.), Istanbul: vom imperialen Herrschersitz zur Megapolis. Historiographische Betrachtungen zu Gesellschaft, Institutionen und Räumen, München 2006. - Zur

129

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

67

Galata und Pera lebten viele Briten auch auf der asiatischen Seite Konstantinopels in Scutari (Usküdar), Kadiköy, Moda oder Kandilli sowie in Sommerresidenzen am Bosporus wie Therapia (Tarabya). 130 Smyrna unterschied sich von Konstantinopel in erster Linie durch seine mehrheitlich christliche Bevölkerung. Aber auch in Smyrna lebten Europäer anfänglich in separierten Quartieren, meist in der Umgebung des wirtschaftlichen und kulturellen Zentrums der Unterstadt.131 Dort befanden sich auch die meisten europäischen Konsulate sowie die großen Handels- und Lagerhäuser und Absteigen für die Kaufleute (Hane). Viele Europäer residierten während der Sommermonate in den Vororten Boudja (Buca) und Bournabat (Bornova), die später im Jahrhundert auch an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurden. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts begannen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Quartieren zusehends aufzuweichen und europäische, griechische und armenische Bevölkerungen vermehrt zu durchmischen. Die Lebensbedingungen der britischen Gemeinden in den übrigen Teilen des Osmanischen Reichs sind im Vergleich zu Smyrna und Konstantinopel bedeutend weniger klar.132 Allerdings waren diese Kolonien - mit Ausnahme von denjenigen in Ägypten - auch um ein Vielfaches kleiner und von geringerer wirtschaftlicher Bedeutung. 3.1

Wirtschaftsinteressen

Großbritanniens Levantehandel stand noch im 18. Jahrhundert ganz im Schatten von Frankreich, das mehr als die Hälfte des europäischen Außenhandels mit dem Osmanischen Reich abwickelte. Als zwischen 1793 und 1797 die Kriege gegen Frankreich und das Osmanische Reich den Zugang zum Mittelmeer und zu den Levantehäfen stark erschwerten, fiel der britische Anteil am europäischen Handelsvolumen mit dem Osmanischen Reich auf einen Tiefpunkt. 133 Danach - mit der Ausnahme der Jahre 1807 und 1808 - wuchs das Handelsvolumen zwischen dem Osmanischen Reich und Großbritannien stetig. Vom Jahre 1852 an machten britische Im- und Exporte wertmäßig den höchsten Anteil am osmanischen Außenhandel aus.134 Drei Gründe gaben hierfür den Ausschlag.

130 131

132

133

134

Bedeutung von Pera als Ausländerquartier vgl. die Bevölkerungszahlen bei Stanford J. Shaw, The Population of Istanbul in the Nineteenth Century, in: IJMES 10 (1979), S. 2 6 5 - 2 7 7 , S.268. Vgl. Dorina Lockhart Neave, Twenty-Six Years on the Bosphorus, London 1933, S. 20f. Zu Smyrna im 19. Jahrhundert vgl. in erster Linie die Arbeiten von Marie-Carmen Smyrnelis. Für politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte von Smyrna vom 1 8 . - 2 0 . Jahrhundert vgl. Maurits H. van den Boogert (Hrsg.), Ottoman Izmir. Studies in Honour of Alexander H. de G r o o t , Leiden 2007; speziell f ü r die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert bis 1922 vgl. Georgelin, La fin de Smyrne. Für einen zeitgenössischen Bericht zu Smyrna vgl. u.a. George Rolleston, Report on Smyrna, London 1856. Einen Eindruck aus Ankara vermittelt Frederick Gustavus Burnaby, O n Horseback through Asia Minor (1898), Gloucester/New York 1985, S. 5 7 - 7 5 ; zu Saloniki vgl. Austen Henry Layard, A u t o biography and Letters, f r o m Childhood until his Appointment as H.M. Ambassador at Madrid, 2 Bde., London 1903, Bd.2, S. 2 2 - 2 6 ; zu Bagdad vgl. Grattan Geary, Through Asiatic Turkey. Narrative of a Journey f r o m Bombay to the Bosphorus, 2 Bde., London 1878, Bd. 1, S.206ff. Zum Handel zwischen dem Osmanischen Reich und Europa im 18. Jahrhundert vgl. Necmi Ulker, The Emergence of Izmir as a Mediterranean Commercial Centre f o r the French and English Interests, 1 6 9 8 - 1 7 4 0 , in: International Journal of Turkish Studies 4/1 (1987), S. 1 - 3 7 ; Elena Frangakis-Syrett, Trade between Ottoman Empire and Western Europe: The Case of Izmir in the Eighteenth Century, in: N e w Perspectives on Turkey 2/1 (1988), S. 1 - 1 8 ; Edhem Eldem, French Trade in Istanbul in the Eighteenth Century, Leiden/Boston 1999. Zum Handel zwischen der Levante und Europa im 19. Jahrhundert vgl. Roger Owen, The Middle East in the World Economy 1 8 0 0 - 1 9 1 4 , London 1981, S. 8 3 - 9 9 u. 1 1 0 - 1 2 1 ; §evket Pamuk, The Ottoman Empire and European Capitalism, 1 8 2 0 - 1 9 1 3 . Trade, Investment, and Production,

68

Karte 2: Konstantinopel

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

- die Quartiere Pera und Galata 1881

1: Britisches Generalkonsulat und Supreme Consular Court in Galata 2: Britische Botschaft in Pera Quelle: F O 780/209 E r s t e n s e b n e t e d e r Verlauf d e r N a p o l e o n i s c h e n K r i e g e d e m b r i t i s c h e n H a n d e l d e n W e g z u r V o r m a c h t s t e l l u n g in d e r L e v a n t e . N e l s o n s A g y p t e n f e l d z u g sicherte d e n B r i t e n die S u p r e m a t i e im M i t t e l m e e r , die 1799 d u r c h d e n l a n g e r s e h n t e n Z u g a n g f ü r britische Schiffe z u m Schwarzen Meer zusätzlich gestärkt wurde.135 Mit Frankreich verdrängte Großbritannien a u c h dessen V e r b ü n d e t e aus d e m M i t t e l m e e r . B e g ü n s t i g t d u r c h die K o n t i n e n t a l s p e r r e u n d Cambridge 1987; Re§at Kasaba, The Ottoman Empire and the World Economy: The Nineteenth Century, New York 1988. - Collas weist für 1860 britische Importe im Wert von Pstr. 96 Mio. nach, Exporte beliefen sich auf etwas über Pstr. 92 Mio. Die entsprechenden Zahlen für Frankreich sind Pstr. 46 Mio. resp. Pstr. 34 Mio., für Osterreich 35 Mio. resp. 33 Mio., für die USA 15 Mio. resp. 24 Mio. Bernard-Camille Collas, La Turquie en 1864, Paris 1864, S. 292. - Den besten Uberblick zum britischen Überseehandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts geben die Aufzeichnungen des Briten Christoph Aubin, der im Auftrag des Glasgower Handelshauses / . Finlay & Co. die Levante und im Speziellen Smyrna bereiste und detaillierte Aufzeichnungen zu den Handelsbedingungen hinterließ. Auszüge des Berichts sind enthalten in Allan Cunningham, The Journal of Christophe Aubin: A Report on the Levant Trade in 1812, in: Archivum Ottomanicum 8 (1983), S. 5-131. Zur verstärkten militärischen und politischen Präsenz Großbritanniens im Mittelmeerraum in der ersten Jahrhunderthälfte vgl. Peter Dietz, The British in the Mediterranean, London/Washington 1994, S. 37-80. 135 Act of the Sublime Porte, Granting to the English Vessels the Privileges of Commerce in the Black Sea. 30 th October 1799, abgedruckt in F O 78/3370. Den britischen Schiffen war der Zugang zum Schwarzen Meer seit 1610 verschlossen gewesen. Zur Auswirkung der Schwarzmeeröffnung auf den britischen Handel vgl. Turgay, Ottoman-British Trade, S. 300ff.

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

69

den lukrativen Schmuggel britischer Güter via das Mittelmeer auf den Kontinent, baute Großbritannien eine dominante Stellung auf, die auch lange über 1815 hinaus die anderen Nationen in Schach hielt. Der Durchbruch zum Freihandel gelang Großbritannien im Vertrag von Balta Limani 1838, als die Pforte im Gegenzug zu politischen und militärischen Hilfestellungen Handelsmonopole aufhob und britischen Kaufleuten den direkten Zugang zu Produzenten im kleinasiatischen Hinterland öffnete. 136 Der Vertrag bestätigte überdies die Handelsprivilegien der Kapitulationen und legte vorteilhafte Steuer- und Zollsätze fest. 137 Die britische Expansion im Levantehandel hätte - zweitens - nicht ohne die wachsende Güterproduktion in England seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stattfinden können. Die britischen Manufakturen, allen voran die Baumwollindustrie, fanden in den verschiedenen Märkten des Osmanischen Reichs vorzügliche Absatzmöglichkeiten. 14 Prozent der britischen Gesamtexporte von verarbeiteter Baumwolle gingen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Levante. 138 Das Osmanische Reich diente aber auch zunehmend als Bezugsquelle von Rohmaterialien wie Baumwolle, Seide, Wolle und Mohairgarn. Drittens schließlich beseitigte die Auflösung der Levant Company 1825 das Monopol für den britischen Levantehandel. Nicht nur stand es der Freihandelsidee diametral entgegen, den Zugang zu den osmanischen Märkten auf einen fest definierten Kreis von Kaufleuten zu begrenzen. Das Handelsmonopol erwies sich zudem auf Dauer als zu wenig anpassungsfähig an die starke Volatilität der osmanischen Märkte und die Bedürfnisse der verarbeitenden Industrien in England. Ebenso legte es die wachsende politische Bedeutung Großbritanniens im Osmanischen Reich nahe, das Konsularwesens unter staatliche Kontrolle zu bringen. 139 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielt Großbritanniens wirtschaftliche Vormachtstellung an, auch wenn sich der politische Einfluss in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich verringerte und auch die wirtschaftliche Dominanz von den achtziger Jahren an etwas nachzulassen begann. 140 Der Krimkrieg (1853-1856) brachte viele Europäer nach Konstantinopel und ins Schwarzmeergebiet, ermöglichte ihnen glänzende Geschäfte und führte bis in die siebziger Jahre zu einer konstant hohen Nachfrage nach Fachleuten für Militär- und Infrastrukturprojekte. In Konstantinopel spielten britische Ingenieure, Mechaniker und Werftarbeiter beim Bau der osmanischen Flotte eine wichtige Rolle. Kohle und Stahl wurden hierzu aus Wales und Newcastle eingeschifft, wie dies auch für andere Großprojekte der Fall war. 141 Auch in den Arsenalen, dem Bergbau 136

137

138

139 140

141

Zu Umsetzung und Wirkung des Vertrags von Balta Limani vgl. Orhan Kurmu§, The 1838 Treaty of Commerce Re-Examined, in: Jean-Louis Bacque-Grammont u. Paul Dumont (Hrsg.), Economie et societes dans l'Empire ottoman (fin du XVIIIe-debut du X X e siecle), Paris 1983, S. 411-417; Elena Frangakis-Syrett, Implementation of the 1838 Anglo-Turkish Convention on Izmir's Trade: European and Minority Merchants, in: New Perspectives on Turkey 7 (1992), S. 91-112. Vgl. Roderic H. Davison, Britain, the International Spectrum, and the Eastern Question, 1827-1841, in: New Perspectives on Turkey 7 (1992), S. 15-35, S. 29. Owen, Middle East in the World Economy, S. 85. Zur Bedeutung britischer Baumwollprodukte für die Levante vgl. Halil Inalcik, When and How British Cotton Goods Invaded the Levant Markets, in: Huri Islamoglu-Inan (Hrsg.), The Ottoman Empire and the World Economy, Cambridge 1987, S. 374-383. Zum Ende der Levant Company vgl. Wood, History of the Levant Company, S. 179-204. Ein Blick auf die Anteile an den ausländischen Direktinvestitionen im Osmanischen Reich veranschaulicht diesen Wandel gut. 1888: Großbritannien 56,2 %, Frankreich 31,7 %, Deutschland 1,1 %; 1913: Großbritannien 15,3%, Frankreich 50,4%, Deutschland 27,5%. Pamuk, Ottoman Empire and European Capitalism, S. 65f. Vgl. die Schilderungen des Times-Korrespondenten Antonio Carlo Napoleone Gallenga, Two Years of the Eastern Question, 2 Bde., London 1877, Bd.l, S.243-248. Vgl. hierzu auch J. Kraus, Schifffahrt, Güterumschlag und Lagerung in der Türkei, in: Josef Hellauer (Hrsg.), Das Türkische Reich, (Kurse für internationale Privatwirtschaft, Bd.l), Berlin 1918, S.82-116, S.86ff. Für eine frühere

70

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

und in den Manufakturen verlangte die Technisierung nach europäischen Facharbeitern. 1 4 2 Versorgungsbetriebe für Gas oder Wasser befanden sich häufig ganz in den Händen europäischer Gesellschaften. 1 4 3 Viele dieser Investitionen, die im Zuge der osmanischen R e f o r m politik nach 1839 (Tanzimat) in Angriff genommen wurden, basierten auf Krediten vornehmlich aus Großbritannien und Frankreich. Die hohen Schulden konnten vom osmanischen Staat bald nicht mehr bedient werden und trieben ihn in den siebziger Jahren schließlich in den Bankrott. Die Ottoman

Public Debt Administration

( P D A , 1881), die im Interesse der

Gläubigerstaaten danach bedeutende Teile des osmanischen Steuersystems unter ihre K o n trolle nahm, verschaffte wiederum vielen Europäern Arbeit und Auskommen. 1 4 4 Das Augenmerk vieler Briten blieb während des ganzen 19. Jahrhunderts zwar nach wie vor auf den internationalen Warenhandel gerichtet, doch mehr und mehr verlagerten sich die Wirtschaftsinteressen auch auf Möglichkeiten, die ihnen der osmanische Binnenmarkt bot. 1 4 5 Die Bedingungen hierzu waren einerseits durch die wirtschaftliche Öffnung Kleinasiens für den Handel geschaffen worden. Anderseits ermöglichte ein Gesetz aus dem Jahre 1867 auch Europäern, B o d e n - und Immobilienbesitz frei zu erwerben. In erster Linie Briten erwarben große Landwirtschaftsflächen im Smyrnioter Hinterland und investierten in die Produktion und teilweise auch in die Verarbeitung von Baumwolle, Seide, Früchten und Süßholz. 1 4 6 Diese Entwicklung wurde durch verbesserte Transportmöglichkeiten in der Levante begünstigt und teilweise auch erst ermöglicht. Die Dampfschifffahrt beschleunigte den Transport von Gütern und erhöhte die Zuverlässigkeit des Warentransports innerhalb des Reichs entscheidend. D e r technische Fortschritt zeigte sich aber auch im Eisenbahnbau, der mit britischem Kapital und Ingenieurwissen in Smyrna vorangetrieben wurde und von allem Anfang an als Speerspitze zur Erschließung des kleinasiatischen W i r t schaftsraumes gedacht war. 1 4 7 Die steigende Bedeutung der Binnenwirtschaft gegenüber

142

143

144

145 146

147

Darstellung der Briten in osmanischer Beschäftigung vgl. Charles Macfarlane, Turkey and Its Destiny: The Result of Journeys Made in 1847 and 1848 to Examine into the State of that Country, 2 Bde., London 1850, Bd.2, S.214ff. Vgl. Charles Issawi, The Economic History of Turkey 1800-1914, Chicago/London 1980, S. 59. Zur Bedeutung der Europäer für den Aufbau von Staatsmanufakturen vgl. Donald Quateret, The Age of Reforms, 1812-1914, in: ders. u. Halil Inalcik (Hrsg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300-1914, 2 Bde., Cambridge 1994, Bd. 2, S. 759-943, S.900f. Vgl. Noel Verney u. George Dambmann, Les Puissances etrangeres dans le Levant, en Syrie et en Palestine, Paris/Lyon 1900, S. 447-451. - In Smyrna erhielten Briten in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Konzessionen u.a. für den Bau der Eisenbahnlinie Smyrna-Aydin, der Straße Smyrna-Bournabat, des Leuchtturms, der gasbetriebenen Straßenbeleuchtung im europäischen Quartier sowie der neuen Quaianlagen, welche Stadtbild und Stadtanlage komplett veränderten. Es ist zu betonen, dass solche Konzessionen an Briten vergeben wurden, die bereits seit Generationen in der Levante residierten und zur führenden Schicht der Stadt gezählt wurden. Es wäre insofern stark verkürzt, dieses Engagement als von außen kommend, d.h. primär als interventionistisch oder gar imperialistisch zu bezeichnen. Vgl. Smyrnelis, Societe hors de soi, S. 298ff. Vgl. Owen, Middle East in the World Economy, S. 194; Donald C. Blaisdell, European Financial Control in the Ottoman Empire. Α Study of the Establishment, Activities, and Significance of the Administration of the Ottoman Public Debt, New York 1929. Zum Einfluss der europäischen Staaten auf die osmanischen Staatsfinanzen und Infrastrukturobjekte vgl. u.a. Christopher Clay, Gold for the Sultan. Western Bankers and Ottoman Finance 1856-1881. A Contribution to Ottoman and to International Financial History, London/New York 2000. Für Smyrna vgl. Re§at Kasaba, Izmir, in: Review 16/4 (1993), S. 387-410, S.406. Zum Erwerb von Grundbesitz durch Briten nach 1867 vgl. Abdul-Karim Rafeq, Ownership of Real Property by Foreigners in Syria, 1869 to 1873, in: Roger Owen (Hrsg.), New Perspectives on Property and Land in the Middle East, Cambridge (Massachusetts) 2001, S. 175-239, S. 197ff. Britische Gesellschaften bauten in den 60er Jahren die Strecken Smyrna-Aydin und Smyrna - Kasaba, wobei allerdings nur erstere unter britischer Kontrolle blieb. Vgl. zum Eisenbahnbau Verney u. Dambmann, Les puissances etrangeres dans le Levant, S. 228-235; Hyde Clarke, The Imperial Otto-

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

71

dem traditionellen Im- und Exportgeschäft wird nicht zuletzt durch das Banken- und Versicherungswesen veranschaulicht, das sich Mitte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich zu etablieren begann und sich ebenfalls zu guten Teilen unter europäischer Kontrolle befand. 148 3.2 Britische Bevölkerung

und ihre

Schutzgenossen

Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen nur wenige verlässliche Zahlen zu den Briten und den unter britischer Protektion stehenden Personen in der Levante vor. Bis 1844 erfassten die Konsuln die Zahl der Schutzbefohlenen in ihren Distrikten kaum je systematisch. Erst in der Zeit danach schrieb das Foreign Office den Konsuln vor, ein Register aller Residenten in den britischen Niederlassungen zu führen. 149 Nach dem Dardanellenvertrag von 1809 stellte sich ein deutlicher Aufschwung im anglo-osmanischen Außenhandel ein, der sich auch in der Zahl der Briten widerspiegelte, die in dieser Zeit in der Levante Fuß zu fassen begannen. Die Zahl der britischen Handelshäuser in Konstantinopel verdoppelte sich zwischen 1806 und 1823 auf zehn, in Smyrna wuchs sie zwischen 1813 und 1821 von acht auf 25. 150 Die Zahl der britischen Schiffe, die in dieser Zeit Levantehäfen anliefen, bestätigt diesen Trend: 1805 waren es sechs, 1814 bereits 18 und 1820 wuchs die Zahl auf 50 Schiffe allein für Smyrna. 151 Genauere Zahlen zu den in der Levante ansässigen Europäern und Briten sind erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts verfügbar. In Smyrna wurden 1847 103 Briten gezählt, was sich neben 3 400 Griechen, 2 000 Österreichern und 365 Franzosen bescheiden ausnahm. 152 1844 wurden für Konstantinopel 162 Briten ausgewiesen, für 1847 249. 153 Eine Ubersicht (vgl. Tabelle 1) zu den wichtigsten konsularischen Niederlassungen zeigt, dass auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Konsulardistrikten des Osmanischen Reichs nur wenige Briten residierten. Eine Ausnahme bildeten neben Ägypten die britischen Konsulardistrikte von Smyrna und Konstantinopel. Von den späten vierziger Jahren an war ein markantes Bevölkeman Smyrna & Aidin Railway, Its Position and Prospects. Reprinted from the Levant Quarterly Review, Konstantinopel 1861; Colin Leonard Smith, The Embassy of Sir William White at C o n stantinople, 1 8 8 6 - 1 8 9 1 , London 1957, S.109. - Neben dem Eisenbahnbau lag auch die Errichtung einer neuen Quaianlage in Smyrna anfänglich in den Händen einer britischen Gesellschaft, der Societe de Quais de Smyrrte. N a c h deren Konkurs im Jahre 1869 wurde die Anlage von Dussaud Freres aus Marseille fertig gestellt. Vgl. Pierre Oberling, The Quays of Izmir, in: Hämit Batu u. JeanLouis Bacque-Grammont (Hrsg.), L'Empire Ottoman, la Republique de Turquie et la France, Paris/Istanbul 1986, S. 3 1 5 - 3 2 5 , insbes. S.316f. 148

Vgl. Demetrios Georgiades, Smyrne et l'Asie Mineure au point de vue economique et commercial, Paris 1885, S. 181f. Zu den Möglichkeiten, die das Bankenwesen zu eröffnen versprach, vgl. James Lewis Farley, Banking in Turkey, London 1863. Über Schwierigkeiten und enttäuschte Hoffnungen im Bankenwesen vgl. Christopher Clay, Western Banking and the O t t o m a n E c o n o m y before 1890: Α Story of Disappointed Expectations, in: Journal of European E c o n o m i c History 2 8 / 3 (1999), S. 473 - 5 0 9 .

149

Circular to H e r Majesty's Consuls in the Levant, Foreign Office, 2.7.1844, F O 1 9 8 / 5 . Anspruch auf Dienstleistungen des Konsulats sollte nur haben, wer in diesem Register als Brite oder unter britischem Schutz stehend eingetragen war. Der Vorschrift, jeweils auf Ende eines Kalenderjahres die aktuellen Zahlen ans F O zu senden, leisteten die Konsuln zu Beginn zuverlässig, in späteren Jahren aber nur noch erratisch Folge. Wood, History of the Levant Company, S. 195. Cunningham, The Journal of Christophe Aubin, S. 20. F O 1 9 5 / 2 8 8 / 1 1 - 1 1 A . Frauen, Mädchen und Knaben unter zehn Jahren sind darin nicht eingerechnet. F O 7 8 / 6 1 1 , F O 7 8 / 7 9 3 , F O 7 8 1 / 4 . Die Zahlen beziehen sich auf registrierte Personen, wobei die Familienmitglieder nicht eingerechnet sind.

150 151 152 153

72

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Tabelle 1: Briten in ausgewählten Konsulardistrikt

Männer 1861 1870

Konstantinopel Smyrna Varna Bukarest Jassy Saloniki Qanakkale Beirut Aleppo Jerusalem Bagdad Alexandria Kairo Suez Total

Städten des Osmanischen

Reichs, 1861 und 1870

Frauen 1861

1870

Total 1861

1870

555 359 103 36 10 27 53 37 17 38 54 243 103 272

792 323 8 61 38 29 27 65 53 10 27 670 319 190

(484) (241) (9) (8) (7) (29) (26) (59) (63) (8) (9) (345) (113) (37)

403 249 41 33 9 23 39 43 10 30 19 195 74 41

449 275 5 28 8 28 22 79 46 12 17 349 149 52

(438) (224) (6) Η (5) (18) (25) (60) (46) (10) (15) (229) (133) (28)

958 608 144 69 19 50 92 80 27 68 73 438 177 313

1241 598 13 89 46 57 49 144 99 22 44 1019 468 242

(922) (465) (15) (8) (12) (47) (51) (119) (109) (18) (24) (644) (246) (65)

1907

2612

(1438)

1209

1519

(1237)

3116

4131

(2675)

Klammerangaben beziehen sich auf Anzahl Kinder. Alle Angaben schließen Malteser aus. Zahlen für 1861 gemäß Zensus von 1861, F O 195/700; Angaben für das Jahr 1870 aus F O 366/1132.

rungswachstum in den beiden Hafenstädten zu verzeichnen. Bis 1853 stieg die Zahl der in Smyrna registrierten britischen Männer auf 256, in Konstantinopel auf 3 9 0 . 1 5 4 Damit blieb das Wachstum aber stets in einer überschaubaren Größenordnung. E i n anderes Bild zeigt sich demgegenüber bei den unter britischer Protektion stehenden Personen. Die Auflösung der Levant

Company

sowie politische und ökonomische

Entwick-

lungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten zu einem rasanten Wachstum dieses Bevölkerungssegments innerhalb der britischen Gemeinden geführt (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Registrierte

Personen im britischen Konsulardistrikt

Konstantinopel,

1844-1853

1844

1845

1846

1847

1848

1849

1850

1851

1852

1853

Zunahme 1844-1853

Briten Ionier Malteser Proteges Sonstige1

162 1349 319 27 5

185 1468 348 27 8

207 1587 376 30 8

249 1762 399 24 12

301 1936 439 25 12

331 2165 529 28 15

353 2527 633 35 15

368 2840 703 39 15

380 3091 749 40 16

390 3224 787 41 17

+ + + + +

Total

1862

2036

2208

2446

2713

3068

3552

3965

4276

4459

+ 139%

1

141% 139% 147% 52% 240%

Britisch-indische Untertanen sowie Briten aus Gibraltar.

Tabelle zusammengestellt aus folgenden Dokumenten: F O 78/611; F O 78/651; F O 78/699; F O 78/748; F O 78/793; F O 78/830; F O 78/866; F O 78/976.

Zahlenmäßig fielen in erster Linie die Ionier und etwas abgeschwächt die Malteser ins Gewicht, die schwächer vertretenen Proteges (vgl. unten) spielten dagegen politisch eine u m s o größere Rolle. Die Vereinigten

Staaten der Ionischen

Inseln wurden 1814 an der Pariser

Friedenskonferenz aus der Taufe gehoben und unter britische Protektion gestellt. G r o ß britannien hatte die Inseln mit Ausnahme von C o r f u bereits seit 1809 besetzt gehalten und 154

F O 78/976, S. 90 u. 96.

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

73

erschien deshalb als nahe liegende Protektionsmacht. 155 Mit den Inseln übernahm Großbritannien gleichzeitig auch die Schutzherrschaft über die Ionier im Osmanischen Reich. Deren Zahl überstieg jene der Briten von Beginn an um ein Vielfaches. Die Register der britischen Kanzlei in Konstantinopel erfassten für das Jahr 1826 325 ionische Männer. Davon hatten 99 bereits vor 1815 im Osmanischen Reich residiert, 83 waren zwischen 1815 und 1825 eingewandert, 68 nach 1825.156 1844 waren in Konstantinopel bereits 1349 Ionier registriert, 1847 in Smyrna sogar 1944.157 Die Schutzherrschaft über die Ionier kam 1864 zu einem abrupten Ende, als die Ionischen Inseln dem griechischen Nationalstaat einverleibt wurden. Die Protektion der Ionier im Osmanischen Reich lag fortan bei Griechenland.158 Malta stand bereits seit 1802 unter britischer Protektion. Am Ende der Napoleonischen Kriege annektierte Großbritannien die maltesische Inselgruppe und gliederte sie ins britische Empire ein (1814/15).159 Im Unterschied zu den Ionischen Inseln galt Malta als zur britischen Krone gehörig, weshalb Malteser in den Statistiken oft als British subjects aufgeführt wurden. Die Auflösung der Levant Company 1825 fiel in eine Zeit starker maltesischer Emigration vorwiegend nach Nordafrika, Ägypten, Syrien, Kleinasien und den Ionischen Inseln. Für 1842 werden im südlichen und östlichen Mittelmeerraum 20 000 Malteser geschätzt, wovon 5 000 auf Algerien, 3 000 auf Tunesien, 1000 auf Tripolis, 2 000 auf Ägypten entfielen sowie 500 auf Smyrna und 1000 auf Konstantinopel. Bis 1865 hatten sich diese Zahlen für Kleinasien verdoppelt, bis 1885 verdreifacht.160 Diese Zahlen dürften zutreffend sein, denn in Konstantinopel waren 1844 319 maltesische Männer registriert, 1856 bereits 1000.161 Für den Beginn des 20.Jahrhunderts werden für Konstantinopel 3000 und für Smyrna 2 000 Malteser unter britischer Protektion geschätzt.162 Briten, Malteser und Ionier fielen für die osmanischen Behörden unterschiedslos in die Kategorie der Ausländer (müste'mins). Die britische Ausländergemeinde bot jedoch keineswegs ein homogenes Bild. Hierbei bietet sich eine Unterscheidung in first-class foreigners (Inselbriten und deren Nachfahren) und second-class foreigners (Untertanen aus den Kolonien oder von protegierten Staaten) an.163 Second-class foreigners wie beispielsweise die Zur Geschichte der Ionischen Inseln unter britischer Protektion vgl. David W. Wrigley, The Issue of Ionian Neutrality in Anglo-Ottoman Relations, 1821-1830, in: Südost-Forschungen 47 (1988), S. 109-143; Thomas W. Gallant, Experiencing Dominion: Culture, Identity, and Power in the British Mediterranean, New York 2002. Die britische Protektionsmacht war durch einen Lord High Commissioner vertreten. Zwischen 1858 und 1859 hatte der spätere britische Premierminister William Gladstone für kurze Zeit dieses Amt inne. 156 F O 352/12B, Mappe 7. Von 75 Ioniern ist nicht bekannt, wann sie nach Konstantinopel kamen. 157 F O 78/611 u. F O 195/288/11—11A. Frauen und Kinder unter zehn Jahren sind nicht eingerechnet. 158 Zum Ende der britischen Protektion vgl. C.C. Eldridge, The Myth of Mid-Victorian „Separatism": The Cessation of the Bay Islands and the Ionian Islands in the Early 1860's, in: Victorian Studies 12/3 (1969), S. 331-346; Bruce Knox, British Policy and the Ionian Islands, 1847-1864: Nationalism and Imperial Administration, in: English Historical Review 99 (1984), S. 503-529. 159 Zu Malta bis zur Eingliederung ins britische Empire vgl. Desmond Gregory, Malta, Britain, and the European Powers, 1793-1815, Madison/London 1996; Alain Blondy, Malte: des occupations franijaise et britannique ä l'independance, in: Revue du Monde Musulman et de la Mediterranee 71 (1994), S. 143-149, S. 144f. 160 Zur Maltesischen Emigration im 19. Jahrhundert vgl. Price, Malta and the Maltese, S.59ff., 113ff., 138f. u. 230; vgl. auch Nora Lafi, Les relations de Malta et de Tripoli de Barbarie au XIXe siecle, in: Revue du Monde Musulman et de la Mediterranee 71 (1994), S. 127-142, S. 130f. 161 F O 78/611; Return of Persons enjoying British Protection at Constantinople, S. 303, F O 881/768. 162 Lawrence E. Attard, Emigration, in: Henry Frendo u. Oliver Friggieri (Hrsg.), Malta. Culture and Identity, Malta 1994, S.253-269, S.256. 163 Diese Unterscheidung hat Hanley für die britischen und französischen Gemeinschaften in Alexandria aufgestellt, sie lässt sich aber ohne weiteres auf alle britischen Niederlassungen in der Levante anwenden. Vgl. Hanley, Second-Rate Foreigners, S. 3. 155

74

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

Malteser hätten im Osmanischen Reich keine Rechtsprivilegien genossen, wäre Malta 1814 nicht z u m britischen Kolonialreich gefallen. Baute die soziale O r d n u n g in den Kolonien auf der Überlegenheit der metropolitan

subjects über die colonial subjects,

so ließ sich diese

Hierarchie auf dem Territorium des Osmanischen Reichs zumindest formal-rechtlich nicht aufrechterhalten.

Konsulatsbehörden

und

Konsulargerichte

hatten im Prinzip

beide

Gruppen gleichberechtigt zu behandeln. Wie an verschiedenen Stellen in dieser Studie gezeigt wird, waren second-class foreigners

vor den Konsulargerichten jedoch mannigfachen

Diskriminierungen ausgesetzt, die sich zumeist aus sprachlichen und materiellen Zugangsschwellen zu den Gerichten ergaben. 1 6 4 In der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen galten Ionier und Malteser als britische Proteges. 1 6 5 Dies ist nicht falsch, verdeckt aber die spezifische Bedeutung des Protege-Begriffs im Osmanischen Reich, der auf eine rechtlich klar abgrenzbare Personengruppe Anwendung fand. Angehörige europäischer Kapitulationsstaaten, aber auch Malteser und Ionier galten im Osmanischen Reich als unter Schutz stehende Ausländer, deren privilegierte Stellung sich aus den Satzungen der verschiedenen Kapitulationen ableitete. Proteges dagegen waren osmanische Untertanen, die unter dem Schutz einer europäischen Kapitulationsmacht standen und - in unterschiedlichem Ausmaß - in den Genuss der rechtlichen und steuerlichen Privilegien der Europäer kamen. 1 6 6 Ursprünglich war der Schutzstatus den osmanischen Dragomanen vorbehalten gewesen, die an den europäischen Gesandtschaften und Konsulaten beschäftigt waren. Im Laufe des 18. Jahrhunderts begannen die europäischen Gesandtschaften, Schutzbriefe auch an wohlhabende osmanische Untertanen zu verkaufen, die nicht in offiziellen europäischen Diensten standen. Die Zahl der ausgegebenen Schutzbriefe wurde von der Pforte reguliert, und jeder Schutzbrief musste durch eine U r k u n d e des Sultans (berat) bestätigt werden. Die Proteges werden deshalb oft auch als beratlis (engl.

Vgl. insbesondere Kap. III/1.3, III/1.4 und IV/2.2. 165 Vgl. u.a. Stanley Lane-Poole, The Life of the Rt. Hon. Stratford Canning, Viscount Stratford de Redcliffe. From his Memoirs and Private and Official Papers, 2 Bde., London 1888, Bd. 2, S. 87; James B. Angell, The Turkish Capitulations, in: The American Historical Review 6/2 (1901), S. 254-259, S.258. 166 Fragen rund um den Status von Schutzgenossen sind in den Quellen omnipräsent. Es ist daher erstaunlich, dass zum Protege-Wesen im Osmanischen Reich keine einschlägige moderne Monografie greifbar ist. Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf Sonyel, The Protege System, sowie van den Boogert, Capitulations, S. 63-115. Für ältere Literatur vgl. Basile Homsy, Les capitulations et la protection des chretiens au Proche-Orient aux XVIe, X V I I e et X V I Ile siecles, Paris/Harissa 1956; Francis Rey, La protection diplomatique et consulaire dans les echelles du Levant et de Barbarie, Paris 1899; für eine Ubersicht zum Protege-Wesen der verschiedenen europäischen Nationen im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Hans Beiart, Der Schutzgenosse in der Levante. Mit besonderer Berücksichtigung der Stellung der Schweizerbürger als Schutzgenossen befreundeter Staaten in der Levante, Brugg 1898, S. 6 0 - 8 8 ; für eine Quellensammlung zu diesem Thema vgl. A. Shopov, Les reformes et la protection des chretiens en Turquie, 1673-1904, Paris 1904. - Der Protege-Begriff wird sowohl in zeitgenössischen Dokumenten wie auch in der Literatur unterschiedlich definiert. So wendet Sonyel den Begriff auf alle christlichen Untertanen der Pforte an, die europäischen Schutzstatus genossen; van den Boogert zählt die Dragomane der Gesandtschaften und Konsulate dagegen nicht zu den Proteges. Für das F O wiederum fielen auch diejenigen europäischen Ausländer unter die protegierten Personen, deren Interessen Großbritannien gegenüber der Pforte wahrnahm. Sonyel, The Protege System, S. 57; van den Boogert, Capitulations, S.77; Zirkular an Konsuln, 1.1.1893, F O 195/1790. Eine treffende Definition des Schutzgenossen gibt der französische Jurist Pierre Arminjon: „La protection se presente [...] comme un lien juridique qui rattache une personne ä un Etat et la fait jouir de certains des droits et avantages derives de la qualite de national de cet Etat sans cependant lui conferer cette qualite de national ni le Statut personnel qui en depend." Pierre Arminjon, £trangers et proteges dans l'Empire ottoman, Paris 1903, S. 262. 164

3. Britische Präsenz im Osmanischen Reich

75

barateers, frz. barataires) bezeichnet. 167 Der Kreis der Proteges überstieg jedoch die Inhaber eines berats. Zu den Proteges gehörten auch die Söhne und Diener der Dragomane, Mittelsmänner im Handel (Brokers und Lagerhalter) sowie Bedienstete der europäischen Gesandtschaften und Konsulate. Die Proteges rekrutierten sich aus den nicht-muslimischen, vorwiegend griechischen, armenischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs sowie aus den Levantinern. 168 Grundsätzlich genossen die beratlis sowie die Söhne und Diener der Dragomane den höchsten Protektionsgrad, während für die restlichen Proteges nur steuerliche Privilegien vorgesehen waren. Eine Ubersicht zu den britischen Proteges in Smyrna aus dem Jahre 1836 illustriert diesen Unterschied: Für die Dauer ihres Dienstes in der britischen Feuerwehr waren 86 osmanische Untertanen von der cizye (Kopfsteuer) befreit; sechs osmanischen Seeleuten, die auf einem britischen Kriegsschiff Dienst taten, wurden lebenslänglich alle Rechte eines britischen Untertanen in der Levante eingeräumt; den drei osmanischen Dragomanen am Konsulat in Smyrna standen ebenfalls die vollen Privilegien der Kapitulationen offen, allerdings nur für die Dauer ihrer Anstellung; dafür galten sie für sämtliche Familienangehörige. 169 In der Praxis wurden die unterschiedlichen Protektionsgrade von den Konsulaten und Gesandtschaften jedoch oft nicht beachtet. So kam es, dass viele Proteges de facto umfassende rechtliche und steuerliche Privilegien genossen, die ihnen im Grunde nicht zustanden. Das Protektionswesen wurde auf diese Weise in großem Stil missbraucht. Ebenso missbräuchlich war der Handel, den europäische Gesandte mit berats trieben; auch wurden Schutzbriefe, die eigentlich für Bedienstete von Dragomanen vorgesehen waren, an wohlhabende nicht-muslimische osmanische Untertanen verkauft. Gesandtschaften und Konsulate deckten mit den Einnahmen einen Teil ihrer immensen Auslagen, die vorwiegend für Repräsentationszwecke aufliefen und über das normale Budget nicht zu bestreiten waren. Entgegen einer in der Literatur weit verbreiteten Meinung gaben Gesandtschaften keine Schutzbriefe ohne die Zustimmung der Pforte aus. Dies ist auch der Grund, weshalb die Zahl der Proteges tatsächlich bedeutend kleiner ist, als gemeinhin angenommen wird. Van den Boogert rechnet vor, dass für das Ende des 18. Jahrhunderts von höchstens 2 500 Proteges ausgegangen werden kann, die im ganzen östlichen Mittelmeergebiet im Besitz eines berats waren oder einen von einem beratli abgeleiteten Schutzstatus geltend machen konnten. 170 Die in der Literatur herumgebotenen, teilweise horrend hohen Zahlen zu den Proteges 171 im Osmanischen Reich haben damit zu tun, dass europäische Staaten seit dem 18. Jahrhundert Schutzherrschaft für ganze Glaubensgemeinschaften innerhalb des Osmanischen Reichs beanspruchten: Frankreich für die Katholiken und unierten Christen, Russland für die griechisch-orthodoxen Christen und Großbritannien für die viel kleineren protestantischen Gemeinden sowie zeitweise für die Juden in Palästina. 172 Eine größere Zahl osma167 168

169 170 171

172

Sonyel, The Protege System, S. 60. Das muslimische Wachpersonal der Gesandtschaften und Konsulate zählte theoretisch auch zu den Proteges, nach van den Boogert genoss es jedoch nur auf dem Papier dieselben Privilegien wie die Dragomane. Van den Boogert, Capitulations, S. 64. F O 97/407. Van den Boogert, Capitulations, S.91f. Lehmann beispielsweise spricht ohne näheren Quellenverweis von sieben Millionen russischer Schutzgenossen für das Jahr 1774. Walther Lehmann, Die Kapitulationen, Weimar 1917, S. 39. Masters dagegen zeigt am Beispiel Aleppos, dass Zahlenangaben zu den Proteges vielfach massiv übertrieben wurden. Bruce Masters, Bruce, Trading Diasporas and „Nations": The Genesis of National Identities in O t t o m a n Aleppo, in: International History Review 9 / 3 (1987), S . 3 4 5 - 3 6 7 , S.358f. Vgl. Sonyel, The Protege System, S. 58f. Protestanten in Syrien wurden beispielsweise als „englische Sekte" bezeichnet. Dabei ist festzuhalten, dass Großbritannien dieses Engagement stets nur halb-

76

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

nischer Untertanen kam auf diese Weise zumindest dem Anspruch nach unter europäische Schutzherrschaft. Diese konfessionelle Protektion ist von der juristischen Protektion der beratlis allerdings streng zu trennen. 173 Es war in keinem Fall so, dass Zehntausende von christlichen osmanischen Untertanen unter die Gerichtsbarkeit der europäischen Konsuln gelangten. Deren Schutzherrschaft diente in der Regel einzig dem Ziel, die freie Ausübung der christlichen Konfessionen im Osmanischen Reich zu garantieren. Zwar war auch Großbritannien in den berat-Handel verwickelt, und manch unterbezahlter Konsul verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Schutzbriefen. 174 Die zur Verfügung stehenden Zahlen aus den Konsulaten von 1856,1870 und 1886 (vgl. Tabelle 3) zeigen jedoch, dass das Protektionswesen insgesamt nur geringe Dimensionen aufwies. Zudem schließen sie alle diejenigen europäischen Staatsangehörigen ein, für die Großbritannien in gewissen Regionen die Schutzmacht darstellte. 175 So übernahm Großbritannien im Konsulardistrikt von Basra die Schutzherrschaft über die Griechen (ab 1881) sowie teilweise über die Deutschen und Holländer; in Beirut stand die italienischstämmige Familie Misk unter dem Schutz des britischen Konsulats, in Jerusalem wiederum Juden aus Russland. 176 Die Zahl osmanischer Proteges unter britischer Schutzherrschaft liegt gesamthaft wohl bloß bei einigen Dutzend. Zu berücksichtigen ist allenfalls eine Dunkelziffer von Proteges, die sich auf den Konsulaten nicht registrieren ließen und Protektion erst dann beanspruchten, wenn sie in Schwierigkeiten mit den osmanischen Behörden gerieten. 177 Insgesamt aber stellte das Protektionswesen auf britischer Seite kein Massenphänomen dar. Die Prominenz des Themas in den Quellen ergibt sich vielmehr aus der politischen Sprengkraft, die es seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelte. herzig wahrnahm. Vgl. Bruce Masters, Christians and Jews in the Ottoman Arab World. The Roots of Sectarianism, Cambridge 2001, S. 152f. Zu Protestanten und Katholiken unter britischer bzw. französischer Protektion in Smyrna vgl. Rolleston, Report on Smyrna, S. 46ff. 173 Vgl. Smyrnelis, Societe hors de soi, S. 84. Näheres zur Beziehung von Protektionswesen und Konsulargerichtsbarkeit in Kap. IV/3.1. 174 Interessant ist der Fall des britischen Vizekonsuls Frederick Gadaleta in Antalya, der von den lokalen Behörden 1859 beschuldigt wurde, Pässe und Zertifikate an osmanische Untertanen verkauft zu haben. Vgl. Nassif Mallouf, Gadaleta's Affair, Adalia 1859: or, Correspondence regarding Complaints against Her Britannic Majesty's Vice-Consul in that Port, Istanbul 2002, S. 29ff. 175 Protektionen unter europäischen Staaten wurde zwischen den einzelnen Staaten in bilateralen Verträgen geregelt, vgl. Logie an Lyons, No. 63, 30.6.1866, FO 195/828. 176 Vgl. Returns of British-Protected Subjects in the Ottoman Empire, 1887-1889, FO 881/5968. Für regionale Unterschiede des britischen Protektionswesen vgl. folgende Literaturhinweise: für Jerusalem vgl. James Finn, Stirring Times: or, Records from Jerusalem; Consular Chronicles of 1853-1856, Pref. by Vicountess Strangford, 2 Bde., London 1878, Bd.l, S. 84-100, S.474ff.; zur britischen Protektion von Juden in Palästina vgl. Isaiah Friedman, Lord Palmerston and the Protection of Jews in Palestine 1839-1851, in: Jewish Social Studies 30/1 (1968), S. 23-41; für Mersin vgl. Arthur Fritzhenry Townshend, Α Military Consul in Turkey: The Experience and Impressions of a British Representative in Asia Minor, London 1910, S. 99-104 u. 198-205; für Konstantinopel vgl. Nassau William Senior, Α Journal Kept in Turkey and Greece in the Autumn of 1857 and the Beginning of 1858, London 1859, S. 88f., 113-119, 131f. u. 157f.; für Beirut vgl. Leila Tarazi Fawaz, Merchants and Migrants in Nineteenth-Century Beirut, Cambridge/London 1983, S. 85ff.; für Trabzon vgl. Uner A. Turgay, Trade and Merchants in Nineteenth-Century Trabzon: Elements of Ethnic Conflict, in: Benjamin Braude u. Bernard Lewis (Hrsg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire: The Function of a Plural Society, 2 Bde., New York 1982, Bd. 1, S. 287-318, S. 296ff. Für Näheres zu den Juden in Palästina vgl. Memorandum relative to the Grant of British Protection to Foreign Jews in Palestine, 2.2.1884, FO 881/4907. Zur Misk-Familie vgl. Memorandum by Vice-Consul Jago on the Claim to British Protection of the Misk Family, 5.2.1875, S. 86-89, FO 881/5968. 177 Zu den verschiedenen Gruppen von britischen Proteges und den je spezifischen Problemen was Registrierung, Dokumentation und Sensibilität der Pforte anbelangte vgl. Memorandum (ohne Titel) von Richter Fawcett, 6.5.1886, FO 195/1550.

77

3. Britische Präsenz im O s m a n i s c h e n Reich

Tabelle J: Britische

Schutzgenossen

in der Levante,

1856,

1870 und

1886

Ort

1856

1870

Konstantinopel Smyrna Aleppo 1 Jerusalem 3 Saloniki Kreta Bursa Beirut 5 Bagdad 6 Erzurum

51 + 3 4 6 3 Ionier Keine A n g a b e n 351 496 9 0 Ionier 18 + 1 2 2 2 Ionier 13 + 127 Ionier 97 + 4 6 Ionier 122 + rund 1 0 0 0 Inder

57 Keine A n g a b e n 632 735 9 16 12 4 133 37 497

1 2 3

4 5

6

7

Keine A n g a b e n

1886 39 -

-

739 11 7 Keine A n g a b e n 61 Keine A n g a b e n -

Diese Angaben betreffen den ganzen Konsulardistrikt inkl. Iskenderun, Tripoli und Antakya. Diese Angabe bezieht sich fast ausschließlich auf Griechen. Proteges in Jerusalem waren zum überwiegenden Teil russische Juden, die gemäß einem Abkommen zwischen der russischen und der britischen Regierung im Jahre 1849 unter britische Protektion in Syrien und Palästina kamen, wenn sie durch zu lange Abwesenheit aus Russland ihrer russischen Staatsbürgerschaft verlustig gingen. Die Voraussetzungen für Protektion wurden 1885 verschärft. F O 881/5968, S. 145. Agenten der britischen Handelshäuser Ein großer Teil der Proteges in Beirut stammte aus der italienischstämmigen Familie Misk, die seit Ende des 18. Jahrhunderts in Ägypten und später im Libanon in britischem Militär- und Staatsdienst stand. 1856: 34 Angehörige der Familie Misk; 1887-1889: 50. Hinzu kamen durchschnittlich 3 5 0 0 - 4 0 0 0 britisch-indische Pilger nach Kerbela und Najaf, die nicht registriert wurden. Amerikanische Missionare, keine Briten vor Ort.

Alle Zahlen schließen Männer, Frauen und Kinder ein. Angaben für 1856: F O 881/768; 1870: F O 366/1132; 1886: F O 881/5968. Für die Tabelle wurden nur diejenigen Orte ausgewählt, für die Vergleichszahlen aus den Jahren 1856, 1870 und 1886 vorliegen. Für eine Gesamtübersicht zum Jahre 1870 vgl. Anhang 2.

3.3

Sozialstruktur

Smyrna und

der

britischen

Konstantinopel

Gemeinden bildeten im

von

Konstantinopel

und

Smyrna

19. J a h r h u n d e r t die w i r t s c h a f t l i c h

wichtigsten

Niederlassungen Großbritanniens im östlichen Mittelmeer. Dies widerspiegelte sich wesentl i c h in B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m u n d B e v ö l k e r u n g s s t r u k t u r . A u f d a s W a c h s t u m d e r b r i t i s c h e n G e m e i n d e v o n K o n s t a n t i n o p e l in d e r J a h r h u n d e r t m i t t e w u r d e o b e n s c h o n h i n g e w i e s e n (vgl. Tabelle 2). W i e Tabelle 4 zeigt, präsentierte sich diese E n t w i c k l u n g a u c h E n d e der achtz i g e r J a h r e in B e z u g a u f d i e e i n g e w a n d e r t e n B r i t e n u n g e b r o c h e n . D i e a b s o l u t e Z a h l d e r Gemeindemitglieder

erreichte

allerdings nicht m e h r

die G r ö ß e n o r d n u n g

als n o c h

die

I o n i e r z u r britischen B e v ö l k e r u n g g e z ä h l t w u r d e n (bis 1 8 6 4 ) . 1 8 8 7 s e t z t e sich die britische G e m e i n d e in K o n s t a n t i n o p e l z u n a h e z u z w e i D r i t t e l n aus P e r s o n e n z u s a m m e n , die n a c h 1 8 5 0 i n s O s m a n i s c h e R e i c h e i n g e w a n d e r t w a r e n . D e r g r ö ß e r e Teil d e r r e g i s t r i e r t e n P e r s o nen k a m aus G r o ß b r i t a n n i e n , der R e s t v o r w i e g e n d aus Malta. D i e Z a h l der Malteser dürfte i n d e s s e n n o c h u m e i n i g e s g r ö ß e r g e w e s e n s e i n , d a s i c h v i e l e n i c h t in d e n b r i t i s c h e n K o n s u laten registrieren ließen.178 I m U n t e r s c h i e d z u r britischen B e v ö l k e r u n g in K o n s t a n t i n o p e l , die w e s e n t l i c h Z u w a n d e r u n g e n nach 1850 geprägt war, verfügte S m y r n a n o c h gegen E n d e des

178

durch

19.Jahr-

Dieser Sachverhalt gilt sowohl für Konstantinopel als auch für Smyrna. E s darf davon ausgegangen werden, dass die registrierten Malteser lediglich zwischen einem Fünftel und einem Drittel der maltesischen Gemeinde stellten. Vgl. F a w c e t t an Salibury, 1 0 . 5 . 1 8 8 7 , S. 6, sowie Dennis an Salisbury, N o . 2 0 , 17.12.1887, F O 8 8 1 / 5 9 6 8 . H i e r z u auch R a m i r e Vadala, L e s Maltais hors de Malte. E t u d e sur ^emigration maltaise, Paris 1911, S. 60. - N a c h Smyrnelis gingen die europäischen Konsulate E n d e des 19. Jahrhunderts davon aus, dass sich rund 1 0 % aller in S m y r n a anwesenden E u r o p ä e r w e d e r auf einem Konsulat registriert hatten n o c h ihren jeweiligen Konsulaten namentlich bekannt waren. Smyrnelis, Societe hors de soi, S. 38.

78

I. Grundlagen exterritorialer Gerichtsbarkeit im Osmanischen Reich

hunderts über einen breiten Bevölkerungssockel an alteingesessenen britischen Familien. Darin klang in erster Linie die herausragende Stellung nach, die Smyrna in der Geschichte der Levant Company eingenommen hatte. Ein ähnliches Bild zeigten auch die meisten anderen europäischen Kolonien in Smyrna, die sich ebenfalls um einen festen Kern an etablierten Familien aus der Kaufmannschaft gruppierten. 179 Tabelle 4: Registrierte Personen unter britischem Schutz, Konstantinopel 1887 υ υ iC-S f c . 25 ω c 's t w o Jü S _ -S (2 6 wC Briten Malteser Sonstige Proteges Naturalisierte Total

960 818 77 39 45 1939

Ε "Ο C So teiz ε» (C3 t?;

256 243 46 26 33

75 65 2 -

604 (31%)

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418 383 23

830 14 12

187 126 6

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-

-

4

8

142 (7%)

828 (43%)

327 (17%)

24 1 -

art

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£ S a. b :p !*ä — 4 4 1

ff Ü J= ο Ζ — -

2 -

1

3 2 5 5 2

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1

Straffälle



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-

— 3 5

1

aus 29 Jahren a Β _D C Β

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1845 und 1900

-

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2 1 1 1 2 1 _ _ _ — 1 1 — — — 1 — 1 1 1 2 1 1 — — — — 1 — — 1 _ _ _ _ _ _ _ _ _ ι _ _ _ _ _ ι _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 1 2 1 2 — — 1 _ _ _ _ _ 4 _ _ _ 3 _ _ 2 23 16 12 10 8 8 1 12

1865: N u r erste Jahreshälfte. Für die Jahre 1847-1852, 1854, 1856-1857, 1860-1864, 1874 und 1888-1899 liegen keine Angaben vor. Tabelle zusammengestellt aus: 1845: F O 881/204A; 1846: F O 881/204B; 1853/55: F O 78/1337; 1858: F O 78/1447; 1859: F O 78/1533; 1900: F O 780/328; 1865-1887: statistische Meldungen an den S C C , enthalten in F O 626/1-26. Diejenigen Fälle, die mit Gerichtsakten dokumentiert sind, in den Statistiken jedoch nicht aufgeführt werden, wurden in der Tabelle ebenfalls berücksichtigt.

kerungsgruppen verursacht worden wäre. 130 Der zweite Einwand hingegen ist berechtigt. Die Zahl von Diebstählen, Einbrüchen oder Brandstiftungen ist in den Statistiken dermaßen niedrig, dass in jedem Fall starke Vorbehalte gegen das vorhandene Zahlenmaterial aus den Konsulaten angebracht sind. Zu Brandstiftungen vor dem Konsulargericht liegen beispielsweise Aussagen aus erster Hand vor, die auf eine hohe Zahl solcher Gerichtsfälle verweisen. 131 Das Ausmaß unterlassener Registrierung von Straffällen bleibt jedoch offen. Vgl. Queen ν Muscat, Smyrna 1881, FO 626/14/591; Fawcett an Granville, No. 59, 25.8.1884, FO 78/3652. Vgl. auch Senior, Journal, S. 130f. 131 Vgl. in diesem Zusammenhang die Aussage des britischen Dragomans Alexander Waugh aus Konstantinopel zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Apart form police cases the most frequent were charges 130

148

III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

Was ändert sich damit an der Schlussfolgerung, viele Vergehen und Verbrechen von britischen Subjekten seien von den britischen Konsulargerichten nicht geahndet worden? Einiges deutet darauf hin, dass sie zutreffend ist. Doch die methodischen Schwierigkeiten sind zu groß und die rekonstruierbare Datenbasis ist zu dünn, als dass ein eindeutiger Befund festgehalten werden könnte. Als stärkstes Argument für die These kann das laue Engagement der britischen Konsulatsbehörden in der Anklageerhebung herangezogen werden. Wie oben dargelegt wurde - und unter anderem auch Tabelle 21 zeigt - , verließen sich die britischen Gerichtsbehörden zu einem guten Teilen darauf, dass ihnen die Fälle ins Haus getragen wurden. Wo Privatpersonen nicht bereit waren, Vergehen dem Konsulargericht zu melden, blieben wohl viele Straftaten tatsächlich ungesühnt. In diesem Zusammenhang wird nun allerdings eine Unterscheidung in Polizeifälle einerseits, schwere Verbrechen anderseits entscheidend. Die folgenden zwei Abschnitte beleuchten diese beiden Bereiche deshalb getrennt. 2.2 Polizeigerichtsbarkeit und summarische

Gerichtsverfahren

Der überwiegende Teil aller Straffälle, die vor das Konsulargericht gelangten, wurde im summarischen Verfahren verhandelt. Dies galt ebenso für England, wo im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Straftatbestände unter die summarische Rechtsprechung fielen und summarische Prozessverfahren laufend verfeinert und kodifiziert wurden. 132 Für die stets am Praktischen ausgerichteten Konsulargerichte bot die summarische Rechtsprechung die angemessene Verfahrensform. Geschworenengerichte waren teuer und aufwändig zu besetzen; zudem war der Kreis an valablen Geschworenen immer äußerst begrenzt. Auch Beisitzer (assessors) konnten nicht dauerhaft von ihrem Broterwerb ferngehalten werden. 133 Für den Angeklagten ergaben sich aus einem summarischen Gerichtsprozess ebenfalls erhebliche Vorteile. Ein Verfahren konnte auf diesem Weg sehr rasch erledigt werden; oft lagen zwischen Anklage und Verurteilung bloß einige Stunden. 134 Aber noch wichtiger als ein schneller Prozess war für den Angeklagten das begrenzte Strafmaß, das ein Konsularrichter in summarischen Prozessen verhängen durfte. Tagte er als Einzelrichter ohne Beisitzer, dann konnte er höchstens drei Monate Gefängnis oder £20 Geldbuße aussprechen. 135 Im Vergleich mit den Friedensrichtern in England verfügte der Konsul in der Levante gleichwohl über bedeutende Machtbefugnisse. Das höchst mögliche Strafmaß, das Friedensrichter in England als Einzelrichter aussprechen konnten, lag bei bloß zwei Wochen Gefängnis und Bußen bis zu 20 Shilling. 136 Obschon Tatbestände wie Brandstiftung, Messerstechereien, Einbruch oder Gefährdung des Lebens im Prinzip vom summarischen Verfahren ausschlossen waren, gingen die briti-

132

133 134

135 136

of arson, brought by British Fire Insurance Companies. Arson was a method of raising money which appealed to the shady class of Levantines." Waugh, Turkey, S. 82. Vgl. David Bentley, English Criminal Justice in the Nineteenth Century, L o n d o n / R i o Grande 1998, S. 19 u. 23ff. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in England über 9 8 % aller Straffälle summarisch verhandelt. Die gesetzliche Grundlage zum summarischen Verfahren wurde in den folgenden Gesetzen geschaffen: An A c t to Facilitate the Performance of the Duties of Justices of the Peace out of Sessions within England and Wales with Respect to Summary Convictions and Orders 1848 (11&12 Vict c 43); Summary Jurisdiction Act 1879 ( 4 2 & 4 3 Vict c 49); Summary Jurisdiction Act 1899 ( 6 2 & 6 3 Vict c 22). Zu Geschworenen und Beisitzern vgl. ausführlich Kap. IV/2. Dies war häufig dann der Fall, wenn Delinquenten nachts von der osmanischen Polizei aufgegriffen und am nächsten Morgen den britischen Behörden übergeben wurden, die den Fall jeweils gleich entschieden. Für Verhältniszahlen vgl. die Angaben zu Einkommen und Kaufkraft in Kap. II/1.3. Diese Angaben gelten für die Zeit nach 1879. Vgl. Bentley, English Criminal Justice, S. 24.

2. Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht

149

sehen Behörden dennoch auch in vielen solchen Fällen summarisch vor. So lautete die Anklage gegen Antonio Genovese 1901 auf „Firing three shots from a loaded revolver [...] with intent to do grievious bodily harm." 137 Im selben Jahr wurde Wilfred Vedova in Smyrna vor Gericht gebracht, weil er „assaulted in the streets of Smyrna [...] Thomaso Petrizza causing him serious bodily harm".138 In beiden Fällen verfuhr das Gericht summarisch und bewahrte die Täter damit vor hohen Gefängnisstrafen. Für den Supreme Court war keine solche Abstufung der Strafmaße je nach Verfahrensart vorgesehen. In England leitete das Parlament seit Ende der siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung in die Wege, die indictable offences, d.h. solche, die normalerweise vor ein Geschworenengericht kamen, zunehmend summarischen Gerichtsverfahren unterstellte.139 Die Bereitschaft von Opfern, ein Vergehen oder Verbrechen zur Anklage zu bringen und vor Gericht zu vertreten, wurde als bedeutend höher eingestuft, wenn Verfahren schnell, billig und ohne komplizierte Bildung von Geschworenengerichten möglich waren. Damit wurde auch dem nach wie vor hohen Anteil von Privatklägern in der Strafgerichtsbarkeit Rechnung getragen.140 In der Levante fehlte hingegen eine gesetzliche Grundlage zur Ausdehnung summarischer Rechtsverfahren auf indictable offences; pragmatische Gründe sprachen aber in vielen Fällen für ein solches Vorgehen, so auch in den beiden oben angeführten. Praktische und anklagetechnische Vorzüge allein wären für die Verbreitung summarischer Rechtsprechung nicht so sehr ins Gewicht gefallen, hätten nicht auch die begangenen Straftaten mehrheitlich ein solches Verfahren nahe gelegt. Der Tabelle 20 ist zu entnehmen, wie in Smyrna die überwiegende Zahl der Straftaten als Polizeifälle eingestuft werden können, also als solche, die einen kleinkriminellen Hintergrund aufwiesen (Diebstahl, Einbruch, Unterschlagung) oder aus Raufereien, Trunkenheit oder Streitigkeiten hervorgingen (Tätlichkeiten, Friedensbruch). Raub, Brandstiftung und Körperverletzung fielen teilweise auch in diese Kategorie.141 Die meisten dieser Vergehen galten als Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Die Konsulargerichte übernahmen daher im weitaus größten Teil der summarischen Rechtsprechung die Rolle der Polizeigerichte {police magistrates), wie sie in London seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt waren.142 Dies geht beispielhaft aus Tabelle 21 hervor, die Strafprozesse vor dem Supreme Court aus einem durchschnittlichen Monat auflistet. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende eines summarischen Rechtsverfahrens ein Angeklagter überführt und verurteilt werden konnte, stand sehr hoch. Wie auch immer die Effizienz der britischen Konsulargerichtsbarkeit insgesamt eingeschätzt werden muss, eine Untersuchung der Strafprozesse kann zumindest den Vorwurf nicht stützen, Großbritannien sei leichtfertig mit Straftätern umgesprungen, wenn sie einmal vor Gericht standen. Mehr als drei Viertel aller Klagen vor dem Konsulargericht in Smyrna führten zu Verurtei-

Vgl. Anklageschrift in King ν Genovese, Konstantinopel, 3 . 4 . 1 9 0 1 , F O 7 8 0 / 3 5 8 . Vgl. Anklageschrift in King ν Vedova, Smyrna 1901, F O 6 2 6 / 2 0 / 8 4 8 . 1 3 9 Vgl. R . M . Jackson, The Incidence of J u r y Trial During the Past Century, in: Modern Law Review 1 (1937-1938), S. 1 3 2 - 1 4 4 , S.136f. I 4 ° Vgl. ebd., S. 136. 141 Es ist den statistischen Meldungen aus Smyrna jeweils nicht zu entnehmen, ob ein Fall summarisch oder anklageschriftlich verhandelt wurde. Aufgrund der Anklagen sowie der Strafmaße (vgl. Tabelle 22) ist jedoch davon auszugehen, dass nur sehr wenige anklageschriftliche Fälle in der Tabelle enthalten sind. Zudem sind von Geschworenenprozessen meistens Prozessakten erhalten geblieben, was bei summarischen Verhandlungen dagegen keineswegs gewährleistet ist. 142 Vgl. Jennifer S.Davis, A P o o r Man's System of Justice: The London Police Courts in the Second Half of the Nineteenth Century, in: Historical Journal 2 7 / 2 (1984), S. 3 0 9 - 3 3 5 , S . 3 0 9 u. 335. 137

138

III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

150

Tabelle 21: Straffälle vor dem Supreme Consular Court, 29.7.-31.8.1895 Datum

Klägerschaft

Beklagter

Tatbestand

29.7. 30.7. 30.7.

Konsulatspolizei Kapitän SS „Amy" Lokale Polizei

James Brown William Kelly Agnes Oreardou

Landstreicherei Dienstverweigerung Trunkenheit

01.8. 01.8. 06.8. 13.8. 14.8. 17.8.

Lokale Polizei Lokale Polizei Lokale Polizei Konsulatspolizei Lokale Polizei Lokale Polizei

Agnes Oreardou Charles Galiei Anastaso Celegrime Giovanni Mercierca Philippo Caruana Agnes Oreardou

17.8. 19.8. 22.8.

Konsulatspolizei Kapitän Lokale Polizei

William Walker James Bailey Charles Blair

22.8. 28.8. 28.8.

Giovanni Mercierca Konsulatspolizei Konsulatspolizei Alfred Le Boef Kapitän SS „Henley" Richard Owen

30.8.

Kapitän Edward Duncan & SS „D. of Cornwall" John Hardwick Lokale Polizei John Achdjikian Adolph Charton Lokale Polizei

31.8. 31.8.

Strafmaß

4 Tage Haft 14 Tage Haft Freilassung unter Auflagen 14 Tage Haft Trunkenheit Rauferei am Hafen Untersuchungshaft Trunkenheit Freigelassen Aufruhr im Konsulat 7 Tage Haft Trunkenheit Klage abgewiesen Trunkenheit 7 Tage Haft/ Ausweisung Landstreicherei 14 Tage Haft Dienstverweigerung 7 Tage Haft Beschimpfung Freilassung unter Auflagen Landstreicherei 10 Tage Haft Landstreicherei 14 Tage Haft Betrug; Landgang 3 Wochen Haft ohne Bewilligung Dienstverweigerung Klage abgewiesen Aufruhr Unklar

Klage abgewiesen Klage abgewiesen

Zusammengestellt aus den Handnotizen im Judges Note B o o k , F O 780/357.

Tabelle 22: PCC Smyrna: Straffälle und Strafmaße aus 27 Jahren zwischen 1845 und 1900



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27

4

4

14

1846 wurden vier Fälle von Körperverletzung wegen Indizien, die auf einen Mord hinwiesen, vertagt. 1858 wurde ein Fall aufgeschoben bis zur Ankunft von Richter Hornby vom S C C . Keine weiteren Dokumente dazu erhalten.

Es gelten die gleichen Einschränkungen und Quellennachweise wie bei Tabelle 20. Nicht berücksichtigt wurden hier die Jahre 1853 und 1855, da in den Akten keine Strafmasse aufgeführt sind. Daraus erklärt sich die Differenz von 33 Rechtsfällen zwischen den beiden Tabellen.

2. Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht

151

lungen, wie aus Tabelle 22 ersichtlich wird. 143 Allerdings bestanden zwischen den einzelnen Konsulargerichten oft große Unterschiede in der Urteilsbemessung. Selbst innerhalb der Rechtsprechung des Supreme Court variierten Strafmaße stark und hingen vom jeweiligen Richter ab. Eine Untersuchung des Foreign Office ergab für Ende der achtziger Jahre, dass bei gleichen Tatbeständen der assistant judge tendenziell deutlich geringere Strafen aussprach als der judge - zum großen Vorteil von Seeleuten und Kleinkriminellen, um die sich mehrheitlich der assistant judge kümmerte. 144 Grundsätzlich standen dem Konsularrichter vier Möglichkeiten der Bestrafung zur Verfügung: Verwarnung, Buße, Gefängnis und Ausschaffung aus dem Osmanischen Reich. Das schwächste Strafmittel waren Verwarnungen. Sie wurden bei kleineren Verstößen gegen die öffentliche Ordnung ausgesprochen und hätten vermutlich wenig Effekt gezeitigt, wäre damit nicht immer die Hinterlegung einer Bürgschaft über einen bestimmten Geldbetrag verbunden gewesen. Der Verurteilte oder eine Drittpartei bürgte während einer bestimmten Zeit (meistens drei bis sechs Monate) mit einem Betrag zwischen £5 bis £30 für das zukünftige gute Benehmen des Delinquenten. Die Summe war nur dann zu bezahlen, wenn der Verurteilte gegen die Auflagen der Verwarnung verstieß. 145 Bei notorischen Unruhestörern bekamen Verwarnungen den Charakter von Vorstrafen, die später häufig in eine Gefängnisstrafe mündeten. Eine strengere Art der Bestrafung stellten Bußen und Gefängnisstrafen dar. Wie unten zu zeigen sein wird, stand das Gefängniswesen der Konsulate insgesamt auf eher schwachen Füßen. Man hätte deshalb annehmen dürfen, Geldbußen wären stellvertretend für Gefängnisstrafen ausgesprochen worden. Tabelle 22 zeigt indessen ein ganz anderes Bild. Die Regel waren Verurteilungen zwischen einem Tag und vier Wochen Gefängnis, in beträchtlicher Zahl aber auch solche bis zu einem halben Jahr. Demgegenüber wurden bedeutend weniger Geldstrafen ausgesprochen. 146 Dass die Konsularrichter trotz logistischer Probleme im Gefängniswesen nicht verstärkt auf Geldstrafen setzten, hing im Wesentlichen mit der Insolvenz vieler Delinquenten zusammen. Diese rekrutierten sich in Smyrna und Konstantinopel zum überwiegenden Teil aus der maltesischen und - bis 1864 - der ionischen Unterschicht. 147 So schrieb Generalkonsul Charles Barnett in Alexandria 1842 an Außen143

Zu Konstantinopel gibt es keine Vergleichszahlen für einen ähnlich großen Zeitraum. Die entsprechenden Polizeiregister sind in aller Regel nicht erhalten geblieben. Für die Jahre 1846-1849, also noch unter dem alten System der Konsulargerichtsbarkeit, liegen allerdings folgende Angaben vor: 1846: 87 Straffälle/davon 26 Verurteilungen; 1847: 71/29; 1848: 66/53; 1849: 53/40. Angaben aus F O 78/780. Die höhere „Erfolgsquote" in den Jahren 1848 und 1849 ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die erweiterten Kompetenzen zurückzuführen, die der O i C 1847 den Konsuln einräumte.

Vgl. Report on H.M.'s Consulate-General at Constantinople, Juli 1891, S. 6f., F O 881/6114. Eine Verwarnung aus dem Jahre 1861 lautete beispielsweise: „I Chadoula Patriki acknowledge myself debtor to Her Majesty the Queen of Great Britain & Ireland in the sum of Ten Pounds Sterling. [...] The condition of the above recognizance is that in case I should not within the space of three months from the 11th day of June, above mentioned break the peace the above recognizance is null and void." Queen ν Patriki, Smyrna 1861, F O 626/3/122. 146 King in seiner Untersuchung zur Strafbemessung beim Tatbestand von assault zeigt, gingen auch in England die quarter sessions (Essex) im 19. Jahrhundert vermehrt dazu über, assault statt mit Buße vermehrt mit Gefängnis zu bestrafen. Peter King, Punishing Assault: The Transformation of Attitudes in the English Courts, in: Journal of Interdisciplinary History 27/1 (1996), S. 4 3 - 7 4 , S. 50f. 147 Zahlen sind für die Jahre 1 8 4 4 - 1 8 4 6 aus Konstantinopel und teilweise aus Smyrna erhältlich. Konstantinopel: 1844: 23 registrierte Straftäter/davon 19 von den Ionischen Inseln/3 aus Malta; 1845: 77/45/23; 1846: 103/68/30. Smyrna: 1844: 2 / 0 / 2 ; 1845: 8/4/0. Angaben für 1844 aus F O 198/5; für 1845: F O 8 8 1 / 2 0 4 A ; für 1846: F O 881/204B. Die späteren Polizeiregister sowie die statistischen Meldungen aus den Konsulaten schlüsseln die Täterschaft nicht mehr nach Herkunft auf. Den Familiennamen nach können jedoch auch für die spätere Zeit viele Straffälle auf Angehörige der maltesischen Bevölkerungsgruppe zurückgeführt werden. Es gilt in diesem Zusammenhang jedoch stets 144

145

152

III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

minister Aberdeen: „With Maltese it is in most cases useless to [impose] fines, which they have not the means of paying, o r to require from them security for their future good conduct, which they are unable to give." 1 4 8 Aus denselben Gründen sah sich das Konsulargericht häufig gezwungen, Geldstrafen in Gefängnis umzuwandeln. Dies geschah auch bei tiefen Strafbeträgen. Wie in Kapitel I I I / 1 . 4 gezeigt wurde, war Schuldhaft auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Konsulargerichten verbreitet. Zahlungsschwierigkeiten und sich anschließende Haftstrafen konnten den Schuldner und dessen Familie in tiefe N o t stürzen. Die Bittschrift von Wilfred Vedova 1902 aus dem Gefängnis an den Konsularrichter in Smyrna steht hierfür beispielhaft: Since yesterday afternoon I am confined in the consular prison, owing to my inability to pay the £ 1 a week, in the settlement of the £ 10 penalty your Court sentenced me to pay. I wish to assume you, Sir, that since my condemnation, I have done my very best to collect and pay the said sum; but having no regular income nor employ with the best desire on my part to meet my debt I have only managed to pay £2 against the £10 and this at no small sacrifice of the want of my wife and child. Considering my unfortunate financial position I trust, Sir, you will be good enough to reduce the penalty, order my release and give me time to collect and pay into Court the smaller sum you may be willing to fix. 149 Das Konsulargericht kam dieser Bitte nicht nach, erstattete aber die Abzahlung von £ 2 an Vedovas Frau zurück, um ihre Notlage etwas zu lindern. Als bei weitem einschneidendste Strafmöglichkeit stand es den Konsuln zu, Delinquenten aus dem Osmanischen Reich auszuweisen. Allerdings konnten nur notorische Gesetzesbrecher außer Landes gebracht werden. Ausschaffung galt daher auch als letztes Mittel, wenn alle übrigen Strafmöglichkeiten ausgeschöpft waren oder keine Aussicht auf ein besseres Verhalten des Delinquenten bestand. Zur Anschauung sei in Tabelle 23 das Beispiel des maltesischen Seemanns N a z i r B o r g gegeben, der 1890 nach Malta ausgeschafft wurde. Sein Sündenregister dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit noch bedeutend länger gewesen sein, als dies die Gerichtsakten aus Smyrna zum Ausdruck bringen. Dass die britischen Konsulatsbehörden keineswegs leichtfertig Ausweisungsbefehle erließen, zeigt das Beispiel von Ernest Fisher, einem in Smyrna aufgewachsenen 26jährigen Briten. Sein Sündenregister überspannte acht Jahre und umfasste sowohl Verurteilungen vor dem britischen Konsulargericht als auch solche vor osmanischen Gerichten. Seine Ausschaffung wurde trotz dieser langen Reihe von Verurteilungen erst auf Drängen des Generalgouverneurs der Provinz Smyrna-Aydin veranlasst. 1 5 0 Sowohl Konsul Dennis wie auch

148

149

150

den hohen maltesischen Anteil an der britischen Bevölkerung in der Levante im Auge zu behalten (vgl. Kap. 1/3.2 u. 3.3). Vgl. auch Stanley, The Life of the Rt. Hon. Stratford Canning, Bd. 2, S. 87. Barnett an Aberdeen, No. 14, 14.7.1842, F O 78/503. Eine ähnliche Haltung vertrat Richter Hornby 1857: Hornby an Clarendon, No. 6,9.12.1857, F O 78/1318, sowie Hornby an Russell, No. 17,5.3.1863, F O 78/1758. Und Konsul Dennis schrieb 1887 aus Smyrna, die Malteser in Smyrna lebten in der Regel von der Hand in den Mund. Dennis an Salisbury, No.20, 17.12.1887, F O 881/5968. Schreiben vom 21.1.1902, enthalten in den Gerichtsakten King ν Vedova, Smyrna 1901, F O 626/20/848. Vedova saß wegen einer Tätlichkeit und Körperverletzung im Gefängnis. Vgl. Ausweisverfügung vom 31.7.1886, F O 78/3906. Strafregister von Ernest Fisher, Brite, gebürtig von Smyrna, 26jährig: 22.9.1879, Einbruch, Schadenersatz in der Höhe von Pstr. 60 oder zwei Monate Gefängnis; 19.9.1882, Drohung mit einem Messer, Fall abgewiesen; 9.11.1882, Drohung und Friedensbruch, vier Wochen Gefängnis; 3.3.1883, Anzettelung einer Rauferei, ein Monat Gefängnis; 9.4.1883, Tätlichkeit mit Absicht auf Körperverletzung, drei Monate Gefängnis mit harter Arbeit; 6.10.1884, Drohung auf Körperverletzung, drei Monate Gefängnis; 23.5.1885, Drohung auf Körperverletzung, freigesprochen; 11.8.1885, Zücken eines Messers mit Absicht auf Körperverletzung, ein Monat Gefängnis; 14.5.1886, Beleidigung eines muslimischen Pilgers, freigesprochen; keine Datumsangabe, Verschiedenste Verurteilungen zu Gefängnisstrafen durch osmanische Gerichte. Angaben zu Verurteilungen aus: F O 626/13/564; F O 626/14/600; F O 626/14/614; F O 626/14/624; F O 626/14/629; F O 626/15/653; F O 626/15/655; F O 78/3906.

153

2. Strafrechtsprechung vor d e m Konsulargericht

R i c h t e r F a w c e t t h a t t e n sich l a n g e Z e i t d a g e g e n g e s p e r r t . E r s t ein G r u n d s a t z e n t s c h e i d d e r Law

Officers

s e t z t e d i e s e m Z ö g e r n ein E n d e . 1 5 1

Tabelle 23: Auszug

aus dem Strafregister

von Nazir

Borg, Smyrna

1889-1890

16.09.1889

A n k l a g e vor o s m a n i s c h e m Gericht wegen E i n f ü h r e n v o n D y n a m i t ins O s m a n i s c h e Reich; Michele B o r g & G u i s e p p e Stabile bürgen mit £30, dass N a z i r v o r Gericht erscheint

03.03.1890

Tätlichkeit N a z i r B o r g s gegen Mitglieder der Familie Corfiati; Michele B o r g bürgt am 1 0 . 3 . 1 8 9 0 mit £10 f ü r N a z i r B o r g s gutes B e n e h m e n während sechs M o n a t e n

10.06.1890

Tätlichkeit v o n N a z i r B o r g gegen Mitglieder der Familie Corfiati; N a z i r B o r g bürgt mit

17.06.1890

Tätlichkeit u n d K ö r p e r v e r l e t z u n g gegen C h r i s t o Corfiati; anklageschriftliches

£10 f ü r sechs M o n a t e , dasselbe tut R o c c o B o r g f ü r N a z i r B o r g Verfahren 02.07.1890

Anklageschriftliches Verfahren v o r Generalkonsul Wratislaw: Verurteilung z u £10 B u s s e , A n d r o h u n g auf B e s c h l a g n a h m u n g der G ü t e r u n d G e f ä n g n i s mit harter A r b e i t

16.07.1890

R o c c o und N a z i r bezahlten die Verpflichtung v o m 10.6. nicht, die durch Verurteilung v o m 2.7. fällig g e w o r d e n war; Gericht veranlasst B e s c h l a g n a h m u n g der G ü t e r

15.09.1890

Michael B o r g u n d G i u s e p p e Stabile bürgen mit je £30 f ü r N a z i r s gutes B e n e h m e n f ü r die nächsten 6 M o n a t e

15.09.1890

Tätlichkeit v o n N a z i r B o r g gegen Mitglieder der Familie Corfiati

08.10.1890

P C C beantragt A u s w e i s u n g von N a z i r B o r g beim S C C

13.10.1890

A u s w e i s u n g s v e r f ü g u n g durch S C C , danach vermutlich A u s s c h a f f u n g auf SS „ F e a r l e s s "

Tabelle zusammengestellt aus Queen ν Borg, Smyrna 1890, F O 626/16/699. Ausweisungsverfügung durch Charles James Tarring, Richter am Supreme Court vom 13.10.1890: „Whereas Nazir Borg British Maltese subject resident in Smyrna has been required by Frederick Holmwood Esquire C.B. Her Britannic Majesty's Consul General at Smyrna to give security for his future good behaviour and has failed to do so and has therefore been ordered by the said Frederick Holmwood to be deported from the Ottoman Dominions to Malta at his own expense in accordance with Article 311 of Her Majesty's Order in Council for the regulations of Consular jurisdiction in the Ottoman Dominions 1873 and the Foreign Jurisdiction Act 1890 SS 8,18. Now therefore you are hereby authorized and required under the provisions of the said article of the said Order of Her Majesty in council to receive and detain the said Nazir Borg on board your said steamer and him safely to carry to the port of Valetta in that part of H.M.'s Dominions called Malta and him there to put shore. And for doing so this shall be your sufficient warrant." F O 626/16/699.

2.3 Anklageschriftliche

Gerichtsverfahren

Kleinkriminalität und Delikte gegen die öffentliche O r d n u n g beschäftigten die K o n s u l a r gerichte mit hoher Regelmäßigkeit. Selbst w e n n die Zahl der Vergehen, die zur A n k l a g e g e b r a c h t w u r d e n , nie ü b e r m ä ß i g h o c h war, s o stellten s u m m a r i s c h e R e c h t s v e r f a h r e n d o c h eine g e n ü g e n d alltägliche E r f a h r u n g dar, u m R o u t i n e u n d ein g e w i s s e s M a ß an A n o n y m i t ä t in d i e G e r i c h t s a d m i n i s t r a t i o n z u b r i n g e n . 1 5 2 V o n d i e s e m G e r i c h t s a l l t a g h o b e n s i c h P r o z e s s e b e i s c h w e r e n V e r b r e c h e n (felonies, demeanors)

im Unterschied zu den weniger gravierenden

d e u t l i c h ab.153 W i e ein r o t e r F a d e n z i e h e n s i c h s p e k t a k u l ä r e

mis-

Geschworenen-

p r o z e s s e - die unter diesen U m s t ä n d e n zur A n w e n d u n g k a m e n - durch die Geschichte der b r i t i s c h e n K o n s u l a r g e r i c h t s b a r k e i t . I h r e Z a h l blieb i n d e s s e n v e r h ä l t n i s m ä ß i g tief, d a , w i e g e z e i g t , s u m m a r i s c h e R e c h t s v e r f a h r e n o f t a u c h d o r t z u r A n w e n d u n g k a m e n , w o ein Ver-

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L a w O f f i c e r s an F O , 9.1.1885, F O 881/5246. Fisher w u r d e im O s m a n i s c h e n Reich geboren, w e s halb D e n n i s u n d Fawcett erst davon ausgingen, solche Personen dürften nicht ausgewiesen werden. Vgl. Wratislaw, C o n s u l in the East, S. 77. Z u r U n t e r s c h e i d u n g von felony und misdemeanor vgl. K a p . II/2.2.

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III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

brechen grundsätzlich als indictable galt.154 Die Gerichtsakten aus Smyrna und Konstantinopel weisen Geschworenenprozesse bei Tatbeständen wie Bigamie, Kindsmissbrauch, schwerer Körperverletzung, Totschlag und Mord nach.155 Die tiefe Zahl der Geschworenenprozesse steht im scharfen Kontrast zum hohen Stellenwert, den solche Verfahren für die Konsulargerichte einnahmen. Schwere Verbrechen haben die Eigenart, Täter und Opfer als Individuen hervorzuheben und Einzelschicksale stark zu betonen. Zu dieser Personalisierung von Verbrechen trat in der Levante eine „Nationalisierung" hinzu, da Täter und Opfer stets einer bestimmten „Nation" zugeordnet werden konnten. Das große Interesse, welches Verbrechen wie Mord oder Totschlag innerhalb und außerhalb der betroffenen „Nationen" geschenkt wurde, hing letztlich mit der Frage zusammen, welche Gerichtsbarkeit die Verantwortung für die Strafverfolgung zu übernehmen hatte. In diesem Sinn waren Geschworenenprozesse immer auch ein Aushängeschild für Effizienz, Gerechtigkeit und Härte einer „nationalen" Gerichtsbarkeit. Sie bargen aus diesem Grund das Potenzial, Gerichtsbehörden zu exemplarischem Vorgehen zu bewegen. Es ist dieser Hintergrund, den es zu vergegenwärtigen gilt, wenn man den Aufwand verstehen will, den die britischen Gerichtsbehörden insbesondere bei Mordprozessen betrieben. Der hohe Stellenwert von anklageschriftlichen Verfahren lässt sich am Beispiel von drei Mordfällen aus den achtziger Jahren aufzeigen, die als einzige verhältnismäßig vollständig rekonstruierbar sind.156 Sie zeigen deutlich, wie stark Verbrechen die Gerichtsadministration beanspruchen und zu energischem Vorgehen herausfordern konnten. Queen ν Paolo Muscat, Smyrna, April bis September 1881157 In der Nacht vom 21. auf den 22. April 1881 ermordeten die beiden Malteser Paolo Muscat und Serafino Calleja ihren früheren Arbeitgeber, den Franzosen Vincent Gondran, in einer Scheune in Smyrna. Der Fall war von einiger Brisanz, da Gondran in der Stadt ein angesehenes Teppichgeschäft führte, über einen vorzüglichen Leumund verfügte und im öffentlichen Leben wichtige Chargen bekleidete. Zu den ersten Personen, die am Tatort erschienen, gehörte der französische Generalkonsul Pierre de Pellissier. Ihm gegenüber nannte Gondran kurz vor seinem Tod die beiden Malteser als Täter. Paolo Muscat wurde in unmittelbarer Nähe des Tatorts von der osmanischen Polizei gestellt, Serafino Calleja jedoch entkam.

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Ein summarisches Verfahren konnte jedoch in ein anklageschriftliches münden, wenn sich während des Prozesses herausstellte, dass die Strafmaßmöglichkeiten eines summarischen Verfahrens dem Tatbestand nicht angemessen waren. Vgl. z.B. Queen ν Webb, Konstantinopel, 11.4.1891, F O 780/354. Vgl. für die ersten drei Kategorien beispielhaft die Fälle F O 780/320, F O 780/296, F O 626/20/847. Auf Mordfälle und Totschlag wird weiter unten ausführlich eingegangen. Aus dem Jahre 1894 ist aus Konstantinopel ein Geschworenenprozess für einen gewöhnlichen Diebstahl einer Hose und eines Jackets dokumentiert. Die Gründe hierfür sind unklar. In den Judges Note Books findet sich kein ähnlich gelagerter Fall. Vgl. Queen ν Brussington, Konstantinopel, 5.10.1894, F O 780/357. Es lassen sich keine verlässlichen Angaben zur Gesamtzahl der Morde und Totschläge machen, die sich in der Untersuchungsperiode in den britischen Levantegemeinden zugetragen haben. Gerichtsakten und Gerichtskorrespondenz aus Konstantinopel und Smyrna sind für diesen Zweck zu unvollständig. Die Angaben zu diesem Fall sind den folgenden Dokumenten entnommen: F O 626/14/591: Gerichtsakten zu Queen ν Muscat; Verhandlungsprotokoll 5.-7.6.1881; Bericht des französischen Generalkonsuls in Smyrna, Pierre Hadjoute de Pellissier de Reynaud, 22.4.1881. F O 78/3345: Burreil an Granville, No. 52, 10.5.1881; Burreil an Granville, No. 55, 18.5.1881; Burreil an Granville, No. 59, 1.6.1881; Burrell an Granville, No. 63,27.6.1881; Fawcette an Granville, No. 79,25.8.1881; Fawcette an Granville, No.82, 6.9.1881; Fawcette an Granville, No.84, 23.9.1881. Für die Zeitungsberichterstattung vgl. Constantinople Messenger, 21.6.1881 u. Levant Herald, 6.9.1881.

2. Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht

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Zwischen dem 25. und dem 30. April kam es vor dem britischen Konsulargericht in A n wesenheit des Beklagten zu insgesamt fünf Anhörungen, in deren Zuge mehr als zehn Zeugen unter Eid einvernommen wurden. Die so angefertigten Präliminaruntersuchungen (auch Depositionen genannt) gelangten anschließend an den Supreme Court in Konstantinopel, der über das Prozessverfahren entschied. Nachdem 1857 dieser oberste Gerichtshof eingerichtet und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet worden war, wurden Prozesse kaum mehr außerhalb des Osmanischen Reichs (in diesem Fall Malta) abgehalten. 158 Mordprozesse fielen nun in die Kompetenz des Supreme Court. Solche Verfahren fanden entweder am O r t der Tat statt, oder der Supreme Court ließ Angeklagte und Zeugen zum Prozess nach Konstantinopel kommen. Letzteres erwies sich im Smyrnioter Mordfall als unmöglich, da die Mehrheit der Zeugen nicht unter britischem Schutz stand und folglich nicht zur Aussage nach Konstantinopel beordert werden konnte. In Absprache mit dem Foreign Office hielt der acting judge Burreil den Prozess daher in Smyrna ab (Juni 1881). D i e Rahmenbedingungen müssen in allen Belangen als prekär bezeichnet werden. Geschworene ließen sich nur schwer rekrutieren, da Paolo Muscat und maltesische Banden in der Stadt gefürchtet waren. Muscats Antrag auf Rechtsbeistand stellte den Supreme Court zudem vor eine weitere Schwierigkeit. Vor dem britischen Konsulargericht in Smyrna praktizierte zu dieser Zeit nur ein einziger britischer Anwalt, der von den Konsulatsbehörden jedoch bereits als Ankläger vorgesehen war. In Konstantinopel konnte jeder am Supreme Court tätige Anwalt entschädigungsfrei zur Übernahme einer Verteidigung verpflichtet werden. Weil aber in Smyrna kein weiterer britischer Anwalt tätig war, der zu einer Pflichtverteidigung hätte gezwungen werden können, musste ein Rechtsbeistand für Muscat anderweitig engagiert werden. Für dessen Entschädigung hatte das Foreign Office zuerst aber zusätzliche Gelder zu bewilligen. Schließlich stellte sich heraus, dass der Angeklagte nur Maltesisch sprach, in Smyrna hingegen selbst innerhalb der maltesischen Gemeinde kein Ubersetzer zu finden war, der genügend gut Maltesisch und Englisch gesprochen hätte. Bei Verhandlungsbeginn war der Kronzeuge aus Smyrna verschwunden. 159 Da der acting judge Burrell nicht bereit war, die Depositionen des Kronzeugen als Aussage vor Gericht zuzulassen, blieben die Geschworenen in ihrem Verdikt uneins und der Prozess scheiterte. Im Laufe des Sommers 1881 veranlasste der Supreme Court allerdings eine Wiederholung des Prozesses, nachdem Hinweise aufgetaucht waren, die Paolo Muscat mit weiteren M o r den in Konstantinopel und Alexandria in Zusammenhang brachten. 1 6 0 Dies gab dem Supreme Court die Sicherheit, Paolo Muscat selbst bei einem Freispruch in Smyrna gleich wieder in Konstantinopel vor Gericht bringen zu können. Richter Fawcett ließ sich beim zweiten Prozess daher vorsorglich von Police Inspector Thompson begleiten, der die Überführung des Angeklagten nach Konstantinopel sichergestellt hätte. D e r zweite Prozess am 1. September 1881 vor dem Supreme Court in Smyrna endete jedoch mit einem Schuldspruch durch die Geschworenen, wobei allerdings unklar bleibt, was sich im Vergleich zum ersten Prozess an der Beweislage genau geändert hatte. Richter Fawcett verurteilte den Angeklagten on record zum Tode (vgl. Kapitel II/2.2) und verfügte die Überführung nach Malta, da ihm das Konsulatsgefängnis in Smyrna nicht als sicher genug galt. N o c h am selben Tag wurde Paolo Muscat auf dem englischen Dampfer SS „Macedonia" zum Strafvollzug nach Malta ausgeschafft. 158 Vgl. H o r n b y an Russell, N o . 2 0 , 19.3.1862, F O 7 8 / 1 6 9 6 . 159 Die genauen Umstände dieses Verschwindens sind unklar. Der Zeuge wurde wahrscheinlich von Freunden des Angeklagten außer Landes gebracht oder gar ermordet. 160 Ein weiterer Mord, welcher Paolo Muscat in Smyrna begangen haben sollte, wurde nicht weiter verfolgt, da - wie oben dargelegt - die Angehörigen des Opfers nicht bereit waren, den Fall zur A n klage zu bringen.

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III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

Queen ν Abdul Rahim, Mehdi Hassan & Abdul Ghani, Bagdad 1884-1885161 Am 22. August 1884 erreichte ein Telegramm des britischen Generalkonsuls in Bagdad den Supreme Court mit der Nachricht, in Kerbela habe ein gewisser Abdul Rahim seinen Schwiegervater umgebracht. Abdul Rahim und zwei Mittäter hatten das Opfer in dessen Haus aufgesucht und erschlagen. Opfer und Täter waren britisch-indischer Herkunft, weshalb der Fall in die Jurisdiktion des britischen Konsulargerichts fiel. Auf Anweisung des Supreme Court leitete Generalkonsul Plowden ein Präliminarverfahren ein, dessen Depositionen zur Beurteilung nach Konstantinopel gesandt wurden. Plowden selbst war unter den gültigen Bestimmungen nicht berechtigt, den Fall zu verhandeln, wenn davon auszugehen war, dass die Kapitalstrafe verhängt werden musste. Nach monatelangem Abwägen von Supreme Court, Foreign Office und Law Officers fand sich schließlich keine andere Möglichkeit, als den assistant judge am Supreme Court, Charles James Tarring, nach Bagdad zu entsenden. Smyrna ließ sich verhältnismäßig einfach und rasch erreichen, für eine Reise nach Bagdad hingegen musste mit einer Abwesenheit von drei bis vier Monaten gerechnet werden. Angeklagte und Zeugen nach Konstantinopel kommen zu lassen wurde als zu kostspielig verworfen. Den Fall nach Bombay auszulagern war ebenfalls nicht möglich, da sich unter den Zeugen Personen befanden, die nicht unter britischer Schutzherrschaft standen. Tarring verließ Konstantinopel am 8. April 1885 und nahm den Prozess in Bagdad am 23. Mai auf. Es erwies sich als unmöglich, genügend britische Geschworene aufzutreiben, weshalb Tarring bloß zwei Beisitzer zuzog, die ihm von Generalkonsul Plowden empfohlen worden waren. Nach drei Verhandlungstagen schloss Tarring den Prozess mit Todesurteilen gegen alle drei Angeklagten. Aus den britischen Dokumenten geht nicht hervor, ob und wie die Strafen vollzogen wurden. Queen ν Abdullah Khan, Bagdad 1889-18901« Im Oktober 1889 tötete der britisch-indischstämmige Abdullah Khan in Kadhivan in der Nähe von Bagdad seine Frau. Der Fall war mit dem Kerbela-Mord von 1884 praktisch identisch und hätte im Grundsatz ein ähnliches Vorgehen nahe gelegt. Aus Gründen, die nicht vollständig ersichtlich sind, stellte sich der Supreme Court indessen auf den Standpunkt, weder den judge noch den assistant judge für rund vier Monate freistellen zu können. Eine Uberführung des Prozesses nach Konstantinopel kam ebenfalls nicht in Frage, da wegen der hohen Zahl an Zeugen (13) ein solches Unterfangen ungemein kostspielig und kompliziert geworden wäre. Aus Bombay ließ die britische Administration zudem verlauten, den Prozess nicht übernehmen zu wollen. Der Vorschlag von Richter Fawcett, den britischen Generalkonsul vorübergehend mit richterlichen Vollmachten für Fälle auszustatten,

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Die Angaben zu diesem Fall sind den folgenden Dokumenten entnommen: F O 78/3784: Telegramme des britischen Generalkonsuls Plowden an den SCC in Konstantinopel vom 22.8.1884, 27.8.1884, 28.8.1884 sowie 6.10.1884; Tarring an Granville, No.40, 4.4.1885; Tarring an Fawcett, 29.5.1885; Gerichtsprotokoll 23.-29.5.1885. F O 78/3652: Fawcett an Granville, No. 73,15.11.1884. F O 78/5072: F O an O'Malley, 7.12.1900. F O 881/5246: Law Officers an Granville, No. 160,24.2.1885 u. No. 161, 26.3.1885; Law Officers an Salisbury, No. 169, 28.10.1885. Die Angaben zu diesem Fall sind den folgenden Dokumenten entnommen: F O 780/250: Präliminarverfahren zu Queen ν Abdullah Khan; Prozessakten sind keine erhalten geblieben. F O 78/4409: Tarring an Salisbury, No. 62, 15.10.1889; Fawcett an Salisbury, No. 66, 7.11.1889; Under Secretary of State for India, India Office, an Under Secretary of State, FO, 20.11.1889; Fawcett an Salisbury, No. 75, 13.12.1889; F O an Fawcett, No. 4, 17.1.1890; F O an Law Officers, 22.1.1890; Law Officers an FO, 5.2.1890. The Foreign Office List and Diplomatic and Consular Year Book for 1890, S. 83. Zum Kronakt vgl. OiC 1890.

2. Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht

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auf die in England die Kapitalstrafe stand, wurde vom Foreign Office verworfen. Für ein solches Vorgehen bestand keinerlei gesetzliche Grundlage. Schließlich einigten sich die verschiedenen Stellen darauf, denjenigen Konsul mit der Durchführung des Prozesses zu betrauen, der am wenigsten weit von Bagdad entfernt residierte und über die notwendigen juristischen Qualifikationen verfügte. Ein Kronakt, der ein solches Vorgehen legalisierte, wurde von den Law Officers in Windeseile entworfen und am 21. März 1890 in Kraft gesetzt. Er sollte es in Zukunft dem Außenminister oder dem Richter am Supreme Court ermöglichen, einen Konsul kurzfristig mit umfassenden richterlichen Vollmachten an entlegene Orte innerhalb des Osmanischen Reichs zu entsenden. Für den aktuellen Rechtsfall wurde Konsul Burrell in Port Said (vormals am Supreme Court tätig) vorgesehen, schließlich aber Vizekonsul Walter Cracknall von Sansibar nach Bagdad geschickt. Cracknall war Jurist und Mitglied der englischen Anwaltskammer. Im May 1890 fand sich Cracknall in Bagdad ein, leitete die Verhandlung und fällte ein Todesurteil gegen Abdullah Khan. Der britische Außenminister wandelte das Urteil anschließend jedoch in zwanzig Jahre Haft mit Zwangsarbeit um, die der Verurteilte in Bombay zu verbüßen hatte. Die britischen Gerichtsbehörden in der Levante waren sich der Brisanz von Verbrechen bewusst und sahen mit eigenen Augen, welches Aufsehen ein Mordfall erregen konnte. Während die Bekämpfung kleinerer Straffälle große personelle Ressourcen erforderte und sich die Strafverfolgung häufig als schwierig erwies, boten sich die viel selteneren schweren Verbrechen an, in konzentrierten und energischen Aktionen den Nachweis zu erbringen, über eine wirksame Strafverfolgung zu verfügen. Dadurch ließen sich gegenüber der Pforte die Rechtsprivilegien der Kapitulationen rechtfertigen und gleichzeitig gegenüber den verschiedenen europäischen „Nationen" die Effizienz des britischen Konsulargerichts unterstreichen. In den überschaubaren Gemeinschaften der Levante, die bloß einige hundert, manchmal einige tausend Personen umfassten, war eine rasche Aufklärung von schweren Straftaten vordringlich. Im Speziellen musste Gerüchten und haltlosen Verdächtigungen rasch der Nährboden entzogen werden. Bei Todesfällen fielen daher post moriem-Untersuchungen eine wichtige Rolle zu, wie Richter Francis 1875 festhielt: „I ordered a Post Mortem examination as without it no satisfaction would have been felt either by the Public or the relatives of the deceased."163 Ebenso war der Konsularrichter in seiner Funktion als Coroner darauf bedacht, Todesursachen rasch zu klären. Dies konnte mitunter mit hohen Aufwendungen verbunden sein, wie die Gerichtsakten aus Konstantinopel zeigen. Eine Geschworenenbank musste einberufen werden, Ärzte hatten als Gutachter vorzusprechen und Zeugen galt es aufzubieten und zu befragen. In aller Regel betrafen solche Untersuchungen Seeleute, die im Dienst oder während eines Landganges zu Tode gekommen waren. Besonders häufig waren Todesfälle von Seeleuten, die alkoholisiert ins Hafenbecken fielen und ertranken.164 Nur selten schloss sich an eine Coroner-Untersuchung ein eigentliches Strafverfahren an. Die Bedeutung solcher Abklärungen zeigt sich auch darin, dass selbst an Orten wie Bengasi, die weit entfernt vom Zentrum der britischen Gerichtsadministration lagen und sonst keine Geschworenenprozesse abhielten, der Coroner-Konsul stets mit einer Jury über zweifelhafte Todesfälle beriet.165 Die Zuständigkeit des Supreme Court für alle Geschworenengerichte im Osmanischen Reich war Ausdruck eines hoch zentralistisch angelegten Strafverfahrens bei schwersten 163 164

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Francis an Derby, N o . 77, 18.8.1875, F O 7 8 / 2 4 2 1 . Vgl. die Untersuchungen in Konstantinopel zum Tode folgender Seeleute: Charles Phillips, 19.10.1882, F O 7 8 0 / 3 4 8 ; Walter Gavenlock, 3.9.1889, F O 7 8 0 / 3 5 2 ; Thomas Brown, 28.10.1901, F O 7 8 0 / 3 5 8 ; Vincenzo Caruana, 15.4.1907, F O 7 8 0 / 3 5 9 . Vgl. beispielhaft Queen ν Vella, Bengasi 1901, F O 7 8 0 / 3 9 0 .

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III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

Verbrechen. O f t waren Strafprozesse in der Provinz sogar bis an die politischen Entscheidungsträger in London zurückgebunden. Dies verweist auf die große Bedeutung, welche die britischen Behörden solchen Strafprozessen zumaßen. Foreign Office und Supreme Court berieten sich regelmäßig aufgrund der Depositionen, die von den Konsularrichtern während der Präliminaruntersuchungen erstellt worden waren, über die beste Vorgehensweise in bestimmten Strafrechtsfällen. 166 Ein Richter am Supreme Court, der sich nach Smyrna oder Aleppo begeben wollte, blieb stets auf die Einwilligung des Foreign Office angewiesen. 167 U n d fällte er ein Todesurteil, lag es am Foreign Office, die Strafe in Gefängnis umzuwandeln. Zwar bekräftigte das Foreign Office jeweils die Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit des Supreme Court, wich dann aber trotzdem oft vom gängigen Umwandlungsschlüssel ab, der für die Todesstrafe zwanzig Jahre Haft mit harter Arbeit vorsah. 168 Foreign Office und die ihm angegliederten Law Officers scheuten sich nicht, auf diese Weise ein Urteil des Supreme Court auch materiell abzuändern. Wo der Supreme Court Härte zeigen und ein Exempel statuieren wollte, machte man im Foreign Office vielfach mildernde Umstände geltend. 169 Der Supreme Court zeigte sich gewillt, für die Durchführung eines Prozesses einen beträchtlichen Aufwand in Kauf zu nehmen. Lange, strapaziöse Reisen führten die britischen Richter an entlegenste Orte des Osmanischen Reichs. Auch nach dem Kronakt von 1890 waren es zur Hauptsache der judge oder assistant judge des Supreme Court, die Gerichtsfälle in den Provinzen verhandelten. 170 Rechtsfälle wurden nur in Ausnahmefällen nach Konstantinopel überführt - von Berufungen abgesehen. Vor O r t war es die Aufgabe des Konsuls, zwischen der Aufnahme der Depositionen und dem Eintreffen des judge alle Vorkehrungen für einen reibungslosen Prozess zu treffen. 171 So mussten britische Zeugen und Geschworene vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung für ihr Erscheinen am Gerichtstag bürgen. 172 Bei Fehlverhalten drohten hohe Bußgelder. Zum Leidwesen der Richter ließ sich dasselbe mit anderen europäischen oder gar mit osmanischen Zeugen nicht machen. Die britischen Gerichte blieben in diesen Fällen auf die Gunst der osmanischen Behörden sowie auf die Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Konsulargerichten angewiesen. Teilweise mussten sie sich sogar in kostspieligen Verhandlungen die Dienste eines Zeugen

Vgl. FO an Law Officers, 22.1.1890, FO 78/4409. Vgl. Burreil an Granville, No.52, 10.5.1881, FO 78/3345; Tarring an Granville, No.40, 4.4.1885, FO 78/3784. its v g l. Queen ν Lans & Eynaud, Alexandria 1876: Cookson an Francis, 30.5.1876; Francis an Derby, No.58, 13.6.1876; FO (Law Officers) an Francis, No.29, 14.7.1876, FO 78/2520. Queen ν Pace, Tunis 1882: Arpa an Fawcett, 28.11.1882 sowie Fawcett an Granville, No. 70,30.12.1882, FO 78/3424. Queen ν Syed Gharibshah, Bagdad 1900-1901: FO an de Sausmarez, No. 9, Juli 1901 (nicht näher datiert), FO 780/389. 169 Ein Briefwechsel zwischen Richter Hornby und dem FO aus dem Jahre 1861 ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Hornby meldete das Todesurteil im Mordfall Queen ν Camillieri, Konstantinopel 1861, mit der Empfehlung, dass sein Urteil vom FO gestützt und dadurch gegenüber der maltesischen Gemeinde ein Exempel statuiert würde. Das FO reduzierte die Strafe indessen auf sieben Jahre Haft mit harter Arbeit, da der Verurteilte vom Opfer provoziert worden sei. Eine Reaktion von Hornby auf diese Strafmaßreduktion liegt nicht vor. Hornby an FO, No. 76,4.9.1861, sowie FO an Hornby, No. 43, 30.10.1861, FO 78/1594. 170 Vgl. u.a. Queen ν Syed Gharibshah, Bagdad 1900-1901, verhandelt vor Richter Edward O'Malley, FO 780/332; Queen ν Vella, Bengazi 1901, verhandelt vor Richter Edward O'Malley, FO 780/389; King ν Lance Naik Abdul Karim, Bagdad 1904, verhandelt vor assistant judge George Β. Piggott, FO 78/5352. ' 7 ' Vgl. O'Malley an Melvill, 1.1.1901, FO 780/389. 172 Vgl. u.a. Queen ν Danby, Smyrna 1862, FO 626/5/226. 166

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2. Strafrechtsprechung vor dem Konsulargericht

sichern. 1 7 3 W o angebracht, kam das Gericht für K o s t und Logis auf und entschädigte für den Erwerbsausfall. 1 7 4 Geschah ein Verbrechen auf einem britischen Schiff, konnte das Gericht das Schiff am Auslaufen hindern oder verfügen, dass die Ladung bis z u m Prozessausgang nicht gelöscht werden durfte. 1 7 5 Die britische Strafgerichtsbarkeit bewies hohe Geschmeidigkeit, wenn es zur eigentlichen Verhandlung kam. Vor allem an peripher gelegenen O r t e n wie Bagdad, Tunis oder Bengasi konnten lokale Besonderheiten einem Verfahren starke Einschränkungen auferlegen, die vom jeweiligen Richter Anpassungsvermögen und Improvisationsfähigkeit verlangten. In Bagdad stellte Richter Tarring 1884 fest, dass am Gerichtstag weder ein Ankläger noch ein Verteidiger zugegen war. Die Zeugen wurden daraufhin von Tarring aufgerufen, befragt und den Angeklagten schließlich zum Kreuzverhör überlassen. 1 7 6 Im Smyrnioter Mordfall gegen Paolo Muscat hatte das Foreign

Office dagegen noch zusätzliche Gelder bewilligt, um A n -

klage und Rechtsbeistand finanzieren zu können. Aus Tunis und Bagdad sind Mordprozesse überliefert, die nur mit Beisitzern abgehalten wurden, wodurch auf den zuständigen Richter die einzigartige Machtfülle entfiel, als Einzelrichter ein Todesurteil zu fällen. 177 Ebenfalls zu den pragmatischen Methoden muss die Bereitschaft der Richter gezählt werden, Aussagen als Beweismittel zuzulassen, welche Opfer von Gewaltverbrechen vor ihrem Ableben gemacht hatten. Diese so genannten dying declarations

waren hoch umstritten und wurden

von der Verteidigung regelmäßig, indessen stets erfolglos in Frage gestellt. 178 Die Untersuchung von Geschworenenprozessen zeigt die Entschlossenheit britischer Gerichtsbehörden, schwere Verbrechen auch an entlegensten Winkeln des Osmanischen Reichs gerichtlich zu ahnden. Kein Aufwand wurde in dieser Beziehung gescheut. A m A n fang jedoch stand stets der Wille, einen Rechtsfall für die eigene Gerichtsbarkeit überhaupt zu beanspruchen. Generalkonsul Mevill berichtete 1901 aus Bagdad, bei einem Streit zwischen zwei britisch-indischen Untertanen sei einer von beiden getötet worden. D a Täter

Vgl. die Bittschrift des britischen Konsulats in Smyrna an den Generalgouverneur des Vilayet SmyrnaAydin vom 24.4.1901, osmanischen Polizisten die Erlaubnis zu erteilen, als Zeugen vor dem britischen Konsulargericht auszusagen. King ν Ellul, Smyrna 1901, F O 626/20/846. Vgl. auch die gescheiterten Verhandlungen mit dem Zollinspektor Stephan in Konstantinopel, als Zeuge in einem Prozess gegen einen maltesischen Juwelendieb nach Malta zu gehen. Die Entschädigungsforderungen von Stephan für Lohnausfall und Reisekosten waren dermaßen hoch, dass Richter Hornby schließlich auf die Dienste des Zeugen verzichtete. Vgl. Hornby an Bulwer, No. 28, 9.5.1862, F O 195/726. 174 Vgl. Fawcett an Salisbury, No. 127, 12.12.1878, F O 78/2877. 175 Vgl. King ν Dacia, Smyrna 1901: Hampson an Gibson (Master SS „Ayr"), 28.9.1901, F O 626/20/847. 176 Vgl. Tarring an Fawcett, 29.5.1885, F O 78/3784. 177 Vgl. Queen ν Pace, Tunis 1882: Ein Geschworenenprozess war in diesem Fall aus zwei Gründen nicht möglich. Einerseits fanden sich nicht genügend englischsprachige Juroren in Tunis und Umgebung; anderseits hätten Anklage und Verteidigung ihre Plädoyers in englischer Sprache vor der Jury halten müssen, wozu die beiden am Konsulargericht tätigen Anwälte indessen nicht in der Lage waren. Die einzige Möglichkeit hätte darin bestanden, den Geschworenenprozess auf Italienisch zu führen, was indessen gegen die O i C verstoßen hätte. Vgl. Konsul Arpa an Fawcett, 28.11.1882, F O 78/3424. Vgl. auch Queen ν Abdul Rasim, Mehdi Hassan & Abdul Ghani, Bagdad 1884-1885: Tarring an Fawcett, 29.5.1885, F O 78/3784. 178 Vgl. folgende Mordprozesse: Queen ν Pace, Tunis 1882: Arpa an Fawcett, 28.11.1882, F O 78/3424; Queen ν Vella, Alexandria 1886: Cookson an Fawcett, No.3, 3.9.1886, F O 78/3906. - Auch in Queen ν Muscat, Smyrna 1881 (vgl. oben), stand die dying declaration des Mordopfers im Zentrum der Argumentation beider Rechtsvertreter. Während Polidore Kyvetos für die Verteidigung den Beweiswert der dying declaration in Zweifel zog und juristische Gutachter zu diesem Zweck zitierte, betonte Robert Wilkin für die Krone, die dying declarations seien für die Strafverfahren vor den Konsulargerichten unabdingbar, da Zeugen in aller Regel nicht gezwungen werden könnten, vor Gericht auszusagen. Würden dying declarations vor Gericht nicht zugelassen, blieben viele Verbrechen in der Levante ungesühnt. Vgl. ausführlich hierzu Constantinople Messenger, 21.6.1881. 173

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III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

und Opfer im Konsulat nicht registriert waren, schlug Mevill vor, den Delinquenten den osmanischen Behörden zu überlassen, um dem Generalkonsulat und dem Supreme Court Mühe und Kosten zu ersparen. Vom Supreme Court in Konstantinopel kam die knappe aber entschiedene Antwort, dass nur die britischen Gerichte zuständig seien und Melvill wie in solchen Fällen vorgesehen verfahren solle.179 Diese Entschlossenheit, auch an peripheren Orten des Osmanischen Reichs Recht zu sprechen, wenn schwere Verbrechen begangen worden waren, steht symptomatisch für das Selbstverständnis der britischen Gerichtsbehörden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Vorwurf, britische Konsulatsbehörden hätten eine laxe Haltung in der Strafverfolgung an den Tag gelegt, lässt sich damit allerdings trotzdem nicht vollständig von der Hand weisen. Sobald sich nämlich der Tatbestand von felony nicht erhärten ließ, bestand eine Tendenz unter den Konsularrichtern, nicht weiter auf einer Strafverfolgung zu insistieren.180

3. Das Problem der fehlenden Staatsmacht: Rechtsvollzug, Polizei und Gefängniswesen Wer ein Konsulargericht in der Levante anrief, der konnte dies mit zwei jeweils sehr unterschiedlichen Absichten tun: Entweder genügte es, wenn der Kläger seine Klage beim Gericht einschrieb, um die andere Partei soweit zu bringen, einen Konflikt außergerichtlich beizulegen. Dies sparte Geld und Umtriebe. Oder aber der Kläger war willens, einen Streitfall bis zu einem rechtskräftigen Urteil durchzuziehen. In diesem Fall kam dem Rechtsvollzug zentrale Bedeutung zu. Auch die Drohung mit dem Gericht - wie im ersten Fall - war nur dann wirkungsvoll, wenn dem Konsul angemessene Vollzugsmittel zur Verfügung standen. Ein Vertrauen in die Zwangsmaßnahmen des Konsulargerichts lag folglich am Beginn eines jeden Rechtsverfahrens und bestimmte die Strategie klagender Parteien entscheidend. Die europäischen Niederlassungen im Osmanischen Reich bildeten erkennbare administrative Einheiten und aufgrund ihrer Handels- und Rechtsprivilegien auch weitgehend eigenständige Rechtssysteme. Doch über ein eigentliches Gewaltmonopol verfügten die Konsuln als administrative Vorsteher dieser Gemeinschaften nicht. Die Mitglieder der einzelnen Kolonien, die sich in erster Linie über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsgemeinschaft definierten, sahen sich stets einer Pluralität von Zwangsgewalten gegenüber. Im öffentlichen Raum, in den Straßen und auf den Plätzen von Smyrna und Galata-Pera, dominierten die osmanischen zaptiye und seymen.m Welche Sonderstellung die Kapitulationen den Konsuln auch immer eingeräumt haben mögen, die unmittelbar wahrnehmbare Autorität in den Levantestädten war nicht der Konsul und auch nicht der Gerichtsdiener, sondern der osmanische Polizist oder Armeeangehörige. Recht und Ordnung lagen in den Händen der lokalen Polizei, die Personen unabhängig ihrer nationalen Zugehörigkeit aufgriff und einsperrte. Die Behauptung, dass europäische Staatsangehörige im Osmanischen Q u e e n ν Syed Gharibshah, Bagdad 1901: Mevill an O'Malley, 5.11.1900, sowie Telegramm S C C an Melvill, 7.11.1900, F O 780/332. 180 Vgl. beispielhaft Q u e e n ν Henry A. Guarracino, erwähnt in Guarracino ν Gen. Downes, Konstantinopel 1887, F O 780/223. 181 Die zaptiye bildeten die Gendarmerie, die der Distriktverwaltung unterstellt war. Die seymen waren Polizisten in Konstantinopel. Vgl. Stanley Lane-Poole (Hrsg.), The People of Turkey: Twenty Years' Residence among Bulgarians, Greeks, Albanians, Turks, and Armenians. By a Consul's Daughter and Wife (Fanny Janet Blunt), 2 Bde., London 1878, Bd. 1, S. 272; Glen W. Swanson, The Ottoman Police, in: Journal of Contemporary History 7/1-2 (1972), S.243-260. 179

3. Das Problem der fehlenden Staatsmacht

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Reich dem Zugriff von Polizei und Militär generell entzogen gewesen sein sollen, entbehrt jeder faktischen Grundlage.182 Während kurzer Zeit nur, in den Jahren des Krimkrieges, patrouillierten französische und britische Polizisten und Militärangehörige in den Gassen von Galata-Pera. 183 Für die Zeit zuvor wie auch danach sind keine Zeugnisse zu finden, die eine bedeutende europäische Polizeipräsenz in Galata-Pera oder Smyrna belegen würden. Großbritannien, um ein Beispiel zu nennen, wäre dazu auch zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen. In Konstantinopel stand ein Chief Constable & Police Officer in den Diensten des Generalkonsulats, der Polizeiaufgaben wahrnahm, vor Gericht auftrat und zusätzlich das Amt eines Hafenmeisters bekleidete.184 Das Konsulat in Smyrna beschäftigte einen einzigen constable, der zur Hauptsache die Schriftstücke des Gerichts austrug.185 Andere Zeichen britischer Staatsmacht waren im öffentlichen Raum kaum auszumachen - sieht man von den regelmäßigen Besuchen des britischen Levant Squadron im Hafen von Smyrna ab.186 Den Konsulaten standen zusätzlich zu ihrem Personal osmanische Wachleute zur Verfügung, so genannte Kavassen, denen es erlaubt war, Waffen zu tragen. Sie standen unter dem Schutz des britischen Konsulats und nahmen unter anderem Verhaftungen innerhalb der britischen Gemeinde vor.187 Für die Sicherheit ihrer Bürger und Schutzgenossen konnten die britischen Konsuln wenig vorkehren. Aus Moda in der Nähe von Kadiköy gelangten 1879 britische Untertanen an Generalkonsul Wrench mit der Klage, Nacht für Nacht fänden Uberfälle von Banden auf die Dörfer am Bosporus statt. Leben und Besitz seien in keiner Weise mehr sicher. Wrench bestätigte gegenüber dem britischen Botschafter Layard, dass „the Police of town and country are now utterly insufficient for the protection of the public".188 In den Augen der britischen Behörden war der Schutz von Leben und Eigentum demnach wesentlich eine Aufgabe der osmanischen Behörden. 189 Und offensichtlich entsprach dies auch der

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Für diese These vgl. u.a. die zeitgenössischen Autoren Farley, Turkey, S. 282; Charles Mismer, Souvenirs du Monde Musulman, Paris 1892, S. 98f. Für Beispiele von Ubergriffen auf britische Untertanen in Smyrna vgl. Holmwood an Nicolson, No. 5, 19.1.1894, F O 195/1850. Dem Buchstaben der Kapitulationen nach hätte die osmanische Polizei tatsächlich Europäer nicht ohne Beisein eines Konsulatsangestellten verhaften dürfen. Dass dies jedoch nur der Grundsatz, keineswegs aber die Realität war, hatte beispielsweise Richter Hornby klar erkannt. Vgl. Hornby an Bulwer, No. 58, 15.7.1864, F O 195/791. Vgl. Rosenthal, The Politics of Dependency, S. 110f. British Consular Establishments 1858-1871, Constantinople, S.37, F O 198/26; Report on H.M.'s Consulate-General at Constantinople, Juli 1891, S.3, F O 881/6114. Report by Mr Kennedy, March 1871, S. 9, F O 78/4337. Vgl. Wratislaw, Consul in the East, S.79f.; Gaston Deschamps, Sur les routes d'Asie, Paris 1894, S. 184f. Bis 1826 waren Janitscharen zum Schutz von Botschaften und Konsulaten abkommandiert worden. Danach mussten Kavassen von den osmanischen Behörden anerkannt und registriert werden. Sie wurden fast ausschließlich aus der muslimischen Bevölkerung rekrutiert und waren bis 1890 vom Militärdienst befreit. Ein Generalkonsulat hatte Anspruch auf vier Kavassen, ein Konsulat auf drei und ein Vizekonsulat auf zwei. Vgl. Wratislaw, Consul in the East, S. 16; Turkish Circular Note respecting the Liability of Consular Dragomans and Cavasses to Military Service, 13.2.1890, Hertslet, Bd. 18, S. 1156. Wrench an Layard, N o . 6 8 , 18.8.1879, F O 195/1247. Diese Meinung vertraten so einflussreiche Personen wie Botschafter Stratford Canning und Richter Edmund Hornby. Canning reagierte auf steigende Kriminalität in Galata und Pera während des Krimkrieges mit einem scharfen Protest an die Pforte, worin er eine höhere Polizeipräsenz in den entsprechenden Quartieren forderte. Vgl. Canning an Clarendon, No. 977, 26.11.1855, u. Canning an Pisani (bzw. via Dragoman Pisani an Pforte), 24.11.1855, F O 78/1092; Hornby an Malmesbury, No. 13,6.12.1858, S. 16f., F O 78/3370. Vgl. auch Charles Macfarlane, Kismet; or the Doom of Turkey, London 1853, S. 153.

162

III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

Wahrnehmung der britischen Bevölkerung am Bosporus. In den Überseebesitzungen Großbritanniens hingegen stand der britische Polizist für koloniale Herrschaft schlechthin, war er Verkörperung einer politischen und sozialen Ordnungsvorstellung des Kolonialstaates. In den Städten Australiens, Kanadas und Indiens meinte policing insbesondere gegen Ende des 19.Jahrhunderts Schutz der besitzenden Bevölkerungsschicht und von deren Eigentum, aber auch Kampf gegen neuartige urbane Missstände wie Landstreicherei oder Trunkenheit.190 Davon konnte in der Levante nur sehr beschränkt die Rede sein. Der starke Einfluss Großbritanniens im Osmanischen Reichs änderte auch nach dem Krimkrieg nichts an der Tatsache, dass die Konfrontation mit den rudimentären polizeilichen Einsatzkräften des britischen Konsulats weder im Straßenbild noch im Leben der britischen Bevölkerung eine alltägliche Erfahrung dargestellt haben dürfte. Die Judges Note Books zu Straffällen vor dem Konsulargericht in Konstantinopel zeigen, wie oben dargelegt, die hohe Regelmäßigkeit, mit der die osmanische Polizei britische Staatsangehörige und Schutzgenossen in Konstantinopel aufgriff. Zwar war es ihr nicht gestattet, in Wohnhäuser, Geschäfte oder sonst welche Räumlichkeiten von Europäern einzudringen. Es war indessen eine verbreitete Taktik, ein Gebäude, in welchem ein Europäer Zuflucht genommen hatte, zu umstellen und den Gesuchten faktisch unter Hausarrest zu setzen.191 Auf Seiten der britischen Behörden stießen Interventionen der osmanischen Polizei gemeinhin auf breite Akzeptanz; Probleme ergaben sich in aller Regel erst dann, wenn die osmanischen Behörden Arretierungen nicht innerhalb der vorgesehenen 24 Stunden meldeten.192 Die schwache Polizeigewalt der Konsulatsbehörden war den Briten sehr wohl bewusst. Kläger vor dem Konsulargericht ergänzten ihre Klageschriften oft mit dem Antrag, die beklagte Partei müsse an der Ausreise aus der Jurisdiktion des Konsulargerichts gehindert werden. Es war ein Leichtes, sich den konsularischen Behörden zu entziehen und gerichtliche Aufgebote in den Wind zu schlagen. Konsulargerichte verlangten daher, wie bereits oben angeführt, in der Regel nach Sicherheiten oder Bürgschaften, um das Erscheinen eines Beklagten vor Gericht zu garantieren. Dies konnte sowohl Privatpersonen betreffen als auch britische Handelsschiffe, die in Konstantinopel oder Smyrna vor Anker lagen.193 Ebenso

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Zur Polizei in den kolonialen Besitzungen Großbritanniens vgl. den Sammelband von David M. Anderson u. David Killingray (Hrsg.), Policing the Empire. Government, Authority and Control, 1 8 3 0 - 1 9 4 0 , Manchester/New York 1991; darin speziell der Aufsatz: dies., Consent, Coercion and Colonial Control: Policing the Empire, 1 8 3 0 - 1 9 4 0 , S. 1 - 1 5 , S. 10. Vgl. Carlton Cumberbatch, Memorandum on the Procedure n o w in Practice at Constantinople in Criminal Cases which C o m e under British Jurisdiction, 6.4.1844, F O 881/18. Eine rechtliche Grundlage f ü r die 24-Stunden-Regel gab es nicht, sie wurde jedoch von allen europäischen Gesandtschaften in Konstantinopel gleichermaßen beansprucht. Vgl. Memorandum von Henry Fawcett, Further Memo Re. ν Roelle, 18.1.1880, F O 195/1298. Bei Privatpersonen konnte das Konsulargericht als Sicherheiten Geldbeträge oder die Aushändigung des Passes der beklagten Partei verlangen. Vgl. Clarke ν Hammond, Smyrna 1862, F O 626/4/172. Zur Festhaltung von Handelsschiffen vgl. die Gerichtsfälle F O 626/5/242, F O 780/1,780/26,780/89, 780/92, 780/104 u. 780/320. Obschon eine solche Festhaltung die straffen Zeitpläne der Handelsschiffe durcheinander bringen und wirtschaftlich gravierende Konsequenzen zeitigen konnte (vgl. J. Testaferrata, Besitzer des SS „Malacca", an S C C , 10.11.1890, F O 780/258), waren kaum Verstöße gegen diese richterlichen Verfügungen zu vermerken. Als 1877 der britische Dampfer „James Malam" sich einem Haftbefehl entziehen wollte und vom Schwarzen Meer herkommend Konstantinopel ohne anzulegen durchfuhr, galt dies als einzigartiger und grober Verstoß gegen Weisungen der britischen Konsulatsbehörden. Der Skandal war perfekt, als die „James Malam" auch dem Vizekonsul an den Dardanellen entschlüpfte und sich nach Malta absetzte. Die Erniedrigung der Konsuln w a r umso größer, als sie jeweils mit dem Arrestierungsbefehl in der Hand von Land aus die „James Malam" bildlich sich ihrer Jurisdiktion entziehen sahen. Vgl. in Vice Admiralty: The „James Malam", F O 780/56; Fawcett an Derby, No. 39,16.4.1877, u. Fawcett an Derby, No. 73,18.7.1877, F O 78/2653.

3. Das Problem der fehlenden Staatsmacht

163

ließen die Konsuln Waren, die Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten darstellten, konfiszieren, damit sie nicht aus der Jurisdiktion der Konsuln geschafft werden konnten. 194 Während die klassische Polizeiarbeit für die britischen Konsulatsbehörden eine untergeordnete Rolle spielte, war im Rechtsvollzug der Aktionsradius des Konsulats bedeutend weiter gesteckt. In der Rolle des Strafvollziehers nahm das Konsulat gegenüber dem aktiven policing in den Straßen eine passive und reagierende Rolle ein. Dies war den beschränkten Zwangsmitteln, die den Konsuln zur Verfügung standen, durchaus angemessen. Uber die direkte Konfrontation zwischen Konsulatsbeamten und der britischen Bevölkerung ist allerdings nur wenig bekannt. Wie genau Schulden eingetrieben wurden, wie Personen verhaftet und Liegenschaften versiegelt werden konnten, geht aus den Quellen nicht hervor. Beschlagnahmungen von Gütern und ähnliche Aktionen, die durchaus den Einsatz von physischer Gewalt mit sich bringen konnten, blieben weitgehend undokumentiert. Demgegenüber ist der Strafvollzug dort gut rekonstruierbar, wo es um das Gefängniswesen sowie Ausschaffungen aus dem Osmanischen Reich geht.

3.1

Konsulatsgefängnisse

Im Straßenbild mögen die britischen Polizeibehörden wenig Eindruck hinterlassen haben, wer jedoch in Smyrna durch den Haupteingang des britischen Konsulats trat, konnte keinen Zweifel an den weit reichenden Kompetenzen der Kapitulationsmächte in der Levante hegen: Zur Linken befand sich der Gerichtsraum, zur Rechten, schräg über den Korridor, die Zellen des Konsulatsgefängnisses. 195 Erst im hinteren Teil des Gebäudes und im ersten Geschoss waren die weiteren konsularischen Abteilungen untergebracht. Die zwei Zellen des Konsulatsgefängnisses maßen ungefähr viereinhalb auf sechs Meter und schlossen unmittelbar an die Wachstube der beiden Gefängniswärter an, die dank günstiger Lage gleich auch noch den Haupteingang des Konsulats bewachten. 196 Ein kleiner Hof für die Häftlinge vervollständigte die britischen Gefängniseinrichtungen in Smyrna. Das Konsulatsgefängnis in Konstantinopel lag in einem Hinterhof in Galata, der durch eine Häusergruppe, bestehend aus dem Wohnsitz des Generalkonsuls, dem Generalkonsulat, dem Supreme Court sowie dem Seamen's Hospital, gebildet wurde. 197 An das Gefängnisgebäude schloss sich ein Hof an, der den Häftlingen Auslauf ermöglichte. Der Gefängniskomplex stammte aus dem Jahre 1857 und ersetzte Zellen, die zuvor im Botschaftsgebäude untergebracht gewesen waren, das 1831 jedoch niedergebrannt war.198 Zwischen 1831 und 1857 mussten - wie weiter unten ausgeführt werden wird - die britischen Konsulatsbehörden auf lokale osmanische Gefängnisse ausweichen. Im neuen Konsulatsgefängnis standen insgesamt elf Zellen von unterschiedlicher Größe zur Verfügung, einige für Einzelhaft, die meisten aber für bis zu sechs Häftlinge. Eine Gummizelle diente der Unterbringung gewalttätiger oder psychisch angeschlagener Häftlinge. 199 Das Gefängnis stand nach 1882 unter

Vgl. beispielhaft Camondo & Co. (Italien) ν Binns, Konstantinopel 1884, F O 780/185. Der S C C ließ in diesem Fall eine größere Menge Mohair beschlagnahmen. 195 Vgl. Karte 5. Zwischen 1888 und 1891 wurden die bestehenden Zellen aufgehoben und durch ein neues Gefängnis ersetzt, über dessen Lage und G r ö ß e jedoch nichts bekannt ist. Vgl. Wratislaw, Consul in the East, S. 79. 1 , 6 Vgl. Report by M r Kennedy, S. 8f., F O 78/4337. " 7 Vgl. Karte 6. 198 Vgl. Liston an Castlereagh, 25.7.1818, Folio 9 1 3 - 9 1 6 , F O 95/8/14; Fawcett an Derby, N o . 4 0 , 16.4.1877, F O 78/2653. Zum Brand und dem Bau eines neuen Botschaftsgebäudes in Pera vgl. Walsh, A Residence at Constantinople, S. 3 2 0 - 3 3 1 ; Macfarlane, Turkey and Its Destiny, Bd.2, S. 374ff. 199 Vgl. Report on H.M.'s Consulate-General at Constantinople, Juli 1891, S. 17, F O 881/6114. 194

164

III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

der Aufsicht des assistant judge, der aber die Verantwortung für den Strafvollzug dem Chief Constable überließ. Zwei Gefängniswärter verrichteten sämtliche Dienste im Gefängnis, hielten Wache, kochten und begleiteten Gefangenentransporte. 200 In Konstantinopel war das Ausweichen auf lokale Gefängnisse nur ein vorübergehender Zustand, in den Provinzen hingegen blieben die britischen Konsulatsbehören dauerhaft auf die osmanischen Gefängnisse angewiesen oder mussten jeweils improvisieren.201 Insbesondere die Vizekonsulate überwiesen ihre Häftlinge regelmäßig an die lokalen Behörden; die Aufwendungen dafür wurden von der britischen Regierung getragen. 202 Arthur Townshend, als military consul in Mersin stationiert, berichtete noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie er britische Schutzbefohlene im lokalen Gefängnis unterbringen ließ. 203 Edmund Hornby schwebte deshalb bereits 1860 die Idee vor, das Gefängniswesen zu professionalisieren und in der Nähe von Konstantinopel ein Zentralgefängnis - eine penal farm - zu bauen, das alle Häftlinge aufnehmen sollte, die von einem europäischen Konsulargericht im Osmanischen Reich verurteilt würden. Diese Idee war keineswegs untypisch für den umtriebigen Charakter des ersten Richters am Supreme Court, fand jedoch nirgends Anklang. 204 Selbst in Konstantinopel, wo das größte und mit Abstand am besten unterhaltene Gefängnis stand - Richter Fawcett nannte es ein eigentliches Vorzeigegefängnis205 - , waren die Bedingungen für längere Aufenthalte ungünstig. Queen ν Calvert (1868) zeigte, dass eine Haftstrafe von zwei Jahren die Aufnahmekapazität des Gefängnisses bereits arg strapazieren konnte. Die Zelle für Schuldner, Untersuchungshäftlinge sowie Frauen musste aufgegeben werden, damit Frederick Calvert seine Strafe in Einzelhaft absitzen konnte. 206 Wie den Tabellen 24 und 25 zu entnehmen ist, wurden Gefangene daher nur während kurzer Zeit im Konsulatsgefängnis behalten, in den sechziger Jahren in Konstantinopel durchschnittlich einen knappen Monat, später im Jahrhundert etwas mehr als eine Woche. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch für Smyrna (vgl. Tabelle 26). Den überwiegenden Teil der Kurzzeithäftlinge bildeten Seeleute, die sich Verstöße gegen den Merchant Shipping Act hatten zuschulden kommen lassen oder - wie Richter Hornby vermutete - zumindest unter diesem Vorwand von den Kapitänen an die Konsulatsbehörden abgeschoben wurden. 207 Haftstrafen dauerten in solchen Fällen selten länger als zwei bis drei Wochen. Die Zahl der Handels- und Kriegsschiffe, die im Hafen ankerten, schwankte je nach Jahreszeit und Geschäftslage stark, weshalb das Konsulatsgefängnis zu gewissen Zeiten richtiggehend überlaufen sein konnte. 208 200

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An diesem Arrangement scheint sich zwischen 1857 und 1891 nichts Wesentliches verändert zu haben. Für eine spätere Zeit liegen keine Zeugnisse mehr vor. Vgl. British Consular Establishments 1858-1871, Constantinople, S.37, F O 198/26; Report on H.M.'s Consulate-General at Constantinople, Juli 1891, S.2, 18 u.64, F O 881/6114. Vgl. u.a. den Bericht von Consul Blunt aus Saloniki, Blunt an Aberdeen, No. 21,15.8.1844, F O 78/570. - Als in Bengasi der seltene Fall eintrat, dass ein Brite inhaftiert werden musste, mietete Konsul Camero kurzerhand ein ans Konsulat grenzendes Haus, brachte im einen Flügel die Kavassen unter und richtete im anderen Gefängniszellen ein. Vgl. Cameron an Fawcett, No. 4,5.2.1889, F O 195/1649. - Zum britischen Gefängniswesen in Tunis vgl. Clancy-Smith, Marginality and Migration, S. 18. Vgl. Francis an Granville, N o . l l , 7.3.1871, F O 78/2198. Townshend, Military Consul in Turkey, S. lOOf. u. 106ff. Vgl. Hornby an Lord Wodehouse, 29.3.1860, F O 78/1540. Für Details zur penal farm vgl. das Memorandum (undatiert, ohne Titel) von Hornby aus dem Jahre 1861, F O 78/1598. Report on H.M.'s Consulate-General at Constantinople, Juli 1891, S.48, F O 881/6114. Vgl. Francis an Stanley, 22.3.1868, F O 78/2055; Law Officers an FO, 30.4.1868, F O 83/2397. Calvert wurde schließlich nach Malta verlegt. Hinter diesem Entscheid standen jedoch nicht nur logistische Motive. Die Konsulatsbehörden befürchteten, Calverts Präsenz in Konstantinopel mache ihn in den Augen der lokalen britischen Bevölkerung zu einem Märtyrer. Zum Calvert-Fall vgl. Kap. IV/1.1. Hornby an Clarendon, No. 6, 9.12.1857, F O 78/1318. Vgl. Francis an Granville, No. 44, 1.10.1870, F O 78/2153; Wratislaw, Consul in the East, S. 80.

3. Das Problem der fehlenden Staatsmacht

Kartei: Konsulatsgebäude Quelle: F O 78/4338

Smyrna mit Gerichtsraum und Gefängnis, 1877

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III. Rechtsprechung und Rechtsvollzug in Smyrna und Konstantinopel

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